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Full text of "Philosophie der symbolischen Formen"

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ERNST  CASSIRER 
PHILOSOPHIE   DER  SYMBOLISCHEN  FORMEN 


PHILOSOPHIE  DER 
SYMBOLISCHEN 
FORMEN 

VON 

ERNST  CASSIRER 


ERSTER  TEIL: 

DIE  SPRACHE 


923 


BRUNO  CASSIRER  VERLAG  BERLIN 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten 
Copyright  1923  by  Bruno  Cassirer 


Dietsch  &  Brückner,  Hof-Buch-  und  -  Steindrucker,  Weimar 

Germany 


VORWORT 


Die  Schrift,  deren  ersten  Band  ich  hier  vorlege,  geht  in  ihrem  ersten 
Entwurf  auf  die  Untersuchungen  zurück,  die  in  meinem  Buche  „Substanz- 
begriff und  Funktionsbegriff"  (Berlin  1910)  zusammengefaßt  sind.  Bei 
dem  Bemühen,  das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen,  die  sich  im  wesent- 
lichen auf  die  Struktur  des  mathemalischen  und  des  naturwissenschaft- 
lichen Denkens  bezogen, für  die  Behandlung  geisteswissenschaftlicher 
Probleme  fruchtbar  zu  machen,  stellte  sich  mir  immer  deutlicher  heraus, 
daß  die  allgemeine  Erkenntnistheorie  in  ihrer  herkömmlichen  Auffassung 
und  Begrenzung  für  eine  methodische  Grundlegung  der  Geisteswissen- 
schaften nicht  ausreicht.  Sollte  eine  solche  Grundlegung  gewonnen  wer- 
den, so  schien  der  Plan  dieser  Erkenntnistheorie  einer  prinzipiellen  Er- 
weiterung zu  bedürfen.  Statt  lediglich  die  allgemeinen  Voraussetzungen 
des  wissenschaftlichen  Erkennens  der  Welt  zu  untersuchen,  mußte  dazu 
übergegangen  werden,  die  verschiedenen  Grundformen  des  „Verstehens" 
der  Welt  bestimmt  gegen  einander  abzugrenzen  und  jede  von  ihnen  so 
scharf  als  möglich  in  ihrer  eigentümlichen  Tendenz  und  ihrer  eigentüm- 
lichen geistigen  Form  zu  erfassen.  Erst  wenn  eine  solche  „Formenlehre"  , 
des  Geistes  wenigstens  im  allgemeinen  Umriß  feststand,  ließ  sich  hoffen, 
daß  auch  für  die  einzelnen  geisteswissenschaftlichen  Disziplinen  ein  klarer 
methodischer  Überblick  und  ein  sicheres  Prinzip  der  Begründung  gefun- 
den werden  könne.  Der  Lehre  von  der  natur wissenschaftlichen  Begriffs- 
und Urteilsbildung,  durch  die  das  „Objekt"  der  Natur  in  seinen  konsti- 
tutiven Grundzügen  bestimmt,  durch  die  der  „Gegenstand"  der  Erkennt- 
nis in  seiner  Bedingtheit  durch  die  Erkenntnisfunktion  erfaßt  wird, 
mußte  eine  analoge  Bestimmung  für  das  Gebiet  der  reinen  Subjektivität 
zur  Seite  treten.  Diese  Subjektivität  geht  in  der  erkennenden  Betrachtung 
der  Natur  und  der  Wirklichkeit  nicht  auf,  sondern  sie  erweist  sich  überall 
dort  wirksam,  wo  überhaupt  das  Ganze  der  Erscheinung  unter  einen  be- 
stimmten geistigen  Blickpunkt  gestellt  und  von  ihm  aus  gestaltet  wird.  Es 
mußte  gezeigt  werden,  wie  jede  dieser  Gestaltungen  je  eine  eigene  Auf- 


V 


gäbe  im  Aufbau  des  Geistes  erfüllt  und  je  einem  besonderen  Gesetz  unter- 
steht. Aus  der  Beschäftigung  mit  diesem  Problem  entwickelte  sich  der 
Plan  einer  allgemeinen  Theorie  der  geistigen  Ausdrucksformen,  wie  er  in 
der  Einleitung  näher  dargelegt  ist.  Was  die  Durchführung  im  einzelnen 
betrifft,  so  beschränkt  sich  der  vorliegende  erste  Teil  auf  eine  Analyse  der 
sprachlichen  Form;  ein  zweiter  Band,  der,  wie  ich  hoffe,  etwa  in  einem 
Jahre  erscheinen  wird>  soll  den  Entwurf  zu  einer  Phänomenologie  des  my- 
thischen und  des  religiösen  Denkens  enthalten,  während  im  dritten  und 
letzten  Band  die  eigentliche  „Erkenntnislehre4 '  d.  h.  die  Formenlehre  des 
wissenschaftlichen  Denkens  zur  Darstellung  gelangen  soll. 

Eine  Betrachtung  der  Sprache  nach  ihrem  rein  philosophischen  Ge- 
halt und  unter  dem  Gesichtspunkt  eines  bestimmten  philosophischen  „Sy- 
stems" bedeutet  freilich  ein  Wagnis,  das  seit  den  ersten  grundlegenden 
Arbeiten  Wilhelm  von  Humboldts  kaum  jemals  wieder  unternommen 
worden  ist.  Wenn  Humboldt,  wie  er  im  Jahre  i8o5  an  Wolf  schrieb, 
die  Kunst  entdeckt  zu  haben  glaubte,  die  Sprache  als  ein  Vehikel  zu  ge- 
brauchen, um  das  Höchste  und  Tiefste  und  die  Mannigfaltigkeit  der  gan- 
zen Welt  zu  durchfahren,  so  schien  durch  die  Richtung,  die  die  Sprach- 
forschung und  die  Sprachphilosophie  im  neunzehnten  Jahrhundert  ge- 
nommen haben,  ein  solcher  Anspruch  mehr  und  mehr  zurückgedrängt  zu 
werden.  Statt  zu  einem  Vehikel  der  philosophischen  Erkenntnis  schien  die 
Sprache  bisweilen  zu  dem  eigentlichen  und  stärksten  Instrument  der  phi- 
losophischen Skepsis  zu  werden.  Aber  selbst  wenn  man  von  diesen  Folge- 
rungen der  modernen  Sprachkritik,  für  die  die  Philosophie  der  Sprache 
mit  der  Bestreitung  und  Auflösung  ihres  geistigen  Gehalts  gleichbe- 
deutend wurde,  absieht,  so  trat  doch  immer  stärker  die  Überzeugung  her- 
vor, daß  eine  philosophische  Grundlegung  der  Sprache,  wenn  überhaupt, 
so  nur  mit  den  Mitteln  der  psychologischen  Forschung  zu  gewinnen 
sei.  Das  Ideal  einer  schlechthin  universellen,  einer  „philosophischen" 
Grammatik,  dem  noch  der  Empirismus  und  der  Rationalismus  des  1 7.  und 
18.  Jahrhunderts  auf  verschiedenen  Wegen  nachgegangen  waren,  schien 
seit  der  Grundlegung  der  wissenschaftlichen  Sprachvergleichung  ein  für 
allemal  zerstört:  nun  blieb  nur  übrig,  die  Einheit  der  Sprache  statt  in. 
ihrem  logischen  Gehalt,  in  ihrer  Entstehung  und  in  den  psychologischen 
Gesetzen  dieser  Entstehung  aufzuweisen.  Wundts  großes  Werk  über  die 
Sprache,  das  nach  langer  Zeit  wieder  den  Versuch  unternahm,  die  Ge- 
samtheit der  Spracherscheinungen  zu  umfassen  und  einer  bestimmten 
geistigen  Deutung  zu  unterwerfen,  entnimmt  das  Prinzip  dieser  Deutung 
dem  Begriff  und  der  Methodik  der  Völkerpsychologie.  In  der  gleichen 


VI 


Richtung  des  Denkens  hatte  Steinthal  in  seiner  „Einleitung  in  die 
Psychologie  und  Sprachwissenschaft"  (1871)  den  Herbar tschen  Begriff 
der  Apperzeption  als  das  Fundament  der  Sprachbetrachtung  zu  erweisen 
gesucht.  Im  bewußten  und  scharfen  Gegensatz  zu  den  Grundlagen  der 
Steinthalschen  und  Wundtschen  Sprachansicht  kehrt  sodann  Marty 
(1908)  zu  dem  Gedanken  einer  „allgemeinen  Grammatik  und  Sprach- 
philosophie" zurück,  die  er  als  den  Entwurf  einer  „deskriptiven  Bedeu- 
tungslehre" versteht.  Aber  auch  hier  wird  der  Aufbau  dieser  Bedeutungs- 
lehre mit  rein  psychologischen  Mitteln  zu  vollziehen  gesucht;  ja  die  Auf- 
gabe der  Sprachphilosophie  wird  ausdrücklich  derart  abgegrenzt,  daß  zu 
ihr  alle  auf  das  Allgemeine  und  Gesetzmäßige  an  den  sprachlichen  Er- 
scheinungen gerichteten  Probleme  gehören  sollen,  sofern  sie  „entweder 
psychologischer  Natur  sind  oder  wenigstens  nicht  ohne  eine  vornehm- 
liche Hilfe  der  Psychologie  gelöst  werden  können".  So  schien  auf  diesem 
Gebiete  —  trotz  des  Widerspruchs,  dem  diese  Anschauung  in  den  Kreisen 
der  Sprachforschung  selbst,  vor  allem  bei  Karl  Voss ler,  begegnete  — 
der  Psychologismus  und  Positivismus  nicht  nur  als  methodisches  Ideal 
festgestellt,  sondern  fast  zu  einem  allgemeinen  Dogma  erhoben  zu  sein. 
Der  philosophische  Idealismus  freilich  hat  nicht  aufgehört,  dieses  Dogma 
zu  bekämpfen,  aber  auch  er  hat  der  Sprache  die  autonome  Stellung,  die 
sie  bei  Wilh.  von  Humboldt  besaß,  nicht  wiedererobert.  Denn  statt  sie 
als  eine  selbständige,  auf  einem  eigentümlichen  Gesetz  beruhende  geistige 
„Form"  zu  verstehen,  hat  er  versucht,  sie  auf  die  allgemeine  ästhetische 
Ausdrucksfunktion  zurückzuführen.  In  diesem  Sinne  hat  Benedetto  Groce 
das  Problem  des  sprachlichen  Ausdrucks  dem  Problem  des  ästhetischen 
Ausdrucks  ein-  und  untergeordnet,  wie  auch  Hermann  Cohens  System 
der  Philosophie  die  Logik,  die  Ethik  und  Ästhetik  und  zuletzt  die  Reli- 
gionsphilosophie als  selbständige  Glieder  behandelt  hat,  auf  die  Grund- 
fragen der  Sprache  aber  nur  gelegentlich  und  im  Zusammenhang  mit  den 
Grundfragen  der  Ästhetik  eingeht. 

Aus  dieser  Sachlage  ergibt  sich,  daß  die  vorliegende  Darstellung  sich 
in  philosophischer  Hinsicht  nicht  innerhalb  eines  fest  abgesteckten  Ge- 
dankenkreises bewegen  konnte,  sondern  daß  sie  überall  versuchen  mußte, 
sich  ihren  methodischen  Weg  selbst  zu  bahnen.  Um  so  reicher  waren  da- 
gegen die  Hilfsquellen,  die  sich  ihr  für  die  Durchführung  ihres  Themas 
aus  der  Entwicklung  ergaben,  die  die  Sprachwissenschaft  seit  der  Zeit 
Wilhelm  von  Humboldts  genommen  hat.  Wenn  der  Gedanke  einer  wahr- 
haft universellen  Sprachbetrachtung  bei  Humboldt  noch  als  ein  Postulat 
der  idealistischen  Philosophie  erscheinen  kann,  so  scheint  dieses  Postulat 


VII 


sich  seither  mehr  und  mehr  seiner  konkreten  wissenschaftlichen  Erfül- 
lung genähert  zu  haben.  Die  philosophische  Betrachtung  wird  freilich 
gerade  durch  diesen  Reichtum  des  empirisch-wissenschaftlichen  For- 
schungsmaterials vor  eine  kaum  zu  überwindende  Schwierigkeit  gestellt. 
Denn  sie  kann  ebensowenig  auf  dieses  Detail  verzichten,  wie  sie  sich 
ihm,  wenn  sie  ihrer  eigenen  Absicht  und  Aufgabe  getreu  bleiben  will,  ganz 
gefangen  geben  darf.  Diesem  methodischen  Dilemma  gegenüber  blieb 
keine  andere  Entscheidung  übrig,  als  die  Fragen,  mit  denen  hier  an  die 
Sprachforschung  herangetreten  wurde,  zwar  in  systematischer  Allgemein- 
heit zu  formulieren,  die  Antwort  auf  diese  Fragen  aber  in  jedem  ein- 
zelnen Falle  aus  der  empirischen  Forschung  selbst  zu  gewinnen.  Es  mußte 
versucht  werden,  einen  möglichst  weiten  Überblick  nicht  nur  über  die 
Erscheinungen  eines  einzelnen  Sprachkreises,  sondern  über  die  Struk- 
tur verschiedener  und  in  ihrem  gedanklichen  Grundtypus  weit  von  ein- 
ander abweichenden  Sprachkreise  zu  gewinnen.  Der  Kreis  der  sprach- 
wissenschaftlichen Literatur,  die  bei  der  Durcharbeitung  der  Probleme 
beständig  zu  Rate  gezogen  werden  mußte,  erfuhr  hierdurch  freilich  eine 
so  große  Erweiterung,  daß  das  Ziel,  das  diese  Untersuchung  sich  anfangs 
gesteckt  hatte,  immer  weiter  in  die  Ferne  rückte,  ja  daß  ich  mich  immer 
von  neuem  vor  die  Frage  gestellt  sah,  ob  dieses  Ziel  für  mich  überhaupt 
erreichbar  sei.  Wenn  ich  trotzdem  auf  dem  einmal  beschrittenen  Wege  wei- 
ter ging,  so  geschah  es,  weil  ich,  je  mehr  sich  mir  ein  Einblick  in  die 
Mannigfaltigkeit  der  Spracherscheinungen  erschloß,  um  so  deutlicher 
wahrzunehmen  glaubte,  wie  auch  hier  alles  Einzelne  sich  wechsel- 
seitig erhellt  und  wie  es  sich  gleichsam  von  selbst  einem  allgemeinen 
Zusammenhang  einfügt.  Auf  die  Herausarbeitung  und  Verdeutlichung 
dieses  Zusammenhangs,  nicht  auf  die  Betrachtung  irgendwelcher  Einzel- 
erscheinungen sind  die  folgenden  Untersuchungen  gerichtet.  Wenn 
der  erkenntniskritische  Grundgedanke,  an  dem  sie  orientiert  sind,  sich 
bewährt,  wenn  die  Darstellung  und  Charakteristik  der  reinen  Sprach- 
form, wie  sie  hier  versucht  worden  ist,  sich  als  gegründet  erweist,  so 
wird  Vieles,  was  im  einzelnen  übersehen  oder  versehen  worden  ist,  bei 
einer  künftigen  Bearbeitung  des  Themas  leicht  seine  Ergänzung  und  Be- 
richtigung finden  können.  Ich  selbst  bin  mir  bei  der  Arbeit  an  dieser 
Schrift  der  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  und  der  Grenzen  meiner  Ar- 
beitskraft zu  deutlich  bewußt  geworden,  als  daß  ich  nicht  jede  Kritik 
der  Fachkenner  freudig  begrüßen  sollte;  um  diese  Kritik  zu  erleichtern, 
habe  ich  überall,  wo  es  sich  um  die  Deutung  und  Verwertung  des  sprach- 
wissenschaftlichen Einzelmaterials  handelte,  meine  Gewährsmänner  aus- 


VIII 


drücklich  genannt  und  meine  Quellen  so  deutlich  bezeichnet,  daß  dadurch 
eine  unmittelbare  Nachprüfung  ermöglicht  wird. 

Es  bleibt  mir  noch  übrig,  allen  denen  meinen  Dank  zu  sagen,  die  mich 
während  der  Ausarbeitung  dieses  Buches  durch  das  Interesse,  das  sie  im 
allgemeinen  an  ihm  nahmen  oder  durch  ihren  speziellen  sachkundigen 
Rat  unterstützt  haben.  Bei  dem  Versuch,  in  die  Struktur  der  sogen,  „pri- 
mitiven" Sprachen  einen  genaueren  Einblick  zu  gewinnen,  haben  mir  von 
Anfang  an  —  neben  den  Schriften  von  Boas  und  Seier  über  die  ame- 
rikanischen Eingeborenensprachen  —  die  Werke  Carl  Meinhofs  als 
Führer  gedient.  Nach  meiner  Berufung  nach  Hamburg  im  Jahre  191 9 
konnte  ich  nicht  nur  die  reiche  Bibliothek  des  von  Meinhof  gelei- 
teten Seminars  für  afrikanische  und  Südseesprachen  benutzen,  sondern 
ich  durfte  mich  auch  in  vielen  schwierigen  Einzelfällen  seines  stets  bereit- 
willig gewährten  und  stets  außerordentlich  fördernden  Rates  erfreuen. 
Auch  meinen  Kollegen  Prof.  Otto  Dempwolff  und  Prof.  Heinrich 
Junker  bin  ich  für  manche  Förderung,  die  ich  im  Gespräch  mit  ihnen 
gewonnen  habe,  zu  Dank  verpflichtet.  Weit  hinaus  über  das  Maß  einzelner 
Anregungen  geht  sodann  dasjenige,  was  die  folgende  Darstellung  Ernst 
Hoffmann  in  Heidelberg  und  Emil  Wolf f  in  Hamburg  verdankt.  Mit 
ihnen,  die  selbst  mitten  in  der  philologischen  und  sprachwissenschaft- 
lichen Einzelarbeit  stehen,  weiß  ich  mich  vor  allem  in  der  Grundanschau- 
ung eins,  auf  der  dieses  Buch  beruht:  in  der  Überzeugung,  daß  die 
Sprache,  wie  alle  geistigen  Grundfunktionen,  ihre  philosophische  Auf- 
hellung nur  innerhalb  eines  Gesamtsystems  des  philosophischen  Idealis- 
mus finden  kann.  Ernst  Hoffmann  habe  ich  ferner  herzlich  dafür  zu 
danken,  daß  er  trotz  eigener  starker  Arbeitsbelastung  die  Korrekturen 
dieses  ersten  Bandes  mitgelesen  hat.  Einzelne  wichtige  Hinweise  und  Er- 
gänzungen, die  er  hierbei  gegeben  hat,  konnten  leider  aus  technischen 
Gründen  bei  der  Drucklegung  nicht  mehr  in  vollem  Umfang  berück- 
sichtigt werden;  ich  hoffe  aber  sie  bei  einer  späteren  Bearbeitung  des 
Themas  nutzen  zu  können. 

HAMBURG,  im  April  1923. 

ERNST  CASSIRER. 


IX 


INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 

Einleitung  und  Problemstellung 

I.  Der  Begriff  der  symbolischen  Form  und  die  Systematik  der  symbolischen 

Formen   i 

II.  Die  allgemeine  Funktion  des  Zeichens.  —  Das  Bedeutungsproblem  ...  17 

III.  Das  Problem  der  „Repräsentation"  und  der  Aufbau  des  Bewußtseins  ...  26 

IV.  Die  ideelle  Bedeutung  des  Zeichens.  —  Die  Überwindung  der  Abbildtheorie  4i 

Erster  Teil:  Zur  Phänomenologie  der  sprachlichen 

Form 

Kapitel  I :  Das  Sprachproblem  in  der  Geschichte  der  Philosophie 

I.  Das  Sprachproblem  in  der  Geschichte  des  philosophischen  Idealismus  (Piaton, 
Descartes,  Leibniz)  

II.  Die  Stellung  des  Sprachproblems  in  den  Systemen  des  Empirismus  (Bacon, 
Hobbes,  Locke,  Berkeley)  

III.  Die  Philosophie  der  französischen  Aufklärung  (Condillac,Maupertuis,  Diderot) 

IV.  Die  Sprache  als  Affektausdruck.  —  Das  Problem  des  „Ursprungs  der  Sprache" 
(Giambattista  Vico,  Hamann,  Herder,  Die  Romantik)  

V.  Wilhelm  von  Humboldt  

VI.  August  Schleicher  und  der  Fortgang  zur  „naturwissenschaftlichen"  Sprach- 
ansicht  

VII.  Die  Begründung  der  modernen  Sprachwissenschaft  und  das  Problem  der 


„Lautgesetze"   112 

Kapitel  Ii :  Die  Sprache  in  der  Phase  des  sinnlichen  Ausdrucks 

I.  Die  Sprache  als  Ausdrucksbewegung.  —  Gebärdensprache  und  Wortsprache  122 

II.  Mimischer,  analogischer  und  symbolischer  Ausdruck   i32 

Kapitel  III :  Die  Sprache  in  der  Phase  des  anschaulichen 
Ausdrucks 

I.  Der  Ausdruck  des  Raumes  und  der  räumlichen  Beziehungen  .     .     .     .  i/j6 

II.  Die  Zeitvorstellung   166 

III.  Die  sprachliche  Entwicklung  des  Zahlbegriffs   180 

IV.  Die  Sprache  und  das  Gebiet  der  „inneren  Anschauung".  —  Die  Phasen  des 
Ichbegriffs 

1.  Die  Herausarbeitung  der  „Subjektivität"  im  sprachlichen  Ausdruck  .     .  208 

2.  Personaler  und  possessiver  Ausdruck   220 

3.  Der  nominale  und  der  verbale  Typus  des  Sprachausdrucks   228 

XI 


Kapitel  IV:  Die  Sprache  als  Ausdruck  des  begrifflichen  Denkens.  — 
Die  Form  der  sprachlichen  Begriffs-  und  Klassenbildung  Seite 

I.  Die  qualifizierende  Begriffsbildung  2^4 

II.  Grundrichtungen  der  sprachlichen  Klassenbildung  a64 

Kapitel  V:  Die  Sprache  als  Ausdruck  der  logischen  Beziehungs- 
formen. —  Die  Relationsbegriffe  274 


XII 


EINLEITUNG  UND  PROBLEMSTELLUNG 


I 


Der  erste  Anfangspunkt  der  philosophischen  Spekulation  wird  durch 
den  Begriff  des  Seins  bezeichnet.  In  dem  Augenblick,  da  dieser  Begriff 
sich  als  solcher  konstituiert,  da  gegenüber  der  Vielfältigkeit  und  Ver- 
schiedenheit des  Seienden  das  Bewußtsein  von  der  Einheit  des  Seins  er- 
wacht, entsteht  erst  die  spezifisch-philosophische  Richtung  der  Welt- 
betrachtung. Aber  noch  auf  lange  Zeit  bleibt  diese  Betrachtung  in  dem 
Umkreis  des  Seienden,  den  sie  zu  verlassen  und  zu  überwinden  strebt, 
gebunden.  Der  Anfang  und  Ursprung,  der  letzte  „Grund"  alles  Seins  soll 
ausgesprochen  werden:  aber  so  klar  diese  Frage  gestellt  wird,  so  wenig 
reicht  die  Antwort,  die  für  sie  gefunden  wird,  in  ihrer  besonderen  konkre- 
ten Bestimmtheit  an  diese  höchste  und  allgemeinste  Fassung  des  Problems 
heran.  Was  als  das  Wesen,  als  die  Substanz  der  Welt  bezeichnet  wird,  das 
greift  nicht  prinzipiell  über  sie  hinaus,  sondern  ist  nur  ein  Auszug  aus  eben 
dieser  Welt  selbst.  Ein  einzelnes,  besonderes  und  beschränktes  Seiende  wird 
herausgegriffen,  um  aus  ihm  alles  andere  genetisch  abzuleiten  und  zu  „er- 
klären". Diese  Erklärung  verharrt  demnach,  so  wechselvoli  sie  sich  inhalt- 
lich auch  gestalten  mag,  ihrer  allgemeinen  Form  nach,  doch  stets  inner- 
halb derselben  methodischen  Grenzen.  Anfangs  ist  es  ein  selbst  noch  sinn- 
liches Einzeldasein,  ein  konkreter  „Urstoff",  der  als  letzter  Grund  für  die 
Gesamtheit  der  Erscheinungen  aufgestellt  wird;  dann  wendet  sich  die  Er- 
klärung ins  Ideelle  und  an  Stelle  dieses  Stoffes  tritt  bestimmter  ein  rein 
gedankliches  „Prinzip"  der  Ableitung  und  Begründung  heraus.  Aber  auch 
dieses  steht,  näher  betrachtet,  noch  in  einer  schwebenden  Mitte  zwischen 
dem  „Physischen"  und  „Geistigen".  So  sehr  es  die  Farbe  des  Ideellen 
trägt,  so  ist  es  doch  auf  der  -anderen  Seite  der  Welt  des  Existierenden 
aufs  engste  verhaftet.  In  diesem  Sinne  bleibt  die  Zahl  der  Pythagoreer, 
bleibt  das  Atom  Demokrits,  so  groß  der  Abstand  ist,  der  beide  von  dem 
Urstoff  der  Ionier  trennt,  ein  methodisches  Zwitterwesen,  das  in  sich 
selbst  seine  eigentliche  Natur  noch  nicht  gefunden  und  sich  gleichsam 
über  seine  wahre  geistige  Heimat  noch  nicht  entschieden  hat.  Diese  innere 
Unsicherheit  wird  endgültig  erst  in  der  Ideenlehre  Piatons  überwunden. 


3 


Die  große  systematische  und  geschichtliche  Leistung  dieser  Lehre  besteht 
darin,  daß  in  ihr  die  wesentliche  geistige  Grundvoraussetzung  alles  philo- 
sophischen Begreifens  und  aller  philosophischen  Welterklärung  zuerst  in 
expliziter  Gestalt  heraustritt.  Was  Piaton  unter  dem  Namen  der  „Idee" 
sucht,  das  war  auch  in  den  frühesten  Erklärungsversuchen,  bei  den  Elcaten, 
bei  den  Pythagoreern,  bei  Demokrit  als  immanentes  Prinzip  wirksam;  aber 
bei  ihm  erst  wird  sich  dieses  Prinzip  als  das,  was  es  ist  und  bedeutet, bewußt. 
Piaton  selbst  hat  seine  philosophische  Leistung  in  diesem  Sinne  verstan- 
den. In  seinen  Alterswerken,  in  denen  er  sich  zur  höchsten  Klarheit  über 
die  logischen  Voraussetzungen  seiner  Lehre  erhebt,  stellt  er  eben  dies  als  die 
entscheidende  Differenz  hin,  die  seine  Spekulation  von  der  Spekulation 
der  Vorsokratiker  trenne:  daß  bei  ihm  das  Sein,  das  dort  in  der  Form 
eines  einzelnen  Seienden  als  fester  Ausgangspunkt  genommen  wurde, 
zum  erstenmal  als  Problem  erkannt  worden  sei.  Er  fragt  nicht  mehr 
schlechthin  nach  der  Gliederung,  nach  der  Verfassung  und  der  Struktur 
des  Seins,  sondern  nach  seinem  Begriff  und  nach  der  Bedeutung  dieses 
Begriffs.  Dieser  scharfen  Frage  und  dieser  strengen  Forderung  gegen- 
über verblassen  alle  früheren  Erklärungsversuche  zu  bloßen  Erzählungen, 
zu  Mythen  vom  Sein.1  Über  dieser  mythisch-kosmologischen  Erklärung 
soll  sich  jetzt  die  eigentliche,  die  dialektische  Erklärung  erheben,  die  nicht 
mehr  an  seinem  bloßen  Bestand  haftet,  sondern  die  seinen  gedanklichen 
Sinn,  seine  systematisch-teleologische  Fügung  sichtbar  macht.  Und  da- 
mit erst  gewinnt  auch  das  Denken,  das  in  der  griechischen  Philosophie 
seit  Parmenides  als  Wechselbegriff  des  Seins  auftritt,  seine  neue  und 
tiefere  Bedeutung.  Erst  dort,  wo  das  Sein  den  scharf  bestimmten  Sinn  des 
Problems  erhält,  erhält  das  Denken  den  scharf  bestimmten  Sinn  und 
Wert  des  Prinzips.  Es  geht  jetzt  nicht  mehr  lediglich  neben  dem  Sein 
einher,  es  ist  kein  bloßes  Reflektieren  „über"  dasselbe,  sondern  seine 
eigene  innere  Form  ist  es,  die  ihrerseits  die  innere  Form  des  Seins  be- 
stimmt. — 

In  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  Idealismus  wiederholt  sich  so- 
dann auf  verschiedenen  Stufen  der  gleiche  typische  Grundzug.  Wo  die 
realistische  Weltansicht  sich  bei  irgendeiner  letztgegebenen  Beschaffen- 
heit der  Dinge,  als  der  Grundlage  für  alles  Erkennen,  beruhigt  —  da 
formt  der  Idealismus  eben  diese  Beschaffenheit  selbst  zu  einer  Frage  des 
Denkens  um.  Nicht  nur  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  sondern  auch 
in  der  der  Einzelwissenschaften  wird  dieser  Fortgang  erkennbar.  Auch 
hier  geht  der  Weg  nicht  einzig  von  den  „Tatsachen"  zu  den  „Gesetzen"  und 
1  Vgl.  bes.  Sophistes  243  C  ff. 

k 


von  diesen  wieder  zu  den  „Axiomen"  und  „Grundsätzen"  zurück:  sondern 
eben  diese  Axiome  und  Grundsätze,  die  auf  einer  bestimmten  Stufe  der 
Erkenntnis  als  der  letzte  und  vollständige  Ausdruck  der  Lösung  dastehen, 
müssen  auf  einer  späteren  Stufe  wieder  zum  Problem  werden.  Demnach 
erscheint  das,  was  die  Wissenschaft  als  ihr  „Sein"  und  ihren  „Gegen- 
stand" bezeichnet,  nicht  mehr  als  ein  schlechthin  einfacher  und  unzer- 
leglicher  Tatbestand,  sondern  jede  neue  Art  und  jede  neue  Richtung  der 
Betrachtung  schließt  an  ihm  ein  neues  Moment  auf.  Der  starre  Seins- 
begriff scheint  damit  gleichsam  in  Fluß,  in  eine  allgemeine  Bewegung 
zu  geraten  —  und  nur  als  Ziel,  nicht  als  Anfang  dieser  Bewegung  läßt 
sich  die  Einheit  des  Seins  überhaupt  noch  denken.  In  dem  Maße,  als 
sich  diese  Einsicht  in  der  Wissenschaft  selbst  entfaltet  und  durchsetzt, 
wird  in  ihr  der  naiven  Abbildtheorie  der  Erkenntnis  der  Boden  ent- 
zogen. Die  Grundbegriffe  jeder  Wissenschaft,  die  Mittel,  mit  denen  sie 
ihre  Fragen  stellt  und  ihre  Lösungen  formuliert,  erscheinen  nicht  mehr 
als  passive  Abbilder  eines  gegebenen  Seins,  sondern  als  selbstgeschaffene 
intellektuelle  Symbole.  Es  ist  insbesondere  die  mathematisch-physi- 
kalische Erkenntnis  gewesen,  die  sich  dieses  Symbolcharakters  ihrer  Grund- 
mittel am  frühesten  und  am  schärfsten  bewußt  geworden  ist1.  Heinrich 
Hertz  hat  in  den  Vorbetrachtungen,  mit  denen  er  seine  „Prinzipien  der 
Mechanik"  einleitet,  das  neue  Erkenntnisideal,  auf  das  diese  gesamte 
Entwicklung  hinweist,  auf  den  prägnantesten  Ausdruck  gebracht.  Er 
bezeichnet  es  als  die  nächste  und  wichtigste  Aufgabe  unserer  Natur- 
erkenntnis, daß  sie  uns  befähige,  zukünftige  Erfahrungen  vorauszusehen: 
—  das  Verfahren  aber,  dessen  sie  sich  zur  Ableitung  des  Zukünftigen  aus 
dem  Vergangenen  bediene,  bestehe  darin,  daß  wir  uns  „innere  Schein- 
bilder oder  Symbole"  der  äußeren  Gegenstände  machen,  die  von  solcher 
Art  sind,  daß  die  denknotwendigen  Folgen  der  Bilder  stets  wieder  die 
Bilder  seien  von  den  naturnotwendigen  Folgen  der  abgebildeten  Gegenstände. 
„Ist  es  uns  einmal  geglückt,  aus  der  angesammelten  bisherigen  Erfah- 
rung Bilder  von  der  verlangten  Beschaffenheit  abzuleiten,  so  können  wir 
an  ihnen,  wie  an  Modellen  in  kurzer  Zeit  die  Folgen  entwickeln,  welche 
in  der  äußeren  Welt  erst  in  längerer  Zeit  oder  als  Folgen  unseres  eigenen 
Eingreifens  auftreten  werden  .  .  .  Die  Bilder,  von  welchen  wir  reden, 
sind  unsere  Vorstellungen  von  den  Dingen;  sie  haben  mit  den  Dingen  die 
eine  wesentliche  Übereinstimmung,  welche  in  der  Erfüllung  der  genannten 
Forderung  liegt,  aber  es  ist  für  ihren  Zweck  nicht  nötig,  daß  sie  irgend- 

1  Näheres  hierüber  in  m.  Schrift  „Zur  Einstein'schen  Relativitätstheorie",  Berl.  1921; 
vgl.  bes.  den  ersten  Abschnitt  über  „Maßbegriffe  und  Dingbegriffe". 


5 


eine  weitere  Übereinstimmung  mit  den  Dingen  haben.  In  der  Tat  wissen 
wir  auch  nicht  und  haben  auch  kein  Mittel,  zu  erfahren,  ob  unsere  Vor- 
stellungen von  den  Dingen  mit  jenen  in  irgend  etwas  anderem  überein- 
stimmen, als  allein  in  eben  jener  einen  fundamentalen  Beziehung."1 

So  fährt  die  naturwissenschaftliche  Erkenntnistheorie,  auf  der  Heinrich 
Hertz  fußt,  —  so  fährt  die  Theorie  der  „Zeichen",  wie  sie  zuerst  von 
Helmholtz  eingehend  entwickelt  worden  ist,  fort,  die  Sprache  der  Ab- 
bildtheorie der  Erkenntnis  zu  sprechen;  —  aber  der  Begriff  des  „Bildes" 
hat  nun  in  sich  selbst  eine  innere  Wandlung  erfahren.  Denn  an  die  Stelle 
einer  irgendwie  geforderten  inhaltlichen  Ähnlichkeit  zwischen  Bild  und 
Sache  ist  jetzt  ein  höchst  komplexer  logischer  Verhältnisausdruck,  ist  eine 
allgemeine  intellektuelle  Bedingung  getreten,  der  die  Grundbegriffe  der 
physikalischen  Erkenntnis  zu  genügen  haben.  Ihr  Wert  liegt  nicht  in  der 
Abspiegelung  eines  gegebenen  Daseins,  sondern  in  dem,  was  sie  als  Mittel 
der  Erkenntnis  leisten,  in  der  Einheit  der  Erscheinungen,  die  sie  selbst 
aus  sich  heraus  erst  herstellen.  Der  Zusammenhang  der  objektiven  Gegen- 
stände und  die  Art  ihrer  wechselseitigen  Abhängigkeit  soll  im  System  der 
physikalischen  Begriffe  überschaut  werden,  —  aber  diese  Überschau  wird 
nur  möglich,  sofern  diese  Begriffe  schon  von  Anfang  an  einer  bestimmten 
einheitlichen  Blickrichtung  der  Erkenntnis  angehören.  Der  Gegenstand 
läßt  sich  nicht  als  ein  nacktes  Ansich  unabhängig  von  den  wesentlichen 
Kategorien  der  Naturerkenntnis  hinstellen,  sondern  nur  in  diesen  Kate- 
gorien, die  seine  eigene  Form  erst  konstituieren,  zur  Darstellung  bringen. 
In  diesem  Sinne  werden  für  Hertz  die  Grundbegriffe  der  Mechanik,  ins- 
besondere die  Begriffe  von  Masse  und  Kraft  zu  „Scheinbildern",  die,  wie 
sie  von  der  Logik  der  Naturerkenntnis  geschaffen  sind,  auch  den  allge- 
meinen Forderungen  dieser  Logik  unterstehen,  unter  denen  die  apriorische 
Forderung  der  Klarheit,  der  Widerspruchslosigkeit  und  der  Eindeutigkeit 
der  Beschreibung  den  ersten  Platz  einnimmt. 

Mit  dieser  kritischen  Einsicht  gibt  die  Wissenschaft  freilich  die  Hoff- 
nung und  den  Anspruch  auf  eine  „unmittelbare"  Erfassung  und  Wieder- 
gabe des  Wirklichen  auf.  Sie  begreift,  daß  alle  Objektivierung,  die  sie 
zu  vollziehen  vermag,  in  Wahrheit  Vermittlung  ist  und  Vermittlung 
bleiben  muß.  Und  in  dieser  Einsicht  liegt  nun  eine  weitere  und  folgen- 
reiche idealistische  Konsequenz  beschlossen.  Wenn  die  Definition,  die  Be- 
stimmung des  Erkenntnisgegenstandes  immer  nur  durch  das  Medium 
einer  eigentümlichen  logischen  Begriffsstruktur  erfolgen  kann,  so  ist  die 
Folgerung  nicht  abzuweisen,  daß  einer  Verschiedenheit  dieser  Medien 

1  H.  Hertz,  Die  Prinzipien  der  Mechanik,  Lpz.  i8g4,  S.  iff. 

6 


auch  eine  verschiedene  Fügung  des  Objekts,  ein  verschiedener  Sinn 
„gegenständlicher"  Zusammenhänge  entsprechen  muß.  Selbst  innerhalb 
des  Umkreises  der  „Natur"  fällt  sodann  der  physikalische  Gegenstand 
nicht  schlechthin  mit  dem  chemischen,  der  chemische  nicht  schlechthin 
mit  dem  biologischen  zusammen  —  weil  die  physikalische,  die  che- 
mische, die  biologische  Erkenntnis  je  einen  besonderen  Gesichtspunkt  der 
Fragestellung  in  sich  schließen  und  die  Erscheinungen  gemäß  diesem 
Gesichtspunkt  einer  spezifischen  Deutung  und  Formung  unterwerfen. 
Fast  kann  es  den  Anschein  haben,  als  sei  durch  dieses  Resultat  der  idea- 
listischen Gedankenentwicklung  die  Erwartung,  mit  der  sie  begonnen 
hatte,  endgültig  vereitelt.  Das  Ende  dieser  Entwicklung  scheint  ihren  An- 
fang zu  negieren  —  denn  wieder  droht  nun  die  gesuchte  und  geforderte 
Einheit  des  Seins  in  eine  bloße  Mannigfaltigkeit  des  Seienden  ausein- 
anderzugehen. Das  Eine  Sein,  an  dem  das  Denken  fest  hält  und  von  dem 
es  nicht  ablassen  zu  können  scheint,  ohne  seine  eigene  Form  zu  zerstören, 
zieht  sich  aus  dem  Gebiet  der  Erkenntnis  mehr  und  mehr  zurück.  Es 
wird  zu  einem  bloßen  X,  das,  je  strenger  es  seine  metaphysische  Einheit 
als  „Ding  an  sich"  behauptet,  umsomehr  aller  Möglichkeit  des  Er- 
kennens entrückt  und  schließlich  völlig  ins  Gebiet  des  Unerkennbaren 
abgedrängt  wird.  Diesem  starren  metaphysischen  Absolutum  aber  steht 
nun  das  Reich  der  Erscheinungen,  das  eigentliche  Gebiet  des  Wiss-  und 
Kennbaren,  in  seiner  unveräußerlichen  Vielheit,  in  seiner  Bedingtheit  und 
Relativität  gegenüber.  Schärfer  betrachtet  aber  ist  freilich  eben  in  dieser 
schlechthin  unreduzierbaren  Mannigfaltigkeit  der  Wissensmethoden  und 
der  Wissensgegenstände  die  Grundforderung  der  Einheit  nicht  als  nichtig 
abgewiesen,  sondern  sie  ist  hier  vielmehr  in  einer  neuen  Form  gestellt. 
Die  Einheit  des  Wissens  kann  jetzt  allerdings  nicht  mehr  dadurch 
verbürgt  und  sichergestellt  werden,  daß  es  in  all  seinen  Formen  auf 
ein  gemeinsames  „einfaches"  Objekt  bezogen  wird,  das  sich  zu  diesen 
Formen  wie  das  transzendente  Urbild  zu  den  empirischen  Abbildern  ver- 
hält, —  aber  statt  dessen  ergibt  sich  jetzt  die  andere  Forderung,  die  ver- 
schiedenen methodischen  Richtungen  des  Wissens  bei  all  ihrer  anerkannten 
Eigenart  und  Selbständigkeit  in  einem  System  zu  begreifen,  dessen  ein- 
zelne Glieder,  gerade  in  ihrer  notwendigen  Verschiedenheit,  sich  wechsel- 
seitig bedingen  und  fordern.  Das  Postulat  einer  derartigen  rein  funktio- 
nellen Einheit  tritt  nunmehr  an  die  Stelle  des  Postulats  der  Einheit  des 
Substrats  und  der  Einheit  des  Ursprungs,  von  dem  der  antike  Seinsbegriff 
wesentlich  beherrscht  wurde.  Von  hier  aus  ergibt  sich  die  neue  Aufgabe, 
die  der  philosophischen  Kritik  der  Erkenntnis  gestellt  ist.  Sie  muß  den 


7 


Weg,  den  die  besonderen  Wissenschaften  im  Einzelnen  beschreiten,  im 
Ganzen  verfolgen  und  im  Ganzen  überblicken.  Sie  muß  die  Frage  stellen, 
ob  die  intellektuellen  Symbole,  unter  denen  die  besonderen  Disziplinen  die 
Wirklichkeit  betrachten  und  beschreiben,  als  ein  einfaches  Nebeneinander 
zu  denken  sind,  oder  ob  sie  sich  als  verschiedene  Äußerungen  ein  und  der- 
*  selben  geistigen  Grundfunktion  verstehen  lassen.  Und  wenn  diese  letz- 
tere Voraussetzung  sich  bewähren  sollte,  so  entsteht  weiter  die  Aufgabe, 
die  allgemeinen  Bedingungen  dieser  Funktion  aufzustellen  und  das  Prinzip, 
von  dem  sie  beherrscht  wird,  klarzulegen.  Statt  mit  der  dogmatischen 
Metaphysik  nach  der  absoluten  Einheit  der  Substanz  zu  fragen,  in  die  alles 
besondere  Dasein  zurückgehen  soll,  wird  jetzt  nach  einer  Regel  gefragt, 
die  die  konkrete  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der  Erkenntnis- 
funktionen beherrscht  und  die  sie,  ohne  sie  aufzuheben  und  zu  zerstören, 
zu  einem  einheitlichen  Tun,  zu  einer  in  sich  geschlossenen  geistigen  Aktion 
zusammenfaßt.  — 

Aber  noch  einmal  weitet  sich  an  dieser  Stelle  der  Blick,  sobald  man  er- 
wägt, daß  die  Erkenntnis,  so  universell  und  umfassend  ihr  Begriff  auch 
genommen  werden  mag,  doch  im  Ganzen  der  geistigen  Erfassung  und 
Deutung  des  Seins,  immer  nur  eine  einzelne  Art  der  Formgebung  dar- 
stellt. Sie  ist  eine  Gestaltung  des  Mannigfaltigen,  die  von  einem  spezi- 
fischen, damit  aber  zugleich  von  einem  in  sich  selbst  klar  und  scharf 
begrenzten  Prinzip  geleitet  wird.  Alle  Erkenntnis  geht  zuletzt,  so  ver- 
schieden auch  ihre  Wege  und  Wegrichtungen  sein  mögen,  darauf  aus,  die^ 
Vielheit  der  Erscheinungen  der  Einheit  des  „Satzes  vom  Grunde"  zu 
unterwerfen.  Das  Einzelne  soll  nicht  als  einzelnes  stehen  bleiben,  sondern 
es  soll  sich  einem  Zusammenhang  einreihen,  in  dem  es  als  Glied  eines  sei 
es  logischen,  sei  es  teleologischen  oder  kausalen  „Gefüges"  erscheint.  Auf 
dieses  wesentliche  Ziel:  auf  die  Einfügung  des  Besonderen  in  eine  univer- 
selle Gesetzes-  und  Ordnungsform  bleibt  die  Erkenntnis  wesentlich  ge- 
richtet. Aber  neben  dieser  Form  der  intellektuellen  Synthesis,  die  sich  im 
System  der  wissenschaftlichen  Begriffe  darstellt  und  auswirkt,  stehen  im 
Ganzen  des  geistigen  Lebens  andere  Gestaltungsweisen.  Auch  sie  lassen  sich 
als  gewisse  Weisen  der  „Objektivierung"  bezeichnen:  d.h.  als  Mittel,  ein 
Individuelles  zu  einem  Allgemeingültigen  zu  erheben;  aber  sie  erreichen 
dieses  Ziel  der  Allgemeingültigkeit  auf  einem  völlig  anderen  Wege  als 
auf  dem  des  logischen  Begriffs  und  des  logischen  Gesetzes.  Jede  echte 
geistige  Grundfunktion  hat  mit  der  Erkenntnis  den  einen  entscheidenden 
Zug  gemeinsam,  daß  ihr  eine  ursprünglich-bildende,  nicht  bloß  eine 
nachbildende  Kraft  innewohnt.  Sie  drückt  nicht  bloß  passiv  ein  Vorhan- 


8 


denes  aus,  sondern  sie  schließt  eine  selbständige  Energie  des  Geistes  in  * 
sich,  durch  die  das  schlichte  Dasein  der  Erscheinung  eine  bestimmte 
„Bedeutung",  einen  eigentümlichen  ideellen  Gehalt  empfängt.  Dies  gilt 
für  die  Kunst,  wie  es  für  die  Erkenntnis  gilt;  für  den  Mythos  wie  für  die 
Religion.  Sie  alle  leben  in  eigentümlichen  Bildwelten,  in  denen  sich  nicht 
ein  empirisch  Gegebenes  einfach  widerspiegelt,  sondern  die  sie  vielmehr 
nach  einem  selbständigen  Prinzip  hervorbringen.  Und  so  schafft  auch 
jede  von  ihnen  sich  eigene  symbolische  Gestaltungen,  die  den  intellek- 
tuellen Symbolen  wenn  nicht  gleichartig,  so  doch  ihrem  geistigen  Ur- 
sprung nach  ebenbürtig  sind.  Keine  dieser  Gestaltungen  geht  schlechthin 
in  der  anderen  auf  oder  läßt  sich  aus  der  anderen  ableiten,  sondern  jede 
von  ihnen  bezeichnet  eine  bestimmte  geistige  Auffassungsweise  und  kon- 
stituiert in  ihr  und  durch  sie  zugleich  eine  eigene  Seite  des  „Wirklichen". 
Sie  sind  somit  nicht  verschiedene  Weisen,  in  denen  sich  ein  an  sich  Wirk- 
liches dem  Geiste  offenbart,  sondern  sie  sind  die  Wege,  die  der  Geist  in 
seiner  Objektivierung,  d.  h.  in  seiner  Selbstoffenbarung  verfolgt.  Faßt 
man  die  Kunst  und  die  Sprache,  den  Mythos  und  die  Erkenntnis  in 
diesem  Sinne,  so  hebt  sich  aus  ihnen  alsbald  ein  gemeinsames  Problem 
heraus,  das  einen  neuen  Zugang  zu  einer  allgemeinen  Philosophie  der 
Geisteswissenschaften  erschließt.  — 

Die  „Revolution  der  Denkart",  die  Kant  innerhalb  der  theoretischen 
Philosophie  durchführt,  beruht  auf  dem  Grundgedanken,  daß  das  Ver- 
hältnis, das  bisher  zwischen  der  Erkenntnis  und  ihrem  Gegenstande  allge- 
mein angenommen  wurde,  einer  radikalen  Umwendung  bedürfe.  Statt  vom 
Gegenstand  als  dem  Bekannten  und  Gegebenen  auszugehen,  müsse  viel- 
mehr mit  dem  Gesetz  der  Erkenntnis  als  dem  allein  wahrhaft  Zugäng- 
lichen und  als  dem  primär  Gesicherten  begonnen  werden;  statt  die  allge- 
meinsten Eigenschaften  des  Seins  im  Sinne  der  ontologischen  Metaphysik 
zu  bestimmen,  müsse  durch  eine  Analyse  des  Verstandes  die  Grundform 
des  Urteils  als  der  Bedingung,  unter  welcher  Objektivität  allein  setz  bar 
ist,  ermittelt  und  in  allen  ihren  mannigfachen  Verzweigungen  bestimmt 
werden.  Diese  Analyse  erschließt  nach  Kant  erst  die  Bedingungen,  auf 
denen  jedes  Wissen  vom  Sein  und  auf  denen  sein  reiner  Begriff  selbst 
beruht.  Aber  der  Gegenstand,  den  die  transzendentale  Analytik  auf  diese 
Weise  vor  uns  hinstellt,  ist  als  Korrelat  der  synthetischen  Einheit  des 
Verstandes,  selbst  ein  rein  logisch  bestimmter  Gegenstand.  Er  bezeichnet 
daher  nicht  alle  Objektivität  schlechthin,  sondern  nur  jene  Form  der  ob- 
jektiven Gesetzlichkeit,  die  sich  in  den  Grundbegriffen  der  Wissenschaft, 
insbesondere  in  den  Begriffen  und  Grundsätzen  der  mathematischen 


9 


Physik  fassen  und  darstellen  läßt.  So  erweist  er  sich  schon  für  Kant 
selbst,  sobald  er  dazu  fortschreitet,  in  dem  Ganzen  der  drei  Kritiken  das 
wahrhafte  „System  der  reinen  Vernunft"  zu  entwickeln,  als  zu  eng.  Das 
mathematisch-naturwissenschaftliche  Sein  erschöpft  in  seiner  idealisti- 
schen Fassung  und  Deutung  nicht  alle  Wirklichkeit,  weil  in  ihm  bei 
weitem  nicht  alle  Wirksamkeit  des  Geistes  und  seiner  Spontaneität  be- 
faßt ist.  In  dem  intelligiblen  Reich  der  Freiheit,  dessen  Grundgesetz  die 
Krilik  der  praktischen  Vernunft  entwickelt,  in  dem  Reich  der  Kunst  und 
im  Reich  der  organischen  Naturformen,  wie  es  sich  in  der  Kritik  der 
ästhetischen  und  der  teleologischen  Urteilskraft  darstellt,  tritt  je  eine  neue 
Seite  dieser  Wirklichkeit  heraus.  Diese  allmähliche  Entfaltung  des 
kritisch-idealistischen  Regriffs  der  Wirklichkeit  und  des  kritisch-ideali- 
stischen Regriffs  des  Geistes  gehört  zu  den  eigentümlichsten  Zügen  des 
Kantischen  Denkens  und  ist  geradezu  in  einer  Art  Stilgesetz  dieses  Denkens 
begründet.  Die  echte,  die  konkrete  Totalität  des  Geistes  soll  nicht  von 
Anfang  an  in  einer  einfachen  Formel  bezeichnet  und  gleichsam  fertig 
hingegeben  werden,  sondern  sie  entwickelt,  sie  findet  sich  erst  in  dem 
stetig  weiterschreitenden  Fortgang  der  kritischen  Analyse  selbst.  Der 
Umfang  des  geistigen  Seins  kann  nicht  anders  bezeichnet  und  bestimmt 
werden,  als  dadurch,  daß  er  in  diesem  Fortgang  abgeschritten  wird.  Es 
liegt  in  der  Natur  dieses  Prozesses,  daß  sein  Anfang  und  sein  Ende  nicht 
nur  auseinanderfallen,  sondern  daß  sie  einander  scheinbar  widerstreiten 
müssen  —  aber  der  Widerstreit  ist  kein  anderer,  als  er  zwischen  Potenz 
und  Akt,  zwischen  der  bloßen  logischen  „Anlage"  eines  Regriffs  und 
seiner  vollständigen  Entwicklung  und  Auswirkung  besteht.  Vom  Stand- 
punkt'dieser  letzteren  nimmt  auch  die  Copernikanische  Drehung,  mit  der 
Kant  begonnen  hatte,  einen  neuen  und  erweiterten  Sinn  an.  Sie  bezieht 
sich  nicht  allein  auf  die  logische  Urteilsfunktion,  sondern  greift  mit 
gleichem  Grund  und  Recht  auf  jede  Richtung  und  auf  jedes  Prinzip 
geistiger  Gestaltung  über.  Immer  liegt  die  entscheidende  Frage  darin,  ob 
wir  die  Funktion  aus  dem  Gebilde  oder  das  Gebilde  aus  der  Funktion  zu 
b  verstehen  suchen,  ob  wir  diese  in  jenem  oder  jenes  in  dieser  „begründet" 
sein  lassen.  Diese  Frage  bildet  das  geistige  Rand,  das  die  verschiedenen 
Problemgebiete  mit  einander  verknüpft :  —  sie  stellt  deren  innere  methodische 
Einheit  dar,  ohne  sie  jemals  in  eine  sachliche  Einerleiheit  zusammenfallen 
zu  lassen.  Denn  das  Grundprinzip  des  kritischen  Denkens,  das  Prinzip  des 
„Primats"  der  Funktion  von  dem  Gegenstand,  nimmt  in  jedem  Sonder- 
gebiet eine  neue  Gestalt  an  und  verlangt  eine  neue  selbständige  Regrün- 
dung.  Neben  der  reinen  Erkenntnisfunktion  gilt  es,  die  Funktion  des 

10 


sprachlichen  Denkens,  die  Funktion  des  mythisch-religiösen  Denkens  und 
die  Funktion  der  künstlerischen  Anschauung  derart  zu  begreifen,  daß  dar- 
aus ersichtlich  wird,  wie  in  ihnen  allen  eine  ganz  bestimmte  Gestaltung 
nicht  sowohl  der  Welt,  als  vielmehr  eine  Gestaltung  zur  Welt,  zu  einem 
objektiven  Sinnzusammenhang  und  einem  objektivenAnschauungsganzen 
sich  vollzieht. 

Die  Kritik  der  Vernunft  wird  damit  zur  Kritik  der  Kultur.  Sie  sucht  c 
zu  verstehen  und  zu  erweisen,  wie  aller  Inhalt  der  Kultur,  sofern  er  mehr 
als  bloßer  Einzelinhalt  ist,  sofern  er  in  einem  allgemeinen  Formprinzip 
gegründet  ist,  eine  ursprüngliche  Tat  des  Geistes  zur  Voraussetzung  hat. 
Hierin  erst  findet  die  Grundthese  des  Idealismus  ihre  eigentliche  und  voll- 
ständige Bewährung.  Solange  die  philosophische  Betrachtung  sich  ledig- 
lich auf  die  Analyse  der  reinen  Erkenntnisform  bezieht  und  sich  auf 
diese  Aufgabe  einschränkt,  solange  kann  auch  die  Kraft  der  naiv-reali- 
stischen Weltansicht  nicht  völlig  gebrochen  werden.  Der  Gegenstand  der 
Erkenntnis  mag  immerhin  in  ihr  und  durch  ihr  ursprüngliches  Gesetz  in 
irgendeiner  Weise  bestimmt  und  geformt  werden  —  aber  er  muß  nichts- 
destoweniger, wie  es  scheint,  auch  außerhalb  dieser  Relation  zu  den 
Grundkategorien  der  Erkenntnis  als  ein  selbständiges  Etwas  vorhanden 
und  gegeben  sein.  Geht  man  dagegen  nicht  sowohl  vom  allgemeinen  Welt- 
begriff, als  vielmehr  vom  allgemeinen  Kulturbegriff  aus,  so  gewinnt  da- 
mit die  Frage  alsbald  eine  veränderte  Gestalt.  Denn  der  Inhalt  des  Kultur- 
begriffs läßt  sich  von  den  Grundformen  und  Grundrichtungen  des  geistigen  6 
Produzierens  nicht  loslösen:  das  „Sein"  ist  hier  nirgends  anders  als  im  « 
„Tun"  erfaßbar.  Nur  sofern  es  eine  spezifische  Richtung  der  ästheti- 
schen Phantasie  und  der  ästhetischen  Anschauung  gibt,  gibt  es  ein  Gebiet 
ästhetischer  Gegenstände,  —  und  das  Gleiche  gilt  für  alle  übrigen  geisti- 
gen Energien,  kraft  deren  für  uns  die  Form  und  der  Umriß  eines  be^ 
stimmten  Gegenstandsbereichs  sich  gestaltet.  Auch  das  religiöse  Bewußt- 
sein bildet  —  so  sehr  es  von  der  „Realität",  von  der  Wahrheit  seines 
Gegenstandes  überzeugt  ist  —  diese  Realität  nur  auf  der  untersten  Stufe, 
nur  auf  der  Stufe  eines  rein  mythologischen  Denkens,  in  eine  einfache 
dingliche  Existenz  um.  Auf  allen  höheren  Stufen  der  Betrachtung  da- 
gegen ist  es  sich  mehr  oder  minder  deutlich  bewußt,  daß  es  seinen  Gegen- 
stand nur  dadurch  „hat",  daß  es  sich  in  einer  durchaus  eigenartigen,  ihm 
allein  zugehörigen  Weise  auf  ihn  bezieht.  Es  ist  eine  Art  des  Sich-Ver- 
haltens,  es  ist  die  Richtung,  die  sich  der  Geist  auf  ein  gedachtes  Objektive 
gibt,  in  welcher  hier  die  letzte  Gewähr  eben  dieser  Objektivität  selbst  ent- 
halten ist.  Das  philosophische  Denken  tritt  all  diesen  Richtungen  gegen- 


1 1 


über  —  nicht  lediglich  in  der  Absicht,  jede  von  ihnen  gesondert  zu  ver- 
folgen oder  sie  im  Ganzen  zu  überblicken,  sondern  mit  der  Voraussetzung, 
daß  es  möglich  sein  müsse,  sie  auf  einen  einheitlichen  Mittelpunkt,  auf 
ein  ideelles  Zentrum  zu  beziehen.  Dieses  Zentrum  aber  kann,  kritisch  be- 
trachtet, niemals  in  einem  gegebenen  Sein,  sondern  nur  in  einer  gemein- 
samen Aufgabe  liegen.  Die  verschiedenen  Erzeugnisse  der  geistigen 
Kultur,  die  Sprache,  die  wissenschaftliche  Erkenntnis,  der  Mythos,  die 
Kunst,  die  Religion  werden  so,  bei  all  ihrer  inneren  Verschiedenheit,  zu 
Gliedern  eines  einzigen  großen  Problemzusammenhangs,  —  zu  mannig- 
fachen Ansätzen,  die  alle  auf  das  eine  Ziel  bezogen  sind,  die  passive  Welt 

%  der  bloßen  Eindrücke,  in  denen  der  Geist  zunächst  befangen  scheint,  zu 
einer  Welt  des  reinen  geistigen  Ausdrucks  umzubilden. 

Denn  wie  die  moderne  Sprachphilosophie,  um  den  eigentlichen  Ansatz- 
punkt für  eine  philosophische  Betrachtung  der  Sprache  zu  finden,  den 
Begriff  der  „inneren  Sprachform"  aufgestellt  hat  —  so  läßt  sich  sagen, 
daß  eine  analoge  „innere  Form"  auch  für  die  Religion  und  den  Mythos, 
für  die  Kunst  und  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  vorauszusetzen 
und  zu  suchen  ist.  Und  diese  Form  bedeutet  nicht  lediglich  die  Summe 
oder  die  nachträgliche  Zusammenfassung  der  Einzelerscheinungen  dieser 

<  Gebiete,  sondern  das  bedingende  Gesetz  ihres  Aufbaus.  Freilich  gibt  es 
zuletzt  keinen  anderen  Weg,  sich  dieses  Gesetzes  zu  versichern,  als  daß 
wir  es  an  den  Erscheinungen  selbst  aufzeigen  und  es  von  ihnen  „abstra- 
hieren"; aber  eben  diese  Abstraktion  erweist  es  zugleich  als  ein  notwen- 
diges und  konstitutives  Moment  für  den  inhaltlichen  Bestand  des  Ein- 
zelnen. Die  Philosophie  ist  sich  im  Verlauf  ihrer  Geschichte  der  Aufgabe 
einer  solchen  Analyse  und  Kritik  der  besonderen  Kulturformen  immer 
mehr  oder  weniger  bewußt  geblieben;  aber  sie  hat  zumeist  nur  Teile 
dieser  Aufgabe,  und  zwar  mehr  in  negativer  als  in  posiliver  Absicht,  direkt 
in  Angriff  genommen.  Ihr  Bestreben  ging  in  dieser  Kritik  häufig  weniger 
auf  die  Darstellung  und  Begründung  der  positiven  Leistungen  jeder  Ein- 
zelform, als  auf  die  Abwehr  falscher  Ansprüche.  Seit  den  Tagen  der 
griechischen  Sophistik  gibt  es  eine  skeptische  Sprachkritik,  wie  es  eine 
skeptische  Mythenkritik  und  Erkenntniskritik  gibt.  Diese  wesentlich  nega- 
tive Einstellung  wird  verständlich,  wenn  man  erwägt,  daß  in  der  Tat  jeder 
Grundform  des  Geistes,  indem  sie  auftritt  und  sich  entwickelt,  das  Be- 
streben eigen  ist,  sich  nicht  als  einen  Teil,  sondern  als  ein  Ganzes  zu 
geben  und  somit  statt  einer  bloß  relativen  eine  absolute  Geltung  für  sich 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Sie  bescheidet  sich  nicht  innerhalb  ihres  beson- 
deren Bezirks,  sondern  sie  sucht  die  eigentümliche  Prägung,  die  sie  mit 


12 


sich  führt,  der  Gesamtheit  des  Seins  und  des  geistigen  Lebens  aufzu- 
drücken. Aus  diesem  Streben  zum  Unbedingten,  das  jeder  Einzelrichtung 
innewohnt,  ergeben  sich  die  Konflikte  der  Kultur  und  die  Antinomien  des 
Kuliurbegriffs.  Die  Wissenschaft  entsteht  in  einer  Form  der  Betrach- 
tung, die,  bevor  sie  einsetzen  und  sich  durchsetzen  kann,  überall  gezwun- 
gen ist,  an  jene  ersten  Verbindungen  und  Trennungen  des  Denkens  an- 
zuknüpfen, die  in  der  Sprache  und  in  den  sprachlichen  Allgemeinbe- 
griffen  ihren  ersten  Ausdruck  und  Niederschlag  gefunden  haben.  Aber 
indem  sie  die  Sprache  als  Material  und  Grundlage  benutzt,  schreitet  sie 
zugleich  notwendig  über  sie  hinaus.  Ein  neuer  „Logos",  der  von  einem 
anderen  Prinzip  als  dem  des  sprachlichen  Denkens  geleitet  und  beherrscht 
wird,  tritt  nun  hervor  und  bildet  sich  immer  schärfer,  immer  selbstän- 
diger aus.  Und  an  ihm  gemessen,  erscheinen  nun  die  Bildungen  der 
Sprache  nur  noch  wie  Hemmungen  und  Schranken,  die  durch  die  Kraft 
und  Eigenart  des  neuen  Prinzips  fortschreitend  überwunden  werden 
müssen.  Die  Kritik  der  Sprache  und  der  sprachlichen  Denkform  wird  zu 
einem  integrierenden  Bestand  des  vordringenden  wissenschaftlichen  und 
philosophischen  Denkens.  Und  auch  in  den  übrigen  Gebieten  wiederholt 
sich  dieser  typische  Gang  der  Entwicklung.  Die  einzelnen  geistigen  Rich- 
tungen treten  nicht,  um  einander  zu  ergänzen,  friedlich  nebeneinander, 
sondern  jede  wird  zu  dem,  was  sie  ist,  erst  dadurch,  daß  sie  gegen  die 
anderen  und  im  Kampf  mit  den  anderen  die  ihr  eigentümliche  Kraft  er- 
weist. Die  Religion  und  die  Kunst  stehen  in  ihrem  rein  geschichtlichen 
Wirken  einander  so  nahe  und  durchdringen  sich  derart,  daß  beide  bis- 
weilen auch  ihrem  Gehalt  und  dem  inneren  Prinzip  des  Bildens  nach  un- 
unterscheidbar  zu  werden  scheinen.  Von  den  Göttern  Griechenlands  hat 
man  gesagt,  daß  sie  Homer  und  Hesiod  ihre  Entstehung  verdanken.  Und 
doch  scheidet  sich  andererseits  gerade  das  religiöse  Denken  der  Griechen 
in  seinem  weiteren  Fortgang  immer  bestimmter  von  diesem  seinem  ästhe- 
tischen Anfang  und  Urgrund.  Immer  entschiedener  lehnt  es  sich  seit 
Xenophanes  gegen  den  mythisch-dichterischen  und  gegen  den  sinn- 
lich-plastischen Gottesbegriff  auf,  den  es  als  Anthropomorphismus  er- 
kennt und  verwirft.  In  derartigen  geistigen  Kämpfen  und  Konflikten,  wie 
sie  sich  in  der  Geschichte  in  immer  neuer  Potenzierung  und  Steigerung 
darstellen,  scheint  von  der  Philosophie  als  der  höchsten  Einheitsinstanz 
die  alleinige  letzte  Entscheidung  zu  erwarten  zu  sein.  Aber  die  dogmati- 
schen Systeme  der  Metaphysik  befriedigen  diese  Erwartung  und  Forde- 
rung nur  unvollkommen.  Denn  sie  selbst  stehen  zumeist  noch  mitten  in 
dem  Kampfe,  der  sich  hier  vollzieht,  nicht  über  ihm:  sie  vertreten  trotz 


i3 


aller  begrifflichen  Universalität,  nach  der  sie  streben,  nur  eine  Seite  des 
Gegensatzes,  statt  diesen  selbst  in  seiner  ganzen  Weite  und  Tiefe  zu  be- 
greifen und  zu  vermitteln.  Denn  sie  selbst  sind  zumeist  nichts  anderes 
als  metaphysische  Hypostasen  eines  bestimmten  logischen  oder  ästhe- 
tischen oder  religiösen  Prinzips.  Je  mehr  sie  sich  in  die  abstrakte  All- 
gemeinheit dieses  Prinzips  einschließen,  um  so  mehr  schließen  sie  sich 
damit  gegen  einzelne  Seiten  der  geistigen  Kultur  und  gegen  die  konkrete 
Totalität  ihrer  Formen  ab.  Der  Gefahr  eines  derartigen  Abschlusses  ver- 
möchte die  philosophische  Betrachtung  nur  dann  zu  entgehen,  wenn  es 
ihr  gelänge,  einen  Standpunkt  zu  finden,  der  über  all  diesen  Formen  und 
der  doch  andererseits  nicht  schlechthin  jenseits  von  ihnen  liegt:  —  einen 
Standpunkt,  der  es  ermöglichte,  das  Ganze  derselben  mit  einem  Blicke  zu 
umfassen  und  der  in  diesem  Blicke  doch  nichts  anderes  sichtbar  zu 
machen  versuchte,  als  das  rein  immanente  Verhältnis,  das  alle  diese  For- 
men zueinander,  nicht  das  Verhältnis,  das  sie  zu  einem  äußeren,  „trans- 
zendenten" Sein  oder  Prinzip  haben.  Dann  erstünde  eine  philosophische 
Systematik  des  Geistes,  in  der  jede  besondere  Form  ihren  Sinn  rein  durch 
die  Stelle,  an  der  sie  steht,  erhalten  würde,  in  der  ihr  Gehalt  und  ihre 
Bedeutung  durch  den  Reichtum  und  die  Eigenart  der  Beziehungen  und 
Verflechtungen  bezeichnet  würde,  in  welchen  sie  mit  anderen  geistigen 
Energien  und  schließlich  mit  deren  Allheit  steht. 

An  Versuchen  und  Ansätzen  zu  einer  derartigen  Systematik  hat  es  seit 
den  Anfängen  der  neueren  Philosophie  und  seit  der  Grundlegung  des 
modernen  philosophischen  Idealismus  nicht  gefehlt.  Schon  Descartes' 
methodische  Programmschrift,  schon  die  „Regulae  ad  directionem  in- 
genir  weisen  zwar  den  Versuch  der  alten  Metaphysik,  die  Gesamtheit 
der  Dinge  zu  überblicken  und  in  die  letzten  Geheimnisse  der  Natur 
eindringen  zu  wollen,  als  vergeblich  ab,  aber  um  so  nachdrücklicher  be- 
stehen sie  darauf,  daß  es  möglich  sein  müsse,  die  „universitas"  des 
Geistes  gedanklich  zu  erschöpfen  und  auszumessen.  „Ingenii  limites 
definire"  das  Gesamtgebiet  und  die  Grenzen  des  Geistes  zu  bestimmen: 
dieser  Wahlspruch  Descartes'  wird  nunmehr  zum  Leitwort  der  gesamten 
neueren  Philosophie.  Aber  der  Begriff  des  „Geistes"  ist  hierbei  in  sich 
selbst  noch  zwiespältig  und  zweideutig,  da  er  bald  im  engeren,  bald  im 
weiteren  Sinne  gebraucht  wird.  Wie  die  Philosophie  Descartes'  von  einem 
neuen  umfassenden  Begriff  des  Bewußtseins  ausgeht,  dann  aber  diesen 
Begriff,  im  Ausdruck  der  cogitatio,  wieder  mit  dem  reinen  Denken 
zusammenfallen  läßt  —  so  fällt  für  Descartes  und  für  den  gesamten 
Rationalismus  auch  die  Systematik  des  Geistes  mit  der  des  Denkens  zu- 

i4 


sammen.  Die  universitas  des  Geistes,  seine  konkrete  Totalität  gilt  daher 
erst  dann  als  wahrhaft  erfaßt  und  als  philosophisch  durchdrungen,  wenn 
es  gelingt,  sie  aus  einem  einzigen  logischen  Prinzip  zu  deduzieren. 
Damit  ist  die  reine  Form  der  Logik  wieder  zum  Prototyp  und  Vorbild 
für  jegliches  geistige  Sein  und  jegliche  geistige  Form  erhoben.  Und  wie 
bei  Descartes,  der  die  Reihe  der  Systeme  des  klassischen  Idealismus  be- 
ginnt, so  steht  bei  Hegel,  der  diese  Reihe  abschließt,  dieser  methodische 
Zusammenhang  noch  einmal  in  voller  Deutlichkeit  vor  uns.  Die  Forde- 
rung, das  Ganze  des  Geistes  als  konkretes  Ganze  zu  denken,  also  nicht 
bei  seinem  einfachen  Begriff  stehen  zu  bleiben,  sondern  ihn  in  die  Ge- 
samtheit seiner  Manifestationen  zu  entwickeln,  hat  Hegel  mit  einer 
Schärfe,  wie  kein  Denker  vor  ihm,  gestellt.  Und  doch  soll  andererseits  die 
Phänomenologie  des  Geistes,  indem  sie  diese  Forderung  zu  erfüllen 
strebt,  damit  nur  der  Logik  den  Boden  und  den  Weg  bereiten.  Die 
Mannigfaltigkeit  der  geistigen  Formen,  wie  sie  die  Phänomenologie  auf- 
stellt, läuft  zuletzt  gleichsam  in  eine  höchste  logische  Spitze  aus  —  und 
in  diesem  ihrem  Ende  findet  sie  erst  ihre  vollendete  „Wahrheit* '  und 
Wesenheit.  So  reich  und  vielgestaltig  sie  ihrem  Inhalt  nach  ist,  so  unter- 
steht sie  doch  ihrer  Struktur  nach  einem  einzigen  und  im  gewissen  Sinne 
einförmigen  Gesetz  —  dem  Gesetz  der  dialektischen  Methode,  das  den 
sich  gleichbleibenden  Rhythmus  in  der  Selbstbewegung  des  Begriffs  dar- 
stellt. Der  Geist  beschließt  alle  Bewegung  seines  Gestaltens  im  absoluten 
Wissen,  indem  er  hier  das  reine  Element  seines  Daseins,  den  Begriff, 
gewinnt.  In  diesem  seinem  letzten  Ziel  sind  alle  früheren  Stadien,  die  er 
durchlaufen,  zwar  noch  als  Momente  enthalten,  aber  auch  zu  bloßen  Mo- 
menten aufgehoben.  Somit  scheint  auch  hier  von  allen  geistigen  Formen 
nur  der  Form  des  Logischen,  der  Form  des  Begriffs  und  der  Erkenntnis 
eine  echte  und  wahrhafte  Autonomie  zu  gebühren.  Der  Begriff  ist  nicht 
nur  das  Mittel,  das  konkrete  Leben  des  Geistes  darzustellen,  sondern  er 
ist  das  eigentliche  substantielle  Element  des  Geistes  selbst.  Demnach  wird 
alles  geistige  Sein  und  Geschehen,  so  sehr  es  in  seiner  spezifischen  Besonde- 
rung  erfaßt  und  in  dieser  Besonderung  anerkannt  werden  soll,  doch  zu- 
letzt gleichsam  auf  eine  einzige  Dimension  bezogen  und  reduziert  —  und 
diese  Beziehung  ist  es  erst,  in  welcher  sein  tiefster  Gehalt  und  seine 
eigentliche  Bedeutung  erfaßt  wird. 

Und  in  der  Tat  scheint  diese  letzte  Zentrierung  aller  geistigen  Formen 
in  der  einen  logischen  Form  durch  den  Begriff  der  Philosophie  selbst 
und  insbesondere  durch  das  Grundprinzip  des  philosophischen  Idealismus 
notwendig  gefordert  zu  sein.  Denn  verzichtet  man  auf  diese  Einheit,  so 


i5 


scheint  überhaupt  von  einer  strengen  Systematik  dieser  Formen  keine 
Rede  mehr  sein  zu  können.  Als  Gegenbild  und  Widerspiel  der  dialekti- 
schen Methode  bleibt  alsdann  nur  ein  rein  empirisches  Verfahren  übrig. 
Läßt  sich  kein  allgemeines  Gesetz  aufweisen,  kraft  dessen  die  eine  geistige 
Form  mit  Notwendigkeit  aus  der  anderen  hervorgeht,  bis  schließlich  die 
ganze  Reihe  der  geistigen  Gestaltungen  gemäß  diesem  Prinzip  durch- 
laufen ist  —  so  läßt  sich,  wie  es  scheint,  der  Inbegriff  dieser  Gestaltungen 
nicht  mehr  als  ein  in  sich  geschlossener  Kosmos  denken.  Die  einzelnen 
Formen  stehen  dann  einfach  nebeneinander:  sie  lassen  sich  zwar  ihrem 
Umfang  nach  übersehen  und  in  ihrer  Resonderheit  beschreiben,  aber  es 
drückt  sich  in  ihnen  nicht  mehr  ein  gemeinsamer  ideeller  Gehalt  aus. 
Die  Philosophie  dieser  Formen  müßte  dann  schließlich  in  ihre  Geschichte 
ausmünden,  die  sich  je  nach  ihren  Gegenständen  als  Sprachgeschichte,  als 
Religions-  und  Mythengeschichte,  als  Kunstgeschichte  u.  s.  f.  darstellen 
und  spezifizieren  würde.  Somit  ergibt  sich  an  diesem  Punkte  ein  eigentüm- 
liches Dilemma.  Halten  wir  an  der  Forderung  der  logischen  Einheit  fest, 
so  droht  zuletzt  in  der  Allgemeinheit  der  logischen  Form  die  Resonderung 
jedes  Einzelgebiets  und  die  Eigenart  seines  Prinzips  sich  zu  verwischen  — 
versenken  wir  uns  dagegen  in  eben  diese  Individualität  und  bleiben  wir 
bei  ihrer  Retrachtung  stehen,  so  laufen  wir  Gefahr,  uns  in  ihr  zu  ver- 
lieren und  keinen  Rückweg  mehr  ins  Allgemeine  zu  finden.  Ein  Ausweg 
aus  diesem  methodischen  Dilemma  könnte  nur  dann  gefunden  werden, 
wenn  es  gelänge,  ein  Moment  aufzuweisen  und  zu  ergreifen,  das  sich  in 
jeder  geistigen  Grundform  wiederfindet  und  das  doch  andererseits  in 
keiner  von  ihnen  in  schlechthin  gleicher  Gestalt  wiederkehrt.  Dann  ließe 
sich  im  Hinblick  auf  dieses  Moment  der  ideelle  Zusammenhang  der  ein- 
zelnen Gebiete  —  der  Zusammenhang  zwischen  der  Grundfunktion  der 
Sprache  und  der  Erkenntnis,  des  Ästhetischen  und  des  Religiösen  —  be- 
haupten, ohne  daß  in  ihm  die  unvergleichliche  Eigenheit  einer  jeden 
von  ihnen  verloren  ginge.  Wenn  sich  ein  Medium  finden  ließe,  durch 
welches  alle  Gestaltung,  wie  sie  sich  in  den  einzelnen  geistigen  Grund- 
richtungen vollzieht,  hindurchgeht,  und  in  welchem  sie  nichtsdestoweniger 
ihre  besondere  Natur,  ihren  spezifischen  Charakter  bewahrt,  —  so  wäre 
damit  das  notwendige  Mittelglied  für  eine  Retrachtung  gegeben,  die  das- 
jenige, was  die  transzendentale  Kritik  für  die  reine  Erkenntnis  leistet, 
auf  die  Allheit  der  geistigen  Formen  überträgt.  Die  nächste  Frage,  die 
wir  uns  zu  stellen  haben,  wird  also  darin  bestehen,  ob  es  in  der  Tat  für 
die  mannigfachen  Richtungen  des  Geistes  ein  solches  mittleres  Gebiet 
und  eine  vermittelnde  Funktion  gibt,  und  ob  diese  Funktion  bestimmte 

16 


typische  Grundzüge  aufweist,  kraft  deren  sie  sich  erkennen  und  be- 
schreiben läßt. 


II 

Wir  greifen  hierfür  zunächst  wieder  auf  den  Begriff  des  „Symbols" 
zurück,  wie  ihn  Heinrich  Hertz  vom  Standpunkt  der  physikalischen  Er- 
kenntnis fordert  und  kennzeichnet.  Was  der  Physiker  in  den  Erscheinungen 
sucht  ist  die  Darstellung  ihrer  notwendigen  Verknüpfung.  Aber  diese  Dar- 
stellung läßt  sich  nicht  anders  vollziehen,  als  dadurch,  daß  er  die  unmittel- 
bare Welt  der  sinnlichen  Eindrücke  nicht  nur  hinter  sich  läßt,  sondern  sich 
scheinbar  völlig  von  ihnen  abwendet.  Die  Begriffe,  mit  denen  er  operiert,  die 
Begriffe  des  Raumes  und  der  Zeit,  der  Masse  und  der  Kraft,  des  materiellen 
Punktes  und  der  Energie,  des  Atoms  oder  des  Äthers  sind  freie  „Schein- 
bilder", die  die  Erkenntnis  entwirft,  um  die  Welt  der  sinnlichen  Erfah- 
rung zu  beherrschen  und  als  gesetzlich-geordnete  Welt  zu  übersehen, 
denen  aber  in  den  sinnlichen  Daten  selbst  unmittelbar  nichts  entspricht 
Aber  obwohl  keine  derartige  Entsprechung  stattfindet  —  und  vielleicht 
gerade  weil  sie  nicht  stattfindet  —  ist  doch  die  Begriffswelt  der  Physik 
in  sich  selbst  völlig  geschlossen.  Jeder  Einzelbegriff,  jedes  besonder© 
Scheinbild  und  Zeichen  gleicht  dem  artikulierten  Wort  einer  in  sich  be- 
deutungs-  und  sinnvollen,  nach  festen  Regeln  gegliederten  Sprache.  Schon 
in  den  ersten  Anfängen  der  modernen  Physik,  schon  bei  Galilei  findet 
sich  der  Vergleich,  daß  das  „Buch  der  Natur"  in  mathematischer  Sprache 
verfaßt  und  nur  in  mathematischer  Chiffreschrift  lesbar  sei.  Und  seit- 
her zeigt  die  gesamte  Entwicklung  der  exakten  Naturwissenschaft,  wie  in 
der  Tat  jeder  Fortschritt  ihrer  Problemstellung  und  ihrer  Begriffsmittel 
mit  einer  zunehmenden  Verfeinerung  ihres  Zeichensystems  Hand  in 
Hand  ging.  Die  scharfe  Erfassung  der  Grundbegriffe  der  Galileischen 
Mechanik  gelang  erst,  als  durch  den  Algorithmus  der  Differentialrech- 
nung gleichsam  der  allgemein  logische  Ort  dieser  Begriffe  bestimmt  und 
ein  allgemeingültiges  mathematisch-logisches  Zeichen  für  sie  geschaffen 
war.  Und  von  hier  aus,  von  den  Problemen,  die  mit  der  Entdeckung  der 
Analysis  des  Unendlichen  zusammenhingen,  vermochte  Leibniz  alsbald 
das  allgemeine  Problem,  das  in  der  Funktion  der  Zeichengebung  enthalten 
ist,  aufs  schärfste  zu  bestimmen,  vermochte  er  den  Plan  seiner  univer- 
sellen „Charakteristik"  zu  einer  wahrhaft  philosophischen  Bedeutung  zu 
erheben.  Die  Logik  der  Sachen,  d.  h.  der  inhaltlichen  Grundbegriffe  und 
Grundbeziehungen,  auf  denen  der  Aufbau  einer  Wissenschaft  beruht, 
kann  nach  der  Grundüberzeugung,  die  er  vertritt  und  festhält,  von  der 


Logik  der  Zeichen  nicht  getrennt  werden.  Denn  das  Zeichen  ist  keine 
bloß  zufällige  Hülle  des  Gedankens,  sondern  sein  notwendiges  und  wesent- 
liches Organ.  Es  dient  nicht  nur  dem  Zweck  der  Mitteilung  eines  fertig- 
gegebenen  Gedankeninhalts,  sondern  ist  ein  Instrument,  kraft  desssen  dieser 
Inhalt  selbst  sich  herausbildet  und  kraft  dessen  er  erst  seine  volle  Be- 
stimmtheit gewinnt.  Der  Akt  der  begrifflichen  Bestimmung  eines  Inhalts 
geht  mit  dem  Akt  seiner  Fixierung  in  irgendeinem  charakteristischen 
Zeichen  Hand  in  Hand.  So  findet  alles  wahrhaft  strenge  und  exakte 
Denken  seinen  Halt  erst  in  der  Symbolik  und  Semiotik,  auf  die  es 
sich  stützt.  Jedes  „Gesetz"  der  Natur  nimmt  für  unser  Denken  die  Gestalt 
einer  allgemeinen  „Formel"  an  —  jede  Formel  aber  läßt  sich  nicht 
anders  denn  durch  eine  Verknüpfung  allgemeiner  und  spezifischer  Zei- 
chen darstellen.  Ohne  jene  universellen  Zeichen,  wie  sie  die  Arithmetik 
und  Algebra  darbieten,  wäre  auch  keine  besondere  Relation  der  Physik, 
kein  besonderes  Naturgesetz  aussprechbar.  Darin  prägt  sich  gleichsam 
sinnfällig  das  Grundprinzip  der  Erkenntnis  überhaupt  aus,  daß  sich  das 
Allgemeine  immer  nur  im  Besonderen  anschauen,  das  Besondere  immer 
nur  im  Hinblick  auf  das  Allgemeine  denken  läßt. 

Aber  dieses  Wechsel  Verhältnis  bleibt  nun  nicht  auf  die  Wissenschaft 
beschränkt,  sondern  geht  auch  durch  alle  anderen  Grundformen  geistigen 
Schaffens  hindurch.  Für  sie  alle  gilt,  daß  sie  die  ihnen  gemäße  und  eigen- 
tümliche Auffassungs-  und  Gestaltungsweise  nur  dadurch  zur  Geltung 
bringen  können,  daß  sie  für  sie  gleichsam  ein  bestimmtes  sinnliches  Sub- 
strat erschaffen.  So  wesentlich  ist  hier  dieses  Substrat,  daß  es  bisweilen 
den  gesamten  Bedeutungsgehalt,  den  eigentlichen  „Sinn"  dieser  Formen  zu 
umschliessen  scheint.  Die  Sprache  scheint  sich  vollständig  als  ein  System 
von  Lautzeichen  definieren  und  denken  zu  lassen  —  die  Welt  der  Kunst 
und  die  des  Mythos  scheint  sich  in  der  Welt  der  besonderen,  sinnlich-faß- 
baren Gestalten,  die  beide  vor  uns  hinstellen,  zu  erschöpfen.  Und  damit  ist 
in  der  Tat  ein  allumfassendes  Medium  gegeben,  in  welchem  alle  noch  so 
verschiedenen  geistigen  Bildungen  sich  begegnen.  Der  Gehalt  des  Geistes 
erschließt  sich  nur  in  seiner  Äußerung;  die  ideelle  Form  wird  erkannt  nur 
an  und  in  dem  Inbegriff  der  sinnlichen  Zeichen,  deren  sie  sich  zu  ihrem 
Ausdruck  bedient.  Gelänge  es,  einen  systematischen  Überblick  über  die 
verschiedenen  Richtungen  dieser  Art  des  Ausdrucks  zu  gewinnen  —  ge- 
länge es,  ihre  typischen  und  durchgängigen  Züge,  sowie  deren  besondere 
Abstufungen  und  innere  Unterschiede  aufzuweisen,  so  wäre  damit  das 
Ideal  der  „allgemeinen  Charakteristik",  wie  Leibniz  es  für  die  Erkenntnis 
aufstellte,  für  das  Ganze  des  geistigen  Schaffens  erfüllt.  Wir  besäßen  als- 

18 


dann  eine  Art  Grammatik  der  symbolischen  Funktion  als  solcher,  durch 
welche  deren  besondere  Ausdrücke  und  Idiome,  wie  wir  sie  in  der  Sprache 
und  in  der  Kunst,  im  Mythos  und  in  der  Religion  vor  uns  sehen,  umfaßt 
und  generell  mitbestimmt  würden. 

Die  Idee  einer  derartigen  Grammatik  schließt  eine  Erweiterung  des 
traditionellen  geschichtlichen  Lehrbegriffs  des  Idealismus  in  sich.  Dieser 
Lehrbegriff  war  von  jeher  darauf  gerichtet,  dem  „mundus  sensibilis" 
einen  anderen  Kosmos,  den  „mundus  intelligibilis"  gegenüberzustellen 
und  die  Grenzen  beider  Welten  sicher  zu  scheiden.  Im  wesentlichen 
aber  verlief  die  Grenze  derart,  daß  die  Welt  des  Intelligiblen  durch  das 
Moment  des  reinen  Tuns,  die  Welt  des  Sinnlichen  durch  das  Moment  des 
Leidens  bestimmt  wurde.  Dort  herrschte  die  freie  Spontaneität  des  Geisti- 
gen, hier  die  Gebundenheit,  die  Passivität  des  Sinnlichen.  Für  jene  „all- 
gemeine Charakteristik"  aber,  deren  Problem  und  Aufgabe  sich  jetzt 
im  allgemeinsten  Umriß  vor  uns  hingestellt  hat,  ist  dieser  Gegensatz 
kein  unvermittelter  und  ausschließender  mehr.  Denn  zwischen  dem  Sinn- 
lichen und  Geistigen  knüpft  sich  hier  eine  neue  Form  der  Wechselbe- 
ziehung und  der  Korrelation.  Der  metaphysische  Dualismus  beider  er- 
scheint überbrückt,  sofern  sich  zeigen  läßt,  daß  gerade  die  reine  Funk- 
tion des  Geistigen  selbst  im  Sinnlichen  ihre  konkrete  Erfüllung  suchen 
muß,  und  daß  sie  sie  hier  zuletzt  allein  zu  finden  vermag.  Im  Kreis  des 
Sinnlichen  selbst  muß  scharf  zwischen  dem,  was  bloße  „Reaktion"  und 
dem,  was  reine  „Aktion"  ist,  zwischen  dem,  was  der  Sphäre  des  „Ein- 
drucks" und  dem,  was  der  Sphäre  des  „Ausdrucks"  angehört,  unter- 
schieden werden.  Der  dogmatische  Sensualismus  fehlt  nicht  nur  darin, 
daß  er  die  Bedeutung  und  Leistung  der  rein  intellektuellen  Faktoren 
unterschätzt,  sondern  vor  allem  auch  darin,  daß  er  die  Sinnlichkeit 
selbst,  wenngleich  er  sie  als  eigentliche  Grundkraft  des  Geistes  pro- 
klamiert, keineswegs  in  der  ganzen  Weite  ihres  Begriffs  und  in  der  Totali- 
tät ihrer  Leistungen  erfaßt.  Er  entwirft  auch  von  ihr  ein  ungenügendes 
und  verstümmeltes  Bild,  sofern  er  sie  lediglich  auf  die  Welt  der  „Im- 
pressionen", auf  die  unmittelbare  Gegebenheit  der  einfachen  Empfindun- 
gen beschränkt.  Darin  ist  verkannt,  daß  es  auch  eine  Aktivität  des  Sinn- 
lichen selbst,  daß  es,  um  den  Goetheschen  Ausdruck  zu  gebrauchen, 
auch  eine  „exakte  sinnliche  Phantasie"  gibt,  die  sich  in  den  verschieden- 
sten Gebieten  geistigen  Schaffens  als  wirksam  erweist.  In  ihnen  allen 
zeigt  sich  in  der  Tat  dies  als  das  eigentliche  Vehikel  ihres  immanenten 
Fortgangs,  daß  sie  neben  und  über  der  Welt  der  Wahrnehmung  eine 
eigene  freie  Bildwelt  erstehen  lassen:  eine  Welt,  die  ihrer  unmittelbaren 


2* 


19 


Beschaffenheit  nach  noch  ganz  die  Farbe  des  Sinnlichen  an  sich  trägt, 
die  aber  eine  bereits  geformte  und  somit  eine  geistig  beherrschte  Sinn- 
lichkeit darstellt.  Hier  handelt  es  sich  nicht  um  ein  einfach  gegebenes  und 
vorgefundenes  Sinnliches,  sondern  um  ein  System  sinnlicher  Mannig- 
faltigkeiten, die  in  irgendeiner  Form  freien  Bildens  erschaffen  werden. 

So  zeigt  etwa  der  Prozeß  der  Sprachbildung,  wie  das  Chaos  der  un- 
mittelbaren Eindrücke  sich  für  uns  erst  dadurch  lichtet  und  gliedert,  daß 
wir  es  „benennen"  und  es  dadurch  mit  der  Funktion  des  sprachlichen 
Denkens  und  des  sprachlichen  Ausdrucks  durchdringen.  In  dieser  neuen 
Welt  der  Sprachzeichen  gewinnt  auch  die  Welt  der  Eindrücke  selbst  einen 
ganz  neuen  „Bestand",  weil  eine  neue  geistige  Artikulation.  Die  Unter- 
scheidung und  Sonderung,  die  Fixierung  gewisser  Inhaltsmomente  durch 
den  Sprachlaut  bezeichnet  an  ihnen  nicht  nur,  sondern  verleiht  ihnen 
geradezu  eine  bestimmte  gedankliche  Qualität,  kraft  deren  sie  nun  über 
die  bloße  Unmittelbarkeit  der  sogen,  sinnlichen  Qualitäten  erhoben  sind. 
So  wird  die  Sprache  zu  einem  der  geistigen  Grundmittel,  vermöge  dessen 
sich  für  uns  der  Fortschritt  von  der  bloßen  Empfindungswelt  zur  Welt 
der  Anschauung  und  Vorstellung  vollzieht.  Sie  schließt  im  Keime  bereits 
jene  intellektuelle  Arbeit  in  sich,  die  sich  weiterhin  in  der  Bildung  des  Be- 
griffs, als  wissenschaftlichen  Begriffs,  als  bestimmter  logischer  Form- 
einheit äußert.  Hier  liegt  der  erste  Anfang  jener  allgemeinsten  Funktion 
des  Trennens  und  Verknüpfens,  die  ihren  höchsten  bewußten  Ausdruck 
in  den  Analysen  und  Synthesen  des  wissenschaftlichen  Denkens  findet. 
Und  neben  der  Welt  der  Sprach-  und  Begriffszeichen  steht  nun,  mit  ihr 
unvergleichbar  und  ihr  dennoch  dem  geistigen  Ursprung  nach  verwandt, 
jene  Gestaltenwelt,  die  der  Mythos  oder  die  Kunst  erschafft.  Denn  auch 
die  mythische  Phantasie  ist,  so  stark  sie  im  Sinnlichen  wurzelt,  doch  über 
die  bloße  Passivität  des  Sinnlichen  hinaus.  Mißt  man  sie  an  den  gewöhn- 
lichen empirischen  Maßstäben,  wie  sie  die  sinnliche  Erfahrung  uns  dar- 
bietet, so  müssen  ihre  Gebilde  als  schlechthin  „unwirklich"  erscheinen, 
aber  gerade  in  dieser  Unwirklichkeit  bekundet  sich  die  Spontaneität  und 
die  innere  Freiheit  der  mythischen  Funktion.  Und  diese  Freiheit  fällt 
keineswegs  mit  einer  völlig  gesetzlosen  Willkür  zusammen.  Die  Welt  des 
Mythos  ist  kein  bloßes  Gebilde  der  Laune  oder  des  Zufalls,  sondern  sie 
hat  ihre  eigenen  Fundamentalgesetze  des  Bildens,  die  durch  alle  ihre  be- 
sonderen Äußerungen  hindurchwirken.  Im  Gebiet  der  künstlerischen  An- 
schauung wird  es  sodann  vollends  deutlich,  daß  alle  Auffassung  einer 
ästhetischen  Form  am  Sinnlichen  nur  dadurch  möglich  wird,  daß  wir 
selbst  die  Grundelemente  der  Form  bildend  erzeugen.  Alles  Verständnis 


20 


räumlicher  Gestalten  z.  B.  ist  zuletzt  an  diese  Tätigkeit  ihrer  inneren  Pro- 
duktion und  an  die  Gesetzmäßigkeit  dieser  Produktion  gebunden.  So 
zeigt  sich  durchweg,  wie  gerade  die  höchste  und  reinste  geistige  Aktivität, 
die  das  Bewußtsein  kennt,  durch  bestimmte  Weisen  der  sinnlichen  Akti- 
vität bedingt  und  vermittelt  ist.  Auch  hier  haben  wir  das  eigentliche  und 
wesentliche  Leben  der  reinen  Idee  immer  nur  am  farbigen  Abglanz  der 
Erscheinungen.  Das  System  der  mannigfachen  Äußerungen  des  Geistes  ist 
für  uns  nicht  anders  erfaßbar,  als  dadurch,  daß  wir  die  verschiedenen 
Richtungen  seiner  ursprünglichen  Bildkraft  verfolgen.  In  dieser  erblicken 
wir  im  Reflex  die  Wesenheit  des  Geistes  —  denn  diese  kann  sich  für  uns 
nur  dadurch  darstellen,  daß  sie  sich  in  der  Gestaltung  des  sinnlichen 
Materials  betätigt 

Und  daß  es  in  der  Tat  eine  reine  Aktivität  des  Geistes  ist,  die  sich  in 
der  Schaffung  der  verschiedenen  Systeme  sinnlicher  Symbole  bekundet, 
das  drückt  sich  auch  darin  aus,  daß  alle  diese  Symbole  von  Anfang  an 
mit  einem  bestimmten  Objektivitäts-  und  Wertanspruch  auftreten.  Sie 
alle  greifen  über  den  Kreis  der  bloß  individuellen  Bewußtseinserschei- 
nungen hinaus;  —  sie  beanspruchen  ihnen  gegenüber  ein  Allgemein- 
gültiges hinzustellen.  Dieser  Anspruch  mag  sich  vor  einer  späteren 
kritisch-philosophischen  Betrachtung  und  vor  ihrem  entwickelten  und 
durchgebildeten  Wahrheitsbegriff  möglicherweise  als  hinfällig  erweisen; 
—  aber  daß  er  überhaupt  erhoben  wird,  gehört  zum  Wesen  und  Cha- 
rakter der  einzelnen  Grundformen  selbst.  Sie  selbst  sehen  ihre  Gebilde 
nicht  nur  überhaupt  als  objektiv-gültig,  sondern  zumeist  geradezu  als 
den  eigentlichen  Kern  des  Objektiven,  des  „Wirklichen"  an.  So  ist  es  für 
die  ersten  gleichsam  naiven  und  unreflektierten  Äußerungen  des  sprach- 
lichen Denkens,  wie  für  das  Denken  des  Mythos  bezeichnend,  daß  sich 
für  sie  der  Inhalt  der  „Sache"  und  der  des  „Zeichens"  nicht  deutlich 
scheidet,  sondern  daß  beides  in  völliger  Indifferenz  in  einander  überzu- 
gehen pflegt.  Der  Name  einer  Sache  und  diese  selbst  sind  untrennbar  mit 
einander  verschmolzen;  —  das  bloße  Wort  oder  Bild  birgt  in  sich  eine 
magische  Kraft,  durch  die  sich  uns  das  Wesen  des  Dinges  zu  eigen  gibt. 
Und  man  braucht  diese  Anschauung  nur  vom  Reellen  ins  Ideelle,  vom 
Dinglichen  ins  Funktionale  zu  wenden,  um  in  ihr  in  der  Tat  einen  berech- 
tigten Kern  zu  entdecken.  Denn  wirklich  bildet  in  der  immanenten  Ent- 
wicklung des  Geistes  der  Gewinn  des  Zeichens  stets  einen  ersten  und 
notwendigen  Schritt  für  die  Gewinnung  der  objektiven  Wesenserkenntnis. 
Das  Zeichen  bildet  gleichsam  für  das  Bewußtsein  das  erste  Stadium  und 
den  ersten  Beleg  der  Objektivität,  weil  durch  dasselbe  zuerst  dem  stetigen 


21 


Wandel  der  Bewußtseinsinhalte  Halt  geboten,  weil  in  ihm  ein  Bleibendes 
bestimmt  und  herausgehoben  wird.  Kein  bloßer  Inhalt  des  Bewußtseins 
kehrt  als  solcher,  nachdem  er  einmal  vergangen  und  durch  andere  ersetzt 
ist,  in  streng-identischer  Bestimmtheit  wieder.  Er  ist  als  das,  was  er  war, 
ein  für  alle  mal  dahin,  sobald  er  aus  dem  Bewußtsein  geschwunden  ist. 
Aber  diesem  unaufhörlichen  Wechsel  der  inhaltlichen  Qualitäten  stellt 
nun  das  Bewußtsein  die  Einheit  seiner  selbst  und  seiner  Form  gegenüber. 
Seine  Identität  beweist  sich  nicht  in  dem,  was  es  ist  oder  hat,  sondern  in 
dem,  was  es  tut,  erst  wahrhaft.  Durch  das  Zeichen,  das  mit  einem  Inhalt  ver- 
knüpft wird,  gewinnt  dieser  in  sich  selbst  einen  neuen  Bestand  undeine  neue 
Dauer.  Denn  dem  Zeichen  kommt,  im  Gegensatz  zu  dem  realen  Wechsel 
der  Einzelinhalte  des  Bewußtseins,  eine  bestimmte  ideelle  Bedeutung  zu, 
die  als  solche  beharrt.  Es  ist  nicht  gleich  der  gegebenen  einfachen  Emp- 
findung ein  punktuell  Einzelnes  und  Einmaliges,  sondern  es  steht  als 
Repräsentant  für  eine  Gesamtheit,  einen  Inbegriff  möglicher  Inhalte, 
deren  jedem  gegenüber  es  also  ein  erstes  „Allgemeines"  darstellt.  In  der 
symbolischen  Funktion  des  Bewußtseins,  wie  sie  sich  in  der  Sprache, 
in  der  Kunst,  im  Mythos  betätigt,  heben  sich  zuerst  aus  dem  Strom  des 
Bewußtseins  bestimmte  gleichbleibende  Grundgestalten  teils  begriff- 
licher, teils  rein  anschaulicher  Natur  heraus;  an  die  Stelle  des  ver- 
fließenden Inhalts  tritt  die  in  sich  geschlossene  und  in  sich  beharrende 
Einheit  der  Form. 

Dabei  aber  handelt  es  sich  nicht  um  einen  bloßen  Einzelakt,  sondern 
um  einen  stetig  fortschreitenden  Prozeß  der  Bestimmung,  der  der  ge- 
samten Entwicklung  des  Bewußtseins  sein  Gepräge  gibt.  Auf  der  ersten 
Stufe  scheint  die  Fixierung,  die  dem  Inhalt  durch  das  sprachliche 
Zeichen,  durch  das  mythische  oder  künstlerische  Bild  zuteil  wird,  über 
sein  Festhalten  in  der  Erinnerung,  also  über  seine  einfache  Repro- 
duktion nicht  hinauszugehen.  Das  Zeichen  scheint  hier  dem  Inhalt,  auf 
den  es  sich  bezieht,  nichts  hinzuzufügen,  sondern  ihn  einfach  seinem 
reinen  Bestand  nach  festzuhalten  und  zu  wiederholen.  Selbst  in  der  psycho- 
logischen Entwicklungsgeschichte  der  Kunst  hat  man  eine  Phase  der 
bloßen  „Erinnerungskunst"  nachweisen  zu  können  geglaubt,  in  der  alle 
künstlerische  Gestaltung  noch  in  der  einzigen  Richtung  wirkt,  daß  be- 
stimmte Züge  des  Sinnlich-Wahrgenommenen  hervorgehoben  und  in 
einem  selbstgeschaffenen  Bilde  der  Erinnerung  dargeboten  werden1. 
Aber  je  klarer  die  einzelnen  Grundrichtungen  in  ihrer  spezifischen 
Energie  hervortreten,  um  so  deutlicher  wird  zugleich,  daß  auch  alle 

1  Vgl.  Wundt,  Völkerpsychologie,  Bd.  III:  Die  Kunst,  2.  Aufl.,  S.nöff. 
22 


scheinbare  „Reproduktion"  für  das  Bewußtsein  stets  eine  ursprüngliche 
und  autonome  Leistung  zur  Voraussetzung  hat.  Die  Reproduzierbarkeit  des 
Inhalts  selbst  ist  an  die  Produktion  eines  Zeichens  für  ihn  gebunden,  in 
welcher  das  Bewußtsein  frei  und  selbständig  verfährt.  Damit  gewinnt 
auch  der  Begriff  der  „Erinnerung"  einen  reicheren  und  tieferen  Sinn. 
Um  sich  eines  Inhalts  zu  erinnern,  muß  ihn  sich  das  Bewußtsein  zuvor 
auf  eine  andere  Weise  als  in  der  bloßen  Empfindung  oder  Wahrnehmung 
innerlich  zu  eigen  gemacht  haben.  Hier  genügt  nicht  die  bloße  Wieder- 
holung des  Gegebenen  in  einem  anderen  Zeitpunkt,  sondern  in  ihr  muß 
sich  zugleich  eine  neue  Art  der  Auffassung  und  Formung  geltend  machen. 
Denn  jede  „Reproduktion"  des  Inhalts  schließt  schon  eine  neue  Stufe 
der  „Reflexion"  in  sich.  Schon  indem  das  Bewußtsein  ihn  nicht  mehr 
einfach  als  gegenwärtigen  hinnimmt,  sondern  ihn  als  etwas  Vergangenes 
und  dennoch  für  es  selbst  nicht  Verschwundenes  im  Bilde  vor  sich  hin- 
stellt, hat  es  durch  dies  veränderte  Verhältnis,  in  das  es  zu  ihm  tritt, 
sich  und  ihm  eine  veränderte  ideelle  Bedeutung  gegeben.  Und  diese  tritt 
nun  immer  bestimmter  und  reicher  hervor,  je  mehr  die  eigene  Bildwelt 
des  Ich  sich  differenziert.  Das  Ich  übt  jetzt  nicht  nur  eine  ursprüngliche 
Aktivität  des  Bildens  aus,  sondern  es  lernt  sie  zugleich  tiefer  und  tiefer 
verstehen.  Und  damit  treten  die  Grenzen  der  „subjektiven"  und  der  „ob- 
jektiven" Welt  erst  wahrhaft  klar  und  scharf  heraus.  Es  ist  eine  der 
wesentlichen  Aufgaben  der  allgemeinen  Erkenntniskritik,  die  Gesetze  auf- 
zuweisen, nach  denen  diese  Abgrenzung  sich  innerhalb  des  rein  theore- 
tischen Gebiets,  mit  den  Methoden  des  wissenschaftlichen  Denkens,  voll- 
zieht. Sie  zeigt,  daß  das  „subjektive"  und  das  „objektive"  Sein  nicht  von 
Anfang  an  als  starr  geschiedene,  inhaltlich  völlig  bestimmte  Sphären  ein- 
ander gegenüberstehen,  sondern  daß  beide  erst  im  Prozeß  der  Erkenntnis 
und  gemäß  den  Mitteln  und  Bedingungen  desselben  ihre  Bestimmtheit 
gewinnen.  So  erweist  sich  die  kategoriale  Scheidung  zwischen  „Ich"  und 
„Nicht-Ich"  als  eine  durchgreifende,  beständig  wirksame  Funktion  des 
theoretischen  Denkens,  während  die  Art,  wie  diese  Funktion  ihre  Er- 
füllung findet,  wie  also  die  Inhalte  des  „subjektiven"  und  des  „objek- 
tiven" Seins  sich  gegen  einander  begrenzen,  je  nach  der  erreichten  Er- 
kenntnisstufe verschieden  ist.  Das  „Objektive"  der  Erfahrung  sind,  für 
die  theoretisch-wissenschaftliche  Weltbetrachtung,  ihre  beständigen  und 
notwendigen  Elemente  —  welchen  Inhalten  aber  diese  Beständigkeit  und 
Notwendigkeit  zuerkannt  wird,  das  hängt  einerseits  von  dem  allgemeinen 
methodischen  Maßstab  ab,  den  das  Denken  an  die  Erfahrung  anlegt, 
andererseits  ist  es  durch  den  jeweiligen  Stand  der  Erkenntnis,  durch  die 


23 


Gesamtheit  ihrer  empirisch  und  theoretisch  gesicherten  Einsichten  be- 
dingt. Die  Art,  in  der  wir  den  begrifflichen  Gegensatz  des  „Subjektiven" 
und  „Objektiven"  in  der  Gestaltung  der  Erfahrungswelt,  im  Aufbau  der 
Natur  zur  Anwendung  und  Durchführung  bringen,  zeigt  sich,  in  diesem 
Zusammenhang  betrachtet,  nicht  sowohl  als  die  Lösung  des  Erkenntnis- 
problems, als  vielmehr  als  der  vollständige  Ausdruck  desselben1.  Aber 
in  seinem  ganzen  Reichtum  und  in  seiner  inneren  Vielgestaltigkeit  er- 
scheint dieser  Gegensatz  erst  dann,  wenn  wir  ihn  über  die  Grenzen  des 
theoretischen  Denkens  und  seiner  spezifischen  Begriffsmittel  hinaus  ver- 
folgen. Nicht  nur  der  Wissenschaft,  sondern  auch  der  Sprache,  dem 
Mythos,  der  Kunst,  der  Religion  ist  es  eigen,  daß  sie  die  Bausteine 
liefern,  aus  denen  sich  für  uns  die  Welt  des  „Wirklichen",  wie  die  des 
Geistigen,  die  Welt  des  Ich  aufbaut.  Auch  sie  können  wir  nicht  als  ein- 
fache Gebilde  in  eine  gegebene  Welt  hineinstellen,  sondern  wir  müssen 
sie  als  Funktionen  begreifen,  kraft  deren  je  eine  eigentümliche  Ge- 
staltung des  Seins  und  je  eine  besondere  Teilung  und  Scheidung  desselben 
sich  vollzieht.  Ebenso  wie  die  Mittel  verschieden  sind,  deren  sich  jede 
Funktion  hierbei  bedient,  wie  es  ganz  verschiedene  Maßstäbe  und  Kriterien 
sind,  die  von  jeder  einzelnen  vorausgesetzt  und  zur  Anwendung  gebracht 
werden,  so  ist  auch  das  Ergebnis  ein  verschiedenes.  Der  Wahrheits-  und 
Wirklichkeitsbegriff  der  Wissenschaft  ist  ein  anderer,  als  es  der  der 
Religion  oder  der  Kunst  ist  —  so  wahr  es  ein  besonderes  und  unver- 
gleichliches Grundverhältnis  ist,  das  in  ihnen  zwischen  „Innen"  und 
„Außen",  zwischen  dem  Sein  des  Ich  und  der  Welt  nicht  sowohl  be- 
zeichnet, als  vielmehr  gestiftet  wird.  Ehe  zwischen  all  diesen  mannig- 
fachen, einander  kreuzenden  und  einander  widersprechenden  Ansichten 
und  Ansprüchen  entschieden  werden  kann,  müssen  sie  zunächst  in 
kritischer  Genauigkeit  und  Strenge  unterschieden  werden.  Die  Lei- 
stung jeder  einzelnen  muß  an  ihr  selbst,  nicht  an  den  Maßstäben  und 
Forderungen  irgendeiner  anderen,  gemessen  werden  —  und  erst  am 
Ende  dieser  Betrachtung  kann  sich  die  Frage  erheben,  ob  und  wie  alle 
diese  verschiedenen  Formen  der  Welt-  und  Ich-Auffassung  miteinander 
vereinbar  sind  —  ob  sie  zwar  nicht  ein  und  dasselbe,  an  sich  bestehende 
„Ding"  abbilden,  wohl  aber  sich  zu  einer  Totalität  und  zu  einer  einheit- 
lichen Systematik  des  geistigen  Tuns  ergänzen.  — 

Für  die  Philosophie  der  Sprache  ist  diese  Betrachtungsweise  zuerst 
von  Wilh.  v.  Humboldt  in  voller  Klarheit  erfaßt  und  durchgeführt 

1  Zur  Ergänzung  und  näheren  Begründung  vgl.  die  Darstellung  in  m.  Schrift:  Sub- 
stanzbegriff und  Funktionsbegriff,  Berlin  1910,  Cap.  VI. 

a4 


worden.  Für  Humboldt  ist  das  Lautzeichen,  das  die  Materie  aller  Sprach- 
bildung darstellt,  gleichsam  die  Brücke  zwischen  dem  Subjektiven  und 
Objektiven,  weil  sich  in  ihm  die  wesentlichen  Momente  beider  vereinen. 
Denn  der  Laut  ist  auf  der  einen  Seite  gesprochener  und  insofern  von  uns 
selbst  hervorgebrachter  und  geformter  Laut;  auf  der  anderen  Seite  aber 
ist  er,  als  gehörter  Laut,  ein  Teil  der  sinnlichen  Wirklichkeit,  die  uns 
umgibt  Wir  erfassen  und  kennen  ihn  daher  als  ein  zugleich  „Inneres" 
und  „Äußeres"  —  als  eine  Energie  des  Inneren,  die  sich  in  einem  Äußeren 
ausprägt  und  objektiviert.  „Indem  in  der  Sprache  das  geistige  Bestreben 
sich  Bahn  durch  die  Lippen  bricht,  kehrt  das  Erzeugnis  desselben  zum 
eigenen  Ohr  zurück.  Die  Vorstellung  wird  also  in  wirkliche  Objektivität 
hinüberversetzt,  ohne  darum  der  Subjektivität  entzogen  zu  werden.  Dies 
vermag  nur  die  Sprache;  und  ohne  diese,  wo  Sprache  mitwirkt,  auch 
stillschweigend  immer  vorgehende  Versetzung  in  zum  Subjekt  zurück- 
kehrende Objektivität  ist  die  Bildung  des  Begriffs,  mithin  alles  wahre 
Denken  unmöglich  .  .  .  Denn  die  Sprache  kann  ja  nicht  als  ein  da- 
liegender, in  seinem  Ganzen  übersehbarer  oder  nach  und  nach  mitteilbarer 
Stoff,  sondern  muß  als  ein  sich  ewig  erzeugendes  angesehen  werden, 
wo  die  Gesetze  der  Erzeugung  bestimmt  sind,  aber  der  Umfang  und  ge- 
wissermaßen auch  die  Art  des  Erzeugnisses  gänzlich  unbestimmt  bleiben 
.  .  .  Wie  der  einzelne  Laut  zwischen  den  Gegenstand  und  den  Menschen, 
so  tritt  die  ganze  Sprache  zwischen  ihn  und  die  innerlich  und  äußerlich' 
auf  ihn  einwirkende  Natur.  Er  umgibt  sich  mit  einer  Welt  von  Lauten, 
um  die  Welt  von  Gegenständen  in  sich  aufzunehmen  und  zu  bearbeiten1." 
In  dieser  kritisch-idealistischen  Auffassung  der  Sprache  ist  zugleich  ein 
Moment  bezeichnet,  das  für  jede  Art  und  für  jede  Form  der  Symbol-/ 
gebung  gültig  ist.  In  jedem  von  ihm  frei  entworfenen  Zeichen  erfaßt  der 
Geist  den  „Gegenstand",  indem  er  dabei  zugleich  sich  selbst  und  die 
eigene  Gesetzlichkeit  seines  Bildens  erfaßt.  Und  diese  eigentümliche  Durch- 
dringung bereitet  erst  der  tieferen  Bestimmung  der  Subjektivität  wie  der 
Objektivität  den  Boden.  Auf  der  ersten  Stufe  dieser  Bestimmung  hat  es 
den  Anschein,  als  ob  die  beiden  gegensätzlichen  Momente  noch  einfach 
getrennt  neben  und  gegen  einander  stünden.  Die  Sprache  etwa  kann  in 
ihren  frühesten  Bildungen  gleich  sehr  als  reiner  Ausdruck  des  Inneren, 
wie  des  Äußeren,  als  Ausdruck  der  bloßen  Subjektivität,  wie  der  bloßen 
Objektivität  gefaßt  werden.  In  der  ersteren  Hinsicht  scheint  der  Sprach- 
laut nichts  anderes  als  den  Erregungs-  und  Affektlaut,  in  der  zweiten 
nichts  anderes  als  den  einfachen  Nachahmungslaut  zu  bedeuten.  Die 

*  S.Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk,  S.-W.  (Akademie-Ausg.),  VII,  55ff. 


verschiedenen  spekulativen  Ansichten,  die  über  den  „Ursprung  der 
Sprache'*  geäußert  worden  sind,  bewegen  sich  in  der  Tat  zwischen  diesen 
beiden  Extremen,  deren  keines  jedoch  den  Kern  und  das  geistige  Wesen 
der  Sprache  selbst  trifft.  Denn  durch  sie  wird  weder  ein  einseitig  Sub- 
jektives, noch  ein  einseitig  Objektives  bezeichnet  und  zum  Ausdruck  ge- 
bracht, sondern  es  tritt  in  ihr  eine  neue  Vermittlung,  eine  eigentümliche 
Wechselbestimmung  zwischen  beiden  Faktoren  ein.  Weder  die  bloße 
Entladung  des  Affekts,  noch  die  Wiederholung  objektiver  lautlicher  Reize 
stellt  demgemäß  schon  den  charakteristischen  Sinn  und  die  charakte- 
ristische Form  der  Sprache  dar:  diese  entsteht  vielmehr  erst  dort,  wo 
beide  Enden  sich  in  eins  verknüpfen  und  dadurch  eine  neue  vorher  nicht 
gegebene  Synthese  von  „Ich"  und  „Welt"  geschaffen  wird.  Und  eine 
analoge  Beziehung  stellt  sich  weiterhin  in  jeder  wahrhaft  selbständigen 
und  ursprünglichen  Richtung  des  Bewußtseins  her.  Auch  die  Kunst  kann 
so  wenig  als  der  bloße  Ausdruck  des  Inneren,  wie  als  die  Wiedergabe  der 
Gestalten  einer  äußeren  Wirklichkeit  bestimmt  und  begriffen  werden, 
sondern  auch  in  ihr  liegt  das  entscheidende  und  auszeichnende  Moment 
in  der  Art,  wie  durch  sie  das  „Subjektive"  und  das  „Objektive",  wie  das 
reine  Gefühl  und  die  reine  Gestalt  ineinander  aufgehen  und  eben  in  die- 
sem Aufgehen  einen  neuen  Bestand  und  Inhalt  gewinnen.  Noch  schärfer, 
als  es  in  der  Beschränkung  auf  die  rein  intellektuelle  Funktion  möglich 
ist,  tritt  in  all  diesen  Beispielen  hervor,  daß  wir  in  der  Analyse  der  geisti- 
gen Formen  nicht  mit  einer  feststehenden  dogmatischen  Abgrenzung  des 
Subjektiven  gegen  das  Objektive  beginnen  können,  sondern  daß  ihre 
Begrenzung  und  die  Feststellung  ihres  Bereichs  erst  durch  diese  Formen 
selbst  vollzogen  wird.  Jede  besondere  geistige  Energie  trägt  in  besonderer 
Weise  zu  dieser  Feststellung  bei  und  wirkt  demgemäß  an  der  Konstituie- 
rung des  Ichbegriffs,  wie  des  W'eltbegriffs  mit.  Die  Erkenntnis  wie 
die  Sprache,  der  Mythos  und  die  Kunst:  sie  alle  verhalten  sich  nicht  wie 
ein  bloßer  Spiegel,  der  die  Bilder  eines  Gegebenen  des  äußeren  oder  des 
inneren  Seins,  so  wie  sie  sich  in  ihm  erzeugen,  einfach  zurückwirft,  son- 
dern sie  sind  statt  solcher  indifferenter  Medien  vielmehr  die  eigentlichen 
Lichtquellen,  die  Bedingungen  des  Sehens  wie  die  Ursprünge  aller  Ge- 
staltung. 

III 

Das  erste  Problem,  das  uns  in  der  Analyse  der  Sprache,  der  Kunst,  des 
Mythos  entgegentritt,  besteht  in  der  Frage,  wie  überhaupt  ein  bestimmter 
sinnlicher  Einzelinhalt  zum  Träger  einer  allgemeinen  geistigen  „Bedeu- 
tung" gemacht  werden  kann.  Begnügt  man  sich  damit,  alle  diese  Gebiete 


26 


rein  ihrem  materiellen  Bestand  nach  aufzufassen,  also  die  Zeichen,  deren  sie 
sich  bedienen,  lediglich  ihrer  physischen  Beschaffenheit  nach  zu  beschrei- 
ben, so  wird  man  auf  einen  Inbegriff  besonderer  Empfindungen,  auf 
einfache  Qualitäten  des  Gesichts-,  Gehörs-  oder  Tastsinns  als  letzte  Grund- 
elemente zurückgeführt.  Aber  nun  begibt  sich  das  Wunder,  daß  diese 
einfache  sinnliche  Materie  durch  die  Art,  in  der  sie  betrachtet  wird,  ein 
neues  und  vielgestaltiges  geistiges  Leben  gewinnt.  Indem  der  physische 
Laut,  der  sich  als  solcher  nur  durch  Höhe  und  Tiefe,  durch  Intensität 
und  Qualität  unterscheidet,  sich  zum  Sprachlaut  formt,  bestimmt  er  sich 
damit  zum  Ausdruck  der  feinsten  gedanklichen  und  gefühlsmäßigen 
Differenzen.  Was  er  unmittelbar  ist,  tritt  jetzt  völlig  zurück  gegenüber 
dem,  was  er  mittelbar  leistet  und  „besagt* '.  Auch  die  konkreten  Einzel- 
elemente, aus  denen  das  Werk  der  Kunst  sich  aufbaut,  zeigen  deutlich 
dieses  Grundverhältnis.  Kein  künstlerisches  Gebilde  läßt  sich  als  die  ein- 
fache Summe  dieser  Elemente  verstehen,  sondern  in  jedem  wirkt  ein 
bestimmtes  Gesetz  und  ein  spezifischer  Sinn  ästhetischer  Formgebung. 
Die  Synthese,  in  der  das  Bewußtsein  eine  Folge  von  Tönen  zur  Einheit 
einer  Melodie  verknüpft,  ist  von  derjenigen,  kraft  deren  eine  Mannigfal- 
tigkeit von  Sprachlauten  sich  für  uns  zur  Einheit  eines  „Satzes"  zusam- 
menfügt, offenbar  völlig  verschieden.  Aber  gemeinsam  ist  ihnen  das  Eine, 
daß  in  beiden  Fällen  die  sinnlichen  Einzelheiten  nicht  für  sich  stehen 
bleiben,  sondern  daß  sie  sich  einem  Bewußtseins-Ganzen  einfügen  und 
von  diesem  erst  ihren  qualitativen  Sinn  erhalten.  — 

Versuchen  wir,  die  Gesamtheit  der  Beziehungen,  durch  welche  die  Ein- 
heit des  Bewußtseins  bezeichnet  und  als  solche  konstituiert  wird,  in  einem 
ersten  allgemeinen  Überblick  vor  uns  hinzustellen,  so  werden  wir  zu- 
nächst auf  eine  Reihe  bestimmter  Grundrelationen  geführt,  die  als  eigen- 
tümliche und  selbständige  „Weisen"  der  Verknüpfung  einander  gegen- 
überstehen. Das  Moment  des  „Nebeneinander",  wie  es  sich  in  der  Form 
des  Raumes,  das  Moment  des  Nacheinander,  wie  es  sich  in  der  Form 
der  Zeit  darstellt  —  die  Verknüpfung  von  Seinsbestimmungen  in  der  Art, 
daß  die  eine  als  „Ding",  die  andere  als  „Eigenschaft"  gefaßt  wird, 
oder  von  aufeinanderfolgenden  Ereignissen  in  der  Art,  daß  das  eine  als 
Ursache  des  anderen  erscheint:  dies  alles  sind  Beispiele  solcher  ur- 
sprünglichen Beziehungsarten.  Der  Sensualismus  versucht  vergeblich,  sie 
aus  dem  unmittelbaren  Inhalt  der  einzelnen  Impressionen  herzuleiten  und 
zu  erklären.  „Fünf  Töne  auf  einer  Flöte"  mögen  immerhin,  nach  Humes 
bekannter  psychologischer  Theorie,  die  Vorstellung  der  Zeit  „ergeben"  — 
aber  dies  Resultat  ist  nur  dann  möglich,  wenn  das  charakteristische  Be- 

27 


ziehungs-  und  Ordnungsmoment  des  „Nacheinander"  schon  stillschwei- 
gend in  den  Inhalt  der  Einzeltöne  mit  aufgenommen  und  damit  also  die 
Zeit  ihrer  allgemeinen  Strukturform  nach  bereits  vorausgesetzt  wird.  Für 
die  psychologische  wie  für  die  erkenntniskritische  Analyse  erweisen  sich 
daher  die  eigentlichen  Grundformen  der  Beziehung  schließlich  als  ebenso- 
viele  einfache  und  auf  einander  nicht  reduzierbare  „Qualitäten"  des  Be- 
wußtseins, als  es  die  einfachen  Sinnesqualitäten,  die  Elemente  der  Ge- 
sichts-, der  Gehörs-  oder  Tastempfindung  sind.  Und  doch  kann  sich  auf 
der  anderen  Seite  das  philosophische  Denken  nicht  dabei  beruhigen,  die 
Mannigfaltigkeit  dieser  Beziehungen  lediglich  als  solche,  als  einfachen 
faktischen  Tatbestand  hinzunehmen.  Bei  den  Empfindungen  mögen  wir 
uns  damit  begnügen,  ihre  verschiedenen  Grundklassen  einfach  aufzu- 
zählen und  sie  als  unverbundene  Vielheit  vor  uns  hinzustellen:  —  was 
dagegen  die  Relationen  betrifft,  so  scheint  das,  was  sie  als  Einzel- 
formen der  Verknüpfungen  leisten,  nur  dann  für  uns  faßbar  und  ver- 
ständlich zu  werden,  wenn  wir  sie  selbst  wieder  durch  eine  Synthesis 
höherer  Art  miteinander  verknüpft  denken.  Seit  Piaton  im  Sophistes 
dieses  Problem  der  xoivcovta  rcbv  yevwv,  der  systematischen  „Gemein- 
schaft" der  reinen  Ideen  und  Formbegriffe  aufgestellt  hat,  ist  es  in  der 
Geschichte  des  philosophischen  Denkens  nicht  wieder  zur  Ruhe  gekom- 
men. Die  kritische  und  die  metaphysisch-spekulative  Lösung  dieses  Pro- 
blems aber  unterscheiden  sich  darin,  daß  beide  einen  verschiedenen  Begriff 
des  „Allgemeinen"  und  damit  einen  verschiedenen  Sinn  des  logischen 
Systems  selber  voraussetzen.  Die  erstere  Betrachtung  geht  auf  den  Begriff 
des  Analytisch-Allgemeinen  zurück,  die  zweite  zielt  auf  den  des  Synthe- 
tisch-Allgemeinen hin.  Dort  begnügen  wir  uns  damit,  die  Mannigfaltig- 
keit der  möglichen  Verknüpfungsformen  in  einem  höchsten  Systembe- 
griff zu  vereinen  und  sie  damit  bestimmten  fundamentalen  Gesetzen 
unterzuordnen;  hier  suchen  wir  zu  verstehen,  wie  sich  aus  einem  ein- 
zigen Urprinzip  die  Totalität,  die  konkrete  Gesamtheit  der  besonderen 
Formen  entwickelt.  Wenn  die  letztere  Betrachtungsweise  nur  einen  An- 
fangspunkt und  einen  Zielpunkt  zuläßt,  die  beide  durch  die  stete  An- 
wendung ein  und  desselben  methodischen  Prinzips  im  synthetisch-deduk- 
tiven Beweisgang  mit  einander  verknüpft  und  vermittelt  werden  —  so 
duldet  die  andere  nicht  nur,  sondern  sie  fordert  geradezu  eine  Mehrheit 
verschiedener  „Dimensionen"  der  Betrachtung.  Sie  stellt  das  Problem 
einer  Einheit,  die  von  Anfang  an  auf  Einfachheit  verzichtet.  Die  ver- 
schiedenen Weisen  der  geistigen  Formung  werden  als  solche  anerkannt, 
ohne  daß  der  Versuch  gemacht  wird,  sie  einer  einzigen,  einfach-fort- 

38 


schreitenden  Reihe  einzuordnen.  Und  doch  wird,  gerade  in  einer  solchen 
Ansicht,  auf  einen  Zusammenhang  der  Einzelformen  unter  sich  keines- 
wegs verzichtet,  sondern  es  wird  vielmehr  umgekehrt  der  Gedanke  des 
Systems  dadurch  noch  verschärft,  daß  an  Stelle  des  Begriffs  eines  ein- 
fachen Systems  der  Begriff  eines  komplexen  Systems  tritt.  Jede  Form 
wird  sozusagen  einer  besonderen  Ebene  zugeteilt,  innerhalb  welcher  sie 
sich  auswirkt  und  in  der  sie  ihre  spezifische  Eigenart  völlig  unabhängig 
entfaltet  —  aber  gerade  in  der  Gesamtheit  dieser  ideellen  Wirkungsweisen 
treten  nun  zugleich  bestimmte  Analogien,  bestimmte  typische  Verhal- 
tungsweisen hervor,  die  sich  als  solche  herausheben  und  beschreiben 
lassen. 

Als  erstes  Moment  tritt  uns  hierbei  ein  Unterschied  entgegen,  den  wir 
als  den  der  Qualität  und  der  Modalität  der  Formen  bezeichnen  können. 
Unter  der  „Qualität"  einer  bestimmten  Beziehung  soll  hierbei  die  beson- 
dere Verknüpfungsart  verstanden  werden,  kraft  deren  sie  innerhalb  des 
Bewußtseinsganzen  Reihen  schafft,  die  einem  speziellen  Gesetz  der  Zu- 
ordnung ihrer  Glieder  unterstehen.  So  bildet  etwa  das  „Beisammen" 
gegenüber  dem  „Nacheinander",  die  Form  der  simultanen  gegenüber  der 
der  successiven  Verknüpfung  eine  solche  selbständige  Qualität.  Nun  kann 
aber  andererseits  ein  und  dieselbe  Beziehungsform  auch  dadurch  eine 
innere  Wandlung  erfahren,  daß  sie  innerhalb  eines  anderen  Form  Zu- 
sammenhangs steht.  Jede  einzelne  Beziehung  gehört  —  unbeschadet 
ihrer  Besonderheit  —  immer  zugleich  einem  Sinn  ganzen  an,  das  selbst 
wieder  seine  eigene  „Natur",  sein  in  sich  geschlossenes  Formgesetz  be- 
sitzt. So  ist  z.  B.  diejenige  allgemeine  Relation,  die  wir  „Zeit"  benennen, 
gleich  sehr  ein  Element  der  theoretisch-wissenschaftlichen  Erkennt- 
nis, wie  sie  ein  wesentliches  Moment  für  bestimmte  Gebilde  des  ästhe- 
tischen Bewußtseins  darstellt.  Die  Zeit,  wie  sie  bei  Newton  im  Beginn 
der  Mechanik  als  beharrliche  Basis  alles  Geschehens  und  als  das  in  sich 
gleichförmige  Maß  aller  Veränderungen  erklärt  wird,  scheint  mit  der  Zeit, 
wie  sie  im  musikalischen  Kunstwerk  und  in  seinen  rhythmischen  Maßen 
waltet,  zunächst  kaum  mehr  als  den  Namen  gemein  zu  haben  —  und 
doch  schließt  diese  Einheit  der  Benennung  wenigstens  insofern  eine  Ein- 
heit der  Bedeutung  in  sich,  als  in  beiden  jene  allgemeine  und  abstrakte 
Qualität  gesetzt  ist,  die  wir  durch  den  Ausdruck  des  „Nacheinander"  be- 
zeichnen. Aber  es  ist  freilich  je  eine  besondere  „Weise",  je  ein  eigener 
Modus  des  Nacheinander,  der  im  Bewußtsein  der  Naturgesetze  als  Ge- 
setzen von  der  Zeitform  des  Geschehens  und  der  in  der  Erfassung  der 
rhythmischen  Maße  eines  Tongebildes  waltet.  Analog  können  wir  gewisse 


29 


räumliche  Formen,  gewisse  Komplexe  von  Linien  und  Figuren,  in  dem 
einen  Fall  als  künstlerisches  Ornament,  in  dem  anderen  als  geometrische 
Zeichnung  auffassen  und  kraft  dieser  Auffassung  ein  und  demselben  Ma- 
terial einen  ganz  verschiedenen  Sinn  verleihen.  Die  Einheit  des  Raumes, 
die  wir  uns  im  ästhetischen  Schauen  und  Erzeugen,  in  der  Malerei,  in  der 
Plastik,  in  der  Architektur  aufbauen,  gehört  einer  ganz  anderen  Stufe  an, 
als  diejenige,  die  sich  in  bestimmten  geometrischen  Lehrsätzen  und  in 
einer  bestimmten  Form  der  geometrischen  Axiomatik  darstellt.  Hier  gilt 
die  Modalität  des  logisch-geometrischen  Begriffs,  dort  die  Modalität  der 
künstlerischen  Raumphantasie:  —  hier  wird  der  Raum  als  ein  Inbegriff 
von  einander  abhängiger  Bestimmungen,  als  ein  System  von  „Gründen" 
und  „Folgen"  gedacht,  dort  wird  er  als  ein  Ganzes,  im  dynamischen  In- 
einander seiner  Einzelmomente,  als  anschauliche  und  gefühlsmäßige  Ein- 
heit erfaßt.  Und  damit  ist  die  Reihe  der  Gestaltungen,  die  das  Raum- 
bewußtsein  durchläuft,  noch  nicht  erschöpft:  denn  auch  im  mythischen 
Denken  zeigt  sich  eine  ganz  eigentümliche  Raumansicht,  eine  Weise  der 
Gliederung  und  der  „Orientierung"  der  Welt  nach  räumlichen  Gesichts- 
punkten, die  von  der  Art,  in  der  sich  im  empirischen  Denken  die  räum- 
liche Gliederung  des  Kosmos  vollzieht,  scharf  und  charakteristisch  ge- 
schieden ist1.  Nicht  minder  erscheint  z.  B.  die  allgemeine  Form  der 
„Kausalität"  in  völlig  verschiedenem  Lichte,  je  nachdem  wir  sie  auf 
der  Stufe  des  wissenschaftlichen  oder  des  mythischen  Denkens  betrachten. 
Auch  der  Mythos  kennt  den  Begriff  der  Kausalität :  er  gebraucht  ihn  so- 
wohl in  seinen  allgemeinen  Theogonien  und  Kosmogonien,  wie  er  ihn  zur 
Deutung  einer  Fülle  von  Einzelerscheinungen  benutzt,  die  er  auf  Grund 
dieses  Begriffs  mythisch  „erklärt".  Aber  das  letzte  Motiv  dieser  „Erklä- 
rung" ist  ein  durchaus  anderes,  als  dasjenige,  das  die  kausale  Erkennt- 
nis durch  theoretisch-wissenschaftliche  Begriffe  beherrscht.  Das  Pro- 
blem des  Ursprungs  als  solches  ist  der  Wissenschaft  und  dem  Mythos 
gemeinsam ;  aber  die  Art  und  der  Charakter,  die  Modalität  des  Ursprungs 
ändert  sich,  sobald  wir  von  dem  einen  Gebiet  ins  andere  übertreten,  —  so- 
bald wir  den  Ursprung,  statt  ihn  als  mythische  Potenz  zu  fassen,  als 
wissenschaftliches  Prinzip  gebrauchen  und  ihn  als  solches  verstehen 
lernen. 

So  zeigt  sich  durchweg,  daß,  um  eine  bestimmte  Beziehungsform  in 
ihrem  konkreten  Gebrauch  und  in  ihrer  konkreten  Bedeutung  zu  charak- 
terisieren, nicht  nur  die  Angabe  ihrer  qualitativen  Beschaffenheit  als 

1  Vgl.  hrz.  m.  Studie  über  die  Begriffsform  im  mythischen  Denken  (Studien  der  Bibl. 
Warburg  I,  Lpz.  1922). 


3o 


solcher,  sondern  auch  die  Angabe  des  Gesamtsystems,  in  dem  sie  steht,  er- 
forderlich ist.  Bezeichnen  wir  etwa  schematisch  die  verschiedenen  Rela- 
tionsarten —  wie  die  Relation  des  Raumes,  der  Zeit,  der  Kausalität  u.  s.  f.  — 
als  Rlf  R2,  R3  .  .  .  so  gehört  zu  jeder  noch  ein  besonderer  „Index  der 
Modalität"  ju2,  ju8  .  .  .,  der  angibt,  innerhalb  welches  Funktions- 
und Bedeutungszusammenhangs  sie  zu  nehmen  ist.  Denn  jeder  dieser  Be- 
deutungszusammenhänge, die  Sprache  wie  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis, die  Kunst  wie  der  Mythos,  besitzt  sein  eigenes  konstitutives  Prinzip, 
das  allen  besonderen  Gestaltungen  in  ihm  gleichsam  sein  Siegel  aufdrückt. 
Es  ergibt  sich  hieraus  eine  außerordentliche  Mannigfaltigkeit  von  Form- 
verhältnissen, deren  Reichtum  und  deren  innere  Verwicklungen  sich 
jedoch  erst  in  der  genauen  Analyse  jeder  einzelnen  Gesamtform  über- 
blicken lassen.  Aber  auch  abgesehen  von  dieser  Besonderung  führt  schon 
die  allgemeinste  Betrachtung  des  Bewußtseinsganzen  auf  gewisse  grund- 
legende Einheitsbedingungen,  auf  Bedingungen  der  Verknüpfbarkeit,  der 
geistigen  Zusammenfassung  und  der  geistigen  Darstellung  überhaupt, 
zurück.  Es  gehört  zum  Wesen  des  Bewußtseins  selbst,  daß  in  ihm  kein 
Inhalt  gesetzt  werden  kann,  ohne  daß  schon,  eben  durch  diesen  einfachen 
Akt  der  Setzung,  ein  Gesamtkomplex  anderer  Inhalte  mitgesetzt  wird. 
Kant  hat  einmal  —  in  seiner  Schrift  über  die  negativen  Größen  —  das 
Problem  der  Kausalität  dahin  formuliert,  wie  es  zu  verstehen  sei,  daß, 
weil  etwas  ist,  darum  zugleich  etwas  anderes,  von  ihm  völlig  Verschie- 
denes sein  solle  und  sein  müsse.  Wenn  man  mit  der  dogmatischen  Meta- 
physik seinen  Ausgangspunkt  vom  Begriff  des  absoluten  Daseins  nimmt 
—  so  muß  in  der  Tat  diese  Frage  zuletzt  als  unlösbar  erscheinen.  Denn 
ein  absolutes  Sein  fordert  auch  letzte  absolute  Elemente,  deren  jedes  in 
substantieller  Starrheit  für  sich  ist  und  für  sich  begriffen  werden  muß. 
Aber  dieser  Begriff  der  Substanz  weist  nun  keinen  notwendigen,  ja  nicht 
einmal  einen  begreiflichen  Übergang  zur  Vielheit  der  Welt,  zur  Mannig- 
faltigkeit und  Verschiedenheit  ihrer  besonderen  Erscheinungen  auf.  Auch 
bei  Spinoza  wird  der  Übergang  von  der  Substanz  als  dem,  was  in  se  est 
et  per  se  concipitur,  zu  der  Reihe  der  einzelnen  abhängigen  und  veränder- 
lichen Modi  nicht  sowohl  deduziert,  als  vielmehr  erschlichen.  Überhaupt 
sieht  sich  die  Metaphysik,  wie  ihre  Geschichte  lehrt,  immer  deutlicher  vor 
ein  gedankliches  Dilemma  gestellt.  Sie  muß  entweder  mit  dem  Grund- 
begriff des  absoluten  Daseins  vollen  begrifflichen  Ernst  machen,  womit 
alle  Relationen  sich  zu  verflüchtigen,  alle  Vielheit  des  Raumes,  der  Zeit, 
der  Kausalität  sich  in  bloßen  Schein  aufzulösen  droht  —  oder  sie  muß 
diese  Beziehungen,  indem  sie  sie  anerkennt,  als  ein  bloß  Äußeres  und  Zu- 


3i 


fälliges,  als  ein  schlechthin  „Accidentelles",  zum  Sein  hinzutreten  lassen. 
Dann  aber  zeigt  sich  alsbald  ein  eigentümlicher  Rückschlag:  denn  mehr 
und  mehr  wird  nun  deutlich,  daß  eben  dieses  „Zufällige"  dasjenige  ist, 
was  für  die  Erkenntnis  zugänglich  und  in  ihre  Formen  faßbar  ist, 
während  das  nackte  „Wesen",  das  als  Grundlage  der  besonderen  Be- 
stimmungen gedacht  werden  sollte,  sich  in  die  Leere  einer  bloßen  Ab- 
straktion verliert.  Was  als  „All  der  Realität",  als  Inbegriff  aller  Wirk- 
lichkeit verstanden  werden  sollte,  das  erweist  sich  zuletzt  als  ein  Etwas, 
das  nur  noch  das  Moment  der  bloßen  Bestimmbarkeit,  aber  nichts  mehr 
von  selbständiger  und  positiver  Bestimmtheit  in  sich  enthält. 

Dieser  Dialektik  der  metaphysischen  Seinslehre  ist  nur  dann  zu  ent- 
gehen, wenn  „Inhalt"  und  „Form",  „Element"  und  „Beziehung"  von 
Anfang  an  so  gefaßt  werden,  daß  beide  nicht  als  voneinander  unabhän- 
gige Bestimmungen,  sondern  als  miteinander  gegeben  und  in  wechsel- 
seitiger Determination  gedacht  erscheinen.  Je  schärfer  sich  in  der  Ge- 
schichte des  Denkens  die  moderne  „subjektive"  Wendung  der  Spekulation 
ausprägte,  um  so  mehr  setzte  sich  diese  allgemeine  methodische  Forde- 
rung durch.  Denn  die  Frage  nimmt  sofort  eine  neue  Gestalt  an,  wenn  sie 
vom  Boden  des  absoluten  Seins  auf  den  des  Bewußtseins  versetzt  wird. 
Jede  „einfache"  Qualität  des  Bewußtseins  hat  nur  insofern  einen  bestimm- 
ten Gehalt,  als  sie  zugleich  in  durchgängiger  Einheit  mit  anderen  und  in 
durchgängiger  Sonderung  gegen  andere  erfaßt  wird.  Die  Funktion  dieser 
Einheit  und  dieser  Sonderung  ist  von  dem  Inhalte  des  Bewußtseins  nicht 
ablösbar,  sondern  stellt  eine  seiner  wesentlichen  Bedingungen  dar.  Es  gibt 
demnach  kein  „Etwas"  im  Bewußtsein,  ohne  daß  damit  eo  ipso  und  ohne 
weitere  Vermittlung  ein  „Anderes"  und  eine  Reihe  von  anderen  gesetzt 
würde.  Denn  jedes  einzelne  Sein  des  Bewußtseins  hat  eben  nur  dadurch 
seine  Bestimmtheit,  daß  in  ihm  zugleich  das  Bewußtseinsganze  in  irgend- 
einer Form  mitgesetzt  und  repräsentiert  wird.  Nur  in  dieser  Repräsen- 
tation und  durch  sie  wird  auch  dasjenige  möglich,  was  wir  die  Gegeben- 
heit und  „Präsenz"  des  Inhalts  nennen.  Dies  tritt  sofort  deutlich  hervor, 
wenn  wir  auch  nur  den  einfachsten  Fall  dieser  „Präsenz",  wenn  wir  die 
zeitliche  Beziehung  und  die  zeitliche  „Gegenwart"  betrachten.  Nichts 
scheint  sicherer  zu  sein,  als  daß  alles,  was  wahrhaft  unmittelbar  im  Be- 
wußtsein gegeben  ist,  sich  auf  einen  einzelnen  Zeitpunkt,  auf  ein  be- 
stimmtes „Jetzt"  bezieht  und  in  ihm  beschlossen  ist.  Das  Vergangene  ist  im 
Bewußtsein  „nicht  mehr",  das  Zukünftige  ist  in  ihm  „noch  nicht"  vor- 
handen :  beide  scheinen  also  seiner  konkreten  Wirklichkeit,  seiner  eigent- 
lichen Aktualität  gar  nicht  anzugehören,  sondern  in  bloße  gedankliche  Ab- 


32 


straktionen  aufzugehen.  Und  doch  gilt  andererseits,  daß  der  Inhalt, 
den  wir  als  das  „Jetzt"  bezeichnen,  nichts  als  die  ewig  fließende  Grenze 
ist,  die  das  Vergangene  vom  Zukünftigen  scheidet.  Diese  Grenze  ist,  unab- 
hängig von  dem,  was  durch  sie  begrenzt  wird,  gar  nicht  setzbar:  sie  exi- 
stirt  nur  im  Akt  der  Scheidung  selbst,  nicht  als  etwas,  was  vor  diesem  Akt 
und  losgelöst  von  ihm  gedacht  werden  könnte.  Nicht  als  starres  substanti- 
elles Dasein,  sondern  nur  als  der  schwebende  Übergang  vom  Vergangenen 
zum  Künftigen,  vom  Nicht-Mehr  zum  Noch-Nicht  ist  der  einzelne  zeit- 
liche Augenblick,  sofern  er  eben  als  zeitlicher  bestimmt  werden  soll,  zu 
fassen.  Wo  das  Jetzt  anders,  wo  es  absolut  genommen  wird,  da  bildet  es 
in  Wahrheit  nicht  mehr  das  Element,  sondern  die  Negation  der  Zeit.  Die 
zeitliche  Bewegung  erscheint  dann  in  ihm  angehalten  und  dadurch  ver- 
nichtet. Für  ein  Denken,  das  wie  das  Denken  der  Eleatik  lediglich  auf 
das  absolute  Sein  hinzielt  und  in  ihm  zu  verharren  strebt,  ruht  der  flie- 
gende Pfeil — weil  ihm  in  jedem  unteilbaren  „Jetzt"  immer  nur  eine  ein- 
zige, eindeutige  bestimmte  und  unteilbare  „Lage"  zukommt.  Soll  dagegen 
der  zeitliche  Moment  der  zeitlichen  Bewegung  zugehörig  gedacht,  soll  er, 
statt  aus  ihr  herausgehoben  und  ihr  entgegengesetzt  zu  werden,  wahrhaft  in 
sie  hineingestellt  werden:  so  ist  dies  nur  dadurch  möglich,  daß  in  dem 
Moment  als  einzelnem  zugleich  der  Prozeß  als  Ganzes  mitgedacht  wird 
und  daß  beide,  Moment  und  Prozeß,  für  das  Bewußtsein  in  eine  vollkom- 
mene Einheit  zusammengehen.  Die  Form  der  Zeit  selbst  kann  für  uns  in 
keiner  anderen  Weise  „gegeben"  sein,  als  dadurch,  daß  sich  im  Zeitele- 
ment die  Zeitreihe  nach  vorwärts  und  nach  rückwärts  darstellt.  Denken 
wir  uns  einen  einzelnen  Querschnitt  des  Bewußtseins,  so  können  wir  ihn 
als  solchen  nur  dadurch  erfassen,  daß  wir  nicht  lediglich  bei  ihm  selbst 
verweilen,  sondern  in  den  verschiedenen  Beziehungsrichtungen  kraft  be- 
stimmter räumlicher,  zeitlicher  oder  qualitativer  Ordnungsfunktionen  über 
ihn  hinausgehen.  Weil  wir  in  dieser  Weise  im  aktualen  Sein  des  Be^ 
wußtseins  ein  Nicht-Seiendes,  im  Gegebenen  ein  Nicht-Gegebenes  festzu- 
halten vermögen  —  darum  allein  gibt  es  für  uns  jene  Einheit,  die  wir 
auf  der  einen  Seite  als  die  subjektive  Einheit  des  Bewußtseins,  auf  der 
anderen  Seite  als  die  objektive  Einheit  des  Gegenstandes  bezeichnen. 

Auch  die  psychologische  und  erkenntniskritische  Analyse  des  Raum- 
bewußtseins führt  auf  die  gleiche  Urfunktion  der  Repräsentation  zurück. 
Denn  zunächst  setzt  alle  Erfassung  eines  räumlichen  „Ganzen"  die  Bil- 
dung zeitlicher  Gesamtreihen  voraus:  die  „simultane"  Synthesis  des  Be- 
wußtseins kann  sich,  wenngleich  sie  einen  eigenen  und  ursprünglichen 
Wesenszug  von   ihm  ausmacht,   doch  immer  nur  auf  Grund  der 


3 


33 


successiven  Synthesis  vollenden  und  darstellen.  Sollen  bestimmte  Elemente 
zu  einem  räumlichen  Ganzen  vereinigt  werden,  so  müssen  sie  zuvor  im 
Nacheinander  des  Bewußtseins  durchlaufen  und  gemäß  einer  bestimmten 
Regel  aufeinander  bezogen  werden.  Weder  die  sensualistische  Psycholo- 
gie der  Engländer,  noch  die  metaphysische  Psychologie  Herbarts  hat  frei- 
lich begreiflich  zu  machen  vermocht,  wie  aus  dem  Bewußtsein  der  zeit- 
lichen Verknüpfung  das  der  räumlichen  entsteht  —  wie  aus  der  bloßen 
Folge  von  Gesichts-,  Tast-  und  Muskelempfindungen  oder  aus  einem 
Komplex  einfacher  Vorstellungsreihen  das  Bewußtsein  des  „Beisammen" 
sich  bildet.  Aber  das  eine  ist  jedenfalls  in  diesen  Theorien,  die  von  ganz 
verschiedenen  Ausgangspunkten  herkommen,  übereinstimmend  anerkannt, 
daß  der  Raum  in  seiner  konkreten  Gestaltung  und  Gliederung  nicht  als 
fertiger  Besitz  der  Seele  „gegeben"  ist,  sondern  daß  er  erst  im  Prozeß 
des  Bewußtseins  und  gleichsam  in  seiner  Gesamtbewegung  für  uns  zu- 
stande kommt.  Nun  würde  aber  eben  dieser  Prozeß  selbst  für  uns  in 
lauter  isolierte,  gegeneinander  beziehungslose  Einzelheiten  zerfallen  und 
daher  gar  nicht  die  Zusammenfassung  zu  einem  Ergebnis  erlauben,  wenn 
nicht  auch  hier  die  allgemeine  Möglichkeit  bestünde,  das  Ganze  bereits 
im  Element,  wie  das  Element  im  Ganzen  zu  erfassen.  Der  „Ausdruck  des 
Vielen  im  Einen",  die  multorum  in  uno  expressio,  als  welche  Leibniz 
das  Bewußtsein  überhaupt  charakterisiert,  tritt  somit  auch  hier  bestim- 
mend hervor.  Zur  Anschauung  bestimmter  räumlicher  Gebilde  gelan- 
gen wir  nur,  indem  wir  einerseits  Gruppen  sinnlicher  Wahrnehmungen, 
die  sich  im  unmittelbaren  sinnlichen  Erlebnis  wechselseitig  verdrängen, 
in  einer  Vorstellung  vereinigen  und  indem  wir  andererseits  diese  Einheit 
wieder  in  die  Verschiedenheit  ihrer  einzelnen  Komponenten  auseinander- 
gehen lassen.  In  solchem  Wechselspiel  der  Konzentration  und  der  Ana- 
lyse baut  sich  erst  das  räumliche  Bewußtsein  auf.  Die  Gestalt  erscheint 
hierbei  ebensowohl  als  mögliche  Bewegung,  wie  die  Bewegung  als  mög- 
liche Gestalt  erscheint. 

Berkeley  hat  in  seinen  Untersuchungen  zur  Theorie  des  Sehens,  die 
einen  Anfangspunkt  der  modernen  physiologischen  Optik  bilden,  die  Ent- 
wicklung der  Raumwahrnehmung  der  Entwicklung  der  Sprache  vergli- 
chen. Es  ist  eine  Art  natürliche  Sprache,  d.  h.  eine  feste  Zuordnung  von 
Zeichen  und  Bedeutungen,  durch  die  nach  ihm  die  räumliche  .Anschau- 
ung erst  gewonnen  und  erst  befestigt  werden  kann.  Nicht  indem  wir  ein 
fertig-vorhandenes  dingliches  Urbild  des  „absoluten  Raumes"  in  unserer 
Vorstellung  abbilden,  sondern  indem  wir  die  verschiedenen,  an  sich  un- 
vergleichlichen Eindrücke  der  mannigfachen  Sinnesgebiete,  insbesondere 


34 


des  Gesichts-  und  des  Tastsinns,  als  Repräsentanten  und  Zeichen  für  ein- 
ander gebrauchen  lernen,  entstehe  für  uns  die  Welt  des  Raumes  als  eine 
Welt  miteinander  systematisch  verknüpfter  und  aufeinander  bezogener 
Perzeptionen.  Berkeley  hat  hierbei,  seiner  sensualistischen  Grundvoraus- 
setzung gemäß,  versucht,  die  Sprache  des  Geistes,  die  er  als  eine  Bedin- 
gung der  räumlichen  Anschauung  nachweist,  ausschließlich  als  eine 
Sprache  der  Sinne  zu  verstehen.  Aber  dieser  Versuch  hebt,  näher 
betrachtet,  sich  selbst  auf.  Denn  es  liegt  schon  im  Begriff  der  Sprache 
selbst,  daß  sie  niemals  bloß  sinnlich  sein  kann,  sondern  eine  eigentüm- 
liche Durchdringung  und  Wechselwirkung  sinnlicher  und  begrifflicher 
Faktoren  darstellt,  sofern  in  ihr  stets  die  Erfüllung  der  individuellen 
sinnlichen  Zeichen  mit  einem  allgemeinen  gedanklichen  Bedeutungsgehalt 
vorausgesetzt  wird.  Das  gleiche  gilt  auch  für  jede  andere  Art  der  „Re- 
präsentation" —  der  Darstellung  eines  Bewußtseinselementes  in  einem 
anderen  und  durch  ein  anderes.  Denken  wir  uns  die  sinnliche  Grundlage 
für  den  Aufbau  der  Raumvorstellung  in  bestimmten  Gesichts-,  Bewe- 
gungs-  und  Tastempfindungen  gegeben,  so  enthält  doch  eben  die  Summe 
dieser  Empfindungen  nichts  von  jener  charakteristischen  Einheitsform, 
die  wir  „Raum"  nennen.  Diese  äußert  sich  vielmehr  erst  in  einer  der- 
artigen Zuordnung,  daß  dadurch  von  jeder  einzelnen  dieser  Qualitäten 
zu  ihrer  Gesamtheit  übergegangen  werden  kann.  Wir  denken  auf  diese 
Weise  in  jedem  Element,  sofern  wir  es  als  räumliches  setzen,  schon  eine 
Unendlichkeit  möglicher  Richtungen  gesetzt  und  der  Inbegriff  dieser 
Richtungen  macht  erst  das  Ganze  der  räumlichen  Anschauung  aus.  Das 
räumliche  „Bild",  das  wir  von  einem  einzelnen  empirischen  Gegenstand, 
etwa  von  einem  Hause,  besitzen,  kommt  nur  dadurch  zustande,  daß  wir 
eine  einzelne  relativ  begrenzte  perspektivische  Ansicht  in  diesem  Sinne 
erweitern;  daß  wir  sie  nur  als  Ausgangspunkt  und  Anregung  benutzen, 
um  von  ihr  aus  ein  sehr  komplexes  Ganze  räumlicher  Relationen  aufzu- 
bauen. In  diesem  Sinne  verstanden  ist  der  Raum  nichts  weniger  als  ein 
ruhendes  Gefäß  und  Behältnis,  in  das  die  „Dinge",  als  gleichfalls  fertige, 
eingehen,  er  stellt  vielmehr  einen  Inbegriff  ideeller  Funktionen  dar,  die 
sich  gegenseitig  zur  Einheit  eines  Ergebnisses  ergänzen  und  bestimmen. 
Wie  wir  im  einfachen  „Jetzt"  der  Zeit  zugleich  das  Früher  und  Später, 
also  die  Grundrichtungen  des  zeitlichen  Fortgangs  ausgedrückt  fanden,  so 
setzen  wir  in  jedem  „Hier"  schon  ein  „Da"  und  ein  „Dort".  Die  einzelne 
Stelle  ist  nicht  vor  dem  Stellensystem,  sondern  nur  im  Hinblick  auf  das- 
selbe und  in  korrelativer  Beziehung  zu  ihm  gegeben. 

Eine  dritte  Form  der  Einheit,  die  sich  über  der  räumlichen  und  zeit- 


3* 


35 


liehen  Einheit  erhebt,  ist  die  Form  der  gegenständlichen  Verknüp- 
fung. Wenn  wir  einen  Inbegriff  bestimmter  Eigenschaften  zum  Ganzen 
eines  beharrlichen  Dinges  mit  mannigfachen  und  wechselnden  Merkmalen 
zusammenschließen,  so  setzt  dieser  Zusammenschluß  die  Verknüpfung 
im  Neben-  und  Nacheinander  voraus,  ohne  doch  in  ihr  aufzugehen.  Das 
relativ  Konstante  muß  vom  Veränderlichen  unterschieden,  —  bestimmte 
räumliche  Konfigurationen  müssen  festgehalten  werden,  damit  der  Be- 
griff vom  Dinge,  als  dem  bleibenden  „Träger"  der  wandelbaren  Eigen- 
schaften, sich  bilden  kann.  Auf  der  anderen  Seite  aber  fügt  der  Gedanke 
dieses  „Trägers"  zur  Anschauung  des  räumlichen  Beisammen  und  des 
zeitlichen  Nacheinander  ein  eigenes  und  neues  Moment  von  selbständiger 
Bedeutung  hinzu.  Die  empiristische  Analyse  der  Erkenntnis  hat  freilich 
immer  wieder  versucht,  diese  Selbständigkeit  zu  bestreiten.  Sie  sieht  im 
Gedanken  des  Dinges  nichts  anderes  als  eine  rein  äußerliche  Verknüp- 
fungsform; sie  sucht  zu  zeigen,  daß  Inhalt  und  Form  des  „Gegenstandes" 
sich  in  der  Summe  seiner  Eigenschaften  erschöpft.  Aber  es  tritt  hierbei 
alsbald  derselbe  Grundmangel  hervor,  der  der  empiristischen  Zergliederung 
des  Ichbegriffs  und  des  Ichbewußtseins  anhaftet.  Wenn  Hume  das  Ich 
als  ein  „Bündel  von  Perzeptionen"  erklärt,  so  hebt  diese  Erklärung  — 
abgesehen  davon,  daß  in  ihr  nur  die  Tatsache  der  Verbindung  über- 
haupt festgehalten,  aber  über  die  besondere  Form  und  Art  der  Syn- 
these zum  „Ich"  nicht  das  geringste  ausgesagt  ist  —  sich  schon  darum 
selbst  auf,  weil  im  Begriff  der  Perzeption  der  Begriff  des  Ich,  der 
scheinbar  analysiert  und  in  seine  Bestandteile  zerlegt  werden  sollte, 
noch  vollständig  unzerlegt  enthalten  ist.  Was  die  einzelne  Perzeption  zur 
Perzeption  macht,  was  sie  als  Qualität  der  „Vorstellung"  etwa  von  einer 
beliebigen  Dingqualität  unterscheidet,  das  ist  eben  ihre  „Zugehörigkeit 
zum  Ich."  Diese  entsteht  nicht  erst  in  der  nachträglichen  Zusammen- 
fassung einer  Mehrheit  von  Perzeptionen,  sondern  ist  schon  jeder  ein- 
zelnen ursprünglich  eigen.  Ein  ganz  analoges  Verhältnis  besteht  in  der 
Verknüpfung  der  vielfältigen  „Eigenschaften"  zur  Einheit  eines  „Dinges". 
Wenn  wir  die  Empfindungen  des  Ausgedehnten,  des  Süßen,  des  Rauhen, 
des  Weißen  zur  Vorstellung  des  „Zuckers",  als  eines  einheitlichen  ding- 
lichen Ganzen,  vereinen,  so  ist  dies  nur  möglich,  sofern  schon  jede  ein- 
zelne dieser  Qualitäten  ursprünglich  mit  Rücksicht  auf  dieses  Ganze  be- 
stimmt gedacht  wird.  Daß  die  Weiße,  die  Süße  u.  s.  f.  nicht  lediglich 
als  Zustand  in  mir,  sondern  als  „Eigenschaft",  als  gegenständliche  Quali- 
tät gefaßt  wird,  —  dies  schließt  die  gesuchte  Funktion  und  den  Ge- 
sichtspunkt des  ,Dinges'  schon  vollständig  in  sich.  In  der  Setzung  des 


36 


Einzelnen  waltet  also  hier  bereits  ein  allgemeines  Grundschema,  das  dann, 
in  der  fortschreitenden  Erfahrung  vom  „Ding"  und  seinen  „Eigen- 
schaften", nur  mit  immer  neuem  konkreten  Inhalt  erfüllt  wird.  Wie  der 
Punkt  als  einfache  und  einzelne  Lage  immer  nur  „im"  Räume,  d.  h. 
logisch  gesprochen  unter  Voraussetzung  eines  Systems  aller  Lagebestim- 
mungen möglich  ist  —  wie  der  Gedanke  des  zeitlichen  „Jetzt"  nur  in 
Rücksicht  auf  eine  Reihe  von  Momenten  und  auf  die  Ordnung  und  Folge 
des  Nacheinander,  die  wir  „Zeit"  nennen,  sich  bestimmen  läßt  —  so  gilt 
das  gleiche  auch  für  das  Ding-  und  Eigenschaftsverhältnis.  In  all  diesen 
Verhältnissen,  deren  nähere  Bestimmung  und  Zergliederung  Sache  der 
speziellen  Erkenntnistheorie  ist,  zeigt  sich  derselbe  Grundcharakter  des 
Bewußtseins,  daß  das  Ganze  hier  nicht  erst  aus  den  Teilen  gewonnen 
wird,  sondern  daß  jede  Setzung  eines  Teils  die  Setzung  des  Ganzen, 
nicht  seinem  Inhalt,  wohl  aber  seiner  allgemeinen  Struktur  und  Form 
nach  bereits  in  sich  schließt.  Jedes  Einzelne  gehört  hier  schon  ursprüng- 
lich einem  bestimmten  Komplex  an  und  bringt  die  Regel  dieses  Kom- 
plexes in  sich  zum  Ausdruck.  Erst  die  Gesamtheit  dieser  Regeln  aber 
macht  die  wahrhafte  Einheit  des  Bewußtseins  als  Einheit  der  Zeit,  des 
Raumes,  der  gegenständlichen  Verknüpfung  u.  s.  f.  aus. 

Die  traditionelle  psychologische  Begriffssprache  bietet  für  die  Be- 
zeichnung dieses  Sachverhalts  kaum  einen  völlig  zutreffenden  Ausdruck 
dar,  weil  die  Psychologie  sich  erst  spät,  erst  in  ihrem  Übergang  zur 
modernen  „Gestaltpsychologie",  von  den  Voraussetzungen  der  sensua- 
lis tischen  Grundansicht  losgerungen  hat.  Für  diese  letztere,  die  alle  Ob- 
jektivität im  „einfachen"  Eindruck  beschlossen  sein  läßt,  besteht  alle 
Verknüpfung  in  nichts  anderem  als  in  der  bloßen  Zusammenfassung,  in 
der  „Association"  der  Eindrücke.  Dieser  Terminus  ist  weit  genug,  um  alle 
Möglichkeiten  der  Beziehung,  die  im  Bewußtsein  bestehen,  gleichmäßig 
zu  umfassen;  aber  er  macht  zugleich,  in  dieser  seiner  Weite,  ihre  Be- 
sonderheit und  Eigenart  unkenntlich.  Beziehungen  der  verschiedensten 
Qualität  und  Modalität  werden  unterschiedslos  durch  ihn  bezeichnet 
„Association"  heißt  die  Vereinigung  von  Elementen  zur  Einheit  der  Zeit 
oder  des  Raumes,  zur  Einheit  des  Ich  oder  des  Gegenstandes,  zum  Gan- 
zen eines  Dinges  oder  einer  Folge  von  Ereignissen  —  zu  Reihen,  deren  Glie- 
der durch  den  Gesichtspunkt  von  Ursache  und  Wirkung  und  zu  solchen, 
die  durch  den  Gesichtspunkt  von  „Mittel"  und  „Zweck"  miteinander  ver- 
bunden sind.  „Association"  gilt  ferner  als  der  hinreichende  Ausdruck  für 
das  logische  Gesetz  der  Verknüpfung  des  Einzelnen  zur  begrifflichen 
Einheit  der  Erkenntnis,  wie  etwa  für  die  Formen  der  Gestaltung,  die 


37 


sich  im  Aufbau  des  ästhetischen  Bewußtseins  als  wirksam  erweisen. 
Aber  eben  hierin  tritt  sofort  hervor,  daß  dieser  Begriff  allenfalls  nur  den 
nackten  Tatbestand  der  Verbindung  überhaupt  bezeichnet,  ohne  das  ge- 
ringste über  ihre  spezifische  Art  und  Regel  zu  verraten.  Die  Verschieden- 
heit der  Wege  und  Richtungen,  durch  die  das  Bewußtsein  zu  seinen  Syn- 
thesen gelangt,  wird  hierdurch  völlig  verdeckt.  Nennen  wir  die  „Elemente" 
a,  b,  c,  d  u.s. f.,  so  gibt  es,  wie  sich  gezeigt  hat,  ein  genau  abgestuftes 
und  in  sich  differenziertes  System  mannigfacher  Funktionen  F  (a,  b), 
%p  (c,  d)  u.  s.  f.,  in  denen  sich  ihre  Verknüpfung  ausspricht,  das  aber  in 
dem  angeblichen  Gattungsbegriff  der  Association  nicht  sowohl  zum 
Ausdruck,  als  vielmehr  zum  Verschwinden,  weil  zur  völligen  Nivellierung 
gebracht  wird.  Und  noch  ein  anderer  wesentlicher  Mangel  haftet  dieser 
Bezeichnung  an.  Die  Inhalte,  die  man  miteinander  in  Association  treten 
läßt,  bleiben,  so  eng  sie  sich  auch  verknüpfen  und  so  innig  sie  miteinander 
„verschmelzen"  mögen,  doch  ihrem  Sinn  und  Ursprung  nach  trenn- 
bare Inhalte.  Sie  werden  im  Fortschritt  der  Erfahrung  zu  immer  festeren 
Verbänden  und  Gruppen  zusammengefügt;  aber  ihr  Bestand  als  solcher 
ist  nicht  erst  durch  die  Gruppe,  sondern  schon  vor  ihr  gegeben.  Gerade 
dieses  Verhältnis  des  „Teils"  zum  „Ganzen"  ist  es  jedoch,  was  in  den 
echten  Synthesen  des  Bewußtseins  prinzipiell  überwunden  ist.  In  ihnen 
entsteht  das  Ganze  nicht  erst  aus  den  Teilen,  sondern  es  konstituiert 
dieselben  und  gibt  ihnen  ihre  wesentliche  Bedeutung.  So  denken  wir,  wie 
sich  gezeigt  hat,  in  jedem  begrenzten  Ausschnitt  des  Raumes  die  Rich- 
tung auf  das  Ganze  des  Raumes  in  jedem  einzelnen  zeitlichen  Augenblick 
die  allgemeine  Form  des  Nacheinander  mitgesetzt,  wie  auch  die  Setzung 
jeder  besonderen  Eigenschaft  das  allgemeine  Verhältnis  von  „Substanz" 
und  „Accidens"  und  damit  die  charakteristische  Dingform  in  sich  faßt. 
Eben  diese  Durchdringung,  dieses  intensive  „Durch-einander-Bedingt- 
sein"  aber  läßt  die  Association,  als  Ausdruck  des  bloßen  Beieinander  der 
Vorstellungen,  unerklärt.  Die  empirischen  Regeln  über  den  bloßen  Ab- 
lauf der  Vorstellungen,  die  sie  aufstellt,  machen  die  spezifischen  Grund- 
gebilde und  Grundgestalten,  zu  denen  die  Vorstellungen  sich  zusammen- 
schließen, und  die  Einheit  des  „Sinnes",  die  sich  zwischen  ihnen  herstellt, 
nicht  verständlich. 

Die  Selbständigkeit  dieses  „Sinnes"  zu  retten  und  zu  erweisen  ist  da- 
gegen die  Aufgabe,  die  die  rationalistische  Theorie  der  Erkenntnis  sich 
stellt.  Es  ist  eines  der  wesentlichen  geschichtlichen  Verdienste  dieser 
Theorie,  daß  durch  sie,  kraft  ein  und  derselben  gedanklichen  Wendung, 
eine  neue  und  tiefere  Ansicht  vom  Bewußtsein  überhaupt  und  ein  neuer 


38 


Begriff  vom  „Gegenstand"  der  Erkenntnis  begründet  wird.  So  bewährt 
sich  das  Wort  Descartes',  daß  die  Einheit  des  Objektiven,  die  Einheit 
der  Substanz  nicht  in  der  Wahrnehmung,  sondern  nur  in  der  Reflexion 
des  Geistes  auf  sich  selbst,  in  der  inspectio  mentis  erfaßt  werden  könne. 
Es  ist  der  schärfste  Gegensatz  zur  empiristischen  Theorie  der  „Associa- 
tion", der  sich  in  dieser  Grundlehre  des  Rationalismus  ausspricht  — 
und  doch  ist  auch  hier  die  innere  Spannung  zwischen  zwei  grundverschie- 
denen Wesenselementen  des  Bewußtseins,  zwischen  seiner  bloßen  „Ma- 
terie" und  seiner  reinen  „Form",  nicht  aufgehoben.  Denn  der  Grund 
für  die  Verknüpfung  der  Bewußtseinsinhalte  wird  auch  hier  in  einer 
Tätigkeit  gesucht,  die  irgendwie  von  außen  her  zu  den  einzelnen  Inhalten 
hinzutritt.  Die  „Ideen"  der  äußeren  Wahrnehmung,  die  Ideen  des  Hellen 
und  Dunklen,  des  Rauhen  und  Glatten,  des  Farbigen  und  Tönenden  sind 
nach  Descartes  an  und  für  sich  nur  als  Bilder  in  uns  (velut  picturae) 
und  in  diesem  Sinne  als  bloß  subjektive  Zuständigkeiten  gegeben.  Was 
uns  über  diese  Stufe  hinausführt,  was  uns  ermöglicht,  von  der  Mannig- 
faltigkeit und  Wandelbarkeit  der  Eindrücke  zur  Einheit  und  Konstanz 
des  Gegenstandes  fortzuschreiten,  ist  die  von  diesen  Eindrücken  völlig 
unabhängige  Funktion  des  Urteils  und  des  „unbewußten  Schließens". 
Die  objektive  Einheit  ist  eine  rein  formale  Einheit,  die  als  solche  weder 
gehört  noch  gesehen,  sondern  nur  im  logischen  Fortgang  des  reinen  Den- 
kens erfaßt  werden  kann.  Der  metaphysische  Dualismus  Descartes' 
wurzelt  letzten  Endes  in  diesem  seinen  methodischen  Dualismus:  die 
Lehre  von  der  absoluten  Scheidung  zwischen  der  ausgedehnten  und  der 
denkenden  Substanz  ist  nur  der  metaphysische  Ausdruck  für  einen 
Gegensatz,  der  bei  ihm  schon  in  der  Darstellung  der  reinen  Bewußtseins- 
funktion selbst  sichtbar  wird.  Und  selbst  bei  Kant  zeigt,  im  Beginn  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  dieser  Gegensatz  zwischen  Sinnlichkeit  und 
Denken,  zwischen  den  „materialen"  und  den  „formalen"  Grundbestim- 
mungen des  Bewußtseins  noch  seine  alte  unverminderte  Kraft  —  wenn- 
gleich hier  sofort  der  Gedanke  auftritt,  daß  beide  vielleicht  in  einer  ge- 
meinsamen, wenngleich  uns  unbekannten  Wurzel  zusammenhängen  möch- 
ten. Gegen  diese  Formulierung  des  Problems  aber  ist  vor  allem  einzuwen- 
den, daß  eben  die  Entgegensetzung,  die  hier  vorgenommen  wird,  erst  ein 
Werk  der  Abstraktion,  der  logischen  Schätzung  und  Bewertung  der  ein- 
zelnen Erkenntnisfaktoren  ist,  während  die  Einheit  der  Bewußtseins-Ma- 
terie und  der  Bewußtseinsform,  des  „Besonderen"  und  des  „Allgemeinen", 
der  sinnlichen  „Gegebenheitsmomente"  und  der  reinen  „Ordnungs- 
momente" eben  jenes  ursprünglich-gewisse  und  ursprünglich-bekannte 


39 


Phänomen  bildet,  von  dem  jede  Analyse  des  Bewußtseins  ausgehen 
muß.  Will  man  diesen  Sachverhalt,  der  an  sich  freilich  über  die  Grenzen 
des  Mathematischen  hinausgeht,  mit  einem  mathematischen  Gleichnis 
und  Sinnbild  verdeutlichen,  so  könnte  man,  im  Gegensatz  zur  bloßen 
, Association",  den  Ausdruck  der  „Integration"  wählen.  Das  Bewußt- 
seinselement verhält  sich  zum  Bewußtseinsganzen  nicht  wie  ein  exten- 
siver Teil  zur  Summe  der  Teile,  sondern  wie  ein  Differential  zu 
seinem  Integral.  Wie  in  der  Differentialgleichung  einer  Bewegung  diese 
selbst  ihrem  Verlauf  und  ihrem  allgemeinen  Gesetz  nach  ausgedrückt 
ist,  so  müssen  wir  die  allgemeinen  Strukturgesetze  des  Bewußtseins 
schon  in  jedem  seiner  Elemente,  in  jedem  Querschnitt  von  ihm  mitge- 
geben denken:  —  jedoch  nicht  mitgegeben  im  Sinne  von  eigenen 
und  selbständigen  Inhalten,  sondern  von  Tendenzen  und  Richtungen, 
die  schon  im  Sinnlich-Einzelnen  angelegt  sind.  Alles  „Dasein"  im  Be- 
wußtsein besteht  eben  darin  und  ist  nur  dadurch,  daß  es  alsbald  in 
solchen  verschiedenartigen  Richtungen  der  Synthesis  über  sich  hin- 
ausgeht. Wie  das  Bewußtsein  des  Augenblicks  schon  den  Hinweis  auf 
die  Zeitreihe,  das  Bewußtsein  einer  einzelnen  räumlichen  Stelle  schon 
den  Hinweis  auf  „den"  Raum  als  Inbegriff  und  Allheit  der  möglichen 
Lagebestimmungen  in  sich  schließt,  so  waltet  allgemein  eine  Fülle  von 
Beziehungen,  durch  welche  im  Bewußtsein  des  Einzelnen  zugleich  die 
Form  des  Ganzen  ausgedrückt  ist.  Nicht  aus  der  Summe  seiner  sinnlichen 
Elemente  (a,  b,  c,  d  .  .  .),  sondern  gleichsam  aus  der  Gesamtheit  seiner 
Beziehungs-  und  Formdifferentiale  (drt,  dr2,  dr3  ,  .  .)  baut  sich  das 
„Integral"  des  Bewußtseins  auf.  Die  volle  Aktualität  des  Bewußtseins 
bringt  nur  das  zur  Entfaltung,  was  der  „Potenz"  und  der  allgemeinen 
Möglichkeit  nach  schon  in  jedem  seiner  Sondermomente  beschlossen  liegt. 
Damit  erst  ist  die  allgemeinste  kritische  Lösung  für  jene  Frage  Kants 
erreicht,  wie  es  zu  denken  sei,  daß  weil  „etwas"  ist,  dadurch  zugleich  ein 
„Anderes",  von  ihm  völlig  Verschiedenes  sein  müsse.  Das  Verhältnis,  das, 
vom  Standpunkt  des  absoluten  Seins  betrachtet,  um  so  paradoxer  er- 
scheinen mußte,  je  schärfer  es  betrachtet  und  analysiert  wurde,  ist  das 
notwendige,  das  aus  sich  unmittelbar  verständliche,  wenn  es  vom  Stand- 
punkt des  Bewußtseins  gesehen  wird.  Denn  hier  gibt  es  von  Anfang  an 
kein  abstraktes  „Eines",  dem  in  gleich  abstrakter  Sonderung  und  Los- 
lösung ein  „Anderes"  gegenübersteht,  sondern  das  Eine  ist  hier  „im" 
Vielen,  wie  das  Viele  „im"  Einen  ist:  in  dem  Sinne,  daß  beide  sich  wech- 
selseitig bedingen  und  sich  wechselseitig  repräsentieren. 


ho 


IV 

Die  bisherigen  Erwägungen  gingen  darauf  aus,  eine  Art  erkenntnis- 
kritischer „Deduktion",  eine  Begründung  und  Rechtfertigung  des  Be- 
griffs der  Repräsentation  zu  geben,  sofern  die  Repräsentation,  die  Dar- 
stellung eines  Inhalts  in  einem  anderen  und  durch  einen  anderen,  als 
eine  wesentliche  Voraussetzung  für  den  Aufbau  des  Bewußtseins  selbst 
und  als  Bedingung  seiner  eigenen  Formeinheit  erkannt  werden  sollte. 
Aber  nicht  auf  diese  allgemeinste  logische  Bedeutung  der  repräsenta- 
tiven Funktion  sind  die  folgenden  Betrachtungen  gerichtet.  In  ihnen 
soll  das  Problem  des  Zeichens  nicht  nach  rückwärts  in  seine  letzten 
„Gründe",  sondern  nach  vorwärts  in  die  konkrete  Entfaltung  und  Aus- 
gestaltung, die  es  in  der  Mannigfaltigkeit  der  verschiedenen  Kulturge- 
biete erfährt,  verfolgt  werden.  Für  diese  Betrachtung  ist  jetzt  ein  neues 
Fundament  gewonnen.  Auf  die  „natürliche"  Symbolik,  auf  jene  Dar- 
stellung des  Bewußtseinsganzen,  die  schon  in  jedem  einzelnen  Moment 
und  Fragment  des  Bewußtseins  notwendig  enthalten  oder  mindestens  an- 
gelegt ist,  müssen  wir  zurückgehen,  wenn  wir  die  künstliche  Symbolik, 
wenn  wir  die  „willkürlichen"  Zeichen  begreifen  wollen,  die  sich  das  Be- 
wußtsein in  der  Sprache,  in  der  Kunst,  im  Mythos  erschafft.  Die  Kraft 
und  Leistung  dieser  mittelbaren  Zeichen  bliebe  ein  Rätsel,  wenn  sie  nicht 
in  einem  ursprünglichen,  im  Wesen  des  Bewußtseins  selbst  gegründeten 
geistigen  Verfahren  ihre  letzte  Wurzel  hätte.  Daß  ein  sinnlich-Einzelnes, 
wie  es  z.  B.  der  physische  Sprachlaut  ist,  zum  Träger  einer  rein  geistigen 
Bedeutung  werden  kann  —  dies  wird  zuletzt  nur  dadurch  verständlich, 
daß  die  Grundfunktion  des  Bedeutens  selbst  schon  vor  der  Setzung  des 
einzelnen  Zeichens  vorhanden  und  wirksam  ist,  so  daß  sie  in  dieser  Set- 
zung nicht  erst  geschaffen,  sondern  nur  fixiert,  nur  auf  einen  Einzelfall 
angewandt  wird.  Weil  jeder  Sonderinhalt  des  Bewußtseins  in  einem  Netz- 
werk mannigfacher  Beziehungen  steht,  kraft  deren  er,  in  seinem  ein- 
fachen Sein  und  seiner  Selbstdarstellung,  zugleich  den  Hinweis  auf 
andere  und  wieder  andere  Inhalte  in  sich  schließt,  kann  und  muß  es  auch 
bestimmte  Gebilde  des  Bewußtseins  geben,  in  denen  diese  reine  Form 
des  Hinweisens  sich  gleichsam  sinnlich  verkörpert.  Daraus  ergibt  sich 
sofort  die  eigentümliche  Doppelnatur  dieser  Gebilde:  ihre  Gebundenheit 
ans  Sinnliche,  die  doch  zugleich  eine  Freiheit  vom  Sinnlichen  in  sich 
schließt  In  jedem  sprachlichen  „Zeichen",  in  jedem  mythischen  oder 
künstlerischen  „Bild"  erscheint  ein  geistiger  Gehalt,  der  an  und  für  sich 
über  alles  Sinnliche  hinausweist,  in  die  Form  des  Sinnlichen,  des  Sicht-, 
Hör-  oder  Tastbaren  umgesetzt.  Es  tritt  eine  selbständige  Gestaltungs- 


weise,  eine  spezifische  Aktivität  des  Bewußtseins  auf,  die  sich  von  aller 
Gegebenheit  der  unmittelbaren  Empfindung  oder  Wahrnehmung  unter- 
scheidet, um  sich  dann  doch  eben  dieser  Gegebenheit  selbst  als  Vehikel, 
als  Mittel  des  Ausdrucks  zu  bedienen.  Damit  wird  die  „natürliche"  Sym- 
bolik, die  wir  im  Grundcharakter  des  Bewußtseins  selbst  angelegt  fanden, 
auf  der  einen  Seite  benutzt  und  festgehalten,  während  sie  auf  der  anderen 
Seite  überboten  und  verfeinert  wird.  Denn  in  dieser  „natürlichen"  Sym- 
bolik war  es  immer  ein  gewisser  Teilbestand  des  Bewußtseins,  der,  aus 
dem  Ganzen  herausgehoben,  dennoch  die  Kraft  behielt,  eben  dieses  Ganze 
zu  vertreten  und  es  durch  diese  Vertretung  im  gewissen  Sinne  wiederher- 
zustellen. Ein  vorhandener  Inhalt  besaß  die  Fähigkeit,  außer  sich  selbst 
zugleich  ein  anderes,  nicht  unmittelbar  Gegebenes,  sondern  nur  durch  ihn 
Vermitteltes  vorstellig  zu  machen.  Die  symbolischen  Zeichen  aber,  die 
uns  in  der  Sprache,  im  Mythos,  in  der  Kunst  entgegentreten,  „sind"' 
nicht  erst,  um  dann,  über  dieses  Sein  hinaus,  noch  eine  bestimmte  Be- 
deutung zu  erlangen,  sondern  bei  ihnen  entspringt  alles  Sein  erst  aus  der 
Bedeutung.  Ihr  Gehalt  geht  rein  und  vollständig  in  der  Funktion  des  Be- 
deutens auf.  Hier  ist  das  Bewußtsein,  um  das  Ganze  im  Einzelnen  zu  er- 
fassen, nicht  mehr  auf  die  Anregung  des  Einzelnen  selbst,  das  als  solches 
gegeben  sein  muß,  angewiesen,  sondern  hier  erschafft  es  sich  selbst 
bestimmte  konkret-sinnliche  Inhalte  als  Ausdruck  für  bestimmte  Bedeu- 
tungskomplexe. Weil  diese  Inhalte,  als  selbstgeschaffene,  auch  ganz  in 
der  Gewalt  des  Bewußtseins  sind,  darum  vermag  es  durch  sie,  wie  der  be- 
zeichnende Ausdruck  lautet,  auch  alle  jene  Bedeutungen  immer  von 
neuem  mit  Freiheit  „hervorzurufen".  Indem  wir  z.  B.  eine  gegebene  An- 
schauung oder  Vorstellung  mit  einem  willkürlichen  Sprachlaut  ver- 
knüpfen, scheinen  wir  zunächst  ihrem  eigentlichen  Inhalt  nicht  das  ge- 
ringste hinzugefügt  zu  haben.  Und  doch  nimmt,  schärfer  betrachtet,  in 
dieser  Schaffung  des  Sprachzeichens  auch  der  Inhalt  selbst  für  das  Be- 
wußtsein einen  neuen  „Charakter",  weil  eine  neue  Bestimmtheit,  an.  Seine 
scharfe  und  klare  geistige  „Reproduktion"  erweist  sich  geradezu  an  den 
Akt  der  sprachlichen  „Produktion"  gebunden.  Denn  nicht  dies  ist  die  Auf- 
gabe der  Sprache,  Bestimmungen  und  Unterschiede,  die  in  der  Vorstel- 
lung schon  vorhanden  sind,  lediglich  zu  wiederholen,  sondern  sie  als 
solche  erst  zu  setzen  und  kenntlich  zu  machen.  Und  so  ist  es  überall  die 
Freiheit  des  geistigen  Tuns,  durch  die  sich  das  Chaos  der  sinnlichen  Ein- 
drücke erst  lichtet  und  durch  die  es  für  uns  erst  feste  Gestalt  anzu- 
nehmen beginnt.  Nur  indem  wir  dem  fließenden  Eindruck,  in  irgendeiner 
Richtung  der  Zeichengebung,  bildend  gegenübertreten,  gewinnt  er  für 


42 


/ 


uns  Form  und  Dauer.  Diese  Wandlung  zur  Gestalt  vollzieht  sich  in  der 
Wissenschaft  und  in  der  Sprache,  in  der  Kunst  und  im  Mythos  in  ver- 
schiedener Weise  und  nach  verschiedenen  Bildungsprinzipien:  aber  sie 
alle  stimmen  darin  überein,  daß  dasjenige,  was  schließlich  als  Produkt 
ihres  Tuns  vor  uns  hintritt,  in  keinem  Zuge  mehr  dem  bloßen  Mate- 
rial gleicht,  von  dem  sie  anfänglich  ausgegangen  waren.  So  unterscheidet 
sich  in  der  Grundfunktion  der  Zeichengebung  überhaupt  und  in  ihren 
verschiedenen  Richtungen  erst  wahrhaft  das  geistige  vom  sinnlichen  Be- 
wußtsein. Hier  erst  tritt  an  die  Stelle  der  passiven  Hingegebenheit  an 
irgendein  äußeres  Dasein  eine  selbständige  Prägung,  die  wir  ihm  geben, 
und  durch  die  es  für  uns  in  verschiedene  Wirklichkeitsbereiche  und  Wirk- 
lichkeitsformen auseinandertritt.  Der  Mythos  und  die  Kunst,  die  Sprache 
und  die  Wissenschaft  sind  in  diesem  Sinne  Prägungen  zum  Sein:  sie  sind 
nicht  einfache  Abbilder  einer  vorhandenen  Wirklichkeit,  sondern  sie  stel- 
len die  großen  Richtlinien  der  geistigen  Bewegung,  des  ideellen  Prozesses 
dar,  in  dem  sich  für  uns  das  Wirkliche  als  Eines  und  Vieles  konstituiert, 
—  als  eine  Mannigfaltigkeit  von  Gestaltungen,  die  doch  zuletzt  durch  eine 
Einheit  der  Bedeutung  zusammengehalten  werden. 

Blickt  man  auf  dieses  Ziel  voraus,  so  wird  damit  auch  die  besondere 
Bestimmung  der  verschiedenen  Zeichensysteme  und  der  Gebrauch,  den  das 
Bewußtsein  von  ihnen  macht,  erst  verständlich.  Wäre  das  Zeichen  nichts 
anderes  als  die  Wiederholung  eines  bestimmten,  in  sich  fertigen  Einzel- 
inhalts der  Anschauung  oder  Vorstellung,  so  wäre  weder  abzusehen,  was 
mit  einer  solchen  schlichten  Kopie  des  Vorhandenen  geleistet  werden, 
noch  wie  sie  in  wirklicher  Strenge  erreicht  werden  sollte.  Denn  es  liegt  auf 
der  Hand,  daß  die  Nachahmung  an  das  Original  niemals  heranreichen, 
es  für  die  geistige  Betrachtung  niemals  ersetzen  könnte.  Unter  der  Vor- 
aussetzung einer  derartigen  Norm  wird  man  daher  notwendig  zu  einer 
prinzipiellen  Skepsis  gegen  den  Wert  des  Zeichens  überhaupt  geführt. 
Wird  es  etwa  als  die  eigentliche  und  wesentliche  Aufgabe  der  Sprache  be- 
trachtet, jene  Wirklichkeit,  die  wir  in  den  einzelnen  Empfindungen  und 
Anschauungen  bereits  fertig  vor  uns  liegen  haben,  nur  in  dem  fremden 
Medium  des  Sprachlauts  nochmals  zum  Ausdruck  zu  bringen  —  so  zeigt 
sich  sofort,  wie  unendlich  weit  alles  Sprechen  hinter  dieser  Aufgabe  zu- 
rückbleiben muß.  Der  unbegrenzten  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  der  an- 
schaulichen Wirklichkeit  gegenüber  müssen  alle  sprachlichen  Symbole 
als  leer,  ihrer  individuellen  Bestimmtheit  gegenüber  müssen  sie  als  ab- 
strakt und  vag  erscheinen.  In  dem  Augenblick,  in  dem  die  Sprache  mit 
der  Empfindung  oder  Anschauung  in  dieser  Hinsicht  in  Wettstreit  zu 


43 


treten  versucht,  muß  sich  demnach  ihre  Ohnmacht  unverkennbar  er- 
weisen. Aber  das  jiqwtov  ipevöog  der  skeptischen  Sprachkritik  liegt 
eben  darin,  daß  dieser  Maßstab  als  der  allein  gültige,  als  der  einzig-mög- 
liche vorausgesetzt  wird.  In  Wahrheit  aber  zeigt  die  Analyse  der  Sprache  — 
insbesondere  wenn  man  nicht  von  der  bloßen  Einzelheit  des  Wortes,  sondern 
von  der  Einheit  des  Satzes  ausgeht — ,daß  jeder  sprachliche  Ausdruck,  weit 
entfernt,  ein  bloßer  Abdruck  der  gegebenen  Empf indungs-  oder  Anschau- 
ungswelt zu  sein,  vielmehr  einen  bestimmten  selbständigen  Charakter  der 
„Sinngebung"  in  sich  faßt.  Und  das  gleiche  Verhältnis  tritt  bei  den  Zeichen 
der  verschiedensten  Art  und  Herkunft  hervor.  Von  ihnen  allen  läßt  sich 
in  gewissem  Sinne  sagen,  daß  sie  ihren  Wert  nicht  sowohl  in  dem  besitzen, 
was  sie  vom  konkret-sinnlichen  Einzelinhalt  und  seinem  unmittelbaren 
Bestand  festhalten,  als  in  dem,  was  sie  von  diesem  unmittelbaren  Be- 
stand unterdrücken  und  fallen  lassen.  Auch  die  künstlerische  Zeichnung 
wird  zu  dem,  was  sie  ist  und  wodurch  sie  sich  von  einer  bloß  mecha- 
nischen Reproduktion  unterscheidet,  erst  durch  das,  was  sie  am  „ge- 
gebenen" Eindruck  wegläßt.  Sie  ist  nicht  die  Wiedergabe  des  letzteren 
in  seiner  sinnlichen  Totalität,  sondern  sie  hebt  an  ihm  bestimmte  „prä- 
gnante" Momente  heraus,  d.  h.  Momente,  durch  die  das  Gegebene  über 
sich  selbst  erweitert  und  die  künstlerisch-aufbauende,  die  synthetische 
Raumphantasie  in  eine  bestimmte  Richtung  geleitet  wird.  Was  hier, 
wie  in  anderen  Gebieten,  die  eigentliche  Kraft  des  Zeichens  ausmacht,  ist 
somit  eben  dies:  daß  in  dem  Maße,  als  die  unmittelbaren  Inhaltsbestim- 
mungen zurücktreten,  die  allgemeinen  Form-  und  Relationsmomente  zu 
um  so  schärferer  und  reinerer  Ausprägung  gelangen.  Das  Einzelne  als 
solches  wird  scheinbar  beschränkt;  aber  eben  damit  vollzieht  sich  um  so 
bestimmter  und  kräftiger  jene  Leistung,  die  wir  als  „Integration  zum 
Ganzen"  bezeichnet  haben.  Daß  alles  Einzelne  des  Bewußtseins  nur 
dadurch  „besteht",  daß  es  das  Ganze  potentiell  in  sich  schließt  und 
gleichsam  im  steten  Übergang  zum  Ganzen  begriffen  ist,  hat  sich  bereits 
gezeigt.  Der  Gebrauch  des  Zeichens  aber  befreit  diese  Potentialität  erst 
zur  wahrhaften  Aktualität.  Jetzt  schlägt  in  der  Tat  ein  Schlag  tau- 
send Verbindungen,  die  alle  in  der  Setzung  des  Zeichens  zum  mehr  oder 
minder  kräftigen  und  deutlichen  Mitschwingen  gelangen.  In  dieser  Set- 
zung löst  sich  das  Bewußtsein  mehr  und  mehr  von  dem  direkten  Sub- 
strat der  Empfindung  und  der  sinnlichen  Anschauung  los:  aber  gerade 
darin  beweist  es  um  so  entschiedener  die  in  ihm  liegende  ursprüngliche 
Kraft  der  Verknüpfung  und  Vereinheitlichung. 

Am  klarsten  tritt  vielleicht  diese  Tendenz  in  der  Funktion  der  wissen- 


44 


schaftlichen  Zeichensysteme  heraus.  Die  abstrakte  chemische  „Formel" 
etwa,  die  als  Bezeichnung  eines  bestimmten  Stoffes  gebraucht  wird,  ent- 
hält nichts  mehr  von  dem,  was  die  direkte  Beobachtung  und  die  sinn- 
liche Wahrnehmung  uns  an  diesem  Stoffe  kennen  lehrt;  —  aber  statt 
dessen  stellt  sie  den  besonderen  Körper  in  einen  außerordentlich  reichen 
und  fein  gegliederten  Beziehungskomplex  ein,  von  dem  die  Wahrneh- 
mung als  solche  überhaupt  noch  nichts  weiß.  Sie  bezeichnet  den  Körper 
nicht  mehr  nach  dem,  was  er  sinnlich  „ist"  und  als  was  er  sich  uns  un- 
mittelbar sinnlich  gibt,  sondern  sie  faßt  ihn  als  einen  Inbegriff  mög- 
licher „Reaktionen",  möglicher  kausaler  Zusammenhänge,  die  durch  all- 
gemeine Regeln  bestimmt  werden.  Die  Gesamtheit  dieser  gesetzlichen  Ver- 
knüpfungen ist  es,  die  in  der  chemischen  Konstitutionsformel  mit  dem 
Ausdruck  des  Einzelnen  verschmilzt,  und  durch  die  nun  dieser  Ausdruck 
ein  durchaus  neues  charakteristisches  Gepräge  erhält.  Hier  wie  in  anderen 
Fällen  dient  das  Zeichen  dazu,  eine  Vermittlung  für  den  Übergang  vom 
bloßen  „Stoff"  des  Bewußtseins  zu  seiner  geistigen  „Form"  zu  schaf- 
fen. Eben  weil  es  selbst  ohne  eigene  sinnliche  Masse  auftritt,  weil  es  so- 
zusagen in  einem  reinen  Äther  der  Bedeutung  schwebt,  besitzt  es  in  sich 
die  Fähigkeit,  statt  bloßer  Einzelheiten  des  Bewußtseins  seine  komplexen 
Gesamtbewegungen  zur  Darstellung  zu  bringen.  Es  ist  nicht  die  Wider- 
spiegelung eines  festen  Bewußtseinsbestandes,  sondern  die  Richtlinie  einer 
solchen  Bewegung.  So  ist  das  Wort  der  Sprache  seiner  physischen  Sub- 
stanz nach  ein  bloßer  Lufthauch;  aber  in  diesem  Hauch  waltet  eine  außer- 
ordentliche Kraft  für  die  Dynamik  der  Vorstellung  und  des  Gedankens. 
Diese  Dynamik  wird  durch  das  Zeichen  ebensowohl  gesteigert,  als  ge- 
regelt. Schon  der  Leibnizische  Entwurf  der  „Gharakteristica  gereralis" 
hebt  es  als  einen  wesentlichen  und  allgemeinen  Vorzug  des  Zeichens  her- 
vor, daß  es  nicht  nur  der  Darstellung,  sondern  vor  allem  der  Entdek- 
kung  bestimmter  logischer  Zusammenhänge  dient,  —  daß  es  nicht  nur 
eine  symbolische  Abkürzung  des  bereits  Bekannten  bietet,  sondern  neue 
Wege  ins  Unbekannte,  nicht-Gegebene  erschließt.  Hierin  bewährt  sich  von 
einer  neuen  Seite  her  die  synthetische  Kraft  des  Bewußtseins  überhaupt, 
die  sich  darin  äußert,  daß  jede  Konzentration  seines  Gehalts,  die  es  er- 
reicht, ihm  zugleich  zum  Antrieb  wird,  seine  bisherigen  Grenzen  zu  er- 
weitern. Die  Zusammenfassung,  die  im  Zeichen  gegeben  ist,  gewährt  da- 
her neben  dem  bloßen  Rückblick  immer  zugleich  einen  neuen  Ausblick. 
Sie  setzt  einen  relativen  Abschluß,  der  jedoch  unmittelbar  die  Aufforde- 
rung zum  Weiterschreiten  enthält  und  der  die  Bahn  für  diesen  weiteren 
Fortschritt  frei  macht,  indem  er  seine  allgemeine  Regel  erkennen  läßt. 


45 


Insbesondere  die  Geschichte  der  Wissenschaft  bietet  für  diesen  Sachver- 
halt die  mannigfachsten  Belege  dar  —  sie  zeigt,  was  es  für  die  Lösung 
eines  bestimmten  Problems  oder  Problemkomplexes  bedeutet,  wenn  es 
gelingt,  sie  auf  eine  feste  und  klare  „Former'  zu  bringen.  So  sind  z.  B. 
weitaus  die  meisten  Fragen,  die  ihre  Lösung  im  Newtonischen  Fluxions- 
begriff  und  im  Leibnizischen  Algorithmus  der  Differentialrechnung  ge- 
funden haben,  schon  vor  Leibniz  und  Newton  vorhanden  gewesen  und  von 
den  verschiedensten  Richtungen  her  —  von  Seiten  der  algebraischen  Ana- 
lysis,  der  Geometrie  und  der  Mechanik  —  in  Angriff  genommen  worden. 
Aber  erst  indem  für  sie  ein  einheitlicher  und  umfassender  symbolischer 
Ausdruck  gewonnen  wurde,  wurden  alle  diese  Probleme  wahrhaft  be- 
herrschbar: denn  jetzt  bildeten  sie  keine  lockere  und  zufällige  Folge 
bloßer  Einzelfragen  mehr,  sondern  es  war  in  einem  bestimmten  allge- 
mein anwendbaren  Verfahren,  in  einer  Grundoperation,  deren  Regeln 
feststanden,  das  gemeinsame  Prinzip  ihres  Ursprungs  bezeichnet. 

So  findet  in  der  symbolischen  Funktion  des  Bewußtseins  ein  Gegensatz 
seine  Darstellung  und  seine  Vermittlung,  der  schon  in  dem  einfachen  Be- 
griff des  Bewußtseins  selbst  gegeben  und  gegründet  ist.  Alles  Bewußtsein 
stellt  sich  uns  in  der  Form  des  zeitlichen  Geschehens  dar  —  aber  mitten 
in  diesem  Geschehen  sollen  sich  nun  bestimmte  Bereiche  von  „Gestal- 
ten" herausheben.  Das  Moment  der  stetigen  Veränderung  und  das  Mo- 
ment der  Dauer  sollen  also  ineinander  übergehen  und  ineinander  auf- 
gehen. Diese  allgemeine  Forderung  ist  es,  die  sich  in  den  Gebilden  der 
Sprache,  des  Mythos,  der  Kunst  und  in  den  intellektuellen  Symbolen  der 
Wissenschaft  auf  verschiedene  Weise  erfüllt.  Alle  diese  Gebilde  er- 
scheinen gleichsam  noch  dem  lebendigen,  sich  ständig  erneuernden  Pro- 
zeß des  Bewußtseins  unmittelbar  angehörig:  und  doch  herrscht  in  ihnen 
zugleich  das  geistige  Bestreben,  in  diesem  Prozeß  bestimmte  Halt-  und 
Ruhepunkte  zu  gewinnen.  So  bewahrt  in  ihnen  das  Bewußtsein  den  Charak- 
ter des  stetigen  Fließens ;  — aber  es  verfließt  dennoch  nicht  ins  Unbestimmte, 
sondern  gliedert  sich  selbst  um  feste  Form-  und  Bedeutungsmittelpunkte. 
Jede  solche  Form  ist  nach  ihrem  reinen  „Ansich"  als  ein  avzö  xa&'  avzb 
im  Platonischen  Sinne,  aus  dem  Strom  des  bloßen  Vorstellungsverlaufs 
herausgehoben  —  aber  sie  muß  zugleich,  um  überhaupt  zu  erscheinen 
und  um  ein  Dasein  „für  uns"  zu  gewinnen,  in  diesem  Ablauf  in  irgend- 
einer Weise  repräsentiert  sein.  In  der  Erschaffung  und  im  Gebrauch  der 
verschiedenen  Gruppen  und  Systeme  symbolischer  Zeichen  sind  beide 
Bedingungen  insofern  erfüllt,  als  hier  in  der  Tat  ein  sinnlicher  Einzel- 
inhalt, ohne  aufzuhören,  ein  solcher  zu  sein,  die  Kraft  erlangt,  dem  Be- 


46 


wußtsein  ein  Allgemeingültiges  darzustellen.  Hier  verliert  daher  eben- 
sowohl der  sensualistische  Grundsatz  „Nihil  est  in  intellectu,  quod  non 
ante  fuerit  in  sensu",  wie  seine  intellektualistische  Umkehrung  seine  Gel- 
tung. Denn  es  handelt  sich  nicht  mehr  um  ein  Voraufgehen  oder  Nach- 
folgen des  „Sinnlichen"  gegenüber  dem  „Geistigen",  sondern  um  die 
Offenbarung  und  Manifestation  geistiger  Grundfunktionen  im  Material 
des  Sinnlichen  selbst.  Von  diesem  Standpunkt  aus  gesehen,  erscheint  es  als 
Einseitigkeit  des  abstrakten  „Empirismus",  wie  des  abstrakten  „Idealis- 
mus", daß  in  beiden  eben  dieses  Grundverhältnis  nicht  zur  vollen  Klar- 
heit entwickelt  ist.  Auf  der  einen  Seite  wird  ein  Begriff  vom  Gegebenen 
und  Einzelnen  aufgestellt,  ohne  daß  erkannt  ist,  daß  jeder  solche  Begriff, 
explizit  oder  implizit,  immer  schon  die  Momente  und  Bestimmungen 
irgendeines  Allgemeinen  in  sich  fassen  muß  —  auf  der  anderen  Seite 
wird  die  Gültigkeit  und  Notwendigkeit  dieser  Bestimmungen  behauptet, 
ohne  daß  das  Medium  bezeichnet  wird,  kraft  dessen  sie  sich  in  der  psy- 
chologischen Gegebenheit  des  Bewußtseins  allein  darzustellen  vermögen. 
Geht  man  dagegen  statt  von  irgendwelchen  abstrakten  Postulaten  von  der 
konkreten  Grundform  des  geistigen  Lebens  selbst  aus,  so  erscheint  die- 
ser dualistische  Gegensatz  als  aufgehoben.  Der  Schein  einer  ursprüng- 
lichen Trennung  zwischen  dem  Intelligiblen  und  dem  Sinnlichen,  zwi- 
schen „Idee"  und  „Erscheinung"  verschwindet.  Denn  freilich  blieben  wir 
auch  hier  in  einer  Welt  der  „Bilder"  befangen  —  aber  es  handelt  sich 
nicht  um  solche  Bilder,  die  irgendeine  an  sich  bestehende  Welt  der 
„Sachen"  wiedergeben,  sondern  um  Bildwelten,  deren  Prinzip  und  Ur- 
sprung in  einer  autonomen  Schöpfung  des  Geistes  selbst  zu  suchen  ist. 
Durch  sie  allein  erblicken  wir  und  in  ihnen  besitzen  wir  das,  was  wir  die 
„Wirklichkeit"  nennen:  denn  die  höchste  objektive  Wahrheit,  die  sich 
dem  Geist  erschließt,  ist  zuletzt  die  Form  seines  eigenen  Tuns.  In  der 
Totalität  seiner  eigenen  Leistungen  und  in  der  Erkenntnis  der  spezifischen 
Regel,  durch  die  jede  von  ihnen  bestimmt  wird,  sowie  in  dem  Bewußt- 
sein des  Zusammenhangs,  der  alle  diese  besonderen  Regeln  wieder  zur  Ein- 
heit einer  Aufgabe  und  einer  Lösung  vereint:  in  alledem  besitzt  nun- 
mehr der  Geist  die  Anschauung  seiner  selbst  und  die  der  Wirklichkeit. 
Auf  die  Frage  aber,  was  das  absolut  Wirkliche  außerhalb  dieser  Gesamt- 
heit der  geistigen  Funktionen,  was  das  „Ding  an  sich"  in  diesem  Sinne  sein 
möge  —  auf  diese  Frage  erhält  er  freilich  keine  Antwort  mehr,  es  sei 
denn,  daß  er  sie  mehr  und  mehr  als  ein  falsch  gestelltes  Problem,  als  ein 
Trugbild  des  Denkens  erkennen  lernt.  Der  echte  Begriff  der  Realität  läßt 
sich  nicht  in  die  bloße  abstrakte  Seinsform  hineinpressen,  sondern  er 


4? 


geht  in  die  Mannigfaltigkeit  und  Fülle  der  Formen  des  geistigen  Lebens 
auf  —  aber  eines  solchen  Lebens,  dem  selbst  das  Gepräge  der  inneren 
Notwendigkeit  und  damit  das  Gepräge  der  Objektivität  aufgedrückt  ist 
In  diesem  Sinne  bedeutet  jede  neue  „symbolische  Form",  bedeutet  nicht 
nur  die  Begriffswelt  der  Erkenntnis,  sondern  auch  die  anschauliche  Welt 
der  Kunst,  wie  die  des  Mythos  oder  der  Sprache  nach  dem  Wort  Goethes 
eine  von  dem  Inneren  an  das  Äußere  ergehende  Offenbarung,  eine  „Syn- 
these von  Welt  und  Geist",  die  uns  der  ursprünglichen  Einheit  beider  erst 
wahrhaft  versichert.  — 

Und  damit  fällt  zugleich  neues  Licht  auf  einen  letzten  fundamen- 
talen Gegensatz,  mit  dem  die  moderne  Philosophie  seit  ihren  ersten 
Anfängen  immer  wieder  gerungen  und  den  sie  immer  schärfer  durchge- 
bildet hat.  Die  „subjektive"  Wendung,  die  sich  in  ihr  vollzog,  führte  sie 
mehr  und  mehr  dazu,  die  Gesamtheit  ihrer  Probleme  statt  in  der  Einheit 
des  Seinsbegriffs  im  Begriff  des  Lebens  zu  zentrieren.  Aber  wenn  damit 
der  Gegensatz  der  Subjektivität  und  Objektivität  in  der  Form,  in  der  er 
in  der  dogmatischen  Ontologie  auftrat,  beschwichtigt  und  seine  endgül- 
tige Versöhnung  angebahnt  schien  —  so  trat  jetzt,  im  Umkreis  des  Lebens 
selbst,  ein  um  so  radikalerer  Gegensatz  hervor.  Die  Wahrheit  des  Lebens 
scheint  nirgends  anders  als  in  seiner  reinen  Unmittelbarkeit  gegeben 
und  in  ihr  beschlossen  zu  sein  —  alles  Begreifen  und  Erfassen  des  Lebens 
aber  scheint  eben  diese  Unmittelbarkeit  zu  bedrohen  und  aufzuheben. 
Geht  man  vom  dogmatischen  Seinsbegriff  aus,  so  tritt  freilich  auch  hier 
der  Dualismus  von  Sein  und  Denken,  je  weiter  die  Betrachtung  fort- 
schreitet, um  so  deutlicher  hervor  —  aber  es  scheint  nichtsdestoweniger 
die  Möglichkeit  und  die  Hoffnung  zurückzubleiben,  daß  in  dem  Bilde, 
welches  die  Erkenntnis  vom  Sein  entwirft,  wenigstens  ein  Rest  der  Wahr- 
heit des  Seins  aufbehalten  ist.  Es  scheint,  als  ginge  das  Sein  zwar  nicht 
vollständig  und  adäquat,  aber  doch  mit  einem  Teil  seiner  selbst  in  dieses 
Bild  der  Erkenntnis  ein  —  als  greife  es  mit  seiner  eigenen  Substanz  in 
die  des  Erkennens  über,  um  in  ihr  eine  mehr  oder  minder  getreue  Spiege- 
lung von  sich  selbst  zu  erzeugen.  Die  reine  Unmittelbarkeit  des  Lebens 
aber  läßt  keine  derartige  Teilung  und  Zerfällung  zu.  Sie  kann,  wie  es 
scheint,  nur  ganz  oder  gar  nicht  geschaut  werden:  sie  tritt  in  die  mittel- 
baren Darstellungen,  die  wir  von  ihr  versuchen,  nicht  ein,  sondern  bleibt 
als  ein  prinzipiell  Anderes,  ihnen  Entgegengesetztes  außerhalb  ihrer 
stehen.  Nicht  in  irgendeiner  Form  der  Repräsentation,  sondern  nur  in 
der  reinen  Intuition  läßt  sich  der  ursprüngliche  Gehalt  des  Lebens  er- 
fassen. Alle  Auffassung  des  Geistigen  hat  daher,  wie  es  scheint,  zwischen 


48 


diesen  beiden  Extremen  zu  wählen.  Es  gilt  die  Entscheidung,  ob  wir  das 
Substantielle  des  Geistes  in  seiner  reinen  Ursprünglichkeit,  die  allen  mit- 
telbaren Gestaltungen  vorausliegt,  suchen  —  oder  ob  wir  uns  der  Fülle 
und  Vielfältigkeit  eben  dieser  Vermittlungen  hingeben  wollen.  Nur  in  der 
ersteren  Auffassung  scheinen  wir  an  den  eigentlichen,  den  echten  Kern 
des  Lebens  zu  rühren,  der  aber  als  ein  schlechthin  einfacher,  in  sich  selbst 
verschlossener  Kern  erscheint  —  während  wir  in  der  zweiten  zwar  das 
gesamte  Schauspiel  der  Entwicklungen  des  Geistes  vor  uns  vorüberziehen 
lassen,  das  sich  jedoch,  je  tiefer  wir  uns  in  dasselbe  versenken,  um  so 
deutlicher  in  ein  bloßes  Schauspiel,  in  ein  reflektiertes  Abbild  ohne  selb- 
ständige Wahrheit  und  Wesenheit,  auflöst.  Die  Kluft  zwischen  diesen 
beiden  Gegensätzen  läßt  sich  —  so  scheint  es  —  durch  keine  Bemühung 
des  vermittelnden  Denkens,  das  selbst  ganz  auf  der  einen  Seite  des  Ge- 
gensatzes verharrt,  jemals  überbrücken:  je  weiter  wir  in  der  Richtung 
auf  das  Symbolische,  auf  das  bloß-Signifikative  fortschreiten,  um  so 
mehr  trennen  wir  uns  vom  Urgrund  der  reinen  Intuition. 

Nicht  nur  die  philosophische  Mystik  hat  immer  wieder  vor  diesem 
Problem  und  diesem  Dilemma  gestanden,  sondern  auch  die  reine  Logik 
des  Idealismus  hat  es  wiederholt  aufs  schärfste  erfaßt  und  bezeichnet. 
Piatons  Darlegungen  im  siebenten  Brief  über  das  Verhältnis  der  „Idee" 
zum  „Zeichen"  und  über  die  notwendige  Inadäquatheit,  die  zwischen  der 
einen  und  dem  anderen  besteht,  schlagen  ein  Motiv  an,  das  fortan  in  den 
mannigfachsten  Variationen  wiederkehrt.  In  Leibniz'  Methodenlehre  der 
Erkenntnis  ist  die  „intuitive  Erkenntnis"  von  der  bloß  „symbolischen" 
durch  einen  scharfen  Schnitt  getrennt.  Und  gegenüber  der  Intuition,  als 
der  reinen  Schau,  als  der  eigentlichen  „Sicht"  der  Idee,  sinkt  selbst  für 
ihn,  den  Urheber  des  Gedankens  der  „allgemeinen  Charakteristik", 
alle  Erkenntnis  durch  bloße  Symbole  auf  die  Stufe  der  „blinden  Erkennt- 
nis" (cogitatio  caeca)  herab1.  Die  menschliche  Erkenntnis  zwar  kann 
der  Bilder  und  Zeichen  nirgends  entraten;  aber  sie  ist  eben  hierdurch  als 
menschliche,  d.  h.  als  begrenzte  und  endliche  charakterisiert,  der  das 
Ideal  des  vollkommenen,  des  urbildlichen  und  göttlichen  Verstandes 
gegenübersteht.  Und  selbst  bei  Kant,  der  diesem  Ideal  seinen  genauen  lo- 
gischen Ort  angewiesen  hat,  indem  er  es  als  bloßen  Grenzbegriff  der  Er- 
kenntnis bestimmte,  und  der  es  damit  kritisch  bewältigt  zu  haben  glaubte, 
selbst  bei  ihm  wird  —  an  einer  Stelle,  die  den  rein  methodischen  Höhe- 
punkt der  „Kritik  der  Urteilskraft"  bildet  —  der  Gegensatz  zwischen  dem 

1  Vgl.  Meditaliones  de  cognitione,  veritale  et  ideis,  Leibniz'  Philos.  Schriften  (Ger- 
hardt), IV,  422 ff. 


49 


,,intellectus  archetypus"  und  dem  „inlellectus  ectypus",  zwischen  dem 
intuitiven,  urbildlichen  und  dem  diskursiven,  „der  Bilder  bedürftigen" 
Verstand  noch  einmal  in  höchster  prinzipieller  Schärfe  herausgearbei- 
tet. Vom  Standpunkt  dieses  Gegensatzes  scheint  sich  notwendig  zu  er- 
geben, daß  je  reicher  der  Symbolgehalt  der  Erkenntnis  oder  irgend- 
einer anderen  geistigen  Form  wird,  um  so  mehr  ihr  reiner  Wesensge- 
halt verkümmern  muß.  Die  Fülle  der  Bilder  bezeichnet  nicht,  sondern 
verdeckt  und  verhüllt  das  bildlos-Eine,  das  hinter  ihnen  steht  und  auf  das 
sie,  wenngleich  vergeblich,  abzielen.  Nur  die  Aufhebung  aller  bildlichen 
Bestimmtheit,  nur  die  Rückkehr  zu  dem  „lauteren  Nichts",  wie  es  in  der 
Sprache  der  Mystik  heißt,  kann  uns  zu  dem  echten  Ur-  und  Wesensgrund 
zurückführen.  Anders  gefaßt  stellt  sich  eben  dieser  Gegensatz  als  ein  Wi- 
derstreit und  als  eine  ständige  Spannung  zwischen  „Kultur"  und  „Leben" 
dar.  Denn  eben  dies  ist  das  notwendigeSchicksal  der  Kultur,  daß  all  das,  was 
sie  in  ihrem  ständig  weiterschreitenden  Prozeß  der  Gestaltung  und  „Bil- 
dung" erschafft,  uns  von  der  Ursprünglichkeit  des  Lebens  fortschreitend 
entfernt.  Je  reicher  und  energischer  der  Geist  sich  bildend  betätigt,  um  so 
weiter  scheint  ihn  eben  dieses  sein  Tun  von  dem  Urquell  seines  eigenen 
Seins  abzuziehen.  Mehr  und  mehr  zeigt  er  sich  jetzt  in  seinen  eigenen 
Schöpfungen  —  in  den  Worten  der  Sprache,  in  den  Bildern  des  Mythos 
oder  der  Kunst,  in  den  intellektuellen  Symbolen  der  Erkenntnis  —  be- 
fangen, die  sich  gleich  einem  zarten  und  durchsichtigen,  aber  nichtsdesto- 
weniger unzerreißbaren  Schleier  um  ihn  legen.  Die  eigentliche,  die  tiefste 
Aufgabe  einer  Philosophie  der  Kultur,  einer  Philosophie  der  Sprache, 
der  Erkenntnis,  des  Mythos  u.  s.  f.  aber  scheint  eben  darin  zu  bestehen, 
diesen  Schleier  aufzuheben  —  von  der  vermittelnden  Sphäre  des  bloßen 
Bedeutens  und  Bezeichnens  wieder  in  die  ursprüngliche  des  intuitiven 
Schauens  zurückzudringen.  Aber  auf  der  anderen  Seite  widerstreitet  gerade 
das  eigentümliche  Organ,  über  welches  die  Philosophie  allein  verfügt, 
der  Lösung  dieser  Aufgabe.  Für  sie,  die  sich  erst  in  der  Schärfe  des 
Begriffs  und  in  der  Helle  und  Klarheit  des  „diskursiven"  Denkens 
vollendet,  ist  das  Paradies  der  Mystik,  das  Paradies  der  reinen  Unmittel- 
barkeit, verschlossen.  Hier  bleibt  daher  für  sie  kein  anderer  Ausweg,  als 
die  Richtung  der  Betrachtung  umzukehren.  Statt  den  Weg  zurückzutun, 
muß  sie  versuchen,  ihn  nach  vorwärts  zu  vollenden.  Wenn  alle  Kultur 
sich  in  der  Erschaffung  bestimmter  geistiger  Bildwelten,  bestimmter 
symbolischer  Formen  wirksam  erweist,  so  besteht  das  Ziel  der  Philosophie 
nicht  darin,  hinter  all  diese  Schöpfungen  zurückzugehen,  sondern  viel- 
mehr darin,  sie  in  ihrem  gestaltenden  Grundprinzip  zu  verstehen  und  be- 


5o 


wüßt  zu  machen.  In  dieser  Bewußtheit  erst  erhebt  sich  der  Gehalt  des 
Lebens  zu  seiner  echten  Form.  Das  Leben  tritt  aus  der  Sphäre  des  bloß 
naturgegebenen  Daseins  heraus:  es  bleibt  ebensowenig  ein  Stück  dieses 
Daseins,  wie  ein  bloß  biologischer  Prozeß,  sondern  es  wandelt  und  vollen- 
det sich  zur  Form  des  „Geistes",  Die  Negation  der  symbolischen  Formen 
würde  daher  in  der  Tat,  statt  den  Gehalt  des  Lebens  zu  erfassen,  vielmehr 
die  geistige  Form  zerstören,  an  welche  dieser  Gehalt  sich  für  uns  notwen- 
dig gebunden  erweist.  Geht  man  dagegen  den  umgekehrten  Weg,  —  ver- 
folgt man  nicht  das  Ideal  einer  passiven  Schau  der  geistigen  Wirklich- 
keiten, sondern  versetzt  man  sich  mitten  in  ihre  Aktivität  selbst  —  faßt 
man  sie  nicht  als  die  ruhende  Betrachtung  eines  Seienden,  sondern  als 
Funktionen  und  Energien  des  Bildens,  so  lassen  sich  zuletzt  an  diesem  Bil- 
den selbst,  so  verschieden  und  ungleichartig  die  Gestalten  sein  mögen, 
die  aus  ihm  hervorgehen,  doch  gewisse  gemeinsame  und  typische  Grund- 
züge der  Gestaltung  selbst  herausheben.  Wenn  es  der  Philosophie  der 
Kultur  gelingt,  solche  Grundzüge  zu  erfassen  und  sichtbar  zu  machen,  so 
hat  sie  damit  ihre  Aufgabe,  gegenüber  der  Vielheit  der  Äußerungen  des 
Geistes  die  Einheit  seines  Wesens  zu  erweisen,  in  einem  neuen  Sinne 
erfüllt  —  denn  diese  letztere  erweist  sich  eben  darin  am  deutlichsten, 
daß  die  Mannigfaltigkeit  seiner  Produkte  der  Einheit  seines  Produ- 
zierens keinen  Eintrag  tut,  sondern  sie  vielmehr  erst  bewährt  und 
bestätigt. 


4* 


5i 


ERSTER  TEIL 

ZUR  PHÄNOMENOLOGIE  DER  SPRACH- 
LICHEN FORM 


KAPITEL  I 


DAS  SPRACHPROBLEM  IN  DER  GESCHICHTE  DER 

PHILOSOPHIE* 

I 

Die  philosophische  Frage  nach  dem  Ursprung  und  dem  Wesen  der 
Sprache  ist  im  Grunde  so  alt,  wie  die  Frage  nach  dem  Wesen  und  Ur- 
sprung des  Seins.  Denn  eben  dies  charakterisiert  die  erste  bewußte  Re- 
flexion über  das  Ganze  der  Welt,  daß  für  sie  Sprache  und  Sein,  Wort  und 
Sinn  sich  noch  nicht  voneinander  abgesondert  haben,  sondern  daß  sie 
ihr  als  eine  untrennbare  Einheit  erscheinen.  Weil  die  Sprache  selbst  eine 
Voraussetzung  und  Bedingung  der  Reflexion  ist,  weil  erst  in  ihr  und 
durch  sie  die  philosophische  „Besonnenheit* '  erwacht,  —  darum  findet 
auch  die  erste  Besinnung  des  Geistes  sie  immer  schon  als  eine  gegebene 
Realität,  als  eine  „Wirklichkeit",  die  der  physischen  vergleichbar  und 
ebenbürtig  ist,  vor.  Die  Welt  der  Sprache  umfängt  den  Menschen,  in  dem 
Augenblick,  in  dem  er  zuerst  seinen  Blick  auf  sie  richtet,  in  derselben 
Bestimmtheit  und  Notwendigkeit  und  in  der  gleichen  „Objektivität",  mit 
der  ihm  die  Welt  der  Dinge  gegenübertritt.  Hier  wie  dort  steht  vor  ihm 
ein  Ganzes,  das  in  sich  selbst  sein  eigenes  Wesen  und  seine  eigenen,  aller 
individuellen  Willkür  entrückten  Bindungen  besitzt.  So  wenig  wie  die  Be- 

1  Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Geschichte  der  Sprachphilosophie  ist  noch  ein 
Desiderat:  der  Überweg'sche  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  verzeichnet  in 
seiner  neuesten  (elften)  Auflage  (1920)  neben  den  allgemeinen  Darstellungen  der  Philo- 
sophiegeschichte eine  Fülle  von  Monographien  zur  Geschichte  der  Logik  und  Erkennt- 
nistheorie, der  Metaphysik  und  Naturphilosophie,  der  Ethik,  der  Religionsphilosophie, 
der  Ästhetik,  nennt  aber  kein  einziges  Werk  zur  Geschichte  der  Sprachphilosophie.  Nur 
die  antike  Sprachphilosophie  hat  in  den  bekannten  Werken  von  Lersch  u.  Stein Ihal, 
sowie  in  der  Literatur  über  die  antike  Grammatik  und  Rhetorik  eine  eingehendere  Dar- 
stellung erfahren.  Die  folgende  knappe  geschichtliche  Einleitung  erhebt  natürlich  nicht 
den  Anspruch,  diese  Lücke  auszufüllen;  sie  will  nur  die  Hauptmomente  in  der  philo- 
sophischen Entwicklung  der  „Sprachidee"  herausgreifen  und  einige  vorläufige  Richt- 
linien für  eine  künftige  ausführliche  Bearbeitung  des  Themas  aufstellen. 


55 


schaffenheit  der  Dinge  oder  die  unmittelbare  Beschaffenheit  seiner  sinn- 
lichen Eindrücke  —  so  wenig  geht,  für  diese  erste  Stufe  der  Betrachtung, 
auch  das  Sein  und  die  Bedeutung  der  Worte  auf  eine  freie  Tätigkeit  des 
Geistes  zurück.  Das  Wort  ist  nicht  eine  Bezeichnung  und  Benennung, 
nicht  ein  geistiges  Symbol  des  Seins,  sondern  es  ist  selbst  ein  realer  Teil 
von  ihm.  Die  mythische  Anschauung  der  Sprache,  die  der  philosophischen 
überall  vorausgeht,  ist  durchgehend  durch  diese  Indifferenz  von  Wort 
und  Sache  gekennzeichnet.  Für  sie  ist  im  Namen  jedes  Dinges  sein  Wesen 
beschlossen.  An  das  Wort  und  seinen  Besitz  knüpfen  sich  unmittelbar 
magische  Wirkungen.  Wer  sich  des  Namens  bemächtigt  und  ihn  zu  ge- 
brauchen weiß,  der  hat  damit  die  Herrschaft  über  den  Gegenstand  selbst 
gewonnen,  —  der  hat  sich  ihn  mit  all  seinen  Kräften  zu  eigen  gemacht. 
Aller  Wort-  und  Namenzauber  beruht  auf  dieser  Voraussetzung,  daß  die 
Welt  der  Dinge  und  die  der  Namen  eine  einzige  Wirklichkeit,  weil  ein 
einziger  in  sich  ungeschiedener  Wirkenszusammenhang  ist.  Es  ist  die 
gleiche  Form  der  Substantialität  und  die  gleiche  Form  der  Kausalität,  die 
in  jeder  von  ihnen  gilt  und  die  sie  mit  einander  zu  einem  in  sich  geschlos- 
senen Ganzen  verknüpft. 

Diese  eigentümliche  ,, Ganzheit"  des  mythischen  Weltbildes,  diese  Auf- 
hebung aller  Besonderungen  der  Dinge  in  einen  mythisch-magischen 
Kreis  des  Wirkens  schließt  nun  auch  für  die  Auffasssung  der  Sprache 
eine  bedeutsame  Konsequenz  in  sich.  Sobald  der  Mythos  sich  über  die 
Stufe  der  primitivsten  magischen  „Praxis"  erhebt,  die  je  eine  besondere 
Wirkung  durch  die  Anwendung  eines  besonderen  Mittels  zu  erreichen 
strebt,  die  also  im  unmittelbaren  Tun  ein  Einzelnes  an  ein  anderes  Ein- 
zelne knüpft,  —  sobald  er  in  noch  so  roher  und  unvollkommener  Form 
sein  eigenes  Tun  zu  verstehen  sucht,  ist  er  damit  bereits  zu  einer  neuen 
Sphäre  der  Allgemeinheit  durchgedrungen.  Als  Erkenntnisform  ist 
ihm,  wie  jeder  anderen  Erkenntnis,  der  Zug  zur  Einheit  wesentlich.  Sollen 
die  geistigen  Wesenheiten  und  Kräfte,  in  denen  der  Mythos  lebt,  für  das 
Tun  des  Menschen  beherrschbar  sein,  so  müssen  sie  in  sich  selbst  be- 
reits irgendwelche  bleibende  Bestimmungen  aufweisen.  So  schließt 
schon  der  erste  unmittelbar  sinnliche  und  praktische  Zwang,  den  der 
Mensch  auf  die  ihn  umgebenden  Dinge  der  Natur  ausübt,  den  ersten  Keim 
für  den  Gedanken  einer  in  ihnen  waltenden  theoretischen  Notwendigkeit 
in  sich.  Je  weiter  das  mythische  Denken  fortschreitet,  um  so  mehr  hören 
die  dämonischen  Einzelkräfte  auf,  bloße  Einzelkräfte,  bloße  „Augen- 
blicksgötter" oder  „Sondergötter"  zu  sein;  —  um  so  mehr  zeigt  sich  auch 
zwischen  ihnen  eine  Art  Über-  und  Unterordnung,  eine  Art  der  hierarchi- 


56 


sehen  Gliederung.  Die  mythische  Ansicht  der  Sprache  geht  in  der 
gleichen  Richtung  fort,  indem  sie  sich  von  der  Anschauung  der  beson- 
deren Kraft,  die  im  einzelnen  Wort  und  in  der  einzelnen  magischen  For- 
mel enthalten  ist,  mehr  und  mehr  zum  Gedanken  einer  allgemeinen  Po- 
tenz erhebt,  die  das  Wort  als  solches,  die  die  „Rede"  als  Ganzes  besitzt. 
In  dieser  mythischen  Form  wird  der  Begriff  der  Sprache  als  Einheit 
zuerst  konzipiert.  Schon  in  der  frühesten  religiösen  Spekulation  kehrt 
mit  charakteristischer  Gleichförmigkeit  in  weit  auseinanderliegenden  Ge- 
bieten dieser  Gedanke  wieder.  Für  die  vedische  Religion  bildet  die  gei- 
stige Kraft  des  Wortes  eines  der  Grundmotive,  aus  dem  sie  erwächst: 
das  heilige  Wort  ist  es,  das  in  dem  Gebrauch,  den  der  Wissende,  der  Prie- 
ster, von  ihm  macht,  zum  Herrn  über  alles  Sein,  über  Götter  und  Menschen 
wird.  Schon  im  Rigveda  wird  der  Gebieter  des  Wortes  mit  der  allnäh- 
renden Kraft,  dem  Sorna,  gleichgesetzt  und  als  der  bezeichnet,  welcher 
über  alles  mit  Macht  gebietet.  Denn  der  menschlichen  Rede,  die  entsteht 
und  vergeht,  liegt  die  ewige  und  unvergängliche  Rede,  die  himmlische 
Väc  zugrunde.  „Ich  wandle  —  so  spricht  diese  himmlische  Rede  in 
einem  Hymnus  von  sich  selbst  —  mit  den  Vasu's,  mit  den  Rudra's,  mit 
den  Aditya's  und  mit  allen  Göttern  .  .  .  Ich  bin  die  Königin,  die  Spen- 
derin der  Güter,  die  wissende,  bin  der  ehrwürdigen  erste;  vielfach  ver- 
teilt, an  vielen  Orten  weilend,  vieles  durchdringend,  machten  mich  die  Göt- 
ter. Wer  Einsicht  hat,  der  speiset  durch  mich  Speise;  wer  atmet,  wenn 
er  höret,  was  ich  sage  .  .  .  Dem  Winde  gleichend  wahrlich  stürm'  ich  vor- 
wärts, mit  Macht  erfassend  sämtliche  Geschöpfe.  Weit  ob  dem  Himmel, 
weit  hier  ob  der  Erde  bin  ich  so  groß  an  Majestät  geworden1." 

Noch  eng  verschwistert  mit  dieser  mythischen  Ansicht  von  der  Würde 
und  Allmacht  des  himmlischen  Wortes  scheint  auf  den  erster)  Blick  der 
Begriff  des  „Logos"  zu  sein,  wie  er  sich  zuerst  in  der  griechischen  Speku- 
lation gestaltet.  Denn  auch  hier  ist  das  Wort  ein  Ewiges  und  Unvergäng- 
liches; auch,  hier  geht  auf  seine  Einheit  und  Unzerstörbarkeit  die  Einheit 
und  der  Bestand  des  Seienden  überhaupt  zurück.  So  wird  für  Heraklit 
der  Logos  zum  „Lenker  des  AU".  Gleich  dem  Kosmos,  den  es  beherrscht, 
hat  es  keiner  von  den  Göttern  und  keiner  der  Menschen  geschaffen,  son- 
dern es  war  immerdar  und  ist  und  wird  sein.  Aber  mitten  in  der  Sprache 
des  Mythos,  die  Heraklit  noch  spricht,  wird  jetzt  ein  ganz  neuer  Ton  ver- 

1  Rigveda  X,  125  —  die  Übersetz,  nach  Benfey,  Gesch.  der  Sprachwissenschaft  u. 
oriental.  Philologie  in  Deutschland,  München  1869,  S.  41!  zur  mythisch-religiösen 
Bedeutung  der  Väc  vgl.  bes.  Brihadäranyaka  Upanishad  1,  5,  3ff.  (bei  Deussen,  Sech- 
zig Upanishad's  des  Veda  3,  Lpz.,  1921,8.  Aoiff.). 


57 


nehmlich.  Der  mythischen  Ansicht  des  Weltgeschehens  tritt  zum  ersten 
Mal  in  voller  Bewußtheit  und  Klarheit  der  philosophisch-spekulative 
Grundgedanke  von  der  einheitlichen  und  unverbrüchlichen  Gesetzlich- 
keit des  All  gegenüber.  Die  Welt  ist  kein  Spielball  dämonischer  Mächte 
mehr,  die  sie  nach  Laune  und  Willkür  regieren,  sondern  sie  untersteht 
einer  schlechthin  allgemeinen  Regel,  die  alles  einzelne  Sein  und  alles  ein- 
zelne Geschehen  bindet  und  die  ihm  seine  festen  Maße  anweist.  „Die 
Sonne  wird  ihre  Maße  nicht  überschreiten,  sonst  werden  die  Erinnyen, 
die  Schergen  der  Dike,  sie  ausfindig  zu  machen  wissen."  (fr.  94,  Diels.) 
Und  dieses  eine  in  sich  unveränderliche  Gesetz  des  Kosmos  ist  es  nun, 
was  sich,  in  verschiedener  Form  und  doch  innerlich  sich  selbst  gleich, 
in  der  Welt  der  Natur,  wie  in  der  der  Sprache  ausdrückt.  Denn  eines  ist 
Weisheit:  den  Sinn  zu  erkennen,  der  durch  alles  hindurchwirkt  — 
ev  xö  oocpov,  imoraofiai  yvcbfxrjv,  oxerj  exvßegvrjoe  ndvxa  dia  ndvrcov.  (fr.  4i») 
Der  magisch-mythische  Kraftzusammenhang  hat  sich  somit  jetzt  in 
einen  Sinnzusammenhang  gewandelt.  Dieser  aber  erschließt  sich  uns 
freilich  nicht,  solange  wir  noch  dabei  stehen  bleiben,  das  Eine  Sein 
nur  getrennt  und  bruchstückweise,  nur  zerschlagen  in  eine  Vielheit  be- 
sonderer „Dinge",  zu  erfassen,  sondern  erst,  wenn  wir  es  als  ein  leben- 
diges Ganze  anschauen  und  erfassen.  Auch  die  Sprache  vereinigt  in  sich 
beide  Ansichten:  auch  in  ihr  findet  sich,  je  nachdem  wir  sie  betrachten, 
nur  eine  zufällige  und  partikuläre  Auffassung  des  Seins  oder  eine  echt 
spekulative  und  allgemeine  ausgedrückt.  Betrachten  wir  den  Logos  der 
Sprache  nur  in  der  Form,  in  der  er  sich  im  einzelnen  Wort  darstellt  und 
niederschlägt  —  so  zeigt  sich,  daß  jedes  Wort  den  Gegenstand,  den  es 
bezeichnen  will,  vielmehr  begrenzt  und  in  dieser  Begrenzung  verfälscht. 
Durch  die  Fixierung  im  Wort  wird  der  Inhalt  aus  dem  kontinuierlichen 
Strom  des  Werdens,  in  dem  er  steht,  herausgehoben,  wird  er  also  nicht 
nach  seiner  Totalität  erfaßt,  sondern  nur  nach  einer  einseitigen  Bestim- 
mung dargestellt.  Hier  bleibt,  wenn  wir  wieder  zur  tieferen  Erkenntnis 
des  echten  Wesens  des  Dinges  vordringen  wollen,  kein  anderer  Weg,  als 
diese  einseitige  Bestimmung  in  einer  anderen  wiederum  aufzuheben,  also 
jedem  Wort,  das  einen  bestimmten  Einzelbegriff  in  sich  faßt,  den  Ge- 
gensatz eben  dieses  Begriffs  gegenüberzustellen.  Und  so  zeigt  sich  in  der 
Tat,  im  Ganzen  der  Sprache,  jede  Bedeutung  an  ihr  Gegenteil,  jeder  Sinn 
an  seinen  Gegensinn  gebunden  und  wird  erst  mit  ihm  vereint  zum  ad- 
äquaten Ausdruck  des  Seins.  Die  geistige  Synthese,  die  Vereinigung,  die 
sich  im  Wort  vollzieht,  gleicht  darin  der  Harmonie  des  Kosmos 
und  drückt  sie  in  sich  aus,  daß  sie  eine  in  sich  „gegenstrebige"  ist: 


58 


naMvxQOJios  äQjxoviY\  oxcogneg  xo^ov  xal  Xvgrjg  (fr.  5 1).  Und  hier  tritt 
uns  das  Grundgesetz  des  All  zugleich  in  gesteigerter,  in  poten- 
zierter Form  entgegen.  Denn  was  im  Seienden  als  Gegensatz  er- 
scheint, das  wird  im  Ausdruck  der  Sprache  zum  Widerspruch:  —  und 
nur  in  einem  solchen  Wechselspiel  von  Setzung  und  Aufhebung,  von 
Spruch  und  Widerspruch  gelingt  es,  das  wahrhafte  Gesetz  und  die  innere 
Struktur  des  Seienden  in  der  Sprache  wiederzugeben.  So  begreift  man, 
von  Heraklits  Gesamtanschauung  der  Welt  aus,  die  Grundform  seines 
Stils,  dessen  vielberufene  „Dunkelheit"  nicht  zufällig  und  willkürlich, 
sondern  der  adäquate  und  notwendige  Ausdruck  des  Gedankens  selbst 
ist.  Heraklits  Sprachstil  und  sein  Denkstil  bedingen  sich  wechselseitig: 
beide  stellen,  nach  verschiedenen  Seiten  hin,  das  gleiche  Grundprinzip 
seiner  Philosophie,  das  Prinzip  des  ev  diacpsQÖjUEvov  eavrcp  dar.  Sie  weisen 
auf  jene  „unsichtbare  Harmonie"  hin,  die,  nach  Heraklits  Wort,  besser  ist 
als  die  sichtbare,  und  wollen  an  ihr  gemessen  sein.  Wie  Heraklit  das 
einzelne  Objekt  in  den  stetigen  Strom  des  Werdens  stellt  und  es  in  ihm 
zugleich  vernichtet  und  aufbewahrt  sein  läßt,  so  soll  auch  das  einzelne 
Wort  sich  zum  Ganzen  der  „Rede"  verhalten.  Selbst  die  innere  Viel- 
deutigkeit, die  dem  Wort  anhaftet,  ist  daher  kein  bloßer  Mangel  der 
Sprache,  sondern  ein  wesentliches  und  positives  Moment  der  in  ihr  ge- 
legenen Ausdruckskraft.  Denn  in  "ihr  erweist  sich  eben,  daß  seine  Gren- 
zen, wie  die  des  Seienden  selbst,  nicht  starre,  sondern  fließende  sind.  Nur 
in  dem  beweglichen  und  vielgestaltigen  Sprachwort,  das  gleichsam  seine 
eigenen  Grenzen  immer  wieder  durchbricht,  findet  die  Fülle  des  weltge- 
staltenden Logos  ihr  Gegenbild.  Alle  Trennungen,  die  die  Sprache  voll- 
zieht und  vollziehen  muß,  müssen  von  ihr  selbst  als  vorläufige  und  rela- 
tive erkannt  werden,  die  sie  selbst  wieder  zurücknimmt,  sofern  sie  den 
Gegenstand  unter  einen  neuen  Gesichtspunkt  der  Betrachtung  rückt. 
„Gott  ist  Tag  Nacht,  Winter  Sommer,  Krieg  Frieden,  Überfluß  und 
Hunger:  er  wandelt  sich  aber  wie  Feuer,  das,  wenn  es  mit  Räucherwerk 
vermengt  wird,  nach  eines  jeglichen  Belieben  bald  so,  bald  anders  be- 
nannt wird."  (fr.  62,  67.)  So  sind  Unsterbliche  sterblich,  Sterbliche 
unsterblich:  sie  leben  gegenseitig  ihren  Tod  und  sterben  ihr  Leben,  (fr. 
62.)  Wer  daher  mit  Verstand  reden  will,  der  darf  sich  durch  die  Besonde- 
rung  der  Worte  nicht  täuschen  lassen,  sondern  muß  hinter  sie  zurück- 
dringen zu  dem  allem  Gemeinsamen,  zum  k~vvov  xal  fteiov1.  Dann  erst, 

1  %vv  vocoi  Xsyovxag  ioxvQtCeo&at  XQV  X&L  £vveöi  ndvxcov,  oxcognsg  vö/ucot  jiöXig,  xal  noXv 
iaxvQotEQwq  .  XQtcpovxai  ydq  Tidvxeg  oi  äv&gcbjieioi  v6[M)i  vnb  evog  xov  tietov  xgaxet  ydg 
xoöovxov  öxooov  edsXsi  xal  i^agxsT  näoi  xal  nsQiyivexai.  (fr.  11 4.). 


59 


wenn  Sinn  und  Gegensinn  der  Worte  in  dieser  Weise  verstanden  und 
miteinander  verknüpft  werden,  kann  das  Wort  zum  Führer  und  zur 
Richtschnur  der  Erkenntnis  werden.  So  begreift  man,  daß  auch  die 
meisten  der  ,, Etymologien",  mit  denen  Heraklit  spielt,  diese  zwiefache 
Wendung  in  sich  schließen:  daß  sie  Wort  und  Sache,  statt  durch 
irgendeine  Ähnlichkeit,  mit  Vorliebe  per  anliphrasin  miteinander  ver- 
bunden und  aneinander  gebunden  sein  lassen.  „Des  Bogens  Name  ist  Leben, 
sein  Werk  aber  ist  Tod"  (zcbt  ovv  to^coi  övojua  ßiog,  egyov  de  ddvaxoq.  fr.  48). 
Jeder  einzelne  sprachliche  Inhalt  ist  immer  zugleich  Enthüllung  und  Ver- 
hüllung der  Wahrheit  des  Seins;  ist  immer  zugleich  rein  bedeutend  und 
bloß  andeutend1.  So  gleicht  in  dieser  Weltansicht  die  Sprache  der  Sibylle, 
die,  nach  Heraklits  Wort,  mit  rasendem  Mund  Ungeschminktes  und  Un- 
gesalbtes  redet,  die  aber  nichtsdestoweniger  mit  ihrer  Stimme  durch  die 
Jahrtausende  reicht:  denn  der  Gott  treibt  sie.  (fr.  92.)  Sie  faßt  in  sich 
einen  Sinn,  der  ihr  selbst  doch  verschlossen  bleibt,  den  sie  sich  nur 
ahnend  im  Bild  und  Gleichnis  zu  enträtseln  vermag. 

Aber  wenn  sich  in  dieser  Auffassung  der  Sprache  eine  zwar  unbe- 
stimmte und  ungeklärte,  aber  doch  in  sich  selbst  völlig  geschlossene  Ge- 
samtkonzeption des  Seins  und  des  Geistes  ausdrückt  —  so  wird  bei  den 
nächsten  Nachfolgern  Heraklits,  die  sich  seine  Lehre  zu  eigen  machen, 
diese  ihre  originale  Bedeutung  immer  weiter  zurückgedrängt.  Was  bei  ihm, 
in  einer  letzten  Tiefe  der  metaphysischen  Intuition,  noch  als  unmittelbar 
eins  gefühlt  wurde,  —  das  fällt  jetzt,  in  der  diskursiven  Betrachtung  und 
Behandlung  des  Sprachproblems  in  heterogene  Bestandteile,  in  einander 
widerstreitende  logische  Einzelthesen  auseinander.  Beide  Motive,  die  He- 
raklits Metaphysik  zu  einer  Einheit  zusammengeschaut  und  zusammenge- 
zwungen hatte:  die  Lehre  von  der  Identität  von  Wort  und  Sein  und  von 
dem  Gegensatz  zwischen  Wort  und  Sein,  erfahren  jetzt  ihre  selbständige 
Entwicklung.  Damit  erst  wird  das  Problem  der  Sprache  in  wirklicher 
begrifflicher  Schärfe  gestellt  —  aber  zugleich  wird  damit  der  Grundge- 
danke Heraklits,  indem  man  versucht,  ihn  aus  der  Form  der  symbolischen 
Andeutung  in  die  des  abstrakten  Begriffs  umzubilden,  gleichsam  zer- 
schlagen und  in  kleine  gangbare  Münze  umgeprägt.  Was  bei  ihm  ein 
sorgsam  behütetes  Geheimnis  war,  auf  das  er  nur  von  fern  her  hinzu- 
deuten wagte  —  das  wird  jetzt  mehr  und  mehr  zum  eigentlichen  Gegen- 
stand des  philosophischen  Tages-  und  Streitgesprächs.  Xenophons  Me- 
morabilien  entwerfen  ein  anschauliches  Bild  davon,  wie  im  Athen  des 
fünften  Jahrhunderts  dieses  Lieblingsthema  der  6g&oT?]g  tcov  ovo^drcov 

1  Vgl.  bes.  fr.  32:  ev  ro  oo(pov  /novvov  leyeoftai  ovx  stielet  xai  e§e).ei  Zrjvög  ovofxa. 
60 


beim  Wein  und  bei  der  Mahlzeit  verhandelt  wurde1.  Besteht  zwischen  der 
Sprachform  und  der  Seinsform,  zwischen  dem  Wesen  der  Worte  und 
dem  der  Dinge,  ein  natürlicher  oder  nur  ein  vermittelter  und  konventio- 
neller Zusammenhang?  Drückt  sich  in  den  Worten  das  innere  Gefüge  des 
Seins  aus,  oder  zeigt  sich  in  ihnen  kein  anderes  Gesetz,  als  dasjenige,  das 
die  Willkür  der  ersten  Sprachbildner  ihnen  aufgeprägt  hat?  Und  wenn 
das  letztere  gilt:  —  muß  dann  nicht,  sofern  überhaupt  noch  irgendein 
Zusammenhang  zwischen  Wort  und  Sinn,  zwischen  Sprechen  und  Denken 
angenommen  wird,  das  Moment  der  Willkür,  das  dem  Wort  unvermeid- 
lich anhaftet,  auch  die  objektive  Bestimmtheit  und  die  objektive  Not- 
wendigkeit des  Denkens  und  seiner  Inhalte  fragwürdig  machen?  Daher 
scheint  die  Sophistik,  um  ihren  Satz  der  Relativität  aller  Erkenntnis  zu 
verfechten,  um  den  Menschen  als  „Maß  aller  Dinge"  zu  erweisen,  der 
Betrachtung  der  Sprache  ihre  besten  Waffen  entlehnen  zu  können.  Sie 
ist  in  der  Tat  von  ihren  ersten  Anfängen  an  in  jenem  Mittelreich  der 
Worte,  das  zwischen  der  „objektiven"  und  der  „subjektiven"  Wirklich- 
keit, zwischen  dem  Menschen  und  den  Dingen  steht,  recht  eigentlich 
heimisch;  sie  befestigt  sich  in  ihm,  um  von  hier  aus  ihren  Kampf  gegen 
die  Ansprüche  des  „reinen",  des  angeblich  allgemeingültigen  Denkens  zu 
führen.  Das  überlegene  Spiel,  das  sie  mit  der  Mehrdeutigkeit  der  Worte 
treibt,  liefert  ihr  auch  die  Dinge  in  die  Hand  und  erlaubt  ihr,  deren  Be- 
stimmtheit in  die  freie  Bewegung  des  Geistes  aufzulösen.  So  führt  die 
erste  bewußte  Reflexion  über  die  Sprache  und  die  erste  bewußte  Herr- 
schaft, die  der  Geist  über  sie  gewinnt,  zugleich  zur  Herrschaft  der 
Eristik;  —  aber  von  hier,  von  der  Besinnung  auf  den  Gehalt  und  Ur- 
grund des  Sprechens  geht  andererseits  auch  die  Reaktion  aus,  die  zu  einer 
neuen  Grundlegung  und  zu  einer  neuen  Methodik  des  Begriffs  hinführt. 

Denn  wie  die  Sophistik  am  Wort  das  Moment  der  Vieldeutigkeit  und 
der  Willkür  erfaßt  und  heraushebt  —  so  erfaßt  Sokrates  an  ihm  die 
Bestimmtheit  und  Eindeutigkeit,  die  freilich  nicht  als  Tatsache  in  ihm 
gegeben  ist,  wohl  aber  als  latente  Forderung  in  ihm  liegt.  Die  vermeinte 
Einheit  der  Wortbedeutung  wird  ihm  zum  Ausgangspunkt,  an  dem  seine 
charakteristische  Frage,  die  Frage  nach  dem  xi  eou,  nach  dem  identischen 
und  in  sich  beharrenden  Sinn  des  Begriffs  einsetzt.  Wenn  das  Wort  die- 
sen Sinn  nicht  unmittelbar  in  sich  schließt,  so  deutet  es  doch  beständig 
auf  ihn  hin  —  und  die  Aufgabe  der  Sokratischen  „Induktion"  besteht 

1  Memorabil.  Lib.  III,  i/j,  2;  über  das  weitere  geschichtliche  Material  zu  dieser  Frage 
vgl.  Steinthal,  Gesch.  der  Sprachwissenschaft  bei  den  Griechen  u.  Römern  2,  Ber- 
lin 1890,  I,  76ff. 


6l 


darin,  diese  Hindeutung  zu  verstehen,  sie  aufzunehmen  und  sie  fort- 
schreitend zur  Wahrheit  zu  machen.  Hinter  der  fließenden  und  unbe- 
stimmten Wortgestalt  soll  die  dauernde  identische  Begriffsgestalt,  als  das 
eigentliche,  die  Möglichkeit  des  Sprechens  wie  des  Denkens  erst  begrün- 
dende Eidos  aufgewiesen  werden.  Pia  ton  wurzelt  in  diesen  Grundvoraus- 
setzungen der  Sokratik,  und  durch  sie  wird  seine  Stellung  zum  Wort  und 
zur  Sprache  bestimmt.  Er  ist  in  seiner  Jugend  der  Schüler  des  Kratylos, 
der,  der  Sophistik  gegenüber,  die  andere,  die  positive  Kehrseite  des  Hera- 
klitischen  Gedankens  vertritt,  indem  er  in  den  Worten  die  eigentlichen  und 
echten,  das  Wesen  der  Dinge  ausdrückenden  und  befassenden  Erkenntnis- 
mittel sieht.  Die  Identität,  die  Heraklit  zwischen  dem  Ganzen  der  Sprache 
und  dem  Ganzen  der  Vernunft  behauptet  hatte,  wird  hier  auf  das  Ver- 
hältnis des  einzelnen  Wortes  zu  seinem  gedanklichen  Inhalt  übertragen. 
Aber  mit  dieser  Übertragung,  mit  dieser  Umsetzung  des  metaphysischen 
Gehalts  des  Heraklitischen  Logos-Begriffs  in  eine  pedantisch-abstruse 
Etymologie  und  Philologie,  war  freilich  bereits  jene  reductio  ad  absur- 
dum gegeben,  die  Piatons  Dialog  „Kratylos"  nun  in  voller  dialektischer 
und  stilistischer  Meisterschaft  vollzieht.  Die  These,  daß  es  für  jegliches 
Sein  eine  „natürliche"  Richtigkeit  der  Bezeichnung  gebe  (ovo juaxog  ögfto- 
zrjxa  elrai  exdozco  rcbv  övtcqv  <pvoei  jzeyvxvtav)  wird  jetzt  in  der  überlegenen 
Ironie  dieses  Dialogs  in  sich  selbst  zerstört  und  in  dieser  naiven  Form 
für  immer  beseitigt.  Aber  mit  dieser  Einsicht  ist  für  Piaton  nicht  jegliche 
Beziehung  zwischen  Wort  und  Erkenntnis  abgebrochen,  sondern  es 
ist  an  Stelle  des  unmittelbaren  und  unhaltbaren  Ähnlichkeitsverhältnisses 
zwischen  beiden  vielmehr  ein  tieferes  mittelbares  Verhältnis  getreten.  Im 
Aufbau  und  im  Stufengang  des  dialektischen  Wissens  behält  das  Wort 
einen  ihm  eigentümlichen  Platz  und  Wert.  Die  fließenden  Grenzen,  die 
jederzeit  bloß  relative  Festigkeit  des  Wortgehalts  wird  für  den  Dialek- 
tiker zum  Ansporn,  um  sich,  im  Gegensatz  und  im  Kampf  mit  ihm,  zur 
Forderung  der  absoluten  Festigkeit  des  Bedeutungsgehalts  der  reinen 
Begriffe,  zur  ßeßaLOTrjg  des  Ideenreichs,  zu  erheben1.  Aber  erst  Pia- 
tons Altersphilosophie  hat  diese  Grundanschauung,  im  positiven  wie  im 
negativen  Sinne,  zur  vollständigen  Entfaltung  gebracht.  Die  Echtheit  des 
siebenten  Platonischen  Briefes  wird  vielleicht  durch  nichts  deutlicher  er- 
wiesen, als  daß  er  in  dieser  Hinsicht  unmittelbar  an  das  Ergebnis  des 
Kratylos  anknüpft  und  es  erst  zu  voller  methodischer  Klarheit  und  zu 
durchgreifender  systematischer  Begründung  bringt. 

Vier  Stufen  der  Erkenntnis  sind  es,  die  der  siebente  Brief  unterschei- 
1  Vgl.  bes.  Kratylos  386  A,  438  D  ff. 

62 


det  und  die  erst  in  ihrer  Gesamtheit  zur  Anschauung  des  wahren  Seins, 
des  Erkenntnisgegenstandes,  als  des  yvcooTovxal  äArj&cbgöv  hinführen.  Die 
untersten  Stufen  sind  durch  den  Namen,  durch  die  sprachliche  Defi- 
nition des  Gegenstandes  und  durch  sein  sinnliches  Abbild,  durch  övojua, 
Xöyog  und  ä'öcoAov  gegeben.  So  kann  z.  B.  das  Wesen  des  Kreises  in  dieser 
dreifachen  Weise  erfaßt  werden:  das  eine  Mal,  indem  wir  einfach  den 
Namen  des  Kreises  aussprechen,  das  andere  Mal,  indem  wir  diesen  Namen 
durch  eine  Erklärung  des  in  ihm  Gemeinten  näher  bestimmen  und 
umgrenzen,  indem  wir  also  etwa  den  Kreis  als  dasjenige  Gebilde  „defi- 
nieren", was  von  den  Endpunkten  bis  zum  Mittelpunkt  allseitig  die  gleiche 
Entfernung  hat,  und  schließlich,  indem  wir  irgendeine  sinnliche  Gestalt, 
sei  sie  im  Sande  hingezeichnet  oder  vom  Drechsler  verfertigt,  als  Bild, 
als  Modell  des  Kreises  vor  uns  hinstellen.  Keine  dieser  Darstellungen  im 
Wort,  in  der  Definition  und  im  Modell  erreicht  und  faßt  die  wahre  We- 
senheit des  Kreises  —  denn  sie  alle  gehören  nicht  dem  Reich  des  Seins, 
sondern  dem  des  Werdens  an.  Wie  der  Laut  wandelbar  und  flüchtig  ist, 
wie  er  entsteht  und  vergeht,  so  kann  auch  das  gezeichnete  Bild  des 
Kreises  wieder  weggewischt,  das  vom  Drechsler  gebildete  Modell  wieder 
vernichtet  werden  —  alles  Bestimmungen,  von  denen  der  Kreis  als  solcher 
(avrög  6  xvxXog)  in  keiner  Weise  betroffen  wird.  Und  doch  wird  anderer- 
seits erst  durch  diese  für  sich  unzureichenden  Vorstufen  die  vierte  und 
fünfte  Stufe,  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  und  ihr  Gegenstand,  er- 
reicht. In  diesem  Sinne  bleiben  Name  und  Bild,  övofia  und  eidcoXov,  von 
der  vernünftigen  Einsicht,  der  emoirj/ur],  aufs  schärfste  geschieden  — 
und  gehören  doch  andererseits  zu  ihren  Voraussetzungen,  zu  den  Vehikeln 
und  Mittlern,  vermöge  deren  wir  uns  erst,  im  stetigen  Fortschritt  und 
Stufengang,  zur  Erkenntnis  erheben  können  (dt  d>v  xr\v  emoTrjjurjv  ävdyxrt 
TiaQaylyveoftai) .  Das  Wissen  vom  Gegenstand  und  dieser  selbst  erscheint 
demnach  ebensowohl  als  etwas,  was  diese  drei  Stufen  überschreitet,  wie 
als  etwas,  was  sie  in  sich  befaßt  —  als  deren  Transzendenz  und  deren' 
Synthese1. 

In  diesen  Entwicklungen  des  siebenten  Platonischen  Briefes  ist  — 
zum  erstenmal  in  der  Geschichte  des  Denkens  —  der  Versuch  gemacht, 
den  Erkenntniswert  der  Sprache  in  rein  methodischem  Sinne  zu 
bestimmen  und  zu  umgrenzen.  Die  Sprache  wird  als  ein  erster  Anfangs- 

1  S.  den  siebenten  Brief  342  A  ff.;  zur  Echtheit  des  siebenten  Briefes  vgl.  bes.  Wila- 
mowitz,  Piaton,  I,  64iff.,  II,  282 ff.,  sowie  die  eingehende  Analyse  der  philosophischen 
Stelle  bei  Jul.  Stenzel,  Über  den  Aufbau  der  Erkenntnis  im  VII.  Platonischen  Brief, 
Sokrates,  Jahrg.  47,  S.  63ff.  und  E.  Howald,  Die  Briefe  Piatons,  S.  34  (Zürich  1923). 


63 


punkt  der  Erkenntnis  anerkannt,  aber  sie  ist  auch  nicht  mehr  als  ein 
solcher  Anfangspunkt.  Ihr  Bestand  ist  noch  flüchtiger  und  wandelbarer 
als  der  der  sinnlichen  Vorstellung;  die  Lautgestalt  des  Wortes  oder  des 
aus  övöjuaza  und  Qr^iaxa  sich  aufbauenden  sprachlichen  Satzes  faßt 
den  eigentlichen  Gehalt  der  Idee  noch  weniger,  als  es  das  sinnliche  Mo- 
dell oder  Abbild  tut.  Und  doch  bleibt  andererseits  ein  bestimmter  Zu- 
sammenhang zwischen  Wort  und  Idee  gewahrt:  wie  von  den  sinn- 
lichen Inhalten  gesagt  wird,  daß  sie  nach  den  Ideen  „streben",  so  ist 
ein  solcher  Hinweis  und  gleichsam  eine  geistige  Tendenz  auf  sie  auch  in 
den  Gebilden  der  Sprache  anzuerkennen.  Zu  dieser  relativen  Anerkennung 
war  Piatons  System  vor  allem  deshalb  bereit  und  fähig,  weil  in  ihm  ein 
Grundmoment,  das  aller  Sprache  wesentlich  ist,  zum  erstenmal  in  seiner 
prinzipiellen  Bestimmtheit  und  in  seiner  ganzen  Bedeutsamkeit  erkannt 
war.  Alle  Sprache  ist  als  solche  „Repräsentation";  ist  Darstellung  einer 
bestimmten  „Bedeutung"  durch  ein  sinnliches  „Zeichen".  Solange  die 
philosophische  Betrachtung  im  Kreise  des  bloßen  Daseins  verharrt,  ver- 
mag sie  für  dieses  eigenartige  Verhältnis  im  Grunde  keine  Analogie  und 
keinen  zutreffenden  Ausdruck  zu  finden.  Denn  in  den  Dingen  selbst,  sei 
es,  daß  man  sie  nach  ihrem  Bestände  als  Inbegriffe  von  „Elementen" 
betrachtet,  sei  es,  daß  man  die  Wirkungszusammenhänge  zwischen  ihnen 
verfolgt,  findet  sich  nichts,  was  der  Beziehung  des  „Wortes"  auf  den 
„Sinn",  dem  Verhältnis  des  „Zeichens"  zu  der  in  ihm  gemeinten  „Bedeu- 
tung" entspricht.  Für  Piaton  erst,  für  den  sich  die  charakteristische  Um- 
kehr der  Fragestellung  vollzogen  hat,  die  er  im  Phädon  beschreibt,  — 
für  den  es  feststeht,  daß  der  Weg  des  philosophischen  Denkens  nicht  von 
den  7igdyjuaia  zu  den  Xoyoi,  sondern  von  den  Xoyoi  zu  den  jiQayjuaTa  geht, 
da  nur  in  der  Wahrheit  der  Begriffe  die  Wirklichkeit  der  Dinge 
erfaßt  und  erschaut  werden  könne1  —  für  ihn  erst  gewinnt  der  Begriff 
der  Repräsentation  eine  wahrhaft  zentrale  systematische  Bedeutung.  Denn 
er  ist  es,  in  den  sich  das  Grundproblem  der  Ideenlehre  zuletzt  zusammen- 
faßt, durch  den  sich  das  Verhältnis  von  „Idee"  und  „Erscheinung"  aus- 
drückt. Die  „Dinge"  der  gemeinen  Weltansicht,  die  sinnlich  konkreten 
Erfahrungsgegenstände  —  sie  werden,  vom  Standpunkt  des  Idealismus 
aus  gesehen,  selbst  zu  „Bildern",  deren  Wahrheitsgehalt  nicht  in  dem 
liegt,  was  sie  unmittelbar  sind,  sondern  in  dem,  was  sie  mittelbar  aus- 
drücken. Und  dieser  Begriff  des  Bildes,  des  el'dcoXov  schafft  nun  eine 
neue  geistige  Vermittlung  zwischen  Sprachform  und  Erkenntnisform.  Um 
das  Verhältnis  zwischen  beiden  klar  und  scharf  zu  bezeichnen,  um  die 
1  Vgl.  Phädon  99  D  ff. 

64 


„Sphäre"  des  Worts  von  der  der  reinen  Begriffe  abzugrenzen  und  sie  zu- 
gleich mit  ihr  in  Verbindung  zu  halten,  braucht  Piaton  jetzt  nur  auf  den  Zen- 
tralgedanken der  Ideenlehre,  auf  den  Gedanken  der  „Teilhabe"  zurückzu- 
greifen. Das  Dunkel,  das  Heraklits  metaphysische  Lehre  von  der  Einheit 
von  Wort  und  Sinn  und  von  dem  Gegensatz  zwischen  beiden  umgab,  er- 
scheint jetzt,  in  diesem  neuen  Methodenbegriff  der  /usdefig l,  mit  einem 
Schlage  geklärt.  Denn  in  der  „Teilhabe"  ist  in  der  Tat  ebensowohl  ein 
Moment  der  Identität,  wie  ein  Moment  der  Nicht-Identität  enthalten;  in 
ihr  ist  ebensowohl  ein  notwendiger  Zusammenhang  und  eine  Einheit  der 
Elemente,  wie  eine  scharfe  prinzipielle  Auseinanderhaltung  und  Unter- 
scheidung derselben  gesetzt.  Die  reine  Idee  des  „Gleichen  selbst"  bleibt, 
gegenüber  den  gleichen  Steinen  oder  Hölzern,  durch  die  sie  repräsentiert 
wird,  ein  anderes,  ein  ezegov  —  und  doch  läßt  sich  eben  dieses  Andere, 
vom  Standpunkt  der  bedingten  sinnlichen  Weltansicht,  nur  in  dieser  Dar- 
stellung erfassen.  Im  gleichen  Sinne  wird  der  physisch-sinnliche  Gehalt 
des  Wortes  für  Piaton  zum  Träger  einer  ideellen  Bedeutung,  die  als  solche 
doch  in  die  Grenzen  der  Sprache  nicht  einzuspannen  ist,  sondern  jenseits 
ihrer  stehen  bleibt.  Sprache  und  Wort  streben  nach  dem  Ausdruck  des 
reinen  Seins ;  aber  sie  erreichen  ihn  niemals,  weil  sich  in  ihnen  der  Bezeich- 
nung dieses  reinen  Seins  immer  die  Bezeichnung  eines  anderen,  einer  zu- 
fälligen „Beschaffenheit"  des  Gegenstandes  beimischt.  Daher  bezeichnet 
das,  was  die  eigentliche  Kraft  der  Sprache  ausmacht,  immer  auch  ihre 
eigentliche  Schwäche,  die  sie  zur  Darstellung  des  höchsten,  des  wahrhaft 
philosophischen  Erkenntnisgehalts  unfähig  macht2. 

Die  Geschichte  der  Logik,  wie  die  des  Erkenntnisproblems  überhaupt, 
zeigt  freilich,  daß  die  scharfe  Grenze,  die  Piaton  hier  zwischen  den  beiden 
Bedeutungen  des  Xöyog,  zwischen  dem  Begriff  „an  sich"  und  seinemsprach- 
lichen  Bepräsentanten  gezogen  hatte,  sich  allmählich  wieder  zu  verwi- 
schen droht.  Dies  gilt  schon  für  die  erste  systematische  Grundlegung  der 
Logik,  —  obgleich  es  zweifellos  zu  viel  behauptet  ist,  wenn  man  gesagt 
hat,  daß  Aristoteles  die  wesentlichen  Grundunterscheidungen,  auf  denen 
sich  seine  logischen  Lehren  aufbauen,  der  Sprache  entnommen  habe. 
Aber  allerdings  weist  schon  die  Bezeichnung  der  „Kategorien"  darauf 
hin,  wie  eng  sich  bei  ihm  die  Analyse  der  logischen  und  die  der  sprach- 

1  Für  die  methodische  Stellung  des  Begriffs  der  pedeq'ig  im  Ganzen  der  Plato- 
nischen Philosophie  verweise  ich  auf  Ernst  Hoffmanns  vortreffliche  Darstellung  Me- 
thexis  und  Melaxy  bei  Piaton  im  Sokrates,  Jahrg.  19 19,  S.  £8ff. 

2  Vgl.  bes.  Brief  VII,  342:  ngög  yag  xovxotg  xavxa  (seil.  ovo(xa,  Xoyog,  sidcoXov)  oi>x  rjxxov 
smx^tQsX  t6  noiov  xi  jiegl  exaoxov  drjkovv  rj  xo  öv  exdoxov  dtä  xb  xcöv  loycov  aofteveg'  cbv 
evexa  vovv  s%wv  ovdelg  xoX(j,rjoet  jcoxs  slg  avxo  xt&ivai  xa  vevorj^ieva  vri  avxov. 


5 


65 


liehen  Formen  miteinander  berühren.  Die  Kategorien  stellen  die  allge- 
meinsten Seinsverhältnisse  dar,  die  als  solche  zugleich  die  obersten  Gat- 
tungen der  Aussage  (yhrj  oder  oyr\^o.za  rrjg  xaz^yoglag)  bedeuten.  Sie 
sind,  ontologisch  gefaßt,  die  Grundbestimmungen  des  Wirklichen,  die 
letzten  „Prädikate"  des  Seienden;  aber  diese  Prädikate  können,  wie  von 
den  Dingen  her,  so  auch  von  der  allgemeinen  Form  des  Prädizierens  her 
betrachtet  und  aus  ihr  entwickelt  werden.  So  scheint  in  der  Tat  die  Ge- 
staltung des  Satzes  und  seine  Zerlegung  in  Worteinheiten  und  Wort- 
klassen für  Aristoteles  in  der  Aufstellung  seines  Systems  der  Kategorien 
vielfach  vorbildlich  gewesen  zu  sein.  In  der  Kategorie  der  Substanz  blickt 
die  grammatische  Bedeutung  des  „Substantivum",  in  Quantität  und  Qua- 
lität, im  „Wann"  und  „Wo"  blickt  die  Bedeutung  des  Adjektivs  und  der 
Ort-  und  Zeitadverbien  noch  überall  deutlich  hindurch  —  und  insbeson- 
dere die  vier  letzten  Kategorien,  das  jtoteTv  und  nao%Eiv,  das  e%eiv  und 
xeioftat,  scheinen  erst  dann  völlig  durchsichtig  zu  werden,  wenn  man  sie 
auf  gewisse  Grundunterschiede  bezieht,  die  die  griechische  Sprache  in 
der  Bezeichnung  des  Verbums  und  der  verbalen  Aktion  festhält1.  Die 
logische  und  die  grammatische  Spekulation  schienen  daher  hier  einander 
durchgängig  zu  entsprechen  und  sich  wechselseitig  zu  bedingen  —  wie 
denn  das  Mittelalter  im  Anschluß  an  Aristoteles  an  dieser  Entsprechung 
festgehalten  hat1.  Als  dann  in  der  neueren  Zeit  der  Kampf  gegen  die 
Aristotelische  Logik  einsetzte,  als  man  ihr  das  Recht,  „die"  Systematik 
des  Geistes  zu  heißen,  bestritt,  da  bildete  freilich  umgekehrt  gerade  das 
enge  Bündnis,  das  sie  mit  der  Sprache  und  der  allgemeinen  Grammatik 
eingegangen  war,  einen  der  wichtigsten  und  gefährlichsten  Angriffs- 
punkte. Von  hier  aus  hat  in  Italien  Lorenzo  Valla,  in  Spanien  Lodovico 
Vives,  in  Frankreich  Petrus  Ramus  die  scholastisch-aristotelische  Phi- 
losophie aus  den  Angeln  zu  heben  versucht.  Im  Anfang  hält  sich  dieser 
Kampf  noch  innerhalb  der  Sprachforschung  und  Sprachbetrachtung 
selbst:  gerade  die  „Philologie"  der  Renaissance  ist  es,  die  von  ihrer  ver- 
tieften Ansicht  der  Sprache  aus  auch  eine  neue  „Denklehre"  fordert. 
Wfas  die  Scholastik  an  der  Sprache  erfaßt  hat,  das  sind,  wie  jetzt  einge- 
wandt wird,  nur  ihre  äußerlich  grammatischen  Verhältnisse,  während  ihr 
eigentlicher  Kern,  der  statt  in  der  Grammatik  vielmehr  in  der  Stilistik 
zu  suchen  ist,  ihr  verborgen  geblieben  ist.  Unter  diesem  Gesichtspunkt 

1  Näheres  über  diesen  Zusammenhang  bes.  bei  Trendelenburg,  De  Aristotelis  Cate- 
goriis  (Berlin  i833)  und  Geschichte  der  Kategorienlehre  (Histor.  Beiträge  zur  Philo- 
sophie, Bd.  I,  i846,  S.  23  ff.). 

2  Vgl.  z.  B.  Duns  Scotus,  Tractatus  de  modis  significandi  seu  grammatica  speculativa. 


66 


greifen  die  großen  Stilkünstler  der  Renaissance  die  Syllogistik  und  ihre 
„barbarischen"  Formen  nicht  sowohl  von  der  logischen,  als  von  der  ästhe- 
tischen Seite  an.  Aber  allmählich  nimmt  auch  dieser  Kampf  der  Rheto- 
ren  und  Stilisten  gegen  die  bloßen  „Dialektiker",  wie  er  z.B.  in  Vallas 
„dialektischen  Disputationen"  geführt  wird,  eine  andere  Form  an;  denn 
je  weiter  die  Renaissance  zu  den  eigentlichen  klassischen  Quellen  zurück- 
dringt, um  so  mehr  wird  ihr,  statt  der  scholastischen  Auffassung  der 
Dialektik,  wieder  ihr  ursprünglicher  Platonischer  Begriff  lebendig.  Im 
Namen  dieses  Begriffs  wird  jetzt  der  Rückgang  von  den  Worten  zu  den 
„Sachen"  gefordert  —  unter  den  Sachwissenschaften  aber  steht  gemäß 
der  Grundansicht  der  Renaissance,  die  sich  allmählich  immer  entschiede- 
ner durchsetzt,  die  Mathematik  und  die  mathematische  Naturtheorie  an 
erster  Stelle.  Damit  tritt,  auch  innerhalb  der  reinen  Sprachphilosophie, 
der  Orientierung  an  der  Grammatik  immer  bewußter  und  entschiedener 
die  Forderung  einer  anderen  Orientierung  gegenüber:1  die  echt  syste- 
matische Auffassung  und  Gestaltung  der  Sprache  scheint  nur  erreicht 
werden  zu  können,  wenn  sie  sich  auf  die  Systematik  der  Mathematik  be- 
zieht und  von  ihr  den  Maßstab  entlehnt. 

In  der  Lehre  Descartes',  die  dem  neuen  Wissensideal  der  Renaissance 
die  universelle  philosophische  Begründung  gibt,  rückt  daher  auch  die 
Theorie  der  Sprache  in  ein  neues  Licht.  Descartes  selbst  hat  in  seinen 
systematischen  Hauptschriften  die  Sprache  nicht  zum  Gegenstand  selb- 
ständiger philosophischer  Reflexionen  gemacht  —  aber  in  der  einzigen 
Stelle  eines  Briefes  an  Mersenne,  in  der  er  das  Problem  berührt,  gibt  er 
ihm  sogleich  eine  sehr  charakteristische  und  für  die  Folgezeit  höchst 
bedeutsame  Wendung.  Das  Ideal  der  Einheit  des  Wissens,  der  „sapientia 
humana",  die  stets  ein  und  dieselbe  bleibt,  auf  wie  viele  verschiedene  Ge- 
genstände sie  sich  auch  erstrecken  mag,  wird  jetzt  auch  auf  die  Sprache 
übertragen.  Der  Forderung  der  „Mathesis  universalis"  tritt  die  Forderung 
einer  „Lingua  universalis"  zur  Seite.  Wie  in  allen  Erkenntnissen,  die  auf 
diesen  Namen  wirklich  Anspruch  haben,  immer  nur  die  Eine  identische 
Grundform  der  Erkenntnis,  der  menschlichen  Vernunft,  wiederkehrt,  so 
muß  auch  allem  Sprechen  die  eine,  allgemeine  Vernunftform  der  Sprache 
überhaupt  zugrunde  liegen,  die  von  der  Fülle  und  Verschiedenheit  der 
Wortformen  zwar  verhüllt  wird,  aber  durch  sie  nicht  völlig  unkenntlich 
gemacht  werden  kann.  Denn  wie  zwischen  den  Ideen  der  Mathematik, 
z.  B.  zwischen  den  Zahlen,  eine  ganz  bestimmte  Ordnung  besteht,  so  bildet 

1  Die  geschichtlichen  Belege  hierfür  s.  in  meiner  Schrift  über  das  Erkenntnispro- 
blem, 3.  Aufl.,  I,  120 — 135. 


5* 


67 


überhaupt  das  Ganze  des  menschlichen  Bewußtseins  samt  allen  Inhalten, 
die  in  dasselbe  jemals  eingehen  können,  einen  streng  geordneten  Inbegriff. 
Wie  daher  aus  relativ  wenigen  Zahlzeichen  das  ganze  System  der  Arith- 
metik sich  aufbauen  läßt,  so  müßte  sich  auch  durch  eine  begrenzte  Zahl 
sprachlicher  Zeichen,  wenn  diese  nur  nach  bestimmten  allgemeingültigen 
Regeln  verknüpft  werden,  die  Gesamtheit  der  Denkinhalte  und  ihre  Struk- 
tur erschöpfend  bezeichnen  lassen.  Von  der  Ausführung  dieses  Planes 
nimmt  freilich  Descartes  Abstand :  denn  da  die  Schöpfung  der  Universal- 
sprache die  Analyse  aller  Bewußtseinsinhalte  in  ihre  letzten  Elemente,  in 
die  einfachen  konstitutiven  „Ideen"  voraussetzen  würde,  so  kann  sie  mit 
Erfolg  erst  dann  unternommen  werden,  wenn  diese  Analyse  selbst  an  ihr 
Ende  gelangt  und  damit  das  Ziel  der  „wahren  Philosophie"  erreicht  ist1. 
Von  der  kritischen  Vorsicht,  die  sich  in  diesen  Worten  des  Begründers 
der  neueren  Philosophie  ausspricht,  läßt  sich  indes  die  unmittelbar  fol- 
gende Epoche  wenig  beirren.  In  rascher  Folge  treten  jetzt  die  mannig- 
fachsten Systeme  künstlicher  Universalsprachen  hervor,  die,  in  der  Aus- 
führung höchst  verschieden,  doch  in  ihrem  Grundgedanken  und  im 
Prinzip  ihres  Aufbaus  nahe  miteinander  übereinstimmen.  Immer  wird 
davon  ausgegangen,  daß  es  eine  begrenzte  Zahl  von  Begriffen  gibt,  daß 
jeder  von  ihnen  zu  den  anderen  in  einem  ganz  bestimmten  sachlichen  Ver- 
hältnis, in  einer  Beziehung  der  Zuordnung,  der  Über-  oder  Unterordnung 
stehe,  und  daß  das  Ziel  einer  wahrhaft  vollkommenen  Sprache  darin  be- 
stehen müsse,  diese  natürliche  Hierarchie  der  Begriffe  in  einem  System 
von  Zeichen  zum  adäquaten  Ausdruck  zu  bringen.  Von  dieser  Voraussetzung 
aus  ordnet  z.  B.  Delgarno  in  seiner  „Ars  Signorum"  alle  Begriffe  unter 
1 7  höchste  Gattungsbegriffe,  deren  jeder  durch  einen  bestimmten  Buch- 
staben bezeichnet  wird,  welcher  als  Anfangsbuchstabe  für  jedes  unter  die 
betreffende  Kategorie  fallende  Wort  dient:  und  ebenso  werden  die 
Unterklassen,  die  innerhalb  der  gemeinsamen  Gattung  unterschieden  wer- 
den können,  je  durch  einen  besonderen  Buchstaben  oder  Laut,  der  an  den 
Anfangsbuchstaben  herantritt,  dargestellt.  Wilkins,  der  dieses  System  zu 
ergänzen  und  zu  vervollkommnen  sucht,  stellt  statt  der  ursprünglichen 
1 7  Hauptbegriffe  deren  4o  auf,  die  lautlich  durch  je  eine  besondere,  aus 
einem  Konsonanten  und  einem  Vokal  bestehende  Silbe  ausgedrückt  wer- 
den2. Über  die  Schwierigkeit,  die  „natürliche"  Ordnung  der  Grundbegriffe 

1  S.  Descartes'  Brief  an  Mersenne  vom  20.  November  1829;  Correspond.  (ed.  Adam- 
Tannery),  I,  8off. 

2  Bezeichnet  etwa  der  Buchstabe  P  die  allgemeine  Kategorie  der  „Quantität",  so  werden 
die  Begriffe  der  Größe  überhaupt,  des  Raumes  und  des  Maßes  durch  Pe,  Pi,  Po  aus- 


68 


aufzufinden  und  ihr  wechselseitiges  Verhältnis  in  erschöpfender  und  ein- 
deutiger Weise  zu  bestimmen,  gleiten  all  diese  Systeme  verhältnismäßig 
rasch  hinweg.  Das  methodische  Problem  der  Begriffsbezeichnung  wan- 
delt sich  ihnen  mehr  und  mehr  in  ein  rein  technisches;  es  genügt  ihnen, 
irgendeine,  rein  konventionelle,  Einteilung  der  Begriffe  zugrunde  zu 
legen  und  sie  durch  fortschreitende  Differenzierung  für  den  Ausdruck 
der  konkreten  Denk-  und  Vorstellungsinhalte  tauglich  zu  machen. 

Erst  Leibniz,  der  das  Sprachproblem  wieder  in  den  Zusammenhang 
der  allgemeinen  Logik  stellt  und  der  die  letztere  als  Voraussetzung 
aller  Philosophie,  aller  theoretischen  Erkenntnis  überhaupt,  begreift, 
faßt  auch  das  Problem  der  Universalsprache  in  einer  neuen  Tiefe.  Der 
Schwierigkeit,  auf  die  schon  Descartes  hingewiesen  hatte,  ist  er  sich  in 
vollem  Maße  bewußt;  aber  er  glaubt  in  den  Fortschritten,  die  die  philo- 
sophische und  wissenschaftliche  Erkenntnis  inzwischen  gemacht  hat, 
auch  völlig  neue  Mittel  zu  ihrer  Überwindung  zu  besitzen.  Jede  „Charak- 
teristik", die  sich  nicht  auf  eine  willkürliche  Zeichensprache  beschränken, 
sondern  als  Gharacteristica  realis  die  wahren  Grundverhältnisse  der 
Dinge  zur  Darstellung  bringen  will,  fordert  eine  logische  Analyse  der  In- 
halte des  Denkens.  Aber  die  Aufstellung  eines  derartigen  „Gedanken- 
alphabets" erscheint  als  keine  unbegrenzte  und  unlösbare  Aufgabe  mehr, 
sofern  man,  statt  von  beliebigen,  mehr  oder  weniger  zufälligen  Gliede- 
rungen des  gesamten  Begriffsstoffes  auszugehen,  den  Weg,  den  die  neu 
begründete  Kombinatorik  und  die  neu  begründete  mathematische  Ana- 
lysis  gewiesen  haben,  folgerichtig  bis  zu  Ende  geht.  Wie  die  algebraische 
Analysis  uns  lehrt,  daß  jede  Zahl  sich  aus  bestimmten  ursprünglichen 
Elementen  aufbaut,  daß  sie  sich  in  eindeutiger  Weise  in  „Primfak- 
toren" zerlegen  und  als  deren  Produkt  darstellen  läßt,  so  gilt  das 
gleiche  auch  für  jeden  Erkenntnisinhalt  überhaupt.  Der  Zerlegung  in 
Primzahlen  entspricht  die  Zerlegung  in  primitive  Ideen  —  und  es  ist 
einer  der  Grundgedanken  der  Leibnizschen  Philosophie,  daß  beide  im 
wesentlichen  nach  dem  gleichen  Prinzip  und  kraft  ein  und  derselben  all- 
umfassenden Methodik  zustande  gebracht  werden  können  und  müssen1. 
Der  Zirkel,  daß  die  Form  einer  wahrhaft  allgemeinen  Charakteristik  das 

gedrückt  u.  s.  f .  Vgl.  George  Delgarno,  Ars  Signorum  vulgo  Cliaracter  universalis  et 
lingua  plülosophica,  London  1661,  und  Wilkins,  An  Essay  towards  a  Real  cliaracter 
and  a  Philosophical  Language.  London  1C68.  Einen  kurzen  Abriß  der  Systeme  von 
Delgarno  und  Wilkins  hat  Couturat,  La  Logique  de  Leibniz,  Paris  1901,  Note  III 
u.  IV,  S.  544ff-,  gegeben. 

1  Näheres  hierüber  in  m.  Schrift:  Leibniz'  System  in  seinen  wissenschaftlichen  Grund- 
lagen, S.  io5ff.,  487ff.,  sowie  bei  Couturat,  a.  a.  0.,  bes.  Cap.  3—5. 


69 


Wissen,  nach  seinem  Inhalt  und  seinem  Aufbau,  schon  als  gegeben  vor- 
auszusetzen scheint,  und  daß  andererseits  eben  diese  Charakteristik  es  sein 
soll,  kraft  deren  uns  dieser  Aufbau  erst  wahrhaft  faßbar  und  verständ- 
lich wird  —  dieser  Zirkel  löst  sich  für  Leibniz  dadurch,  daß  für  ihn  hier 
überhaupt  nicht  zwei  getrennte  Aufgaben  vorliegen,  deren  eine  nach  der 
anderen  in  Angriff  genommen  werden  könnte,  sondern  daß  beide  von  ihm 
in  reiner  sachlicher  Korrelation  gedacht  werden.  Der  Fortschritt  der 
Analyse  und  der  Fortschritt  der  Charakteristik  fordern  und  bedingen  sich 
wechselweise:  denn  jede  logische  Einheitssetzung  und  jede  logische  Un- 
terscheidung, die  das  Denken  vollzieht,  besteht  für  dasselbe  in  wirk- 
licher Klarheit  und  Schärfe  erst  dann,  wenn  sie  sich  in  einem  bestimm- 
ten Zeichen  fixiert  haben.  So  gesteht  Leibniz  Descartes  zu,  daß  die 
echte  Universalsprache  der  Erkenntnis  von  dieser  selbst,  also  von  der 
„wahren  Philosophie"  abhängig  sei,  aber  er  fügt  hinzu,  daß  sie  nichts- 
destoweniger deren  Vollendung  nicht  abzuwarten  brauche,  daß  sich 
vielmehr  beide  Leistungen,  die  Analysis  der  Ideen  und  die  Zeichen- 
gebung,  an  und  miteinander  entwickeln  würden.1  Es  spricht  sich  hierin 
nur  jene  allgemeinste  methodische  Grundüberzeugung  und  gleichsam  jene 
methodische  Grunderfahrung  aus,  die  er  in  der  Entdeckung  der  Analysis 
des  Unendlichen  bewährt  gefunden  hatte:  wie  dort  der  Algorithmus  der 
Differentialrechnung  sich  nicht  bloß  als  ein  bequemes  Mittel  der  Dar- 
stellung des  Gefundenen,  sondern  als  ein  echtes  Organon  der  mathemati- 
schen Forschung  erwiesen  hatte,  so  soll  allgemein  die  Sprache  dem  Denken 
diesen  Dienst  leisten;  —  sie  soll  nicht  nur  seiner  Bahn  folgen,  sondern 
diese  Bahn  erst  zubereiten  und  sie  fortschreitend  ebnen. 

So  erhält  Leibniz'  Rationalismus  in  der  Betrachtung  der  Sprache, 
die  rein  als  Erkenntnismittel,  als  Instrument  der  logischen  Analyse,  auf- 
gefaßt wird,  erst  seine  letzte  Bestätigung  und  Vollendung;  —  aber  zu- 
gleich gewinnt  dieser  Rationalismus  jetzt,  im  Vergleich  zu  Descartes,  ge- 
wissermaßen eine  konkrete  Form.  Denn  die  Korrelation,  die  hier  zwischen 
Denken  und  Sprechen  behauptet  wird,  rückt  auch  das  Verhältnis  zwischen 
Denken  und  Sinnlichkeit  in  ein  neues  Licht.  Mag  immerhin  die  Sinnlich- 
keit der  fortschreitenden  Auflösung  in  die  distinkten  Ideen  des  Verstandes 
bedürfen,  —  so  gilt  doch  andererseits,  für  den  Standpunkt,  in  dem  der 
endliche  Geist  sich  befindet,  immer  auch  die  umgekehrte  Bindung.  Auch 
unsere  „abstraktesten"  Gedanken  enthalten  immer  noch  einen  Zusatz  der 
Einbildungskraft,  der  für  uns  zwar  weiter  zerlegbar  ist,  bei  dem  aber  die 

1  S.  Leibniz'  Bemerkungen  zum  Brief  Descartes'  an  Mersenne:  Opuscules  et  fragments 
inedits,  ed.  Gouturat,  Paris  1903,  S.  27t. 


70 


Analyse  niemals  an  eine  letzte  Grenze  gelangt,  sondern  vielmehr  ins  Un- 
endliche fortschreiten  kann  und  muß1.  Hier  stehen  wir  an  dem  Punkte, 
an  dem  der  Grundgedanke  der  Leibnizschen  Logik  sich  mit  dem  Grund- 
gedanken seiner  Metaphysik  berührt  und  an  dem  er  unmittelbar  in  den- 
selben übergeht.  Für  diese  Metaphysik  ist  der  Stufenbau  des  Seins  durch 
den  Stufengang  der  Erkenntnis  bestimmt.  Die  Monaden,  als  die  einzig 
wahrhaften  substantiellen  Wesenheiten,  weisen  untereinander  keinen  an- 
deren Unterschied  auf,  als  denjenigen,  der  in  dem  verschiedenen  Grade 
der  Klarheit  und  Deutlichkeit  ihrer  Vorstellungsinhalte  besteht.  Nur 
dem  höchsten,  dem  göttlichen  Sein  eignet  die  vollkommene  Erkennt- 
nis, die  in  keinem  Sinne  mehr  repräsentativ,  sondern  rein  intuitiv  ist, 
d.  h.  die  ihre  Gegenstände  nicht  mehr  mittelbar  durch  Zeichen  betrachtet, 
sondern  sie  unmittelbar  in  ihrer  reinen  und  ursprünglichen  Wesenheit 
anschaut.  Hiermit  verglichen  erscheint  selbst  die  höchste  Stufe,  zu  der 
sich  das  Wissen  des  endlichen  Geistes  erhebt,  erscheint  auch  die  distinkte 
Erkenntnis  der  Figuren  und  Zahlen,  nur  als  inadäquates  Wissen:  denn 
sie  muß  sich,  statt  die  geistigen  Inhalte  selbst  zu  erfassen,  großenteils  mit 
ihren  Zeichen  genügen  lassen.  Bei  jedem  längeren  mathematischen  Beweis 
sind  wir  zu  dieser  Stellvertretung  gezwungen.  Wer  z.  B.  ein  reguläres 
Tausendeck  denkt,  der  ist  sich  nicht  immer  der  Natur  der  Seite,  der 
Gleichheit  und  der  Zahl  tausend,  bewußt,  sondern  er  gebraucht  diese 
Worte,  deren  Sinn  ihm  nur  dunkel  und  unvollkommen  gegenwärtig  ist, 
statt  der  Ideen  selber,  da  er  sich  erinnert,  daß  er  ihre  Bedeutung  kenne, 
eine  nähere  Erklärung  aber  im  gegenwärtigen  Augenblick  nicht  für  not- 
wendig erachtet.  Hier  haben  wir  es  also,  statt  *mit  einer  rein  intuitiven, 
mit  einer  „blinden"  oder  symbolischen  Erkenntnis  zu  tun,  die,  wie  die 
Algebra  und  Arithmetik,  so  auch  fast  unser  gesamtes  sonstiges  Wissen 
beherrscht2.  So  sieht  man,  wie  die  Sprache,  indem  sie  im  Entwurf  der 
allgemeinen  Charakteristik  das  Ganze  der  Erkenntnis  mehr  und  mehr  zu 
umspannen  sucht,  eben  dieses  Ganze  zugleich  beschränkt  und  es  in  ihre 
eigene  Bedingtheit  hineinzieht.  Aber  diese  Bedingtheit  hat  keineswegs 
einen  bloß  negativen  Charakter,  sondern  schließt  ein  durchaus  positives 
Moment  in  sich.  Wie  jede  noch  so  dunkle  und  verworrene  sinnliche  Vor- 
stellung  einen  echten  rationalen  Erkenntnisgehalt  in  sich  schließt,  der 

1  Les  plus  abstraites  pensees  ont  besoin  de  quelque  imagination:  et  quand  on  considere 
ce  que  c'est  que  les  pensees  confuses  (qui  ne  manquent  jamais  d'accompagner  les  plus 
distinctes  que  nous  puissions  avoir)  comme  sont  Celles  des  couleurs,  odeurs,  saveurs,  de 
la  chaleur,  du  froid  etc.  on  reconnoist  qu'elles  enveloppent  toujours  l'infini.  Reponse  aux 
reflexions  de  Bayle,  Philos.  Schriften  (Gerhardt),  IV.,  563. 

2  S.  Meditationes  de  cognitione,  veritate  et  ideis  (i684).  Philos.  Sehr.  IV,  422 ff. 

71 


nur  der  Entfaltung  und  „Auswicklung' '  bedarf,  so  ist  auch  jedes  sinn- 
liche Symbol  der  Träger  einer  rein  geistigen  Bedeutung,  die  freilich  in 
ihm  nur  „virtuell"  und  implizit  gegeben  ist.  Das  echte  Ideal  der  „Auf- 
klärung" besteht  darin,  diese  sinnlichen  Hüllen  nicht  mit  einem  Schlage 
abzustreifen,  diese  Symbole  nicht  wegzuwerfen,  sondern  sie  mehr  und 
mehr  als  das,  was  sie  sind,  zu  verstehen  und  sie  damit  geistig  zu  be- 
herrschen und  zu  durchdringen. 

So  weit  und  universell  indes  die  logische  und  metaphysische  Gesamt- 
ansicht ist,  der  Leibniz  hier  die  Sprache  einfügt,  so  droht  doch  gerade  in 
dieser  Universalität  ihr  besonderer  Gehalt  unterzugehen.  Der  Plan  der 
allgemeinen  Charakteristik  beschränkt  sich  nicht  auf  ein  einzelnes  Gebiet, 
sondern  er  will  alle  Arten  und  Gruppen  von  Zeichen,  von  den  einfachen 
Laut-  und  Wortzeichen  bis  hinauf  zu  den  Zahlzeichen  der  Algebra,  wie 
den  Symbolen  der  mathematischen  und  logischen  Analysis,  in  sich  fassen. 
Er  geht  ebensowohl  auf  diejenigen  Äußerungsformen,  die  lediglich  einem 
natürlichen,  unwillkürlich  hervorbrechenden  „Instinkt"  zu  entstammen 
scheinen,  wie  auf  diejenigen,  die  in  einer  freien  und  selbstbewußten 
Schöpfung  des  Geistes  ihren  Ursprung  haben.  Damit  ist  jedoch  die  spe- 
zifische Eigentümlichkeit  der  Sprache,  als  Laut-  und  Wortsprache,  nicht 
sowohl  gewürdigt  und  erklärt,  als  sie  vielmehr  letzten  Endes  ausgeschaltet 
erscheint.  Wäre  das  Ziel  der  allgemeinen  Charakteristik  erreicht,  wäre 
jede  einfache  Idee  durch  ein  einfaches  sinnliches  Zeichen  und  jede  kom- 
plexe Vorstellung  durch  eine  entsprechende  Kombination  solcher  Zeichen 
ausgedrückt,  so  wäre  alle  Besonderheit  und  Zufälligkeit  der  Einzel- 
sprachen wieder  in  eine  einzige  allgemeine  Grundsprache  aufgelöst. 
Leibniz  verlegt  diese  Grundsprache,  diese  lingua  Adamica,  wie  er  sie 
mit  einem  alten  Ausdruck  der  Mystiker  und  Jacob  Boehmes  benennt1, 
nicht  in  eine  paradiesische  Vergangenheit  der  Menschheit  zurück,  sondern 
er  faßt  sie  als  einen  reinen  Idealbegriff,  dem  sich  unsere  Erkenntnis 
fortschreitend  annähern  muß,  um  das  Ziel  der  Objektivität  und  Allge- 
meingültigkeit zu  erreichen.  In  dieser  ihrer  letzten  und  höchsten,  in  ihrer 
endgültigen  Gestalt  wird  nach  ihm  die  Sprache  erst  als  dasjenige  heraus- 
treten, was  sie  wesentlich  ist:  —  hier  wird  das  Wort  keine  bloße  Hülle 
des  Sinnes  mehr  sein,  sondern  als  ein  echter  Zeuge  der  Einheit  der  Ver- 
nunft erscheinen,  die,  als  notwendiges  Postulat,  aller  philosophischen 
Erfassung  eines  besonderen  geistigen  Seins  zugrunde  liegt. 


1  Zur  Idee  der  „Lingua  Adamica"  vgl.  Philos.  Schriften  VII,  198,  20^;  Nouveaux 
Essais  III,  2  (Gerh.  V,  260)  u.  ö. 


72 


1 


II 

Einen  anderen  Weg  der  Betrachtung  der  Sprache  scheint  der  philo- 
sophische Empirismus  einzuschlagen,  indem  er,  seiner  Grundtendenz 
gemäß,  bestrebt  ist,  das  Faktum  der  Sprache,  statt  es  auf  ein  logisches 
Ideal  zu  beziehen,  in  seiner  einfachen  und  nüchternen  Tatsächlichkeit,  in 
seinem  empirischen  Ursprung  und  seinem  empirischen  Zweck  zu  be- 
greifen. Statt  die  Sprache  in  irgendeine,  sei  es  logische,  sei  es  meta- 
physische Utopie  aufgehen  zu  lassen,  soll  sie  lediglich  in  ihrem  psycho- 
logischen Bestand  erkannt  und  in  ihrer  psychologischen  Leistung  gewür- 
digt werden.  Auch  in  dieser  Fassung  der  Aufgabe  übernimmt  freilich 
der  Empirismus  von  den  gegnerischen  rationalistischen  Systemen  eine 
wesentliche  Voraussetzung,  indem  er  zunächst  die  Sprache  ausschließlich 
als  ein  Mittel  der  Erkenntnis  betrachtet.  Locke  hebt  ausdrücklich  her- 
vor, daß  sein  Plan  einer  Verstandeskritik  ursprünglich  dsn  Gedanken 
einer  eigenen  Sprachkritik  nicht  in  sich  gefaßt  habe :  erst  allmählich  habe 
sich  ihm  gezeigt,  daß  die  Frage  nach  der  Bedeutung  und  dem  Ursprung 
der  Begriffe  sich  von  der  nach  dem  Ursprung  der  Benennungen  nicht 
abtrennen  lasse1.  Nachdem  aber  dieser  Zusammenhang  einmal  erkannt 
ist,  wird  jetzt  für  ihn  die  Sprache  zu  einem  der  wichtigsten  Zeugen  für 
die  Wahrheit  der  empiristischen  Grundansicht.  Leibniz  sagt  einmal,  daß 
die  Natur  es  liebe,  an  irgendeinem  Punkte  ihre  letzten  Geheimnisse  offen 
darzulegen  und  sie  uns  gleichsam  in  sichtbaren  Proben  unmittelbar  vor 
Augen  zu  stellen.  Als  eine  solche  Probe  auf  seine  Gesamtanschauung  der 
geistigen  Wirklichkeit  sieht  Locke  die  Sprache  an.  „Es  kann  uns  etwas 
tiefer  in  den  Ursprung  all  unserer  Begriffe  hineinführen  —  so  beginnt  er 
seine  Analyse  der  Worte  —  „wenn  wir  beachten,  in  welchem  Maße  unsere 
Worte  von  sinnlichen  Ideen  abhängig  sind,  und  wie  auch  diejenigen,  die 
dazu  bestimmt  sind,  ganz  unsinnliche  Vorgänge  und  Begriffe  auszu- 
drücken, dennoch  hier  ihren  Ursprung  nehmen  und  von  offenbar  sinn- 
lichen Ideen  erst  auf  verwickeitere  Begriffe  übertragen  werden.  So  sind 
»erfassen4,  »begreifen',  vorstellen'  u.  s.  w.  alles  Worte,  die  von  der  Wirk- 
samkeit sinnlicher  Dinge  hergenommen  sind,  um  dann  auf  bestimmte 
Operationen  unseres  Geistes  angewandt  zu  werden.  Geist  (spirit)  ist  seiner 
Grundbedeutung  nach  dasselbe  wie  Atem  (breath);  Engel  bedeutet  Bote, 
und  ich  zweifle  nicht,  daß  wir,  wenn  wir  alle  Ausdrücke  auf  ihre  Wur- 
zeln zurückverfolgen  könnten,  den  gleichen  Gebrauch  sinnlicher  Bezeich- 
nungen für  unsinnliche  Dinge  in  allen  Sprachen  finden  würden.  Daraus 
können  wir  einen  Schluß  darauf  ziehen,  von  welcher  Art  und  Herkunft 

1  Locke,  Essay  III,  9,  sect.  21. 


73 


die  Begriffe  waren,  die  den  Geist  der  ersten  Sprachbildner  erfüllten  und 
wie  die  Natur  sogar  in  der  Benennung  der  Dinge  dem  Menschen  unmerk- 
lich die  Ursprünge  und  die  Prinzipien  all  seiner  Erkenntnis  andeutete. 
Denn  alle  Ideen,  die  wir  haben,  stammen  entweder  von  sinnlichen  Gegen- 
ständen außer  uns  oder  aus  der  inneren  Tätigkeit  unseres  Geistes,  deren 
wir  uns  unmittelbar  bewußt  werden1." 

Damit  ist  die  systematische  Grundthese  bezeichnet,  auf  die  sich  alle  Er- 
örterung des  Sprachproblems  innerhalb  des  Empirismus  mittelbar  oder 
unmittelbar  bezieht.  Die  Analyse  der  Sprache  ist  auch  hier  nicht  Selbst- 
zweck, sondern  sie  soll  nur  dem  eigentlichen  Hauptproblem,  der  Analyse 
der  Ideen,  als  Mittel  und  als  Vorbereitung  dienen.  Denn  alle  sprachlichen 
Benennungen  dienen  niemals  unmittelbar  dem  Ausdruck  der  Dinge  selbst, 
sondern  sie  beziehen  sich  einzig  auf  die  Ideen  des  Geistes,  auf  die  eigenen 
Vorstellungen  des  Sprechenden.  Dies  wird,  als  allgemeinster  Grundsatz 
aller  Sprachbetrachtung,  schon  von  Hobbes  formuliert,  der  damit  die 
Sprachphilosophie  dem  Kreis  und  der  Herrschaft  der  Metaphysik  endgül- 
tig entzogen  zu  haben  glaubt.  Da  die  Namen  Zeichen  der  Begriffe,  nicht 
Zeichen  der  Gegenstände  selbst  sind,  so  fällt  aller  Streit,  ob  sie  die  Ma- 
terie oder  die  Form  der  Dinge  oder  etwas  aus  beiden  Zusammengesetztes 
bezeichnen,  als  eine  leere  metaphysische  Frage  hinweg2.  Locke  fußt  auf 
dieser  Entscheidung,  zu  der  er  immer  wieder  zurückkehrt  und  die  er  nach 
allen  Seiten  hin  ausspinnt.  In  der  Einheit  des  Wortes  —  so  betont  auch  er 
—  drückt  sich  niemals  die  Natur  der  Gegenstände  selbst,  sondern  immer 
nur  die  subjektive  Art  aus,  in  der  der  menschliche  Geist  bei  der  Zu- 
sammenfassung seiner  einfachen  sinnlichen  Ideen  verfährt.  Durch  irgend- 
ein substantielles  Vorbild,  durch  irgendeine  reale  Wesenheit  der  Dinge 
ist  der  Geist  bei  dieser  Zusammenfassung  nicht  gebunden.  Er  kann  nach 
freier  Willkür  bald  den  einen,  bald  den  anderen  Vorstellungsinhalt  stärker 
betonen,  bald  diese,  bald  jene  Gruppen  einfacher  Elemente  zu  Gesamt- 
verbänden vereinen.  Je  nachdem  hierbei  die  Verbindungslinien  verschie- 
den gezogen  und  die  Trennungspunkte  verschieden  gesetzt  werden,  sondern 
sich  die  verschiedenen  Klassen  der  sprachlichen  Begriffe  und  Bedeu- 
tungen, die  somit  immer  nur  ein  Spiegelbild  eben  dieses  subjektiven  Ver- 
fahrens der  Verbindung  und  Trennung  selbst,  nicht  aber  der  objektiven 
Beschaffenheit  des  Seins  und  seines  Aufbaus  nach  realen  Arten  und  Gat- 
tungen, nach  logisch-metaphysischen  Genera  und  Species,  sein  können3. 

1  Locke,  Essay,  III,  i,  sect.  5. 

2  Hobbes,  Elementorum  philosophiae  Sectio  prima.  De  corpore  Pars  I,  Gap.  2,  sect.  5. 

3  Locke,  Essay,  bes.  Book  III,  Cap.  2  u.  6. 


74 


Die  Lehre  von  der  Definition  nimmt  damit  dem  Rationalismus  gegenüber 
eine  neue  Wendung.  Der  Gegensatz  von  Nominaldefinition  und  Real- 
definition, von  VVorterklärung  und  Sacherklärung  fällt  weg:  denn  jede 
Definition  kann  nur  beanspruchen,  eine  Umschreibung  des  Namens 
des  Dinges,  nicht  eine  Darstellung  seines  ontologischen  Bestandes  und 
seiner  ontologischen  Konstitution  zu  sein.  Denn  nicht  nur  ist  uns 
die  Natur  jedes  Wesens  im  besonderen  unbekannt,  sondern  wir  können 
auch  mit  dem  allgemeinen  Begriff  dessen,  was  ein  Ding  an  sich 
selbst  sein  soll,  keine  bestimmte  Vorstellung  verbinden.  Der  einzige 
Begriff  der  „Natur"  eines  Dinges,  mit  dem  wir  einen  klaren  Sinn 
verknüpfen  können,  hat  keine  absolute,  sondern  eine  nur  relative  Bedeu- 
tung; er  schließt  eine  Beziehung  auf  uns  selbst,  auf  unsere  seelische  Or- 
ganisation und  unsere  Erkenntniskräfte  in  sich.  Die  Natur  eines  Dinges 
bestimmen  heißt  für  uns  nichts  anderes,  als  die  einfachen  Ideen  zu  ent- 
wickeln, die  in  ihm  enthalten  sind  und  die  in  seine  Gesamtvorstellung 
als  Elemente  eingehen1. 

So  scheint  diese  Grundansicht,  ihrem  Ausdruck  nach,  freilich  wieder 
zu  der  Leibnizischen  Form  der  Analyse  und  zu  der  Leibnizischen  Forde- 
rung eines  allgemeinen  „Gedankenalphabets"  zurückzulenken  —  aber 
hinter  dieser  Einheit  des  Ausdrucks  verbirgt  sich  ein  scharfer  syste- 
matischer Gegensatz.  Denn  zwischen  beiden  Auffassungen  der  Sprache 
und  der  Erkenntnis  steht  nun  der  entscheidende  geistige  Bedeutungs- 
wandel, der  sich  im  Terminus  der  „Idee"  selbst  vollzogen  hat.  Auf  der 
einen  Seite  wird  die  Idee  in  ihrem  objektiv-logischen,  auf  der  anderen 
in  ihrem  subjektiv-psychologischen  Sinne  gefaßt;  auf  der  einen  Seite  steht 
ihr  ursprünglicher  Platonischer,  auf  der  anderen  Seite  ihr  modern-empi- 
ristischer und  sensualistischer  Begriff.  Dort  bedeutet  die  Auflösung  aller 
Inhalte  der  Erkenntnis  in  ihre  einfachen  Ideen  und  deren  Bezeichnung 
den  Rückgang  auf  letzte  und  allgemeingültige  Prinzipien  des  Wissens; 
hier  steht  sie  für  die  Ableitung  aller  komplexen  geistigen  Gebilde  aus  den 
unmittelbaren  Gegebenheiten  des  inneren  oder  äußeren  Sinnes,  aus 
den  Elementen  der  „Sensation"  und  „Reflexion".  Damit  aber  ist  auch  die 
Objektivität  der  Sprache,  wie  die  der  Erkenntnis  überhaupt,  in  einem 
ganz  neuen  Sinne  zum  Problem  geworden.  Für  Leibniz  und  für  den  ge- 
samten Rationalismus  ist  das  ideelle  Sein  der  Begriffe  und  das  reale 
der  Dinge  durch  eine  unlösliche  Korrelation  verknüpft:  denn  „Wahrheit" 
und  „Wirklichkeit"  sind  in  ihrem  Grund  und  in  ihrer  letzten  Wurzel 

1  Vgl.  hierzu  bes.  d'Alembert,  Essai  sur  les  el6ments  de  philosophie  ou  sur  les  principes 
des  connoissances  humaines,  sect.  IV. 


75 


eins1.  Alles  empirische  Dasein  und  alles  empirische  Geschehen  ist  in  sich 
derart  verknüpft  und  geordnet,  wie  die  intelligiblen  Wahrheiten  es  for- 
dern: —  und  eben  hierin  besteht  seine  Wirklichkeit,  besteht  das,  was 
Schein  und  Sein,  Realität  und  Traum  voneinander  unterscheidet2.  Diese 
Wechselbeziehung,  diese  „prästabilierte  Harmonie"  zwischen  dem  Ideellen 
und  dem  Reellen,  zwischen  dem  Bereich  der  allgemeingültigen  und  not- 
wendigen Wahrheiten  und  dem  des  besonderen  und  faktischen  Seins  ist 
für  den  Empirismus  aufgehoben.  Je  schärfer  er  die  Sprache  nicht  als 
Ausdruck  der  Dinge,  sondern  als  Ausdruck  der  Begriffe  nimmt,  um 
so  bestimmter  und  gebieterischer  muß  sich  daher  für  ihn  die  Frage  er- 
heben, ob  nicht  das  neue  geistige  Medium,  das  hier  anerkannt  ist,  die 
letzten  „wirklichen"  Elemente  des  Seins,  statt  sie  zu  bezeichnen,  vielmehr 
verfälscht.  Von  Bacon  bis  zu  Hobbes  und  Locke  kann  man  fortschrei- 
tend die  Entwicklung  und  die  immer  schärfere  Zuspitzung  dieser  Frage 
verfolgen,  bis  sie  zuletzt  bei  Berkeley  in  voller  Klarheit  vor  uns  steht 
Für  Locke  ist  der  Erkenntnis,  so  sehr  er  sie  in  den  besonderen  Daten  der 
Sinnes-  und  Selbstwahrnehmung  gegründet  sein  läßt,  doch  eine  Tendenz 
zur  „Allgemeinheit"  eigen:  und  dieser  Tendenz  auf  das  Allgemeine  der 
Erkenntnis  kommt  die  Allgemeinheit  des  Wortes  entgegen.  Das  abstrakte 
Wort  wird  zum  Ausdruck  der  „abstrakten  allgemeinen  Idee",  die  hier 
noch,  neben  den  Einzelempfindungen,  als  eine  psychische  Wirklichkeit 
von  eigener  Art  und  von  selbständiger  Bedeutung  anerkannt  wird3.  Der 
Fortschritt  und  die  Konsequenz  der  sensualistischen  Ansicht  aber  führt 
notwendig  auch  über  diese  relative  Anerkennung  und  diese  wenigstens 
mittelbare  Duldung  des  „Allgemeinen"  hinaus.  Das  Allgemeine  hat  so 
wenig  im  Bereich  der  Ideen,  wie  in  dem  der  Dinge  irgendeinen  wahr- 
haften und  gegründeten  Bestand.  Damit  aber  steht  nun  das  Wort  und  die 
Sprache  überhaupt  gleichsam  völlig  im  Leeren.  Für  das,  was  in  ihnen  aus- 
gesprochen ist,  findet  sich  weder  im  physischen,  noch  im  psychischen 

1  „la  verit6  6tant  une  meme  chose  avec  l'etre  (Descartes,  Meditat.  V). 

2  Vgl.  z.B.  Leibniz,  Hauptschriften  (Ausg.  Cassirer-B  uch  e  nau),  I,  100,  287,  3^9, 
II,  4o2f  u.  s. 

3  „A  distinct  name  for  every  particular  thing  would  not  be  of  any  great  use  for  the 
improvement  of  the  knowledge,  which,  ihough  founded  in  particular  ihings,  enlarges 
iiself  by  general  views;  to  which  things  reduced  into  general  names  are  properly  sub 
servient  .  .  .  Words  become  general  by  being  made  the  signs  of  general  ideas:  and  idcas 
become  general  by  separaling  from  them  the  circumstances  of  time  and  place,  and  any 
other  ideas  that  may  determine  them  to  this  or  that  particular  existence.  By  this  way  of 
abstraction  they  are  made  capable  of  representing  more  individuals  than  one;  each  of 
which,  having  in  it  a  conformity  to  that  abstract  idea,  is  (as  wie  call  it)  of  that  sort." 
Locke,  Essay,  B.  III,  Gap.  III,  sect.  4 — 6. 


76 


Sein,  weder  in  den  Dingen,  noch  in  den  Ideen  irgendein  Vorbild  oder 
„Archetyp".  Alle  Wirklichkeit  —  die  seelische  so  gut  wie  die  physische  — 
ist  ihrem  Wesen  nach  konkrete,  individuell  bestimmte  Wirklichkeit:  um 
zu  ihrer  Anschauung  vorzudringen,  müssen  wir  uns  daher  vor  allem  der 
falschen  und  trügerischen,  der  „abstrakten"  Allgemeinheit  des  Wortes 
entledigen.  Mit  aller  Entschiedenheit  wird  diese  Folgerung  von  Berkeley 
gezogen.  Jede  Reform  der  Philosophie  muß  sich  in  erster  Linie  auf  einer 
Kritik  der  Sprache  aufbauen,  muß  vor  allen  Dingen  die  Illusion  weg-  ' 
räumen,  in  der  sie  den  menschlichen  Geist  seit  jeher  gefangen  hält.  „Es 
kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  Worte  trefflich  dazu  dienen,  den  gan- 
zen Vorrat  von  Kenntnissen,  der  durch  die  vereinten  Bemühungen  von 
Forschern  aller  Zeiten  und  Völker  gewonnen  worden  ist,  in  den  Gesichts- 
kreis eines  jedes  Einzelnen  zu  ziehen  und  ihn  in  seinen  Besitz  zu  bringen. 
Zugleich  aber  muß  anerkannt  werden,  daß  die  meisten  Teile  des  Wissens 
durch  den  Mißbrauch  von  Worten  und  allgemeinen  Redeweisen  erstaun- 
lich verwirrt  und  verdunkelt  worden  sind.  Es  wäre  daher  zu  wünschen, 
daß  ein  jeder  so  sehr  als  möglich  sich  bemühte,  eine  klare  Einsicht  in  die 
Ideen  zu  gewinnen,  die  er  betrachten  will,  indem  er  von  denselben  alle  die 
Bekleidung  und  all  den  beschwerlichen  Anhang  von  Worten  abtrennt, 
der  so  sehr  dazu  beiträgt,  das  Urteil  zu  trüben  und  die  Aufmerksamkeit 
zu  teilen.  Vergeblich  erweitern  wir  unseren  Blick  in  die  himmlischen 
Räume  und  erspähen  das  Innere  der  Erde;  vergeblich  ziehen  wir  die 
Schriften  gelehrter  Männer  zu  Rate  und  verfolgen  die  dunklen  Spuren 
des  Altertums ;  wir  brauchten  nur  den  Vorhang  von  Worten  wegzuziehen, 
um  klar  und  rein  den  Baum  der  Erkenntnis  zu  erblicken,  dessen  Frucht 
vortrefflich  und  unserer  Hand  erreichbar  ist1." 

Aber  diese  radikale  Kritik  der  Sprache  enthält  freilich,  näher  betrach- 
tet, mittelbar  zugleich  eine  Kritik  des  sensualistischen  Erkenntnis- 
ideals, auf  das  sie  sich  stützt.  Von  Locke  zu  Berkeley  hat  sich  in  der 
Stellung  des  Empirismus  zum  Sprachproblem  eine  eigentümliche  Um- 
kehr vollzogen.  Wenn  Locke  in  der  Sprache  seine  Grundansicht  der  Er- 
kenntnis bestätigt  und  beglaubigt  fand,  —  wenn  er  sie  zum  Zeugen  für 
seine  allgemeine  These  aufrief,  daß  nichts  im  Verstände  sein  könne,  was 
nicht  zuvor  in  den  Sinnen  gewesen  sei:  so  zeigt  sich  jetzt  vielmehr,  daß 
die  eigentliche  und  wesentliche  Funktion  des  Wortes  innerhalb  des  sen- 
sualistischen Systems  keinen  Raum  hat.  Soll  dieses  System  aufrecht  er- 
halten werden,  so  bleibt  kein  anderes  Mittel,  als  diese  Funktion  zu  bestrei- 
ten und  auszuschalten.  Die  Struktur  der  Sprache  wird  jetzt  nicht  als 

1  Berkeley,  A  treatise  concerning  the  principles  of  human  knowledge,  Introd.,  $  21-24- 

77 


Erläuterung  der  Struktur  der  Erkenntnis  gebraucht,  sondern  sie  bildet 
zu  ihr  das  genaue  Widerspiel.  Weit  entfernt,  einen  auch  nur  bedingten 
und  relativen  Wahrheitsgehalt  in  sich  zu  schließen,  ist  die  Sprache  viel- 
mehr der  Zauberspiegel,  der  uns  die  wahren  Formen  des  Seins  nur  in 
eigentümlicher  Verfälschung  und  Verzerrung  erkennen  läßt.  Hier  hat  sich 
innerhalb  des  Empirismus  selbst  eine  dialektische  Entwicklung  und  eine 
dialektische  Umkehr  vollzogen,  die  am  deutlichsten  und  schlagendsten 
heraustritt,  wenn  man  die  beiden  geschichtlichen  Extreme  der  empiristi- 
schen Sprachphilosophie  einander  gegenüberstellt.  Wenn  Berkeley  den 
Wahrheits-  und  Erkenntnisgehalt  der  Sprache  aufzuheben  strebt,  wenn 
er  in  ihr  den  Grund  alles  Irrtums  und  aller  Selbsttäuschung  des  mensch- 
lichen Geistes  sieht,  so  war  bei  Hobbes  der  Sprache  nicht  nur  Wahrheit, 
sondern  —  alle  Wahrheit  zugesprochen  worden.  Hobbes'  Wahrheitsbe- 
griff gipfelt  in  der  These,  daß  Wahrheit  nicht  in  den  Dingen,  sondern  einzig 
und  allein  in  den  Worten  und  im  Gebrauch  der  Worte  liege:  veritas  in 
diclo,  non  in  re  consistit1.  Die  Dinge  sind  und  bestehen  als  reale  Einzel- 
heiten, von  denen  uns  in  den  konkreten  sinnlich-einzelnen  Empfindungen 
Kunde  wird.  Aber  weder  das  einzelne  Ding,  noch  die  einzelne  Empfindung 
kann  jemals  den  wahrhaften  Gegenstand  des  Wissens  ausmachen:  denn 
jedes  Wissen,  das  diesen  Namen  verdient,  will  statt  bloß  historischer 
Kenntnis  des  Besonderen,  vielmehr  philosophische,  d.  h.  notwendige  Er- 
kenntnis des  Allgemeinen  sein.  Wenn  daher  die  Sinnlichkeit  und  das  Ge- 
dächtnis sich  im  Faktischen  beschränken,  so  geht  alle  Wissenschaft  auf 
allgemeine  Beziehungen  und  Schlußfolgerungen,  auf  deduktive  Ver- 
knüpfungen2. Das  Organ  und  das  Instrument  aber,  dessen  sie  sich  hier- 
bei bedient,  kann  kein  anderes  als  das  Wort  sein.  Denn  deduktive  Einsicht 
kann  unser  Geist  nur  von  denjenigen  Inhalten  erwerben,  die  ihm  nicht, 
gleich  den  Dingen  oder  den  sinnlichen  Empfindungen,  von  außen  her 
gegeben  sind,  sondern  die  er  selbst  erschafft  und  von  sich  aus  frei  her- 
vorbringt. Solche  Freiheit  aber  eignet  ihm  nicht  gegenüber  den  wirklichen 
Gegenständen  der  Natur,  sondern  nur  gegenüber  ihren  ideellen  Stellver- 
tretern, gegenüber  den  Bezeichnungen  und  Benennungen.  Die  Schaffung 
eines  Systems  von  Namen  ist  daher  nicht  nur  eine  Vorbedingung  für  jedes 
System  des  Wissens  —  sondern  alles  wahrhafte  Wissen  geht  in  einer  sol- 
chen Schöpfung  von  Namen  und  in  ihrer  Verknüpfung  zu  Sätzen  und  Ur- 
teilen auf.  Wahrheit  und  Falschheit  sind  demgemäß  nicht  Attribute  der 
Dinge,  sondern  Attribute  der  Rede  —  und  ein  Geist,  der  der  Rede  ent- 

1  Hobbes,  De  Corpore,  P.  I:  Computatio  sive  Logica,  Cap.  III,  $  7. 

2  Hobbes,  Leviathan,  P.  I:  De  homine,  Gap.  V,  $  6. 


78 


behrte,  wäre  daher  auch  dieser  Attribute,  wäre  der  gesamten  Unterschei- 
dung und  Entgegensetzung  des  „Wahren"  und  „Falschen"  nicht  mäch- 
tig1. Für  Hobbes  ist  daher  die  Sprache  nur  insofern  eine  Quelle  des  Irr- 
tums, als  sie  zugleich,  gemäß  seiner  nominalistischen  Grundansicht,  die 
Bedingung  der  begrifflichen  Erkenntnis  überhaupt,  somit  die  Quelle  aller 
Allgemeingültigkeit  und  aller  Wahrheit  ist. 

In  Berkeleys  Kritik  der  Sprache  und  der  Erkenntnis  scheint  dagegen 
jetzt  dem  Allgemeinen  auch  diese  letzte  Stütze  entzogen  zu  werden  und  da- 
mit die  Methodik  des  Rationalismus,  die  bei  Hobbes  überall  noch  unver- 
kennbar fortwirkt,  erst  endgültig  widerlegt  und  entwurzelt  zu  sein.  Aber 
indem  jetzt  das  System  Berkeleys  von  diesen  seinen  ersten  Anfängen  fort- 
schreitet und  sich  weiter  und  weiter  auszubauen  strebt  —  vollzieht  sich 
in  ihm  selbst  noch  einmal  eine  eigenartige  Rückkehr  und  Umwendung. 
Es  ist,  als  ob  jetzt  die  anfänglich  bestrittene,  die  gewaltsam  zurückgehal- 
tene Kraft  des  „Logos",  der  in  der  Sprache  lebendig  ist,  sich  allmählich 
befreite  und  dem  Zwange  des  sensualistischen  Schemas,  in  das  Berke- 
ley alles  Sprechen  und  Denken  einzuspannen  versuchte,  entgegenwirkte. 
Unvermerkt  und  schrittweise  wird  Berkeley  von  der  Betrachtung  und  Ana- 
lyse der  Funktion  des  Zeichens  und  von  der  neuen  positiven  Wertung 
aus,  die  das  Zeichen  für  ihn  gewinnt,  zu  einer  veränderten  Grundauf- 
fassung der  Erkenntnis  hingedrängt.  Er  selbst  vollzieht  jetzt,  insbesondere 
in  seiner  letzten  Schrift,  der  Siris,  die  entscheidende  Wendung :  er  löst  die 
„Idee"  aus  all  ihren  sensualistisch-psychologischen  Verflechtungen  und 
führt  sie  zu  ihrer  Platonischen  Grundbedeutung  zurück.  Und  in  dieser  letz- 
ten Phase  seines  Systems  gewinnt  nun  auch  die  Sprache  wieder  eine  beherr- 
schende, eine  wahrhaft  zentrale  Stellung.  Wenn  zuvor  der  Wert  der  Sprache 
aus  allgemeinen  Gründen  der  Berkeleyschen  Psychologie  und  Metaphysik  be- 
stritten wurde  —  so  stehen  wir,  in  der  endgültigen  Gestalt  eben  dieser 
Metaphysik,  vor  dem  merkwürdigen  Schauspiel,  daß  sich  hier  alle  Wirk- 
lichkeit, die  geistige  wie  die  sinnliche,  vielmehr  in  Sprache  verwandelt. 
Denn  jetzt  hat  sich  die  sinnliche  Weltansicht  selbst  mehr  und  mehr  in 
eine  rein  symbolische  umgestaltet.  Was  wir  als  die  Wirklichkeit  der 
Wahrnehmungen  und  als  die  der  Körper  bezeichnen  —  das  ist,  tiefer 
erfaßt  und  verstanden,  nichts  anderes  als  die  sinnliche  Zeichensprache,  in 
der  sich  ein  allumfassender  unendlicher  Geist  unserem  endlichen  Geiste 
mitteilt2.  In  dem  Ringen  zwischen  Metaphysik  und  Sprache  ist  daher 

1  A.  a.  O.  De  homine,  Cap.  IV:  Verum  et  Falsum  attributa  sunt  non  rerum,  sed  Ora- 
tionis;  ubi  autem  Oratio  non  est,  ibi  neque  Verum  est  neque  Falsum. 

2  Nähere  Ausführungen  und  Belege  s.  in  m.  Schrift  über  das  Erkenntnisproblem,  II, 
3i5  ff. 


79 


schließlich  die  letztere  Siegerin  geblieben,  —  die  Sprache,  die  anfangs 
von  der  Schwelle  der  Metaphysik  zurückgewiesen  wurde,  dringt  zuletzt 
nicht  nur  in  ihre  Sphäre  ein,  sondern  sie  ist  es  auch,  die  die  Form  eben 
dieser  Metaphysik  entscheidend  und  wesentlich  bestimmt. 

III 

In  der  Geschichte  des  Empirismus  bleibt  jedoch  die  letzte  Phase  des 
ßerkeleyschen  Systems  nur  eine  vereinzelte  Episode.  Die  allgemeine  Ent- 
wicklung geht  in  einer  anderen  Richtung;  sie  strebt  immer  deutlicher  da- 
hin, die  logischen  und  metaphysischen  Gesichtspunkte,  unter  denen  bisher 
das  Verhältnis  von  Sprechen  und  Denken  vornehmlich  betrachtet  worden 
war,  durch  rein  psychologische  Gesichtspunkte  zu  ersetzen.  Für  die  kon- 
krete Sprachbetrachtung  ergibt  sich  hieraus  zunächst  ein  unmittelbarer 
und  unzweifelhafter  Gewinn:  denn  jetzt  tritt  neben  die  Betrachtung  des- 
sen, was  die  Sprache  als  geistige  Gesamtform  ist,  immer  entschiedener 
das  Interesse  an  der  Individualität,  an  der  geistigen  Eigentümlichkeit 
der  einzelnen  Sprachen.  Wenn  die  logische  Grundansicht  immer  wieder 
wie  unter  einem  methodischen  Zwange  in  das  Problem  der  Universal- 
sprache einmündet,  so  weist  die  psychologische  Analyse  vielmehr  den  ent- 
gegengesetzten Weg.  Auch  Bacon  fordert,  in  der  Schrift  „de  dignitate  et 
augmentis  scientiarum",  neben  der  gewöhnlichen  empirischen  Sprach- 
kunde, neben  der  „Grammatica  litteraria"  eine  allgemeine  Form  der 
„philosophischen  Grammatik".  Aber  diese  letztere  soll  nicht  darauf  aus- 
gehen, irgendeinen  notwendigen  Zusammenhang  zwischen  den  Worten 
und  den  durch  sie  benannten  Gegenstanden  aufzuweisen :  denn,  so  reizvoll 
ein  derartiges  Unternehmen  erscheinen  mag,  so  gefährlich  und  schlüpfrig 
würde  es  sich  auch,  bei  der  Dehnbarkeit  der  Worte  und  der  Unsicherheit 
jeder  rein  etymologischen  Untersuchung,  erweisen.  Die  edelste  Form  der 
Grammatik  wäre  es  vielmehr,  wenn  jemand,  der  in  einer  großen  Zahl  von 
Sprachen,  sowohl  in  Volkssprachen  wie  in  gelehrten  Sprachen,  bewandert 
wäre,  von  ihren  verschiedenen  Eigentümlichkeiten  handelte  und  von  jeder 
einzelnen  zeigte,  worin  ihr  Vorzug  und  ihr  Mangel  besteht.  Auf  diese 
Weise  ließe  sich  nicht  nur,  durch  Vergleichung  der  Einzelsprachen,  das 
Idealbild  einer  vollkommenen  Sprache  entwerfen,  sondern  zugleich  wür- 
den sich  aus  einer  derartigen  Betrachtungsweise  die  bedeutsamsten  Auf- 
schlüsse über  den  Geist  und  die  Sitten  der  einzelnen  Nationen  ergeben. 
In  der  Ausführung,  die  Bacon  diesem  Gedanken  gibt  und  in  der  knappen 
Charakteristik  der  griechischen,  lateinischen  und  hebräischen  Sprache, 
die  er  unter  diesem  Gesichtspunkt  versucht,  hat  er  eine  Forderung  vor- 

80 


weggenommen,  die  ihre  eigentliche  Erfüllung  erst  bei  Wilhelm  v.  Hum- 
boldt gefunden  hat1.  Innerhalb  des  philosophischen  Empirismus  aber 
wird  seine  Anregung  nur  insofern  weitergeführt,  als  man  sich  der  spezi- 
fischen Prägung  und  Besonderung  der  Begriffe  in  jeder  Einzelsprache 
immer  schärfer  und  deutlicher  bewußt  wird.  Stehen  die  Sprachbegriffe 
nicht  einfach  als  Zeichen  für  objektive  Gegenstände  und  Vorgänge,  son- 
dern als  Zeichen  für  die  Vorstellung,  die  wir  uns  von  ihnen  bilden,  so 
muß  sich  in  ihnen  notwendig  nicht  sowohl  die  Beschaffenheit  der  Dinge, 
als  die  individuelle  Art  und  Richtung  der  Auffassung  der  Dinge  wider- 
spiegeln. Diese  wird  sich  mit  besonderem  Nachdruck  dort  geltend  machen, 
wo  es  sich  nicht  darum  handelt,  einfache  sinnliche  Eindrücke  im  Laut 
festzuhalten,  sondern  wo  das  Wort  als  Ausdruck  einer  komplexen  Ge- 
samtvorstellung dient.  Denn  jede  derartige  Vorstellung  und  demgemäß 
jeder  Name,  den  wir  solchen  „gemischten  Modi"  (mixed  modes,  wie 
Locke  sie  nennt),  beilegen,  geht  letztlich  auf  die  freie  Aktivität  des 
Geistes  zurück.  Während  der  Geist  hinsichtlich  seiner  einfachen  Ein- 
drücke schlechthin  passiv  ist  und  sie  in  der  Gestalt,  in  der  sie  ihm  von 
außen  gegeben  werden,  lediglich  hinzunehmen  hat,  stellt  sich  in  der  Ver- 
bindung dieser  einfachen  Ideen  weit  mehr  seine  eigene  Natur,  als  die 
der  Objekte  außer  ihm  dar.  Nach  einem  realen  Vorbild  dieser  Verknüp- 
fungen braucht  nicht  gefragt  zu  werden;  vielmehr  sind  die  Arten  und 
Spezies  der  „gemischten  Modi"  und  die  Namen,  die  wir  ihnen  bei- 
legen, vom  Verstände  ohne  Modelle,  ohne  jede  unmittelbare  Anknüpfung 
an  wirklich  existierende  Dinge  geschaffen.  Dieselbe  Freiheit,  die  Adam 
besaß,  als  er  die  ersten  Benennungen  komplexer  Vorstellungen  nach 
keinem  anderen  Musterbild,  als  dem  seiner  eigenen  Gedanken  erschuf,  — 
dieselbe  Freiheit  bestand  und  besteht  weiterhin  für  alle  Menschen2. 

Hier  stehen  wir,  wie  man  sieht,  an  der  Stelle,  an  der  im  System  des 
Empirismus  die  Spontaneität  des  Geistes  ihre,  wenngleich  vorläufig  nur 
bedingte  und  mittelbare,  Anerkennung  findet.  Und  diese  wesentliche  Ein- 
schränkung der  Abbildtheorie  der  Erkenntnis  muß  nun  sofort  auf  die 
Gesamtanschauung  der  Sprache  zurückwirken.  Wenn  die  Sprache  in 
ihren  komplexen  Begriffsworten  nicht  sowohl  ein  Spiegelbild  des  sinn- 
lichen Daseins,  als  vielmehr  ein  Spiegelbild  geistiger  Operationen  ist, 
so  wird  diese  Spiegelung  sich  auf  unendlich  vielfältige  und  verschieden- 

1  S.  Bacon,  De  dignitale  et  augmentis  scinlarum,  Lib.  VI,  Gap.  r:  Innumera  sunt  ejus- 
modi,  quae  justum  volumen  complere  possint.  Non  abs  re  igitur  fuerit  grammatica 
philosophantem  a  simplici  et  litteraria  distinguere,  et  desideraiam  ponere. 

2  S.  Locke,  Essay,  B.  II,  ch.  22,  sect.  iff .;  B.  III,  ch.  5,  sect.  1— 3;  ch.  6,  sect.  5i  u.  s. 


6 


81 


artige  Weise  vollziehen  können  und  müssen.  Ist  der  Gehalt  und  Ausdruck 
des  Begriffs  nicht  von  der  Materie  der  einzelnen  sinnlichen  Vorstellungen, 
sondern  von  der  Form  ihrer  Verknüpfung  abhängig,  so  stellt  im  Grunde 
jeder  neue  sprachliche  Begriff  eine  neue  geistige  Schöpfung  dar.  Kein 
Begriff  der  einen  Sprache  ist  daher  schlechthin  in  den  einer  anderen 
„übertragbar".  Schon  Locke  besteht  auf  dieser  Schlußfolgerung;  schon 
er  betont,  daß,  bei  genauer  Vergleichung  verschiedener  Sprachen,  sich 
in  ihnen  fast  niemals  Worte  finden  werden,  die  einander  völlig  ent- 
sprechen und  sich  in  der  ganzen  Sphäre  ihres  Sinnes  miteinander  voll- 
kommen decken  werden1.  Damit  aber  ist  von  einer  neuen  Seite  her  das 
Problem  einer  schlechthin  „allgemeinen"  Grammatik  als  Trugbild  er- 
wiesen. Immer  schärfer  erhebt  sich  die  Forderung,  statt  einer  solchen 
allgemeinen  Grammatik  vielmehr  die  besondere  Stilistik  jeder  Einzel- 
sprache zu  suchen  und  sie  in  ihrer  Eigentümlichkeit  zu  begreifen.  Das 
Zentrum  der  Sprachbetrachtung  wird  damit  von  der  Logik  nicht  nur 
nach  der  Seite  der  Psychologie,  sondern  nach  der  Ästhetik  hin  ver- 
schoben. Dies  tritt  besonders  deutlich  bei  demjenigen  Denker  hervor,  der 
wie  kein  anderer  innerhalb  des  empiristischen  Kreises,  mit  der  Schärfe 
und  Klarheit  der  logischen  Analyse  das  lebendigste  Gefühl  für  Indivi- 
dualität, für  die  feinsten  Schattierungen  und  Nuancierungen  des  ästhe- 
tischen Ausdrucks  verbindet.  Diderot  greift  in  seinem  „Brief  über  die 
Taubstummen"  die  Bemerkung  Lockes  auf;  —  aber  was  bei  diesem  ein 
vereinzeltes  Apercu  gewesen  war,  das  wird  jetzt  durch  eine  Fülle  kon- 
kreter Beispiele  aus  dem  Gebiet  des  sprachlichen  und  insbesondere  des 
sprachkünstlerischen  Ausdruckes  belegt  und  in  einem  Stil  dargestellt,  der 
selbst  der  unmittelbare  Beweis  dafür  ist,  wie  jede  wahrhaft  originale 
geistige  Form  sich  die  ihr  gemäße  Sprachform  erschafft.  Von  einer 
ganz  bestimmten  stilistischen  Einzelfrage,  vom  Problem  der  sprachlichen 
„Inversion"  ausgehend,  dringt  Diderot  methodisch  und  doch  in  freiester 
Gedankenbewegung  zum  Problem  der  Individualität  der  Sprachform  vor. 
Wie  Lessing,  um  die  unvergleichliche  Eigenheit  des  poetischen  Genies 
zu  bezeichnen,  an  das  Wort  erinnert,  daß  sich  eher  dem  Herkules  seine 
Keule  nehmen  lasse,  als  dem  Homer  oder  Shakespeare  ein  einziger  Vers  — 
so  geht  auch  Diderot  von  diesem  Worte  aus.  Das  Werk  eines  wahrhaften 
Dichters  ist  und  bleibt  unübersetzbar  —  man  mag  den  Gedanken  wieder- 
geben, man  wird  vielleicht  das  Glück  haben,  hie  und  da  einen  gleichwer- 
tigen Ausdruck  zu  finden;  aber  die  Gesamtdarstellung,  der  Ton  und 
Klang  des  Ganzen,  bleibt  immer  eine  einzige  subtile  und  unübertragbare 
1  Locke,  Essay,  B.  II,  ch.  22,  sect.  6;  B.  III,  ch.  5,  sect.  8. 

82 


„Hieroglyphe"1.  Und  eine  solche  Hieroglyphe,  ein  solches  Form-  und 
Stilgesetz  ist  nicht  nur  in  jeder  besonderen  Kunst,  in  der  Musik,  in  der 
Malerei,  in  der  Plastik  verwirklicht,  sondern  sie  beherrscht  auch  jede  be- 
sondere Sprache  und  drückt  ihr  das  geistige  Siegel,  das  Gedankengepräge 
wie  das  Gefühlsgepräge  auf.  — 

So  wird  hier  die  Betrachtung  der  Sprache  in  unmittelbare  Berührung 
mit  dem  Zentralproblem  gesetzt,  das  die  gesamte  Geistesgeschichte  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  beherrscht.  Im  Begriff  der  Subjektivität 
selbst  vollzieht  sich  jetzt  dieselbe  charakteristische  Wandlung,  die  uns 
gleichzeitig  in  der  Theorie  der  Kunst  und  des  künstlerischen  Schaffens 
entgegentritt.  Aus  der  engen  empiristisch-psychologischen  Fassung  der 
Subjektivität  ringt  sich  immer  deutlicher  die  tiefere  und  umfassendere 
Ansicht  hervor,  durch  die  sie  aus  der  Sphäre  des  bloß  zufälligen  Da- 
seins und  des  willkürlichen  Tuns  herausgehoben  und  in  ihrer  spezifisch 
geistigen  „Form",  d.  h.  in  ihrer  spezifischen  Notwendigkeit  anerkannt 
wird.  In  der  ästhetischen  Theorie  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  faßt 
sich  diese  gesamte  Bewegung  allmählich  immer  bestimmter  und  bewußter 
in  einem  einzigen  Mittelpunkt  zusammen.  Der  Begriff  des  Genies  wird 
zum  sprachlichen  und  gedanklichen  Träger  für  die  neue  Ansicht  des  Gei- 
stigen, die  die  Grenzen  der  empirisch-psychologischen,  der  bloß  reflek- 
tierenden Betrachtung  sprengt.  In  Diderots  „Lettre  sur  les  sourds  et 
muets"  bildet  der  Geniebegriff,  so  wenig  er  hier  explizit  hervortritt,  das 
belebende  Prinzip  aller  sprachtheoretischen  und  kunsttheoretischen  Ein- 
zelerörterungen und  den  ideellen  Einheitspunkt,  auf  den  sie  hinzielen. 
Aber  weit  über  dieses  Einzelbeispiel  hinaus  läßt  sich  verfolgen,  wie  die- 
ser Begriff  von  den  verschiedensten  Seiten  her  in  die  Sprachbetrachtung 
eindringt.  Schon  im  England  des  ausgehenden  17.  und  des  18.  Jahrhun- 
derts ist  die  empirisch-psychologische  Beschreibung  und  Erklärung  gei- 
stiger Vorgänge,  die  sie  in  ihre  einzelnen  sinnlichen  und  materialen 
Faktoren  aufzulösen  sucht,  keineswegs  alleinherrschend,  sondern  es  steht 
ihr  eine  andere  Anschauung  gegenüber,  die  auf  die  „Form"  dieser  Vor- 
gänge gerichtet  ist  und  die  diese  Form  in  ihrer  ursprünglichen  und  un- 
zerlegbaren Ganzheit  zu  erfassen  strebt.  Ihren  systematisch-philoso- 
phischen Mittelpunkt  hat  diese  Anschauung  im  englischen  Piatonismus, 
bei  Gudworth  und  den  Denkern  der  Schule  von  Cambridge,  gefunden; 
ihre  vollendete  literarische  Darstellung  hat  sie  bei  Shaftesbury  er-< 
reicht.  Aller  äußeren  Bildung  des  sinnlichen  Daseins  —  das  ist  die  ge- 
meinsame Grundüberzeugung  Shaftesburys  und  des  englischen  Plato- 
1  Diderot,  Lettre  sur  les  sourds  et  muets  (Oeuvres,  ed.  Naigeon,  Paris  1798,  II,  322 f.). 

<5*  83 


nismus  —  müssen  bestimmte  innere  Maße  (interior  numbers)  zugrunde 
liegen  —  denn  die  Form  kann  niemals  aus  dem  Stoff  erzeugt  werden, 
sondern  sie  ist  und  besteht  als  ungewordene  und  unvergängliche,  als  rein 
ideelle  Einheit,  die  der  Vielheit,  indem  sie  sich  ihr  aufprägt,  erst  ihre 
bestimmte  Gestalt  verleiht.  Diese  inneren  und  geistigen  Maße,  nicht  die 
zufällige  Existenz  und  die  zufällige  Beschaffenheit  der  empirischen 
Dinge,  ist  es,  die  der  echte  Künstler  in  seinem  Werk  darstellt.  Ein  sol- 
cher Künstler  ist  in  der  Tat  ein  zweiter  Schöpfer,  ein  wahrer  Prometheus 
unter  Jupiter.  „Gleich  jenem  höchsten  Künstler  oder  der  allgemeinen 
bildenden  Natur  formt  er  ein  Ganzes,  das  in  sich  selbst  zusammenhängend 
und  wohlgegliedert  ist,  mit  richtiger  Unterordnung  aller  Teile,  die  es 
konstituieren  .  .  .  Der  geistige  Künstler,  der  so  den  Schöpfer  nachzu- 
ahmen vermag  und  der  so  die  innere  Form  und  den  Bau  seiner  Mitge- 
schöpfe kennt,  wird  auch  sich  selbst  und  jene  Zahlen  und  Maße,  die  die 
Harmonie  eines  Geistes  ausmachen,  nicht  verkennen."  Was  schon  die  Be- 
trachtung jedes  natürlichen  organischen  Körpers  uns  offenbart,  das  wird 
zur  unwiderleglichen  Gewißheit,  sobald  wir  auf  unser  eigenes  Ich,  auf 
die  Einheit  unseres  Bewußtseins  hinblicken :  daß  jedes  wahrhafte,  in  sich 
beständige  Sein  seine  Gestalt  nicht  von  den  Teilen  empfängt,  sondern  daß 
es  als  geformtes  Ganze  vor  aller  Teilung  ist  und  wirkt.  In  seinem  Ich 
vermag  jeder  von  uns  unmittelbar  ein  individuelles  Formprinzip,  vermag 
er  seinen  eigentümlichen  „Genius"  zu  erfassen,  den  er  sodann,  im  Be- 
sonderen wie  im  Ganzen,  als  die  stets  verschiedene  und  doch  mit  sich 
identische  formgebende  Macht,  als  den  „Genius  des  Universum"  wieder- 
findet. Beide  Gedanken  entsprechen  und  bedingen  einander  —  die  empi- 
rische Subjektivität  drängt,  wahrhaft  verstanden  und  gedeutet,  notwen- 
dig über  sich  selbst  hinaus  und  mündet  in  den  Begriff  des  „allgemeinen 
Geistes"  ein1. 

Was  dieser  ästhetisch-metaphysische  Begriff  der  „inneren  Form"  für 
die  Anschauung  der  Sprache  geleiset  hat —  das  läßt  sich  an  einem  Werke 
deutlich  machen,  das  unmittelbar  aus  dem  Kreise  des  englischen  Neu- 
platonismus  hervorgegangen  ist  und  seine  allgemeine  Weltansicht  deutlich 
widerspiegelt.  Harris'  „Hermes  or  a  philosophical  inquiry  concerning 
universal  grammar"  (1751)  scheint  sich,  wenn  man  den  Gesamtplan  des 
Werkes  betrachtet,  zunächst  noch  ganz  in  den  Bahnen  der  rationalisti- 
schen Sprachlehren  zu  bewegen,  scheint  noch  das  gleiche  Ideal  wie  etwa 
die  „Grammaire  generale  et  raisonnee"  von  Port  Royal  zu  verfolgen.  Auch 

1  S.  Shaftesbury,  Soliloquy  or  Advice  to  an  Author  (Charakteristiks,  ed.  Robertson, 
1900,  I,  i35  f.);  vgl.  bes.  The  Moralists,  sect.  V. 


84 


hier  soll  eine  Grammatik  geschaffen  werden,  die,  ohne  Rücksicht  auf 
die  verschiedenen  Idiome  der  besonderen  Sprachen,  nur  die  universellen, 
für  alle  Sprachen  identischen  Prinzipien  ins  Auge  faßt.  Eine  allgemeine 
Logik  und  eine  allgemeine  Psychologie  sollen  der  Gliederung  des  Sprach- 
stoffs als  Grundlage  dienen  und  diese  Gliederung  als  notwendig  er- 
scheinen lassen.  Wie  z.  B.  die  Vermögen  der  Seele  eine  ursprüngliche 
Zweiteilung  aufweisen  —  wie  dem  Vorstellungsvermögen  das  Begehrungs- 
vermögen gegenübersteht,  so  muß  auch  jeder  sprachlich  geformte  Satz 
entweder  Aussagesatz  oder  Willensäußerung  (a  sentence  of  assertion  or 
a  sentence  of  volition)  sein  —  und  allgemein  ergibt  sich  auf  dieser  Grund- 
lage, daß  die  Frage,  warum  die  Sprache  gerade  diese  und  keine  anderen 
Redeteile,  in  dieser  und  keiner  anderen  Gestalt  und  Zahl  in  sich  schließt, 
sich  eindeutig  und  prinzipiell  beantworten  lassen  müsse.  Merkwürdig  und 
interessant  ist  insbesondere  Harris'  Versuch,  aus  einer  logischen  und 
psychologischen  Analyse  der  Zeitvorstellung  ein  allgemeines  Schema  für 
eine  Darstellung  der  Tempusbildung  des  Verbums  zu  gewinnen1.  Aber 
je  weiter  er  fortschreitet,  um  so  deutlicher  wird  es,  daß  die  Psychologie, 
auf  die  er  sich  für  die  Betrachtung  und  Klassifikation  der  Sprachformen 
stützt,  eine  reine  „Strukturpsychologie"  ist,  die  der  Elementenpsychologie 
des  Sensualismus  aufs  schärfste  entgegengesetzt  ist.  In  seiner  Ver- 
teidigung der  „allgemeinen  Ideen"  gegen  ihre  empiristischen  Kritiker 
knüpft  Harris  unmittelbar  an  die  Schule  von  Cambridge  an2.  „Was  mich 
betrifft  —  so  bemerkt  er  —  so  ist  es  mir  immer,  wenn  ich  die  Einzel- 
heiten über  Sensation  und  Reflexion  lese  und  wenn  man  mich  im  ganzen 
über  den  Vorgang  der  Entstehung  meiner  Ideen  belehrt,  als  wenn  ich  die 
menschliche  Seele  gleich  einem  Schmelztiegel  betrachten  sollte,  in  dem 
durch  eine  Art  logischer  Chemie  Wahrheiten  hervorgebracht  werden  — 
Wahrheiten,  die  also  ebenso  wie  irgend  eine  Pille  oder  ein  Elixier,  als 
unsere  eigenen  Geschöpfe  angesehen  werden3."  Dieser  Anschauung  der 
Erzeugung  der  „Form"  aus  der  „Materie"  stellt  er  seine  eigene  gegen- 
über, die,  gestützt  auf  Piaton  und  Aristoteles,  den  durchgängigen  Primat 
der  Form  vertritt.  Allen  sinnlichen  Formen  müssen  reine  intelligible  For- 
men zugrunde  liegen,  die  „früher"  als  die  sinnlichen  sind4.  Und  in  diesem 
Zusammenhang  greift  Harris,  der  als  Neffe  Shaftesburys  seinem  Ge- 

1  Harris,  Hermes  3d  edition,  London,  1771,  B.  I,  chap.  6.  (S.  97  ff.);  zum  Früheren 
s.  bes.  B.  I,  Gh.  2,  S.  17  ff.;  Gh.  3,  S.  24  ff. 

2  A.  a.  0.  B.  III,  ch.  4,  S.  35o  ff.  —  zu  vergleichen  mit  Cudworth,  The  true  Intellec- 
tual  System  of  the  Universe,  London  1678,  B.  I.,  ch.  4- 

3  A.a.  O.B.III,  ch.  5,S.  4<>4f. 
*  ibid.  B.  III,  ch.  4,S.  38off. 


85 


dankenkreis  wohl  auch  persönlich  von  früh  an  nahe  stand,  auf  den  Zen- 
tralbegriff Shaftesburys,  auf  den  Begriff  des  „Genius*'  zurück.  Jede 
nationale  Sprache  hat  ihren  eigenen  Sprachgeist;  jede  schließt  ein  eigen- 
tümliches formgebendes  Prinzip  in  sich.  „Wir  müssen  darauf  achten, 
wie  die  Nationen,  gleich  den  Einzelnen,  ihre  besonderen  Ideen  haben, 
wie  diese  besonderen  Ideen  der  Genius  ihrer  Sprache  werden,  da  das 
Symbol  seinem  Urbild  entsprechen  muß,  wie  daher  die  weisesten  Na- 
tionen, da  sie  die  meisten  und  besten  Ideen  besitzen,  auch  die  vollkom- 
mensten und  reichsten  Sprachen  haben."  Wie  es  daher  eine  Natur,  einen 
Genius  des  römischen,  des  griechischen,  des  englischen  Volkes  gibt,  so 
gibt  es  auch  einen  Genius  der  lateinischen,  der  griechischen  und  der  eng- 
lischen Sprache1.  Hier  tritt  —  in  dieser  Bestimmtheit  vielleicht  zum 
erstenmal  —  die  neue  Fassung  des  Begriffs  des  „Sprachgeistes"  hervor, 
die  fortan  die  gesamte  philosophische  Betrachtung  beherrscht.  Wie  dieser 
Begriff  in  die  deutsche  Geistesgeschichte  eindringt  und  wie  er  hier  all- 
mählich sein  geistiges  und  sprachliches  Bürgerrecht  gewinnt,  das  läßt 
sich  an  der  meisterhaften  Darstellung,  die  Rudolf  Hildebrand  in  den 
beiden  Artikeln  ,Geist'  und  ,Genie'  des  Grimmschen  Wörterbuchs  ge- 
geben hat,  Schritt  für  Schritt  verfolgen2.  Von  Shaftesbury  und  Harris  zu 
Hamann  und  Herder  führt  hier  ein  direkter  Weg.  Hamann  schreibt  schon 
im  Jahre  1768  an  Herder  nach  Riga,  daß  er  für  ihn  bei  seinem  Verleger 
den  „Hermes"  bestellt  habe:  „ein  Werk,  das  mir  zu  Ihrem  Plane  (der 
Behandlung  der  Sprache  in  den  Fragmenten  über  die  neuere  deutsche 
Literatur)  unentbehrlich  zu  sein  schien"3.  Und  Herder  selbst,  der  sich 
in  seinem  „Kritischen  Wäldchen"  über  den  Laokoon  gegen  Lessing  auf 
Harris'  ästhetische  Theorie  beruft,  weist  auch  auf  dessen  Sprachtheorie 
beständig  zurück.  In  seiner  Vorrede  zu  der  deutschen  Übersetzung  von 
Monboddos  Werk  über  den  Ursprung  und  den  Fortgang  der  Sprache 
spricht  er  es  ausdrücklich  aus,  daß  durch  diesen  wie  durch  Harris  ein 
neuer  sicherer  Weg  der  Sprachbetrachtung  gewiesen  sei:  „Genug  .  .  .  der 
Pfad  ist  gebahnt:  die  Grundsätze  unseres  Autors  und  seines  Freundes 
Harris  dünken  mich  nicht  nur  die  einzig  wahren  und  festen,  sondern 
auch  seine  ersten  Versuche,  mehrere  Sprachen  verschiedener  Völker  auf 
verschiedenen  Stufen  der  Kultur  miteinander  zu  vergleichen,  werden 
immer  Vorarbeiten  eines  Meisters  bleiben.  Und  so  wäre  einmal  (gewiß 
noch  nicht  so  bald)  eine  Philosophie  des  menschlichen  Verstandes 

1  A.a.O.  B.III,  ch.  5,S.  4ogff. 

2  Vgl.  bes.  Grimm,  Deutsch.  Wörterbuch  IV,  I,  2,  Sp.  2727  f.  u.  3/ioi  f . 

3  Hamann  an  Herder  7.  Sept.  1768,  Schriften  (Roth)  III,  386. 


86 


aus  seinem  eigentümlichsten  Werk,  den  verschiedenen  Sprachen  der  Erde, 
möglich1." 

Was  Herder  an  Harris'  Sprachbetrachtung  besonders  anzog,  war  viel- 
leicht der  gleiche  Zug,  auf  den  er  auch  in  seiner  Beurteilung  von 
Harris'  ästhetischer  Theorie  vor  allem  Gewicht  legt.  Der  Aristotelische 
Unterschied  von  egyov  und  evegyeia  war  durch  Harris'  „Dialog  über 
die  Kunst",  auf  den  sich  Herder  schon  in  seiner  frühesten  Erörterung 
ästhetischer  Probleme  in  den  „kritischen  Wäldern"  ausdrücklich  beruft2, 
wieder  in  den  Mittelpunkt  der  Kunsttheorie  gerückt  worden.  Von  hier 
wirkt  er  auch  auf  die  Sprachtheorie  hinüber,  in  der  er  schließlich  durch 
Wilhelm  v.  Humboldt  seine  bestimmteste  Formulierung  und  seine 
streng  systematische  Fassung  erhält.  Die  Sprache  kann  so  wenig  wie  die 
Kunst  als  ein  bloßes  Werk  des  Geistes,  sondern  sie  muß  als  eine  ihm 
eigentümliche  Form  und  „Energie"  gedacht  werden.  Beide  Motive:  die 
„energetische"  Sprachtheorie  und  die  energetische  Kunsttheorie  fanden 
ihre  ideelle  Einigung  wiederum  im  Begriff  des  Genies  und  in  der  cha- 
rakteristischen Entwicklung,  die  er  im  17.  und  18.  Jahrhundert  erfuhr. 
Denn  das  Entscheidende  für  diese  Entwicklung  ist  die  durchgehende  Ten- 
denz, alles  geistige  Sein  auf  den  ursprünglichen  schöpferischen  Prozeß, 
in  dem  es  wurzelt,  alle  „Gebilde"  auf  Grundformen  und  Grundrich- 
tungen des  „Bildens"  zurückzuführen3.  Was  die  Sprache  betrifft,  so 
scheint  auf  den  ersten  Blick  diese  Tendenz  schon  in  jenen  empiristischen 
und  rationalistischen  Theorien  des  Sprachursprungs  wirksam  zu  sein,  die 
sie,  statt  sie  als  ein  göttliches,  mit  einem  Schlage  fertiges  Werk  zu  bei- 
trachten, vielmehr  als  eine  freie  Schöpfung  der  menschlichen  Vernunft 
begreifen  wollen.  Aber  da  die  Vernunft  selbst  hier  durchweg  den  Cha- 
rakter der  subjektiv- willkür liehen  Reflexion  behält,  so  löst  sich  das  Pro- 
blem der  „Bildung"  der  Sprache  alsbald  wieder  in  das  Problem  ihrer 
„Erfindung"  auf.  Es  ist  ein  bewußt-zweckhaftes  Verfahren,  das  der 
Mensch  in  der  Erfindung  der  ersten  Sprachzeichen  und  in  ihrer  Ausge- 
staltung zu  Worten  und  Sätzen  ausübt.  Die  Sprachtheorie  der  franzö- 

1  Vorr.  zur  Übers,  des  Monboddo  (1784),  Suphan  XV,  i83;  in  ähnlicher  Weise  wird 
auch  in  Herders  „Metakritik"  (1799),  Suphan  XXI,  57,  über  Harris  geurteilt.  Den 
Wunsch  eines  deutschen  Auszugs  aus  dem  „Hermes"  hatte  Herder  schon  1772  in  der 
Allg.  Deutsch.  Bibliothek  ausgesprochen,  Suphan  V,  3i5. 

2  S.  Kritische  Wälder  III,  19  (Suphan  Bd.  III,  S.  iögff.)  im  Anschluß  an  Harris' 
Three  treatises  the  first  concerning  art,  the  second  concern.  music,  painting  and  poetry  etc. 
London  1744- 

3  Vgl.  hrz.  m.  Schrift  Freiheit  und  Form,  Studien  zur  deutschen  Geistesgeschichte, 
bes.  Cap.  2  u.  4- 


87 


sischen  Aufklärung  liebt  es,  diesen  allmählichen  Fortschritt  der  Sprache 
mit  dem  methodischen  Aufbau,  den  der  Geist  in  der  Wissenschaft,  ins- 
besondere in  der  Mathematik  vollzieht,  unmittelbar  zu  vergleichen  und  in 
Parallele  zu  stellen.  Für  Gondillac  sind  alle  Einzelwissenschaften,  zu 
denen  der  menschliche  Geist  gelangt,  nur  die  Fortsetzung  desselben  Pro- 
zesses der  Analyse  der  Ideen,  der  mit  der  menschlichen  Sprachbildung 
beginnt.  Neben  die  anfängliche  Sprache  der  Lautzeichen  tritt  eine  Sprache, 
die  sich  allgemeiner,  insbesondere  arithmetischer  und  algebraischer  Sym- 
bole bedient;  neben  die  Sprache  der  Worte  tritt  die  „Sprache  des  Cal- 
culs":  aber  in  beiden  waltet  dasselbe  Prinzip  der  Zergliederung,  der  Ver- 
knüpfung und  Ordnung  der  Vorstellungen.  Wie  die  Wissenschaften  in 
ihrer  Gesamtheit  nichts  anderes  als  wohlgeordnete  Sprachen  (Langues 
bien  faites)  sind  —  so  ist  andererseits  unsere  Wort-  und  Lautsprache 
nichts  anderes  als  die  erste  Wissenschaft  des  Seienden,  als  die  erste  Äuße- 
rung jenes  Urtriebs  der  Erkenntnis,  der  vom  Zusammengesetzten  zum 
Einfachen,  vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  strebt1.  Maupertuis  hat  in 
seinen  „philosophischen  Reflexionen  über  den  Ursprung  der  Sprachen" 
versucht,  den  Weg,  den  die  Sprache  hierbei  einschlägt,  im  einzelnen  zu 
verfolgen;  zu  zeigen,  wie  sie  von  ihren  ersten  primitiven  Anfängen  an,  in 
denen  sie  nur  über  wenige  Bezeichnungen  komplexer  sinnlicher  Vorstel- 
lungen verfügte,  durch  immer  weitergehende  bewußte  Vergleichung  und 
bewußte  Unterscheidung  der  Teile  dieser  Vorstellungen  zu  einem  all- 
mählich immer  reicheren  Schatz  von  Benennungen,  von  Wortformen  und 
Redeteilen,  gelangt  ist2.  Dieser  Ansicht  der  Sprache,  die  sie  in  die  Sphäre 
einer  abstrakten  Verständigkeit  bannt,  stellt  Herder  eine  neue  Anschau- 
ung der  „Sprachvernunft"  gegenüber.  Abermals  tritt  hier  in  über- 
raschender Schärfe  der  tiefe  Zusammenhang  der  geistigen  Grundprobleme 
zutage:  denn  der  Kampf,  der  jetzt  einsetzt,  entspricht  Zug  für  Zug  dem 
Kampf,  den  auf  dem  Gebiet  der  Kunst  Lessing  gegen  Gottsched  und 
gegen  den  französischen  Klassizismus  geführt  hatte.  Auch  die  Gebilde  der 
Sprache  sind  im  höchsten  Sinn  „regelmäßig",  ohne  daß  sie  doch  aus 
einer  objektiven  begrifflichen  Regel  abgeleitet  und  an  ihr  gemessen  wer- 
den könnten.  Auch  sie  sind,  vermöge  der  Übereinstimmung  aller  Teile  zu 
Einem  Ganzen,  durch  und  durch  zweckmäßig  gebildet  —  aber  es  waltet 
in  ihnen  jene  „Zweckmäßigkeit  ohne  Zweck",  die  alle  bloße  Willkür 
und  alle  bloß  subjektive  „Absicht"  ausschließt.  In  der  Sprache  wie  in 

1  Condillac,  La  langue  des  calculs,  Oeuvr.,  Paris  1798,  Vol.  a3. 

2  Reflexions  philosophiques  sur  l'origine  des  langues  et  la  signification  des  mots,  Oeuvres, 
Lyon  1756,  I,  a5gff. 


88 


der  Schöpfung  des  Kunstwerkes  durchdringen  sich  daher  die  Momente, 
die  in  der  bloß  verstandesmäßigen  Reflexion  einander  fliehen,  zu  einer 
neuen  Einheit  —  zu  einer  Einheit,  die  zunächst  freilich  nur  ein  Problem, 
nur  eine  neue  Aufgabe  vor  uns  hinstellt.  Die  Gegensätze  von  Freiheit 
und  Notwendigkeit,  von  Individualität  und  Allgemeinheit,  von  „Subjek- 
tivität" und  „Objektivität",  von  Spontaneität  und  Bindung  mußten  selbst 
erst  eine  tiefere  Bestimmung  und  eine  neue  prinzipielle  Klärung  erfahren, 
ehe  sie  als  philosophische  Kategorien  für  die  Erklärung  des  „Ursprungs 
des  Kunstwerks"  und  des  „Ursprungs  der  Sprache"  gebraucht  werden 
konnten. 

IV 

Die  empiristischen  und  die  rationalistischen,  die  psychologischen  und 
die  logischen  Theorien  der  Sprache  stimmen  in  der  Fassung,  in  der  sie  uns 
bisher  entgegengetreten  sind,  trotz  aller  inneren  Gegensätzlichkeit,  doch 
in  einem  Grundzuge  überein.  Sie  betrachten  die  Sprache  wesentlich 
nach  ihrem  theoretischen  Gehalt:  nach  ihrer  Stellung  im  Ganzen  der 
Erkenntnis  und  nach  dem,  was  sie  für  den  Aufbau  der  Erkenntnis  leistet. 
Mag  sie  als  unmittelbares  Werk  der  Vernunft  und  als  ihr  unentbehrliches 
Organ  aufgefaßt  werden  oder  mag  das  Wort  als  eine  bloße  Hülle  gelten, 
das  uns  die  Grundinhalte  der  Erkenntnis,  die  eigentlichen  „Urperzep- 
tionen"  des  Geistes  verdeckt:  immer  wird  als  das  Ziel  der  Sprache,  an 
dem  sich  ihr  positiver  oder  negativer  Wert  bestimmt,  das  theoretische 
Wissen  und  der  Ausdruck  dieses  Wissens  angesehen.  Die  Worte  sind 
Zeichen  der  Ideen  —  wobei  die  letzteren  entweder  als  objektive  und  not- 
wendige Erkenntnisinhalte  oder  als  subjektive  „Vorstellungen"  gefaßt 
werden.  Je  mehr  indessen  der  Begriff  der  „Subjektivität",  den  die  neuere 
Philosophie  fortschreitend  erarbeitet,  sich  weitet  und  vertieft  —  je  deut- 
licher aus  ihm  eine  neue  wahrhaft  universelle  Auffassung  der  Spon- 
taneität des  Geistes  erwächst,  die  sich  gleich  sehr  als  Spontaneität  des 
Gefühls  und  des  Willens,  wie  als  solche  der  Erkenntnis  erweist,  um  so 
entschiedener  muß  jetzt  auch  in  der  Leistung  der  Sprache  ein  anderes 
Moment  hervorgehoben  werden.  Die  Sprache  scheint  gerade,  wenn  wir  sie 
zu  ihren  frühesten  Anfängen  zurückzuverfolgen  suchen,  nicht  lediglich 
repräsentatives  Zeichen  der  Vorstellung,  sondern  emotionales  Zeichen  des 
Affekts  und  des  sinnlichen  Triebes  zu  sein.  Schon  die  antike  Theorie 
kennt  diese  Ableitung  der  Sprache  aus  dem  Affekt,  aus  dem  jid&os  der 
Empfindung  und  der  Lust  und  Unlust.  In  diesen  dem  Menschen  und  den 
Tieren  gemeinsamen  und  somit  wahrhaft  „natürlichen"  Urgrund  müssen 


«9 


wir  nach  Epikur  zurückgehen,  um  den  Ursprung  der  Sprache  zu  be- 
greifen. Diese  ist  nicht  das  Werk  einer  bloßen  Konvention,  einer  willkür- 
lichen Satzung  und  Vereinbarung,  sondern  gleich  notwendig  und  gleich 
natürlich,  wie  die  unmittelbare  Empfindung  selbst.  Wie  das  Sehen  und 
Hören,  das  Lust-  und  Schmerzgefühl  dem  Menschen  von  Anfang  an  eigen 
ist,  so  ist  es  auch  die  Äußerung,  die  sich  an  unsere  sinnlichen  Empfindungen 
und  Gefühle  anknüpft.  So  mußten  in  demselben  Maße,  wie  die  Empfin- 
dungen der  Menschen  verschieden  waren,  wie  sie  je  nach  der  Verschieden- 
heit ihrer  physischen  Organisation  und  nach  geistigen  und  ethnischen 
Differenzen  wechselten,  wechselnde  Laute  entstehen,  die  erst  allmählich, 
zum  Zwecke  der  Vereinfachung  und  der  wechselseitigen  Verständigung, 
auf  allgemeinere  Wort-  und  Sprach  typen  zusammengezogen  wurden1. 
In  der  gleichen  Weise  wird  von  Lukrez  das  angebliche  Wunder  der 
Spracherzeugung  auf  die  allgemeinen  und  besonderen  Gesetze  der  mensch- 
lichen Natur  zurückgeführt.  Die  Sprache  entwickelt  sich  als  ein  besonderes 
Gebiet  aus  dem  allgemeinen  Trieb  zum  sinnlich-mimischen  Ausdruck, 
der  dem  Menschen  an-  und  eingeboren  ist,  der  ihm  nicht  als  Werk  der 
Überlegung,  sondern  unbewußt  und  ungewollt  innewohnt2. 

Die  Philosophie  der  neueren  Zeit  greift,  wie  in  der  Naturphilosophie 
und  in  der  Erkenntnistheorie,  so  auch  in  der  Sprachtheorie  wieder  auf 
Epikur  zurück.  Im  siebzehnten  Jahrhundert  erfährt  die  alte  „Naturlaut- 
theorie" insbesondere  bei  demjenigen  Denker,  der  zuerst  einen  um- 
fassenden systematischen  Entwurf  der  Geisteswissenschaften  gewagt 
hat,  eine  höchst  merkwürdige,  nach  Form  und  Begründung  gleich  origi- 
nelle Erneuerung.  Giambattista  Vico  stellt  in  seinen  „Principi  di  scienza 
nuova  d'intorno  alla  commune  natura  delle  nazioni"  das  Sprachproblem 
in  den  Umkreis  einer  allgemeinen  Metaphysik  des  Geistes.  Von  der  „poe- 
tischen Metaphysik",  die  den  Ursprung  der  Dichtkunst,  sowie  den  des 
mythischen  Denkens  enthüllen  soll,  dringt  er  durch  das  Mittelglied  der 
„poetischen  Logik",  in  der  die  Genesis  der  dichterischen  Tropen  und 
Gleichnisse  erkannt  werden  soll,  zur  Frage  nach  dem  Ursprung  der 
Sprache  vor,  die  ihm  gleichbedeutend  mit  der  Frage  nach  dem  Ursprung 
der  „Literatur",  der  Wissenschaften  überhaupt  ist.  Auch  er  verwirft  die 

1  Vgl.  Diogenes  Laertius,  Lib.  X,  sect.  il\  %  o&sv  xai  xa  dvö/xaxa  ägxys  M  ~&sosi 
ysveodat,  äXXy  avxdg  rag  qpvoscg  xcöv  är&Qcbjioov,  Haft'  s'xaoxa  s'&vrj  l'dia  7iao%ovoag  nä^rj 
xai  i'Sia  Xapßavovoag  cpavxdofxaxa,  tdicog  xbv  dsga  exjie[xtieiv ,  oxsXX6[xevov  vq>'  ixäoxcov 
xwv  jiaficbv  xai  xcöv  (pavrao/xäxcov,  oog  av  jzoxe  xai  Jiaga  xovg  xöjiovg  xoov  iftvcov  diaqpoga 
elr] '  voxeqov  ds  xoivoog  xa$'  sxaoxa  fflvt)  xa  i'Sta  xr&rjvai,  JiQog  xo  xdg  drjXobosig  rjxxov  ä[i- 
cpißöXovg  yeveo&ai  dXXrjXoig  xai  ovvxofAWXEQOog  drjXovfXEvag. 

2  S.  Lucret.  De  rerum  natura,  lib.  V,  i02Öff. 

90 


Lehre,  daß  die  Urworte  der  Sprache  lediglich  auf  konventionelle  Set- 
zungen zurückgingen;  auch  er  fordert  zwischen  ihnen  und  ihren  Bedeu- 
tungen einen  „natürlichen"  Zusammenhang.  Wenn  die  gegenwärtige 
Phase  der  Sprachentwicklung,  wenn  unsere  „Lingua  volgare"  diesen 
Zusammenhang  nicht  mehr  erkennen  läßt,  so  hat  dies  keinen  anderen 
Grund,  als  daß  sie  sich  von  ihrem  eigentlichen  Urquell,  von  der  Sprache 
der  Götter  und  Heroen,  mehr  und  mehr  entfernt  hat.  Aber  selbst  in  der 
heutigen  Verdunklung  und  Zersplitterung  enthüllt  sich  dem  wahrhaft 
philosophischen  Blick  noch  die  ursprüngliche  Verknüpfung  und  Ver- 
wandtschaft der  Worte  mit  dem,  was  sie  bedeuten.  Da  fast  alle  Worte  von 
natürlichen  Eigenschaften  der  Dinge  oder  von  sinnlichen  Eindrücken  und 
Gefühlen  hergenommen  sind,  so  ist  die  Idee  eines  geistigen  „Universal- 
wörterbuches", das  die  Bedeutungen  der  Worte  in  allen  verschiedenen 
artikulierten  Sprachen  aufweist  und  sie  sämtlich  auf  eine  ursprüngliche 
Einheit  der  Ideen  zurückführt,  nicht  vermessen.  Die  eigenen  Versuche, 
die  Vico  in  dieser  Richtung  unternimmt,  zeigen  freilich  noch  die  ganze 
naive  Willkür  einer  rein  spekulativen  „Etymologie",  die  durch  kritische 
oder  historische  Rücksichten  in  keiner  Weise  eingeschränkt  wird1.  Alle 
Urworte  waren  einsilbige  Wurzeln,  die  entweder  einen  objektiven  Natur- 
laut onomatopoetisch  wiedergaben,  oder  die  als  reine  Empfindungslaute 
der  unmittelbare  Ausdruck  eines  Affekts,  eine  Interjektion  des  Schmerzes 
oder  der  Lust,  der  Freude  oder  der  Trauer,  der  Verwunderung  oder  des 
Schrecks,  waren2.  Einen  Beleg  für  diese  seine  Theorie  der  Urworte,  als 
einfacher  und  einsilbiger  Interjektionslaute,  findet  Vico  z.  B.  in  der 
deutschen  Sprache,  die  er  —  wie  später  Fichte  —  als  eine  eigentliche 
Ursprache,  als  eine  Lingua  madre  ansieht,  weil  die  Deutschen,  die  nie- 
mals von  fremden  Eroberern  beherrscht  worden  seien,  den  Charakter 
ihrer  Nation  und  ihrer  Sprache  von  alters  her  rein  bewahrt  hätten.  An 
die  Bildung  der  Interjektionen  schließt  sich  ihm  sodann  die  der  Prono- 

1  Wie  sehr  diese  naive  Auffassung  des  Sinnes  und  der  Aufgabe  der  „Etymologie"  noch 
im  18.  Jahrhundert  in  der  Sprachwissenschaft  selbst  verbreitet  war,  zeigt  z.B.  die 
Rekonstruktion  der  Ursprache,  die  in  der  berühmten  holländischen  Philologenschule, 
bei  Hemsterhuis  und  Ruhnken  versucht  wurde.  Näheres  hierüber  bei  Benfey, 
Gesch.  der  Sprachwissenschaft,  S.  255  ff . 

2  Vgl.  hrz.  das  charakteristische  Beispiel  in  Vi  cos  Scienza  nuova  Lib.  II:  Deila  Sapienza 
poetica  (edit.  Napoli  1811,  Vol.  II,  7of.):  „Seguitarono  a  formarsi  le  voci  umane  con 
Vinter jezione,  che  sono  voci  articolate  all  empito  di  passoni  violente,  che  'n  tutte  le 
lingue  sono  monosillabe.  Onde  non  e  fuori  del  verisimile,  che  da  primi  fulmini  inco- 
miniciata  a  destarsi  negli  uomini  la  maraviglia,  nascesse  la  prima  Inter jezione  da  quella 
di  Giove,  formata  con  la  voce  pa,  e  che  poi  restö  raddoppiata  pape,  Interjezione  di 
maraviglia;  onde  poi  nacque  a  Giove  il  titolo  di  Padre  degli  uomini  e  degli  Dei"  etc. 


91 


mina  und  Partikeln  an,  die  gleichfalls  in  ihrer  Grundgestalt  auf  lauter 
einsilbige  Wurzeln  zurückführen  —  dann  hätten  sich  die  Nomina  und 
erst  aus  diesen,  als  die  letzte  Schöpfung  der  Sprache,  die  Verba  entwickelt, 
wie  sich  denn  noch  heute  in  der  Kindersprache  und  in  Fällen  pathologi- 
scher Sprachstörungen  der  Vorrang  der  Nomina  vor  den  Verba  und  die 
Zugehörigkeit  der  ersteren  zu  einer  früheren  Sprachschicht  deutlich  er- 
kennen lasse1. 

So  barock  und  seltsam  diese  Theorie  erscheinen  mag,  wenn  man  sie 
lediglich  in  ihren  Einzelausführungen  betrachtet,  so  enthielt  sie  doch  für 
die  Gesamtauffassung  der  Sprache  einen  wichtigen  und  fruchtbaren  Keim. 
An  die  Stelle  der  gleichsam  statischen  Beziehung  zwischen  Laut  und  Be- 
deutung war  hier  eine  dynamische  getreten:  die  Sprache  wurde  auf  die 
Dynamik  des  Sprechens,  diese  letztere  selbst  aber  wieder  auf  die  Dynamik 
des  Gefühls  und  des  Affekts  zurückgeführt.  Je  entschiedener  das  acht- 
zehnte Jahrhundert  die  Sonderstellung  des  Gefühls  betonte,  je  mehr  es 
darauf  hindrängte,  in  ihm  die  eigentliche  Gründlage  und  die  schöpfe- 
rische Urpotenz  des  Geistigen  anzunehmen,  um  so  mehr  sah  es  sich  daher, 
in  der  Theorie  des  Sprachursprungs,  auf  Vicos  Lehre  zurückgewiesen. 
Es  ist  daher  kein  Zufall,  daß  Rousseau  es  war,  der  diese  Lehre  zunächst 
aufnahm  und  der  sie  im  einzelnen  auszubauen  versuchte2.  In  einem  an- 
deren und  tieferen  Sinne  aber  wirkten  die  Anschauungen  Vicos  bei  dem 
Manne  weiter,  der  von  allen  Denkern  des  achtzehnten  Jahrhunderts  seiner 
symbolischen  Metaphysik  und  seiner  symbolischen  Geschichtsauffassung 
am  nächsten  steht  und  der  gleich  ihm  die  Poesie  als  die  Muttersprache 
des  menschlichen  Geschlechts  betrachtet.  So  sehr  dieser  Denker,  so  sehr 
Joh.  Georg  Hamann  für  den  Ausdruck  seiner  Grundanschauung  jede 
rationale  Form  der  Begründung  verschmäht  und  so  sehr  seine  Lehre  aller 
verstandesmäßigen  Systematik  zu  spotten  scheint:  so  sehr  formt  sie  sich 
ihm  andererseits,  indem  er  alle  ihre  Teile  immer  wieder  auf  das  eine 
Grundproblem  der  Sprache  bezieht,  zu  einem  gleichsam  ungewollten  im- 
manenten System.  Hier  findet  Hamanns  Denken,  das  beständig  in  Gefahr 
steht,  sich  dem  Zuge  des  unmittelbaren  Gefühls  und  des  augenblicklichen 
Eindrucks  zu  überlassen  und  sich  damit  ins  Partikulare,  ins  Zufällige  und 
Peripherische  zu  verlieren,  von  Anfang  an  einen  bestimmten  Mittelpunkt, 
den  es  nicht  sowohl  fixiert,  als  beständig  umkreist.  „Bei  mir",  —  so  be- 
tont er  selbst  —  „ist  weder  von  Physik,  noch  Theologie  die  Rede,  sondern 

1  a.  a.O.,  Vol.  II,  S.73f. 

2  S.  Rousseaus  Essai  sur  l'origine  des  langues  (zuerst  als  posthume  Schrift  1782 
erschienen). 


92 


Sprache  die  Mutter  der  Vernunft  und  der  Offenbarung,  ihr  A  und  Q." 
„Wenn  ich  auch  so  beredt  wäre,  wie  Demosthenes,  so  würde  ich  doch  nicht 
mehr  als  ein  einziges  Wort  dreimal  wiederholen  müssen:  Vernunft  ist 
Sprache,  Xoyog.  An  diesem  Markknochen  nage  ich  und  werde  mich  zu 
Tode  darüber  nagen.  Noch  bleibt  es  immer  finster  über  dieser  Tiefe  für 
mich;  ich  warte  noch  immer  auf  einen  apokalyptischen  Engel  mit  einem 
Schlüssel  für  diesen  Abgrund1."  Hier  erschließt  sich  für  Hamann  das 
eigentliche  Wesen  der  Vernunft  in  seiner  Einheit  und  in  seiner  inneren 
Gegensätzlichkeit.  „Was  Demosthenes  actio,  Engel  Mimik,  Batteux  Nach- 
ahmung der  schönen  Natur  nennt,  ist  für  mich  Sprache,  das  Organon 
und  Griterion  der  Vernunft,  wie  Young  sagt.  Hier  liegt  reine  Vernunft 
und  zugleich  ihre  Kritik2. ' '  Aber  eben  dieses  Sein,  an  dem  sich  für  uns  der 
göttliche  Logos  unmittelbar  zu  offenbaren  scheint,  verschließt  sich  an- 
dererseits all  dem,  was  wir  in  unserer  Sphäre  mit  dem  Namen  der  „Ver- 
nunft" bezeichnen.  Für  die  Sprache  gilt,  wie  für  die  Geschichte,  daß  sie, 
„gleich  der  Natur  ein  versiegelt  Buch,  ein  verdecktes  Zeugnis,  ein  Rätsel 
ist,  das  sich  nicht  auflösen  läßt,  ohne  mit  einem  anderen  Kalbe,  als 
unserer  Vernunft,  zu  pflügen3."  Denn  die  Sprache  ist  keine  Sammlung 
diskursiver  konventioneller  Zeichen  für  diskursive  Begriffe,  sondern  sie 
ist  das  Symbol  und  Widerspiel  des  gleichen  göttlichen  Lebens,  das  uns 
überall  sichtbar-unsichtbar,  geheimnisvoll  und  offenbar  umgibt.  Wie 
für  Heraklit,  so  ist  daher  für  Hamann  in  ihr  alles  zugleich  Äußerung  und 
Entäußerung,  Enthüllung  und  Verhüllung.  Die  gesamte  Schöpfung,  die 
Natur  wie  die  Geschichte,  ist  nichts  anderes  als  eine  Rede  des  Schöpfers 
an  die  Kreatur  durch  die  Kreatur.  „Es  gehört  zur  Einheit  der  göttlichen 
Offenbarung,  daß  der  Geist  Gottes  sich  durch  den  Menschengriffel  der 
heiligen  Männer,  die  von  ihm  getrieben  worden,  eben  so  erniedrigt  und 
seiner  Majestät  entäußert,  als  der  Sohn  Gottes  durch  die  Knechts- 
gestalt, und  wie  die  ganze  Schöpfung  ein  Werk  der  höchsten  Demut  ist. 
Den  allein  weisen  Gott  in  der  Natur  bloß  bewundern,  ist  vielleicht  eine 
ähnliche  Beleidigung  mit  dem  Schimpf,  den  man  einem  vernünftigen 
Mann  erweist,  dessen  Wert  nach  seinem  Rock  der  Pöbel  schätzt."  „Die 
Meinungen  der  Weltweisen  sind  Lesarten  der  Natur  und  die  Setzungen  der 
Gottesgelehrten  Lesarten  der  Schrift.  Der  Autor  ist  der  beste  Ausleger 
seiner  Worte;  er  mag  durch  Geschöpfe  —  durch  Begebenheiten  —  oder 

1  Hamann  an  Jacobi,  Briefwechsel  mit  Jacobi,  hg.  von  Gildemeister,  Gotha  1868, 
S.  122;  an  Herder  (6.  August  1784),  Schriften  (Roth)  VII,  i5i  f. 
«An  Scheffner,  1 1.  Febr.  i785,  Schriften  (Roth)  VII,  216. 
3  Sokrat.  Denkwürdigkeiten,  Schriften  II,  19. 


93 


durch  Blut  und  Feuer  und  Rauchdampf  reden,  worin  die  Sprache  des 
Heiligtums  besteht  .  .  .  Die  Einheit  des  Urhebers  spiegelt  sich  bis  in  dem 
Dialekte  seiner  Werke;  —  in  allen  Ein  Ton  von  unermeßlicher  Höhe 
und  Tiefe1." 

Aber  in  diese  Tiefe,  in  der  es  für  Hamann  nach  seinem  eigenen  Be- 
kenntnis immer  dunkel  blieb,  fällt  nun  für  Herder  ein  neues  Licht.  Für 
die  allgemeine  Geistesgeschichte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  ist  Herders 
Preisschrift  über  den  Ursprung  der  Sprache  vor  allem  auch  dadurch  ent- 
scheidend geworden,  weil  hier  die  schärfsten  Gegensätze,  die  sich  bisher 
in  der  Auffassung  und  Auslegung  des  geistigen  Seins  und  Wirkens  gegen- 
überstanden, eine  ganz  neue  methodische  Vermittlung  fanden.  Wie 
Herder  auf  Hamann  fußt,  so  war  er  in  der  Epoche,  die  der  Preisschrift 
vorangeht,  der  Schüler  Kants  und  durch  diesen  mittelbar  der  Schüler 
von  Leibniz  geworden.  Von  der  Abhandlung  „vom  Erkennen  und  Emp- 
finden der  menschlichen  Seele",  deren  Konzeption  und  Ausarbeitung  der 
Preisschrift  unmittelbar  nahe  liegt,  sagt  Haym,  daß  sie  der  Geist  der 
Leibnizischen  Philosophie  von  einem  Ende  bis  zum  anderen  durchwehe, 
ja  daß  sie  nichts  als  eine  Summe  dieser  Philosophie  im  Widerschein  des 
Herderschen  Geistes  sei2.  Wie  aber  waren  in  der  Auffassung  der  Sprache 
die  beiden  äußersten  Gegenpole,  wie  waren  Hamann  und  Leibniz  mitein- 
ander zu  vereinen?  Wie  ließ  sich  die  Anschauung,  die  in  der  Sprache  die 
höchste  Leistung  analytischer  Denkkraft,  das  eigentliche  Organ  zur  Bil- 
dung „distinkter"  Begriffe  sah,  mit  jener  anderen  verknüpfen,  nach  der 
ihr  Ursprung  aller  Reflexion  des  Verstandes  entrückt  und  in  das  Dunkel 
des  Gefühls  und  seiner  unbewußten  poetischen  Schöpferkraft  zurückver- 
legt wurde?  Hier  setzt  Herders  Frage  und  mit  ihr  seine  neue  Lösung  des 
Sprachproblems  ein.  Wenn  alle  Sprache  im  Gefühl  und  in  seinen  un- 
mittelbar-triebhaften Äußerungen  wurzelt,  wenn  sie  nicht  vom  Bedürfnis 
der  Mitteilung,  sondern  vom  Geschrei,  von  Tönen,  von  wilden  artikulier- 
ten Lauten  ihren  Ausgang  nimmt  —  so  macht  doch  ein  solcher  Inbegriff 
von  Lauten  niemals  das  Wesen,  niemals  die  eigentliche  geistige  „Form" 
der  Sprache  aus.  Diese  Form  entsteht  erst,  indem  eine  neue  „Grundkraft 
der  Seele",  die  den  Menschen  von  Anfang  an  vom  Tier  scheidet,  sich  wirk- 
sam erweist.  In  der  Darstellung,  die  er  von  dieser  spezifisch  menschlichen 

1  Kleeblatt  hellenistischer  Briefe,  Schriften  II,  207.  Aesthetica  in  nuce  (Sehr.  II,  2r][[i.): 
zur  Sprachtheorie  Hamanns  und  ihrer  Stellung  im  Ganzen  seiner  symbolischen  Welt- 
ansicht"; vgl.  bes.  die  ausgezeichnete  Darstellung  R.  Ungers,  Hamanns  Sprachtheorie 
im  Zusammenhange  seines  Denkens,  München  igo5. 

2  Haym,  Herder,  I,  665. 


94 


Grundkraft  der  „Besonnenheit"  gibt,  und  in  der  Rolle,  die  er  ihr  zuweist, 
knüpft  Herder  ersichtlich  überall  an  jenen  Grundbegriff  an,  der 
Leibniz'  Logik  mit  seiner  Psychologie  verbindet.  Die  Einheit  des  Be- 
wußtseins ist  nach  Leibniz  nur  durch  die  des  geistigen  Tuns,  nur 
durch  die  Einheit  der  Verknüpfung  möglich,  in  der  der  Geist  sich 
selbst  als  beharrliche  und  identische  Monas  erfaßt  und  in  der  er  ferner 
ein  und  denselben  Inhalt,  wenn  er  ihm  zu  verschiedenen  Zeiten  entgegen- 
tritt, als  ein  und  dasselbe  Wesen  wiedererkennt.  Diese  Form  des  „Wie- 
dererkennens" ist  es,  die  bei  Leibniz  als  Apperzeption,  bei  Herder  als 
„Reflexion",  bei  Kant  als  „Synthesis  der  Rekognition"  gefaßt  wird. 
„Der  Mensch  beweiset  Reflexion,  wenn  die  Kraft  seiner  Seele  so  frei 
würket,  daß  sie  in  dem  ganzen  Ocean  von  Empfindungen,  der  sie  durch 
alle  Sinnen  durchrauschet,  Eine  Welle,  wenn  ich  so  sagen  darf,  abson- 
dern, sie  anhalten,  die  Aufmerksamkeit  auf  sie  richten,  und  sich  bewußt 
sein  kann,  daß  sie  aufmerke.  Er  beweiset  Reflexion,  wenn  er  aus  dem 
ganzen  schwebenden  Traum  der  Bilder,  die  seine  Sinne  vorbeistreichen, 
sich  in  ein  Moment  des  Wachens  sammlen,  auf  Einem  Bilde  freiwillig 
verweilen,  es  in  helle,  ruhigere  Obacht  nehmen  und  sich  Merkmale  ab- 
sondern kann,  daß  dies  der  Gegenstand  und  kein  andrer  sei.  Er  beweiset 
also  Reflexion,  wenn  er  nicht  bloß  alle  Eigenschaften  lebhaft  oder  klar 
erkennen,  sondern  Eine  oder  mehrere  als  unterscheidende  Eigenschaften 
bei  sich  anerkennen  kann:  der  erste  Actus  dieser  Anerkenntnis  gibt 
deutlichen  Begriff;  es  ist  das  Erste  Urtheil  der  Seele  —  und  wodurch 
geschähe  die  Anerkennung?  Durch  ein  Merkmal,  was  er  absondern  mußte, 
und  was,  als  Merkmal  der  Besinnung,  deutlich  in  ihn  fiel.  Wohlan!  lasset 
uns  ihm  das  evgrjxa  zurufen!  Dies  Erste  Merkmal  der  Besinnung  war 
Wort  der  Seele!  Mit  ihm  ist  die  menschliche  Sprache  erfunden1!"  In 
diesem  Sinne  kann  für  Herder  die  Sprache  ganz  als  ein  Erzeugnis  der  un- 
mittelbaren Empfindung  und  zugleich  ganz  als  ein  Werk  der  Reflexion, 
der  Besinnung  gefaßt  werden:  weil  eben  diese  letztere  nichts  äußeres  ist, 
was  nachträglich  zum  Inhalte  der  Empfindung  hinzutritt,  sondern  weil 
sie  in  ihn  als  konstitutives  Moment  eingeht.  Erst  die  „Besinnung"  ist  es, 
die  die  flüchtige  sinnliche  Regung  zu  einem  in  sich  Bestimmten  und  Un- 
terschiedenen und  damit  erst  zu  einem  eigentlich  geistigen  „Inhalt"  macht. 
Hier  ist  also  nicht,  wie  bei  Maupertuis  und  Gondillac,  die  Perzeption  ein 
in  sich  fertiges  und  in  sich  beschlossenes  psychisches  Sein,  an  das  sich  der 
Ausdruck  im  Begriff  und  im  Begriffswort  nur  anschließt,  sondern  hier  ist 
es  ein  und  derselbe  Akt,  in  dem  die  Bestimmung  der  bloßen  Eindrücke  zu 

1  Über  den  Ursprung  der  Sprache  (1772);  (Suphan,  V,  34f.). 

95 


„Vorstellungen"  und  deren  Benennung  sich  vollzieht.  Der  Naturgegebenheit 
derPerzeptionen  steht  nicht  mehr  ein  künstliches  System  von  Zeichen  gegen- 
über, sondern  die  Perzeption  schließt  selbst,  kraft  ihrer  geistigen  Eigen- 
art, schon  ein  eigentümliches  Formmoment  in  sich,  das,  vollständig  ent- 
wickelt, in  der  Form  des  Wortes  und  der  Sprache  sich  darstellt.  Daher 
ist  die  Sprache  —  wenngleich  Herder  fortfährt,  von  ihrer  „Erfindung" 
zu  sprechen  —  für  ihn  niemals  ein  bloß  Gemachtes,  sondern  ein  von 
innen  her  und  notwendig  Gewordenes.  Sie  ist  ein  Faktor  im  synthe- 
tischen Aufbau  des  Bewußtseins  selbst,  kraft  dessen  sich  die  Welt  der 
sinnlichen  Empfindungen  erst  zu  einer  Welt  der  Anschauung  gestaltet: 
sie  ist  somit  keine  Sache,  die  hervorgebracht  wird,  sondern  eine  Art  und 
eine  Bestimmtheit  des  geistigen  Zeugens  und  Bildens. 

Der  allgemeine  Formbegriff,  unter  den  die  Sprache  gefaßt  wird,  hat 
damit  eine  entscheidende  Wandlung  erfahren.  Herders  Preisschrift  be- 
zeichnet scharf  und  genau  die  Grenze,  an  der  der  ältere  rationalistische 
Begriff  der  „Reflexionsform",  der  die  Philosophie  der  Aufklärung  be- 
herrscht, in  den  romantischen  Begriff  der  „organischen  Form"  über- 
geht. Durch  Friedrich  Schlegels  Schrift  „über  die  Sprache  und  Weis- 
heit der  Inder"  wird  dieser  neue  Begriff  zum  erstenmal  in  voller  Be- 
stimmtheit in  die  Sprachbetrachtung  eingeführt.  Man  wird  indes  den 
tieferen  Motiven  dieser  Auffassung  nicht  gerecht,  wenn  man  in  der  Be- 
zeichnung der  Sprache  als  Organismus  nur  ein  Bild,  nur  eine  poetische 
Metapher  sieht.  So  abgeblaßt  und  vag  uns  diese  Bezeichnung  heute  er- 
scheinen mag :  so  inhaltsvoll  und  konkret  drückte  sich  in  ihr  für  Friedrich 
Schlegel  und  seine  Epoche  die  neue  Stellung  aus,  die  jetzt  der  Sprache  im 
Ganzen  des  geistigen  Seins  zugewiesen  wurde.  Denn  der  Begriff  des  Or- 
ganismus, wie  ihn  die  Romantik  nimmt,  dient  nicht  der  Bezeichnung  eines 
einzelnen  Faktums  der  Natur,  eines  besonderen  und  abgegrenzten 
Gebiets  gegenständlicher  Phänomene,  mit  denen  die  sprachlichen  Phä- 
nomene freilich  immer  nur  sehr  mittelbar  und  ungenau  verglichen  werden 
könnten.  Nicht  als  Ausdruck  für  eine  besondere  Klasse  von  Erschei- 
nungen, sondern  als  Ausdruck  eines  allgemeinen  spekulativen  Prinzips 
wird  hier  dieser  Begriff  genommen  —  eines  Prinzips,  das  geradezu  das 
letzte  Ziel  und  den  systematischen  Einheitspunkt  der  romantischen  Spe- 
kulation bezeichnet.  Das  Problem  des  Organismus  bildete  die  geistige 
Mitte,  auf  die  sich  die  Romantik  von  den  verschiedensten  Problemgebieten 
her  immer  wieder  hingewiesen  und  zurückgeführt  sah.  Goethes  Metamor- 
phosenlehre, Kants  kritische  Philosophie  und  Sendlings  erste  Entwürfe 
der  Naturphilosophie  und  des  „Systems  des  transzendentalen  Idealismus" 


96 


schienen  hier  in  einem  Punkt  zusammenzustreben.  Schon  in  der  „Kritik 
der  Urteilskraft"  erschien  dieses  Problem  als  der  eigentliche  „medius 
terminus",  durch  den  sich  der  dualistische  Gegensatz  zwischen  den  bei- 
den Gliedern  des  Kantischen  Systems  versöhnte.  Natur  und  Freiheit,  Sein 
und  Sollen,  die  zuvor  nicht  nur  als  getrennte,  sondern  als  einander  anti- 
nomisch  gegenüberstehende  Welten  erscheinen  konnten,  waren  jetzt  durch 
dieses  Mittelglied  aufeinander  bezogen  —  und  in  dieser  Beziehung  schloß 
sich  für  beide  ein  neuer  Gehalt  auf.  Wenn  Kant  diesen  Gehalt  vor  allem 
methodisch  faßt,  wenn  er  die  beiden  Extreme,  im  kritisch-transzenden- 
talen Sinne,  wesentlich  als  „Gesichtspunkte"  für  die  Betrachtung  und 
Deutung  des  Ganzen  der  Erscheinungswelt  bestimmt  —  so  wird  für 
Sehe  Hing  der  Grundbegriff  des  Organischen  zum  Vehikel  einer  allum- 
fassenden spekulativen  Welterklärung.  Wie  Natur  und  Freiheit,  so  wird 
Natur  und  Kunst  in  der  Idee  des  Organischen  geeint.  Hier  schließt  sich 
die  Kluft,  die  das  unbewußte  Werden  der  Natur  vom  bewußten  Schaffen 
des  Geistes  zu  trennen  scheint  —  hier  zuerst  überfällt  daher  den  Menschen 
eine  Ahnung  von  der  wahren  Einheit  seiner  eigenen  Natur,  in  welcher 
Anschauung  und  Begriff,  Form  und  Gegenstand,  Ideales  und  Reales  ur- 
sprünglich ein  und  dasselbe  ist.  „Daher  der  eigentümliche  Schein,  der 
um  diese  Probleme  ist,  —  ein  Schein,  den  die  bloße  Reflexionsphilo- 
sophie, die  nur  auf  Trennung  ausgeht,  nie  zu  entwickeln  vermag,  wäh- 
rend die  reine  Anschauung  oder  vielmehr  die  schöpferische  Einbildungs- 
kraft längst  die  symbolische  Sprache  erfand,  die  man  nur  auslegen  darf, 
um  zu  finden,  daß  die  Natur  um  so  verständlicher  zu  uns  spricht,  je 
weniger  wir  über  sie  bloß  reflektierend  denken  V 

Erst  aus  dieser  systematischen  Gesamtbedeutung,  die  die  Idee  des  Or- 
ganismus für  die  Philosophie  der  Romantik  besaß,  läßt  sich  ermessen, 
in  welchem  Sinne  sie  sich  für  die  Betrachtung  der  Sprache  fruchtbar  er- 
weisen mußte.  Abermals  traten  hier  die  großen  Gegensätze,  um  die  sich 
diese  Betrachtung  bisher  bewegt  hatte,  in  aller  Schärfe  einander  gegen- 
über: aber  zwischen  ihnen,  zwischen  dem  „Bewußten"  und  „Unbe- 
wußten", zwischen  „Subjektivität"  und  „Objektivität",  zwischen  „In- 
dividualität" und  „Allgemeinheit"  schien  nun  eine  neue  Vermittlung  auf- 
gewiesen. Für  die  Erklärung  des  organischen  Lebens  war  der  Begriff  der 
„individuellen  Form"  schon  von  Leibniz  geprägt  worden  —  und  durch 
Herder  war  er  sodann  über  die  ganze  Weite  des  geistigen  Daseins  aus- 
gebreitet, war  er  von  der  Natur  auf  die  Geschichte,  von  dieser  auf  die 
Kunst  und  auf  die  konkrete  Betrachtung  der  Kunstarten  und  Kunststile 

1  Schelling,  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur  (1797);  S.W.II,  47. 

^  97 


übertragen  worden.  Überall  wird  hier  ein  „Allgemeines"  gesucht:  aber 
dieses  wird  nicht  als  ein  an  sich  Seiendes,  als  die  abstrakte  Einheit  einer 
Gattung  gefaßt,  die  den  Einzelfällen  gegenübersteht,  sondern  als  eine 
Einheit,  die  sich  nur  in  der  Allheit  der  Besonderungen  darstellt.  Diese 
Allheit  und  das  Gesetz,  der  innere  Zusammenhang,  der  sich  in  ihr 
ausdrückt:  das  erscheint  jetzt  als  das  echte  Allgemeine.  Für  die  Sprach- 
philosophie bedeutet  dies,  daß  sie  auf  das  Bestreben,  hinter  der 
individuellen  Mannigfaltigkeit  und  der  historischen  Zufälligkeit  der 
Einzelsprachen  die  allgemeine  Struktur  einer  Grund-  und  Ursprache  zu 
entdecken,  ein  für  allemal  verzichten  lernt,  daß  auch  sie  die  wahre  All- 
gemeinheit des  „Wesens"  der  Sprache  nicht  in  der  Abstraktion  von  den 
Besonderungen,  sondern  in  der  Totalität  dieser  Besonderungen  sucht. 
In  dieser  Verbindung  der  Idee  der  organischen  Form  und  der  Idee  der 
Totalität  ist  der  Weg  bezeichnet,  auf  welchem  Wilhelm  von  Humboldt 
seine  philosophische  Weltansicht  gewinnt,  die  zugleich  eine  neue  Grund- 
legung der  Sprachphilosophie  in  sich  schließt1. 

V 

Schon  von  früh  an  ist  die  Betrachtung  und  das  Studium  der  Sprache 
für  Wilh.  v.  Humboldt  zum  Zentrum  aller  seiner  geistigen  Interessen  und 
Bestrebungen  geworden.  „Im  Grunde"  —  so  schrieb  er  schon  im  Jahre 
i8o5  an  Wolf  —  „ist  alles,  was  ich  treibe,  Sprachstudium.  Ich  glaube 
die  Kunst  entdeckt  zu  haben,  die  Sprache  als  ein  Vehikel  zu  gebrauchen, 
um  das  Höchste  und  Tiefste  und  die  Mannigfaltigkeit  der  ganzen  Welt 
zu  durchfahren."  In  einer  Fülle  von  Einzelabhandlungen  zur  Sprach- 
wissenschaft und  Sprachgeschichte  hat  Humboldt  diese  Kunst  geübt,  bis 
er  in  der  großen  zusammenfassenden  Einleitung  zum  Kawi-Werk  von  ihr 
die  letzte  und  glänzendste  Probe  abgelegt  hat.  Nicht  in  allen  Teilen  seines 
sprachphilosophischen  und  sprachwissenschaftlichen  Werkes  entspricht 
freilich  bei  Humboldt  der  genialen  Ausübung  dieser  Kunst  die  Bewußt- 
heit, in  der  sie  sich  ihm  darstellt.  Sein  Werk  geht  als  geistige  Schöpfung 
nicht  selten  über  das  hinaus,  was  er  selbst  in  klaren  und  scharfen  Begrif- 
fen von  ihm  aussagt.  Aber  immer  birgt  auch  die  Dunkelheit  mancher 
Humboldt'scher  Begriffe,  über  die  man  so  oft  geklagt  hat,  einen  produk- 
tiven Gehalt  in  sich  —  einen  Gehalt,  der  sich  freilich  zumeist  nicht  in 
eine  einfache  Formel,  in  eine  abstrakte  Definition  einfangen  läßt,  son- 

1  Die  folgende  Darstellung  der  Sprachphilosophie  W.  v.  Humboldts  stützt  sich  z.  T.  auf 
eine  frühere  Abhandlung,  die  u.  d.  T.  „Die  Kantischen  Elemente  in  Wilh.  v.  Humboldts 
Sprachphilosophie"  in  der  Festschrift  zu  Paul  Hensels  60.  Geburtstag  erschienen  ist. 


98 


dem  der  erst  im  ganzen  der  konkreten  Sprachanschauung  Humboldts 
sich  wirksam  und  fruchtbar  erweist. 

Für  jede  Darstellung  der  Humboldtschen  Grundgedanken  entspringt 
hieraus  das  Recht  und  die  Notwendigkeit,  die  Gesamtheit  dieser  Gedanken 
um  bestimmte  systematische  Mittelpunkte  zu  gruppieren —  auch  wo  er 
diese  Zentren  nicht  selbst  als  solche  bezeichnet  und  herausgehoben  hat. 
Humboldt  ist  zwar  im  Grunde  ein  durchaus  systematischer  Geist;  aber 
er  ist  jeder  bloß  äußeren  Technik  der  Systematisierung  feind.  So 
geschieht  es,  daß  er  im  Bestreben,  in  jedem  einzelnen  Punkte  seiner 
Untersuchung  immer  zugleich  das  Ganze  seiner  Sprachansicht  vor  uns 
hinzustellen,  der  scharfen  und  klaren  Sonderun g  dieses  Ganzen  wider- 
strebt. Seine  Begriffe  sind  niemals  die  losgelösten  und  reinen  Produkte 
der  logischen  Analyse,  sondern  es  schwingt  in  ihnen  stets  ein  ästhetischer 
Gefühlston,  eine  künstlerische  Stimmung  mit,  die  die  Darstellung  belebt, 
aber  die  zugleich  die  Artikulation  und  den  Gliederbau  der  Gedanken  ver- 
hüllt. Sucht  man  diesen  Gliederbau  bloßzulegen,  so  sieht  man  sich  vor 
allem  auf  drei  große  prinzipielle  Gegensätze  zurückgeführt,  die  das  Den- 
ken Humboldts  bestimmen,  und  für  die  er  in  der  Betrachtung  der  Sprache 
einen  kritischen  Ausgleich  und  eine  spekulative  Versöhnung  zu  finden  hofft. 

Vor  allem  ist  es  die  Trennung  des  individuellen  und  des  „objektiven" 
Geistes  und  die  Wiederaufhebung  dieser  Trennung,  die  sich  für  Humboldt 
im  Bilde  der  Sprache  unmittelbar  darstellt.  Jedes  Individuum  spricht  seine 
eigene  Sprache  —  und  doch  wird  es  sich  gerade  in  der  Freiheit,  mit  der 
es  sich  ihrer  bedient,  einer  inneren  geistigen  Bindung  bewußt.  So  ist 
die  Sprache  überall  Vermittlerin,  erst  zwischen  der  unendlichen  und  end- 
lichen Natur,  dann  zwischen  einem  und  dem  anderen  Individuum  —  zu- 
gleich und  durch  denselben  Akt  macht  sie  die  Vereinigung  möglich  und 
entsteht  aus  derselben.  „Man  muß  sich  nur  durchaus  von  der  Idee  los- 
machen, daß  sie  sich  so  von  demjenigen,  was  sie  bezeichnet,  absondern 
lasse,  wie  z.  B.  der  Name  eines  Menschen  von  seiner  Person,  und  daß  sie, 
gleich  einer  verabredeten  Chiffre,  ein  Erzeugnis  der  Reflexion  und  der 
Übereinkunft  oder  überhaupt  das  Werk  des  Menschen  (wie  man  den  Be- 
griff in  der  Erfahrung  nimmt)  oder  gar  des  Einzelnen  sei.  Als  ein  wahres, 
unerklärliches  Wunder  bricht  sie  aus  dem  Munde  einer  Nation,  und  als 
ein  nicht  minder  staunenswertes,  wenngleich  täglich  unter  uns  wieder- 
holtes und  mit  Gleichmütigkeit  übersehenes,  aus  dem  Lallen  jedes  Kindes 
hervor  und  ist  die  leuchtendste  Spur  und  der  sicherste  Beweis,  daß  der 
Mensch  nicht  eine  an  sich  abgesonderte  Individualität  besitzt,  daß  Ich 
und  Du  nicht  bloß  sich  wechselseitig  fordernde,  sondern,  wenn  man  bis 


7* 


99 


zu  dem  Punkte  der  Trennung  zurückgehen  könnte,  wahrhaft  identische 
Begriffe  sind,  und  daß  es  in  diesem  Sinne  Kreise  der  Individualität  gibt, 
von  dem  schwachen,  hilfsbedürftigen  und  hinfälligen  Einzelnen  hin  bis 
zum  uralten  Stamme  der  Menschheit,  weil  sonst  alles  Verstehen  bis  in  alle 
Ewigkeit  hin  unmöglich  sein  würde."  So  ist  auch  eine  Nation  in  diesem 
Sinne  eine  durch  eine  bestimmte  Sprache  charakterisierte  geistige  Form 
der  Menschheit,  in  bezug  auf  idealische  Totalität  individualisiert.  „Die 
Individualität  zerschlägt,  aber  auf  eine  so  wunderbare  Weise,  daß  sie  ge- 
rade durch  die  Trennung  das  Gefühl  der  Einheit  weckt,  ja  als  ein  Mittel 
erscheint,  diese  wenigstens  in  der  Idee  herzustellen  .  .  .  Denn  tief  inner- 
lich nach  jener  Einheit  und  Allheit  ringend,  möchte  der  Mensch  über  die 
trennenden  Schranken  seiner  Individualität  hinaus,  muß  aber  gerade,  da 
er,  gleich  dem  Riesen,  der  nur  von  der  Berührung  der  mütterlichen  Erde 
seine  Kraft  empfängt,  nur  in  ihr  Stärke  besitzt,  seine  Individualität  in 
diesem  höheren  Ringen  erhöhen.  Er  macht  also  immer  zunehmende  Fort- 
schritte in  einem  in  sich  unmöglichen  Streben.  Hier  kommt  ihm  nun  auf 
eine  wahrhaft  wunderbare  Weise  die  Sprache  zu  Hilfe,  die  auch  verbindet, 
indem  sie  vereinzelt,  und  in  die  Hülle  des  individuellsten  Ausdrucks  die  Mög- 
lichkeit allgemeinen  Verständnisses  einschließt.  Der  Einzelne,  wo,  wann 
und  wie  er  lebt,  ist  ein  abgerissenes  Bruchstück  seines  ganzen  Geschlechts 
und  die  Sprache  beweist  und  unterhält  diesen  ewigen,  die  Schicksale  des 
Einzelnen  und  die  Geschichte  der  Welt  leitenden  Zusammenhang1." 

Kantische  und  Schellingsche  Elemente  durchdringen  sich  merk- 
würdig in  diesem  ersten  metaphysischen  Ansatz  von  Humboldts  Sprach- 
philosophie. Auf  dem  Boden  der  kritischen  Analyse  der  Erkenntnisver- 
mögen stehend,  sucht  Humboldt  zu  dem  Punkte  vorzudringen,  an  dem 
der  Gegensatz  von  Subjektivität  und  Objektivität,  von  Individualität  und 
Allgemeinheit  zu  reiner  Indifferenz  sich  aufhebt.  Aber  der  Weg,  den  er 
in  der  Aufweisung  dieser  letzten  Einheit  nimmt,  ist  nicht  der  Weg  der 
intellektuellen  Anschauung,  die  uns  unmittelbar  über  alle  Schranken  des 
„endlichen"  analytisch-diskursiven  Begriffs  hinwegheben  soll.  Wie  Kant 
als  Kritiker  der  Erkenntnis,  so  steht  Humboldt  als  Kritiker  der  Sprache 
in  dem  „furchtbaren  Bathos  der  Erfahrung".  Fort  und  fort  betont  er, 
daß  ihre  Betrachtung,  wenngleich  sie  in  die  letzten  Tiefen  der  Menschheit 
zu  führen  bestimmt  sei,  um  nicht  chimärisch  zu  werden,  von  der  ganz 
trockenen,  sogar  mechanischen  Zergliederung  des  Körperlichen  in  ihr  an- 
fangen müsse.  Denn  jene  ursprüngliche  Übereinstimmung  zwischen  der 

1  Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues  (Vorstudie  zur  Einleitung 
zum  Kawiwerk);  Gesamm.  Schriften  (Akademie-Ausgabe),  Bd.  VI,  i,  S.  I25f. 


IOO 


Welt  und  dem  Menschen,  auf  welcher  die  Möglichkeit  aller  Erkenntnis 
der  Wahrheit  beruht  und  die  wir  daher  allerdings  in  aller  Erforschung 
besonderer  Gegenstände  als  allgemeines  Postulat  voraussetzen  müssen, 
kann  doch  für  uns  nur  auf  dem  Wege  der  Erscheinung  stückweise  und 
fortschreitend  wiedergewonnen  werden.  In  diesem  Sinne  ist  das  Objektive 
nicht  das  Gegebene,  sondern  es  bleibt  stets  das  eigentlich  zu  Erringende1. 
Mit  dieser  Bestimmung  zieht  Humboldt  die  sprachphilosophische  Konse- 
quenz aus  Kants  kritischer  Lehre.  An  die  Stelle  des  metaphysischen  Gegen- 
satzes der  Subjektivität  und  Objektivität  tritt  ihre  reine  transzendentale 
Korrelation.  Wie  bei  Kant  der  Gegenstand,  als  „Gegenstand  in  der  Er- 
scheinung", der  Erkenntnis  nicht  als  ein  Äußeres  und  Jenseitiges  gegen- 
übersteht, sondern  durch  deren  eigene  Kategorien  erst  „ermöglicht", 
erst  bedingt  und  konstituiert  wird  —  so  erscheint  jetzt  auch  die  Subjek- 
tivität der  Sprache  als  keine  bloße  Schranke  mehr,  die  uns  von  der  Er- 
fassung des  gegenständlichen  Seins  trennt,  sondern  als  ein  Mittel  der 
Formung,  der  „Objektivierung"  der  sinnlichen  Eindrücke.  Die  Sprache 
kommt  so  wenig  wie  die  Erkenntnis  von  dem  Objekt  als  einem  Gegebenen 
her,  um  es  lediglich  in  sich  „abzudrücken",  sondern  sie  birgt  in  sich 
eine  geistige  Auffassungsweise,  die  als  entscheidendes  Moment  in  all  un- 
sere Vorstellung  des  Objektiven  eingeht.  Die  naiv-realistische  Anschau- 
ung bringt  freilich,  da  sie  selbst  beständig  in  Objekten  lebt,  webt  und 
handelt,  diese  Subjektivität  zu  wenig  in  Anschlag;  sie  gelangt  nur  schwer 
zu  dem  Begriff  einer  Subjektivität,  die  das  Objektive  nicht  zufällig,  lau- 
nisch oder  willkürlich,  sondern  nach  inneren  Gesetzen  so  umgestaltet, 
daß  das  scheinbare  Objekt  selbst  nur  zu  subjektiver  und  doch  mit  vollem 
Recht  auf  Allgemeingültigkeit  Anspruch  machender  Auffassung  wird. 
Ihr  ist  daher  die  Verschiedenheit  der  Sprachen  nur  eine  Verschiedenheit 
von  Schällen,  die  sie,  immer  auf  Sachen  gerichtet,  bloß  als  Mittel  an- 
sieht, zu  diesen  zu  gelangen.  Aber  eben  diese  dinglich-realistische  An- 
sicht ist  es,  die  die  Ausdehnung  der  Sprachkenntnis  verhindert  und  die 
wirklich  vorhandene  tot  und  unfruchtbar  macht2.  Die  eigentliche  Ide- 
alität der  Sprache  ist  in  ihrer  Subjektivität  gegründet.  Daher  war  es 
ein  vergeblicher  Versuch  und  wird  stets  ein  solcher  bleiben,  wenn  man 
die  Wörter  der  verschiedenen  Sprachen  mit  allgemein-gültigen  Zeichen 
vertauschen  wollte,  wie  dieselben  die  Mathematik  in  den  Linien,  Zahlen 
und  in  der  Buchstabenrechnung  besitzt.  Denn  hiermit  läßt  sich  immer 

1  Über  das  vergleichende  Sprachstudium  in  Beziehung  auf  die  verschiedenen  Epochen 
der  Sprachentwicklung  (1820);  Werke  IV,  27 f. 

2  Über  die  Versch.  des  menschl.  Sprachbaues,  W.  VI,  1,  119. 


IOI 


nur  ein  kleiner  Teil  der  Masse  des  Denkbaren  erschöpfen,  lassen  sich  nur 
solche  Begriffe  bezeichnen,  die  durch  rein  rationale  Konstruktion  gebildet 
werden  können.  Wo  aber  der  Stoff  innerer  Wahrnehmung  und  Emp- 
findung zu  Begriffen  gestempelt  werden  soll,  da  kommt  es  auf  das 
individuelle  Vorstellungsvermögen  des  Menschen  an,  das  von  seiner 
Sprache  unzertrennlich  ist.  „Das  Wort,  welches  den  Begriff  erst  zu  einem 
Individuum  der  Gedankenwelt  macht,  fügt  zu  ihm  bedeutend  von  dem 
Seinigen  hinzu,  und  indem  die  Idee  durch  dasselbe  Bestimmtheit  emp- 
fängt, wird  sie  zugleich  in  gewissen  Schranken  gefangen  gehalten  .  .  . 
Durch  die  gegenseitige  Abhängigkeit  des  Gedankens  und  des  Wortes  von- 
einander leuchtet  es  klar  ein,  daß  die  Sprachen  nicht  eigentlich  Mittel 
sind,  die  schon  erkannte  Wahrheit  darzustellen,  sondern  weit  mehr,  die 
vorher  unerkannte  zu  entdecken.  Ihre  Verschiedenheit  ist  nicht  eine  von 
Schällen  und  Zeichen,  sondern  eine  Verschiedenheit  der  Weltansichten 
selbst."  Hierin  ist  der  Gsund  und  der  letzte  Zweck  aller  Sprachunter- 
suchung für  Humboldt  enthalten.  Geschichtlich  prägt  sich  darin  ein 
merkwürdiger  Prozeß  aus,  der  von  neuem  lehrt,  wie  die  eigentlich  frucht- 
baren philosophischen  Grundgedanken  auch  über  die  unmittelbare  Fas- 
sung hinaus,  die  sie  durch  ihre  ersten  Urheber  erhalten,  sich  fortdauernd 
wirksam  erweisen.  Denn  hier  ist  Humboldt,  durch  Kants  und  Herders 
Vermittlung,  von  Leibniz'  eng-logischer  Ansicht  der  Sprache  zu  der  tie- 
feren und  umfassenderen,  universell-idealistischen  Auffassung  zurück- 
gedrungen, die  in  den  allgemeinen  Prinzipien  der  Leibniz'schen  Lehre 
gegründet  ist.  Wie  für  Leibniz  das  Universum  nur  in  der  Spiegelung 
durch  die  Monaden  gegeben  ist,  wie  jede  derselben  die  Gesamtheit  der 
Phänomene  unter  einem  individuellen  „Gesichtspunkt"  darstellt  —  und 
wie  doch  andererseits  eben  die  Gesamtheit  dieser  perspektivischen  An- 
sichten und  die  Harmonie  unter  ihnen  dasjenige  ausmacht,  was  wir  die 
Objektivität  der  Erscheinungen,  die  Wirklichkeit  der  phänomenalen  Welt 
nennen :  —  so  wird  hier  auch  jede  einzelne  Sprache  zu  einer  solchen  in- 
dividuellen Weltansicht,  und  erst  die  Totalität  dieser  Weltansichten  macht 
den  für  uns  erreichbaren  Begriff  der  Objektivität  aus.  So  begreift  es  sich, 
daß  die  Sprache,  indem  sie  dem  Erkennbaren  als  subjektiv  entgegensteht, 
auf  der  anderen  Seite  dem  Menschen,  als  empirisch-psychologischen  Sub- 
jekt, als  objektiv  gegenübertritt.  Denn  jede  ist  ein  Anklang  der  allge- 
meinen Natur  des  Menschen:  „die  Subjektivität  der  ganzen  Menschheit 
wird  aber  wieder  in  sich  zu  etwas  Objektivem1". 

1  Über  das  vergleichende  Sprachstudium,  W.  IV,  21  ff.;  vgl.  bes.  Grundzüge  des  all- 
gemeinen Sprachtypus,  W.  V,  386ff.  und  die  Einleit.  zum  Kawiwerk  W.VII,  1,  S.  5g ff. 


I02 


Mit  dieser  Auffassung  der  Objektivität  als  etwas,  das  nicht  einfach  ge- 
geben und  abzuschildern,  sondern  durch  einen  Prozeß  der  geistigen  For- 
mung zu  erringen  ist,  ist  nun  auch  das  zweite  Grundmoment  der  Hum- 
boldt'schen  Sprachbetrachtung  gefordert  und  gesetzt.  Jede  Betrachtung 
der  Sprache  muß  „genetisch"  verfahren:  nicht  in  dem  Sinne,  daß  sie  sie 
in  ihrer  zeitlichen  Entstehung  verfolgt  und  daß  sie  ihr  Werden  aus  be- 
stimmten empirisch-psychologischen  „Ursachen"  zu  erklären  versucht, 
sondern  in  dem  Sinne,  daß  sie  das  fertige  Gefüge  der  Sprachbildung  als 
ein  Abgeleitetes  und  Vermitteltes  erkennt,  das  erst  verstanden  wird,  wenn 
es  uns  gelingt,  es  aus  seinen  Faktoren  aufzubauen  und  die  Art  und  Rich- 
tung dieser  Faktoren  zu  bestimmen.  Das  Zerschlagen  der  Sprache  in  Wör- 
ter und  in  Regeln  bleibt  immer  nur  ein  totes  Machwerk  wissenschaftlicher 
Zergliederung  —  denn  das  Wesen  der  Sprache  beruht  niemals  auf  diesen 
Elementen,  die  die  Abstraktion  und  Analyse  an  ihr  herausstellen,  sondern 
ausschließlich  auf  der  sich  ewig  wiederholenden  Arbeit  des  Geistes,  den 
artikulierten  Laut  zum  Ausdruck  des  Gedankens  fähig  zu  machen.  Diese 
Arbeit  setzt  in  jeder  Einzelsprache  je  an  besonderen  Mittelpunkten  an  und 
breitet  sich,  von  ihnen  fortschreitend,  nach  verschiedenen  Richtungen  aus 
—  und  doch  schließt  sich  zuletzt  eben  diese  Mannigfaltigkeit  der  Erzeu- 
gungen zwar  nicht  zur  sachlichen  Einheit  eines  Erzeugnisses,  wohl  aber 
zur  ideellen  Einheit  eines  in  sich  gesetzlichen  Tuns  zusammen.  Wie  sich 
das  Dasein  des  Geistes  überhaupt  nur  in  Tätigkeit  und  als  solche  denken 
läßt  —  so  gilt  dies  auch  von  jedem  besonderen  Dasein,  das  nur  durch 
ihn  faßbar  und  möglich  ist.  Was  wir  das  Wesen  und  die  Form  einer 
Sprache  nennen,  das  ist  daher  nichts  anderes,  als  das  Beständige  und 
Gleichförmige,  das  wir,  nicht  in  einem  Dinge,  wohl  aber  in  der  Arbeit  des 
Geistes,  den  artikulierten  Laut  zum  Gedankenausdruck  zu  erheben,  nach- 
weisen können1.  Selbst  das,  was  an  der  Sprache  als  ihr  eigentlich  sub- 
stantieller Bestand  erscheinen  könnte,  selbst  das  einfache  aus  dem  Satz- 
zusammenhang gelöste  Wort  teilt  daher  nicht,  wie  eine  Substanz,  etwas 
schon  Hervorgebrachtes  mit,  enthält  auch  nicht  einen  schon  geschlossenen 
Begriff,  sondern  regt  bloß  an,  diesen  mit  selbständiger  Kraft  und  auf  be- 
stimmte Weise  zu  bilden.  „Die  Menschen  verstehen  einander  nicht  da- 
durch, daß  sie  sich  Zeichen  der  Dinge  wirklich  hingeben,  auch  nicht 
dadurch,  daß  sie  sich  gegenseitig  bestimmen,  genau  und  vollständig  den- 
selben Begriff  hervorzubringen,  sondern  dadurch,  daß  sie  gegenseitig  in- 
einander dasselbe  Glied  der  Kette  ihrer  sinnlichen  Vorstellungen  und 
inneren  Begriffserzeugungen  berühren,  dieselbe  Taste  ihres  geistigen  In- 

1  Einleitung  zum  Kawiwerk,  W.  VII,  i,  S.  46 f. 

io3 


struments  anschlagen,  worauf  alsdann  in  jedem  entsprechende,  nicht  aber 
dieselben  Begriffe  hervorspringen  .  .  .  Wird  .  .  auf  diese  Weise  das  Glied 
der  Kette,  die  Taste  des  Instrumentes  berührt,  so  erzittert  das  Ganze,  und 
was  als  Begriff  aus  der  Seele  hervorspringt,  steht  im  Einklang  mit  allem, 
was  das  einzelne  Glied  bis  auf  die  weiteste  Entfernung  umgibt1."  Der 
Einklang  in  der  unendlich  vielfältigen  Erzeugung  des  Sprach-  und  Be- 
griffswortes, nicht  die  Einfachheit  eines  in  ihm  abgebildeten  Daseins  gibt 
also  auch  hier  den  festen  Halt  und  die  Bürgschaft  der  Objektivität.  Da- 
her ist  im  Grunde  auch  niemals  das  einzelne  Wort,  sondern  erst  der  Satz 
der  wahrhafte  Träger  des  sprachlichen  Sinnes:  denn  in  ihm  erst  enthüllt 
sich  die  ursprüngliche  Kraft  der  Synthesis,  auf  der  alles  Sprechen,  wie 
alles  Verstehen  zuletzt  beruht.  Ihren  knappsten  und  schärfsten  Ausdruck 
erhält  diese  Gesamtansicht  in  der  bekannten  Humboldtschen  Formulie- 
rung, daß  die  Sprache  kein  Werk  (Ergon),  sondern  eine  Tätigkeit  (Ener- 
geia)  sei  und  daß  daher  ihre  wahre  Definition  immer  nur  eine  genetische 
sein  könne.  Unmittelbar  und  streng  genommen  ist  dies  freilich  die  De- 
finition des  jedesmaligen  Sprechens:  aber  im  wahren  und  wesentlichen 
Sinne  kann  man  auch  nur  gleichsam  die  Totalität  dieses  Sprechens  als 
„die"  Sprache,  kann  man  nur  die  Funktion  und  deren  allseitige,  von  be- 
stimmten Gesetzen  beherrschte  Ausübung  als  dasjenige  ansehen,  was  ihre 
Substantialität,  ihren  ideellen  Bestand  ausmacht2. 

Im  Begriff  der  Synthesis  ist  zugleich  das  dritte  der  großen  Gegen- 
satzpaare erreicht,  unter  denen  Humboldt  die  Sprache  betrachtet.  Auch 
dieser  Gegensatz,  auch  die  Unterscheidung  von  Stoff  und  Form,  die 
Humboldts  Gesamtansicht  beherrscht,  wurzelt  im  Kantischen  Gedanken- 
kreise. Für  Kant  ist  die  Form  ein  bloßer  Verhältnisausdruck,  aber  sie 
macht  eben  darum,  da  all  unser  Wissen  von  Erscheinungen  sich  zuletzt  in 
ein  Wissen  von  zeitlich-räumlichen  Verhältnissen  auflöst,  das  eigentlich 
objektivierende  Prinzip  der  Erkenntnis  aus.  Die  Einheit  der  Form  be- 
gründet als  Einheit  der  Verknüpfung  die  Einheit  des  Gegenstandes.  Die 
Verbindung  eines  Mannigfaltigen  kann  niemals  durch  Sinne  in  uns 
kommen,  sondern  sie  ist  jederzeit  ein  „Aktus  der  Spontaneität  der  Vor- 
stellungskraft". So  können  wir  uns  nichts  als  im  Objekt  verbunden  vor- 
stellen, ohne  es  vorher  selbst  verbunden  zu  haben,  und  unter  allen  Vor- 
stellungen ist  sie,  die  Verbindung,  die  einzige,  die  nicht  durch  Objekte 
gegeben,  sondern  nur  vom  Subjekte  selbst  verrichtet  werden  kann3.  Um 

i  ibid.  W.  VII,  i,  169  f.    2  ibid.  W.  VII,  1,  46. 

3  Krit.  d.  rein.  Vernunft;  Transz.  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe,  S  i5,  2.  Aufl. 
S.  129  ff. 

104 


diese  im  transzendentalen  Subjekt  und  seiner  Spontaneität  gegründete  und 
doch  streng  „objektive",  weil  notwendige  und  allgemeingültige,  Form  der 
Verbindung  zu  kennzeichnen,  hatte  sich  Kant  selbst  auf  die  Einheit  des  Ur- 
teils und  damit  mittelbar  auf  die  Einheit  des  Satzes  gestützt.  Das  Urteil 
ist  ihm  nichts  anderes,  als  die  Art,  gegebene  Erkenntnisse  zur  objektiven 
Einheit  der  Apperzeption  zu  bringen;  sprachlich  aber  drückt  sich  diese 
Einheit  in  der  Kopula  des  Urteils,  in  dem  Verhältniswörtchen  „ist"  aus, 
das  Subjekt  und  Prädikat  verbindet.  Durch  dieses  „Ist"  erst  wird  ein 
fester  und  unauf heblicher  Bestand  des  Urteils  gesetzt,  wird  ausgedrückt, 
daß  es  sich  hier  um  ein  Zusammengehören  von  Vorstellungen,  nicht  um 
ihr  bloßes  Zusammensein  nach  zufälligen  psychologischen  Assoziationen 
handelt1.  Humboldts  Formbegriff  dehnt  das,  was  hier  für  eine  einzelne 
sprachliche  Bestimmung  ausgesprochen  war,  über  das  Ganze  der  Sprache 
aus.  In  jeder  vollkommenen  und  durchgebildeten  Sprache  muß  zu  dem 
Akte  der  Bezeichnung  eines  Begriffs  durch  bestimmte  materiale  Merkmale 
noch  eine  eigene  Arbeit  und  eine  eigene  formale  Bestimmung  hinzutreten, 
durch  die  der  Begriff  in  eine  gewisse  Kategorie  des  Denkens  versetzt, 
also  z.  B.  als  Substanz,  als  Eigenschaft  oder  Tätigkeit  bezeichnet  wird. 
Diese  Versetzung  des  Begriffs  in  eine  bestimmte  Kategorie  des  Denkens 
ist  „ein  neuer  Akt  des  sprachlichen  Selbstbewußtseins,  durch  welchen  der 
einzelne  Fall,  das  individuelle  Wort,  auf  die  Gesamtheit  der  möglichen 
Fälle  in  der  Sprache  oder  Rede  bezogen  wird.  Erst  durch  diese,  in  mög- 
lichster Reinheit  und  Tiefe  vollendete  und  der  Sprache  selbst  fest  einver- 
leibte Operation  verbindet  sich  in  derselben,  in  der  gehörigen  Verschmel- 
zung und  Unterordnung,  ihre  selbständige,  aus  dem  Denken  entspringende 
und  ihre  mehr  den  äußeren  Eindrücken  in  reiner  Empfänglichkeit  fol- 
gende Tätigkeit2".  Auch  hier  sind  indes  Stoff  und  Form,  Rezeptivität 
und  Spontaneität  —  wie  zuvor  die  Gegensätze  des  „Individuellen"  und 
„Allgemeinen",  des  „Subjektiven"  und  „Objektiven"  —  nicht  ausein- 
anderfallende Stücke,  aus  denen  sich  der  Prozeß  der  Sprache  zusammen- 
setzt, sondern  notwendig  zueinander  gehörige  Momente  eben  dieses  gene- 
tischen Prozesses  selbst,  die  sich  nur  in  unserer  Analyse  voneinander 
scheiden  lassen.  Die  Priorität  der  Form  vor  dem  Stoff,  die  Humboldt 
mit  Kant  behauptet  und  die  er  am  reinsten  und  schärfsten  in  den  flek- 
tierenden Sprachen  ausgedrückt  findet,  wird  daher  auch  von  ihm  als  ein 
Prius  der  Geltung,  nicht  als  ein  solches  des  empirisch-zeitlichen  Daseins 
gefaßt,  da  im  Dasein  jeder  Sprache,  auch  in  den  sogenannten  „isolie- 

1  a.a.O.  S  19,  S.  i4if.  ~ " 

2  Vorw.  zum  Kawiwerk  W.  VII,  1,  109. 

Iö5 


renden"  Sprachen,  beide  Bestimmungen,  die  formale  wie  die  stoffliche, 
notwendig  miteinander,  nicht  die  eine  ohne  die  andere,  oder  die  eine 
vor  der  anderen,  gesetzt  sind1.  Mit  alledem  ist  freilich  nur  der  äußere 
Umriß  der  Humboldtschen  Sprachansicht  und  gleichsam  ihr  intellektu- 
eller Rahmen  bezeichnet.  Was  aber  dieser  Ansicht  erst  ihr  Gewicht  und 
ihre  Fruchtbarkeit  gab,  war  die  Art,  in  der  nun  durch  Humboldts  sprach- 
liche Forschungen  dieser  Rahmen  ausgefüllt  wurde,  war  die  doppelte 
Richtung,  in  welcher  er  beständig  von  der  Erscheinung  zur  Idee,  und  von 
dieser  wieder  zu  jener  überging.  Der  Grundgedanke  der  transzendentalen 
Methode:  die  durchgängige  Beziehung  der  Philosophie  auf  die  Wissen- 
schaft, die  Kant  im  Hinblick  auf  die  Mathematik  und  die  mathematische 
Physik  durchgeführt  hatte,  erschien  jetzt  in  einem  ganz  neuen  Gebiet  be- 
währt. Die  neue  philosophische  Grundauffassung  der  Sprache  forderte 
und  ermöglichte  eine  neue  Gestaltung  der  Sprachwissenschaft.  Bopp 
greift  in  seiner  Gesamtansicht  der  Sprache  überall  auf  Humboldt  zurück 
—  schon  die  ersten  Sätze  seiner  „Vergleichenden  Grammatik"  vom  Jahre 
i833  gehen  von  dem  Humboldtschen  Begriff  des  „Sprachorganismus" 
aus,  um  durch  ihn  die  Aufgabe  der  neuen  Wissenschaft  der  Sprachver- 
gleichung allgemein  zu  bestimmen2. 

VI 

Indem  indes  der  Begriff  des  „Organismus"  aus  dem  Gebiet  der  speku- 
lativen Sprachbetrachtung  in  den  Bereich  der  empirischen  Forschung 
rückt,  wird  damit  von  neuem  fühlbar,  daß  ihm  eben  wegen  seiner  Weite 
eine  Unbestimmtheit  und  Vieldeutigkeit  anhaftet,  die  ihn  für  die  Behand- 
lung konkreter  Einzelaufgaben  unbrauchbar  zu  machen  droht.  Wenn  die 
philosophische  Spekulation  in  diesem  Begriff  wesentlich  eine  Vermittlung 
zwischen  einander  entgegenstehenden  Extremen  gesehen  hatte,  so  schien 
er  doch  eben  damit  an  der  Natur  jedes  dieser  Extreme  irgendwelchen 
Anteil  zu  gewinnen.  Kann  aber  ein  solcher  Begriff,  der  gleichsam  in  allen 
Farben  schillert,  noch  länger  gebraucht  werden,  wenn  es  sich  darum 

1  Vgl.  hrz.  bes.  Humboldts  Bemerkungen  über  die  chinesische  Sprache:  Lettre  a 
M.  Abel  Remusat  sur  la  nature  des  formes  grammaticales  en  general  et  sur  le  genie  de  la 
langue  Chinoise  en  particulier,  W.  V,  254  ff über  den  grammat.  Bau  der  chines. 
Sprache,  W.  V.,  3oaff . 

2  „Ich  beabsichtige  in  diesem  Buche  eine  vergleichende,  alles  Verwandte  zusammen- 
fassende Beschreibung  des  Organismus  der  auf  dem  Titel  genannten  Sprachen,  eine 
Erforschung  ihrer  physischen  und  mechanischen  Gesetze  und  des  Ursprungs  der  die 
grammatischen  Verhältnisse  bezeichnenden  Formen."  Bopp,  Vergl.  Gramm,  des  Sans- 
krit, Zend,  Griechischen  usw.,  Berlin  i833,  S.  i. 

106 


handelt,  statt  einer  allgemeinen  Metaphysik  der  Sprache  ihre  spezielle 
Methodik  zu  begründen?  Wenn  darüber  entschieden  werden  soll,  ob  die 
Gesetze  der  Sprache  ihrem  methodologischen  Grundcharakter  nach  als 
naturwissenschaftliche  oder  als  historische  Gesetze  zu  bezeichnen  sind; 
wenn  der  Anteil  der  physischen  und  der  geistigen  Faktoren  an  der  Sprach- 
bildung und  deren  gegenseitiges  Verhältnis  festgestellt  werden,  wenn 
schließlich  bestimmt  werden  soll,  wie  weit  bewußte  und  bewußtlose  Pro- 
zesse in  der  Bildung  der  Sprache  zusammenwirken,  so  scheint  der  bloße 
Begriff  des  „Sprachorganismus"  auf  alle  diese  Fragen  die  Antwort  schul- 
dig bleiben  zu  müssen.  Denn  gerade  die  mittlere,  sozusagen  schwebende 
Stellung,  die  er  zwischen  „Natur"  und  „Geist",  zwischen  dem  bewußt- 
losen Wirken  und  dem  bewußten  Schaffen  einnimmt,  scheint  zu  ge- 
statten, ihn  bald  nach  der  einen,  bald  nach  der  andern  Seite  der  Betrach- 
tung hinüberzuziehen.  Es  bedarf  nur  einer  leichten  Verschiebung,  um  ihn 
aus  dem  labilen  Gleichgewicht,  in  dem  er  sich  hält,  zu  entfernen  und  ihm 
je  nach  der  Richtung,  in  der  diese  Verschiebung  erfolgt,  einen  veränderten 
Gehalt  und  eine  veränderte,  ja  entgegengesetzte  methodische  Bedeutung 
zu  geben. 

Die  Geschichte  der  Sprachwissenschaft  im  19.  Jahrhundert  stellt  uns 
in  der  Tat  den  Prozeß,  den  wir  hier  allgemein  und  schematisch  anzu- 
deuten versucht  haben,  in  konkreter  Bestimmtheit  vor  Augen.  Die  Sprach- 
wissenschaft vollzieht  hier  denselben  Übergang,  der  sich  gleichzeitig  in 
der  Geschichtswissenschaft  und  in  der  Systematik  der  Geisteswissenschaf- 
ten überhaupt  vollzieht.  Der  Begriff  des  „Organischen"  behält  seine  zen- 
trale Stellung;  aber  sein  Sinn  und  seine  Tendenz  erfährt  eine  durch- 
greifende Wandlung,  seitdem  dem  Entwicklungsbegriff  der  romantischen 
Philosophie  der  biologische  Entwicklungsbegriff  der  modernen  Natur- 
wissenschaft gegenübertritt.  Indem  in  der  Betrachtung  der  Lebensphäno- 
mene selbst  der  spekulative  Begriff  der  organischen  Form  mehr  und 
mehr  durch  ihren  rein  naturwissenschaftlichen  Begriff  zurückgedrängt 
wird,  wirkt  dies  unmittelbar  auf  die  Betrachtung  der  sprachlichen  Phä- 
nomene zurück.  Es  ist  insbesondere  die  wissenschaftliche  Entwicklung 
August  Schleichers,  in  welcher  dieser  geistige  Wandlungsprozeß  sich 
in  typischer  Deutlichkeit  ausprägt.  Denn  Schleicher  hat  in  seiner  Auf- 
fassung der  Sprache  und  der  Sprachgeschichte  nicht  nur  überhaupt  den 
Schritt  von  Hegel  zu  Darwin  vollzogen,  sondern  er  hat  auch  all  die 
Mittelstufen,  die  zwischen  den  beiden  Anschauungen  stehen,  durchlaufen. 
In  ihm  können  wir  daher  nicht  nur  Anfang  und  Ende,  sondern  auch  die 
einzelnen  Phasen  jener  Bewegung  übersehen,  kraft  deren  die  spekulative 


107 


Sprachbetrachtung  in  die  rein  empirische  überging,  und  in  der  auch  der 
Begriff  des  Sprachgesetzes  allmählich  erst  seinen  ganz  scharfen  Inhalt 
erhalten  hat. 

Schleicher  geht  in  seinem  ersten  größeren  Werk,  den  „Sprachver- 
gleichenden Untersuchungen"  (i848)  davon  aus,  daß  das  eigentliche 
Wesen  der  Sprache,  als  des  lautlich-artikulierten  Ausdrucks  des  geistigen 
Lebens  in  dem  Verhältnis  zu  suchen  sei,  in  welchem  der  Ausdruck  der 
Bedeutung  und  der  Beziehung  zu  einander  stehen.  Durch  die  Art  und 
Weise,  wie  jede  Sprache  Bedeutung  und  Beziehung  ausdrücke,  werde  sie 
charakterisiert:  —  außer  diesen  beiden  Momenten  lasse  sich  schlecht- 
hin kein  drittes,  das  Wesen  der  Sprache  bildendes  Element  denken.  Auf 
Grund  dieser  Voraussetzung  werden  die  Sprachen  in  die  drei  großen 
Haupttypen  der  isolierenden  (einsilbigen),  der  agglutinierenden  und  der 
flektierenden  Sprachen  eingeordnet.  Die  Bedeutung  ist  das  Materielle,  die 
Wurzel;  die  Beziehung  das  Formelle,  die  an  der  Wurzel  vorgenommene 
Veränderung.  Beide  Momente  müssen  als  notwendige  Konstituentien  in 
der  Sprache  enthalten  sein;  aber  wenngleich  keines  von  ihnen  an  sich 
völlig  fehlen  kann,  so  kann  doch  das  Verhältnis,  das  sie  zu  einander 
eingehen,  ein  sehr  verschiedenes,  so  kann  es  ein  bloß  implizites  oder  ein 
mehr  oder  weniger  explizites  sein.  Die  isolierenden  Sprachen  drücken 
lautlich  bloß  die  Bedeutung  aus,  während  der  Ausdruck  der  Beziehung 
der  Stellung  der  Lautworte  und  dem  Akzent  überlassen  bleibt :  die  agglu- 
tinierenden Sprachen  besitzen  neben  den  Bedeutungslauten  zwar  eigene 
Beziehungslaute,  aber  beide  sind  nur  äußerlich  mit  einander  verbunden, 
indem  die  Bezeichnung  der  Beziehung  der  Wurzel,  ohne  daß  diese  eine 
innere  Veränderung  erfährt,  rein  stofflich  und  sinnfällig  angehängt  wird. 
In  den  Flexionssprachen  erst  erscheinen  beide  Grundelemente  nicht  nur 
aneinandergereiht,  sondern  wahrhaft  verknüpft  und  mit  einander  durch- 
drungen. War  das  Erste  die  differenzlose  Identität  von  Beziehung  und 
Bedeutung,  das  reine  Ansich  der  Beziehung  —  das  Zweite  die  Differen- 
zierung in  Beziehungs-  und  Bedeutungslaute,  also  das  Heraustreten  der 
Beziehung  in  ein  gesondertes  lautliches  Dasein  für  sich,  so  ist  das  Dritte 
das  Aufheben  jener  Differenz,  das  sich  Zusammenschließen  derselben: 
die  Rückkehr  zur  Einheit,  aber  zu  einer  unendlich  höheren  Einheit,  weil 
sie,  aus  der  Differenz  erwachsen,  diese  zu  ihrer  Voraussetzung  hat  und  als 
aufgehoben  in  sich  befaßt.  Wenn  bis  hierher  die  Betrachtung  Schleichers 
streng  dem  dialektischen  Schema  Hegels  folgt,  das  ebensowohl  die 
Wesensbestimmung  der  Sprache  als  Ganzes,  wie  die  Auffassung  ihrer 
inneren  Gliederung  beherrscht,  so  steht  doch  andererseits,  schon  in  den 


108 


„Sprachvergleichenden  Untersuchungen"  selbst,  diesem  Versuch  einer  dia- 
lektischen Klassifikation  der  Versuch  einer  naturwissenschaftlichen 
Klassifikation  unmittelbar  zur  Seite.  Der  systematische  Teil  der  Sprach- 
forschung —  so  wird  ausdrücklich  betont  —  hat  eine  unverkennbare 
Ähnlichkeit  mit  den  Naturwissenschaften.  Der  ganze  Habitus  einer  Spra- 
chenfamilie läßt  sich  unter  gewisse  Gesichtspunkte  bringen,  wie  der  einer 
Pflanzen-  oder  Tierfamilie.  „Wie  in  der  Botanik  gewisse  Merkmale  — 
Keimblätter,  Beschaffenheit  der  Blüte  —  vor  andern  sich  als  Einteilungs- 
grund tauglich  erweisen,  eben  weil  diese  Merkmale  gewöhnlich  mit 
anderen  coincidieren,  so  scheinen  in  der  Einteilung  der  Sprachen  inner- 
halb eines  Sprachstammes,  wie  z.  B.  des  Semitischen,  Indogermanischen, 
die  Lautgesetze  diese  Rolle  zu  übernehmen. "Aber  auch  hier  schlägt  frei- 
lich die  Betrachtung  zunächst  nicht  diesen  empirischen  Weg,  sondern  eine 
rein  spekulative  Richtung  ein.  Die  monosyllabischen  Sprachen  gleichen,  da 
sie  keinerlei  Gliederung  des  Wortes  kennen,  dem  einfachen  Krystall,  der 
im  Gegensatze  zu  den  gegliederten  höheren  Organismen  als  strenge  Ein- 
heit erscheint;  den  agglutinierenden  Sprachen,  die  die  Gliederung  in  Teile 
erreicht,  diese  Teile  aber  noch  nicht  zu  einem  wahrhaften  Ganzen  ver- 
schmolzen haben,  entspricht  im  organischen  Reich  die  Pflanze,  während 
die  flektierenden  Sprachen,  bei  denen  das  Wort  die  Einheit  in  der  Man- 
nigfaltigkeit der  Glieder  ist,  dem  animalischen  Organismus  entsprechen1. 
Und  hier  handelt  es  sich  für  Schleicher  nicht  um  eine  bloße  Analogie, 
sondern  um  eine  höchst  bedeutsame  objektive  Bestimmung,  die,  wie  sie 
aus  dem  Wesen  der  Sprache  selbst  quillt,  so  auch  über  die  Methodik 
der  Sprachwissenschaft  entscheidet.  Sind  die  Sprachen  Naturwesen,  so 
müssen  auch  die  Gesetze,  nach  denen  sie  sich  entwickeln,  nicht  geschicht- 
liche, sondern  naturwissenschaftliche  Gesetze  sein.  In  der  Tat  fallen  der 
geschichtliche  und  der  sprachbildende  Prozeß  sowohl  inhaltlich  als  zeit- 
lich völlig  auseinander.  Geschichte  und  Sprachbildung  sind  nicht  neben 
einander  hergehende,  sondern  sich  ablösende  Fähigkeiten  des  mensch- 
lichen Geistes.  Denn  die  Geschichte  ist  das  Werk  des  selbstbewußten 
Willens,  die  Sprache  das  Werk  einer  bewußtlosen  Notwendigkeit.  Wenn 
in  jener  sich  die  Freiheit  darstellt,  die  sich  eigentliche  Wirklichkeit  gibt, 
so  gehört  diese  der  unfreien,  natürlichen  Seite  des  Menschen  an.  „Aller- 
dings zeigt  auch  die  Sprache  ein  Werden ,  das  im  weiteren  Sinne  des 
Wortes  Geschichte  genannt  werden  mag :  ein  sukzessives  Hervortreten  der 
Momente,  aber  dieses  Werden  ist  so  wenig  ein  charakteristisches  Merkmal 

1  S.  bes.  Sprachvergleichende  Untersuchungen  I  (Bonn  i8l\S),  S.^fi.;  II  (Bonn  i85o), 
S.  5  ff. 

109 


der  freien  geistigen  Sphäre,  daß  es  gerade  in  der  Natur  am  ungetrübtesten 
hervortritt."  Sowie  die  Geschichte  eintritt,  der  Geist  den  Laut  nicht  mehr 
erzeugt,  sondern  ihm  gegenüber  tritt  und  sich  seiner  als  Mittel  be- 
dient, kann  sich  die  Sprache  nicht  weiter  entwickeln,  im  Gegenteil 
schleift  sie  sich  jetzt  mehr  und  mehr  ab.  Die  Bildung  der  Sprachen  fällt 
also  vor  die  Geschichte,  der  Verfall  der  Sprachen  dagegen  in  die  histo- 
rische Zeit1. 

Die  Sprache  ist  daher  das  für  den  Menschengeist,  was  die  Natur  für 
den  Weltgeist  ist:  der  Zustand  seines  Andersseins.  „Ihre Übereinstimmung 
mit  der  Geschichte  beginnt  mit  ihrer  Vergeistigung,  von  dem  Zeitpunkte 
an,  seitdem  sie  ihr  Körperliches,  ihre  Form  mehr  und  mehr  verliert.  Der 
naturwissenschaftliche  Teil  der  Sprachenkunde  ist  daher,  im  Gegensatz 
zum  historischen,  der  systematische."  Wenn  der  Philologe,  der  die 
Sprache  nur  als  ein  Mittel  braucht,  um  durch  sie  in  das  geistige  Wesen 
und  Leben  der  Völker  einzudringen,  es  mit  der  Geschichte  zu  tun  hat, 
so  ist  dagegen  das  Objekt  der  Linguistik  die  Sprache,  deren  Beschaffen- 
heit ebensosehr  außerhalb  der  Willensbestimmung  des  Einzelnen  liegt,  als 
es  z.  B.  der  Nachtigall  unmöglich  ist,  ihr  Lied  mit  dem  der  Lerche  zu 
vertauschen.  „Das  aber  woran  der  freie  Wille  des  Menschen  so  wenig  in 
organischer  Weise  etwas  zu  ändern  vermag,  als  an  seiner  leiblichen  Be- 
schaffenheit, gehört  nicht  in  das  Gebiet  des  freien  Geistes,  sondern  in 
jenes  der  Natur.  Demzufolge  ist  auch  die  Methode  der  Linguistik  von  der 
aller  Geschichtswissenschaften  total  verschieden  und  schließt  sich  wesent- 
lich der  Methode  der  übrigen  Naturwissenschaften  an  .  .  .  Wie  die  Na- 
turwissenschaften, so  hat  auch  sie  die  Erforschung  eines  Gebietes  zur 
Aufgabe,  in  welchem  das  Walten  unabänderlicher  natürlicher  Gesetze  er- 
kennbar ist,  an  denen  der  Wille  und  die  Willkür  des  Menschen  nichts  zu 
ändern  vermögen2". 

Man  sieht:  von  hier  aus  bedurfte  es  nur  noch  eines  Schrittes,  um  die 
Sprachbetrachtung  völlig  in  die  Naturbetrachtung,  um  die  Sprachgesetze 
in  reine  Naturgesetze  aufzulösen;  —  und  diesen  Schritt  hat  Schleicher, 
2  5  Jahre  später,  in  seiner  Schrift  „Die  Darwinsche  Theorie  und  die 
Sprachwissenschaft"  getan.  In  dieser  Schrift,  die  die  Form  eines  „offenen 
Sendschreibens  an  Ernst  Haeckel"  hat,  wird  der  Gegensatz  von  „Natur" 
und  „Geist",  der  bisher  Schleichers  Auffassung  der  Sprache  und  ihrer 
Stellung  im  System  der  Wissenschaf  ten  beherrschte,  als  unzeitgemäß  fallen 
gelassen.  Schleicher  stellt  fest,  daß  die  Richtung  des  Denkens  der  Neu- 

1  Sprachvergl.  Untersuchungen  II,  io  ff.;  vgl.  bes.  I,  16  ff. 

2  Sprachvergl.  Untersuch.  II,  2 f.;  vgl.  II,  2iff.  und  I,  24ff. 


HO 


zeit  „unverkennbar  auf  Monismus  hinauslaufe".  Der  Dualismus,  fasse 
man  ihn  nun  als  Gegensatz  von  Geist  und  Natur,  Inhalt  und  Form,  Wesen 
und  Erscheinung,  sei  für  die  naturwissenschaftliche  Anschauung  ein  voll- 
kommen überwundener  Standpunkt.  Für  diese  gebe  es  keine  Materie 
ohne  Geist,  aber  ebensowenig  einen  Geist  ohne  Materie :  oder  vielmehr  es 
gebe  weder  Geist  noch  Materie  in  gewöhnlichem  Sinne,  sondern  nur  eines, 
das  beides  zugleich  ist.  Die  Sprachwissenschaft  hat  hieraus  die  einfache 
Folgerung  zu  ziehen,  daß  auch  sie  auf  jegliche  Sonderstellung  ihrer 
Gesetze  zu  verzichten  hat.  Die  Theorie  der  Evolution,  die  Darwin  für  die 
Arten  der  Tiere  und  Pflanzen  geltend  gemacht  hat,  muß  nicht  minder  für 
die  Organismen  der  Sprachen  gelten.  Den  Arten  einer  Gattung  entsprechen 
die  Sprachen  eines  Stammes,  den  Unterarten  die  Dialekte  oder  Mund- 
arten einer  Sprache,  den  Varietäten  und  Spielarten  entsprechen  die  Un- 
termundarten oder  Neben mundarten  und  endlich  den  einzelnen  Indi- 
viduen die  Sprechweise  der  einzelnen  die  Sprache  redenden  Menschen. 
Und  auch  hier  auf  sprachlichem  Gebiet  gilt  die  Entstehung  der  Arten  - 
durch  allmähliche  Differenzierung  und  die  Erhaltung  der  höher  ent- 
wickelten Organismen  im  Kampf  ums  Dasein,  womit  der  Darwinsche 
Gedanke  weit  über  sein  ursprüngliches  Gebiet  hinaus  bewährt  und  als 
einheitliche  Grundlage  der  Natur-  und  Geisteswissenschaften  erwiesen 
scheint1. 

Methodisch  befinden  wir  uns  damit  an  dem  äußersten  Gegenpol  von 
Schleichers  ursprünglichem  Ausgangspunkt.  Alles  a  priori  Konstruierte  — 
so  wird  nun  ausdrücklich  erklärt  —  ist  im  besten  Falle  ein  geistreiches 
Spiel,  für  die  Wissenschaft  aber  wertloser  Plunder.  Ist  einmal  erkannt, 
daß  „die  Beobachtung  die  Grundlage  des  heutigen  Wissens"  ist,  ist  die 
Empirie  unbeschränkt  in  ihre  Rechte  eingesetzt,  so  folgt  daraus,  wie  die 
Auflösung  jeglicher  dialektischen  Naturphilosophie,  so  auch  die  Auf- 
lösung der  bisherigen  Sprachphilosophie:  sie  gehört  einer  vergangenen 
Phase  des  Denkens  an,  deren  Lösungen  nicht  nur,  sondern  selbst  deren 
Fragestellung  endgültig  hinter  uns  liegt. 

Schleicher  selbst  ist  freilich,  auch  in  seiner  letzten  Fassung  des  Sprach- 
problems, der  Forderung,  die  er  hier  aufstellt,  nur  zum  kleinen  Teil  ge- 
recht geworden :  —  es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  er  in  seiner  Wendung  von 
Hegel  zu  Haeckel  nur  eine  Form  der  Metaphysik  gegen  eine  andere  ver- 
tauscht hat.  Das  gelobte  Land  des  Positivismus  auch  wirklich  zu  be- 
treten, war  erst  einer  neuen  Generation  von  Forschern  vorbehalten,  die, 
statt  auf  eine  monistische  oder  evolutionistische  Gesamterklärung  des 

1  S.  Schleicher,  Die  Darwinsche  Theorie  und  die  Sprachwissenschaft.  Weimar  1873. 

III 


Wirklichen  auszugehen,  die  Methodenprobleme  der  Sprachwissenschaft  in 
ihrer  Besonderheit,  in  ihrer  scharfen  und  klaren  Isolierung,  zu  erfassen 
und  sie  in  dieser  Isolierung  zu  lösen  versuchten. 

VII 

Eine  solche  Beschränkung  war  freilich  nicht  in  dem  Sinne  möglich, 
daß  dadurch  das  Sprachproblem  mit  einem  Schlage  aus  all  den  Ver- 
flechtungen und  Verwicklungen  gelöst  erschien,  in  denen  es  einerseits  mit 
den  Methodenfragen  der  Geschichtswissenschaft,  andererseits  mit  denen 
der  Naturwissenschaft  steht.  Denn  auch  der  Positivismus,  dem  nunmehr 
die  Lösung  dieses  Problems  ein  für  allemal  anvertraut  scheint,  ist, 
wenn  er  die  Möglichkeit  der  Metaphysik  verneint/ eben  in  dieser  Vernei- 
nung selbst  noch  Philosophie.  Als  solche  aber  kann  er  niemals  bei  einer 
bloßen  Mannigfaltigkeit  besonderer  Tatsachen  oder  besonderer  Gesetze 
für  Tatsächliches  stehen  bleiben,  sondern  muß  für  diese  Mannigfaltigkeit 
eine  Einheit  suchen,  die  nirgend  anders  als  im  Begriff  des  Gesetzes  selbst 
gefunden  werden  kann.  Daß  diesem  Begriff  eine  einheitliche,  in  den  ver- 
schiedenen Gebieten  des  Wissens  sich  gleichbleibende  Bedeutung  zu- 
kommt, wird  zunächst  einfach  vorausgesetzt:  aber  je  weiter  die  metho- 
dische Selbstbestimmung  fortschreitet,  um  so  mehr  muß  gerade  diese 
Voraussetzung  zum  Problem  werden.  Wir  reden  von  sprachlichen,  von 
historischen  und  von  naturwissenschaftlichen  „Gesetzen",  zwischen  denen 
allen  also  irgend  eine  logische  Gemeinsamkeit  der  Struktur  angenommen 
wird  —  aber  wichtiger  als  diese  Gemeinsamkeit  erscheint  vom  Stand- 
punkt der  Methodenlehre  die  spezifische  Prägung  und  Nuancierung,  die 
der  Gesetzesbegriff  in  jedem  Einzelgebiet  erfährt.  Soll  das  Ganze  der 
Wissenschaften  als  wahrhaft  systematisches  Ganze  erfaßt  werden,  so  muß 
auf  der  einen  Seite  in  ihnen  allen  eine  allgemeine  Aufgabe  der  Erkenntnis 
herausgehoben,  auf  der  anderen  Seite  aber  gezeigt  werden,  wie  diese  Auf- 
gabe in  jeder  von  ihnen  unter  bestimmten  besonderen  Bedingungen  je 
eine  besondere  Lösung  erfährt.  Durch  beide  Rücksichten  wird  die  Ent- 
wicklung des  Gesetzesbegriffs  in  der  modernen  Sprachwissenschaft  be- 
stimmt. Wenn  man  vom  Standpunkt  der  allgemeinen  Wissenschafts- 
geschichte und  der  allgemeinen  Erkenntniskritik  die  Wandlungen  dieses 
Begriffs  verfolgt,  so  tritt  hier  in  sehr  merkwürdiger  und  charakte- 
ristischer Weise  hervor,  wie  die  einzelnen  Gebiete  des  Wissens  auch  dort, 
wo  von  einem  unmittelbaren  Einfluß  des  einen  auf  das  andere  nicht  ge- 
sprochen werden  kann,  einander  ideell  bedingen.  Den  verschiedenen 
Phasen,  die  der  Begriff  des  Naturgesetzes  durchläuft,  entsprechen,  mit 


112 


fast  lückenloser  Vollständigkeit,  ebensoviel  verschiedene  Auffassungen 
der  sprachlichen  Gesetze.  Und  hier  handelt  es  sich  nicht  um  eine  äußer- 
liche Übertragung,  sondern  um  eine  tiefere  Gemeinsamkeit :  um  die  Aus- 
wirkung bestimmter  intellektueller  Grundtendenzen  der  Zeit  in  ganz  ver- 
schiedenen Problemkreisen. 

Die  Prinzipienlehre  der  exakten  Naturwissenschaft,  wie  sie  um  die 
Mitte  des  19.  Jahrhunderts  herrschte,  hat  ihren  prägnantesten  Ausdruck 
in  jenen  berühmten  Sätzen  erhalten,  mit  denen  Helmholtz  seine  Schrift 
„Über  die  Erhaltung  der  Kraft"  einleitet.  Indem  Helmholtz  als  Aufgabe 
dieser  Schrift  den  Nachweis  bezeichnet,  daß  alle  Wirkungen  in  der  Natur 
auf  anziehende  und  abstoßende  Kräfte  zurückzuführen  seien,  deren  In- 
tensität nur  von  der  Entfernung  der  auf  einander  wirkenden  Punkte  ab- 
hänge, will  er  diesen  Satz  nicht  als  ein  bloßes  Faktum  aufstellen,  son- 
dern seine  Geltung  und  Notwendigkeit  aus  der  Form  des  Naturbegreifens 
selbst  herleiten.  Der  Grundsatz,  daß  jede  Veränderung  in  der  Natur  eine 
zureichende  Ursache  haben  müsse,  ist  nach  ihm  nur  dann  wahrhaft  er- 
füllt, wenn  es  gelingt,  alles  Geschehen  auf  letzte  Ursachen  zurückzu- 
führen, welche  nach  einem  schlechthin  unveränderlichen  Gesetz  wirken, 
welche  folglich  zu  jeder  Zeit  unter  denselben  äußeren  Verhältnissen  die- 
selbe Wirkung  hervorbringen.  Die  Aufdeckung  dieser  letzten  unver- 
änderlichen Ursachen  sei  in  jedem  Fall  das  eigentliche  Ziel  der  theore- 
tischen Naturwissenschaften.  „Ob  nun  wirklich  alle  Vorgänge  auf  solche 
zurückzuführen  seien,  ob  also  die  Natur  vollständig  begreiflich  sein 
müsse,  oder  ob  es  Veränderungen  in  ihr  gebe,  die  sich  dem  Gesetze  einer; 
notwendigen  Kausalität  entziehen,  die  also  in  das  Gebiet  einer  Sponta- 
neität, Freiheit,  fallen,  ist  hier  nicht  der  Ort  zu  entscheiden;  jedenfalls 
ist  es  klar,  daß  die  Wissenschaft,  deren  Zweck  es  ist,  die  Natur  zu  be- 
greifen, von  der  Voraussetzung  ihrer  Begreiflichkeit  ausgehen  müsse,  und 
dieser  Voraussetzung  gemäß  schließen  und  untersuchen,  bis  sie  vielleicht 
durch  unwiderlegliche  Facta  zur  Anerkenntnis  ihrer  Schranken  genötigt 
sein  sollte1."  Wie  diese  Voraussetzung,  daß  die  Begreiflichkeit  der  Natur 
mit  ihrer  durchgängigen  Erklärbarkeit  nach  mechanischen  Prinzipien  zu- 
sammenfalle, vom  Gebiet  des  „anorganischen"  Seins  in  das  des  orga- 
nischen Geschehens  übergriff,  wie  auch  die  beschreibende  Naturwissen- 
schaft von  ihr  ergriffen  und  vollständig  beherrscht  wurde,  ist  bekannt. 
Die  „Grenzen  des  Naturerkennens"  fielen  jetzt  mit  den  Grenzen  des 
mechanischen  Weltbildes  zusammen.  Einen  Vorgang  der  anorganischen 
oder  organischen  Natur  erkennen  hieß  nichts  anderes,  als  ihn  in  Ele- 

1  Helmholtz,  Über  die  Erhaltung  der  Kraft  (1847);  S-  2f- 

8  *  n3 


mentarvorgänge,  und  zuletzt  in  die  Mechanik  der  Atome  aufzulösen :  was 
sich  dieser  Auflösung  nicht  fügt,  das  scheint  für  den  menschlichen  Geist 
und  für  alle  menschliche  Wissenschaft  ein  schlechthin  transzendentes 
Problem  bleiben  zu  müssen. 

Denkt  man  sich  diese  Grundanschauung,  die  innerhalb  der  Naturwis- 
senschaft am  schärfsten  in  du  Bois-Reymonds  bekannter  Rede  „Über 
die  Grenzen  des  Naturerkennens"  (1872)  vertreten  wurde,  auf  die  Be- 
trachtung der  Sprache  angewandt  —  so  wird  auch  von  einem  Begreifen 
der  Sprache  nur  dann  die  Rede  sein  können,  wenn  es  gelingt,  ihre  kom- 
plexen Erscheinungen  auf  einfache  Veränderungen  letzter  Elemente  zu 
reduzieren  und  für  diese  Veränderungen  allgemeingültige  Regeln  aufzu- 
stellen. Der  älteren  spekulativen  Fassung  des  Gedankens  des  Sprachorga- 
nismus lag  eine  derartige  Folgerung  fern,  denn  gerade  weil  das  orga- 
nische Geschehen  für  sie  zwischen  Natur  und  Freiheit  stand,  schien  es 
keiner  absoluten  Notwendigkeit  unterworfen  werden  zu  können,  schien 
es  zwischen  verschiedenen  Möglichkeiten  stets  einen  gewissen  Spielraum 
offen  zu  lassen.  Bopp  hatte  gelegentlich  ausdrücklich  betont,  daß  man 
in  der  Sprache  keine  Gesetze  suchen  dürfe,  die  festeren  Widerstand  lei- 
steten als  die  Ufer  der  Flüsse  und  Meere1.  Hier  herrscht  der  Goethesche 
Begriff  des  Organismus:  die  Sprache  wird  einer  Regel  unterworfen,  die, 
nach  dem  Goetheschen  Ausdruck,  fest  und  ewig,  aber  zugleich  lebendig 
ist.  Jetzt  aber,  nachdem  in  der  Naturwissenschaft  selbst  die  Idee  des 
Organismus  völlig  in  den  Begriff  des  Mechanismus  aufgelöst  schien,  blieb 
für  eine  derartige  Auffassung  kein  Raum  mehr.  Die  ausnahmslose  Ge- 
setzlichkeit, die  alles  Werden  der  Sprache  beherrscht,  mag  in  den  kom- 
plexen Erscheinungen  noch  so  sehr  verdunkelt  erscheinen;  aber  in  den 
eigentlichen  Elementarvorgängen  der  Sprache,  in  den  Erscheinungen  des 
Lautwandels,  muß  sie  unverhüllt  hervortreten.  „Läßt  man  beliebige  zu- 
fällige, untereinander  in  keinen  Zusammenhang  zu  bringende  Abwei- 
chungen zu"  —  so  wird  jetzt  betont  —  „so  erklärt  man  im  Grunde  da- 
mit, daß  das  Objekt  der  Untersuchung,  die  Sprache,  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis  nicht  zugänglich  ist2".  Wie  man  sieht,  ist  es  auch  hier 
eine  allgemeine  Voraussetzung  über  das  Begreifen  und  die  Begreiflichkeit 
überhaupt,  ist  es  ein  ganz  bestimmtes  Erkenntnisideal,  von  dem  aus 
eine  bestimmte  Fassung  der  sprachlichen  Gesetze  gefordert  wird.  Seine 
schärfste  Fassung  hat  dieses  Postulat  der  Ausnahmslosigkeit  der  Elementar- 
gesetze in  Brugmanns  und  Osthof  fs  „Morphologischen  Untersuch  un- 

1  Vgl.  Delbrück,  Einleit.  in  das  Sprachstudium,  S.  21. 

2  Leskien,  Die  Deklination  im  Slawisch-Litauischen  und  Germanischen  (1876). 


u4 


gen"  erhalten.  „Aller  Lautwandel,  so  weit  er  mechanisch  vor  sich  geht, 
vollzieht  sich  nach  ausnahmslosen  Gesetzen,  d.  h.  die  Richtung  der  Laut- 
bewegung ist  bei  allen  Angehörigen  einer  Sprachgenossenschaft  . .  stets 
dieselbe  und  alle  Wörter,  in  denen  der  der  Lautbewegung  unterworfene 
Laut  unter  gleichen  Verhältnissen  erscheint,  werden  ohne  Ausnahme  von 
der  Änderung  ergriffen1." 

Aber  wenn  diese  Anschauung  der  „junggramatischen  Richtung" 
sich  jetzt  immer  fester  begründete  und  wenn  sie  der  gesamten  wis- 
senschaftlichen Sprachbetrachtung  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts ihr  eigentliches  Gepräge  gab,  so  unterlag  hierbei  doch  der 
Begriff  des  Lautgesetzes  allmählich  denselben  Wandlungen,  wie  sie 
gleichzeitig  in  der  Auffassung  des  allgemeinen  Begriffs  des  Na- 
turgesetzes zu  erkennen  sind.  Die  Forderung,  das  Naturgeschehen  aus 
den  allgemeinen  Gesetzen  des  Mechanismus  zu  erklären,  wird,  je  stren- 
gere Geltung  das  rein  positivistische  Ideal  in  der  Wissenschaft  erhält, 
mehr  und  mehr  zurückgedrängt:  an  ihre  Stelle  tritt  die  bescheidenere 
Aufgabe,  es  in  solchen  Gesetzen  zu  beschreiben.  Die  Mechanik  selbst 
ist  jetzt  —  nach  der  bekannten  Kirchhof  f  sehen  Definition  —  nichts  an- 
deres als  die  vollständige  und  eindeutige  Beschreibung  der  in  der  Natur 
vor  sich  gehenden  Bewegungsvorgänge2.  Was  sie  gibt,  sind  nicht  die 
letzten  absoluten  Gründe  des  Geschehens,  sondern  nur  die  Formen,  in 
denen  dies  Geschehen  verläuft. Mehr  als  einen  solchen  zusammenfassenden 
Ausdruck  empirisch  beobachteter  Regelmäßigkeiten  wird  man  demnach, 
wenn  die  Analogie  zwischen  Sprachwissenschaft  und  Naturwissenschaft 
sich  behauptet,  auch  von  den  Gesetzen  der  Sprache  nicht  zu  erwarten  und 
nicht  zu  fordern  haben.  Auch  hier  wird  es  sich,  wenn  wir  streng  innerhalb 
des  Kreises  des  tatsächlich  Gegebenen  stehen  bleiben,  nicht  darum  han- 
deln können,  die  letzten  Kräfte  der  Sprachbildung  aufzuweisen,  sondern 
lediglich  bestimmte  Gleichförmigkeiten  an  ihr  durch  Beobachtung 
und  Vergleichung  festzustellen.  Damit  aber  gewinnt  nun  auch  die  angeb- 
liche „Naturnotwendigkeit"  der  Lautgesetze  einen  anderen  Charakter. 
„Nach  allem,  was  erst  die  methodisch  strenger  gewordene  Forschung 
unserer  Tage  ermittelt  hat  —  so  formuliert  noch  Osthoff  im  Jahre  1878 
das  Prinzip  der  Ausnahmslosigkeit  der  Lautgesetze  —  stellt  sich  das 
immer  deutlicher  heraus,  daß  die  Lautgesetze  der  Sprachen  geradezu 
blind,  mit  blinder  Naturnotwendigkeit  wirken,  daß  es  Ausnahmen  von 

1  Osthoff  und  Brugmann,  Morphologische  Untersuchungen,  I,  Lpz.  1878,  S.  XIII; 
Leskien,  a.a.O.,  Lpz.  1876,  S.  XXVIII. 

2  Kirchhoff,  Vöries,  über  mathematische  Physik;  Bd.  I,  Mechanik,  S.  1,  Berlin  1876. 

8*  n5 


ihnen  oder  Verschonungen  durch  dieselben  schlechterdings  nicht  gibt1." 
Wesentlich  nüchterner  und  kritischer  wird  indes  die  Art  der  Geltung, 
die  den  Lautgesetzen  eignet,  von  einem  Forscher,  wie  Hermann  Paul 
bestimmt.  „Das  Lautgesetz  —  so  betont  er  ausdrücklich  —  sagt  nicht 
aus,  was  unter  gewissen  allgemeinen  Bedingungen  immer  wieder  eintreten 
muß,  sondern  es  konstatiert  nur  die  Gleichmäßigkeit  innerhalb  einer 
Gruppe  bestimmter  historischer  Erscheinungen2."  Einer  derartigen  Auf- 
fassung, die  im  Begriff  des  Gesetzes  nur  den  Ausdruck  bestimmter  Fakta 
der  Sprachgeschichte,  nicht  den  Ausdruck  der  letzten  Faktoren  aller 
Sprachbildung  sieht,  steht  es  frei,  die  beobachteten  Gleichförmigkeiten 
auf  ganz  verschiedene  Kräfte  zu  verteilen.  Neben  den  physischen  Elemen- 
tarprozessen der  Lauterzeugung  müssen  nun  auch  die  komplexen  psychi- 
schen Bedingungen  des  Sprechens  wieder  bestimmter  in  ihre  Rechte 
treten.  Auf  jene  werden  jetzt  im  allgemeinen  die  konstanten  Gleichför- 
migkeiten des  Lautwandels,  auf  diese  wird  die  scheinbare  Durchbrechung 
dieser  konstanten  Regeln  zurückgeführt.  Der  strengen  und  ausnahmslosen 
Durchführung  der  physiologischen  Gesetze,  die  den  Lautwandel  regeln, 
steht  der  Trieb  der  sprachlichen  Analogiebildung  gegenüber,  der  dar- 
auf gerichtet  ist,  die  formal  zusammengehörigen  Worte  der  Sprache 
auch  lautlich  zusammenzuhalten  und  sie  einander  anzugleichen.  Indes 
hält  sich  freilich  auch  diese  Anerkennung  der  psychischen,  der  „geisti- 
gen" Faktoren  der  Sprachbildung  zunächst  noch  in  relativ  engen  Grenzen. 
Denn  der  Begriff  des  Geistes  bedeutet  hier  nicht  mehr  dasselbe,  was  er 
für  Humboldt  und  für  die  idealistische  Philosophie  bedeutet  hatte.  Er 
trägt  selbst  eine  unverkennbar  naturalistische  Prägung:  er  ist  durch  den 
Begriff  des  Mechanismus  hindurchgegangen  und  durch  ihn  bestimmt. 
Als  Grundgesetze  des  Geistes  erscheinen  demnach  jetzt  die  psychologi- 
schen Gesetze,  die  den  „Mechanismus  der  Vorstellungen"  beherrschen. 
Ob  man  hierbei  diese  Gesetze  im  Sinne  der  Wundtschen,  oder  wie  II.  Paul 
es  tut,  im  Sinne  der  Herbartschen  Psychologie  formuliert,  gilt  vom  rein 
prinzipiellen  Standpunkt  aus  gleichviel.  Immer  ist  es  zuletzt  der  Typus 
der  „Assoziationsgesetze",  auf  den  man  die  Sprachgesetze  zurückzuführen 

1  Osthoff,  Das  Verbum  in  der  Nominalkomposition  im  Deutschen,  Griechischen,  Sla- 
vischen  und  Romanischen,  Jena  1878,  S.  826. 

2  H.Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte  (zuerst  1886);  3.  Aufl.,  Halle  1898,8.61. 
Bei  B.Delbrück  erhält  der  gleiche  Gedanke  gelegentlich  die  paradoxe  Formulierung, 
daß  zwar  die  „Lautgesetze  an  sich",  nicht  aber  die  „empirischen  Lautgesetze"  ausnahms- 
los seien.  (Das  Wesen  der  Lautgesetze  in  Ostwalds  „Annalen  der  Naturphilosophie"  I, 
1902,  S.  294.) 


Il6 


und  von  dem  aus  man  sie  zu  begreifen  sucht1.  Damit  aber  stehen  die 
inhaltlich  verschiedenen  Faktoren  der  Sprachbildung  doch  methodisch 
auf  der  gleichen  Linie  und  gehören  gleichsam  derselben  Dimension  der 
Betrachtung  an.  Durch  das  Ineinandergreifen  der  verschiedenen  physio- 
logischen Mechanismen  der  Lauterzeugung  und  des  psychologischen 
Mechanismus  der  Assoziationen  baut  sich  in  der  Seele  des  Individuums 
die  Sprache  auf;  —  wird  sie  zu  einem  Ganzen,  das  doch  für  uns  nicht 
anders  zu  verstehen  ist,  als  dadurch,  daß  wir  es  fortschreitend  in  phy- 
sische und  psychische  Elementarprozesse  zerlegen2. 

Somit  bleibt  die  Sprache  hier  dem  Kreise  des  Naturgeschehens  ein- 
geordnet: aber  an  die  Stelle  des  Naturbegriffs  der  Mechanik  ist  ein 
weiterer  Begriff,  ist  die  „psycho-physische"  Natur  des  Menschen  getreten. 
In  der  umfassendsten  und  konsequentesten  Darstellung,  die  die  Sprach- 
erscheinungen vom  Standpunkt  der  modernen  Psychologie  gefunden 
haben,  wird  diese  Wendung  ausdrücklich  hervorgehoben.  Die  Art,  wie 
Lautgesetze  und  Analogiebildungen  fortwährend  ineinandergreifen  —  so 
betont  Wundt — ,  wird  offenbar  viel  verständlicher,  wenn  man  sie  nicht 
als  disparate,  einander  entgegenwirkende  Kräfte,  sondern  als  Bedingun- 
gen auffaßt,  die  schließlich  beide  irgendwie  in  der  einheitlichen  psy- 
chisch-physischen Organisation  des  Menschen  begründet  sind.  ,, Damit 
stimmt  überein,  daß  wir  einerseits  wegen  der  gedächtnismäßigen  Repro- 
duktion lautgesetzlicher  Formen  notwendig  bei  diesen  eine  Mitwirkung 
der  nämlichen  Assoziationen  voraussetzen  müssen,  die  man  zur  Erklä- 
rung der  Analogiebildungen  heranzieht,  und  daß  andererseits  die  Asso- 
ziationen, wie  alle  psychischen  Vorgänge,  durch  Einübung  in  automatische 
Verbindungen  übergehen,  so  daß  diejenigen  Erscheinungen,  die  von  vorn- 
herein auf  die  Seite  der  psychischen  Momente  verlegt  werden,  mit  der 
Zeit  auf  die  der  physischen  zu  stehen  kommen.  Nicht  bloß  sukzessiv  wandelt 
sich  aber  auf  solche  Weise  das,  was  wir  auf  Grund  gewisser  in  die  Augen 
fallender  Merkmale  ein  Physisches  nennen,  in  ein  Psychisches,  und  um- 
gekehrt dieses  in  jenes  um,  sondern  vielfach  durchkreuzen  sich  beide  von 
Anfang  an  so  innig,  daß  sie  gar  nicht  voneinander  gesondert  werden 
können,  weil  mit  jedem  Moment  der  einen  Art  auch  eines  der  anderen 
hinwegfallen  müßte3."  Hier  scheint  die  idealistische  Forderung  der  „To- 

1  Zu  dieser  beherrschenden  Stellung  des  Assoziationsbegriffs  und  der  Assoziationsgeselze 
vgl.  neben  dem  Werk  Wundts  z.  B.  H.  Paul,  a.  a.  O.,  S.  23  f.;  96  ff.  u.  ö. 

2  Vgl.  z.  ß.  Osthoff,  Das  physiologische  und  psychologische  Moment  in  der  sprachlichen 
Formenbildung,  Berlin  1879. 

3  Wundt,  Völkerpsychologie  2  I,  369. 

"7 


talität"  —  die  Forderung,  die  Sprache  nicht  aus  disparaten  Elementen 
zusammenzusetzen,  sondern  in  ihr  stets  den  Ausdruck  des  „ganzen"  Men- 
schen und  seines  geistig-natürlichen  Seins  zu  sehen  —  in  einer  neuen 
Form  wiederzukehren :  aber  es  zeigt  sich  freilich  zugleich,  daß  diese  For- 
derung in  dem,  was  hier  die  Einheit  der  „psychophysischen  Natur"  des 
Menschen  genannt  wird,  einstweilen  nur  eine  vage  Bezeichnung  und  eine 
unzureichende  Erfüllung  gefunden  hat.  Blickt  man  jetzt  auf  das  Ganze 
der  Entwicklung  zurück,  die  die  Sprachphilosophie  von  Humboldt  bis  zu 
den  „Junggrammatikern",  von  Schleicher  bis  Wundt  durchlaufen  hat, 
so  sieht  man,  daß  sie  sich,  bei  aller  Ausdehnung  der  besonderen  Kennt- 
nisse und  Erkenntnisse,  rein  methodisch  betrachtet,  im  Kreise  bewegt 
hat.  Die  Sprachwissenschaft  sollte  auf  die  Naturwissenschaft  bezogen, 
sollte  an  ihrem  Aufbau  orientiert  werden,  um  in  sich  die  gleiche  Sicher- 
heit wie  diese  zu  finden,  um  den  gleichen  Gehalt  exakter,  unverbrüchlicher 
Gesetze  zu  erwerben.  Aber  der  Begriff  der  Natur,  auf  den  man  sie  zu 
stützen  versuchte,  erwies  sich  mehr  und  mehr  als  eine  bloß  scheinbare 
Einheit.  Je  schärfer  er  analysiert  wurde,  um  so  deutlicher  wurde  es,  daß 
er  selbst  noch  Momente  von  ganz  verschiedener  Bedeutung  und  Herkunft 
in  sich  barg.  Solange  das  Verhältnis  dieser  Momente  nicht  durchschaut 
und  nicht  eindeutig  bestimmt  ist,  solange  sind  die  verschiedenen  natura- 
listisch gefärbten  Sprachbegriffe  beständig  in  Gefahr,  dialektisch  in  ihr 
Gegenteil  umzuschlagen.  Am  Begriff  des  Lautgesetzes  läßt  sich  diese 
Wandlung  verfolgen:  —  denn  wenn  er  anfangs  dazu  bestimmt  war,  die 
strenge  und  ausnahmslose  Notwendigkeit  zu  bezeichnen,  die  in  allen 
sprachlichen  Veränderungen  waltet,  so  wird  er  zuletzt  dieser  Bestimmung 
mehr  und  mehr  entfremdet.  Der  Lautwechsel  und  Lautwandel  erscheint  so 
wenig  als  Ausdruck  einer  „blinden"  Notwendigkeit,  daß  er  vielmehr  auf 
bloß  „statistische  Zufallsregeln"  zurückgedeutet  wird.  Die  angeblichen 
Gesetze  der  Natur  werden  in  dieser  Auffassung  zu  bloßen  Gesetzen  der 
Mode,  die  durch  irgendeinen  individuellen  Willkürakt  erschaffen,  sich 
durch  Gewohnheit  festsetzen  und  durch  Nachahmung  weiter  ausbreiten1. 
So  birgt  gerade  jener  Begriff,  der  der  Sprachwissenschaft  die  feste  und 
einheitliche  Grundlage  schaffen  sollte,  noch  überall  unvermittelte  Gegen- 
sätze in  sich,  durch  die  die  philosophische  Betrachtung  der  Sprache  vor 
neue  Aufgaben  gestellt  wird. 

1  Dies  ist  im  wesentlichen  die  Auffassung  der  Lautgesetze,  die  B.Delbrück  a.a.O. 
vertritt,  s.  Annalen  der  Naturphilosophie  I,  277  ff.;  bes.  S.  297  ff.  Zur  Fassung  der 
Lautgeselze  als  „Gesetze  der  Mode"  s.  auch  Fr.  Müller:  Sind  die  Lautgesetze  Natur- 
geselze? in  Techmers  Zeitschrift  I  (i884),  S.  211  ff. 


Il8 


Wie  hierdurch  das  positivistische  Schema  der  Betrachtung  nicht  nur 
allmählich  gelockert,  sondern  schließlich  völlig  gesprengt  wird:  das  tritt 
besonders  deutlich  in  den  Schriften  Karl  Vosslers  zu  Tage.  Vossler 
knüpft  in  seinen  beiden  Schriften  „Positivismus  und  Idealismus  in  der 
Sprachwissenschaft"  (190/i)  und  „Sprache  als  Schöpfung  und  Entwick- 
lung" (1905)  an  Hegel  an;  aber  nicht  minder  deutlich  als  dieser  Zusam- 
menhang ist  die  Linie,  die  ihn  mitWilh.  v. Humboldt  verbindet.  Humboldts 
Gedanke,  daß  die  Sprache  niemals  als  bloßes  Werk  (Ergon),  sondern  als 
Tätigkeit  (Energeia)  zu  begreifen  ist,  daß  alles,  was  an  ihr  „Tatsache"  ist, 
erst  völlig  verständlich  wird,  wenn  man  es  bis  zu  den  geistigen  „Tathand- 
lungen" zurückverfolgt,  aus  denen  es  entspringt,  erfährt  hier  unter  verän- 
derten geschichtlichen  Bedingungen  seine  Erneuerung.  Schon  bei  Humboldt 
soll  durch  dieses  Prinzip  nicht  sowohl  der  psychologische  „Ursprung"  der 
Sprache,  als  vielmehr  ihre  bleibende,  durch  alle  Phasen  ihres  geistigen 
Aufbaus  hindurchwirkende  Form  bezeichnet  werden.  Dieser  Aufbau 
gleicht  nicht  der  bloßen  Entfaltung  eines  gegebenen  natürlichen  Keimes, 
sondern  er  trägt  den  durchgängigen  Charakter  geistiger  Spontaneität, 
die  sich  auf  jeder  neuen  Stufe  in  neuer  Weise  äußert.  In  gleichem  Sinne 
wird  auch  von  Vossler  dem  an  sich  vieldeutigen  Begriff  der  „Entwick- 
lung" der  Sprache  der  Begriff  der  Sprache  als  Schöpfung  gegenüber- 
und  entgegengestellt.  Was  sich  an  ihr,  als  gegebene  Gesetzlichkeit  eines 
bestimmten  Zustandes,  in  der  Form  von  Begeln  festhalten  läßt,  ist  ein 
bloßes  Petrefakt;  aber  hinter  diesem  bloß  Gewordenen  stehen  nun  erst 
die  eigentlichen  konstitutiven  Akte  des  Werdens,  die  ständig  sich  er- 
neuernden geistigen  Zeugungsakte.  Und  in  ihnen,  auf  denen  das  Ganze 
der  Sprache  wesentlich  beruht,  soll  nun  auch  die  wahrhafte  Erklärung  des 
Einzelnen  der  Spracherscheinungen  gefunden  werden.  Die  positivistische 
Richtung  der  Betrachtung,  die  von  den  Elementen  zum  Ganzen,  von  den 
Lauten  zu  den  Worten  und  Sätzen  und  von  hier  zu  dem  eigentümlichen 
„Sinn"  der  Sprache  fortzuschreiten  sucht,  verkehrt  sich  daher  jetzt  in  ihr 
Gegenteil.  Vom  Primat  des  „Sinnes"  und  von  der  Allgemeinheit  der 
Sinnfügung  aus  gilt  es,  die  Einzelphänomene  der  Sprachentwicklung  und 
der  Sprachgeschichte  zu  begreifen.  Der  Geist,  der  in  der  menschlichen 
Rede  lebt,  konstituiert  den  Satz,  das  Satzglied,  das  Wort  und  den  Laut. 
Wird  mit  diesem  „idealistischen  Kausalitätsprinzip"  voller  Ernst  gemacht, 
so  müssen  sämtliche  Erscheinungen,  die  von  den  unteren  Disziplinen,  wie 
Lautlehre,  Flexionslehre,  Wortbildung  und  Syntax,  beschrieben  werden, 
ihre  letzte  und  wahrhafte  Erklärung  in  der  obersten  Disziplin,  d.  h.  in  der 
Stilistik  finden.  Aus  dem  „Stil",  der  im  Aufbau  jeder  Sprache  waltet, 


"9 


sind  ihre  grammatischen  Regeln,  sind  die  „Gesetze",  wie  die  „Aus- 
nahmen" in  der  Formenbildung  und  in  der  Syntax  zu  erklären.  Den 
Sprachgebrauch,  insofern  er  Konvention,  d.  h.  schon  erstarrte  Regel  ist, 
stellt  die  Syntax  dar,  den  Sprachgebrauch,  sofern  er  lebendige  Schöp- 
fung und  Rildung  ist,  betrachtet  die  Stilistik;  der  Weg  muß  also  von 
dieser  zu  jener,  nicht  von  jener  zu  dieser  gehen,  so  wahr  in  allem  Gei- 
stigen die  Form  des  Werdens  es  ist,  die  uns  das  Verständnis  der  Form 
des  Gewordenen  erst  erschließt1. 

Soweit  es  sich  um  die  bloße  Ermittlung  der  Tatsachen  der  Sprach- 
geschichte, um  die  Kenntnis  des  Gegebenen  handelt,  kann  freilich  der 
Positivismus  als  Forschungsprinzip,  als  „methodologischer  Positivismus" 
durchaus  anerkannt  bleiben.  Was  abgewehrt  wird,  ist  nur  jene  positivi- 
stische Metaphysik,  die  mit  der  Ermittlung  der  Tatsachen  auch  die  Auf- 
gabe ihrer  geistigen  Deutung  erfüllt  zu  haben  glaubt.  An  ihre  Stelle  tritt 
eine  Metaphysik  des  Idealismus,  in  der  als  zentrales  Glied  die  Ästhetik 
erscheint.  „Ist  die  idealistische  Definition :  Sprache  =  geistiger  Ausdruck 
zu  Recht  bestehend"  —  so  schließt  Vossler  —  „so  kann  die  Geschichte 
der  sprachlichen  Entwicklung  nichts  anderes  sein,  als  die  Geschichte  der 
geistigen  Ausdrucksformen,  also  Kunstgeschichte  im  weitesten  Ver- 
stand des  Wortes2."  Aber  in  dieser  Folgerung,  in  der  sich  Vossler  an 
Renedetlo  Groce  anschließt,  liegt  freilich  für  die  Sprachbetrachtung  ein 
neues  Problem  und  eine  neue  Gefahr.  Wieder  ist  sie  jetzt  in  das  Ganze 
eines  philosophischen  Systems  aufgenommen  —  aber  diese  Aufnahme 
scheint  zugleich  die  Redingung  in  sich  zu  schließen,  daß  die  Sprache  sich 
mit  einem  der  Glieder  dieses  Systems  identifiziert.  Wie  im  Gedanken  der 
allgemeinen,  der  rationalen  Grammatik  die  Eigenart  der  Sprache  zuletzt 
in  der  universellen  Logik  aufging,  so  droht  sie  jetzt  in  der  Ästhetik,  als 
allgemeine  Wissenschaft  des  Ausdrucks,  aufzugehen.  Aber  ist  wirklich 
die  Ästhetik,  wie  Vossler  mit  Croce  annimmt,  die  Wissenschaft  des  Aus- 
drucks schlechthin,  oder  bedeutet  sie  nur  eine  Wissenschaft  des  Aus- 
drucks —  eine  „symbolische  Form",  die  andere  gleichberechtigt  neben  sich 
hat?  Restehen  nicht  analoge  Rezieh ungen,  wie  zwischen  der  Sprachform 
und  Kunstform,  auch  zwischen  ihr  und  jenen  anderen  Formen,  die, 
wie  der  Mythos,  durch  das  Medium  einer  eigenen  Rildwelt,  eine  eigene 
geistige  Redeutungswelt  aufbauen?  Mit  dieser  Frage  stehen  wir  wieder  vor 
dem  systematischen  Grundproblem,  von  dem  wir  ausgegangen  waren.  Die 

1  Vgl.  bes.  Voss ler,  Positivismus  und  Idealismus  in  der  Sprachwissenschaft,  Heidelberg 
1904,  S.8ff. 

2  A.  a.  O.  S.  iof.;  vgl.  bes.  S.  24ff.  u.  ö. 


I20 


Sprache  steht  in  einem  Brennpunkt  des  geistigen  Seins,  in  dem  sich 
Strahlen  ganz  verschiedenartiger  Herkunft  vereinen  und  von  dem  Richt- 
linien nach  allen  Gebieten  des  Geistes  ausgehen.  Daraus  aber  ergibt  sich, 
daß  die  Sprachphilosophie  nur  dann  als  ein  Sonderfall  der  Ästhetik  be- 
zeichnet werden  kann,  wenn  man  diese  letztere  zuvor  aus  allen  spezi- 
fischen Beziehungen  zum  künstlerischen  Ausdruck  gelöst  hat,  —  wenn 
man,  mit  anderen  Worten,  die  Aufgabe  der  Ästhetik  derart  allgemein 
faßt,  daß  sie  sich  zu  dem  erweitert,  was  wir  hier  als  die  Aufgabe  einer 
universellen  „Philosophie  der  symbolischen  Formen"  zu  bestimmen  ver- 
sucht haben.  Soll  die  Sprache  als  eine  wahrhaft  selbständige  und  ur- 
sprüngliche Energie  des  Geistes  erwiesen  werden,  so  muß  sie  in  das  Ganze 
dieser  Formen  eingehen,  ohne  mit  irgend  einem  anderen  schon  bestehenden 
Einzelglied  desselben  zusammenzufallen  —  so  muß  ihr  bei  aller  systema- 
tischen Verknüpfung,  die  sie  mit  der  Logik  und  Ästhetik  eingeht,  eine 
ihr  eigentümliche  Stelle  in  diesem  Ganzen  zugewiesen  und  damit  ihre 
„Autonomie"  gesichert  werden. 


121 


KAPITEL  II 


DIE  SPRACHE  INDER  PHASE  DES  SINNLICHEN 

AUSDRUCKS 

I 

Um  die  Eigentümlichkeit  irgendeiner  geistigen  Form  sicher  zu  be- 
stimmen, ist  es  vor  allem  notwendig,  daß  man  sie  mit  ihren  eigenen 
Maßen  mißt.  Die  Gesichtspunkte,  nach  denen  sie  beurteilt  und  nach  wel- 
chen ihre  Leistung  abgeschätzt  wird,  dürfen  nicht  von  außen  an  sie  heran- 
gebracht, sondern  sie  müssen  der  eigenen  Grundgesetzlichkeit  der  Formung 
selbst  entnommen  werden.  Keine  feststehende  „metaphysische"  Kate- 
gorie, keine  von  andersher  gegebene  Bestimmung  und  Einteilung  des  Seins, 
so  sicher  und  festgegründet  sie  immer  erscheinen  mag,  kann  uns  der  Not- 
wendigkeit eines  solchen  rein  immanenten  Anfangs  überheben.  Das  Recht, 
diese  Kategorie  anzuwenden,  ist  immer  erst  dann  gesichert,  wenn  wir  sie 
nicht  als  ein  festes  Datum  dem  charakteristischen  Formprinzip  voran- 
stellen, sondern  wenn  wir  sie  aus  diesem  Prinzip  selbst  abzuleiten  und 
zu  verstehen  vermögen.  Jede  neue  Form  stellt  in  diesem  Sinne  einen  neuen 
„Aufbau"  der  Welt  dar,  der  sich  nach  spezifischen,  nur  für  sie  gültigen 
Richtmaßen  vollzieht.  Die  dogmatische  Betrachtung,  die  vom  Sein  der 
Welt  als  einem  gegebenen  und  festen  Einheitspunkt  ausgeht,  ist  freilich 
geneigt,  alle  diese  inneren  Unterschiede  der  geistigen  Spontaneität  in 
irgendeinen  Allgemeinbegriff  vom  „Wesen"  der  Welt  aufgehen  zu  las- 
sen und  sie  dadurch  zum  Verschwinden  zu  bringen.  Sie  schafft  feste  Zer- 
legungen des  Seins:  sie  teilt  es  etwa  in  eine  „innere"  und  eine  „äußere", 
in  eine  „psychische"  und  eine  „physische"  Wirklichkeit,  in  eine  Welt 
der  „Dinge"  und  der  „Vorstellungen"  —  und  auch  innerhalb  der  ein- 
zelnen, auf  diese  Weise  gegeneinander  abgegrenzten  Bezirke  wiederholen 
sich  ihr  die  gleichen  Scheidungen.  Auch  das  Bewußtsein,  auch  das  Sein 
der  „Seele"  zerfällt  wieder  in  eine  Reihe  abgesonderter,  gegeneinander 
selbständiger  „Vermögen".  Erst  die  fortschreitende  Kritik  der  Erkenntnis 


122 


lehrt  uns  diese  Teilungen  und  Trennungen  nicht  als  ein  für  allemal  in 
den  Dingen  selbst  liegende,  als  absolute  Bestimmungen  zu  nehmen,  son- 
dern sie  als  durch  die  Erkenntnis  selbst  vermittelte  zu  verstehen.  Sie 
zeigt,  daß  insbesondere  der  Gegensatz  von  „Subjekt"  und  „Objekt",  von 
„Ich"  und  „Welt"  für  die  Erkenntnis  nicht  einfach  hinzunehmen,  son- 
dern aus  ihren  Voraussetzungen  zu  begründen  und  in  seiner  Bedeutung 
erst  zu  bestimmen  ist.  Und  wie  im  Aufbau  der  Welt  des  Wissens,  so  gilt 
das  gleiche  in  irgendeinem  Sinne  für  alle  wahrhaft  selbständigen  geisti- 
gen Grundfunktionen.  Auch  die  Betrachtung  des  künstlerischen  wie  die 
des  mythischen  oder  sprachlichen  Ausdrucks  ist  in  Gefahr,  ihr  Ziel  zu 
verfehlen,  wenn  sie,  statt  sich  unbefangen  in  die  einzelnen  Ausdrucks- 
formen und  Ausdrucksgesetze  selbst  zu  vertiefen,  von  vornherein  von 
dogmatischen  Annahmen  über  das  Verhältnis  zwischen  „Urbild"  und 
„Abbild",  zwischen  „Wirklichkeit"  und  „Schein",  zwischen  „innerer"  und 
„äußerer"  Welt  ihren  Ausgang  nimmt.  Die  Frage  muß  vielmehr  lauten, 
ob  nicht  eben  durch  die  Kunst,  durch  die  Sprache  und  durch  den 
Mythos  all  diese  Scheidungen  mitbedingt  sind  und  ob  nicht  jede  dieser 
Formen  in  der  Setzung  der  Unterschiede  nach  verschiedenen  Gesichts- 
punkten verfahren  und  demgemäß  die  Grenzlinien  verschieden  ziehen 
muß.  Die  Vorstellung  einer  starren  substantiellen  Abscheidung,  eines 
schroffen  Dualismus  zwischen  der  „inneren"  und  der  „äußeren"  Welt, 
wird  auf  diese  Weise  mehr  und  mehr  zurückgedrängt.  Der  Geist  erfaßt 
sich  selbst  und  seinen  Gegensatz  zur  „objektiven"  Welt  nur  dadurch,  daß 
er  bestimmte,  in  ihm  selbst  gelegene  Unterschiede  als  Unterschiede  der 
Betrachtung  an  die  Phänomene  heranbringt  und  sie  in  diese  letzteren 
gleichsam  hineinlegt. 

So  verharrt  auch  die  Sprache  zunächst  gegenüber  der  Trennung  der 
Welt  in  zwei  deutlich  geschiedene  Sphären,  in  ein  „äußeres"  und  ein 
„inneres"  Sein  nicht  nur  überhaupt  in  einer  merkwürdigen  Indifferenz  — 
sondern  es  scheint  geradezu,  als  ob  diese  Indifferenz  zu  ihrem  Wesen  not- 
wendig gehöre.  Der  seelische  Inhalt  und  sein  sinnlicher  Ausdruck  er- 
scheinen hier  derart  in  eins  gesetzt,  daß  jener  nicht  schlechthin  vor  dem 
anderen  als  ein  Selbständiges  und  Selbstgenügsames  besteht,  sondern  daß 
er  sich  vielmehr  erst  in  ihm  und  mit  ihm  vollendet.  Beide,  der  Inhalt  wie 
der  Ausdruck,  werden  erst  in  ihrer  wechselseitigen  Durchdringung  zu 
dem,  was  sie  sind :  die  Bedeutung,  die  sie  in  ihrer  Beziehung  aufeinander 
empfangen,  tritt  zu  ihrem  Sein  nicht  bloß  äußerlich  hinzu,  sondern  sie 
ist  es,  die  dies  Sein  erst  konstituiert.  Hier  liegt  kein  vermitteltes  Er- 
gebnis vor;  sondern  es  besteht  hierin  eben  jene  grundlegende  Synthese, 


123 


aus  der  die  Sprache  als  Ganzes  entspringt  und  durch  die  alle  ihre  Teile, 
vom  elementarsten  sinnlichen  bis  zum  höchsten  geistigen  Ausdruck,  mit- 
einander zusammengehalten  werden.  Und  nicht  nur  die  geformte  und 
artikulierte  Lautsprache,  sondern  schon  der  einfachste  mimische  Aus- 
druck eines  inneren  Geschehens  zeigt  diese  unlösliche  Verflechtung  — 
zeigt,  daß  dieses  Geschehen  keine  in  sich  fertige  und  abgeschlossene 
Sphäre  bildet,  aus  der  das  Bewußtsein  nur  gleichsam  zufällig,  zum  Zweck 
der  konventionellen  Mitteilung  an  andere,  heraustritt,  sondern  daß  eben 
diese  seine  scheinbare  Entäußerung  einen  wesentlichen  Faktor  seiner 
eigenen  Bildung  und  Gestaltung  ausmacht.  Insofern  hat  die  moderne 
Sprachpsychologie  das  Problem  der  Sprache  mit  Recht  dem  Problem 
einer  allgemeinen  Psychologie  der  Ausdrucksbewegungen  einge- 
ordnet1. Darin  liegt,  rein  methodisch  betrachtet,  der  wichtige  Ansatz, 
daß  mit  diesem  Ausgang  von  der  Bewegung  und  vom  Bewegungsgefühl 
der  Kreis  der  Begriffsmittel,  über  die  die  traditionelle  sensual istische 
Psychologie  verfügt,  im  Grunde  bereits  überschritten  ist.  Vom  Standpunkt 
der  sensualistischen  Ansicht  ist  der  fixe  und  starre  Zustand  des  Bewußt- 
seins das  Erstgegebene,  ja  im  gewissen  Sinne  das  Alleingegebene:  die 
Prozesse  des  Bewußtseins  werden,  sofern  sie  überhaupt  in  ihrer  Eigen- 
art anerkannt  und  gewürdigt  werden,  auf  eine  bloße  Summe,  auf  eine 
„Verbindung* '  von  Zuständen  zurückgeführt.  Wird  dagegen  die  Bewe- 
gung und  das  Bewegungsgefühl  als  ein  Element  und  als  ein  grundlegender 
Faktor  im  Aufbau  des  Bewußtseins  selbst  betrachtet2,  so  liegt  darin  die 
Anerkennung,  daß  auch  hier  die  Dynamik  nicht  auf  die  Statik,  sondern 
diese  auf  jene  zu  gründen  ist  —  daß  alle  „Wirklichkeit"  des  Psychischen 
in  Prozessen  und  Veränderungen  besteht,  die  Fixierung  zu  Zuständen  aber 
erst  ein  nachträgli  hes  Werk  der  Abstraktion  und  Analyse  darstellt.  So 
ist  auch  die  mimische  Bewegung  eine  unmittelbare  Einheit  des  „Inneren" 
und  des  „Äußeren",  des  „Geistigen"  und  „Leiblichen",  sofern  sie  gerade 
in  dem,  was  sie  direkt  und  sinnlich  ist,  ein  anderes,  aber  in  ihr  selbst 
Gegenwärtiges,  bedeutet  und  „besagt".  Hier  findet  kein  bloßer  „Über- 
gang", keine  willkürliche  Hinzufügung  des  mimischen  Zeichens  zu  dem 

1  Ein  vollständiges  Sys'em  der  Ausdrucksbewegungen  hat  auf  Grund  der  psychologischen 
und  ästhetischen  Untersuchungen  des  1 8.  Jahrhunderts  schon  J.J.Engel  in  seinen 
„Ideen  zur  Mimik"  (Schriften,  Berlin  1801,  T.  7  und  8)  aufzustellen  versucht;  zur 
Fa  sung  der  Sprache  als  Ausdrucksbewegung  s.  im  übr.  bes.  Wundt,  Die  Sprache2,  I, 
37  ff. 

2  Die-er  Gedanke  vom  „Primat  der  Bewegung"  ist  mit  besonderer  Schärfe  und  Energie 
in  der  Psychologie  Hermann  Cohens  vertreten  worden;  vgl.  bes.  Cohens  Ästhetik 
des  reinen  Gefühls,  Bd.  I,  S.  1 43 ff. 

12/4 


durch  dasselbe  bezeichneten  Affekt  statt,  sondern  beides,  der  Affekt  und 
seine  Äußerung,  die  innere  Spannung  und  ihre  Entladung  sind  in  ein  und 
demselben  zeitlich-untrennbaren  Akt  gegeben.  Jede  Erregung  des  Inneren 
drückt  sich,  kraft  eines  Zusammenhangs,  der  sich  rein  physiologisch 
beschreiben  und  deuten  läßt,  ursprünglich  in  einer  leiblichen  Bewegung 
aus  —  und  der  weitere  Fortgang  der  Entwicklung  besteht  nur  darin,  daß 
eine  immer  schärfere  Differenzierung  dieses  Verhältnisses  eintritt,  in- 
dem sich  mit  bestimmten  Erregungen  bestimmte  Bewegungen  in 
immer  genauerer  Zuordnung  verknüpfen.  Freilich  scheint  diese  Form 
des  Ausdrucks  über  den  bloßen  „Abdruck"  des  Inneren  im  Äußeren  zu- 
nächst nicht  hinauszugehen.  Ein  äußerer  Reiz  greift  vom  Sensiblen  ins 
Motorische  über,  aber  dies  letztere  bleibt  dabei,  wie  es  scheint,  ganz  inner- 
halb des  Gebiets  der  bloßen  mechanischen  Reflexe,  ohne  daß  sich  in  ihm 
vorerst  eine  höhere  geistige  „Spontaneität"  ankündigte.  Und  doch  ist  schon 
dieser  Reflex  das  erste  Anzeichen  einer  Aktivität,  in  der  eine  neue  Form 
des  konkreten  Ichbewußtseins  und  des  konkreten  Gegenstandsbewußtseins 
sich  aufzubauen  beginnt.  Darwin  hat  in  seinem  Werk  über  den  „Ausdruck 
der  Gemütsbewegungen"  eine  biologische  Theorie  der  Ausdrucksbewe- 
gungen zu  schaffen  gesucht,  indem  er  sie  als  Residuum  ursprünglicher 
Zweckhandlungen  deutet.  Der  Ausdruck  eines  bestimmten  Affekts  wäre 
demnach  nichts  als  die  Abschwächung  einer  früheren  konkreten  Zweck- 
handlung; der  Ausdruck  des  Zorns  z.  B.  das  abgeschwächte  und  verblaßte 
Bild  einer  einstmaligen  Angriffsbewegung,  der  des  Schreckens  das  Bild 
einer  Abwehrbewegung  u.  s.  f.  Diese  Auffassung  ist  einer  Auslegung 
fähig,  die  über  den  engeren  Kreis  von  Darwins  biologischer  Problem- 
stellung hinausführt  und  die  Frage  in  einen  allgemeineren  Zusammen- 
hang rückt.  Jede  elementare  Ausdrucksbewegung  bildet  in  der  Tat  inso- 
fern eine  erste  Grenzscheide  der  geistigen  Entwicklung,  als  sie  noch  völlig 
in  der  Unmittelbarkeit  des  sinnlichen  Lebens  steht  und  doch  andererseits 
über  diese  bereits  hinausgeht.  Sie  schließt  in  sich,  daß  der  sinnliche  Trieb, 
statt  direkt  gegen  sein  Objekt  vorzudringen  und  sich  in  ihm  zu  befrie- 
digen und  zu  verlieren,  eine  Art  Hemmung  und  Rückwendung  erfährt,  in 
der  nun  eine  neue  Bewußtheit  eben  dieses  Triebes  erwacht.  In  diesem 
Sinne  bereitet  gerade  die  Reaktion,  die  in  der  Ausdrucksbewegung  ent- 
halten ist,  eine  höhere  geistige  Stufe  der  Aktion  vor.  Indem  die  Aktion  sich 
gleichsam  aus  der  unmittelbaren  Form  des  Wirkens  zurückzieht,  gewinnt 
sie  damit  für  sich  selbst  einen  neuen  Spielraum  und  eine  neue  Freiheit; 
steht  sie  damit  bereits  an  dem  Übergang  vom  bloß  „Pragmatischen"  zum 
„Theoretischen",  von  dem  physischen  zum  ideellen  Tun.  — 


125 


In  der  psychologischen  Theorie  der  Gebärdensprache  pflegt  man 
zwei  Hauptformen  von  Gebärden  zu  unterscheiden.  Auf  der  einen  Seite 
stehen  die  hinweisenden,  auf  der  anderen  die  nachahmenden  Ge- 
bärden als  Klassen,  die  sich  inhaltlich  und  ihrer  psychologischen  Genese 
nach  deutlich  gegeneinander  abgrenzen  lassen.  Hierbei  wird  die  hinwei- 
sende Gebärde  biologisch  und  entwicklungsgeschichtlich  aus  der  Greif- 
bewegung abgeleitet.  „Die  Arme  und  Hände"  —  so  führt  Wundt  aus  — 
„sind  von  der  frühesten  Entwicklung  des  Menschen  an  als  die  Organe  tätig, 
mit  deneU  er  die  Gegenstände  ergreift  und  bewältigt.  Aus  dieser  offen- 
bar ursprünglichen  Verwendung  der  Greiforgane,  in  welcher  der  Mensch 
den  analogen  Tätigkeiten  der  ihm  nahestehenden  Tiere  nur  dem  Grade, 
nicht  dem  Wesen  nach  überlegen  ist,  führt  aber  eine  jener  stufenweisen 
Veränderungen,  die  zunächst  eigentlich  regressiver  Art  sind,  in  ihren  Wir- 
kungen jedoch  wichtige  Bestandteile  einer  fortschreitenden  Entwicklung 
bilden,  zur  ersten  primitivsten  Form  pantomimischer  Bewegungen.  Sie 
ist  genetisch  betrachtet  nichts  anderes  als  die  bis  zur  Andeutung  abge- 
schwächte Greifbewegung.  In  allen  möglichen  Übergängen  von  der  ur- 
sprünglichen bis  zur  späteren  Form  begegnet  sie  uns  noch  fortwährend 
beim  Kinde.  Dieses  greift  auch  nach  solchen  Gegenständen,  die  es,  weil 
sie  ihm  zu  fern  sind,  nicht  erreichen  kann.  Damit  geht  aber  die  Greif- 
bewegung unmittelbar  in  die  Deutebewegung  über.  Nach  oft  wiederholten 
Versuchen,  die  Gegenstände  zu  ergreifen,  verselbständigt  sich  dann  erst 
die  Deutebewegung  als  solche1."  Und  dieser  scheinbar  so  einfache  Schritt 
zur  Verselbständigung  bildet  nun  eine  der  wichtigsten  Etappen  auf  dem 
Wege  von  der  tierischen  zur  spezifisch-menschlichen  Entwicklung.  Denn 
kein  Tier  schreitet  zu  der  charakteristischen  Umbildung  der  Greifbewe- 
gung in  die  hinweisende  Gebärde  fort.  Das  „Greifen  in  die  Ferne",  wie 
man  das  Deuten  mit  der  Hand  genannt  hat,  ist  auch  bei  den  höchstent- 
wickelten Tieren  über  erste  und  unvollkommene  Ansätze  nicht  hinaus- 
gelangt. Schon  diese  entwicklungsgeschichtliche  Tatsache  weist  darauf 
hin,  daß  in  diesem  „Greifen  in  die  Ferne"  ein  Zug  von  typischer,  all- 
gemein-geistiger Bedeutung  verborgen  liegt.  Es  ist  einer  der  ersten  Schritte, 
durch  den  das  empfindende  und  begehrende  Ich  den  vorgestellten  und  be- 
gehrten Inhalt  von  sich  selbst  entfernt  und  ihn  sich  damit  erst  zum 
„Gegenstand",  zum  „objektiven"  Inhalt  gestaltet.  Auf  der  primitiven 
Stufe  des  Affekts  und  des  Triebes  ist  alles  „Erfassen"  des  Gegenstandes 
nur  sein  unmittelbares  sinnliches  Ergreifen  und  In-Besitz-Nehmen.  Das 
fremde  Sein  soll  in  die  Gewalt  des  eigenen  gebracht,  —  soll  rein  materiell 

1  Wundt,  Völkerpsychologie  2  I,  I20,f. 
I2Ö 


und  seiner  Stofflichkeit  nach  in  den  Kreis  des  Ich  hineingezogen  werden. 
Selbst  die  ersten  Anfänge  der  sinnlichen  Erkenntnis  stehen  noch  ganz 
in  diesem  Zeichen:  sie  glauben  nach  dem  prägnanten  und  charakteri- 
stischen Platonischen  Wort  den  Gegenstand  geradezu  mit  Händen  (anglt; 
xaiv  xeQ°*v)  greifen  zu  können1.  Aller  Fortschritt  des  Begriffs  und  der 
reinen  „Theorie"  aber  besteht  eben  darin,  diese  erste  sinnliche  Unmittel- 
barkeit fortschreitend  zu  überwinden.  Das  Objekt,  der  Gegenstand  der 
Erkenntnis,  rückt  mehr  und  mehr  in  die  Ferne,  so  daß  es  für  die  kritische 
Besinnung  des  Wissens  auf  sich  selbst  zuletzt  geradezu  als  der  „unend- 
lich-ferne Punkt",  als  unendliche  Aufgabe  des  Wissens  erscheinen  kann; 
aber  zugleich  nimmt  es  in  dieser  scheinbaren  Entfernung  erst  seine  wahr- 
hafte ideale  Bestimmtheit  an.  Im  logischen  Begriff,  im  Urteil  und  Schluß 
entwickelt  sich  jenes  mittelbare  Erfassen,  das  den  eigentlichen  Charakter 
der  „Vernunft"  ausmacht.  So  scheint  genetisch  und  sachlich  in  der  Tat 
ein  stetiger  Übergang  vom  „Greifen"  zum  „Begreifen"  zu  führen.  Das 
sinnlich-physische  Greifen  wird  zum  sinnlichen  Deuten  —  aber  in  die- 
sem letzteren  liegt  bereits  der  erste  Ansatz  zu  den  höheren  Bedeu- 
tungsfunktionen, wie  sie  in  der  Sprache  und  im  Denken  hervortreten.  Um 
die  äußerste  Spannweite  dieses  Gegensatzes  auszumessen,  könnte  man 
sagen,  daß  dem  sinnlichen  Extrem  des  bloßen  „Weisens"  das  logische  des 
„Beweisens"  gegenübersteht.  Vom  einfachen  Aufweisen,  durch  welches 
ein  schlechthin  Einzelnes  (ein  rode  n  im  Aristotelischen  Sinne)  bezeich- 
net wird,  führt  der  Weg  zu  immer  weitergehender  allgemeiner  Bestim- 
mung: die  anfänglich  bloß  deiktische  Funktion  wird  zur  Funktion  der 
„Apodeixis".  Die  Sprache  selbst  scheint  diesen  Zusammenhang  noch  darin 
zu  bewahren,  daß  sie  die  Ausdrücke  für  das  Sprechen  und  Sagen  mit  denen 
für  das  Zeigen  und  Weisen  verknüpft.  In  den  indogermanischen  Sprachen 
gehen  die  Verba  des  „Sagens"  in  dieser  Weise  großenteils  auf  die  des 
Zeigens  zurück:  „Dicere"  stammt  von  derselben  Wurzel,  die  im  griech. 
deixvvfu  (got.  *teihan,  ga-teihan,  ahd.  zeigön)  enthalten  ist,  wie  griech. 
<prjfu  ydoxw  auf  eine  Wurzel  <pa  (Sanskr.  bha)  zurückgeht,  die  ursprüng- 
lich das  Leuchten  und  Scheinen,  wie  das  Erscheinen-Machen  bezeichnet. 
(Vgl.  cpaed'co^w^cpalvco  lat.  fari,  fateri  u.  s.  f.)2. 

Anders  freilich  scheint  die  Beurteilung  der  Gebärdensprache  sich  ge- 
stalten zu  müssen,  wenn  man  statt  von  der  Betrachtung  der  hinweisenden 

1  Cf.  Pia  ton,  Theatet,  i55  E. 

2  S.  hierüber  Kluge,  Etymologisches  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache  5,  Straßb. 
1894.  S.  (s.  v.  zeigen);  Curtius,  Grundzüge  der  griech.  Etymologie  5,  Lpz.  1878, 
S.  u5,  i34,  296. 


Gebärden  von  der  zweiten  Grund-  und  Hauptklasse,  von  der  Klasse  der 
nachahmenden  Gebärden  ausgeht.  Denn  die  Nachahmung  bildet  als 
solche  bereits  das  Widerspiel  zu  jeglicher  freien  Form  der  geistigen 
Tätigkeit.  In  ihr  bleibt  das  Ich  im  äußeren  Eindruck  und  seiner  Beschaf- 
fenheit befangen;  je  genauer  es  ihn,  unter  Ausschaltung  aller  eigener 
Spontaneität,  wiederholt,  um  so  vollkommener  hat  die  Nachahmung  ihren 
Zweck  erreicht.  Gerade  die  inhaltlich  reichsten  und  differenziertesten 
Gebärdensprachen,  die  Gebärdensprachen  der  Naturvölker,  zeigen  diese 
Bindung  am  stärksten.  Die  Gebärdensprachen  der  Kulturvölker  pflegen 
neben  den  unmittelbar-sinnlichen,  nachahmenden  Zeichen  noch  eine  Fülle 
sogen,  „symbolischer  Gebärden"  zu  enthalten,  die  den  Gegenstand  oder 
die  Tätigkeit,  die  ausgedrückt  werden  soll,  nicht  direkt  abbilden,  son- 
dern ihn  nur  mittelbar  bezeichnen.  Aber  in  ihnen  —  wie  z.  B.  in  der 
Sprache  der  Zisterziensermönche  und  in  der  von  Jorio  eingehend  darge- 
stellten neapolitanischen  Gebärdensprache1  —  handelt  es  sich  offenbar 
nicht  um  primitive  Formen,  sondern  um  sehr  komplexe  Gebilde,  auf  die 
die  Form  der  Lautsprache  bereits  nachhaltig  und  bestimmend  eingewirkt 
hat.  Je  weiter  man  dagegen  auf  den  eigentlichen  und  selbständigen  Ge- 
halt der  Gebärdensprache  zurückgeht,  um  so  mehr  scheinen  alle  bloßen 
„Begriffszeichen"  zu  schwinden  und  durch  einfache  „Dingzeichen"  er- 
setzt zu  sein.  Das  Ideal  einer  rein  „natürlichen"  Sprache,  in  der  alle  kon- 
ventionelle Willkür  ausgeschaltet  ist,  scheint  daher  hier  erreicht.  So  wird 
z.  B.  von  der  Gebärdensprache  der  Indianer  Nordamerikas  berichtet,  daß 
nur  wenige  Gesten  ihrem  Ursprung  nach  „konventionell"  seien;  die  weit- 
aus meisten  dagegen  in  der  einfachen  Wiedergabe  offenkundiger  natür- 
licher Phänomene  bestünden2.  Hebt  man  nur  diesen  Zug  der  pantomi- 
mischen Nachbildung  gegebener  sinnlich-wahrnehmbarer  Objekte  heraus, 
so  scheint  ein  derartiges  Verfahren  noch  gar  nicht  auf  dem  Wege 
zur  Sprache,  als  einer  freien  und  originalen  Betätigung  des  Geistes 
zu  sein.  Hier  muß  indeß  beachtet  werden,  daß  ebensowohl  die  „Nach- 
ahmung", wie  die  „Hinweisung"  —  ebensowohl  die  „mimische",  wie 
die  „deiktische"  Funktion  —  keine  schlechthin  einfache  und  überall 
gleichförmige  Leistung  des  Bewußtseins  darstellt,  sondern  daß  sich,  in 
der  einen  wie  in  der  anderen,  Elemente  von  verschiedener  geistiger  Her- 
kunft und  Bedeutung  miteinander  durchdringen.  Auch  bei  Aristoteles 

1  Andrea  de  Jorio,  La  Mimica  degli  antichi  investigata  nel  Gestire  Napolitano,  Na- 
poli  i832;  zur  Sprache  der  Zisterziensermönche  s.  Wundt,  a.a.O.,  I,  i5iff. 

2  Vgl.  Mall  er  y,  Sign  languages  among  North  American  Indians,  Reports  of  the  Bureau 
of  Ethnology  in  Washington,  I,  334- 


128 


werden  die  Worte  der  Sprache  als  „Nachahmungen"  bezeichnet,  und  von 
der  menschlichen  Stimme  wird  gesagt,  daß  sie  das  am  meisten  zur  Nach- 
ahmung geeignete  und  gebildete  Organ  sei1.  Aber  dieser  mimische  Cha- 
rakter des  Wortes  steht  für  ihn  mit  seinem  reinen  Symbolcharakter  nicht 
im  Gegensatz ;  vielmehr  wird  der  letztere  nicht  minder  energisch  betont, 
indem  hervorgehoben  wird,  daß  der  unartikulierte  Empfindungslaut,  wie 
er  sich  schon  in  der  Tierwelt  finde,  nur  dadurch  zum  Sprachlaut  werde, 
daß  er  als  Symbol  verwendet  wird2.  Beide  Bestimmungen  vereinen  sich 
miteinander  dadurch,  daß  die  „Nachahmung"  hier  in  jenem  weiteren 
Sinne  und  in  der  tieferen  Bedeutung  gebraucht  wird,  nach  der  sie  für 
Aristoteles  nicht  nur  als  Ursprung  der  Sprache,  sondern  auch  als  Ur- 
sprung der  künstlerischen  Tätigkeit  erscheint.  Die  jutjurjotg  gehört,  in  die- 
ser Art  verstanden,  selbst  bereits  dem  Gebiet  der  noirjoig,  der  schaffenden 
und  gestaltenden  Tätigkeit,  an.  Es  handelt  sich  in  ihr  nicht  mehr  um  die 
bloße  Wiederholung  eines  äußerlich  Gegebenen,  sondern  um  einen  freien 
geistigen  Entwurf:  das  scheinbare  „Nachbilden"  hat  in  Wahrheit  ein  in- 
neres „Vorbilden"  zur  Voraussetzung.  Und  in  der  Tat  zeigt  sich  bei  schär- 
ferer Betrachtung,  daß  dieses  Moment,  das  in  der  Form  der  künstle- 
rischen Gestaltung  rein  und  selbständig  hervortritt,  bis  in  die  elementaren 
Anfänge  jeder  scheinbar  rein  passiven  Nachbildung  herabreicht.  Denn 
auch  diese  besteht  ja  niemals  darin,  einen  bestimmten  Wirklichkeitsinhalt 
Zug  für  Zug  bloß  nachzuzeichnen,  sondern  an  ihm  ein  prägnantes  Mo- 
ment herauszuheben  und  damit  einen  charakteristischen  „Umriß"  seiner 
Gestalt  zu  gewinnen.  Damit  aber  befindet  sich  die  Nachahmung  selbst 
bereits  auf  dem  Wege  zur  Darstellung,  in  welcher  die  Objekte  nicht 
mehr  einfach  in  ihrer  fertigen  Bildung  hingenommen,  sondern  in  der  sie 
vom  Bewußtsein  nach  ihren  konstitutiven  Grundzügen  aufgebaut  werden. 
Einen  Gegenstand  in  diesem  Sinne  nachbilden  heißt,  ihn  nicht  bloß  aus 
seinen  einzelnen  sinnlichen  Merkmalen  zusammensetzen,  sondern  ihn  nach 
seinen  Strukturverhältnissen  erfassen,  die  sich  nur  dadurch  wahrhaft  ver- 
stehen lassen,  daß  das  Bewußtsein  sie  konstruktiv  erzeugt.  Ansätze  zu 
einer  solchen  höheren  Form  der  Nachbildung  bietet  bereits  die  Gebärden- 
sprache dar,  sofern  sie,  in  ihren  entwickelten  Bildungen,  überall  den 

1  Cf.  Aristoteles,  Rhetor  III,  i,  a  20:  xd  ydg  dvöftaxa  [u/urj/naxd  soxiv,  vjifjg^e  de  xal 
f)  (pcuvrj  ndvxcov  fitfirjxtxcbxaxov  xcbv  [xoqlcov  fjfuv. 

2  Vgl.  jisqi  sQjuqvetag  cap.  2,  16  a  27:  (pvosi  xcöv  ovofxdxcov  ovöiv  ioxiv  dXX'  oxav  yevr^xai 
ovfxßoXov  sjieI  örjXovot  ys  xi  xal  01  dygd/njuaxot  ipocpoi,  oiov  &r}Qicov,  wv  ovdsv  soxtv 
ovofia.  Die  bestimmte  Unterscheidung  zwischen  ,, Nachahmung"  und  „Symbol"  (d/uoioo/na 
und  ovfißoXov)  findet  sich  z.  B.  auch  bei  Ammonius  im  Gommentar  zu  Aristotel.  De 
interpretat  f.  i5b  (Scholia  in  Aristot.  ed.  Ac.  reg.  Boruss.  p.  100). 


9 


129 


Übergang  von  der  bloß  nachahmenden  zur  darstellenden  Gebärde  zeigt, 
die  nach  Wundt  dadurch  charakterisiert  ist,  daß  sich  in  ihr  „das  Bild 
eines  Gegenstandes  in  einem  ähnlichen  Sinne  freier  gestaltet,  wie  es  die 
bildende  Kunst  gegenüber  der  bloß  nachahmenden  Technik  tut1". 

Aber  in  einer  ganz  neuen  Freiheit  und  Tiefe,  in  einer  neuen  geistigen 
Aktualität  tritt  nun  diese  Funktion  der  Darstellung  heraus,  indem  sie  statt 
der  Gebärde  den  Laut  als  Mittel  und  als  sinnliches  Substrat  benutzt.  In 
der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Sprache  vollzieht  sich  dieser  Prozeß 
der  Ablösung  nicht  unvermittelt.  In  den  Sprachen  der  Naturvölker  läßt 
sich  noch  heute  deutlich  erkennen,  wie  in  ihnen  die  Gebärdensprache 
nicht  nur  neben  der  Lautsprache  stehen  bleibt,  sondern  wie  sie  diese 
selbst,  ihrer  Formung  nach,  noch  entscheidend  bestimmt.  Überall  findet 
sich  hier  jene  charakteristische  Durchdringung,  dergemäß  die  „Wort- 
begriffe'4  dieser  Sprachen  nur  dann  ganz  erfaßt  und  verstanden  werden 
können,  wenn  man  sie  zugleich  als  mimische  und  als  „Handbegriffe" 
(manual  concepts)  versteht.  Die  Gebärde  ist  mit  dem  Wort,  die  Hände 
sind  mit  dem  Intellekt  derart  verknüpft,  daß  sie  wahrhaft  einen  Teil  von 
ihm  zu  bilden  scheinen2.  Auch  in  der  Entwicklung  der  Kindersprache 
trennt  sich  der  Laut  nur  ganz  allmählich  von  der  Gesamtheit  der  mimi- 
schen Bewegungen  ab:  selbst  relativ  hohe  Stufen  derselben  zeigen  ihn  die- 
sem mimischen  Ganzen  noch  völlig  eingebettet3.  Aber  sobald  nun  die 
Trennung  vollzogen  ist,  hat  die  Sprache  mit  dem  neuen  Element,  in  dem 
sie  sich  nunmehr  bewegt,  auch  ein  neues  Grundprinzip  ihres  Aufbaues  ge- 
wonnen. In  dem  physischen  Medium  des  Lautes  erst  entwickelt  sich  ihre 
eigentliche  geistige  Spontaneität.  Beides  bedingt  sich  jetzt  wechselweise: 
die  Gliederung  der  Laute  wird  zum  Mittel  für  die  Gliederung  des  Ge- 
dankens, wie  diese  letztere  sich  in  der  Ausbildung  und  Formung  der  Laute 
ein  immer  differenzierteres  und  empfindlicheres  Organ  erschafft.  Allen 
sonstigen  mimischen  Ausdrucksmitteln  gegenüber  besitzt  der  Laut  den 
Vorzug,  daß  er  in  weit  höherem  Maße  als  sie  der  „Artikulation"  fähig 
ist.  Gerade  seine  Flüchtigkeit,  die  von  der  sinnlich-anschaulichen  Be- 
stimmtheit der  Gebärde  absticht,  gibt  ihm  eine  ganz  neue  Gestaltungs- 
fähigkeit; macht  ihn  nicht  nur  dazu  fähig,  starre  Bestimmtheiten  der 

1  Wundt,  a.a  .0.,  I,  i56. 

2  Über  die  „manual  concepts"  der  Zuni-Indianer  s.  Cushing,  Manual  concepts  (The 
American  Anthopologist  V,  291  f.)  zum  Zusammenhang  von  Gebärden-  und  Wort- 
sprache bei  den  Naturvölkern  s.  bes.  das  reichhaltige  Material  bei  Levy-Bruhl,  Les 
fonctions  mentales  dans  les  societes  inferieures,  Paris  19 10  (deutsche  Ausg.,  Wien  192 1, 
S.  i33ff.). 

3  Vgl.  Clara  und  William  Stern,  Die  Kindersprache  2,  Lpz.  1920,  S.  1 44ff • 

i3o 


Vorstellungsinhalle,  sondern  die  feinsten  Schwebungen  und  Schwan- 
kungen des  Vorstellungsprozesses  auszudrücken.  Wenn  die  Gebärde  in 
ihrer  plastisch-nachbildenden  Art  sich  dem  Charakter  der  „Dinge"  besser 
als  das  gleichsam  körperlose  Element  des  Lautes  anzupassen  scheint,  so 
gewinnt  der  Laut  gerade  dadurch,  daß  in  ihm  diese  Beziehung  abge- 
brochen ist,  daß  er  als  ein  bloßes  Werden  das  Sein  der  Objekte  nicht 
mehr  unmittelbar  wiederzugeben  vermag,  seine  innere  Freiheit.  Nach  der 
objektiven  SeLe  hin  wird  er  jetzt  fähig,  nicht  nur  als  Ausdruck  inhalt- 
licher Qualitäten,  sondern  vor  allem  als  Ausdruck  von  Beziehungen  und 
formalen  Verhäitnisbestimmungen  zu  dienen;  nach  der  subjektiven  Seite 
hin  prägt  sich  in  ihm  die  Dynamik  des  Gefühls  und  die  Dynamik  des 
Denkens  aus.  Für  diese  Dynamik  besitzt  die  Gebärdensprache,  die  sich 
rein  im  Medium  des  Raumes  hält,  und  die  daher  auch  die  Bewegung 
nur  dadurch  zu  bezeichnen  vermag,  daß  sie  sie  in  einzelne  diskrete  Raum- 
gestalien abteilt,  noch  kein  zureichendes  Organ.  In  der  Lautsprache  indes 
tritt  nun  das  einzelne  diskrete  Element  zu  dem  Ganzen  der  Lauterzeugung 
in  ein  ganz  neues  Verhältnis.  Hier  besteht  das  Element  nur  dadurch,  daß 
es  stets  aufs  neue  entsteht:  sein  Inhalt  geht  im  Akt  seiner  Hervorbringung 
auf.  Aber  dieser  Akt  der  Lauterzeugung  selbst  gliedert  sich  nun  immer 
schärfer  in  besondere  unterschiedliche  Bestimmungen.  Zu  der  qualita- 
tiven Sonderung  und  Abstufung  der  Laute  tritt  insbesondere  die  dyna- 
mische Abstufung  durch  den  Akzent,  sowie  die  rhythmische  Abstufung 
hinzu.  Man  hat  versucht,  in  dieser  rhythmischen  Gliederung,  wie  sie  sich 
insbesondere  in  den  primitiven  Arbeitsgesängen  darstellt,  ein  wesentliches 
Moment  der  künstlerischen  wie  der  sprachlichen  Entwicklung  nachzu- 
weisen1. Hier  wurzelt  der  Laut  noch  unmittelbar  in  der  rein  sinnlichen 
Sphäre;  aber  da  das,  woraus  er  entspringt  und  dem  er  zum  Ausdruck 
dient,  keine  bloß  leidende  Empfindung,  sondern  ein  einfaches  sinnliches 
Tun  ist,  so  steht  er  andererseits  bereits  im  Begriff,  diese  Sphäre  zu  über- 
schreiten. Die  bloße  Interjektion,  der  einzelne,  von  einem  übermächtigen 
momentanen  Eindruck  abgedrungene  Affekt-  und  Erregungslaut,  geht 
jetzt  in  eine  in  sich  zusammenhängende  geordnete  Lautfolge  über,  in  der 
der  Zusammenhang  und  die  Ordnung  des  Tuns  sich  spiegelt.  „Das  ge- 
ordnete Entfalten  der  Laute"  —  so  heißt  es  in  Jakob  Grimms  Aufsatz 
über  den  Ursprung  der  Sprache  —  „heißt  uns  gliedern,  artikulieren  und 
die  Menschensprache  erscheint  eine  gegliederte,  womit  das  homerische 

1  Vgl.  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus;  zum  Einfluß  der  Arbeit  und  der  „Arbeits- 
rhythmen" auf  das  Werden  der  Sprache  vgl.  die  Schriften  L.  Noires,  Der  Ursprung 
der  Sprache,  Mainz  1877;  Logos-Ursprung  und  Wesen  der  Begriffe;  Lpz.  i885. 


Beiwort  der  Menschen  oljueQOJieg,  juegojieg  äv&QCOJioi  oder  ßQoxol  zusammen- 
trifft —  von  jueigojuai  oder  jufQi£co  die  ihre  Stimme  teilenden,  gliedernden1." 

Jetzt  erst  ist  das  Material  der  Sprache  so  beschaffen,  daß  sich  an  ihm 
eine  neue  Form  ausprägen  kann.  Der  sinnlich  affektive  Zustand,  geht, 
indem  er  sich  geradezu  in  den  mimischen  Ausdruck  umsetzt,  in  diesem 
letzteren  auch  gleichsam  unter;  er  entlädt  sich  in  ihm  und  findet  darin 
sein  Ende.  Indem  bei  der  fortschreitenden  Entwicklung  diese  Unmittel- 
barkeit hintangehalten  wird,  wird  damit  zugleich  der  Inhalt  erst  in  sich 
selbst  festgehalten  und  in  sich  gestaltet.  Es  bedarf  nun  einer  höheren 
Stufe  der  Bewußtheit,  einer  schärferen  Auffassung  seiner  inneren  Unter- 
schiede, wenn  er  sich  nach  außen  hin  offenbaren,  wenn  er  sich  im  Medium 
der  gegliederten  Laute  zu  bestimmter  und  deutlicher  Erscheinung  bringen 
soll.  Durch  die  Hemmung  des  direkten  Ausbruchs  in  die  Gebärde  und  den 
unartikulierten  Erregungslaut  wird  ein  inneres  Maß,  eine  Bewegung  inner- 
halb des  sinnlichen  Begehrens  und  Vorstellens  selbst  erreicht.  Vom  bloßen 
Reflex  führt  der  Weg  immer  bestimmter  zu  den  verschiedenen  Stufen 
der  „Reflexion"  hinauf.  In  der  Entstehung  des  gegliederten  Lautes,  in  der 
Tatsache,  daß  —  mit  Goethe  zu  sprechen  —  der  „Schall  sich  zum  Tone 
rundet",  stellt  sich  uns  so  ein  allgemeinstes  Phänomen  dar,  das  uns  in  den 
verschiedensten  Gebieten  des  Geistes  in  immer  neuer  Form  begegnet.  Hier 
scheint  durch  die  Besonderheit  der  sprachlichen  Funktion  wieder  die  uni- 
verselle symbolische  Funktion  hindurch,  wie  sie  sich  in  immanenter 
Gesetzlichkeit  in  der  Kunst  und  im  mythisch-religiösen  Bewußtsein,  in 
der  Sprache  und  in  der  Erkenntnis  entfaltet. 

II 

Gleich  der  Theorie  der  Kunst  und  gleich  der  Theorie  der  Erkenntnis 
löst  sich  freilich  auch  die  Sprachtheorie  nur  allmählich  von  dem  Zwang 
des  Nachahmungsbegriffs  und  der  Abbildtheorie  los.  Die  Frage  nach  der 
xvoiorrjs  rcbv  dvofjLOLxcov  steht  im  Mittelpunkt  der  antiken  Sprachphilosophie. 
Auch  das  Problem,  ob  die  Sprache  als  ein  tpvoei  oder  als  ein  vojuco  öv  zu 
gelten  habe,  betrifft  nicht  in  erster  Linie  die  Sprachentstehung,  sondern 
ihren  Wahrheits-  und  Wirklichkeitsgehalt2.  Bleibt  die  Sprache  und  das 

1  Über  den  Ursprung  der  Sprache (i 85 i)s.  Jakob  Grimms  Kleine  Schriften,  S.  2 55 ff .  Der 
etymologisch  e  Zusammenhang,  den  Grimm  hier  annimmt,  ist  übrigens  fraglich  und  bestrit- 
ten: näheres  hierüber  bei  Georg  Curtius,  Grundz.der  griech. Etymologie  5,  S.  nou.  33o. 

2  Nähere  Nachweisungen  über  diesen  ursprünglichen  Sinn  des  Gegensatzes  von  <pvoet 
und  vö/uco,  der  erst  später  in  alexandrinischer  Zeit,  durch  den  Gegensatz  von  (pvosi  und 
fteoet  ersetzt  wird  s.  bei  Steinthal,  Gesch.  der  Sprachwissenschaft  bei  den  Griechen 
und  Römern  I,  7Öff.,  n4ff.,  3io.ff. 


l32 


Wort  ganz  im  Kreise  des  subjektiven  Vorstellens  und  Meinens  einge- 
schlossen oder  besteht  zwischen  dem  Reich  der  Benennungen  und  dem 
des  wirklichen  Seins  ein  tieferer  Zusammenhang;  gibt  es  eine  innere  „ob- 
jektive" Wahrheit  und  Richtigkeit  der  Benennungen  selbst?  Die  Sophi- 
stik  verneint,  die  Stoa  behauptet  eine  derartige  objektive  Gültigkeit  des 
Wortes;  aber  in  der  negativen,  wie  in  der  positiven  Entscheidung  bleibt 
die  Form  der  Fragestellung  selbst  die  gleiche.  Daß  die  Erkenntnis 
die  Aufgabe  habe,  die  Wesenheit  der  Dinge,  —  daß  die  Sprache  die  Auf- 
gabe habe,  die  Wesenheit  der  Erkenntnis  widerzuspiegeln  und  nachzu- 
bilden :  das  ist  die  Grundannahme,  von  der  in  der  Verteidigung  wie  in  der 
Bestreitung  ihres  Wertes  überall  ausgegangen  wird.  Die  Sophistik  sucht 
zu  zeigen,  daß  beide  Aufgaben  unlösbar  sind:  wenn  es  ein  Sein  gibt  — 
so  heißt  es  bei  Gorgias  — ,  so  ist  es  dem  Menschen  unfaßbar  und  uner- 
kennbar, wenn  erkennbar,  so  ist  es  nicht  aussprechbar  und  mitteilbar. 
Wie  die  Sinne  des  Gesichts  und  der  des  Gehörs  ihrer  Natur  nach  je  in 
einem  bestimmten  Qualitätenkreise  eingeschlossen  bleiben,  —  wie  der  eine 
nur  Helligkeiten  und  Farben,  der  andere  nur  Töne  wahrzunehmen  ver- 
mag, so  kann  auch  die  Rede  niemals  sich  selbst  transzendieren,  um  das 
ihr  gegenüberstehende  „Andere",  um  das  „Sein"  und  die  Wahrheit  zu  er- 
greifen1. Vergeblich  versucht  die  Stoa  dieser  Konsequenz  dadurch  zu  ent- 
gehen, daß  sie,  wie  eine  natürliche  Verwandtschaft  zwischen  dem  Sein 
und  der  Erkenntnis,  so  auch  einen  natürlichen  Zusammenhang,  eine  Über- 
einstimmung xard  juijurjotv,  zwischen  Wort  und  Sinn  behauptet.  Die 
Ansicht,  daß  das  Wort  das  Sein  ganz  oder  zum  Teil  wiedergebe,  daß  es 
das  echte  ervjuov  zu  ihm  bilde,  führt  sich  selbst  dadurch  ad  absurdum, 
daß  sie  in  ihrer  Fortentwicklung  in  ihr  eigenes  Gegenteil  umschlägt. 
Neben  dem  Verhältnis  der  „Ähnlichkeit"  wird  jetzt  auch  seine  Umkeh- 
rung als  etymologischer  Erklärungsgrund  zugelassen :  nicht  nur  die  äva- 
Xoyia  und  ö/uLoidxrjc;,  sondern  auch  die  evavriwoig  und  dvxl(pgaoig  gilt  als  sprach- 
bildendes Prinzip.  Die  „similitudo"  wird  zum  contrarium;  die  „Analogie" 
wird  zur  „Anomalie".  Welche  verheerende  Wirkung  diese  berüchtigte 
„Erklärung  durch  den  Gegensatz"  im  Fortgang  der  Etymologie  ge- 
habt hat,  ist  bekannt2:  im  Ganzen  aber  drückt  sich  in  ihr  nur  aufs  be- 

*Vgl.  Sextus  adv.  Mathematicos  VII,  83ff.  (Diels,  Fragm.  der  Vorsokr.,  76  B,  554): 
tot  yag  firjvvouev,  eozi  Aöyog,  Xöyog  de  ovx  sozi  za  vjcoxsifxeva  xal  övxa'  ovx  aqa  za  ovza 
fujvvofiev  zoTg  TieXag  dXXä  Xoyov,  og  EZSQÖg  iozi  zwv  vnoxsifxevcov . 

2  Einzelne  charakteristische  Beispiele  s.  bei  Georg  Curtius,  Grundz.  der  griech.  Ety- 
mologie 5,  S.  5f.;  Steinthal,  a.  a.  0.  I,  353ff.;  Lersch,  Sprachphilosophie  der 
Alten,  III,  47ff. 


i33 


stimmteste  aus,  daß  jede  Erklärung  der  Sprache,  die  auf  dem  Postulat 
der  Ähnlichkeit  gegründet  ist,  notwendig  zuletzt  bei  ihrem  eigenen  Gegen- 
pol anlangen  und  damit  sich  selbst  aufheben  muß. 

Auch  dort,  wo  die  Worte  nicht  als  Nachahmungen  der  Dinge,  sondern 
der  subjektiven  Gefühlszustände  gefaßt  werden,  wo  sie,  wie  bei  Epikur, 
nicht  sowohl  die  Beschaffenheit  der  Gegenstände,  als  vielmehr  die  idta 
nddr]  des  Sprechenden  wiedergeben  sollen1,  steht  die  Sprachbetrachtung, 
wenngleich  ihre  Norm  gewechselt  hat,  im  wesentlichen  noch  unter  dem 
gleichen  Prinzip.  Wird  die  Forderung  der  Abbildung  als  solche  aufrecht 
erhalten,  so  gilt  es  zuletzt  gleichviel,  ob  das  Abgebildete  selbst  ein  „In- 
neres" oder  ein  „Äußeres",  ob  es  ein  Komplex  von  Dingen  oder  von  Ge- 
fühlen und  Vorstellungen  ist.  Ja  gerade  unter  dieser  letzteren  Voraus- 
setzung muß  die  Skepsis  gegen  die  Sprache  nicht  nur  wiederkehren,  son- 
dern sie  muß  jetzt  erst  ihre  schärfste  Fassung  annehmen.  Denn  noch 
weit  weniger  als  die  Unmittelbarkeit  der  Dinge  kann  die  Sprache  bean- 
spruchen, die  Unmittelbarkeit  des  Lebens  zu  ergreifen.  Jeder  bloße  Ver- 
such, diese  Unmittelbarkeit  auszudrücken,  hat  sie  vielmehr  bereits  aufge- 
hoben: „spricht  die  Seele,  so  spricht,  ach,  schon  die  Seele  nicht  mehr". 
So  bildet  die  Sprache  wiederum  schon  ihrer  reinen  Form  nach  das  Wi- 
derspiel zu  der  Fülle  und  Konkretion  der  sinnlichen  Empfindungs-  und 
Gefühlswelt.  Der  Einwand  des  Gorgias:  „es  redet  der  Redende,  aber  nicht 
Farbe  oder  Ding2",  gilt  in  verschärftem  Maße,  wenn  wir  die  „objektive" 
Wirklichkeit  durch  die  „subjektive"  ersetzen.  In  dieser  letzteren  herrscht 
durchgängige  Individualität  und  höchste  Bestimmtheit;  in  der  Welt  der 
Worte  dagegen  die  Allgemeinheit,  d.  h.  aber  die  Unbestimmtheit  und  Viel- 
deutigkeit bloß  schematischer  Zeichen.  Indem  die  „generelle"  Wortbe- 
deutung alle  Differenzen,  die  das  wirkliche  psychische  Geschehen  cha- 
rakterisieren, verwischt,  scheint  uns  daher  der  Weg  der  Sprache,  statt 
uns  ins  geistig-Allgemeine  hinaufzuheben,  vielmehr  ins  Gemeine  hinab- 
zuführen: denn  nur  dieses,  nur  das,  was  einer  individuellen  Anschauung 
oder  Empfindung  nicht  schlechthin  eigentümlich,  sondern  ihr  mit  an- 
deren gemeinsam  ist,  ist  der  Sprache  faßbar.  So  bleibt  diese  nur  ein 
Scheinwert  —  nur  eine  Spielregel,  die  um  so  zwingender  wird,  je  mehr 
Mitspieler  sich  ihr  unterwerfen,  die  aber,  sobald  sie  sich  selbst  kritisch 

1  Vgl.  ob.  S.  90. 

2  De  Melisso,  Xenophane  et  Gorgia,  Cap.  6,  980  a  20:  o  yag  slds,  neos  äv  xig,  (prjol,  xovxo 
sI'jioi  Xoyco ;  rj  jicög  äv  sxstvq)  drjXov  dxovoavxi  yi'yvoixo,  fxi]  idövxc ;  coojisq  yag  ovde  t]  oy>ig 
xovg  (pfiöyyovg  yiyvdtoxei,  ovxcog  ovde  f)  axor)  xä  xQcof.ia.xa  dxovei,  äXXä  cp&oyyovg'  xal 
Xeyei  6  Xeycov  dXX'  ov  ^ßw^o  ovde  jigayfia. 


i34 


versteht,  jeden  Anspruch  aufgeben  muß,  irgendein  Wirkliches,  es  mag 
der  „inneren"  oder  der  „äußeren"  Welt  angehören,  darzustellen  oder  gar 
zu  erkennen  und  zu  begreifen1. 

Im  Grunde  aber  schließt  freilich,  in  der  Erkenntniskritik  wie  in  der 
Sprachkritik,  eben  diese  radikalste  Fassung  der  Skepsis  bereits  die  Über- 
windung der  Skepsis  in  sich.  Die  Skepsis  sucht  die  Nichtigkeit  der  Er- 
kenntnis und  der  Sprache  darzutun  —  aber  was  sie  zuletzt  beweist,  ist 
vielmehr  die  Nichtigkeit  des  Maßstabes,  an  dem  beide  hier  gemessen 
werden.  Es  ist  die  innere  Auflösung,  die  Selbstzersetzung  der  Grund- 
voraussetzungen der  „Abbildtheorie",  die  sich  in  der  Entwicklung  der 
Skepsis  methodisch  und  folgerecht  vollzieht.  Je  weiter  daher  die  Negation 
in  diesem  Punkte  getrieben  wird,  um  so  deutlicher  und  bestimmter  er- 
gibt sich  aus  ihr  eine  neue  positive  Einsicht.  Der  letzte  Schein  irgendeiner 
mittelbaren  oder  unmittelbaren  Identität  zwischen  Wirklichkeit  und 
Symbol  muß  getilgt,  —  die  Spannung  zwischen  beiden  muß  aufs 
äußerste  gesteigert  werden,  damit  eben  in  dieser  Spannung  die  eigen- 
tümliche Leistung  des  symbolischen  Ausdrucks  und  der  Gehalt  jeder  ein- 
zelnen symbolischen  Form  sichtbar  werden  kann.  Denn  dieser  ist  in  der 
Tat  nicht  aufweisbar,  solange  man  an  dem  Glauben  festhält,  daß  wir 
die  „Wirklichkeit"  als  ein  gegebenes  und  selbstgenügsames  Sein,  als  ein 
Ganzes,  sei  es  von  Dingen,  sei  es  von  einfachen  Empfindungen,  vor  aller 
geistigen  Formung  besitzen.  Träfe  diese  Voraussetzung  zu  —  dann  bliebe 
freilich  der  Form  als  solcher  keine  andere  Aufgabe,  als  die  einer  bloßen 
Reproduktion,  die  aber  hinter  ihrem  Original  notwendig  zurückbleiben 
müßte.  In  Wahrheit  aber  kann  der  Sinn  jeder  Form  nicht  in  dem  ge- 
sucht werden,  was  sie  ausdrückt,  sondern  nur  in  der  Art  und  Weise,  in 
dem  Modus  und  der  inneren  Gesetzlichkeit  des  Ausdrucks  selbst.  In  dieser 
Gesetzlichkeit  der  Bildung,  also  nicht  in  der  Nähe  zum  unmittelbar-Ge- 
gebenen, sondern  in  der  fortschreitenden  Entfernung  von  ihm,  liegt  der 
Wert  und  die  Eigenart  der  sprachlichen  Gestaltung,  wie  der  Wert  und 
die  Eigenart  der  künstlerischen  Gestaltung,  beschlossen.  Diese  Distanz 
vom  unmittelbaren  Dasein  und  vom  unmittelbaren  Erleben  ist  die  Bedin- 
gung seiner  Sichtbarkeit,  seiner  geistigen  Bewußtheit.  Auch  die  Sprache 
beginnt  daher  erst  dort,  wo  das  unmittelbare  Verhältnis  zum  sinn- 
lichen Eindruck  und  zum  sinnlichen  Affekt  aufhört.  Der  Laut  ist  noch 
nicht  Sprachlaut,  solange  er  sich  rein  als  Wiederholung  gibt ;  solange  ihm 
mit  dem  Willen  zur  „Bedeutung"  auch  das  spezifische  Bedeutungsmo- 

1  Vgl.  Fr.  Mauthner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache,  bes.  I,  25ff.,  70,  176, 
198  u.  ö. 


i35 


ment  fehlt.  Das  Ziel  der  Wiederholung  liegt  in  der  Identität,  —  das  Ziel 
der  sprachlichen  Bezeichnung  liegt  in  der  Differenz.  Die  Synthese,  die 
sich  in  ihr  vollzieht,  kann  sich  nur  als  Synthesis  des  Verschiedenen, 
nicht  des  in  irgendeiner  Hinsicht  Gleichen  oder  Ähnlichen,  vollziehen. 
Je  mehr  der  Laut  dem,  was  er  ausdrücken  will,  gleicht;  je  mehr  er  dieses 
Andere  noch  selbst  „ist",  um  so  weniger  vermag  er  es  zu  „bedeuten". 
Nicht  nur  nach  der  Seite  des  geistigen  Inhalts,  sondern  auch  biologisch 
und  genetisch  ist  hier  die  Grenze  scharf  gezogen.  Schon  bei  den  niederen 
Tieren  begegnet  uns  eine  Fülle  ursprünglicher  Gefühls-  und  Empfin- 
dungslaute, die  sich  sodann  im  Fortgang  zu  den  höheren  Arten  mehr  und 
mehr  differenzieren,  die  zu  bestimmt  artikulierten  und  gegeneinander  ab- 
gegrenzten „Sprachäußerungen",  zu  Angst-  oder  Warnrufen,  Lock-  oder 
Paarungsrufen,  sich  entfalten.  Aber  zwischen  diesen  Ruflauten  und  den 
Bezeichnungs-  und  Bedeutungslauten  der  menschlichen  Sprache  bleibt 
nach  wie  vor  die  Trennung,  bleibt  ein  „Hiatus"  bestehen,  der  gerade 
durch  die  schärferen  Beobachtungsmethoden  der  modernen  Tierpsycho- 
logie aufs  neue  bestätigt  worden  ist1.  Der  Schritt  zur  menschlichen 
Sprache  ist  —  wie  zuerst  Aristoteles  betont  hat  —  erst  getan,  wenn  der 
reine  Bedeutungslaut  vor  den  Affekt-  und  Erregungslauten  den  entschei- 
denden Primat  gewonnen  hat:  ein  Vorrang,  der  sich  sprachgeschichtlich 
auch  darin  ausdrückt,  daß  viele  Worte  der  entwickelten  Sprachen,  die  auf 
den  ersten  Blick  als  bloße  Interjektionen  erscheinen,  sich  bei  genauer 
Analyse  als  Rückbildungen  aus  komplexeren  sprachlichen  Gebilden,  aus 
Worten  oder  Sätzen  mit  einer  bestimmten  begrifflichen  Bedeutung,  er- 
weisen2. 

Allgemein  läßt  sich  eine  dreifache  Stufenfolge  aufweisen,  in  welcher 
sich  dieses  Heranreifen  der  Sprache  zu  ihrer  eigenen  Form,  diese  ihre 

1  Für  die  „Sprache"  der  höchstentwickelten  Affen  vgl.  z.  B.  W.  Köhler,  Zur  Psycho- 
logie des  Schimpansen;  Psychologische  Forschung,  Bd.  I  (192 1)  S.  27:  „Auf  welche 
Art  sich  die  Tiere  verständigen,  ist  im  einzelnen  nicht  leicht  zu  beschreiben.  Daß  ihre 
phonetischen  Äußerungen  ohne  jede  Ausnahme  „subjektive"  Zustände  und  Strebungen 
ausdrücken,  also  sogenannte  Affektlaute  sind  und  niemals  Zeichnung  oder  Bezeichnung 
von  Gegenständlichem  anstreben,  ist  schlechthin  gesichert.  Dabei  kommen  in  der  Schim- 
pansenphonetik so  viel  „phonetische  Elemente"  der  Menschensprache  vor,  daß  sie  gewiß 
nicht  aus  peripheren  Gründen  ohne  Sprache  in  unserem  Sinn  geblieben  sind.  Mit  Mienen- 
spiel und  Gesten  der  Tiere  steht  es  ähnlich:  nichts  davon  bezeichnet  Objektives  oder 
hat  „Darstellungsfunktion"." 

2  Beispiele  hierfür  s.  bei  Sayce,  Introduction  to  the  science  of  language,  London  1880, 
I,  iogf.;  für  den  Kreis  der  indogermanischen  Sprachen  s.  bes.  K.  Brugmann,  Ver- 
schiedenheit der  Satzgestaltung  nach  Maßgabe  der  seelischen  Grundfunktionen  in  den 
idg.  Sprachen,  Lpz.  19 18,  S.  24ff . 


i36 


innere  Selbstbefreiung  vollzieht.  Wenn  wir  diese  Stufen  als  die  des 
mimischen,  des  analogischen  und  des  eigentlich  symbolischen  Aus- 
drucks bezeichnen,  so  enthält  diese  Dreiteilung  zunächst  nicht  mehr 
als  ein  abstraktes  Schema  —  aber  dieses  Schema  wird  sich  in  dem  Maße 
mit  konkretem  Gehalt  erfüllen,  als  sich  zeigen  wird,  daß  es  nicht  nur 
als  Prinzip  der  Klassifikation  gegebener  Spracherscheinungen  dienen 
kann,  sondern  daß  sich  in  ihm  eine  funktionale  Gesetzlichkeit  des  Auf- 
baus  der  Sprache  darstellt,  die  in  anderen  Gebieten,  wie  in  dem  der  Kunst 
oder  der  Erkenntnis,  ihr  ganz  bestimmtes  und  charakteristisches  Gegen- 
bild hat.  Je  mehr  wir  uns  den  eigentlichen  Anfängen  der  Lautsprache 
nähern  können,  um  so  mehr  scheinen  wir  noch  ganz  in  jenem  Kreis  der 
mimischen  Darstellung  und  Bezeichnung  festgehalten  zu  werden,  in  wel- 
chem auch  die  Gebärdensprache  wurzelt.  Was  der  Laut  sucht,  ist  die  un- 
mittelbare Nähe  zum  sinnlichen  Eindruck  und  die  möglichst  getreue  Wie- 
dergabe der  Vielfältigkeit  dieses  Eindrucks.  Dieses  Streben  beherrscht 
nicht  nur  die  Entwicklung  der  Kindersprache  auf  weite  Strecken  hin, 
sondern  tritt  auch  in  der  Sprache  der  „Primitiven"  überall  aufs  stärkste 
hervor.  Die  Sprache  lehnt  sich  hier  noch  so  eng  an  den  konkreten  Ein- 
zelvorgang und  sein  sinnliches  Bild  an,  daß  sie  ihn  mit  dem  Laut  gleich- 
sam auszuschöpfen  versucht,  daß  sie  sich  nicht  an  einer  allgemeinen  Be- 
zeichnung genügen  läßt,  sondern  jede  besondere  Nuance  des  Vorgangs 
auch  mit  einer  besonderen,  eigens  für  diesen  Fall  bestimmten  Laut- 
nuance begleitet.  So  gibt  es  z.  B.  im  Ewe  und  in  einigen  verwandten 
Sprachen  Adverbien,  die  nur  eine  Tätigkeit,  einen  Zustand  oder  eine 
Eigenschaft  beschreiben  und  die  demgemäß  nur  mit  einem  Verbum  ver- 
bunden werden  können.  Viele  Verba  besitzen  eine  Fülle  derartiger,  ihnen 
allein  zugehöriger  qualifizierender  Adverbia,  von  denen  die  meisten  Laut- 
bilder, lautliche  Nachbildungen  sinnlicher  Eindrücke  sind.  Westermann 
zählt  in  seiner  Ewe-Grammatik  für  das  einzige  Verbum  des  Gehens  nicht 
weniger  als  33  derartiger  Lautbilder  auf,  deren  jedes  je  eine  besondere 
Weise  und  Eigentümlichkeit  des  Gehens,  wie  schlotternd  oder  schlen- 
dernd gehen,  hinkend  oder  schleppend  gehen,  watschelnd  oder  wackelnd 
gehen,  kräftig  und  energisch  oder  lässig  und  wiegend  gehen,  beschreibt. 
Aber  hiermit  ist,  wie  er  hinzufügt,  die  Reihe  der  Adverbien,  die  das  Gehen 
beschreiben,  nicht  erschöpft;  denn  die  meisten  derselben  können  doppelt, 
in  der  gewöhnlichen  und  in  der  Diminutivform  vorkommen,  je  nachdem 
das  Subjekt  groß  oder  klein  ist1.  Wenn  im  weiteren  Fortgang  der  Sprach- 

1  Westermann,  Grammatik  der  Ewe-Sprache,  Berlin  1907,  S.  83f.,  i3o;  ganz  ana- 
loge Erscheinungen,  wie  die  hier  berichteten,  finden  sich  in  den  amerikanischen  Ein- 


,37 


entwicklung  diese  Art  der  unmittelbaren  Lautmalerei  zurücktritt,  so  gibt 
es  doch  keine  noch  so  hoch  entwickelte  Kultursprache,  die  nicht  mannig- 
fache Beispiele  von  ihr  bewahrt  hätte.  In  auffallender  Gleichförmigkeit 
finden  sich  bestimmte  onomatopoetische  Ausdrücke  über  alle  Sprachen 
des  Erdkreises  verbreitet.  Sie  beweisen  ihre  Kraft  nicht  nur  darin,  daß 
sie,  einmal  gebildet,  der  Veränderung  durch  den  Lautwandel  und  durch  sonst 
allgemeingültige  Lautgesetze  widerstehen,  sondern  sie  treten  auch  als  Neu- 
schöpfungen hervor,  die  sich  unmittelbar  im  hellen  Licht  der  Sprachge- 
schichte vollziehen1.  Angesichts  dieser  Tatsachen  ist  es  begreiflich,  daß  ge- 
rade die  empirischen  Sprachforscher  vielfach  geneigt  gewesen  sind,  sich  des 
in  der  Sprachphilo:ophie  oft  so  hart  gescholtenen  Prinzips  der  Onomatopöie 
anzunehmen  und  eine,  wenigstens  bedingte,  Ehrenrettung  desselben  zu  ver- 
suchen2. Die  Sprachphilosophie  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  glaubte 
noch  vielfach  in  den  onomatopoetischen  Bildungen  den  Schlüssel  zu  der 
Grund-  und  Ursprache  der  Menschheit,  zu  der  „lingua  adamica",  un- 
mittelbar in  der  Hand  zu  haben.  Heute  ist  freilich  durch  die  kritischen 
Fortschritte  sprachwissenschaftlicher  Betrachtung  der  Traum  dieser  Ur- 
sprache mehr  und  mehr  zerronnen;  aber  noch  immer  finden  sich  ge- 
legentlich Versuche,  den  Nachweis  zu  führen,  wie  in  den  frühesten  Pe- 
rioden der  Sprachbildung  die  Bedeutungsklassen  und  Lautklassen  ein- 
ander entsprachen,  —  wie  das  Ganze  der  Urworte  in  bestimmte  Gruppen 
abgeteilt  war,  deren  jede  an  bestimmte  lautliche  Materialien  geknüpft  und 
aus  ihnen  aufgebaut  war3.  Und  auch  dort,  wo  man  nicht  mehr  die  Hoff- 
nung hegt,  auf  diesem  Wege  zu  einer  wirklichen  Rekonstruktion  der  Ur- 
sprache zu  gelangen,  pflegt  das  Prinzip  der  Onomatopöie  als  ein  Mittel 
anerkannt  zu  werden,  vermöge  dessen  sich  am  ehesten  von  den  relativ 

geborenensprachen;  vgl.  z.B.  den  Übergang  von  rein  onomatopoetischen  Lauten  zu  all- 
gemeinen verbalen  oder  adverbialen  Ausdrücken,  den  Boas  aus  dem  Chinook  anführt 
(Handbook  of  American  Indian  Languages,  P.  I,  Washington  191 1  (Smithson  Jnst. 
Bullet.  4o),  S.  575,  655f. 

1  Eine  Liste  solcher  relativ  später  onomatopoetischer  Bildungen  gibt  für  das  Deutsche 
z.B.  Hermann  Paul,  Prinz,  der  Sprachgeschichte3,  S.  i6of.;  Beispiele  aus  dem  Kreise 
der  romanischen  Sprachen  s.  z.  B.  bei  Meyer-Lübke,  Einf.  in  das  Stud.  der  romani- 
schen Sprachwissenschaft2,  S.  91  ff. 

2  S.  z.  B.  Scherer,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache,  Berlin  1868,  S.  38. 

3  So  unterscheidet  Täuber,  Die  Ursprache  u.  ihre  Entwicklung  (Globus,  Bd.  97  (1910), 
S.  277 ff.),  die  sechs  Hauptgruppen:  flüssige  Nahrung,  feste  Nahrung,  atmosphärische 
Flüssigkeiten,  Holz  und  Wald,  Futter-  und  Tränkeplatz,  Tierwelt  und  sucht  nachzu- 
weisen, daß  sie  in  den  verschiedensten  Sprachen  der  Erde,  z.  B.  im  Sanskrit  und  im 
Hebräischen  ursprünglich  durch  gleichartige  Laute  (m  -f-  Vocal;  p-Laut  H-  Vocal,  n  + 
Vocal,  t-Laut  +  Vocal,  1  oder  r,  k-Laut  4"  Vocal)  bezeichnet  wurden. 


i38 


ältesten  Schichten  der  Sprachbildung  eine  mittelbare  Vorstellung  ge- 
winnen läßt.  „Trotz  alles  Wandels4 '  —  so  bemerkt  z.  B.  G.  Curtius  für 
das  Gebiet  der  indogermanischen  Sprachen  —  „ist  in  den  Sprachen  auch 
ein  Trieb  des  Beharrens  erkennbar.  Mit  derselben  Lautgruppe  sta  be- 
zeichnen alle  Völker  unseres  Stammes  vom  Ganges  bis  zum  Atlantischen 
Ozean  die  Vorstellung  des  Stehens;  an  die  nur  unwesentlich  veränderte 
Lautgruppe  plu  knüpft  sich  bei  allen  die  Vorstellung  des  Fließens.  Dies 
kann  nicht  zufällig  sein.  Gewiß  blieb  dieselbe  Vorstellung  mit  denselben 
Lauten  deshalb  durch  alle  Jahrtausende  verbunden,  weil  für  das  Gefühl 
der  Völker  zwischen  beiden  ein  inneres  Band  bestand,  d.  h.  weil  für 
sie  ein  Trieb  vorhanden  war,  diese  Vorstellung  gerade  mit  diesen  Lauten 
auszudrücken.  Man  hat  die  Behauptung,  daß  die  ältesten  Wörter  irgend- 
eine Beziehung  der  Laute  zu  der  bezeichneten  Vorstellung  voraussetzen, 
oft  verlacht  und  verspottet.  Dennoch  ist  es  schwer,  ohne  diese  Annahme 
die  Entstehung  der  Sprache  zu  erklären.  Auf  jeden  Fall  wohnt  auch  in 
den  Wörtern  weit  vorgeschrittener  Perioden  die  Vorstellung  wie  eine 
Seele1".  Der  Versuch,  diese  „Seele"  der  einzelnen  Laute  und  Lautklassen 
zu  erfassen,  hat  Sprachphilosophen  und  Sprachforscher  immer  wieder 
gereizt.  Nicht  nur  die  Stoa  ist  diesen  Weg  gegangen:  auch  Leibniz  hat 
noch  versucht,  diesem  Ursinn  der  einzelnen  Laute  und  Lautgruppen  im 
Einzelnen  nachzuspüren2.  Und  nach  ihm  haben  gerade  die  feinsten  unel 
tiefsten  Sprachkenner  den  Symbolwert  bestimmter  Laute  nicht  nur  in  dem 
materialen  Ausdruck  einzelner  Begriffe,  sondern  auch  in  der  formalen 
Darstellung  gewisser  grammatischer  Beziehungen  deutlich  aufweisen 
zu  können  geglaubt.  So  findet  Humboldt  diesen  Zusammenhang  nicht 
nur  in  der  Wahl  bestimmter  Laute  zum  Ausdruck  bestimmter  Gefühls- 
werte bestätigt  —  wie  z.  B.  die  Lautgruppe  st  regelmäßig  den  Eindruck 
des  Beständigen  und  Festen,  der  Laut  l  den  des  Schmelzenden  und  Flie- 
ßenden, der  Laut  w  den  einer  schwankenden  und  unstäten  Bewegung  be- 
zeichne — ,  sondern  er  glaubte  ihm  auch  überall  in  den  Mitteln  der  sprach- 
lichen Formbildung  zu  begegnen  und  wandte  diesem  „Symbolischen  in 
den  grammatischen  Lauten"  seine  besondere  Aufmerksamkeit  zu3.  Auch 
Jakob  Grimm  suchte  zu  zeigen,  daß  z.  B.  die  Laute,  die  im  Indogerma- 
nischen für  die  Bildung  der  Antwort-  und  Frageworte  gebraucht  werden, 
mit  der  geistigen  Bedeutung  der  Frage  und  der  Antwort  in  genauestem 

1  G.  Curtius,  Grundz.  der  griech.  Etymologie  5,  S.  96. 

2  S.  Nouveaux  Essais  sur  l'entendement  humain  III,  3. 

3  Vgl.  die  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  1,  76 ff.),  sowie  dieses  Werk  selbst:  Über 
die  Kawi-Sprache  auf  der  Insel  Java,  Berlin  i838,  II,  Iii,  i53  u.  ö. 


i39 


Zusammenhang  stünden1.  Daß  bestimmte  Vokaldifferenzen  und  Vokal- 
abstufungen als  Ausdruck  bestimmter  objektiver  Gradabstufungen,  ins- 
besondere zur  Bezeichnung  der  größeren  oder  geringeren  Entfernung 
eines  Gegenstandes  vom  Sprechenden  verwendet  werden,  ist  eine  Erschei- 
nung, die  sich  in  den  verschiedensten  Sprachen  und  Sprachgebieten 
gleichartig  wiederfindet.  Fast  durchweg  bezeichnen  hierbei  a,  o,  u  die 
weitere,  e  und  i  die  geringere  Entfernung2.  Auch  die  Verschiedenheit 
des  zeitlichen  Abstands  wird  in  dieser  Weise  durch  die  Verschiedenheit 
der  Vokale  oder  Vokalhöhen  angedeutet3.  In  derselben  Weise  werden 
gewisse  Konsonanten  und  Konsonantengruppen  als  „natürliche  Laut- 
metaphern" verwendet,  denen  in  fast  allen  Sprachgebieten  eine  gleich- 
artige oder  ähnliche  Bedeutungsfunktion  zukommt:  —  wie  z.  B.  die 
labialen  Resonanzlaute  mit  auffallender  Regelmäßigkeit  die  Richtung 
zum  Sprechenden  hin,  die  explosiven  Zungenlaute  die  Richtung  vom 
Sprechenden  fort  bezeichnen,  so  daß  die  ersteren  als  „natürlicher" 
Ausdruck  des  „Ich",  die  letzteren  als  natürlicher  Ausdruck  des  „Du" 
erscheinen4. 

Aber  in  diesen  letzteren  Erscheinungen  ist  nun,  so  sehr  sie  gleich- 
sam noch  die  Farbe  des  unmittelbar-sinnlichen  Ausdrucks  an  sich  tragen, 
der  Kreis  der  bloß  mimischen  und  imitativen  Sprachmittel  im  Grunde 
bereits  überschritten.  Denn  jetzt  handelt  es  sich  nicht  mehr  darum, 
einen  einzelnen  sinnlichen  Gegenstand  oder  einen  einzelnen  sinnlichen 

1  S.  Deutsche  Grammatik  III,  i:  „Unter  allen  Lauten  der  Menschenstimme  ist  keiner 
so  fähig,  das  Wesen  der  Frage,  die  gleich  im  Beginn  des  Wortes  gefühlt  sein  will, 
auszudrücken,  wie  das  K,  der  vollste  Konsonant,  den  die  Kehle  vermag.  Ein  bloßer  Vokal 
würde  zu  unbestimmt  erhallen  und  das  Labialorgan  kommt  dem  gutturalen  an  Stärke 
nicht  bei.  Zwar  das  T  kann  mit  gleicher  Kraft  hervorgebracht  werden  wie  das  K,  allein 
es  wird  weniger  ausgestoßen  als  ausgesprochen  und  hat  etwas  Festeres;  es  eignet  sich 
daher  zum  Ausdruck  der  ruhigen,  ständigen  und  vor  sich  hinweisenden  Antwort.  K 
forscht,  erkundigt,  ruft;  T  zeigt,  bedeutet  und  erwidert." 

2  Belege  hierfür  aus  verschiedenen  Sprachkreisen  s.  z.  B.  in  Fr.  Müllers  Grundriß  der 
Sprachwissenschaft,  Wien  i87Öff.,  I,  2,  S.  o,4f-,  HI,  i,  ig4  u.  ö.;  Humboldt,  Kawi- 
Werk  II,  i53;  s.  übr.  weiter  unten  Cap.  3. 

3  S.  z.  B.  Fr.  Müller,  a.  a.  O.,  I,  2,  0,4-  Steinthal,  Die  Mande  Neger  Sprachen,  Berlin 
1867,  S.  117. 

4  In  auffallender  Übereinstimmung  mit  dem  Indogermanischen  dienen  z.  B.  in  den  ural- 
altaischen  Sprachen  die  Lautelemente  ma,  mi,  mo  bzw.  ta,  lo,  ti,  si  als  Grundelemente 
für  die  beiden  persönlichen  Fürwörter:  vgl.  H.  Winkler,  Das  Ural-altaische  und  seine 
Gruppen,  Berlin  i885,  S.  26;  für  die  anderen  Sprachkreise  s.  die  Zusammenstellung, 
die  Wundt  (a.  a.  O.  I,  345)  auf  Grund  des  Materials  in  Fr.  Müllers  Grundr.  der 
Sprachwiss.  gegeben  hat. 

i4o 


Eindruck  in  einem  nachahmenden  Laute  festzuhalten,  sondern  die  quali- 
tative Abstufung  in  einer  Gesamtreihe  von  Lauten  dient  dem  Ausdruck 
einer  reinen  Beziehung.  Zwischen  der  Form  und  Eigenart  dieser  Be- 
ziehung und  den  Lauten,  in  denen  sie  sich  darstellt,  besteht  kein  Ver- 
hältnis der  direkten  materialen  Ähnlichkeit  mehr  —  wie  denn  überhaupt 
die  bloße  Materie  des  Lautes  als  solche  nicht  fähig  ist,  reine  Verhältnis- 
bestimmungen wiederzugeben.  Der  Zusammenhang  ist  vielmehr  dadurch 
vermittelt,  daß  im  Verhältnis  der  Laute  einerseits  und  in  dem  der  be- 
zeichneten Inhalte  andererseits  eine  Analogie  der  Form  erfaßt  wird, 
kraft  deren  nun  eine  bestimmte  Zuordnung  der  inhaltlich  ganz  ver- 
schiedenen Reihen  sich  vollzieht.  Damit  ist  jene  zweite  Stufe  erreicht, 
die  wir,  gegenüber  dem  bloß  mimischen  Ausdruck,  als  die  Stufe  des 
analogischen  Ausdrucks  bezeichnen  können.  Der  Übergang  von  der 
einen  zur  anderen  stellt  sich  vielleicht  am  deutlichsten  in  denjenigen 
Sprachen  dar,  die  den  musikalischen  Silbenton  zur  Unterscheidung  von 
Wortbedeutungen  oder  zum  Ausdruck  formal-grammatischer  Bestim- 
mungen verwenden.  Der  mimischen  Sphäre  scheinen  wir  hier  insofern 
noch  ganz  nahe  zu  stehen,  als  die  reine  Bedeutungsfunktion  noch  ganz 
am  sinnlichen  Klang  selbst  haftet  und  von  ihm  nicht  ablösbar  ist.  Von  den 
indochinesischen  Sprachen  sagt  Humboldt,  daß  in  ihnen  durch  die  Diffe- 
renzierung der  Tonhöhen  der  einzelnen  Silben  und  durch  die  Verschieden- 
heit der  Akzente  die  Rede  zu  einer  Art  Gesang  oder  Rezitativ  werde  und 
daß  z.  B.  die  Tonstufen  des  Siamesischen  völlig  mit  einer  musikalischen 
Tonleiter  verglichen  werden  könnten1.  Daneben  sind  es  insbesondere  die 
Sudansprachen,  die  durch  den  verschiedenen  Ton  der  Silben,  durch  Hoch- 
ton, Mittel-  oder  Tief  ton  oder  durch  zusammengesetzte  Tonschattierungen, 
wie  den  tiefhohen-steigenden  oder  hochtief  en-f  allen  den  Ton,  die  mannig- 
fachsten Bedeutungsnuancen  zum  Ausdruck  bringen  können.  Teils  sind  es 
etymologische  Unterschiede,  die  auf  diese  Weise  bezeichnet  werden,  d.  h. 
die  gleiche  Silbe  dient,  je  nach  ihrem  Ton,  zur  Bezeichnung  ganz  ver- 
schiedener Dinge  oder  Vorgänge;  teils  drücken  sich  bestimmte  räum- 
liche und  quantitative  Unterscheidungen  in  der  Verschiedenheit  des  Sil- 
bentons aus,  indem  z.  B.  hoch  ton  ige  Wörter  zum  Ausdruck  großer 
Entfernungen,  tieftonige  zum  Ausdruck  der  Nähe,  jene  zum  Ausdruck  der 
Schnelligkeit,  diese  zum  Ausdruck  der  Langsamkeit  u.  s.  f.  gebraucht 
werden2.  Daneben  aber  sind  es  rein  formale  Bestimmungen  und  Gegen- 

1  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  S.  3oo). 

2  Näheres  hierüber  bei  Westermann,  Die  Sudansprachen,  Hamb.  191 1,  S.  76fr*.; 
Die  Gola-Sprache  in  Liberia,  Hamb.  192 1,  S.  igff. 

i4i 


sätze,  die  auf  diesem  Wege  ihre  sprachliche  Darstellung  finden  können. 
So  kann  z.  B.,  lediglich  durch  die  Tonveränderung,  die  bejahende  Form 
des  Verbums  in  die  verneinende  übergehen1  —  oder  aber  die  Bestimmung 
der  grammatischen  Kategorie  eines  Wortes  mittels  dieses  Prinzips  er- 
folgen, indem  übrigens  gleichlautende  Silben  durch  die  Art  der  Aus- 
sprache als  Nomina  oder  als  Verba  gekennzeichnet  werden2.  Wieder  einen 
Schritt  weiter  werden  wir  in  die  Erscheinung  der  Vokalharmonie  ge- 
führt, die,  wie  bekannt,  den  gesamten  Aufbau  bestimmter  Sprachen  und 
Sprachgruppen  —  vor  allem  den  Aufbau  der  ural-altaischen  Sprachen 
—  beherrscht.  Hier  zerfällt  die  Gesamtheit  der  Vokale  in  zwei  scharf 
geschiedene  Klassen,  in  die  Klasse  der  harten  und  in  die  der  weichen 
Vokale,  wobei  durchgängig  die  Regel  gilt,  daß  bei  der  Vermehrung  eines 
Stammes  durch  Suffixe  dem  Vokal  der  Stammsilbe  stets  ein  der  gleichen 
Klasse  angehöriger  Vokal  in  den  Suffixen  entsprechen  muß3.  Hier  dient 
die  klangliche  Angleichung  der  einzelnen  Bestandteile  eines  Wortes,  also 
ein  rein  sinnliches  Mittel,  dazu,  diese  Teile  auch  formal  zusammenzu- 
schließen und  von  ihrer  relativ  lockeren  „Agglutination"  zu  einem  sprach- 
lichen Ganzen,  zu  einem  in  sich  geschlossenen  Wort-  oder  Satzgebilde 
fortzuschreiten.  Indem  das  Wort  oder  Satzwort  sich  kraft  des  Prinzips 
der  Vokalharmonie  als  Lauteinheit  konstituiert,  gewinnt  es  darin  auch 
erst  seine  wahrhafte  Sinneinheit:  ein  Zusammenhang,  der  zunächst  rein 
die  Qualität  der  einzelnen  Laute  und  ihre  physiologische  Erzeugung  be- 
trifft, wird  zum  Vehikel,  um  sie  zur  Einheit  eines  geistigen  Ganzen,  zur 
Einheit  einer  „Bedeutung"  zu  verknüpfen. 

1  Vgl.  Westermann,  Gola-Sprache,  S.  66f. 

2  So  haftet  z.  B.  im  Äthiopischen  (nach  Dillmann,  Grammat.  der  äthiop.  Sprache, 
Lpz.  1857,  S.  n5f.)  die  gesamte  Unterscheidung  der  Tat-  und  Nennwörter  zunächst 
lediglich  an  der  Vokal  ausspräche.  Auch  die  Unterscheidung  der  intransitiven  Verba,  die 
statt  eines  reinen  Tuns  eine  zuständliche  und  leidende  Handlung  bezeichnen,  von  den  im 
engeren  Sinne  , .aktiven"  Verbalausdrücken  erfolgt  hier  durch  das  gleiche  Mittel. 

3  Näheres  zum  Prinzip  der  Vokalharmonie  in  den  ural-altaischen  Sprachen  s.  z.  B.  bei 
Boethlingk,  Die  Sprache  der  Jakuten,  Petersb.  i85i,  S.  XXVI,  io3,  und  bei  II. 
Winkler,  Das  Uralaltaische  u.  seine  Gruppen,  S.  77 ff-  Grunzel  betont,  daß  die  An- 
lage zur  Vokalharmonie  als  solche  allen  Sprachen  gemoinsam  sei,  wenngleich  sie  nur  in 
den  ural-altaischen  Sprachen  zu  so  regelmäßiger  Entfaltung  gelangt  sei.  In  der  letz- 
teren hat  übrigens  die  Vokalharmonie  im  gewissen  Sinne  auch  eine  „Konsonantenhar- 
monie" zur  Folge  gehabt.  (Näheres  bei  Grunzel,  Entw.  ein.  vergl.  Gramm,  der  altaischen 
Sprachen,  Lpz.  1895,  S.  2of.,  a8f.)  Beispiele  für  die  Vokalharmonie  aus  anderen 
Sprachkreisen  finden  sich  für  die  amerikanischen  Sprachen  bei  Boas,  Handbook  of 
Americ.  Indian  Languages  I,  56g  (Chinook);  für  die  afrikan.  Sprachen  vgl.  z.B.  Mein- 
hof, Lehrbuch  der  Nama-Sprache,  Berl.  1909,  S.  n4f. 

i4a 


Noch  deutlicher  und  ausgeprägter  zeigt  sich  diese  „analogische"  Ent- 
sprechung zwischen  Laut  und  Bedeutung  in  der  Funktion  gewisser  weit- 
verbreiteter und  typischer  Grundmittel  der  Sprachbildung,  wie  z.  B.  in 
dem  Gebrauch,  der  von  dem  lautlichen  Mittel  der  Reduplikation  für 
die  Wort-  und  Formenbildung,  sowie  für  die  Syntax,  gemacht  wird.  Die 
Reduplikation  scheint  auf  den  ersten  Blick  noch  ganz  durch  das  Prinzip 
der  Nachahmung  beherrscht  zu  werden:  die  Verdoppelung  des  Lautes 
oder  der  Silbe  scheint  lediglich  dazu  bestimmt,  gewisse  objektive  Beschaf- 
fenheiten an  dem  bezeichneten  Ding  oder  Vorgang  in  möglichster  Treue 
wiederzugeben.  Die  Wiederholung  des  Lautes  schmiegt  sich  derjenigen, 
die  im  sinnlichen  Dasein  oder  Eindruck  gegeben  ist,  unmittelbar  an.  Wo 
ein  Ding  sich  mehrfach  in  gleichartiger  Beschaffenheit  den  Sinnen  dar- 
bietet, wo  ein  zeitlicher  Vorgang  sich  in  einer  Folge  gleichartiger  oder 
ähnlicher  Phasen  vollzieht,  da  hat  die  Lautwiederholung  ihre  eigentliche 
Stelle.  Aber  auf  dieser  ganz  elementaren  Grundlage  baut  sich  nun  ein  Sy- 
stem von  erstaunlicher  Mannigfaltigkeit  und  von  den  feinsten  Bedeutungs- 
schattierungen auf.  Der  sinnliche  Eindruck  der  „Mehrheit  schlechthin" 
zerlegt  sich  zunächst  begrifflich  in  den  Ausdruck  der  „kollektiven" 
und  der  „distributiven"  Mehrheit.  Gewisse  Sprachen,  denen  die  Plu- 
ralbezeichnung in  unserem  Sinne  fehlt,  haben  statt  ihrer  die  Idee  der 
distributiven  Mehrheit  zur  höchsten  Schärfe  und  Bestimmtheit  ent- 
wickelt, indem  sie  aufs  sorgfältigst  unterscheiden,  ob  ein  bestimmter  Akt 
sich  als  ein  unteilbares  Ganze  darstellt  oder  ob  er  in  mehrere  getrennte 
Einzelhandlungen  zerfällt.  Gilt  das  letztere,  sind  also  an  dem  Akt 
gleichzeitig  verschiedene  Subjekte  beteiligt,  oder  wird  er  von  demselben 
Subjekt  in  verschiedenen  zeitlichen  Ansätzen,  in  einzelnen  „Stadien"  aus- 
geführt, so  tritt  als  Ausdruck  dieser  distributiven  Sonderung  die  Laut- 
verdoppelung ein.  Gatschet  hat  in  seiner  Darstellung  der  Klamath- 
Sprache  gezeigt,  wie  diese  Grundunferscheidung  hier  geradezu  zu  der  be- 
herrschenden Kategorie  der  Sprache  geworden  ist,  die  alle  ihre  Teile 
durchdringt  und  die  gesamte  „Form"  der  Sprache  bestimmt1.  Auch  in 
anderen  Sprachkreisen  läßt  sich  verfolgen,  wie  die  Doppelung  eines  Wor- 
tes, die  in  den  Anfängen  der  Sprachgeschichte  als  einfaches  Mittel  zur  Be- 
zeichnung der  Menge  diente,  allmählich  als  anschaulicher  Ausdruck  für 
solche  Mengen  eintritt,  die  nicht  als  geschlossene  Ganze  gegeben  sind,  son- 

1  Gatschet,  Grammar  of  the  klamath  language  (Contributions  to  North  American  Eth- 
nology,  Vol.  II,  P.  i,  Washington  1890,  S.  25aff.).  Zur  Bedeutung  der  ,,idea  of  severally 
or  distibutrition" ,  wie  Gatschet  sie  nennt,  s.  auch  weit,  unten,  Cap.  III. 


i43 


dem  sich  in  einzelne  Gruppen  oder  Individuen  abteilen1.  Aber  die  ge- 
dankliche Leistung  dieses  sprachlichen  Mittels  ist  damit  bei  weitem  nicht 
erschöpft.  Wie  für  die  Darstellung  der  Mehrheit  und  Wiederholung,  so 
kann  die  Reduplikation  auch  für  die  Darstellung  mannigfacher  anderer 
Verhältnisse,  insbesondere  für  Raum-  und  Größenverhältnisse,  eintreten. 
Scher  er  bezeichnet  sie  als  eine  grammatische  Urform,  die  im  wesent- 
lichen dem  Ausdruck  dreier  Grundanschauungen:  der  Anschauung  der 
Kraft,  des  Raumes  und  der  Zeit  diene2.  Aus  der  iterativen  Bedeutung 
entwickelt  sich  in  einem  naheliegenden  Übergang  die  rein  intensive,  wie 
sie  sich  beim  Adjektivum  in  der  Bildung  der  Steigerungsform,  beim  Ver- 
bum  in  der  Bildung  von  Intensivformen  darstellt,  die  dann  wieder  häu- 
fig in  Kausativform  übergehen3.  Auch  sehr  feine  modale  Unterschiede 
einer  Handlung  oder  eines  Vorgangs  können  durch  das  einfache  Mittel  der 
Lautwiederholung  angedeutet  werden:  wie  z.B.  in  verschiedenen  ameri- 
kanischen Eingeborenensprachen  die  reduplizierte  Form  des  Verbums  zur 
Verwendung  kommt,  um  eine  Art  „Un Wirklichkeit"  der  Handlung  zu 
bezeichnen,  um  auszudrücken,  daß  sie  nur  in  der  Absicht  oder  „Vor- 
stellung" besteht,  aber  nicht  zur  realen  Vollendung  gelangt  ist4.  In  alle- 
dem hat  offenbar  die  Reduplikation  die  Phase  der  bloß  sinnlichen  Schil- 
derung oder  Andeutung  eines  gegenständlichen  Seins  längst  hinter  sich 
gelassen.  Dies  tritt  unter  anderem  auch  an  einer  eigentümlichen  Po- 
larität ihres  Gebrauchs  hervor,  kraft  deren  sie  nicht  nur  zum  Aus^ 
druck  und  Träger  verschiedener,  sondern  geradezu  entgegengesetzter  Be- 
deutungsmodalitäten werden  kann.  Neben  der  verstärkenden  Bedeutung 
kommt  ihr  gelegentlich  auch  die  genau  umgekehrte,  die  abschwächende 
Bedeutung  zu,  so  daß  sie  beim  Adjektivum  zur  Bildung  der  Diminutiv- 
formen, beim  Verbum  zur  Bildung  von  Limitativformen  gebraucht  wird5. 

1  Vgl.  hierzu  bes.  die  Beispiele  aus  dem  semitischen  Sprachkreis  bei  Brockelmann, 
Grundr.  der  vergl.  Gramm,  der  semitischen  Sprachen,  Berlin  igo8/i3,  II,  ff. 

2  Scherer,  Zur  Gesch.  der  deutschen  Sprache,  S.  354 f. 

3  Belege  finden  sich  vor  allem  in  der  Schrift  von  F.  A.  Pott,  Doppelung  (Reduplika- 
tion, Gemination)  als  eines  der  wichtigsten  Bildungsmittel  der  Sprache  (1862);  s.  auch 
das  reichhaltige  Material  bei  Bra ndstetter,  Die  Reduplikation  in  den  indianischen,  in- 
donesischen und  indogermanischen  Sprachen,  Luzern  19 17. 

4  ,,Reduplication  is  also  used  to  express  the  diminutive  of  nouns,  the  idea  of  a  playful 
Performance  of  an  activity,  and  the  endeavor  to  perform  an  action.  It  would  seem  that  in  all 
these  forms  we  have  the  fundamental  idea  of  an  approach  to  a  certain  concept  without  its 
realization."  (Fr.  Boas,  Kwakiutl,  Handb.  of  Amer.  Ind.  Lang.  I,  444f.;  vgl.  bes.  Ö26f.) 

5  Belege  hierfür  aus  dem  Kreise  der  Südseesprachen  bei  Codrington,  The  Melanesian 
languages,  Oxford  i885,  S.  1^7;  Ray,  a.  a.  0.,  S.  356,  446;  für  die  amerikanischen 
Eingeborenensprachen  s.  z.B.  Boas,  Handbook  I,  Ö2Ö  u.  ö. 


I 

Auch  in  der  Bestimmung  der  Zeitstufe  einer  Handlung  kann  sie  ebenso- 
wohl als  Ausdruck  der  Gegenwart  oder  Zukunft,  wie  als  Ausdruck  der 
Vergangenheit  dienen1.  Darin  zeigt  sich  am  deutlichsten,  daß  sie  nicht 
sowohl  die  Wiedergabe  eines  fixen  und  eingeschränkten  Vorstellungs- 
inhalts ist,  als  sich  vielmehr  in  ihr  eine  bestimmte  Richtung  der  Auf- 
fassung und  Betrachtung  und  gleichsam  eine  gewisse  Vorstellungsbewe- 
gung ausprägt.  Noch  schärfer  tritt  die  rein  formale  Leistung  der  Redu- 
plikation dort  heraus,  wo  sie  aus  der  Sphäre  des  quantifizierenden 
Ausdrucks  in  den  Kreis  der  reinen  Relationsbestimmung  übertritt.  Sie 
bestimmt  alsdann  nicht  sowohl  die  inhaltliche  Bedeutung  des  Wortes,  als 
seine  allgemeine  grammatische  Kategorie.  In  Sprachen,  die  in  der  bloßen 
Wortform  diese  Kategorie  nicht  kenntlich  machen,  wird  häufig  durch 
die  Laut-  oder  Silbenverdoppelung  ein  Wort  aus  der  einen  grammatischen 
Klasse  in  eine  andere  versetzt,  also  z.  B.  aus  einem  Nomen  in  ein  Verbum 
verwandelt2.  In  allen  diesen  Erscheinungen,  denen  sich  andere  gleich- 
artige an  die  Seite  stellen  ließen,  tritt  klar  hervor,  wie  die  Sprache  auch 
dort,  wo  sie  vom  rein  imitativen  oder  „analogischen"  Ausdruck  ausgeht, 
den  Kreis  desselben  ständig  zu  erweitern  und  schließlich  zu  durchbrechen 
strebt.  Sie  macht  aus  der  Not  der  Vieldeutigkeit  des  Lautzeichens  seine 
eigentliche  Tugend.  Denn  gerade  diese  Vieldeutigkeit  duldet  nicht,  daß 
das  Zeichen  bloßes  Individualzeichen  bleibt;  gerade  sie  ist  es,  die  den  Geist 
zwingt,  den  entscheidenden  Schritt  von  der  konkreten  Funktion  des  „Be- 
zeichnens"  zur  allgemeinen  und  allgemeingültigen  Funktion  der  „Bedeu- 
tung" zu  tun.  In  ihr  tritt  die  Sprache  gleichsam  aus  den  sinnlichen  Hüllen, 
in  denen  sie  sich  bisher  darstellte,  heraus :  der  mimische  oder  analogische 
Ausdruck  weicht  dem  rein  symbolischen,  der  gerade  in  seiner  Andersheit 
und  kraft  derselben  zum  Träger  eines  neuen  und  tieferen  geistigen  Ge- 
halts wird. 


1  So  z.  B.  in  der  Tempusbildung  des  Verbums  im  Tagalis chen  (Humboldt,  Kawi- 
Werk,  II,  i25ff.). 

2  Beispiele  aus  dem  Javanischen  in  Humboldts  Kawi-Werk  II,  86f. 

xo  i45 


KAPITEL  III 


DIE  SPRACHE  IN  DER  PHASE  DES 
ANSCHAULICHEN  AUSDRUCKS 

I.  Der  Ausdruck  des  Raumes  und  der  räumlichen  Beziehungen 

So  wenig  wie  in  der  Erkenntnislehre,  so  wenig  läßt  sich  in  der  Sprach- 
betrachtung ein  scharfer  Grenzstrich  zwischen  dem  Gebiet  des  Sinnlichen 
und  dem  Gebiet  des  Intellektuellen  in  der  Weise  ziehen,  daß  beide  da- 
durch als  gegeneinander  abgesonderte  Bezirke  bezeichnet  würden,  deren 
jedem  eine  eigene  und  selbstgenügsame  Art  der  „Wirklichkeit"  zukommt. 
Die  Kritik  der  Erkenntnis  zeigt,  daß  die  bloße  Empfindung,  in  der  ledig- 
lich eine  sinnliche  Qualitätsbestimmung  gesetzt,  von  jeder  Form  der 
Ordnung  aber  abgesehen  wird,  in  keiner  Weise  ein  „Faktum"  der  un- 
mittelbaren Erfahrung,  sondern  vielmehr  lediglich  das  Ergebnis  einer 
Abstraktion  ist.  Die  Materie  der  Empfindung  ist  niemals  rein  an  sich  und 
„vor"  aller  Formung  gegeben,  sondern  sie  schließt  schon  in  ihrer  ersten 
Setzung  eine  Beziehung  auf  die  Raum-Zeit-Form  ein.  Aber  dieser  erste 
bloß  unbestimmte  Hinweis  erhält  im  stetigen  Fortgang  der  Erkenntnis 
seine  fortschreitende  Bestimmung:  die  bloße  „Möglichkeit  des  Beisam- 
men" und  die  „Möglichkeit  des  Nacheinander"  entfaltet  sich  zum  Ganzen 
des  Raumes  und  der  Zeit,  als  einer  zugleich  konkreten  und  allgemeinen 
Stellenordnung.  Man  wird  erwarten  dürfen,  daß  die  Sprache,  als  Spiegel- 
bild des  Geistes,  auch  diesen  fundamentalen  Prozeß  in  irgendeiner  Weise 
widerspiegelt.  Und  in  der  Tat  gilt  das  Kantische  Wort,  daß  Begriffe 
ohne  Anschauungen  leer  seien,  nicht  minder  für  die  sprachliche  Bezeich- 
nung als  für  die  logische  Bestimmung  der  Begriffe.  Auch  die  abstrakte- 
sten Gestaltungen  der  Sprache  weisen  noch  deutlich  den  Zusammenhang 
mit  der  primären  Anschauungsgrundlage  auf,  in  der  sie  ursprünglich 
wurzeln.  Auch  hier  trennt  sich  die  Sphäre  des  „Sinns"  nicht  schlechthin 
von  der  der  „Sinnlichkeit",  sondern  beide  bleiben  aufs  engste  ineinander 
verwoben.  Der  Schritt  von  der  Welt  der  Empfindung  zu  der  der  „reinen 


i46 


Anschauung",  den  die  Erkenntniskritik  als  ein  notwendiges  Moment  im 
Aufbau  der  Erkenntnis,  als  eine  Bedingung  des  reinen  Ichbegriffs,  wie 
des  reinen  Gegenstandsbegriffs  aufweist,  hat  daher  in  der  Sprache  sein 
genaues  Gegenbild.  Es  sind  auch  hier  die  „Formen  der  Anschauung",  in 
deren  Aufbau  sich  die  Art  und  Richtung  der  in  der  Sprache  waltenden, 
geistigen  Synthesis  zunächst  bekundet,  und  nur  durch  das  Medium  dieser 
Formen  hindurch,  nur  durch  die  Vermittlung  der  Anschauungen  von 
Raum,  Zeit  und  Zahl  vermag  die  Sprache  ihre  wesentlich  logische  Lei- 
stung: die  Gestaltung  der  Eindrücke  zu  Vorstellungen  zu  vollziehen. 

Vor  allem  ist  es  die  räumliche  Anschauung,  an  der  sich  dieses  Inein- 
ander des  sinnlichen  und  des  geistigen  Ausdrucks  in  der  Sprache  durch- 
gehend beweist.  Gerade  in  den  allgemeinsten  Ausdrücken,  die  die  Sprache 
zur  Bezeichnung  geistiger  Prozesse  erschafft,  tritt  die  entscheidende  Mit- 
wirkung der  räumlichen  Vorstellung  aufs  deutlichste  hervor.  Noch  in  den 
höchstentwickelten  Sprachen  begegnet  diese  „metaphorische"  Wiedergabe 
geistiger  Bestimmungen  durch  räumliche.  Wie  sich  im  Deutschen  dieser 
Zusammenhang  in  den  Ausdrücken  des  Vorstellens  und  Verstehens,  des 
Begreif ens,  des  Begründens  und  Erörterns  u.  s.  f.  wirksam  erweist1,  so 
kehrt  er  fast  gleichartig  nicht  nur  in  den  verwandten  Sprachen  des  indo- 
germanischen Kreises,  sondern  auch  in  völlig  unabhängigen  und  weit  ent- 
legenen Sprachgebieten  wieder.  Insbesondere  die  Sprachen  der  Naturvölker 
sind  überall  durch  die  Genauigkeit  ausgezeichnet,  mit  der  sie  alle  räumlichen 
Bestimmungen  und  Unterschiede  von  Vorgängen  und  Tätigkeiten  gleichsam 
unmittelbar  malend  und  mimisch  zum  Ausdruck  bringen.  So  kennen  z.  B. 
die  amerikanischen  Eingeborenensprachen  nur  selten  irgendeine  allge-, 
meine  Bezeichnung  des  Gehens,  sondern  sie  besitzen  statt  dessen  spezielle 
Ausdrücke  für  das  aufwärts  und  abwärts  gehen,  sowie  für  die  sonstigen 
mannigfachen  Nuancen  der  Bewegung  —  und  ebenso  wird  im  Ausdruck 
der  Ruhelage  das  Stehen  unter-  und  oberhalb,  innerhalb  und  außerhalb 
eines  bestimmten  Bezirks,  das  Stehen  um  etwas  herum,  das  Stehen  im 
Wasser,  im  Wald  u.  s.  f.  genau  unterschieden  und  gesondert  bezeichnet. 
Während  die  Sprache  hier  eine  große  Anzahl  von  Unterschieden,  die  wir 
am  Verbum  ausdrücken,  ganz  unbezeichnet  läßt  oder  nur  sehr  geringes 
Gewicht  auf  sie  legt,  werden  alle  Bestimmungen  des  Ortes,  der  Lage  und 

1  „Begreifen  geht,  wie  das  einfache  greifen,  ursprünglich  bloß  auf  die  Berührung  mit 
Händen  und  Füßen,  Fingern  und  Zehen"  (Grimm,  Dtsch.  Wörterbuch  I,  Sp.  1807).  — 
Über  den  räumlichen  Grundsinn  des  Ausdrucks  „erörtern"  vgl.  Leibniz,  Unvorgreif- 
liche  Gedanken  betr.  die  Ausübung  u.  Verbesserung  der  teutschen  Sprache  S  54;  s.  auch 
Nouv.  Essais  III,  Kap.  1. 

10*  i47 


der  Entfernung  durch  Partikeln  von  ursprünglich  lokaler  Bedeutung  stets 
aufs  sorgfältigste  bezeichnet.  Die  Strenge  und  Genauigkeit,  mit  der  diese 
Bezeichnung  durchgeführt  wird,  wird  von  den  Kennern  dieser  Sprachen 
oft  geradezu  als  ihr  fundamentales  Prinzip  und  als  ihr  eigentlicher 
charakteristischer  Grundzug  angesehen1.  Von  den  malayo-polynesischen 
Sprachen  sagt  Grawfurd,  daß  in  ihnen  die  verschiedenen  Stellungen  des 
menschlichen  Körpers  so  scharf  unterschieden  würden,  daß  ein  Anatom, 
ein  Maler  oder  Bildhauer  daraus  unmittelbar  Nutzen  ziehen  könnte  — 
im  Javanischen  z.B.  werden  10  verschiedene  Arten  des  Stehens  und  20 
des  Sitzens  durch  je  ein  besonderes  Wort  wiedergegeben2.  Ein  Satz,  wie 
unser  Satz  ,der  Mann  ist  krank*  kann  in  verschiedenen  amerikanischen 
Sprachen  nur  so  ausgedrückt  werden,  daß  in  ihm  mitbezeichnet  wird,  ob 
das  Subjekt,  auf  das  sich  die  Aussage  bezieht,  sich  in  größerer  oder 
geringerer  Entfernung  vom  Sprechenden  oder  Angesprochenen  befindet,  ob 
es  für  beide  sichtbar  oder  nichtsichtbar  ist;  ebenso  wird  häufig  der  Ort, 
die  Lage,  die  Stellung  des  Kranken  durch  die  Form  des  Satzwortes  an- 
gedeutet3. Hinter  dieser  Schärfe  der  räumlichen  Charakteristik  treten  alle 
anderen  Bestimmungen  zurück  oder  sie  kommen  nur  durch  die  Ver- 
mittlung von  Ortsbestimmungen  zur  indirekten  Darstellung.  Dies  gilt 
ebenso  wie  für  die  zeitlichen,  auch  für  qualitative  und  modale 
Unterschiede.  So  steht  z.  B.  der  Zweck  einer  Handlung  für  die  konkrete 
Anschauung  stets  in  nächster  Beziehung  zu  dem  räumlichen  Ziel,  das  sie 
sich  setzt,  und  zu  der  Richtung,  in  der  dies  Ziel  verfolgt  wird:  demgemäß 
wird  häufig  der  „Finalis"  oder  „Intentionalis"  des  Verbums  durch  Zu- 
fügung  einer  Partikel  gebildet,  die  eigentlich  der  Ortsbezeichnung  dient4. 

In  alledem  offenbart  sich  ein  gemeinsamer,  auch  erkenntniskritisch 
höchst  bedeutsamer  Zug  des  sprachlichen  Denkens.  Kant  fordert,  um 
die  Anwendung  der  reinen  Vers  tan  dsbegriffe  auf  die  sinnlichen  Anschau- 
ungen zu  ermöglichen,  ein  Drittes,  Mittleres,  in  welchem  beide,  obwohl 

1  S.z.B.  Boas  über  das  Kwakiutl:  „The  rigidity  with  which  location  in  relation  to  the 
Speaker  is  expressed,  both  in  nouns  and  verbs,  is  one  of  the  fundamental  features  of 
the  language"  (Handb.  of  Amer.  Ind.  Lang.  I,  445);  ganz  ebenso  urteilt  Gatschet, 
Gramm,  of  the  Klamath  language,  s.  bes.  S.  3o6ff.  433f.,  46o. 

2  Crawf  urd,  History  of  the  Indian  Archipelago  II,  S.  9,  vgl.  Codrington  ,  Melanesian 
languages  S.  i64f.:  Everything  and  everybody  spoken  of  are  viewed  as  coming  or  going 
or  in  some  relation  of  place,  in  a  way  which  to  the  European  is  by  no  means  accu- 
stomed  ore  natural." 

3  Vgl.  hrz.  Boas,  Handbook,  S.  43ff.;  446. 

4  Beispiele  hierfür  bei  Westermann,  Die  Sudansprachen,  S.  72;  Die  Gola-Sprache  in 
Liberia,  Hamburg  192 1,  S.  62  u.  a. 


i48 


sie  an  sich  völlig  ungleichartig  sind,  übereinkommen  müssen  —  und  er 
findet  diese  Vermittlung  in  dem  „transzendentalen  Schema",  das  einer- 
seits intellektuell,  andererseits  sinnlich  ist.  In  dieser  Hinsicht  unterscheidet 
sich  nach  ihm  das  Schema  vom  bloßen  Bild:  „das  Bild  ist  ein  Produkt 
des  empirischen  Vermögens  der  produktiven  Einbildungskraft,  das  Schema 
sinnlicher  Begriffe  (als  der  Figuren  im  Räume)  ein  Produkt  und  gleich- 
sam ein  Monogramm  der  reinen  Einbildungskraft  a  priori,  wodurch  und 
wonach  die  Bilder  allererst  möglich  werden,  die  aber  mit  dem  Begriffe 
nur  immer  vermittelst  des  Schema,  welches  sie  bezeichnen,  verknüpft 
werden  müssen  und  an  sich  demselben  nicht  völlig  kongruieren1."  Ein 
solches  „Schema",  auf  das  sie  alle  intellektuellen  Vorstellungen  beziehen 
muß,  um  sie  dadurch  sinnlich  faßbar  und  darstellbar  zu  machen,  besitzt 
die  Sprache  in  ihren  Benennungen  für  räumliche  Inhalte  und  Verhält- 
nisse. Es  ist,  als  würden  alle  gedanklichen  und  ideellen  Beziehungen  dem 
Sprachbewußtsein  erst  dadurch  faßbar,  daß  sie  sie  auf  den  Raum  pro- 
jiziert und  in  ihm  analogisch  „abbildet".  An  den  Verhältnissen  des  Bei- 
sammen, des  Neben-  und  Auseinander  gewinnt  es  erst  das  Mittel  zur  Dar- 
stellung der  verschiedenartigsten  qualitativen  Zusammenhänge,  Abhängig- 
keiten und  Gegensätze. 

Schon  an  der  Bildung  der  ursprünglichsten  Raumwörter,  die  die 
Sprache  kennt,  läßt  sich  dies  Verhältnis  erkennen  und  beleuchten.  Sie 
wurzeln  noch  ganz  in  der  Sphäre  des  unmittelbar-sinnlichen  Eindrucks; 
aber  sie  enthalten  auf  der  anderen  Seite  den  ersten  Keim,  aus  dem  die 
reinen  Beziehungsausdrücke  hervorwachsen.  So  sind  sie  ebensowohl  dem 
„Sinnlichen"  wie  dem  „Intellektuellen"  zugekehrt:  denn  wenn  sie  in 
ihrem  Anfang  noch  ganz  stofflich  sind,  so  schließt  sich  in  ihnen  anderer- 
seits die  eigentümliche  Formwelt  der  Sprache  erst  eigentlich  auf.  Was 
das  erste  Moment  betrifft,  so  tritt  es  schon  in  der  lautlichen  Gestaltung 
der  Raumworte  zutage.  Abgesehen  von  den  bloßen  Interjektionen,  die 
aber  noch  nichts  „besagen",  die  noch  keinen  objektiven  Bedeutungs- 
inhalt in  sich  schließen,  gibt  es  kaum  irgendeine  Klasse  von  Worten, 
denen  der  Charakter  von  „Naturlauten"  so  stark  aufgeprägt  wäre,  als 
den  Worten  zur  Bezeichnung  des  Hier  und  Dort,  des  Fernen  und  Nahen. 
Die  deiktischen  Partikeln,  die  zur  Bezeichnung  dieser  Unterschiede  dienen, 
lassen  sich  in  der  Gestaltung,  die  sie  in  den  meisten  Sprachen  erfahren, 
noch  fast  durchweg  als  Nachwirkungen  direkter  „Lautmetaphern"  er- 
kennen. Wie  der  Laut  in  den  verschiedenen  Arten  des  Zeigens  und  Hin- 
weisens  selbst  nur  als  Verstärkung  der  Gebärde  dient,  so  tritt  er  auch 
1  Krit.  d.  r.  Vera.,  2.  Aufl.,  S.  I77ff. 

iÄ9 


seiner  gesamten  Beschaffenheit  nach  hier  noch  nicht  aus  dem  Gebiet  der 
vokalen  Geste  heraus.  So  begreift  es  sich,  daß  es  fast  überall  dieselben 
Laule  sind,  die  in  den  verschiedensten  Sprachen  zur  Bezeichnung  gewisser 
örtlicher  Bestimmungen  verwendet  werden.  Abgesehen  davon,  daß  Vokale 
verschiedener  Qualität  und  Helligkeit  der  Abstufung  im  Ausdruck  der 
räumlichen  Entfernung  dienen,  sind  es  gewisse  Konsonanten  und  Kon- 
sonantengruppen, denen  eine  ganz  bestimmte  sinnliche  Tendenz  inne- 
wohnt. Schon  in  den  ersten  Lallwörtern  der  Kindersprache  scheiden  sich 
scharf  die  Lautgruppen  mit  wesentlich  „zentripetaler"  Tendenz  von  denen 
mit  „zentrifugaler"  Tendenz.  Das  m  und  n  trägt  ebenso  deutlich  die  Rich- 
tung nach  innen,  wie  die  nach  außen  sich  entladenden  Explosivlaute,  das 
p  und  b,  das  t  und  d  das  entgegengesetzte  Streben  bekunden.  In  dem  einen 
Falle  bezeichnet  der  Laut  ein  Streben,  das  auf  das  Subjekt  zurückweist; 
im  anderen  schließt  er  eine  Beziehung  auf  die  „Außenwelt",  ein  Hin- 
weisen, Fortweisen,  Zurückweisen  in  sich.  Wenn  er  dort  den  Gebärden 
des  Greifen-,  Umfassen-,  Zu-sich-heranziehen-Wollens  entspricht,  so  ent- 
spricht er  hier  den  Gebärden  des  Zeigens  und  Wegstoßens.  Aus  diesem 
ursprünglichen  Unterschied  erklärt  sich  die  merkwürdige  Gleichartigkeit, 
mit  der  die  ersten  „Worte"  der  Kindersprache  über  die  ganze  Erde  ver- 
breitet sind1.  Und  dieselben  Lautgruppen  finden  sich  in  wesentlich  über- 
einstimmender oder  ähnlicher  Funktion,  wenn  man  die  demonstrativen 
Partikeln  und  Pronomina  verschiedener  Sprachen  bis  zu  ihrem  Ursprung 
und  zu  ihrer  frühesten  lautlichen  Gestalt  zurückzuverfolgen  sucht.  Für 
die  Anfänge  des  Indogermanischen  unterscheidet  Brugmann  eine  drei- 
fache Form  des  Hinweisens.  Der  „Ich-Deixis"  steht  hier  inhaltlich  und 
sprachlich  die  „Du-Deixis"  gegenüber,  welch  letztere  selbst  wieder  in  die 
allgemeine  Form  der  „Der-Deixis"  übergeht.  Hierbei  ist  die  Du-Deixis 
durch  ihre  Richtung  und  durch  den  dieser  Richtung  entsprechenden  cha- 
rakteristischen Laut,  der  in  der  urindogermanischen  Demonstrativwurzel 
Ho  sich  darstellt,  bezeichnet,  während  die  Rücksicht  auf  Nähe  und  Ent- 
fernung in  ihr  zunächst  noch  keine  Rolle  spielt.  Nur  das  „Gegenüber" 
zum  Ich,  nur  die  allgemeine  Beziehung  auf  das  Objekt  als  Gegenstand 
wird  in  ihr  festgehalten;  nur  der  Kreis  außerhalb  des  eigenen  Körpers 
wird  in  ihr  erstmalig  hervorgehoben  und  abgegrenzt.  Die  weitere  Ent- 
wicklung führt  dann  dazu,  innerhalb  dieses  Gesamtkreises  die  einzelnen 
Bezirke  deutlicher  gegeneinander  abzuheben2.  Es  scheidet  sich  das  Dies 

1  Näheres  bei  Wundt,  Völkerpsychologie  2  I,  333 ff.  und  bei  Clara  und  William  Stern, 
Die  Kindersprache,  S.  3ooff. 

2  S.  Brugmann,  Die  Demonstrativpronomina  der  indogermanischen  Sprachen  (Abh.  der 

i5o 


und  Jenes,  das  Hier  und  Dort,  das  Nähere  und  Entferntere.  Damit  ist 
durch  die  denkbar  einfachsten  sprachlichen  Mittel  eine  Gliederung  der 
räumlichen  Anschauungswelt  erreicht,  die  in  ihren  geistigen  Folgen  von 
unabsehbarer  Bedeutung  ist.  Der  erste  Rahmen,  in  den  sich  alle  weiteren 
Unterscheidungen  einfügen  werden,  ist  geschaffen.  Daß  eine  solche  Lei- 
stung einer  bloßen  Gruppe  von  „Naturlauten"  zufallen  kann,  —  das  wird 
erst  ganz  verständlich,  wenn  man  sich  gegenwärtig  hält,  daß  der  Akt 
des  Zeigens  selbst,  der  in  diesen  Lauten  festgehalten  wird,  neben  seiner 
sinnlichen  Seite  eine  rein  geistige  Seite  besitzt  —  daß  sich  schon  in  ihm 
eine  neue  selbständige  Energie  des  Bewußtseins  ausprägt,  die  über  das 
Gebiet  der  bloßen  Empfindung,  deren  auch  das  Tier  fähig  ist,  hinaus- 
reicht1. 

Man  begreift  es  demgemäß,  daß  gerade  die  Gestaltung  der  Demonstra- 
tivpronomina zu  jenen  ursprünglichen  „Elementargedanken"  der  Sprach- 
bildung gehört,  die  in  den  verschiedensten  Sprachgebieten  gleichartig  wie- 
derkehren. Überall  findet  sich  der  Gebrauch,  daß  bestimmte  Unterschiede 
in  der  Lage  oder  Entfernung  des  Objekts,  auf  welches  hingedeutet  wird, 
durch  den  einfachen  Wechsel  des  vokalischen  oder  konsonantischen  Lau- 
tes ausgedrückt  werden.  Der  stumpfere  Vokal  drückt  hierbei  meist  den 
Ort  der  angeredeten  Person,  das  „Dort"  aus,  während  der  Ort  des  Re- 
denden durch  den  schärferen  Vokal  bezeichnet  wird2.  Was  die  Bildung 
der  Demonstrativa  durch  konsonantische  Elemente  betrifft,  so  ist  es  fast 
durchweg  die  Gruppe  des  d  und  it  oder  auch  die  des  k  und  g,  des  b  und  p, 
der  die  Rolle  des  Hinweises  in  die  Ferne  zufällt.  Die  indogermanischen, 
die  semitischen  und  die  ural-altaischen  Sprachen  zeigen  in  diesem  Ge- 
brauch eine  unverkennbare  Übereinstimmung3.  In  einzelnen  Sprachen 
dient  ein  Demonstrativum  zur  Bezeichnung  dessen,  was  im  Wahrneh- 
mungsbereich des  Sprechenden,  ein  anderes  für  das,  was  im  Wahrneh- 

Kgl.  Sachs.  Gesellsch.  der  Wissensch.;  Philol.-histor.  Klasse  XXII).  Lpz.  ioo4;  vgl.  auch 
Brugmanns  Grundriß  II,  2,  S.  3o2ff.  — 

1  S.  ob.  S.  127. 

2  So  in  der  Sprache  von  Tahiti,  s.  Humboldt,  Kawi-Werk  II,  i53;  für  die  afrika- 
nischen Sprachen  vgl.  z.B.  die  Nama-Sprache  und  die  Mande-Negersprachen  s.  Mein- 
hof, Lehrb.  der  Nama-Sprache,  S.  61,  Steinthal,  Mande-Negersprachen,  S.  82;  für 
die  amerikanischen  Eingeborenensprachen  vgl.  das  Klamath  (Gatschet,  Klamath  lan- 
guage,  S.  538). 

3  Diese  Übereinstimmung  tritt  besonders  deutlich  hervor,  wenn  man  den  Angaben  Brug- 
manns für  das  Indogermanische  (s.  ob.  S.  i5o  Anm.  2)  die  Angaben  Brockelmanns  und 
Dillmanns  für  den  semitischen  Sprachkreis  gegenüberstellt  (s.  Brockelmann,  Grund- 
riß I,  3i6ff.  und  Dillmann,  Äthiop.  Grammat.  S.  §bif.);  für  die  ural-altaischen 
Sprachen  vgl.  bes.  H.  Winkler,  Das  Uralaltaische  und  seine  Gruppen,  S.  26ff. 


i5i 


mungsbereich  des  Angesprochenen  liegt;  oder  es  wird  die  eine  Form  für 
ein  dem  Redenden  nahestehendes,  die  andere  für  ein  vom  Redenden  und 
Angeredeten  gleich  weit  entferntes,  eine  dritte  für  ein  abwesendes  Objekt 
gebraucht1. 

So  bildet  auch  für  die  Sprache  die  genaue  Unterscheidung  der  räum- 
lichen Stellen  und  der  räumlichen  Entfernungen  den  ersten  Ansatz- 
punkt, von  dem  aus  sie  zum  Aufbau  der  objektiven  Wirklichkeit,  zur  Be- 
stimmung der  Gegenstände  fortschreitet.  Auf  der  Differenzierung  der 
Orte  gründet  sich  die  Differenzierung  der  Inhalte  —  des  Ich,  Du  und  Er 
auf  der  einen,  wie  der  physischen  Objektkreise  auf  der  anderen  Seite. 
Die  allgemeine  Erkenntniskritik  lehrt,  daß  der  Akt  der  räumlichen 
Setzung  und  der  räumlichen  Sonderung  für  den  Akt  der  Objektivierung 
überhaupt,  für  die  „Beziehung  der  Vorstellung  auf  den  Gegenstand"  die 
unentbehrliche  Vorbedingung  ist.  Das  ist  der  Kerngedanke,  aus  dem  heraus 
Kant  seine  „Widerlegung  des  Idealismus",  als  eines  empirisch-psycho- 
logischen Idealismus,  geschaffen  hat.  Schon  die  bloße  Form  der  räum- 
lichen Anschauung  trägt  in  sich  den  notwendigen  Hinweis  auf  ein  objek- 
tives Dasein,  auf  ein  Wirkliches  „im"  Räume.  Die  Entgegensetzung 
eines  „Innen"  und  „Außen",  auf  welcher  die  Vorstellung  vom  empi- 
rischen Ich  beruht,  ist  selbst  nur  dadurch  möglich,  daß  zugleich  mit  ihm 
ein  empirischer  Gegenstand  gesetzt  wird:  denn  das  Ich  vermag  sich  des 
Wechsels  seiner  eigenen  Zustände  nur  dadurch  bewußt  zu  werden,  daß 
es  ihn  auf  ein  Dauerndes,  auf  den  Raum  und  auf  ein  Beharrliches  im 
Räume  bezieht.  „Nicht  allein,  daß  wir  alle  Zeitbestimmung  nur  durch 
den  Wechsel  in  äußeren  Verhältnissen  (die  Bewegung),  in  Beziehung  auf 
das  Beharrliche  im  Räume  (z.  B.  Sonnenbewegung  in  Ansehung  der  Ge- 
genstände der  Erde)  vornehmen  können,  so  haben  wir  sogar  nichts  Be- 
harrliches, was  wir  dem  Begriffe  einer  Substanz  als  Anschauung  unter- 
legen könnten,  als  bloß  die  Materie  .  .  .  Das  Bewußtsein  meiner  selbst 
in  der  Vorstellung  Ich  ist  gar  keine  Anschauung,  sondern  eine  bloß 

1  Der  Unterschied  in  der  Bezeichnung  eines  sichtbaren  und  unsichtbaren  Objekts 
ist  in  besonderer  Schärfe  in  vielen  amerikanischen  Eingeborenensprachen  ausgeprägt  (vgl. 
bes.  die  Angaben  über  das  Kwakiutl,  die  Ponca-  und  die  Eskimosprache  bei  Boas, 
Handbook  S.  4if-,  4^5 ff.,  945ff.  und  Gatschet,  Klamath  language,  S.  538).  Die 
Bantusprachen  besitzen  die  Demonstrativa  in  drei  verschiedenen  Formen:  die  eine 
gibt  an,  daß  das  Gezeigte  dicht  bei  dem  Redenden  ist,  die  andere,  daß  es  bereits  be- 
kannt, also  in  den  Gesichts-  und  Gedankenkreis  des  Redenden  schon  eingetreten  ist;  die 
dritte,  daß  es  vom  Redenden  sehr  weit  entfernt  oder  gar  nicht  zu  sehen  ist  (Meinhof, 
Bantugrammat.,  S.  3gf.).  Für  die  Südseesprachen  vgl.  z.B.  Humboldts  Angaben 
über  das  Tagalische  (W.  VI,  i,  3i2f.) 


l52 


intellektuelle  Vorstellung  der  Selbsttätigkeit  eines  denkenden  Subjekts. 
Daher  hat  dieses  Ich  auch  nicht  das  mindeste  Prädikat  der  Anschauung, 
welches  als  beharrlich  der  Zeitbestimmung  im  innern  Sinne  zum  Kor- 
relat dienen  könnte1."  Das  Grundprinzip  dieses  Kantischen  Beweises  be- 
steht darin,  daß  hier  die  besondere  Funktion  des  Raumes  als  ein  notwen- 
diges Mittel  und  Vehikel  für  die  allgemeine  Funktion  der  Substanz  und 
deren  empirisch-gegenständliche  Anwendung  aufgewiesen  werden  soll. 
Erst  aus  dem  wechselseitigen  Ineinandergreifen  beider  Funktionen  ge- 
staltet sich  für  uns  die  Anschauung  einer  „Natur",  eines  selbständigen 
Inbegriffs  von  Objekten.  Indem  ein  Inhalt  räumlich  bestimmt,  indem  er 
durch  feste  Grenzsetzungen  aus  der  unterschiedslosen  Gesamtheit  des 
Raumes  herausgehoben  wird,  gewinnt  er  damit  erst  eine  eigene  Seinsge- 
stalt: der  Akt  des  „Herausstellens"  und  Absonderns,  des  ex-sistere,  gibt 
ihm  erst  die  Form  selbständiger  „Existenz".  Im  Aufbau  der  Sprache 
prägt  sich  dieser  logische  Sachverhalt  darin  aus,  daß  auch  hier  die 
Konkretion  der  Orts-  und  Raumbezeichnung  es  ist,  die  zum  Mittel 
dient,  um  die  Kategorie  des  „Gegenstandes"  sprachlich  immer  schär- 
fer herauszuarbeiten.  In  verschiedenen  Richtungen  der  Sprachentwick- 
lung läßt  sich  dieser  Prozeß  verfolgen.  Wenn  die  Annahme  zutrifft, 
daß  die  Endungen  des  Nominativs  bei  den  Masculina  und  Neutra 
der  indogermanischen  Sprachen  aus  bestimmten  Demonstrativpartikeln 
hervorgegangen  sind2,  so  hat  hier  ein  Mittel  der  Ortsbezeichnung  dazu  ge- 
dient, um  die  charakteristische  Funktion  des  Nominativs,  um  seine  Stel- 
lung als  „Subjektskasus"  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Zum  „Träger"  der 
Handlung  vermochte  er  erst  dadurch  zu  werden,  daß  ihm  ein  bestimmtes 
örtliches  Kennzeichen,  eine  räumliche  Determination  beigegeben  wurde. 
Noch  wesentlich  schärfer  aber  tritt  sodann  dieses  Ineinander  der  beiden 
Momente,  diese  geistige  Wechselwirkung  zwischen  der  Kategorie  des  Rau- 
mes und  der  der  Substanz  an  einem  eigentümlichen  sprachlichen  Gebilde 
hervor,  das  geradezu  aus  dieser  Wechselbestimmung  herausgewachsen  zu 
sein  scheint.  Überall  dort,  wo  die  Sprache  den  Gebrauch  des  bestimmten  Ar- 
tikels ausgebildet  hat,zeigt  sich, daß  das  Ziel  dieses  Artikels  in  der  bestimm- 
teren Herausbildung  der  Subslanzvorstellung  besteht,  während  sein  Ur- 
sprung unverkennbar  dem  Gebiet  der  räumlichen  Vorstellung  angehört.  Da 
der  bestimmte  Artikel  eine  relativ  späte  sprachliche  Bildung  ist,  so  läßt  sich 

1  Kdt.  d.  rein.  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  277L 

2  Vgl.  Brugmann,  Grundriß  2  II,  2,  ^5,  wonach  das  Nominativ-s  mit  dem  Demon- 
strativpronomen *so  (ai:  sa)  identisch  ist  und  das  -m  des  Neutrums  wahrscheinlich  gleich- 
falls auf ,  eine  ferndeiktische  Partikel  zurückgeht. 


i53 


dieser  Übergang  vielfach  an  ihm  noch  unmittelbar  deutlich  machen.  Im  In- 
dogermanischen läßt  sich  die  Entstehung  und  Ausbreitung  des  Artikels  ge- 
schichtlich noch  im  einzelnen  verfolgen.  Er  fehlt  hier  nicht  nur  dem  Altindi- 
schen, dem  Altiranischen  und  Lateinischen,  sondern  auch  der  älteren 
griechischen,  insbesondere  der  Homerischen  Sprache:  erst  die  attische 
Prosa  wendet  ihn  regelmäßig  an.  Auch  im  Germanischen  hat  sich  der 
Gebrauch  des  bestimmten  Artikels  erst  im  Mittelhochdeutschen  als  Regel 
festgesetzt.  Die  slawischen  Sprachen  haben  einen  abstrakten  Artikel  mit 
durchaus  konsequenter  Anwendung  überhaupt  nicht  entwickelt1.  Ähn- 
liche Verhältnisse  zeigen  sich  im  semitischen  Sprachkreis,  in  welchem  der 
Artikel  zwar  im  allgemeinen  verwendet  wird,  in  denen  aber  einzelne  Spra- 
chen, wie  das  Äthiopische,  die  hierin  auf  einer  älteren  Stufe  stehen  ge- 
blieben sind,  gleichfalls  keinen  Gebrauch  von  ihm  machen2.  Wo  immer 
aber  dieser  Gebrauch  durchdringt,  da  ist  er  deutlich  als  eine  einfache  Ab- 
spaltung aus  dem  Kreise  der  demonstrativen  Pronomina  zu  erkennen. 
Aus  der  Form  der  „Der-Deixis"  geht  der  bestimmte  Artikel  hervor  — 
der  Gegenstand,  auf  den  er  sich  bezieht,  wird  durch  ihn  als  das  „Drau- 
ßen" und  „Dort"  Befindliche,  vom  „Ich"  und  „Hier"  örtlich  Geschiedene 
gekennzeichnet3. 

Aus  dieser  Genesis  des  Artikels  heraus  wird  es  verständlich,  daß  er 
seine  allgemeinste  sprachliche  Funktion,  als  Ausdruck  der  Substanzvor- 
stellung zu  dienen,  nicht  unmittelbar,  sondern  nur  durch  eine  Reihe  von 
Vermittlungen  hindurch,  erlangt.  Die  Kraft  der  „Substantivierung",  die 
ihm  eignet,  bildet  sich  erst  allmählich  heraus.  In  den  Sprachen  der  Natur- 
völker finden  sich  gewisse  Demonstrativpronomina,  die  ganz  im  Sinne 
des  bestimmten  Artikels  gebraucht  werden;  aber  dieser  Gebrauch  bleibt 
nicht  eindeutig  auf  die  Klasse  der  „substantivischen"  Wörter  bezogen. 
Im  Ewe  steht  der  Artikel,  der  hier  dem  Wort,  auf  das  er  hinweist,  nach- 
gestellt wird,  nicht  nur  nach  Substantiven,  sondern  auch  nach  dem  abso- 
luten Pronomen,  nach  Adverbien  und  nach  Konjunktionen4.  Und  auch 
dort,  wo  er  sich  im  Kreise  der  Dingbezeichnung,  der  eigentlich-„ge- 
genständlichen"  Vorstellung  hält,  läßt  sich  noch  deutlich  verfolgen, 
daß  der  allgemeine  Ausdruck  der  „Objektivierung",  den  er  in  sich 

1  Vgl.  hrz.  bes.  den  Abschnitt  „vom  Artikel"  in  Grimms  Deutscher  Grammatik  (I, 
366ff.);  zum  Slawischen  s.  Miklosich,  Vgl.  Grammat.  der  slawischen  Sprachen,  2  IV, 

I2Ö. 

2  S.  Dillmann,  Grammatik  der  äthiop.  Sprache,  S.  333ff.,  Brockelmann,  Grund- 
riß I,  466. 

3  Vgl.  Brugmann,  Grundriß  2  II,  2,  3i5. 

4  Näheres  bei  Westermann,  Grammat.  der  Ewe-Sprache,  S.  6i. 


i54 


schließt,  erst  allmählich  aus  spezielleren  Bedeutungen  sich  entfaltet.  Je 
weiter  wir  den  Gebrauch  des  Artikels  zurück  verfolgen  können,  um 
so  „konkreter"  scheint  dieser  Gebrauch  zu  werden:  statt  einer  univer- 
sellen Form  des  Artikels  finden  wir  hier  verschiedene  Arten  desselben, 
die  je  nach  der  Qualität  der  besonderen  Objekte  und  Objektkreise 
wechseln.  Die  allgemeine  Funktion,  der  er  sprachlich  und  gedanklich 
dient,  hat  sich  hier  von  der  Besonderheit  der  Inhalte,  auf  welche  sie  an- 
gewandt wird,  noch  nicht  gelöst.  Die  indonesischen  Sprachen  kennen 
neben  dem  sachlichen  Artikel  einen  eigenen  persönlichen  Artikel,  der  vor 
die  Namen  von  Individuen  oder  Stämmen  oder  auch  vor  Verwandtschafts- 
namen tritt,  nicht  um  sie  in  irgendeiner  Weise  näher  zu  qualifizieren, 
sondern  lediglich  um  sie  als  Personennamen,  als  Eigennamen  zu  kenn- 
zeichnen1. Die  Sprache  der  Ponca-Indianer  unterscheidet  scharf  zwischen 
den  „Artikeln",  die  für  unbelebte,  und  denen,  die  für  belebte  Gegenstände 
gebraucht  werden:  unter  den  ersteren  erhalten  weiterhin  z.  B.  horizontale 
und  runde  Gegenstände,  verstreute  Objekte  oder  Kollektiva  je  einen  be- 
sonderen Artikel;  während  in  der  Anwendung  des  Artikels  bei  einem  be- 
lebten Wesen  genau  auseinandergehalten  wird,  ob  es  sitzt  oder  steht  oder 
sich  bewegt2.  In  besonders  merkwürdiger  und  lehrreicher  Weise  aber 
zeigen  gewisse  Erscheinungen  der  Somali-Sprache  die  konkret-anschauliche 
Grundbedeutung,  die  dem  Artikel  ursprünglich  eignet.  Das  Somali  be- 
sitzt drei  Formen  des  Artikels,  die  sich  durch  den  auslautenden  Vokal 
( — a,  — i  und  — o  [resp.  u])  von  einander  unterscheiden.  Das  Bestim- 
mende für  die  Anwendung  der  einen  oder  anderen  Form  ist  hierbei  das 
räumliche  Verhältnis  der  Person  oder  Sache,  von  der  die  Rede  ist,  zum 
redenden  Subjekt.  Der  auf  — a  auslautende  Artikel  bezeichnet  eine  Per- 
son oder  Sache,  die  sich  in  unmittelbarer  Nähe  des  Subjekts  befindet* 
für  dasselbe  sichtbar  ist  und  auch  tatsächlich  von  ihm  gesehen  wird;  der 
auf  — o  auslautende  bezieht  sich  auf  eine  von  ihm  mehr  oder  weniger  ent- 
fernte Person  oder  Sache,  die  aber  in  den  meisten  Fällen  ebenfalls  in 
Sicht  des  Redenden  ist,  während  der  mit  — i  endende  Artikel  einen  In- 
halt bezeichnet,  der  dem  Subjekt  irgendwie  bekannt,  aber  ihm  nicht  sicht- 
bar gegenwärtig  ist3.  Hier  läßt  es  sich  gleichsam  mit  Händen  greifen, 
daß  die  allgemeine  Form  der  „Substanziierung",  der  Gestaltung  zum 

1  S.  Codrington,  Melanes.  languages,  S.  io8ff.;  vgl.  bes.  Brandstetter,  Der  Artikel 
des  Indonesischen  verglichen  mit  dem  des  Indogermanischen,  Lpz.  19 13. 

2  Boas  und  Swanton,  Siouan  (Handb.  of  Americ.  Ind.  lang.  I,  o^ff.). 

3  Näheres  hierüber  bei  Maria  v.  Tiling,  Die  Vokale  des  bestimmten  Artikels  im  So- 
mali, Zeitschr.  für  Kolonialsprachen  IX,  i32ff. 


i55 


„Ding",  die  sich  im  Artikel  ausdrückt,  wie  sie  aus  der  Funktion  des  räum- 
lichen Hinweises  entspringt,  so  in  ihr  zunächst  noch  durchaus  gebunden 
bleibt:  —  daß  sie  sich  den  verschiedenen  Demonstrationsarten  und 
ihren  Modifikationen  aufs  nächste  anschmiegt,  bis  endlich,  in  einem 
relativ  späten  Stadium,  die  Ablösung  der  reinen  Substanzkategorie 
von  den  besonderen  Formen  der  räumlichen  Anschauung  sich  voll- 
zieht. — 

Versucht  man  weiterhin,  den  Wegen  zu  folgen,  die  die  Sprache  ein- 
schlägt, um  von  den  ersten  scharf  ausgebildeten  örtlichen  Unterschei- 
dungen zu  allgemeinen  Raumbestimmungen  und  Raumbezeichnungen  zu 
gelangen,  so  scheint  sich  auch  hier  zu  bewähren,  daß  die  Richtung  dieses 
Prozesses  von  innen  nach  außen  geht.  Die  „Unterscheidung  der  Gegen- 
den im  Räume"  nimmt  ihren  Ausgang  von  dem  Punkt,  in  welchem  sich 
der  Sprechende  selbst  befindet,  und  sie  dringt  von  hier  aus  in  konzentrisch 
sich  ausbreitenden  Kreisen  zur  Gliederung  des  objektiven  Ganzen,  des 
Systems  und  Inbegriffs  der  Lagebestimmungen  vor.  Die  Unterschiede  des 
Ortes  sind  anfangs  aufs  engste  verknüpft  mit  bestimmten  materiellen 
Unterschieden  —  und  von  diesen  ist  es  insbesondere  die  Unterscheidung 
der  Gliedmaßen  des  eigenen  Leibes,  die  als  Ausgangspunkt  aller  weiteren 
Ortsbestimmungen  dient.  Nachdem  sich  für  den  Menschen  das  Rild  des 
eigenen  Körpers  einmal  scharf  ausgeprägt  hat,  nachdem  er  ihn  als  einen 
in  sich  geschlossenen  und  in  sich  gegliederten  Organismus  erfaßt  hat, 
dient  er  ihm  gleichsam  zum  Modell,  nach  welchem  er  sich  das  Ganze 
der  Welt  aufbaut.  Hier  besitzt  er  eine  ursprüngliche  Koordinationsebene, 
auf  die  er  sich  im  weiteren  Fortgang  immer  wieder  zurückzieht  und  zu- 
rückbezieht —  und  der  er  demgemäß  auch  die  Renennungen  entnimmt, 
die  dazu  dienen,  diesen  Fortgang  sprachlich  zu  bezeichnen. 

In  der  Tat  ist  es  eine  fast  durchgehend  beobachtete  Tatsache,  daß  der 
Ausdruck  räumlicher  Reziehungen  aufs  engste  an  bestimmte  Stoff- 
worte  gebunden  ist,  unter  denen  wieder  die  Worte  zur  Rezeichnung  der 
einzelnen  Teile  des  menschlichen  Körpers  den  ersten  Platz  einnehmen. 
Das  Innen  und  Außen,  das  Vorn  und  Hinten,  das  Oben  und  Unten  erhält 
seine  Rezeichnung  dadurch,  daß  sie  je  an  ein  bestimmtes  sinnliches  Sub- 
strat im  Ganzen  des  menschlichen  Leibes  angeknüpft  werden.  An  der 
Stelle,  wo  die  höher  entwickelten  Sprachen  Präpositionen  oder  Postposi- 
tionen zum  Ausdruck  räumlicher  Verhältnisse  zu  verwenden  pflegen, 
begegnen  demgemäß  in  den  Sprachen  der  Naturvölker  fast  durchweg 
nominale  Ausdrücke,  die  entweder  selbst  Namen  von  Körperteilen  sind 
oder  deutlich  auf  solche  zurückgehen.  Die  Mande-Negersprachen  drücken 


i56 


nach  Steinthal  unsere  präpositionalen  Begriffe  „sehr  materiell"  dadurch 
aus,  daß  sie  für  „hinter"  ein  selbständiges  Substantivum,  das  Rücken- 
oder Hinterteil  bedeutet,  für  „vor"  ein  Wort,  das  Auge  bedeutet,  ver- 
wenden, während  „auf"  durch  ein  Wort  wie  Nacken,  „in"  durch  Bauch 
u.  s.  f.  wiedergegeben  wird1.  In  gleicher  Funktion  werden  in  anderen 
afrikanischen  Sprachen,  sowie  in  den  Südseesprachen,  Worte  wie  Gesicht 
und  Rücken,  wie  Kopf  und  Mund,  Lende  und  Hüfte  gebraucht2.  Und 
wenn  dies  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  als  eine  besonders  „primitive" 
Bezeichnungsweise  erscheinen  mag,  so  zeigt  sich  doch,  daß  sie  noch  auf 
weit  fortgeschrittenen  Stufen  der  Sprachbildung  ihr  genaues  Ana- 
logon  und  Gegenbild  besitzt3.  Andererseits  pflegt  freilich  die  Sprache 
nicht  dabei  stehen  zu  bleiben,  lediglich  die  Bezeichnungen  für  die 
Glieder  und  Organe  des  menschlichen  Leibes  als  solche  „Raumsub- 
stantiva"  zu  verwenden,  sondern  sie  schreitet,  indem  sie  das  Prinzip 
dieser  Bezeichnung  festhält,  zu  einer  allgemeinen  Anwendung  des- 
selben fort.  Die  Bezeichnung  des  „hinter"  kann,  statt  durch  ein  Wort* 
wie  Rüchen,  auch  durch  ein  Wort  wie:  „Spur",  die  des  „unter"  auch 
durch  ein  Wort  wie  Boden  oder  Erde,  die  des  „über"  auch  durch  ein 
Wort  wie  Luft  zum  Ausdruck  gebracht  werden4.  Jetzt  wird  also  die 
Bezeichnung  nicht  mehr  ausschließlich  dem  Umkreis  des  eigenen  Leibes 
entnommen;  aber  das  Verfahren,  das  die  Sprache  in  ihrer  Darstellung 
der  örtlichen  Beziehungen  befolgt,  ist  das  gleiche  geblieben.  Die  Vor- 
stellung eines  konkreten  räumlichen  Gegenstands  beherrscht  den  Aus- 
druck der  räumlichen  Relationen.  Ganz  besonders  deutlich  tritt  dies  in 
der  Gestaltung  hervor,  die  die  räumlichen  Beziehungsworte  in  den  meisten 
ural-altaischen  Sprachen  erfahren:  auch  hier  sind  es  durchweg  nominale 
Ausdrücke,  wie  Oberteil  oder  Gipfel,  Unterteil,  Spur,  Mitte,  Umkreis, 

1  Steinthal,  Mande-Negersprachen,  S.  aßöff. 

2  S.  Westermann,  Sudansprachen,  S.  53ff.;  Gola-Sprache,  S.  36f.;  Reinisch,  Die 
Nuba-Sprache,  Wien  1879,  S.  I23ff.;  für  die  Südseesprachen  vgl.  H.  C.  v.  d.  Gabe- 
lentz,  Die  melanes.  Sprachen,  S.  i58,  23off.,  Sidney  H.  Ray,  The  Melanesian  Pos- 
sessives and  a  Study  in  Method  (Americ.  Anthropologist  XXI,  35a  ff.). 

3  Im  Ägyptischen,  das  eigentliche  Präpositionen  entwickelt  hat,  zeigt  sich  der  oir- 
sprünglich  nominale  Charakter  derselben  noch  deutlich  darin,  daß  sie  mit  Possessiv- 
suffixen verbunden  werden;  die  Analyse  dieser  „Präpositionen"  führt  auch  hier  viel- 
fach unmittelbar  auf  die  Namen  von  Körperteilen  zurück.  (Vgl.  Erman,  Ägypt. 
Grammat.3,  Berlin  1911,  S.  a3i,  238f.;  Steindorff,  Koptische  Grammatik2,  Berlin 
1904,  S.  I73ff.  Für  den  ursprünglich  nominalen  Charakter  der  semitischen  Präpo- 
silionen  vgl.  bes.  Brockelmann,  Grundriß  I,  /49/iff. 

4  Eine  große  Fülle  solcher  teils  spezieller,  teils  allgemeiner  „Lokalsubstantiva"  hat  z.B. 
das  Ewe  entwickelt;  vgl.  Westermanns  Ewe-Grammatik,  S.  52ff. 

iÖ7 


die  für  die  Bezeichnung  des  Über  und  Unter,  des  Vor  und  Hinter,  des 
rings  herum  u.  s.  f.  verwendet  werden  K 

Und  selbst  dort,  wo  die  Sprache  im  Ausdruck  der  rein  gedanklichen 
Beziehungen  bereits  zu  großer  Freiheit  und  zu  abstrakter  Klarheit  ge- 
langt ist,  schimmert  die  alte  räumliche  und  damit  mittelbar  die  sinn- 
lich-materielle Grundbedeutung,  von  der  die  Bezeichnung  ursprünglich 
ausging,  meist  noch  sehr  deutlich  hindurch.  Daß  auch  im  Indogermani- 
schen die  „Präpositionen"  anfangs  selbständige  Wörter  gewesen  sein 
müssen,  wird  u.  a.  schon  dadurch  erwiesen,  daß  sie  in  ihrer  Zusammen- 
setzung mit  Verbalstämmen  diesen  nur  ganz  locker  verbunden  erscheinen, 
so  daß  z.  B.  Augment  und  Reduplikation  bei  derartigen  Zusammensetzun- 
gen zwischen  die  Präposition  und  die  Verbalform  tritt2.  Auch  zeigt  die 
Entwicklung  einzelner  indogermanischer  Sprachen,  z.  B.  der  slawischen 
Sprachen,  wie  hier  noch  fort  und  fort  jüngere  „unechte"  Präpositionen 
entstehen  können,  bei  denen  die  materielle  Bedeutung  entweder  im  Sprach- 
bewußtsein selbst  lebendig  bleibt  oder  durch  die  sprachgeschichtliche* 
Betrachtung  unmittelbar  aufweisbar  ist3.  Allgemein  zeigt  sich,  daß  die 
indogermanischen  Kasus  formen  von  jeher  der  Darstellung  äußerer  ört- 
lich-zeitlicher oder  sonstiger  anschaulicher  Bestimmungen  gedient  haben, 
und  daß  sie  von  hier  aus  erst  allmählich  ihren  späteren  „abstrakten" 
Sinn  gewonnen  haben.  So  ist  der  Instrumentalis  ursprünglich  der  Mit- 
Kasus,  der  sodann,  indem  die  Anschauung  der  räumlichen  Begleitung 
in  die  des  begleitenden  und  modifizierenden  Umstands  übergeht,  zur 
Angabe  des  Mittels  oder  des  Grundes  einer  Handlung  wird.  Aus  dem 
räumlichen  „Woher"  entfaltet  sich  das  kausale  „Wodurch",  aus  dem 
„Wohin"  der  allgemeine  Gedanke  des  Ziels  und  des  Zwecks4.  Man  hat 
freilich  die  lokalistische  Kasustheorie  nicht  nur  aus  sprachgeschicht- 
lichen Gründen,  sondern  aus  allgemein-erkenntnistheoretischen  Er- 
wägungen heraus  ebenso  oft  bestritten,  wie  man  sie  durch  Erwägungen 

1  Beispiele  aus  dem  Jakutischen  bei  Boethlingk,  a.  a.  O.  S.3()i;  aus  dem  Japanischen 
bei  Hoffmann,  Japanische  Sprachlehre,  Leiden  1877,  S.  i88ff.,  io^ff.;  s.  auch  Hein- 
rich Winkler,  Der  ural-altaische  Sprachstamm,  Berlin  1909,  S.  i47ff- 

2  S.  hrz.  G.  Curtius,  Das  Verbum  in  der  griechischen  Sprache2!,  i36. 

3  Näheres  bei  Miklosich,  Vergl.  Grammat.  der  slaw.  Sprachen,  2  IV,  196.  Auch  in 
anderen  flektierenden  Sprachen,  z.B.  in  den  semitischen  Sprachen,  sind  solche  Neubil- 
dungen häufig;  Ygl.  z.  B.  die  Liste  der  „neuen  Präpositionen",  die  sich  im  Semitischen 
aus  den  Namen  von  Körperteilen  entwickelt  haben,  in  Brockelmanns  Grundriß  II, 
421  ff. 

4  Näheres  hierüber  bei  Brugmann,  Grundriß 2  II,  464ff-,  473,  5i8  u.  s.  w.,  bei 
Delbrück,  Vergl.  Syntax  der  indogerman.  Spr.  I,  188. 


i58 


dieser  Art  zu  begründen  und  zu  stützen  versucht  hat.  Wenn  im  Sinne 
der  lokalistischen  Auffassung  darauf  hingewiesen  wurde,  daß  alle  Ent- 
wicklung der  Sprache,  wie  die  des  Denkens  überhaupt,  vom  Anschau- 
lichen, vom  „Konkret-Lebensvollen"  zum  Begrifflichen  gehen  müsse,  und 
daß  dadurch  der  ursprünglich-örtliche  Charakter  aller  Kasusbestimmun- 
gen gewissermaßen  a  priori  erwiesen  sei1,  so  wurde  diesem  Argument 
entgegengehalten,  daß  hier  der  Begriff  der  Anschauung  zu  Unrecht  auf 
ein  bestimmtes  Einzelgebiet,  auf  das  Gebiet  der  räumlichen  Anschauung, 
eingeengt  werde.  Nicht  nur  die  Bewegung  im  Räume,  sondern  auch  man- 
nigfache andere  dynamische  Verhältnisse,  wie  Sieg  und  Unterliegen, 
Wirken  und  Gewirktes  seien  unmittelbar  anschaulich  gegeben,  —  seien 
etwas,  das  mit  Augen  gesehen  werde2.  Dieser  Einwand  aber,  der  von 
B.  Delbrück  erhoben  worden  ist,  ist  freilich  —  zum  mindesten  in  der 
Form,  in  welche  er  hier  gefaßt  wird  —  nicht  haltbar.  Denn  seit  Humes 
Analyse  des  Kausalbegriffs  leidet  es  keinen  Zweifel,  daß  es  keine  sinn- 
liche Impression  und  keine  unmittelbare  Anschauung  dessen  gibt,  was  wir 
den  Vorgang  des  „Wirkens"  nennen.  Alles  was  uns  von  der  Beziehung 
zwischen  Ursache  und  Wirkung  jeweils  „gegeben"  ist,  geht  in  die  Fest- 
stellung bestimmter  örtlicher  und  zeitlicher  Verhältnisse,  in  Verhältnisse 
des  Neben-  und  Nacheinander  auf.  Auch  Wundt,  der  gegen  die  lokali- 
stische  Ansicht  einwendet,  daß  das  Räumliche  keineswegs  alle  sinnlich- 
anschaulichen Eigenschaften  der  Gegenstände  erschöpfe,  bricht  doch  die- 
sem Einwand  dadurch  wieder  die  Spitze  ab,  daß  er  unmittelbar  darauf 
anerkennt,  daß  den  räumlichen  Eigenschaften  vor  allen  anderen  ein  cha- 
rakteristischer Vorzug  eigne:  denn  alle  anderen  Beziehungen  seien  im- 
mer zugleich  räumlicher  Art,  während  nur  die  räumlichen  Verhältnisse 
auch  für  sich  allein  den  Inhalt  einer  Anschauung  bilden  könnten3.  Da- 
mit wird  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  auch  die  Sprache  zum  Aus- 
druck der  rein  „intellektuellen"  Beziehungen  erst  fortschreiten  kann,  in- 
dem sie  dieselben  aus  ihrer  Verknüpfung  mit  räumlichen  herauslöst  und 
sie  aus  diesen  letzteren  gleichsam  „ersondert".  Im  fertigen  Gliederbau 
unserer  Flexionssprachen  läßt  sich  freilich  in  jeder  der  Hauptkasus- 
formen stets  auch  eine  bestimmte  logisch-grammatische  Funktion  er- 
kennen, der  sie  wesentlich  dienen.  Durch  den  Nominativ  wird  der  Träger 
der  Handlung,  durch  den  Akkusativ  oder  Genitiv  wird  ihr  Objekt,  so- 

1  S.  hrz.  Whitney,  General  considerations  on  the  European  case-system,  Transact.  of 
the  Americ.  Philol.  Assoc.  XIII  (1888),  S.  88ff . 

2  Delbrück,  Grundfragen  der  Sprachforschung,  Straßb.  1901,  S.  i3off. 

3  Wundt,  a.a.O.,  II,  7aff. 


i5g 


fern  es  ganz  oder  teilweise  von  ihr  betroffen  wird,  bezeichnet  —  und 
selbst  die  im  engeren  Sinne  lokalen  Kasus  lassen  sich  diesem  Schema 
einreihen,  sofern  sich  in  ihnen,  neben  ihrem  spezifisch-örtlichen  Sinn 
zugleich  ein  allgemeines  Verhältnis  ausdrückt,  in  welchem  der  Substantiv- 
begriff zum  Verbalbegriff  steht1.  Aber  wenn,  von  hier  aus  gesehen,  der 
logisch-grammalische  Sinn  gegenüber  dem  räumlich-anschaulichen  leicht 
als  das  tiqozeqov  ty\  <pvoei  erscheinen  kann,  so  führen  doch  anderer- 
seits erkenntniskritische  wie  sprachgeschichtliche  Erwägungen  notwendig 
darauf,  in  diesen  letzteren  das  eigentliche  tiqoteqov  jiqos  fj/uäg  zu  erkennen. 
Die  Vorherrschaft  der  räumlichen  Bedeutung  gegenüber  der  gramma- 
tisch-logischen macht  sich  in  der  Tat  um  so  stärker  geltend,  je  mehr 
man  die  Sprachen  berücksichtigt,  die  in  der  Bildung  der  „Kasusformen" 
die  größte  Fruchtbarkeit  entfaltet  haben.  Neben  den  amerikanischen  Ein- 
geborenensprachen2  sind  es  vor  allem  die  Sprachen  des  ural-altaischen 
Kreises,  die  in  dieser  Hinsicht  allen  anderen  voranstehen.  Aber  gerade 
sie  haben  es  zur  Bildung  der  drei  „eigentlich-grammatischen"  Kasus 
nicht  gebracht,  so  daß  die  Verhältnisse,  die  im  Indogermanischen  durch 
den  Nominativ,  Genitiv  und  Akkusativ  ausgedrückt  sind,  hier  lediglich 
durch  den  Zusammenhang  angedeutet  werden.  Ein  eigentlicher  Nominativ 
als  Subjektskasus  fehlt,  auch  der  Genitiv  findet  entweder  gar  keinen 
formellen  Ausdruck  oder  er  wird  durch  eine  reine  „Adessivform",  die 
nichts  als  die  örtliche  Anwesenheit  bezeichnet,  vertreten.  Um  so  üppiger 
aber  wuchern  hier  die  Ausdrücke  für  die  rein  räumlichen  Bestimmungen. 
Neben  den  Bezeichnungen  des  Orts  als  solchen  findet  sich  die  größte 
Mannigfaltigkeit  und  Präzision  in  den  besonderen  Bezeichnungen  für  die 
Stelle  eines  Dinges  oder  für  die  Richtung  einer  Bewegung.  Es  entstehen 
auf  diese  Weise  allative  und  adessive,  inessive  und  illative,  translative, 
delative  und  sublative  Kasus,  durch  welche  die  Ruhe  im  Innern  des 
Gegenstandes,  das  Sein  bei  ihm,  das  Hineinlangen  in  ihn,  das  Hervor- 
gehen aus  ihm  u.  s.  f.  zur  Darstellung  kommen3.  „Diese  Sprachen"  — 

1  Vergl.  hrz.  die  Darstellung  der  indogerman.  Kasuslehre  bei  Delbrück,  Vergl.  Syn- 
tax I,  i8iff. 

2  Zur  „Kasusbildung"  der  amerikanischen  Sprachen  s.  z.  B.  die  Zusammenstellung  aus 
der  Eskimosprache,  die  Thalbitzer  (in  Boas'  Handbook  I,  ioi7ff.)  gibt:  hier  wird 
u.  and.  ein  Allativ,  Lokativ,  Ablativ,  Prosekutiv  unterschieden.  Gatschets  Grammatik 
der  Klamath-Sprache  unterscheidet  einen  „Inessiv"  und  „Adessiv",  einen  „Direktiv"  und 
„Prosekutiv"  sowie  eine  Fülle  anderer  Bestimmungen,  deren  jede  durch  eine  besondere 
örtliche  Kasusendung  zum  Ausdruck  kommt  (a.a.O.,  S.  479ff-,  489). 

3  S.  hrz.  bes.  das  sehr  reichhaltige  Material  bei  H.  Winkler,  Das  Uralaltaische  und 
seine  Gruppen  (bes.  S.  ioff)  und  den  Abschnitt  „Indogermanische  und  uralaltaische 


160 


so  beschreibt  Fr.  Müller  das  geistige  Verfahren,  das  hier  zugrunde 
liegt  —  „bleiben  beim  Objekt  einfach  nicht  stehen,  sondern  sie  dringen, 
möchte  man  sagen,  in  das  Innere  des  Objekts  ein  und  bringen  das  Innere 
zum  Äußeren,  das  Obere  zum  Unteren  desselben  in  einen  förmlichen 
Gegensatz.  Durch  Kombinierung  der  drei  Verhältnisse:  Ruhe,  Bewegung 
gegen  den  Gegenstand  und  Bewegung  vom  Gegenstande  weg  mit  den 
Kategorien  des  Innen  und  Außen  und  in  einigen  Sprachen  des  Oben,  ent- 
steht eine  Menge  von  Kasusformen,  für  die  unseren  Sprachen  ganz  das 
Gefühl  mangelt  und  die  wir  auch  infolgedessen  in  adäquater  Weise  wie- 
derzugeben nicht  imstande  sind1."  Für  die  Nähe,  in  der  dieser  rein 
anschauliche  Ausdruck  der  Kasusverhältnisse  sich  noch  zum  bloß 
sinnlichen  Ausdruck  hält,  ist  es  hierbei  bezeichnend,  daß  bei  aller 
Feinheit  in  der  Differenzierung  der  räumlichen  Verhältnisse  diese 
selbst  noch  durchweg  durch  substantivische  Stoffworte  wiedergegeben 
werden. 

Freilich  schließt  der  Ausdruck  der  Richtung  und  der  Richtungs- 
unterschiede, so  sinnlich  er  sich  in  der  Sprache  immer  gestalten  mag, 
gegenüber  dem  bloßen  Ausdruck  des  Seins,  des  Verharrens  an  einem 
Orte,  doch  stets  ein  neues  geistiges  Moment  in  sich.  Ähnlich  wie  die 
Raumsubstantiva  dienen  in  vielen  Sprachen  auch  Raumverba  zur  Be- 
zeichnung der  Verhältnisse,  die  wir  durch  Präpositionen  wiederzugeben 
pflegen.  Humboldt,  der  diesen  Gebrauch  im  Kawi-Werk  durch  Bei- 
spiele aus  dem  Javanischen  verdeutlicht,  fügt  hinzu,  daß  sich  darin, 
gegenüber  der  Anwendung  der  Raumsubstantiva,  ein  feinerer  Sprach- 
sinn zu  bekunden  scheine,  da  der  Ausdruck  einer  Handlung  sich  von  aller 
stofflichen  Beimischung  schon  freier  halte,  als  dies  in  der  Bezeichnung 
durch  ein  bloßes  Dingwort  der  Fall  sei2.  In  der  Tat  beginnen  hier  im 
Gegensatz  zu  dem  substantivis tischen  Ausdruck,  dem  stets  etwas  Starres 
eignet,  die  Raum  Verhältnisse  gleichsam  flüssig  zu  werden.  Der  selbst  noch 
ganz  anschauliche  Ausdruck  einer  reinen  Aktion  bereitet  den  künftigen 
gedanklichen  Ausdruck  der  reinen  Relationen  vor.  Wieder  knüpft  hier  zu- 
meist die  Bestimmung  an  den  eigenen  Körper  an,  aber  es  sind  jetzt 
nicht  mehr  seine  einzelnen  Teile,  sondern  seine  Bewegungen,  es  ist  ge- 
wissermaßen nicht  mehr  sein  bloßes  materielles  Sein,  sondern  sein  Tun, 
worauf  sich  die  Sprache  stützt.  Auch  sprachgeschichtliche  Gründe 

Kasus"  in  Uralaltaische  Völker  und  Sprachen,  Berlin  i884,  S.  171  ff.,  vgl.  auch  Grun- 
zel,  Vergl.  Grammat.  der  altaischen  Sprachen,  S. 

1  Fr.  Müller,  Grundriß  II,  2,  204. 

2  Humboldt,  Kawi-Werk  II,  i64ff.,  34i  u.  ö. 


1 1 


l6l 


sprechen  dafür,  daß  in  einzelnen  Sprachen,  in  denen  die  Raumverba 
neben  den  Raumsubstantiven  auftreten,  diese  die  frühere,  jene  die  relativ 
spätere  Bildung  darstellen1.  Dabei  wird  zunächst  der  Unterschied  des 
„Sinnes"  der  Bewegung,  der  Unterschied  der  Bewegung  von  einem  Orte 
her  und  nach  diesem  Orte  hin,  durch  die  Wahl  des  Verbums  und 
durch  seine  inhaltliche  Bedeutung  wiedergegeben.  In  abgeschwächter 
Form  erscheinen  dann  diese  Verba  in  der  Art  von  Suffixen,  durch  die  die 
Art  und  Richtung  der  Bewegung  gekennzeichnet  wird.  Die  amerikanischen 
Eingeborenensprachen  bringen  durch  solche  Suffixe  zum  Ausdruck,  ob  die 
Bewegung  innerhalb  oder  außerhalb  eines  bestimmten  Raumes,  insbeson- 
dere innerhalb  oder  außerhalb  des  Hauses  erfolgt,  ob  sie  über  die  See 
oder  über  einen  Streifen  festen  Landes,  ob  sie  durch  die  Luft  oder  durch 
das  Wasser  geht,  ob  sie  vom  Landinnern  auf  das  Ufer,  oder  vom  Ufer 
aus  auf  das  Landinnere,  vom  Feuerplatz  auf  das  Haus  oder  von  diesem 
zu  jenem  erfolgt2.  Aus  der  Fülle  all  dieser  Unterschiede,  die  durch  den 
Ausgangspunkt  und  Zielpunkt  der  Bewegung  und  durch  die  Art  und 
Mittel  ihrer  Ausführung  gegeben  sind,  aber  hebt  sich  vor  allem  ein 
bestimmter  Gegensatz  heraus,  der  mehr  und  mehr  in  den  Mittelpunkt 
der  Bezeichnung  rückt.  Das  natürliche,  das  im  gewissen  Sinne  „ab- 
solute" Koordinatensystem  für  alle  Darstellung  von  Bewegungen  ist 
für  die  Sprache  offenbar  in  dem  Ort  des  Redenden  und  in  dem  Ort 
der  angeredeten  Person  gegeben.  So  wird  vielfach  mit  großer  Ge- 
nauigkeit und  Schärfe  unterschieden,  ob  eine  besondere  Bewegung 
vom  Redenden  zum  Angeredeten  hin,  oder  ob  sie  von  diesem  zu 
jenem  oder  endlich,  ob  sie  vom  Redenden  zu  einer  dritten,  nicht  ange- 
redeten Person  oder  Sache  hin  erfolgt3.  Auf  derartigen  konkreten  Un- 
terscheidungen, wie  sie  durch  die  Anknüpfung  an  irgendein  sinnliches 
Ding  oder  durch  die  Anknüpfung  an  das  „Ich"  und  „Du"  gegeben  sind, 
fußt  die  Sprache,  um  aus  ihnen  sodann  die  allgemeineren  und  „abstrak- 
teren" Bezeichnungen  zu  entwickeln.  Es  können  jetzt  bestimmte  Klassen 
und  Schemata  von  Richtungssuffixen  entstehen,  die  das  Ganze  der  mög- 
lichen Bewegungen  nach  gewissen  Hauptpunkten  des  Raumes,  insbeson- 

1  Für  die  melanesischen  Sprachen  vgl.  Codrington,  Melanes.  languages  S.  i58. 

2  S.  hrz.  bes.  die  Beispiele  aus  dem  Athapaskischen  bei  Goddard,  aus  dem  Haida  bei 
Swanton,  aus  dem  Tsimshian  bei  Boas  (Handbook  of  Americ.  Ind.  lang.  I,  112 ff., 

a44ff.,  3ooff.). 

3  Beispiele  hierfür  finden  sich  insbesondere  bei  Humboldt,  der  auf  diesen  Unterschied 
der  Ausdrucksformen  zuerst  hingewiesen  hat  (Über  die  Verwandtschaft  der  Ortsadverbien 
mit  dem  Pronomen  W.  VI,  1,  3nff.);  vgl.  auch  Fr.  Müller,  Reise  der  österr.  Fre- 
gatte Novara  III,  3 12. 


162 


dere  nach  den  Haupthimmelsrichtungen,  ein  teilen1.  Allgemein  scheint  es, 
daß  die  verschiedenen  Sprachen  in  der  Art,  wie  sie  den  Ausdruck  der  Ruhe 
und  den  der  Richtung  gegeneinander  abgrenzen,  sehr  verschiedene  Wege 
einschlagen  können.  Die  Akzente  können  zwischen  beiden  in  der  mannig- 
fachsten Weise  verteilt  werden :  wenn  Sprach  typen  von  rein  „gegenständ- 
lichem* '  Typus,  von  ausgesprochen  nominaler  Form,  den  Ortsbezeich- 
nungen vor  den  Bewegungsbezeichnungen,  dem  Ausdruck  der  Ruhe  vor 
dem  der  Richtung  den  Vorrang  geben  werden,  so  wird  in  den  verbalen 
Sprachtypen  im  allgemeinen  das  umgekehrte  Verhältnis  obwalten.  Eine 
mittlere  Stellung  nehmen  hier  vielleicht  diejenigen  Sprachen  ein,  die 
zwar  an  dem  Primat  des  Ausdrucks  der  Ruhe  vor  dem  der  Richtung 
festhalten,  dagegen  auch  den  ersteren  verbal  gestalten.  So  wenden  z.  B. 
die  Sudansprachen  zum  Ausdruck  der  Raumverhältnisse,  wie  des  Oben 
und  Unten,  des  Innen  und  Außen,  durchweg  Raumsubstantiva  an,  die 
aber  selbst  noch  ein  Verbum  in  sich  schließen,  das  das  Verweilen  an  einem 
Ort  bezeichnet.  Dieses  „Lokalverbum"  wird  stets  gebraucht,  um  eine  Tä- 
tigkeit auszudrücken,  die  an  einer  bestimmten  Stelle  vor  sich  geht2.  Es  ist, 
als  könne  sich  die  Anschauung  der  Tätigkeit  selbst  von  der  des  bloß 
örtlichen  Daseins  nicht  losreißen,  als  bleibe  sie  in  ihr  noch  gewisser- 
maßen gefangen3,  aber  auf  der  anderen  Seite  erscheint  auch  dieses  Da- 
sein, erscheint  auch  die  bloße  Existenz  an  einem  Orte  noch  wie  eine  Art 
tätigen  Verhaltens  des  Subjekts,  das  sich  in  ihm  befindet.  Auch  hier  zeigt 
sich,  wie  sehr  die  ursprüngliche  Anschauung  der  Sprache  in  der  „Ge- 
gebenheit" des  Raumes  verharrt,  und  wie  sie  nichtsdestoweniger  notwen- 
dig über  sie  hinausgetrieben  wird,  sobald  sie  zur  Darstellung  der  Bewe- 
gung und  der  reinen  Tätigkeit  übergeht.  Je  energischer  sich  die  Betrach- 
tung dieser  letzteren  zuwendet  und  je  schärfer  sie  in  ihrer  Eigenart 
erfaßt  wird,  um  so  mehr  muß  sich  schließlich  die  rein  gegenständliche, 

1  S.  z.  B.  eine  Liste  solcher  Suffixe  im  Nikobar  bei  P.  W.  Schmidt,  Die  Mon-Khmer- 
Völker  ein  Bindeglied  zwischen  Völkern  Zentralasiens  und  Austronesiens,  Braunschweig 

1906,  s.  57. 

2  Ein  Satz,  wie  „er  arbeitet  auf  dem  Felde"  erhält  also  in  diesen  Sprachen  durch  An- 
wendung des  „Lokal-  und  Ruheverbums",  das  das  „Sein  an  einem  Orte"  ausdrückt,  etwa 
die  Form:  „er  arbeitet,  ist  des  Feldes  Innerem";  ein  Satz,  wie  ,die  Kinder  spielen  auf 
der  Straße'  lautet,  wörtlich  übersetzt,  ,die  Kinder  spielen,  sind  der  Straße  Fläche', 
s.  West  ermann,  Die  Sudansprachen,  S.  5iff, 

3  In  den  Sudan-  und  B antusprachen,  sowie  im  größten  Teil  der  hamitischen  Sprachen 
wird  eine  Bewegung,  die  wir  nach  ihrem  Ziel  und  Resultat  bezeichnen,  nach  ihrem  An- 
fang und  ihrem  örtlichen  Ausgangspunkt  bezeichnet,  s.  die  Beispiele  bei  Meinhof, 
Die  Sprachen  der  Hamiten,  S.  20  Anm.  Über  analoge  Erscheinungen  in  den  Südsee- 
sprachen s.  Codrington,  Melanes.  languages,  S.  109 f. 


11* 


i63 


die  substantielle  Einheit  des  Raumes  zur  dynamisch-funktionalen  Einheit 
umgestalten,  muß  der  Raum  selbst  gleichsam  als  das  Ganze  der  Aktions- 
richtungen, der  Rieht-  und  Kraftlinien  der  Bewegung  aufgebaut  werden. 
Hier  geht  somit  in  den  Aufbau  der  Vorstellungswelt,  den  wir  bisher 
wesentlich  nach  der  objektiven  Seite  hin  verfolgt  haben,  ein  neuer  Faktor 
ein.  Es  bewährt  sich  nun  in  diesem  Einzelgebiet  der  Sprachbildung  das 
allgemeine  Gesetz  jeder  geistigen  Form,  wonach  ihr  Gehalt  und  ihre  Lei- 
stung nicht  in  der  einfachen  Abbildung  eines  gegenständlich  Vor- 
handenen, sondern  in  der  Schaffung  einer  neuen  Beziehung,  einer 
eigentümlichen  Korrelation  zwischen  „Ich"  und  „Wirklichkeit",  zwischen 
der  „subjektiven"  und  der  „objektiven"  Sphäre  besteht.  Auch  in  der 
Sprache  wird  kraft  dieser  Wechselbeziehung  der  „Weg  nach  außen"  zu- 
gleich zum  „Weg  nach  innen".  An  der  wachsenden  Bestimmtheit,  die  in 
ihr  die  äußere  Anschauung  gewinnt,  gelangt  auch  die  innere  erst  zur 
wahrhaften  Entfaltung:  gerade  die  Gestaltung  der  Raumworte  wird  für 
die  Sprache  zum  Medium  für  die  Bezeichnung  des  Ich  und  für  seine  Ab- 
grenzung gegen  andere  Subjekte. 

Schon  die  älteste  Schicht  der  Raumbezeichnungen  läßt  diesen  Zu- 
sammenhang deutlich  erkennen.  In  fast  allen  Sprachen  sind  es  die  Raum- 
demonstrativa  gewesen,  die  den  Ausgangspunkt  für  die  Bezeichnung 
der  persönlichen  Fürwörter  gebildet  haben.  Die  Verknüpfung  beider 
Wortklassen  ist  rein  sprachgeschichtlich  so  eng,  daß  es  schwer  ist,  zu 
entscheiden,  welche  von  ihnen  wir  als  die  frühere  oder  spätere,  welche 
wir  als  die  fundamentale  und  welche  als  die  abgeleitete  anzusehen  haben. 
Während  Humboldt  in  seiner  grundlegenden  Abhandlung  „über  die 
Verwandtschaft  der  Ortsadverbien  mit  dem  Pronomen  in  einigen  Spra- 
chen" den  Nachweis  zu  führen  gesucht  hat,  daß  die  Bezeichnung  der 
persönlichen  Pronomina  allgemein  auf  Worte  örtlichen  Sinns  und  Ur- 
sprungs zurückgehe,  neigt  die  moderne  Sprachforschung  vielfach  dazu, 
das  Verhältnis  umzukehren,  indem  sie  die  charakteristische  Dreiteilung 
der  Demonstrativa,  die  sich  in  den  meisten  Sprachen  findet,  auf  die  ur- 
sprüngliche und  natürliche  Dreiteilung  der  Personen,  des  „Ich",  des 
„Du"  und  des  „Er"  zurückführt.  Wie  immer  aber  diese  genetische  Frage 
zuletzt  entschieden  werden  mag:  in  jedem  Falle  zeigt  sich,  daß  die 
persönlichen  und  die  demonstrativen  Fürworte,  die  ursprünglichen  Per- 
sonen- und  die  ursprünglichen  Raumbezeichnungen,  ihrer  gesamten 
Struktur  nach  aufs  nächste  verwandt  sind,  und  daß  sie  gleichsam  der- 
selben Schicht  des  sprachlichen  Denkens  angehören.  Es  ist  derselbe  halb- 
mimische, halb-sprachliche  Akt  des  Hinweisens,  es  sind  dieselben  Grund- 


i64 


formen  der  „Deixis"  überhaupt,  aus  welchen  der  Gegensatz  des  Hier,  des 
Da  und  Dort,  wie  der  Gegensatz  des  Ich,  des  Du  und  Er  hervorgeht. 
„Hier"  —  so  bemerkt  G.  v.  d.  Gabelen tz  —  „ist  allemal,  wo  ich  bin, 
und  was  hier  ist,  nenne  ich  dieses,  im  Gegensatze  zu  dem  und  jenem, 
was  da  oder  dort  ist.  So  erklärt  sich  der  lateinische  Gebrauch  von  hic, 
iste,  ille  =  meus,  tuus,  ejus;  so  auch  im  Chinesischen  das  Zusammentreffen 
der  Pronomina  der  zweiten  Person  mit  Gonjunctionen  für  örtliche  und 
zeitliche  Nähe  und  für  Ähnlichkeit1".  Das  gleiche  Verhältnis  hat  Hum- 
boldt in  der  erwähnten  Abhandlung  an  den  malayischen  Sprachen,  am 
japanischen  und  dem  Armenischen  aufgewiesen.  In  der  gesamten  Ent- 
wicklung der  indogermanischen  Sprachen  zeigt  sich  ferner,  daß  das  Pro- 
nomen der  dritten  Person  von  dem  entsprechenden  Demonstrativpro- 
nomen seiner  Form  nach  nicht  zu  trennen  ist.  Wie  französisch  il  auf  la- 
teinisch „ille"  zurückgeht,  so  entspricht  got.  is  (=  nhd.  er)  dem  latei- 
nischen is  —  und  auch  bei  den  Ich-Du-Pronomina  der  indogermanischen 
Sprachen  ist  vielfach  der  etymologische  Zusammenhang  mit  den  hin- 
weisenden Fürworten  unverkennbar2.  Genau  entsprechende  Beziehungen 
finden  sich  im  Kreise  der  semitischen  und  altaischen  Sprachen3,  so- 
wie in  den  Eingeborenensprachen  Nordamerikas  und  Australiens4.  Die 
letzteren  aber  weisen  nun  einen  weiteren  höchst  bezeichnenden  Zug  auf. 
Von  einzelnen  Eingeborenensprachen  Süd-Australiens  wird  berichtet,  daß 
sie,  wenn  sie  irgendeine  Handlung  in  der  dritten  Person  aussagen,  so- 
wohl dem  Subjekt  als  dem  Objekt  dieser  Handlung  ein  räumlich-quali- 
fizierendes  Kennzeichen  anheften.  Soll  etwa  gesagt  werden,  ein  Mann 
habe  einen  Hund  mit  einem  Wurfholz  geschlagen,  so  muß  der  Satz  so 
gefaßt  werden,  daß  er  vielmehr  besagt,  der  Mann  „da  vorn"  habe  den 
Hund  „da  hinten"  mit  dieser  oder  jener  Waffe  geschlagen5.  Hier  gibt  es 
mit  anderen  Worten  noch  keine  allgemeine  und  abstrakte  Bezeichnung 
des  „Er"  oder  „Dieser",  sondern  das  Wort,  das  hierfür  zum  Ausdruck 
dient,  ist  noch  mit  einer  bestimmten  deiktischen  Lautgebärde  ver- 

1  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissenschaft,  S.  23of. 

2  Näheres  s.  bei  Brugmann,  Demonstrativpronomen,  S.  3off.,  71  f.,  I20,f.  und  Grund- 
riß 2  II,  2,  S.  3o7ff.,  38iff. 

3  Für  die  semitischen  Sprachen  s.  Brockelmann,  Grundriß  I,  296fr".,  sowie  Kurz- 
gefaßte vergl.  Grammat.  der  semit.  Sprache,  Berlin  1908,  S.  i/i2ff.;  Dillmann,  Äthiop. 
Grammat.,  S.  98;  für  die  altaischen  Sprachen  s.  z.  B.  Grunzel,  vergl.  Grammat.  der 
altaischen  Spr.,  S.  55 ff. 

*  Vgl.  Gatschet,  Klamath  language,  S.  536f.,  Matthews,  a.  a.  0.,  S.  i5i. 

6  S.  Matthews,  Languages  of  the  Bungandity  Tribe  in  South  Australia  (J.  and  Proc. 

of  the  Roy.  Soc.  of  N.  S.  Wales  XXXVII  (1903),  S.  61). 


i65 


schmolzen,  von  der  es  sich  nicht  ablösen  kann.  Dasselbe  Verhältnis  liegt 
zugrunde,  wenn  einige  Sprachen  Ausdrücke  besitzen,  die  das  Individuum, 
von  dem  die  Rede  ist,  in  einer  ganz  bestimmten  Lage,  als  sitzend,  lie- 
gend oder  stehend,  als  gehend  oder  kommend  bezeichnen,  während  ein 
einheitlicher  Ausdruck  für  das  Pronomen  der  dritten  Person  fehlt.  Die 
Sprache  der  Tscherokesen,  in  der  solche  Unterscheidungen  besonders  aus- 
gebildet sind,  besitzt  statt  eines  persönlichen  Fürworts  der  dritten  Per- 
son deren  neun1.  Andere  Sprachen  unterscheiden  sowohl  an  der  ersten, 
wie  an  der  zweiten  und  dritten  Person,  ob  sie  sichtbar  oder  unsicht- 
bar sind,  und  gebrauchen  für  jeden  dieser  Fälle  ein  besonderes  Für- 
wort2. Neben  den  räumlichen  Unterschieden  der  Lage  und  Entfernung 
wird  oft  auch  die  zeitliche  Gegenwart  oder  Nicht-Gegenwart  durch  die  be- 
sondere Form  des  Pronomens  zum  Ausdruck  gebracht;  auch  können  zu 
den  örtlichen  und  zeitlichen  Merkmalen  noch  andere  qualifizierende  Merk- 
male hinzutreten3.  In  allen  diesen  Fällen  kommt,  wie  man  sieht,  den 
Ausdrücken,  die  die  Sprache  für  den  rein  „geistigen"  Unterschied  der 
drei  Personen  besitzt,  zunächst  noch  eine  unmittelbar-sinnliche,  vor  allem 
aber  eine  räumliche  Tönung  zu.  Das  Japanische  hat,  nach  Hoffmann, 
aus  einem  Ortsadverbium,  das  eigentlich  „Mittelpunkt"  besagt,  ein  Wort 
für  das  Ich,  aus  einem  anderen,  das  „da"  oder  „dort"  bedeutet,  ein  Wort 
für  „Er"  geprägt4.  In  Erscheinungen  dieser  Art  zeigt  sich  unmittelbar, 
wie  die  Sprache  gleichsam  einen  sinnlich-geistigen  Kreis  um  den  Spre- 
chenden zieht  und  wie  sie  dem  Zentrum  desselben  das  „Ich",  der  Peri- 
pherie das  „Du"  und  „Er"  zuweist.  Der  eigentümliche  „Schematismus" 
des  Raumes,  den  wir  zuvor  im  Aufbau  der  Objektwelt  verfolgt  haben, 
bewährt  sich  hier  in  umgekehrter  Richtung  —  und  erst  in  dieser  dop- 
pelten Funktion  erfährt  auch  die  Raumvorstellung  selber  im  Ganzen  der 
Sprache  ihre  vollkommene  Durchbildung. 

II.  Die  Zeitvorstellung 

Eine  wesentlich  schwierigere  und  komplexere  Aufgabe,  als  in  der  Aus- 
bildung der  Raumbestimmungen  und  Raumbezeichnungen  hat  die  Sprache 
zu  erfüllen,  um  zu  einer  genauen  Scheidung  und  Bezeichnung  der  zeit- 
lichen Verhältnisse  zu  gelangen.  Die  einfache  Koordination  der  Raum- 
und  Zeitform,  die  man  in  der  erkenntnistheoretischen  Betrachtung  viel- 

1  S.  Humboldt,  Über  den  Dualis  (W.  VI,  i,  23);  Fr.  Müller,  Grundriß  II,  i,  22$f. 

2  Boas,  Kwakiutl  (Handbook  I,  52 7 ff.). 

3  Goddard,  Hupa  (Handb.  I,  117);  Boas,  Chinook  (Handb.  I,  574,  6i7ff.). 

4  S.  Hoffmann,  Japanische  Sprachlehre,  S.  85ff. 


166 


fach  durchzuführen  gesucht  hat,  findet  vonseiten  der  Sprache  keine  Be- 
stätigung. Hier  zeigt  sich  vielmehr  deutlich,  daß  es  eine  Bestimmung  von 
anderer  Art  und  gleichsam  von  einer  höheren  Dimension  ist,  die  das 
Denken  überhaupt,  und  das  sprachliche  Denken  im  besonderen,  im  Auf- 
bau der  Zeitvorstellung,  in  der  Unterscheidung  der  Zeitrichtungen  und 
Zeitstufen,  zu  vollziehen  hat.  Denn  das  „Hier"  und  „Dort"  kann  in  weit 
einfacherer  und  weit  unmittelbarerer  Weise  zu  einer  anschaulichen  Ein- 
heit zusammengefaßt  werden,  als  es  bei  den  einzelnen  Momenten  der 
Zeit,  bei  dem  Jetzt,  bei  den  Früher  und  Später  der  Fall  ist.  Gerade 
dies  kennzeichnet  ja  diese  Momente  als  Zeitmomente,  daß  sie  nie- 
mals gleich  Dingen  der  objektiven  Anschauung  dem  Bewußtsein  zu- 
gleich und  „zumal4 '  gegeben  sind.  Die  Einheiten,  die  Teile,  die  sich 
in  der  räumlichen  Anschauung  wie  von  selbst  zu  einem  Ganzen  zu  ver- 
binden scheinen,  schließen  sich  hier  vielmehr  aus:  das  Sein  der  einen 
Bestimmung  bedeutet  das  Nicht-Sein  der  anderen  und  vice  versa.  Der 
Gehalt  der  Zeitvorstellung  ist  daher  niemals  in  der  unmittelbaren  An- 
schauung beschlossen;  sondern  hier  macht  sich  in  noch  weit  stärkerem 
Maße,  als  es  von  der  Raumvorstellung  gilt,  der  entscheidende  An- 
teil des  verknüpfenden  und  trennenden,  des  analytischen  und  synthe- 
tischen Denkens  geltend.  Da  die  Elemente  der  Zeit  als  solche  nur 
dadurch  sind,  daß  das  Bewußtsein  sie  durchläuft  und  in  diesem  Durch- 
laufen gegeneinander  unterscheidet,  so  geht  eben  dieser  Akt  des  Durch- 
laufens, dieser  „discursus" ,  in  die  charakteristische  Form  des  Zeitbegriffs 
selbst  ein.  Damit  aber  erscheint  das  „Sein",  das  wir  als  das  Sein  des  Nach- 
einander, als  das  Sein  der  Zeit  bezeichnen,  auf  eine  ganz  andere  Stufe 
der  Idealität  gehoben,  als  das  bloß  örtlich  bestimmte  Dasein.  Die  Sprache 
kann  zu  dieser  Stufe  nicht  unmittelbar  gelangen,  sondern  sie  steht  auch 
hier  unter  dem  gleichen  inneren  Gesetz,  das  ihre  gesamte  Bildung  und 
ihren  Fortschritt  beherrscht.  Sie  schafft  nicht  für  jeden  neuen  Bedeutungs- 
kreis, der  sich  ihr  erschließt,  neue  Mittel  des  Ausdrucks,  sondern  ihre 
Kraft  besteht  eben  darin,  daß  sie  ein  bestimmtes  gegebenes  Material  in 
verschiedener  Weise  zu  gestalten,  daß  sie  es,  ohne  es  zunächst  inhaltlich  zu 
verändern,  in  den  Dienst  einer  anderen  Aufgabe  zu  stellen  und  ihm  da- 
mit eine  neue  geistige  Form  aufzuprägen  vermag. 

Die  Betrachtung  des  Verfahrens,  das  die  Sprache  bei  der  Bildung  der 
ursprünglichen  Raumworte  anwendet,  hat  gezeigt,  wie  sie  sich  hierbei 
durchweg  der  einfachsten  Mittel  bedient.  Die  Umsetzung  vom  Sinnlichen 
ins  Ideelle  erfolgt  hier  überall  so  allmählich,  daß  sie  als  solche,  als  eine 
entscheidende  Wendung  der  geistigen  Gesamthaltung,  anfangs  kaum  be- 


167 


merkbar  wird.  Aus  einer  eng  begrenzten  sinnlichen  Materie,  aus  dem  Un- 
terschied in  der  Färbung  der  Vokale  und  aus  der  besonderen  lautlichen  und 
gefühlsmäßigen  Beschaffenheit  einzelner  Konsonanten  und  Konsonanten- 
gruppen werden  die  Bezeichnungen  für  die  örtlichen  Gegensätze  und  für 
die  Richtungsgegensätze  im  Räume  geformt.  Der  gleiche  Prozeß  zeigt 
sich  in  der  Entwicklung  der  Sprache  von  einer  neuen  Seite  her,  wenn  wir 
die  Art  betrachten,  in  der  sie  zu  ihren  ursprünglichen  Zeitpartikeln 
gelangt.  Wie  die  Grenze  zwischen  den  sinnlichen  Natur-  und  Gefühls- 
lauten und  den  einfachsten  Raumworten  als  eine  durchaus  fließende 
Grenze  erschien  —  so  zeigt  sich  derselbe  stetige  und  unmerkliche  Über- 
gang auch  zwischen  der  sprachlichen  Sphäre,  die  die  örtlichen  und  der- 
jenigen, die  die  zeitlichen  Bestimmungen  umfaßt.  Noch  in  unseren  mo- 
dernen Kultursprachen  bilden  beide  vielfach  eine  ungeschiedene  Einheit: 
noch  hier  ist  es  eine  sehr  gewöhnliche  Erscheinung,  daß  ein  und  das- 
selbe Wort  für  den  Ausdruck  räumlicher  wie  zeitlicher  Verhältnisse  ge- 
braucht wird.  Noch  reichere  Belege  für  diesen  Zusammenhang  bieten  die 
Sprachen  der  Naturvölker  dar,  die  in  sehr  vielen  Fällen  überhaupt  kein 
anderes  Bildungsmittel  zum  Ausdruck  der  Zeitvorstellung  als  dies  zu  be- 
sitzen scheinen.  Die  einfachen  Ortsadverbia  werden  unterschiedslos  auch 
im  zeitlichen  Sinne  verwendet,  so  daß  z.B.  das  Wort  für  „hier"  mit  dem 
für  „jetzt",  das  für  „dort"  mit  dem  für  früher  oder  später  zusammen- 
fließt1. Man  hat  dies  damit  zu  erklären  gesucht,  daß  die  räumliche  und 
die  zeitliche  Nähe  oder  Ferne  objektiv  einander  bedingen;  daß  das,  was 
sich  in  räumlich  entfernten  Gegenden  abgespielt  hat,  auch  zeitlich  in  dem 
Augenblick,  in  dem  von  ihm  gesprochen  wird,  ein  Vergangenes  und  weit 
Zurückliegendes  zu  sein  pflegt. -Aber  offenbar  handelt  es  sich  hierbei 
weniger  um  derartige  reale  und  tatsächliche,  als  um  rein  ideelle  Zusam- 
menhänge —  um  eine  Stufe  des  Bewußtseins,  die  noch  relativ  undif- 
ferenziert und  gegen  die  spezifischen  Unterschiede  der  Raum-  und  Zeit- 
form als  solche  noch  nicht  empfindlich  ist.  Auch  verhältnismäßig  kom- 
plexe zeitliche  Verhältnisse,  für  die  die  entwickelten  Kultursprachen  eigene 
Ausdrücke  geschaffen  haben,  werden  in  den  Sprachen  der  Naturvölker 
oft  mit  den  primitivsten  räumlichen  Ausdrucksmitteln  bezeichnet2. 

1  Vgl.  hierfür  die  Beispiele  aus  der  Klamath-Sprache  bei  Gatschet  (a.  a.  O.  S.  582  f.) 
u.  aus  den  melanesischen  Sprachen  bei  Codrington  (a.a.O.  S.  1 64 f f •)• 

2  Die  Sudansprachen  drücken  den  Umstand,  daß  ein  Subjekt  in  einer  Handlung  be- 
griffen ist,  im  allg.  durch  eine  Wortfügung  aus,  die  eigentlich  besagt,  daß  es  sich  im 
Innern  dieser  Handlung  befindet.  Da  aber  auch  dies  Innere"  meist  ganz  materiell  be- 
zeichnet wird,  so  ergeben  sich  Wendungen  wie  „ich  bin  Gehens  Innerem,  ich  bin  Gehens 


168 


Solange  nun  diese  materielle  Bindung  besteht,  —  solange  kann  auch 
die  Eigentümlichkeit  der  Zeitform  als  solche  in  der  Sprache  nicht 
rein  heraustreten.  Auch  die  Strukturverhältnisse  der  Zeit  wandeln  sich 
jetzt  unwillkürlich  in  solche  des  Raumes  um.  Für  das  „Hier"  und  „Dort" 
im  Räume  besteht  nur  ein  schlichtes  Distanzverhältnis ;  es  gilt  hier  einfach 
das  Auseinander,  die  Trennung  zweier  Raumpunkte,  während  es  bei  dem 
Übergang  vom  einen  zum  anderen  im  allgemeinen  keine  bevorzugte  Rich- 
tung gibt.  Als  Momente  des  Raumes  besitzen  beide  Punkte  die  „Mög- 
lichkeit des  Beisammenseins"  und  halten  einander  gleichsam  stand;  das 
„Dort"  kann  durch  eine  einfache  Bewegung  in  ein  „Hier"  verwandelt 
werden  und  das  Hier  kann,  nachdem  es  aufgehört  hat,  ein  solches  zu  sein, 
durch  die  entgegengesetzte  Bewegung  wieder  in  seine  frühere  Form  über- 
geführt werden.  Die  Zeit  aber  zeigt  im  Gegensatz  hierzu,  neben  dem  Aus- 
einander und  der  wechselseitigen  Entfernung  ihrer  einzelnen  Elemente, 
einen  bestimmten  einzigartigen  und  nicht  umkehrbaren  „Sinn",  in  dem 
sie  verläuft.  Die  Richtung  von  der  Vergangenheit  in  die  Zukunft  oder  die 
von  der  Zukunft  in  die  Vergangenheit  ist  je  ein  unverwechselbar  Eigenes. 
Wo  indes  das  Bewußtsein  noch  vorzugsweise  im  Kreise  der  räumlichen 
Anschauung  verharrt  und  die  zeitlichen  Bestimmungen  nur  insoweit  er- 
greift, als  es  sie  durch  räumliche  Analogien  erfassen  und  bezeichnen 
kann,  —  da  muß  notwendig  auch  diese  Eigenheit  der  zeitlichen  Richtun- 
gen zunächst  im  Dunkel  bleiben.  Wie  im  Räume,  so  ist  es  auch  hier  der 
einfache  Unterschied  von  Ferne  und  Nähe,  auf  den  alles  andere  zurück- 
geführt wird.  Die  einzige  wesentliche  Differenz,  die  ergriffen  und  scharf 
zum  Ausdruck  gebracht  wird,  ist  die  zwischen  dem  „Jetzt"  und  Nicht- 
Jetzt  —  zwischen  dem  unmittelbaren  Gegenwartspunkt  und  dem,  was 
sich  „außerhalb"  desselben  befindet.  Dabei  ist  freilich  dieser  Punkt  nicht 
als  streng  einfacher  mathematischer  Punkt  zu  denken,  sondern  es  eignet 
ihm  eine  bestimmte  Ausdehnung.  Das  Jetzt,  nicht  als  mathematische  Ab- 
straktion, sondern  als  psychisches  Jetzt,  umspannt  die  Gesamtheit  von 
Inhalten,  die  zu  einer  unmittelbaren  zeitlichen  Einheit  zusammengeschaut, 
die  zum  Ganzen  eines  Augenblicks,  als  einer  elementaren  Erlebniseinheit, 
verdichtet  werden  können.  Es  ist  kein  bloß  gedachter  Grenzpunkt,  der 
das  Frühere  vom  Späteren  trennt,  sondern  es  besitzt  in  sich  selbst  eine 
gewisse  Dauer,  die  so  weit  als  die  unmittelbare  Erinnerung,  als  das  kon- 
krete Gedächtnis  reicht.  Für  diese  Form  der  primären  Zeitanschauung 
zerfällt  die  Gesamtheit  des  Bewußtseins  und  seiner  Inhalte  gleichsam  in 

Bauch"  für  „ich  bin  im  Gehen  begriffen".  S.  Westermann,  Sudansprachen,  S.  65, 
Gola-Sprache,  S.  37,  43,  61. 

169 


zwei  Sphären:  in  einen  hellen,  vom  Lichte  der  „Gegenwart"  getroffenen 
und  erleuchteten,  und  in  einen  anderen  dunklen  Kreis;  aber  zwischen 
diesen  beiden  Grundstufen  fehlt  es  noch  an  jeder  Vermittlung  und  an 
jedem  Übergang,  an  jeder  Nuancierung  und  Abtönung. 

Das  voll  entwickelte  Bewußtsein,  insbesondere  das  Bewußtsein  der  wis- 
senschaftlichen Erkenntnis,  ist  dadurch  ausgezeichnet,  daß  es  nicht  in 
diesem  einfachen  Gegensatz  des  „Jetzt"  und  „Nicht- Jetzt"  verharrt,  son- 
dern ihn  zu  reichster  logischer  Entfaltung  bringt.  Ihm  ergeben  sich  eine 
Fülle  von  Zeitstufen,  die  jedoch  sämtlich  durch  eine  einheitliche  Ord- 
nung umfaßt  sind,  in  der  jedem  Moment  seine  ganz  bestimmte  Stelle 
zukommt.  Die  erkenntniskritische  Analyse  zeigt,  daß  diese  Ordnung  weder 
durch  die  Empfindung  „gegeben"  ist,  noch  aus  der  unmittelbaren  An- 
schauung geschöpft  werden  kann.  Sie  ist  vielmehr  erst  ein  Werk  des  Ver- 
standes —  und  insbesondere  ein  Werk  des  kausalen  Folgerns  und  Schlie- 
ßens. Die  Kategorie  der  Ursache  und  Wirkung  ist  es,  die  die  bloße  An- 
schauung des  Nacheinander  zum  Gedanken  einer  einheitlichen  Zeitordnung 
des  Geschehens  umprägt.  Der  einfache  Unterschied  der  einzelnen  Zeit- 
stellen muß  erst  in  den  Begriff  einer  wechselseitigen  dynamischen  Ab- 
hängigkeit zwischen  ihnen  umgebildet,  die  Zeit  als  reine  Anschauungs- 
form muß  mit  der  Funktion  des  kausalen  Urteilens  durchsetzt  werden, 
bevor  dieser  Gedanke  sich  entwickeln  und  sich  befestigen  kann,  bevor 
das  unmittelbare  Zeitgefühl  in  den  systematischen  Begriff  der  Zeit,  als 
einer  Bedingung  und  als  eines  Inhalts  der  Erkenntnis  übergeht.  Wie  weit 
der  Weg  von  dem  einen  zum  andern  ist  und  durch  welche  Schwierigkeiten 
und  Paradoxien  er  hindurchführt,  hat  uns  die  Entwicklung  der  modernen 
Physik  aufs  klarste  vor  Augen  gestellt.  Kant  sieht  in  den  „Analogien  der 
Erfahrung",  in  den  drei  synthetischen  Grundsätzen  der  Substantialität, 
der  Kausalität  und  der  Wechselwirkung  die  intellektuelle  Bedingung  und 
Grundlage  für  die  Setzung  der  drei  verschiedenen  möglichen  Zeitverhält- 
nisse, für  die  Konstituierung  der  Beharrlichkeit,  der  Folge  und  des  Zu- 
gleichseins. Der  Fortgang  der  Physik  zur  allgemeinen  Relativitätstheorie 
und  die  Umbildung,  die  der  Zeitbegriff  in  dieser  letzteren  erfahren  hat, 
hat  gezeigt,  daß  dieses  relativ  einfache  Schema,  das  der  Grundform  der 
Newtonischen  Mechanik  nachgebildet  ist,  auch  erkenntniskritisch  durch 
komplexere  Bestimmungen  ersetzt  werden  muß1.  Ganz  allgemein  lassen 
sich  im  Fortschritt  vom  Zeitgefühl  zum  Zeitbegriff  drei  verschiedene 
Etappen  unterscheiden,  die  auch  für  die  Spiegelung,  die  das  Zeitbewußt- 
sein in  der  Sprache  findet,  von  entscheidender  Bedeutung  sind.  Auf  der 

1  Näheres  s.  in  meiner  Schrift  „Zur  Einstein'schen  Relativitätstheorie",  Berlin  1921. 
170 


ersten  Stufe  ist  das  Bewußtsein  lediglich  von  dem  Gegensatze  des  „Jetzt" 
und  „Nicht- Jetzt"  beherrscht,  der  in  sich  selbst  noch  keinerlei  weitere 
Differenzierung  erfahren  hat  — ■  auf  der  zweiten  beginnen  sich  bestimmte 
zeitliche  „Formen"  gegeneinander  abzuheben,  beginnt  die  vollendete 
Handlung  sich  von  der  unvollendeten,  die  dauernde  von  der  vorüber- 
gehenden zu  scheiden,  so  daß  ein  bestimmter  Unterschied  der  zeitlichen 
Aktionsarten  sich  herausbildet  —  bis  zuletzt  der  reine  Relationsbegriff 
der  Zeit  als  abstrakter  Ordnungsbegriff  gewonnen  wird  und  die  ver- 
schiedenen Zeitstufen  in  ihrem  Gegensatz  und  in  ihrer  wechselseitigen 
Bedingtheit  klar  hervortreten.  — 

Denn  wie  von  den  Relationen  des  Raumes,  so  gilt  noch  mehr  von  denen 
der  Zeit,  daß  sie  nicht  sogleich  als  Beziehungen  zum  Bewußtsein  kom- 
men, sondern  daß  ihr  reiner  Beziehungscharakter  immer  nur  in  der  Ver- 
schmelzung und  Verhüllung  mit  anderen  Bestimmungen,  insbesondere  mit 
Dingcharakteren  und  Eigenschaftscharakteren,  hervortritt.  Wenn  die  ört- 
lichen Bestimmungen  gegenüber  den  sonstigen  sinnlichen  Qualitäten, 
durch  welche  sich  die  Dinge  unterscheiden,  gewisse  auszeichnende  Merk- 
male besitzen,  so  stehen  sie  doch  als  Qualitäten  mit  ihnen  auf  ein  und 
derselben  Stufe.  Das  „Hier"  und  „Dort"  haftet  dem  Gegenstand,  von  dem 
es  ausgesagt  wird,  nicht  anders  an,  als  irgendein  sonstiges  „Dies"  und 
„Das".  So  müssen  alle  Bezeichnungen  der  Raumform  von  bestimmten 
stofflichen  Bezeichnungen  ihren  Anfang  nehmen.  Indem  dieseAuf fassung 
sich  vom  Raum  auf  die  Zeit  überträgt,  erscheinen  auch  hier  die  zeitlichen 
Bedeutungsunterschiede  zunächst  als  reine  Eigenschaftsunterschiede.  Es 
ist  hierfür  besonders  charakteristisch,  daß  sie  keineswegs  allein  am  Ver- 
bum,  sondern  auch  am  Nomen  hervortreten.  Für  die  Betrachtungsweise, 
die  sich  in  unseren  entwickelten  Kultursprachen  durchgesetzt  hat,  haftet  die 
Zeitbestimmung  wesentlich  denjenigen  Redeteilen  an,  die  einen  Vorgangs- 
oder Tätigkeitsausdruck  in  sich  schließen.  Der  Sinn  der  Zeit  und  die 
Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen,  die  sie  in  sich  faßt,  kann  nirgends 
anders  als  am  Phänomen  der  Veränderung  ergriffen  und  fixiert  werden. 
Das  Verbum,  als  Ausdruck  eines  bestimmten  Zustandes,  von  dem  die  Ver- 
änderung anhebt  oder  als  Bezeichnung  des  Aktes  des  Übergangs  selbst, 
erscheint  daher  als  der  eigentliche  und  einzige  Träger  der  zeitlichen  Be- 
stimmungen :  es  scheint  das  „Zeitwort"  xar  e^oxrjv  zu  sein.  Noch  Humboldt 
hat  diesen  Zusammenhang  aus  der  Natur  und  Eigenart  der  Zeitvorstellung 
einerseits,  der  Verbalvorstellung  andererseits  als  notwendig  zu  erweisen 
gesucht.  Das  Verbum  ist  nach  ihm  das  Zusammenfassen  eines  energischen 
Attributivum  (nicht  eines  bloß  qualitativen)  durch  das  Sein.  Im  energi- 


sehen  Attributivum  liegen  die  Stadien  der  Handlung,  im  Sein  die  der 
Zeit1.  Aber  neben  dieser  allgemeinen  Betrachtung,  die  sich  in  dar  Ein- 
leitung zum  Kawi-Werk  findet,  steht  freilich  in  dem  Werke  selbst  der 
Hinweis,  daß  nicht  alle  Sprachen  diese  Beziehung  in  gleicher  Deutlichkeit 
ausprägen.  Während  wir  gewohnt  seien,  die  Beziehung  der  Zeit  nur  in 
Verbindung  mit  dem  Verbum  als  Teil  der  Konjugation  zu  denken,  hätten 
z.  B.  die  malayischen  Sprachen  einen  Gebrauch  entwickelt,  der  sich  nicht 
anders  als  dadurch  erklären  lasse,  daß  sie  diese  Beziehung  an  das  Nomen 
anknüpfen2.  In  großer  Klarheit  tritt  dieser  Gebrauch  dort  hervor,  wo 
die  Sprache  dieselben  Mittel,  die  sie  zur  Unterscheidung  örtlicher  Verhält- 
nisse ausgebildet  hat,  unmittelbar  auch  für  die  Unterscheidung  zeitlicher 
Bestimmungen  verwendet.  Das  Somali  benutzt  die  früher  erwähnte  Diffe- 
renzierung in  den  Vokalen  des  bestimmten  Artikels  nicht  nur,  um  damit 
Unterschiede  der  räumlichen  Stellung  und  Lage,  sondern  auch  um  zeit- 
liche Unterschiede  zur  Darstellung  zu  bringen.  Die  Entwicklung  und  Be- 
zeichnung der  Temporalvorstellungen  geht  hier  der  der  Lokalvorstellun- 
gen genau  parallel.  Mittels  der  drei  Artikelvokale  können  reine  Nomina, 
die  für  unsere  Vorstellung  nicht  das  Geringste  von  einer  zeitlichen  Be- 
stimmung in  sich  tragen,  also  z.  B.  Worte  wie  „Mann"  oder  „Krieg", 
mit  einem  gewissen  zeitlichen  Index  versehen  werden.  Der  Vokal  -a  dient 
zur  Bezeichnung  des  zeitlich  Gegenwärtigen,  der  Vokal -o  bezeichnet  das 
zeitlich  Abwesende,  wobei  zwischen  der  Zukunft  und  der  noch  wenig  ent- 
fernten Vergangenheit  kein  Unterschied  gemacht  wird.  Auf  Grund  dieser 
Trennung  wird  dann  erst  mittelbar  auch  am  Ausdruck  der  Handlung 
scharf  unterschieden,  ob  sie  abgeschlossen  oder  noch  nicht  abgeschlossen 
ist,  ob  sie  punktuell  ist  oder  eine  größere  oder  geringere  Dauer  in  sich 
schließt3.  Eine  solche  Ausprägung  reiner  Temporalcharaktere  am  Nomen 
könnte  leicht  als  Beweis  eines  besonders  geschärften  und  verfeinerten 
Zeitsinnes  aufgefaßt  werden  —  wenn  sich  nicht  auf  der  anderen  Seite 
zeigte,  daß  gerade  hier  Zeitsinn  und  Ortssinn  insofern  noch  völlig  inein- 
anderfließen, als  das  Bewußtsein  für  das  Spezifische  der  zeitlichen 
Richtungen  noch  ganz  unentwickelt  ist.  Wie  der  Inhalt  des  Hier 
und  Dort,  so  treten  auch  der  Inhalt  des  Jetzt  und  Nicht- Jetzt  deut- 
lich auseinander,  aber  der  Gegensatz  von  Vergangenheit  und  Zukunft 

1  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  223). 

2  Kawi-Werk  II,  286. 

3  Näheres  bei  M.  v.  Tiling,  a.  a.  0.,  S.  1 45 f.  Solche  zeitlichen  Indices  am  Nomen 
finden  sich  auch  häufig  in  den  amerikanischen  Eingeborenensprachen,  s.  z.  B.  Boas, 
Handbook  of  Americ.  Ind.  Lang.  I,  39;  Goddard,  Athapascan  (ibid.  I,  110)  u.  s. 


I72 


tritt  hinter  dieser  Unterscheidung  durchaus  zurück  und  damit  wird 
gerade  dasjenige  Moment,  das  für  das  Bewußtsein  der  reinen  Zeit- 
form und  ihrer  Eigenart  entscheidend  ist,  in  seiner  Entwicklung  hint- 
angehalten. 

Die  Entwicklung  der  Kindersprache  zeigt  einerseits,  daß  die  Bildung 
der  Zeitadverbien  erst  wesentlich  später,  als  die  der  Raumadverbien  er- 
folgt, und  daß  andererseits  Ausdrücke,  wie  „heute",  „gestern"  und  „mor- 
gen" anfangs  keinerlei  scharf  abgegrenzten  zeitlichen  Sinn  besitzen.  Das 
„Heute"  ist  der  Ausdruck  der  Gegenwart  überhaupt,  das  „Morgen"  und 
„Gestern"  der  Ausdruck  für  die  Zukunft  oder  Vergangenheit  über- 
haupt: es  werden  also  damit  zwar  bestimmte  zeitliche  Qualitäten  unter- 
schieden, aber  ein  quantitatives  Maß,  ein  Maß  zeitlicher  Abstände,  wird 
nicht  erreicht1.  Noch  einen  Schritt  weiter  zurück  scheint  uns  die  Betrach- 
tung einzelner  Sprachen  zu  führen,  in  denen  auch  die  qualitativen 
Unterschiede  der  Vergangenheit  und  Zukunft  sich  häufig  völlig  ver- 
wischen. Im  Ewe  dient  ein  und  dasselbe  Adverbium  dazu,  ebensowohl 
das  „Gestern",  wie  das  „Morgen"  zu  bezeichnen2.  In  der  Schambala- 
sprache  wird  das  gleiche  Wort  dazu  verwandt,  um  sowohl  auf  die  graue 
Vorzeit  zurück-,  als  auf  die  späte  Zukunft  hinauszuweisen.  „Diese  für 
uns  sehr  auffallende  Erscheinung"  —  so  bemerkt  einer  der  Erforscher 
dieser  Sprache  sehr  bezeichnend  —  „findet  ihre  natürliche  Erklärung 
darin,  daß  die  Ntu-Neger  die  Zeit  anschauen  wie  ein  Ding,  darum  gibt 
es  für  sie  nur  ein  Heute  und  Nichtheute;  ob  das  letztere  gestern  war  oder 
morgen  sein  wird,  ist  den  Leuten  ganz  einerlei,  darüber  reflektieren  sie 
nicht,  denn  dazu  gehört  nicht  nur  ein  Anschauen,  sondern  ein  Denken 
und  eine  begriffliche  Vorstellung  von  dem  Wesen  der  Zeit  .  .  .  Der  Be- 
griff „Zeit"  ist  den  Schambala  fremd,  sie  kennen  eben  nur  die  Anschau- 
ung der  Zeit.  Wie  schwer  es  uns  Missionaren  geworden  ist,  uns  von 
unserem  Zeitbegriff  zu  emanzipieren  und  die  Zeitanschauung  der  Scham- 
bala zu  verstehen,  geht  daraus  hervor,  daß  wir  jahrelang  nach  einer 
Form  gesucht  haben,  welche  nur  das  Futurum  bezeichnet;  wie  oft  waren 
wir  glücklich,  diese  Form  gefunden  zu  haben,  um  später,  manchmal  frei- 
lich erst  nach  Monaten,  zu  erkennen,  daß  die  Freude  verfrüht  war,  denn  es 
ergab  sich  jedesmal,  daß  die  gefundene  Form  auch  für  die  Vergangenheit 

1  Nähere  Angaben  bei  Cl.  und  W.  Stern,  Die  Kindersprache,  S.  23iff. 

2  Westermann,  Ewe-Grammatik,  S.  129;  die  gleiche  Erscheinung  in  vielen  amerika- 
nischen Sprachen  s.  z.  B.  v.  d.  Steinen,  Die  Bakairi-Sprache,  Lpz.  1892,  S.  355.  Im 
Tlingit  wird  ein  und  dasselbe  Präfix  gu-  oder  ga-  verwendet,  um  Zukunft  und  Ver- 
gangenheit zu  bezeichnen  (Boas,  Handb.  I,  176),  wie  auch  das  lat.  olim  (von  ille)  die 
graue  Vorzeit  und  die  ferne  Zukunft  (vgl.  das  deutsche:  ,einst')  bezeichnet. 


i73 


gebraucht  wurde1."  Diese  Anschauung  der  Zeit  als  eines  Dinges  drückt 
sich  u.a.  auch  darin  aus,  daß  die  Verhältnisse  der  Zeit  durch  Nomina, 
denen  ursprünglich  eine  räumliche  Bedeutung  anhaftet,  wiedergegeben 
werden2.  Und  ebenso  wie  vom  Ganzen  der  Zeit  im  Grunde  immer  nur 
das  jeweilige  im  Bewußtsein  gegenwärtige  Zeitstück  erfaßt  und  den 
anderen  nicht-gegenwärtigen  Teilen  gegenübergestellt  wird,  so  macht  sich 
die  gleiche  dingliche  Zerstückung  auch  in  der  Auffassung  der  Handlung 
und  Tätigkeit  geltend.  Die  Einheit  der  Handlung  „zerfällt"  buchstäblich 
in  derartige  dingliche  Einzelstücke.  Eine  Handlung  kann,  auf  der  Stufe, 
auf  der  wir  hier  stehen,  nur  dadurch  dargestellt  werden,  daß  die  Sprache 
sie  in  alle  ihre  Einzelheiten  zerlegt  und  jede  derselben  zur  gesonderten 
Darstellung  bringt.  Und  bei  dieser  Zerlegung  handelt  es  sich  nicht  um 
eine  gedankliche  Analyse  —  denn  diese  geht  mit  der  Synthese,  mit  der 
Erfassung  der  Form  des  Ganzen,  Hand  in  Hand  und  bildet  zu  ihr  das 
korrelative  Moment  — ,  sondern  um  ein  sozusagen  materielles  Zerschlagen 
der  Handlung  in  ihre  Bestandteile,  deren  jeder  nun  als  ein  für  sich  be- 
stehendes objektives  Dasein  angeschaut  wird.  So  wird  es  z.  B.  als  eine 
gemeinsame  Eigentümlichkeit  einer  großen  Anzahl  afrikanischer  Sprachen 
bezeichnet,  daß  sie  jeden  Vorgang  und  jede  Tätigkeit  in  ihre  Teile  zer- 
legen und  jeden  Teil  für  sich  in  einem  selbständigen  Satz  zur  Darstel- 
lung bringen.  Das  Tun  wird  in  all  seinen  Einzelheiten  beschrieben  und 
jede  dieser  Einzelhandlungen  wird  durch  ein  besonderes  Verbum  aus- 
gedrückt. Ein  Vorgang  etwa,  den  wir  durch  den  einzigen  Satz:  „er  er- 
trank" bezeichnen,  muß  hier  durch  die  Sätze:  „er  trank  Wasser,  starb" 
wiedergegeben  werden;  die  Tätigkeit,  die  wir  als  „abschneiden"  be- 
zeichnen, wird  durch  „schneiden,  fallen",  die  Tätigkeit  des  Bringens  durch 
„nehmen,  dorthin  gehen"  wiedergegeben3.  Steinthal  hat  diese  Erschei- 
nung, die  er  mit  Beispielen  aus  den  Mande-Negersprachen  belegt,  psy- 
chologisch damit  zu  erklären  gesucht,  daß  er  sie  auf  eine  „mangelhafte 
Verdichtung  der  Vorstellungen"  zurückführt4.  Aber  eben  diese  „mangel- 
hafte Verdichtung"  weist  deutlich  auf  eine  Grundeigentümlichkeit  der 
Zeitvorstellung  jener  Sprachen  zurück.  Weil  hier  nur  die  einfache  Schei- 
dung des  Jetzt  und  Nicht-Jetzt  besteht,  so  ist  nur  der  relativ  kleine  Aus- 

1  Roehl,  Versuch  einer  systemat.  Grammatik  der  Schambalasprache,  Hamburg  191 1, 
S.  io8f. 

2  Vgl.  Codrington,  Melanesian  languages,  S.  i64f. 

3  S.  hierf.  die  Beispiele  aus  dem  Ewe  und  anderen  Sudansprachen  bei  Westermann, 
Ewe-Grammat.,  S.  95,  u.  Sudansprachen,  S.  48 ff.,  aus  der  Nubasprache  bei  Reinisch, 
Die  Nuba-Sprache,  Wien  1879,  S.  5a. 

*  S.  Steinthal,  Die  Mande-Negersprache,  S.  222. 

174 


schnitt  des  Bewußtseins,  der  unmittelbar  von  dem  Licht  des  Jetzt  ge- 
troffen wird,  für  dasselbe  im  eigentlichen  Sinne  vorhanden.  Das  Ganze 
einer  Handlung  kann  daher  nicht  anders  apperzipiert,  nicht  anders  ge- 
danklich und  sprachlich  erfaßt  werden,  als  dadurch,  daß  das  Bewußt- 
sein es  sich  in  all  seinen  Einzelstadien  im  buchstäblichen  Sinne  „ver- 
gegenwärtigt*daß  es  diese  Stadien,  eins  nach  dem  anderen,  gleichsam  in 
die  Helle  des  Jetzt  hineinrückt.  So  entsteht  hier  eine  Fülle  von  Bezeich- 
nungen ;  so  wird  ein  Mosaikstift  neben  den  anderen  gesetzt :  aber  das  Er- 
gebnis ist  nicht  die  Einheit,  sondern  nur  die  Buntheit  des  Bildes.  Denn 
jede  Einzelheit  ist  für  sich  genommen,  ist  nur  punktuell  bestimmt:  aus 
einem  solchen  Aggregat  von  lauter  einfachen  Gegenwartspunkten  aber 
kann  die  Vorstellung  des  echten  zeitlichen  Kontinuums  nicht  erwachsen. 

Für  die  Form,  die  diese  Sprachen  zum  Ausdruck  der  Bewegung  und 
der  Handlung  besitzen,  gilt  daher  in  der  Tat  der  Zenonische  Einwand: 
hier  ruht  im  Grunde  der  fliegende  Pfeil,  weil  er  in  jedem  Moment 
seiner  Bewegung  nur  eine  fixe  Lage  besitzt.  Das  entwickelte  Zeitbewußt- 
sein befreit  sich  aus  dieser  Schwierigkeit  und  Paradoxie,  indem  es  ganz 
neue  Mittel  zur  Erfassung  von  zeitlichen  „Ganzheiten"  erschafft.  Es  setzt 
das  Ganze  der  Zeit  nicht  mehr  als  substantielles  Ganze  aus  den  einzelnen 
Augenblicken  zusammen,  sondern  erfaßt  es  als  ein  funktionales  und  als 
ein  dynamisches  Ganze :  als  eine  Einheit  der  Beziehung  und  als  eine  Ein- 
heit der  Wirkung.  Die  Anschauung  der  zeitlichen  Einheit  der  Handlung 
geht  einerseits  von  dem  Subjekt  aus,  das  in  ihr  begriffen  ist,  anderer- 
seits von  dem  Ziel,  auf  das  sie  gerichtet  ist.  Beide  Momente  liegen  in  ganz 
verschiedenen  Ebenen;  aber  die  synthetische  Kraft  des  Zeitbegriffs  be- 
währt sich  eben  darin,  daß  er  ihre  Gegensätzlichkeit  in  eine  wechselseitige 
Bezüglichkeit  verwandelt.  Der  Prozeß  des  Tuns  kann  jetzt  nicht  mehr  in 
lauter  einzelne  Phasen  auseinanderfallen,  da  hinter  ihm  von  Anfang  an 
die  einheitliche  Energie  des  handelnden  Subjekts  und  vor  ihm  der  ein- 
heitliche Zweck  des  Tuns  steht.  Indem  in  dieser  Weise  die  Momente  der 
Handlung  sich  zu  einer  kausalen  und  teleologischen  Gesamtreihe,  zur 
Einheit  einer  dynamischen  Verknüpfung  und  einer  teleologischen  Be- 
deutung zusammenschließen,  wächst  hieraus  erst  mittelbar  die  Einheit 
der  zeitlichen  Vorstellung  hervor.  Im  vollentwickelten  sprachlichen  Be- 
wußtsein prägt  sich  diese  neue  Gesamtansicht  darin  aus,  daß  die  Sprache 
nunmehr,  um  das  Ganze  eines  Vorgangs  oder  eines  Tuns  zu  kennzeichnen, 
nicht  mehr  der  Anschauung  aller  Einzelheiten  seines  Verlaufs  bedarf, 
sondern  sich  damit  begnügt,  den  Anfangs-  und  Endpunkt,  das  Subjekt, 
von  dem  das  Tun  ausgeht,  und  das  objektive  Ziel,  auf  das  es  gerichtet  ist, 


175 


zu  fixieren.  Ihre  Kraft  erweist  sich  jetzt  darin,  daß  sie  die  ganze  Weite 
dieses  Gegensatzes  in  einem  einzigen  Blick  zu  umfassen  und  ihn  eben  da- 
mit zu  überbrücken  vermag:  —  die  Spannung  zwischen  den  beiden  Ex- 
tremen hat  sich  verschärft,  aber  zugleich  springt  jetzt  gleichsam  der 
geistige  Funke  über,  der  zwischen  ihnen  den  Ausgleich  schafft. 

Dieser  Ansicht  von  dem  relativ  komplexen  und  vermittelten  Charakter 
des  reinen  Zeitbegriffs  scheinen  freilich  auf  den  ersten  Blick  die  An- 
gaben zu  widersprechen,  die  sich  in  der  Grammatik  „primitiver"  Sprachen 
über  die  „Zeitform  des  Verbum"  finden.  Gerade  den  Sprachen  der  „Pri- 
mitiven" wird  vielfach  ein  überraschender,  für  uns  kaum  faßbarer  Reich- 
tum an  „Tempusformen"  nachgerühmt.  Im  Sotho  werden  von  Ende- 
mann  38  affirmative  Tempusformen,  dazu  22  im  Potential,  4  Formen 
im  Optativ  bezw.  Final,  eine  große  Zahl  partizipialer  Bildungen,  [\o  kon- 
ditionale Formen  u.  and.  angeführt;  im  Schambala  sind  nach  der  Gram- 
matik von  Roehl  allein  im  Indikativ  des  Aktiv  etwa  1000  Verbalformen 
zu  unterscheiden1.  Die  Schwierigkeit,  die  hierin  zu  liegen  scheint,  löst 
sich  indes,  wenn  man  erwägt,  daß  es  sich  in  solchen  Unterscheidungen» 
nach  den  Angaben  der  Grammatiker  selbst,  um  alles  andere  als  um  die 
Bestimmung  eigentlich  zeitlicher  Nuancen  handelt.  Daß  im  Schambala 
gerade  die  zeitliche  Grundnuance,  der  Gegensatz  von  Vergangenheit  und 
Zukunft  in  keiner  Weise  entwickelt  ist,  hat  sich  bereits  gezeigt  —  und  für 
die  sogen.  „Tempora"  des  Verbums  in  den  Bantusprachen  wird  aus- 
drücklich hervorgehoben,  daß  sie  nicht  als  strenge  Zeitformen  in  dem 
Sinne  zu  betrachten  seien,  daß  für  sie  lediglich  die  Frage  des  Früher  oder 
Später  in  Betracht  käme.  Was  die  Fülle  dieser  Verbalformen  ausdrückt, 
sind  demnach  nicht  reine  Zeitcharaktere  der  Handlung,  sondern  gewisse 
qualitative  und  modale  Unterschiede,  die  an  ihr  gemacht  werden.  „Eine 
Zeitdifferenz"  —  so  betont  z.  B.  Seier  für  das  Verbum  der  Indianer- 
sprachen —  „kommt  durch  verschiedene  Partikeln  oder  durch  Verbin- 
dung mit  anderen  Verben  zustande,  spielt  aber  bei  weitem  nicht  die  Rolle 
in  der  Sprache,  die  man  nach  den  ausgeführten  Konjugationsschematen 
der  verschiedenen  geistlichen  Grammatiker  vermuten  sollte.  Und  weil 
die  Tempusdifferenz  etwas  Unwesentliches  und  Akzessorisches  ist,  darum 
finden  sich  auch  gerade  in  der  Tempusbildung  die  größten  Verschieden- 
heiten zwischen  sonst  eng  verwandten  Sprachen2."  Aber  auch  dort,  wo 

1  S.  Roehl,  Schambalagrammat.,  S.  inff.,  u.  Meinhof,  Vgl.  Grammat.  der  Bantu- 
sprachen, S.  68,  75. 

2  Seier,  Das  Konjugationssystem  der  Maya-Sprachen,  Berlin  1887,  S.  3o.  —  Ebenso 
sagt  K.  v.  d.  Steinen  yon  der  Bakairi-Sprache  (a.  a.  0.  S.  371  f.),  daß  sie  Tempora  in 

176 


die  Sprache  damit  beginnt,  die  zeitlichen  Bestimmungen  deutlicher  aus- 
zuprägen, geschieht  dies  nicht  in  dem  Sinne,  daß  sie  ein  scharfes  und 
folgerechtes  System  der  relativen  Zeitstufen  aufbaut.  Die  ersten  Un- 
terschiede, die  sie  macht,  tragen  nicht  einen  derartig  relativen,  sondern 
gewissermaßen  einen  absoluten  Charakter.  Was  zunächst  erfaßt  wird, 
sind,  psychologisch  gesprochen,  gewisse  zeitliche  „Gestaltqualitäten",  die 
sich  an  einem  Vorgang  oder  an  einer  Handlung  vorfinden.  Es  ist  ein  an- 
deres, ob  eine  Handlung  „plötzlich"  einsetzt  oder  ob  sie  sich  allmählich 
entwickelt,  ein  anderes,  ob  sie  sich  sprunghaft  vollzieht  oder  kontinuier- 
lich abläuft,  ein  anderes,  ob  sie  ein  einziges  unzerlegtes  Ganzes  ausmacht 
oder  sich  etwa  in  gleichartige,  rhythmisch  sich  wiederholende  Phasen 
gliedert.  Aber  all  diese  Unterschiede  sind  für  die  konkrete  Auffassung, 
der  die  Sprache  folgt,  nicht  sowohl  begriffliche,  als  anschauliche,  nicht 
sowohl  quantitative,  als  qualitative  Differenzen.  Die  Sprache  bringt  sie 
zum  Ausdruck,  indem  sie,  früher  als  sie  zur  scharfen  Unterscheidung  der 
„Tempora"  als  eigentlicher  Relationsstufen  übergeht,  die  Verschiedenheit 
der  „Aktionsarten"  bestimmt  ausprägt.  Hier  handelt  es  sich  noch  keines- 
wegs um  die  Auffassung  der  Zeit  als  einer  allgemeinen  Beziehungs-  und 
Ordnungsform,  die  alles  Geschehen  umfaßt,  als  eines  Inbegriffs  von 
Stellen,  deren  jede  zur  anderen  ein  bestimmtes  eindeutiges  Verhältnis  des 
,Vor'  und  ,Nach',  des  , Früher*  oder  , Später*  besitzt.  Vielmehr  hat  hier 
noch  jeder  einzelne  Vorgang,  der  durch  eine  bestimmte  Aktionsart  darge- 
stellt wird,  gleichsam  seine  eigene  Zeit  —  eine  „Zeit  für  sich",  an  der 
gewisse  Formeigentümlichkeiten,  bestimmte  Weisen  ihrer  Gestaltung  und 
ihres  Ablaufs  hervorgehoben  werden.  In  dem  Nachdruck,  mit  dem  die 
einzelnen  Sprachen  bald  die  Unterschiede  der  relativen  Zeitstufe,  bald  die 
Unterschiede  der  reinen  Aktionsarten  betonen,  weichen  sie  bekanntlich 
sehr  erheblich  voneinander  ab.  Die  semitischen  Sprachen  gehen,  statt  von 
der  Dreiteilung  in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  von  einer  ein- 
fachen Zweiteilung  aus,  indem  sie  lediglich  den  Gegensatz  der  vollendeten 
und  der  unvollendeten  Handlung  betrachten.  Das  Tempus  der  vollen- 
deten Handlung,  das  „Perfektum",  kann  demnach  ebensowohl  als  Aus- 
druck der  Vergangenheit  wie  als  Ausdruck  der  Gegenwart  benutzt  wer- 

unserem  Sinne  entschieden  nicht  besitze,  dagegen  modale  Ausdrücke  für  ihre  Verbal- 
flexionen verwende,  deren  genauer  Wert  freilich  aus  dem  vorliegenden  Material  nicht 
bestimmt  werden  könne  und  einem  Europäer  vielleicht  überhaupt  unzugänglich  bleibe. 
Von  der  Fülle  solcher  modalen  Abstufungen  gewinnt  man  ein  klares  Bild  aus  der 
Übersieh*,  die  Roehl  (a.  a.  O.  S.  mff.)  über  die  Verbalformen  des  Schambala  ge- 
geben hat. 


12 


177 


den,  wenn  nämlich  eine  Handlung  bezeichnet  werden  soll,  die  schon  in 
der  Vergangenheit  angefangen  hat,  sich  aber  in  die  Gegenwart  fortsetzt 
und  sich  unmittelbar  in  sie  erstreckt  —  andererseits  kann  das  „Imperfek- 
tum", das  eine  schon  im  Werden  begriffene,  aber  noch  nicht  vollendete 
Handlung  ausdrückt,  in  diesem  Sinne  für  eine  Handlung  jeder  Zeitstufe, 
für  eine  künftige  sowohl,  wie  für  eine  gegenwärtige  oder  vergangene  ge- 
braucht werden1.  Aber  auch  dasjenige  Sprachgebiet,  in  dem  der  reine  Rela- 
tionsbegriff der  Zeit  und  der  Ausdruck  der  reinen  Zeitunterschiede  der 
Handlung  zur  relativ  höchsten  Durchbildung  gelangt  ist,  hat  diese  Durchbil- 
dung nicht  ohne  mannigfache  Vermittlungen  und  Zwischenstufen  erreicht. 
Die  Entwicklung  der  indogermanischen  Sprachen  zeigt,  daß  auch  in  ihnen 
die  Unterscheidung  der  Aktionsarten  derjenigen  der  eigentlichen ,, Tempora" 
vorausgegangen  ist.  In  der  indogermanischen  Urzeit  —  so  betont  z.  B. 
Streitberg  —  hat  es  überhaupt  keine  ,Tempora',  d.h.  keine  formalen 
Kategorien  gegeben,  deren  ursprüngliche  Funktion  es  war,  zur  Bezeich- 
nung der  relativen  Zeitstufen  zu  dienen.  „Die  Formenklassen,  die  wir 
/Tempora'  zu  nennen  gewohnt  sind,  haben  an  sich  mit  der  relativen  Zeit- 
stufe nicht  das  geringste  zu  schaffen.  Zeitlos  sind  vielmehr  alle  Prä- 
sensklassen, alle  Aoriste,  alle  Perfecta  in  allen  ihren  Modis,  und  sie  un- 
terschieden sich  voneinander  nur  durch  die  Art  der  Handlung,  die  sie 
charakterisierten.  Gegenüber  dieser  Fülle  von  Formen,  die  zur  Unter- 
scheidung der  Aktionsarten  dienten,  nehmen  sich  die  Mittel,  die  das  Indo- 
germanische zur  Bezeichnung  der  Zeitstufen  in  Anwendung  brachte,  be- 
scheiden, ja  ärmlich  genug  aus.  Für  die  Gegenwart  war  eine  besondere 
Bezeichnung  überhaupt  nicht  vorhanden,  hier  genügte  die  zeitlose  Hand- 
lung vollauf.  Die  Vergangenheit  aber  ward  durch  ein  zur  Verbalform 
tretendes  temporales  Adverbium  ausgedrückt:  das  Augment  .  .  .  Die  Zu- 
kunft endlich  ward,  wie  es  scheint,  in  indogermanischer  Urzeit  nicht  auf 
einheitliche  Weise  ausgedrückt.  Eines  dieser  Mittel,  vielleicht  das  ur- 
sprünglichste, war  eine  modale  Form  von  wahrscheinlich  voluntati- 
vischer  Bedeutung2."  Dieser  Vorrang  der  Bezeichnung  der  Aktionsart  vor 
der  Zeitstufe  tritt  auch  in  der  Entwicklung  der  einzelnen  indogerma- 

1  Näheres  über  den  Gebrauch  der  „Tempora"  in  den  semitischen  Sprachen  s.  bei 
Brockelmann,  Grundriß  II,  1 44f f -  Auch  für  die  ural-altaischen  Sprachen  betont 
H.  Winkler  (Das  Uralaltaische,  S.  i5o,),  daß  in  dem  uralaltaischen  „Verbalnomen" 
gegenüber  der  Fülle  determinierender  und  modaler  Bestimmungen,  die  es  enthält,  das 
„ureigentliche  Verbalgebiet",  die  Zeitenbildung,  absolut  zurücktrete,  daß  sie  als  sekun- 
där, fast  nebensächlich  erscheine. 

2  Streitberg,  Perfektive  und  imperfektive  Aktionsart  (Paul-Braune-Beiträge  XV  [  1891  ] , 
S.n7f.). 


178 


nischen  Sprachen,  wenngleich  in  verschiedenem  Maße,  deutlich  zutage1. 
Für  den  Unterschied  der  momentanen  und  der  dauernden  Handlung  haben 
viele  dieser  Sprachen  ein  eigenes  lautliches  Mittel  ausgebildet,  sofern  die 
Formen,  die  zum  Ausdruck  der  momentanen  Handlung  dienten,  vom  Ver- 
balstamm mit  einfachem  Wurzelvokal,  die  Ausdrücke  für  die  dauernde 
Handlung  dagegen  vom  Verbalstamm  mit  gesteigertem  Wurzelvokal  ge- 
bildet wurden2.  Allgemein  pflegt  man  in  der  Grammatik  der  indogerma- 
nischen Sprachen  seit  G.  Gurtius  die  „punktuelle"  Aktion  von  der  „kur- 
siven" zu  unterscheiden,  welcher  Unterscheidung  dann  die  weiteren  Dif- 
ferenzen der  perfektischen,  der  iterativen,  der  intensiven,  der  terminativen 
Aktion  u.  a.  zur  Seite  treten3.  Die  einzelnen  Sprachen  des  indogermani- 
schen Kreises  weichen  hierbei  in  der  Schärfe,  mit  der  sie  diese  Diffe- 
renzen ausprägen,  sowie  in  dem  Grad  der  Ausbildung,  den  ihnen  gegen- 
über die  rein  temporalen  Bestimmungen  erhalten,  z.  T.  erheblich  von- 
einander ab4;  aber  immer  ist  deutlich,  daß  die  scharfe  Bezeichnung  der 
relativen  Zeitstufe  ein  verhältnismäßig  spätes  Ergebnis  ist,  während  die 
Bezeichnung  der  allgemeinen  „Zeitgestalt"  eines  Vorgangs  oder  einer 
Handlung  einer  früheren  Schicht  des  Denkens  und  Sprechens  anzuge- 
hören scheint. 

Am  weitesten  entfernt  von  der  primären  Stufe  der  Zeitanschauung 

1  Für  das  Griechische  vgl.  z.B.  Brugmann,  Griech.  Grammat.  3,  S.  469:  »Zur  Ak- 
tionsart mußte  seit  urgriechischer  Zeit  jeder  Verbalbegriff  in  irgendein  Verhältnis  tre- 
ten, zu  der  Kategorie  der  Zeitstufe  nicht.  Es  gab  von  uridg.  Zeit  her  sehr  viele  zeit- 
stufenlose  Verbalformationen,  aber  keine  ohne  Aktionsart."  Ein  Vergleich  der  home- 
rischen mit  der  altattischen  Sprache  zeigt,  daß  es  erst  ganz  allmählich  im  Griechischen 
mehr  und  mehr  zur  Regel  wird,  das  Zeitverhältnis  durch  das  Verbum  selbst  zu  unzwei- 
deutigem Ausdruck  zu  bringen  (ibid.). 

2  So  werden  im  Griechischen  Stämme  wie  Xaß,  md-,  q?vy  in  der  ersteren  Funktion,  dagegen 
Stämme  wie  Xafxß,  jzetfi,  <pevy  in  der  zweiten  verwendet:  näheres  bei  G.  Gurtius,  Zur 
Chronologie  der  indogerm.  Sprachforschung,  Abh.  der  Kgl.  Sächs.  Ges.  d.  Wiss. 
Phil.-hist.  Klasse  V  (1870),  S.  2291L 

3  S.  G.  Curtius,  Die  Bildung  der  Tempora  und  Modi  im  Griechischen  u.  Lateinischen. 
Sprachvergl.  Beiträge  I  (i846),  S.  iöoff. 

4  Im  Flexionssystem  der  germanischen  Sprachen  treten  die  Unterschiede  der  Aktions- 
arten, obwohl  sie  auch  hier  in  vielen  sprachlichen  Einzelerscheinungen  deutlich  erkennbar 
bleiben  (vgl.  z.  B.  H.  Paul,  Die  Umschreibung  des  Perfektums  im  Deutschen  mit 
haben  und  sein,  Abh.  der  k.  bayer.  Akad.  d.  Wiss.,  I.  Cl.,  XXII,  161  ff.)  schon  früh 
in  ihrer  Bedeutung  zurück;  dagegen  erhalten  sie  sich  sehr  deutlich  in  den  baltisch- 
slawischen Sprachen,  die  insbesondere  den  Gegensatz  der  „perfektiven"  und  „imper- 
fektiven" Aktion  weiterbilden  und  ihm  gemäß  alle  Verba  in  zwei  Klassen  scheiden. 
Näheres  bei  Lesk  ien,  Grammatik  der  altbulgarischen  (altkirchenslawischen)  Sprache, 
Heidelb.  1909,  S.  2i5ff. 


12* 


119 


sind  schließlich  diejenigen  sprachlichen  Ausdrücke,  die  zu  ihrer  Bildung 
bereits  eine  Form  der  Zeitmessung  voraussetzen,  die  also  die  Zeit  als 
einen  scharf  bestimmten  Größenwert  fassen.  Hier  stehen  wir  freilich, 
streng  genommen,  bereits  vor  einer  Aufgabe,  die  über  den  Kreis  der 
Sprache  hinausweist  und  die  erst  in  den  aus  bewußter  Reflexion  entstan- 
denen „künstlichen"  Zeichensyslemen,  wie  sie  die  Wissenschaft  ausbildet, 
ihre  Lösung  finden  kann.  Doch  enthält  die  Sprache  auch  für  diese  neue 
Leistung  eine  entscheidende  Vorbereitung:  denn  die  Entwicklung  des  Sy- 
stems der  Zahlzeichen,  das  den  Grund  für  alle  exakte  mathematische  und 
astronomische  Messung  bildet,  ist  an  die  vorangehende  Ausbildung  der 
Zahlworte  gebunden.  In  drei  verschiedenen,  aber  eng  miteinander  ver- 
knüpften und  wechselseitig  aufeinander  bezogenen  Phasen  entwickelt  die 
Sprache  die  drei  Grundanschauungen  von  Raum,  Zeit  und  Zahl  und 
schafft  damit  erst  die  Bedingung,  an  die  jeder  Versuch  der  intellek- 
tuellen Beherrschung  der  Phänomene  und  jede  Synthesis  derselben  zur 
Einheit  eines  „Weltbegriffs"  gebunden  bleibt. 

III.  Die  sprachliche  Entwicklung  des  Zahlbegriffs 

Wenn  man  von  der  Vorstellung  des  Raumes  zu  der  der  Zeit  und  von 
beiden  wieder  zur  Vorstellung  der  Zahl  fortschreitet,  so  scheint  sich 
darin  der  Kreis  der  Anschauung  erst  zu  vollenden  —  aber  zugleich  sieht 
man  sich  mit  jedem  neuen  Schritt  mehr  und  mehr  über  diesen  Kreis 
hinausgewiesen.  Denn  immer  weiter  weicht  in  diesem  Fortschritt  die  Welt 
der  faßbaren  und  greifbaren  Formen  zurück  —  und  an  ihrer  Statt  baut 
sich  allmählich  eine  neue  Welt:  eine  Welt  der  intellektuellen  Prinzipien 
auf.  In  diesem  Sinne  wird  das  „Sein"  der  Zahl  schon  von  ihren  eigent- 
lichen philosophischen  und  wissenschaftlichen  Entdeckern,  von  den 
Pythagoreern  bestimmt.  Proklos  rühmt  von  Pythagoras,  daß  er  zuerst  die 
Geometrie  zur  freien  Wissenschaft  erhoben  habe,  indem  er  deduktiv  (ävco- 
fiev)  ihre  Prinzipien  erforscht  und  ihre  Lehrsätze  stofflos  und  rein  ge- 
danklich (ävXcog  xal  voegcog)  dargestellt  habe1.  Die  allgemeine  Tendenz, 
die  damit  der  wissenschaftlichen  Mathematik  von  ihrem  ersten  Begründer 
eingeprägt  war,  hat  sich  seither  immer  weiter  verstärkt  und  vertieft. 
Durch  die  Vermittlung  von  Piaton,  von  Descartes  und  Leibniz  teilt  sie 
sich  der  modernen  Mathematik  mit.  Mehr  noch  als  die  antike  Mathematik 
sieht  sich  die  moderne  Auffassung,  indem  sie  versucht,  Geometrie  und 
Analysis  aus  einem  Prinzip  heraus  zu  gestalten,  auf  den  Zahlbegriff  als 

1  Proclus  in  Euclid.,  S.  64,  18  Friedl.  (Diels,  Fragm.  d.  Vorsokr.,  S.  279). 
l8o 


auf  ihr  eigentliches  Zentrum  zurückgewiesen.  Und  immer  bestimmter 
wendet  sich  nun  alle  Arbeit  der  gedanklichen  Begründung  diesem  Mittel- 
punkt zu.  In  der  Mathematik  des  1 9.  Jahrhunderts  tritt  immer  allge- 
meiner das  Bestreben  heraus,  zu  einer  logisch-autonomen  Gestaltung  des 
Zahlbegriffs  durchzudringen.  Auf  verschiedenen  Wegen  wird  dieses  Ziel 
von  Dedekind  und  Russell,  von  Frege  und  Hilbert  verfolgt.  Russell 
versucht  alle  Grundmomente,  auf  denen  die  Zahl  beruht,  auf  rein  „logi- 
sche Konstanten"  zurückzuführen;  Frege  sieht  in  ihr  eine  „Eigenschaft", 
aber  eine  solche,  die,  wie  sie  selbst  unsinnlich  ist,  auch  einem  unsinnlichen 
Inhalt  anhaftet,  die  nicht  sowohl  Eigenschaft  eines  „Dinges",  als  viel- 
mehr Eigenschaft  eines  reinen  Begriffes  ist.  Mit  gleicher  Schärfe  und 
Bestimmtheit  wird  von  Dedekind  in  der  Grundlegung  und  Ableitung  des 
Zahlbegriffs  jede  Anknüpfung  an  anschauliche  Verhältnisse,  jede  Ein- 
mischung meßbarer  Größen  verworfen.  Nicht  auf  die  Anschauung  von 
Raum  und  Zeit  soll  das  Zahlenreich  aufgebaut  werden,  sondern  umge- 
kehrt soll  der  Zahlbegriff  als  ein  „unmittelbarer  Ausfluß  der  reinen 
Denkgesetze"  uns  erst  in  den  Stand  setzen,  wahrhaft  scharfe  und  genaue 
Begriffe  vom  Räumlichen  und  Zeitlichen  zu  gewinnen.  Indem  der  Geist 
sich  ohne  jede  Vorstellung  von  meßbaren  Größen  durch  ein  endliches 
System  einfacher  Denkschritte  zur  Schöpfung  des  reinen  stetigen  Zahlen- 
reiches aufschwingt,  wird  es  ihm  mit  diesem  Hilfsmittel  erst  möglich, 
die  Vorstellung  vom  stetigen  Räume  zu  einer  deutlichen  auszubilden1.  Die 
krilische  Logik  zieht  aus  all  diesen  in  der  exakten  Wissenschaft  selbst 
wurzelnden  Bestrebungen  nur  die  Summe,  indem  sie  davon  ausgeht,  daß 
die  erste  Vorbedingung  für  das  Verständnis  der  Zahl  in  der  Einsicht  be- 
stehe, daß  man  es  bei  ihr  nicht  mit  irgend  gegebenen  Dingen  zu  tun  habe, 
sondern  mit  reinen  Gesetzmäßigkeiten  des  Denkens.  „Die  Zahl  von  den 
Dingen  abzuleiten"  —  so  be'ont  sie  —  „ist,  wenn  unter  Ableiten  Begründen 
verstanden  wird,  ein  offenbarer  Zirkel.  Denn  die  Begriffe  von  Dingen 
sind  komplexe  Begriffe,  in  die  als  einer  der  unerläßlichsten  Bestandteile 
die  Zahl  miteingeht  ...  Es  kann  ja  für  das  Denken  nichts  geben,  das 
ursprünglicher  wäre,  als  es  selbst,  das  Denken,  das  heißt:  das  Setzen  von 
Beziehung.  Was  man  auch  sonst  als  Grund  der  Zahl  in  Anspruch 
nehmen  möchte,  würde  eben  dies,  das  Beziehungsetzen,  einschließen  und 
kann  als  Grund  der  Zahl  nur  darum  erscheinen,  weil  es  den  wahren 
Grund,  das  Beziehungsetzen,  als  Voraussetzung  enthält2." 

1  S.  Dedekind,  Was  sind  u.  was  wollen  die  Zahlen  (1887);  vgl.  Frege,  Die  Grund- 
lagen der  Arithmetik  (i884);  Russell,  The  Principles  of  Malhematics  I  (1903). 

2  Natorp,  Die  logischen  Grundlagen  der  exakten  Wissenschaften  (1910),  S.  g8f. 


l8l 


Aber  je  fester  sich  das  „reine",  das  wissenschaftliche  Denken  hier  auf 
sich  selbst  stellt  und  je  bewußter  es  auf  alle  Stützen  und  Hilfen  der  sinn- 
lichen Empfindung  oder  der  Anschauung  verzichtet:  —  so  scheint  es  doch 
nach  wie  vor  in  den  Kreis  der  Sprache  und  der  sprachlichen  Begriffs- 
bildung gebannt  zu  werden.  Die  wechselseitige  Bindung  des  Sprechens 
und  Denkens  tritt  an  der  logischen  und  der  sprachlichen  Entwicklung 
der  Zahlbegriffe  aufs  neue  in  die  Erscheinung  —  und  sie  erhält  hier 
ihren  vielleicht  deutlichsten  und  bezeichnendsten  Ausdruck.  Nur  durch 
die  Gestaltung  der  Zahl  zum  Wortzeichen  wird  der  Weg  zur  Erfassung 
ihrer  reinen  Begriffsnatur  frei.  So  stellen  die  Zahlzeichen,  die  die  Sprache 
erschafft,  auf  der  einen  Seite  für  die  Gebilde,  die  die  reine  Mathematik 
als  „Zahlen"  bestimmt,  die  unentbehrliche  Voraussetzung  dar;  auf  der 
anderen  Seite  aber  besteht,  freilich  zwischen  den  sprachlichen  und  den 
rein  intellektuellen  Symbolen  eine  unvermeidliche  Spannung  und  ein 
niemals  völlig  aufzuhebender  Gegensatz.  Wenn  die  Sprache  den  letzte- 
ren erst  den  Weg  bereitet,  so  vermag  sie  ihrerseits  diesen  Weg  nicht 
bis  zu  Ende  zu  durchmessen.  Jene  Form  des  „beziehentlichen  Denkens", 
auf  welcher  die  Möglichkeit  der  Setzung  der  reinen  Zahlbegriffe  beruht, 
bildet  für  sie  ein  letztes  Ziel,  dem  sie  sich  in  ihrer  Entwicklung  fort- 
schreitend annähert,  das  sie  aber  innerhalb  ihres  eigenen  Gebiets  nicht 
mehr  vollständig  zu  erreichen  vermag1.  Denn  eben  jenen  entscheidenden 
Schritt,  den  das  mathematische  Denken  von  den  Zahlbegriffen  fordert, 
eben  jene  eigentümliche  Losreißung  und  Emanzipation  von  den  Grund- 
lagen der  Anschauung  und  der  anschaulichen  Dingvorstellung,  vermag 
die  Sprache  nicht  zu  vollziehen.  Sie  haftet  an  der  Bezeichnung  konkreter 
Gegenstände  und  konkreter  Vorgänge  und  bleibt  an  sie  auch  dort  ge- 
bunden, wo  sie  sich  mittelbar  zum  Ausdruck  reiner  Beziehungen  zu 
gestalten  sucht.  Aber  wieder  bewährt  sich  hierin  das  gleiche  dialektische 
Prinzip  des  Fortschritts:  je  tiefer  die  Sprache  in  ihrer  Entfaltung  in  dem 
Ausdruck  des  Sinnlichen  versenkt  scheint,  um  so  mehr  wird  sie  damit 
zum  Mittel  des  geistigen  Befreiungsprozesses  für  das  Sinnliche  selbst. 
An  der  Materie  des  Zählbaren  entfaltet  sich,  so  sinnlich,  so  konkret  und 
beschränkt  sie  zunächst  genommen  wird,  dennoch  die  neue  Form  und 
die  neue  gedankliche  Kraft,  die  in  der  Zahl  beschlossen  liegt. 

Aber  diese  Form  tritt  hier  nicht  sogleich  als  ein  geschlossenes  Ganze 
heraus,  sondern  sie  muß  sich  successiv  aus  ihren  einzelnen  Momenten 
erst  aufbauen.  Eben  darauf  aber  beruht  nun  der  Dienst,  den  die  Betrach- 
tung der  sprachlichen  Entstehung  und  Herausbildung  der  Zahlbegriffe 

1  Vgl.  hrz.  weiter  unten:  Kap.  V. 


l82 


der  logischen  Analyse  zu  leisten  vermag.  Ihrem  logischen  Gehalt  und 
Ursprung  nach  geht  die  Zahl  auf  eine  Durchdringung,  auf  ein  Ineinander 
ganz  verschiedener  Denkmethoden  und  Denkforderungen  zurück.  Das 
Moment  der  Vielheit  geht  hier  in  das  Moment  der  Einheit,  das  der  Son- 
derung in  das  der  Verknüpfung,  das  der  durchgängigen  Unterscheidung 
in  das  der  reinen  Gleichartigkeit  über.  Alle  diese  Gegensätze  müssen  sich 
miteinander  in  ein  reines  geistiges  Gleichgewicht  gesetzt  haben,  damit  der 
„exakte"  Begriff  der  Zahl  sich  bilden  kann.  Dieses  Ziel  bleibt  für  die 
Sprache  unerreichbar;  aber  nichtsdestoweniger  läßt  sich  in  ihr  deutlich 
verfolgen,  wie  die  Fäden,  die  sich  zuletzt  zu  dem  kunstreichen  Gewebe 
der  Zahl  verschlingen,  sich  einzeln  knüpfen  und  sich,  ehe  sie  zu  einem 
logischen  Ganzen  zusammengehen,  einzeln  ausbilden.  In  dieser  Ausbildung 
verfahren  die  verschiedenen  Sprachen  verschieden.  Bald  ist  es  das  eine, 
bald  das  andere  Motiv  der  Zahl-  und  Mehrheitsbildung,  das  sie  heraus- 
lösen und  dem  sie  vor  allen  anderen  eine  bevorzugte  und  gesteigerte  Be- 
deutung geben  —  aber  der  Inbegriff  all  dieser  besonderen  und  in  irgend- 
einer Hinsicht  einseitigen  Ansichten,  die  die  Sprache  vom  Zahlbegriff  ge- 
winnt, macht  doch  zuletzt  eine  Totalität  und  eine  relative  Einheit  aus. 
So  vermag  die  Sprache  den  geistig-intellektuellen  Kreis,  in  welchem  der 
Zahlbegriff  liegt,  von  sich  aus  zwar  nicht  völlig  zu  durchdringen  und  zu 
erfüllen  —  aber  sie  vermag  ihn  seinem  Umfang  nach  zu  umschreiten  und 
damit  mittelbar  seine  Inhalts-  und  Grenzbestimmung  vorzubereiten.  — 

Dabei  bewährt  sich  zunächst  wieder  der  gleiche  Zusammenhang,  der 
uns  in  der  sprachlichen  Erfassung  der  einfachsten  Raumverhältnisse  ent- 
gegengetreten ist.  Die  Unterscheidung  der  Zahlverhältnisse  geht,  wie  die 
der  Raumverhältnisse,  vom  menschlichen  Körper  und  seinen  Gliedmaßen 
aus,  um  sich  von  hier  aus  fortschreitend  über  das  Ganze  der  sinnlich- 
anschaulichen Welt  zu  verbreiten.  Der  eigene  Leib  bildet  überall  das 
Grundmodell  der  ersten  primitiven  Zählungen:  „Zählen"  heißt  zunächst 
gar  nichts  anderes,  als  bestimmte  Unterschiede,  die  sich  an  irgendwelchen 
äußeren  Objekten  finden,  dadurch  bezeichnen,  daß  sie  gleichsam  auf 
den  Körper  des  Zählenden  übertragen  und  an  ihm  sichtbar  gemacht 
werden.  Alle  Zahlbegriffe  sind  demgemäß,  ehe  sie  zu  Wortbegriffen 
werden,  reine  mimische  Handbegriffe  oder  sonstige  Körperbegriffe.  Die 
Zählgebärde  dient  nicht  als  bloße  Begleitung  des  übrigens  selbständigen 
Zahlwortes,  sondern  ist  in  die  Bedeutung  und  in  die  Substanz  desselben 
gleichsam  eingeschmolzen.  Die  Eweer  z.  B.  zählen  an  den  ausgestreckten 
Fingern;  beginnend  am  kleinen  Finger  der  linken  Hand,  indem  sie  mit 
dem  Zeigefinger  der  rechten  Hand  je  den  gezählten  Finger  einknicken: 


i83 


nach  der  linken  Hand  kommt  in  entsprechender  Weise  die  rechte  an  die 
Reihe;  dann  fängt  man  entweder  wieder  von  vorne  an  oder  man  zählt, 
an  der  Erde  hockend,  an  den  Zehen  weiter1.  Im  Nuba  besteht  die  das 
Zählen  beinahe  immer  begleitende  Gebärde  darin,  daß  man,  bei  eins  be- 
ginnend, mit  der  rechten  Hand  zuerst  den  kleinen,  dann  den  Ring-,  Mittel- 
und  Zeigefinger,  endlich  den  Daumen  der  linken  Hand  in  die  Faust  drückt 
und  sodann  dieselbe  Geste  mit  der  linken  an  der  rechten  Hand  vollzieht. 
Bei  der  Zahl  20  werden  die  beiden  Fäuste  horizontal  aneinander  ge- 
drückt2. Ebenso  berichtet  v.  d.  Steinen  von  den  ßakairi,  daß  auch 
der  einfachste  Zählversuch  mißlang,  wenn  das  gezählte  Objekt,  z.  B.  eine 
Hand  voll  Maiskörner,  der  tastenden  Hand  nicht  unmittelbar  dargeboten 
wurde.  „Die  rechte  Hand  tastete  .  .  die  linke  Hand  rechnete.  Ohne  die 
Finger  der  rechten  Hand  zu  gebrauchen,  nur  nach  einer  Betrachtung 
der  Körner  an  den  Fingern  der  linken  Hand  zu  zählen,  war  schon  bei 

3  Stück  ganz  unmöglich3."  Wie  man  sieht,  genügt  es  hier  nicht,  daß  die 
einzelnen  gezählten  Objekte  auf  die  Teile  des  Körpers  irgendwie  bezogen 
werden,  sondern  sie  müssen  gleichsam  unmittelbar  in  körperliche  Teile 
und  in  Körpergefühle  umgesetzt  werden,  damit  der  Akt  der  „Zählung" 
an  ihnen  vonstatten  gehen  kann.  Die  Zahlworte  bezeichnen  daher  nicht 
sowohl  irgendwelche  objektive  Bestimmungen  oder  Verhältnisse  der 
Gegenstände,  als  sie  vielmehr  gewisse  Direktiven  der  körperlichen  Bewe- 
gung des  Zählens  in  sich  schließen.  Sie  sind  Ausdrücke  und  Anzeigen  für 
die  jeweilige  Hand-  oder  Fingerstellung,  die  häufig  in  die  Befehlsform 
des  Verbums  gekleidet  sind.  So  bedeutet  z.  B.  im  Sotho  das  Wort  für  fünf 
eigentlich:  „vollende  die  Hand",  das  für  sechs  eigentlich  „springe",  d.  h. 
springe  zur  andern  Hand  über4.  Dieser  aktive  Charakter  der  sogen.  „Zahl- 
worte" tritt  besonders  deutlich  in  denjenigen  Sprachen  hervor,  die  ihre 
Zahlausdrücke  dadurch  bilden,  daß  sie  die  Art  und  Weise  des  Gruppierens, 
des  Hinstellens  und  Aufstellens  der  Gegenstände,  auf  die  sich  die  Zählung 
erstreckt,  besonders  bezeichnen.  So  verfügt  z.  B.  die  Klamath-Sprache 
über  eine  Fülle  derartiger  Bezeichnungen,  die  von  Verben  des  Setzens,  des 
Legens  und  Stellens  gebildet  sind  und  die  je  eine  besondere  Art  der 

1  Westermann,  Ewe-Grammalik,  S.  80. 

2  Reinisch,  Nuba-Sprache,  S.  36 f. 

3v.  d.  Steinen,  Unter  den  Naturvölkern  Zentral-Brasiliens,  S.  84 ff. 

4  Vgl.  Meinhof,  Bantugrammatik,  S.  58;  ähnliche  Beispiele  aus  dem  Gebiet  der  Pa- 
puasprachen bei  Ray,  Torres-Expedition,  S.  u.  ö.  In  der  Sprache  der  Eskimo 
wird  das  Zahlwort  für  20  durch  einen  Satz  „ein  Mann  ist  vollendet"  (d.  h.  alle  seine 
Finger  und  Zehen  gezählt)  wiedergegeben,  s.  W.  Thalbitzer,  Eskimo  (in  Boas  Hand- 
book I,  S.  1047). 


i84 


„Reihung"  gemäß  der  Besonderheit  der  zu  zählenden  Objekte  zum  Aus- 
druck bringen.  Eine  bestimmte  Gruppe  von  Gegenständen  muß  etwa,  um 
gezählt  zu  werden,  auf  den  Boden  ausgebreitet,  eine  andere  muß  in 
Schichten  übereinander  gelegt  werden,  die  eine  muß  in  Haufen  abgeteilt, 
die  andere  in  Reihen  geordnet  werden  —  und  jeder  solchen  bestimmten 
„Plazierung"  der  Gegenstände  entspricht  je  nach  ihrer  Eigenart  ein  ver- 
schiedenes verbales  Zahlwort,  ein  anderer  „numeral  classifier"1.  Kraft 
dieses  Verfahrens  werden  die  Bewegungen  in  der  Aufreihung  der  Gegen- 
stände mit  bestimmten  körperlichen  Bewegungen,  die  in  einer  gegebenen 
Reihenfolge  ablaufend  gedacht  werden,  koordiniert.  Dabei  brauchen  die 
letzteren  nicht  auf  die  Hände  und  Füße,  die  Finger  und  Zehen  beschränkt 
zu  bleiben,  sondern  können  auf  alle  anderen  Glieder  des  menschlichen 
Leibes  übergreifen.  In  Englisch-Neu-Guinea  geht  die  Folge  beim  Zählen 
von  den  Fingern  der  linken  Hand  auf  die  Handwurzel,  den  Ellbogen, 
die  Schulter,  den  Nacken,  die  linke  Brust,  den  Brustkasten,  die  rechte 
Brust,  die  rechte  Seite  des  Nackens  u.  s.  f.  über;  in  anderen  Gebieten  wird 
in  derselben  Weise  die  Achsel,  die  Schlüsselbeinhöhle,  der  Nabel,  der  Hals 
oder  die  Nase,  Auge  und  Ohr  benutzt2. 

Man  hat  diese  primitiven  Zählmethoden  in  ihrem  geistigem  Wert  oft 
tief  herabgesetzt.  „Das  ist  die  Schuld,  die  auf  dem  Geiste  der  Neger 
lastet"  —  so  drückt  sich  z.  B.  Steinthal  in  seiner  Darstellung  des  Zähl- 
verfahrens der  Mande-Neger  aus  — ,  „daß  er,  zur  Zehe  gelangt,  nicht  die 
sinnliche  Stütze  verlassend,  frei  schöpferisch  die  Zehe  mit  sich  selbst 
vervielfältigte,  die  kurze  Reihe  aus  ihr  selbst  zur  langen  ausdehnte,  son- 
dern an  seinem  Leibe  haftend  von  der  Hand,  dem  edeln  Werkzeug  aller 
Werkzeuge,  dem  Diener  des  Geistes  herabsank  zum  staubwühlenden  Fuß, 
dem  Sklaven  des  Leibes.  Dadurch  blieb  überhaupt  die  Zahl  am  Leibe 
kleben  und  ward  nicht  zur  abstrakten  Zahl-Vorstellung.  Der  Neger  hat 
keine  Zahl,  sondern  nur  eine; Anzahl  von  Fingern,  Fingern  der  Hand  und 
des  Fußes ;  nicht  sein  Geist  ist  es,  welcher,  vom  Drange  nach  dem  Unend- 
lichen getrieben,  zu  jeder  bestimmten  Anzahl  immer  noch  darüber  hin- 
ausginge und  aus  sich  selbst  Eins  hinzufügte;  sondern  die  existierenden 
Einzelnen,  die  Dinge  der  Natur  führten  ihn  von  Eins  zu  Eins,  vom  kleinen 
Finger  zum  Daumen,  von  der  linken  zur  rechten  Hand,  von  der  Hand  zum 
Fuß,  von  einem  Menschen  zum  andern;  nirgends  griff  er  frei  gestaltend 
ein,  sondern  kroch  an  der  Natur  umher  .  .  .  Das  ist  nicht  die  Tat,  die 

1  Powell,  Evolution  of  language  a.  a.  0.  I,  2 1 ;  Gatschet,  Klamalh  languago,  S.  532  ff . 

2  S.  Ray,  Torres-Straits-Expedit.,  S.  364;  vgl.  bes.  das  reichhaltige  Material  bei  Levy- 
Bruhl,  Das  Denken  der  Naturvölker,  dtsch.  Ausg.,  Wien  1921,  S.  i5o,ff. 


i85 


unser  Geist  übt,  wenn  er  zählt1."  Aber  das  halb  poetische,  halb  theolo- 
gische Pathos  dieser  Scheltrede  vergißt,  daß  es,  statt  das  primitive  Ver- 
fahren an  unserem  vollentwickelten  Zahlbegriff  zu  messen,  auch  hier 
richtiger  und  fruchtbarer  ist,  den  wie  immer  geringen  intellektuellen  Ge- 
halt, den  es  trotz  allem  in  sich  birgt,  aufzusuchen  und  anzuerkennen. 
Von  irgendeiner  Systematik  der  Zahlbegriffe,  von  ihrer  Einreihung  in 
einen  allgemeinen  Zusammenhang  kann  hier  freilich  noch  nicht  die  Rede 
sein.  Aber  das  Eine  ist  erreicht,  daß  im  Durchlaufen  einer  Mannigfaltig- 
keit, wenngleich  dieselbe  ihrem  Inhalt  nach  rein  sinnlich  bestimmt  ist, 
eine  ganz  bestimmte  Ordnung,  eine  Reihenfolge  des  Übergangs  vom 
einen  zum  anderen  Glied  innegehalten  wird.  Nicht  willkürlich  wird  im  Akt 
des  Zählens  von  einem  Teil  des  Körpers  zum  anderen  fortgegangen,  son- 
dern die  rechte  Hand  folgt  der  linken,  der  Fuß  folgt  der  Hand,  der 
Nacken,  die  Brust,  die  Schulter  folgt  den  Händen  und  Füßen  nach  einem 
zwar  konventionell  gewählten,  aber  gemäß  dieser  Wahl  festgehaltenen 
Schema  der  Succession.  Die  Aufstellung  eines  solchen  Schemas,  so  weit 
sie  davon  entfernt  ist,  den  Gehalt  dessen,  was  das  entwickelte  Denken 
unter  „Zahl"  versteht,  zu  erschöpfen,  bildet  nichtsdestoweniger  für  ihn 
die  unentbehrliche  Vorbedingung.  Denn  auch  die  reine  mathematische 
Zahl  löst  sich  zuletzt  in  den  Begriff  eines  Stellensystems,  in  den  Begriff 
einer  „Ordnung  in  der  Folge"  —  order  in  progression,  wie  William 
Hamilton  es  genannt  hat  —  auf.  Nun  scheint  freilich  der  entscheidende 
Mangel  des  primitiven  Zählverfahrens  darin  zu  liegen,  daß  es  diese  Ord-' 
nung  nicht  frei  nach  einem  geistigen  Prinzip  erzeugt,  sondern,  daß  es  sie 
lediglich  den  gegebenen  Dingen,  insbesondere  der  gegebenen  Gliederung 
des  eigenen  Leibes  des  Zählenden,  entnimmt.  Aber  selbst  in  der  unleug- 
baren Passivität  dieses  Verhaltens  regt  sich  noch  eine  eigentümliche  Spon- 
taneität, die  hier  freilich  nur  erst  im  Keime  sichtbar  wird.  Der  Geist  be- 
ginnt, indem  er  die  sinnlichen  Objekte  nicht  lediglich  nach  dem,  was  sie 
einzeln  und  unmittelbar  sind,  sondern  nach  der  Art,  wie  sie  sich  ord- 
nen, erfaßt,  von  der  Bestimmtheit  der  Gegenstände  zur  Bestimmtheit 
der  Akte  fortzuschreiten:  —  und  an  diesen  letzteren,  an  den  Akten  der 
Verknüpfung  und  Sonderung,  die  er  in  sich  selbst  ausübt,  wird  ihm  zu- 
letzt das  eigentliche  und  neue,  das  „intellektuelle"  Prinzip  der  Zahlbil- 
dung aufgehen. 

Zunächst  indes  bleibt  die  Fähigkeit,  beim  Übergang  von  einem  Ob- 
jekt zum  anderen  die  Ordnung  in  der  Folge  des  Übergangs  festzuhalten, 
nur  ein  vereinzeltes  Moment,  das  sich  mit  den  anderen  zur  Bildung  des 

1  Steinthal,  Mande-Negersprachen,  S.  75f. 

186 


reinen  Zahlbegriffs  erforderlichen  Momenten  noch  nicht  verknüpft  und 
in  Einklang  gesetzt  hat.  Zwischen  den  gezählten  Objekten  und  den  Teilen 
des  menschlichen  Körpers,  die  als  Zahlausdrücke  fungieren,  findet  zwar 
eine  bestimmte  Zuordnung  statt:  aber  diese  behält  so  lange  einen  ganz 
vagen  Charakter,  sie  bleibt  sozusagen  eine  Zuordnung  in  Bausch  und 
Bogen,  als  es  nicht  gelungen  ist,  die  verglichenen  Reihen  in  sich  selbst 
zu  gliedern  und  in  scharf  bestimmte  „Einheiten"  abzuteilen.  Die  wesent- 
liche Voraussetzung  für  eine  derartige  Einheitsbildung  aber  würde  darin 
bestehen,  daß  die  gezählten  Elemente  als  streng  gleichartig  angesehen 
würden  —  so  daß  jedes  Element  sich  vom  anderen  durch  nichts  anderes, 
als  durch  die  Stellung,  die  ihm  in  der  Zählung  zukommt,  aber  durch 
keine  sonstige  sinnlich-dingliche  Eigenheit  oder  Eigenschaft  unter- 
schiede. Von  der  Abstraktion  einer  derartigen  „Homogeneität"  aber  sind 
wir  einstweilen  noch  weit  entfernt.  Nicht  nur  müssen  die  gezählten  Dinge 
in  ihrer  vollen  handgreiflichen  Bestimmtheit  gegenwärtig  sein,  so  daß 
sie  unmittelbar  berührt  und  getastet  werden  können,  sondern  auch  die 
Einheiten  selbst,  an  denen  die  Zählung  fortschreitet,  weisen  durchweg 
konkret-sinnliche  Unterschiede  auf  und  grenzen  sich  nur  durch  sie  von- 
einander ab.  An  Stelle  rein  gedanklich  konzipierter  gleichförmiger 
Setzungseinheiten  gibt  es  hier  nur  jene  natürlichen  Dingeinheiten,  wie 
die  natürliche  Gliederung  des  menschlichen  Körpers  sie  darbietet.  Die 
primitive  „Arithmetik"  kennt  als  ihre  Elemente  nur  derartige  natürliche 
Gruppen.  Ihre  Systeme  unterscheiden  sich  je  nach  diesen  dinglich-ge- 
gebenen Maßstäben.  Aus  der  Benutzung  der  Hand  als  Modell  der  Zäh- 
lung geht  das  Quinarsystem,  aus  der  der  beiden  Hände  das  Dezimal- 
system, aus  der  Vereinigung  von  Händen  und  Füßen  das  Vigesimalsystem 
hervor1.  Daneben  gibt  es  Zählmethoden,  die  auch  hinter  diesen  ein- 
fachsten Ansätzen  zur  Gruppen-  und  Systembildung  zurückbleiben.  In- 
dessen dürfen  solche  Grenzen  der  „Zählung"  nicht  zugleich  als  Grenzen 
in  der  Auffassung  konkreter  Vielheiten  und  ihrer  Unterschiede  gedeutet 
werden.  Auch  dort  vielmehr,  wo  die  eigentliche  Zählung  nicht  über  erste 
kümmerliche  Anfänge  hinausgelangt  ist,  kann  die  Unterscheidung  solcher 
Vielheiten  aufs  schärfste  durchgebildet  sein  —  denn  für  sie  bedarf  es 
nur,  daß  jeder  besonderen  Vielheit  ein  qualitatives  Gesamtmerkmal  an- 
haftet, an  welchem  sie  erkannt  und  in  ihrer  besonderen  Eigenart  erfaßt 
wird,  nicht  aber,  daß  sie  in  sich  gegliedert  und  dadurch  quantitativ  als 
eine  „Menge  von  Einheiten"  bestimmt  wird.  Von  den  Abiponen,  bei  denen 

1  Eine  reiche  Sammlung  von  Beispielen  hierfür  findet  sich  bei  Pott,  Die  quinare  und 
die  vigesimale  Zählmethode  bei  Völkern  aller  Weltteile,  Halle  1874. 


187 


die  Fähigkeit  des  „Zählens"  nur  ganz  unvollkommen  entwickelt  ist,  wird 
berichtet,  daß  nichtsdestoweniger  das  Vermögen  der  Unterscheidung  kon- 
kreter Gesamtheiten  bei  ihnen  aufs  feinste  ausgebildet  ist.  Wenn  aus  dem 
Trupp  der  zahlreichen  Hunde,  die  sie  bei  der  Jagd  mit  sich  führen,  beim 
Aufbruch  auch  nur  einer  fehlt,  so  wird  dies  sofort  erkannt,  und  ebenso 
erkennt  der  Besitzer  einer  Herde  von  4 — 5oo  Rindern,  wenn  diese  nach 
Hause  getrieben  wird,  schon  von  fern  her,  ob  einige  von  ihnen,  ja  auch 
welche  von  ihnen  fehlen1.  Hier  sind  es  individuelle  Vielheiten,  die  je  an 
einem  besonderen  individuellen  Merkmal  erkannt  und  unterschieden  wer- 
den: —  die  „Zahl"  der  Menge  tritt,  sofern  von  ihr  überhaupt  gesprochen 
werden  kann,  nicht  in  der  Form  der  bestimmten  und  gemessenen  Zahl- 
größe, sondern  als  eine  Art  konkreter  „Zahlgestalt",  als  eine  anschau- 
liche Qualität  hervor,  die  an  dem  zunächst  noch  völlig  ungegliederten 
Gesamteindruck  der  Menge  haftet2. 

In  der  Sprache  spiegelt  sich  diese  Grundauffassung  am  deutlichsten 
darin  wider,  daß  sie  ursprünglich  keine  schlechthin  allgemeinen 
Zahlausdrücke  kennt,  die  auf  jeden  beliebigen  zählbaren  Gegenstand  an- 
wendbar sind,  sondern,  daß  sie  für  besondere  Klassen  von  Objekten  je 
eine  besondere,  ihnen  entsprechende  Zahlbezeichnung  verwendet.  So- 
lange die  Zahl  noch  ausschließlich  als  Dingzahl  genommen  wird,  so- 
lange muß  es  im  Grunde  ebensoviele  verschiedene  Zahlen  und  Zahl- 
gruppen geben,  als  es  verschiedene  Klassen  von  Dingen  gibt.  Ist  die  Zahl 
einer  Menge  von  Gegenständen  nur  als  ein  qualitatives  Attribut  gedacht, 
das  den  Dingen  in  ganz  der  gleichen  Weise,  wie  eine  bestimmte  räum- 
liche Gestaltung  oder  wie  irgendeine  sinnliche  Eigenschaft  zukommt  — 
so  entfällt  auch  für  die  Sprache  die  Möglichkeit,  sie  von  sonstigen  Eigen- 
schaften abzusondern  und  für  sie  eine  allgemeingültige  Ausdrucksform 
zu  erschaffen.  Wirklich  zeigt  sich  auf  primitiven  Stufen  der  Sprach- 
bildung noch  überall,  daß  die  Zahlbezeichnung  mit  der  Ding-  und  Eigen- 
schaftsbezeichnung unmittelbar  verschmilzt.  Dieselbe  inhaltliche  Bezeich- 
nung dient  hier  zugleich  als  Ausdruck  der  Beschaffenheit  des  Gegen- 
standes, wie  als  Ausdruck  seiner  Zahlbestimmung  und  seines  Zahlcharak- 
ters. Es  gibt  Worte,  die  gleichzeitig  je  eine  besondere  Art  von  Objekten 
und  eine  besondere  Gruppeneigenschaft  dieser  Objekte  zum  Ausdruck 

1  Dobritzhof f er,  Historia  de  Abiponibus;  vgl.  Pott,  a.  a.  O.,  S.  5,  17  u.  s.  w. 

2  Zu  diesem  qualitativen  Charakter  der  primitiven  „Zahlen"  und  Zählungen  vgl.  bes.  die 
ausgezeichneten,  auf  ein  reiches  Beispielmaterial  gestützten  Darlegungen  Wert- 
heimers, Das  Denken  der  Naturvölker,  Zeitschr.  für  Psychologie,  Bd.  60  (1912), 
S.  321  ff. 


188 


bringen.  So  ist  z.  B.  in  der  Sprache  der  Fidschi-Inseln  je  ein  eigenes  Wort 
im  Gebrauch,  das ,  Gruppen  von  zwei,  von  zehn,  von  hundert,  von  tau- 
send Kokosnüssen,  oder  auch  eine  Gruppe  von  zehn  Kanus,  von  zehn 
Fischen  u.  s.  f .  bezeichnet1.  Und  auch  nachdem  die  Scheidung  einge- 
treten, nachdem  die  Zahlbezeichnung  gegenüber  der  Ding-  und  Eigen- 
schaftsbezeichnung selbständig  geworden  ist,  sucht  sie  sich  noch  immer 
der  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der  Dinge  und  Eigenschaften 
nach  Möglichkeit  anzuschmiegen.  Nicht  jede  Zahl  gilt  für  jedes  Ding: 
denn  der  Sinn  der  Zahl  liegt  hier  noch  nicht  darin,  die  abstrakte  Vielheit 
schlechthin,  sondern  den  Modus  dieser  Vielheit,  ihre  Art  und  Form,  aus- 
zudrücken. So  sind  z.  B.  in  den  Indianersprachen  verschiedene  Reihen  von 
Zahlworten  im  Gebrauch,  je  nachdem  Personen  oder  Sachen,  belebte 
oder  imbelebte  Dinge  gezählt  werden.  Auch  kann  je  eine  besondere  Reihe 
von  Zahlausdrücken  eintreten,  wenn  es  sich  darum  handelt,  Fische  oder 
Bälge  zu  zählen,  oder  wenn  das  Verfahren  der  Zählung  auf  stehende, 
liegende  oder  sitzende  Gegenstände  angewandt  wird.  Die  Moanuinsulaner 
haben  verschiedene  Zahlen  von  eins  bis  neun,  je  nachdem  entweder  Ko- 
kosnüsse oder  Menschen,  Geister  und  Tiere  oder  Bäume,  Kanus  und 
Dörfer  oder  Häuser  oder  Stangen  und  Pflanzungen  gezählt  werden2. 
In  der  Tsimshiensprache  von  Britisch-Kolumbien  gibt  es  je  eine  beson- 
dere Zahlenreihe  zur  Zählung  von  platten  Gegenständen  und  Tieren,  zur 
Zählung  von  runden  Objekten  und  Zeiteinteilungen,  von  Menschen,  von 
Booten,  von  langen  Gegenständen  und  von  Maßen3;  —  und  in  anderen  be- 
nachbarten Sprachen  kann  die  Differenzierung  der  verschiedenen  Zahl- 
reihen noch  weiter  gehen  und  praktisch  fast  unbegrenzt  sein4.  Wie  man 
sieht,  ist  hier  das  Bestreben  der  Zählung  auf  alles  andere,  als  auf  „Homo- 
geneität"  gerichtet.  Die  Tendenz  der  Sprache  geht  vielmehr  dahin,  den 
quantitativen  Unterschied  dem  generischen  Unterschied,  der  sich  in  ihren 

1  H.  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  melanesischen  Sprachen,  S.  23;  vgl.  Codrington, 
Melanesian  Languages,  S.  2^1.  Ähnliche  Kollektivworte  finden  sich  in  den  melanesischen 
Sprachen  auf  Neu-Guinea,  die  z.  B.  je  ein  eigenes,  in  sich  selbst  ungeschiedenes  Wort 
zur  Bezeichnung  von  4  Bananen  oder  4  Kokosnüssen,  von  10  Ferkeln,  von  10  länglichen 
Dingen  u.  s.  f .  verwenden.  Vgl.  Ray,  Torres-Expedit.  III,  475. 

2  Vgl.  P.  Jos.  Meyer  im  Anthropos  I,  228  (cit.  von  Wertheimer  a.  a.  0.,  S.  342). 

3  S.  Powell,  Introduction  to  the  Study  of  Indian  languages,  S.  25,  und  die  Zusammen- 
stellung der  verschiedenen  Klassen  von  Zahlwörtern  (Zahlworte  für  flache  Gegenstände, 
für  runde  Gegenstände,  für  lange  Gegenstände,  für  menschliche  Wesen,  für  Maße)  bei 
Boas,  Tsimshian  (Handbook  I,  3a6f.).  * 

4  Vgl.  hrz.  bes.  die  von  Levy-Bruhl  aus  der  sprachwissenschaftlichen  u.  ethnologi- 
schen Literatur  gesammelten  Beispiele  (a.  a.  0.  S.  169 ff.). 

189 


Klasseneinteilungen  ausdrückt,  unterzuordnen  und  ihn  gemäß  dem  letz- 
teren zu  modifizieren.  Deutlich  tritt  diese  Tendenz  auch  dort  hervor,  wo 
die  Sprache  zwar  bereits  zur  Anwendung  allgemeiner  Zahlausdrücke  fort- 
geschritten ist,  wo  sie  aber  nichtsdestoweniger  daran  festhält,  jedem  der- 
artigen Ausdruck  ein  bestimmtes  Determinativ  folgen  zu  lassen,  das 
als  ein  spezifischer  Mengenausdruck  die  besondere  Art  der  kollektiven  Zu- 
sammenfassung kennzeichnet.  Es  ist,  anschaulich  und  konkret  betrachtet, 
offenbar  etwas  völlig  anderes,  ob  Menschen  zu  einer  „Gruppe"  oder 
Steine  zu  einem  „Haufen"  vereinigt  werden,  ob  sich  uns  eine  „Reihe" 
ruhender  oder  ein  „Schwärm"  bewegter  Gegenstände  darstellt  u.  s.f .  Alle 
solche  Besonderungen  und  Nuancierungen  sucht  die  Sprache  in  der  Wahl 
ihrer  Kollektivworte  und  in  der  Regelmäßigkeit,  mit  der  sie  solche  Worte 
mit  den  eigentlichen  Zahlausdrücken  verbindet,  festzuhalten.  So  werden 
z.  B.  in  den  malayo-polynesischen  Sprachen  die  Zahlausdrücke  mit  den 
zugehörigen  Substantiven  nicht  unmittelbar  zusammengefügt,  sondern  es 
müssen  zu  den  letzteren  immer  gewisse  determinierende  Worte  hinzu- 
treten, deren  jedes  gleichsam  eine  Besonderung  der  „Kollektivierung" 
selber  zum  Ausdruck  bringt.  Der  Ausdruck  für  „5  Pferde"  lautet  wört- 
lich „Pferde,  fünf  Schwänze",  der  für  vier  Steine  lautet  wörtlich  „Steine, 
vier  runde  Körper"  u.  s.  f.1.  Ebenso  folgt  in  den  mexikanischen  Sprachen 
dem  Ausdruck  der  Zahl  und  des  gezählten  Gegenstandes  noch  eine  Be- 
zeichnung, die  die  Art  und  Form  der  Reihung  oder  Anhäufung  kenntlich 
macht  und  die  z.  B.  eine  andere  ist,  wenn  es  sich  um  die  Zusammenfas- 
sung runder  und  zylinderförmiger  Gegenstände,  wie  Eier  oder  Bohnen, 
oder  wenn  es  sich  um  die  Aufstellung  langer  Reihen  von  Personen  oder 
Dingen,  von  Mauern  und  Furchen,  handelt2.  Auch  das  Japanische  und 
Chinesische  hat  die  Anwendung  derartiger  „Numerative",  die  sich  je  nach 
der  Klasse  der  gezählten  Gegenstände  voneinander  unterscheiden,  zu  be- 
sonderer Feinheit  entwickelt.  In  diesen  Sprachen,  denen  der  allgemeine 
grammatische  Unterschied  von  Singular  und  Plural  fehlt,  wird  nichts- 
destoweniger mit  großer  Strenge  darauf  geachtet,  daß  die  kollektive  Zu- 
sammenfassung als  solche  in  ihrer  spezifischen  Richtung  und  Eigenart 
scharf  gekennzeichnet  wird.  Wenn  im  abstrakten  Zählverfahren  die  Ein- 
heiten, ehe  sie  miteinander  verknüpft  werden  können,  zuvor  jedes  eigenen 
Inhalts  entleert  werden  müssen,  so  bleibt  hier  ein  solcher  Inhalt  be- 
stehen, bedingt  dann  aber  auch  je  eine  besondere  Art  der  Zusammenfas- 

1  Näheres  hierüber  z.B.  bei  Fr.  Müller,  Novara-Reise,  S.  275,  3o3;  Codrington, 
Melanes.  Languages,  S.  i48;  v.  d.  Gabelentz,  Melanes.  Sprachen,  S.  23,  255. 

2  Näheres  bei  Buschmann  in  seinen  Noten  zu  Humboldts  Kawi-Werk  II,  26o,ff. 


I90 


sung  zu  kollektiven  Verbänden,  zu  Mengen  und  Vielheiten1.  Die  sprach- 
lich-gedankliche Bestimmung  ist  hier  weit  mehr  darauf  gerichtet,  ge- 
wisse Gruppenformen  herauszuheben  und  gegeneinander  scharf  ab- 
zugrenzen, als  diese  Gruppen  selbst  wieder  in  Einheiten  und  Einzel- 
heiten zu  zerbrechen:  die  Charakteristik  der  Vielheit  als  solcher  erfolgt 
dadurch,  daß  sie  ihrem  anschaulichen  Gesamtgehalt  nach  erfaßt  und 
von  anderen  unterschieden,  nicht  dadurch,  daß  sie  logisch  und  ma- 
thematisch aus  ihren  einzelnen  konstitutiven  Elementen  aufgebaut 
wird.  — 

Die  gleiche  Grundauffassung  tritt  uns  entgegen,  wenn  wir  statt  des 
Verfahrens,  das  die  Sprache  in  der  Bildung  der  Zahlworte  befolgt,  die 
Mittel  betrachten,  mit  denen  sie  die  formale  und  allgemeine  Unterschei- 
dung des  „Singulars"  und  „Plurals"  durchführt.  Denkt  man  in  der  Idee 
des  Plurals  die  logische  und  mathematische  Kategorie  der  „Mehrheit" 
beschlossen,  also  die  Kategorie  einer  Vielheit,  die  sich  aus  klar  geschie- 
denen gleichartigen  Einheiten  aufbaut,  so  zeigt  es  sich,  daß  der 
Plural,  in  diesem  Sinne  genommen,  vielen  Sprachen  ganz  abgeht. 
Eine  große  Zahl  von  Sprachen  läßt  den  Gegensatz  von  Singular 
und  Plural  völlig  unbezeichnet.  Das  Substantivum  kann  hier  seiner 
Grundform  nach  ebensowohl  als  Bezeichnung  der  Gattung  gebraucht 
werden,  die  als  solche  eine  unbestimmte  Vielheit  von  Exemplaren  unter 
sich  befaßt,  wie  es  als  Ausdruck  eines  einzelnen  Exemplars  der  Gat- 
tung dient.  Es  steht  somit  zwischen  Singular-  und  Pluralbedeutung  noch 
mitten  inne  und  hat  sich  gleichsam  zwischen  beiden  noch  nicht  entschie- 
den. Nur  in  einzelnen  Fällen,  in  denen  diese  Unterscheidung  wesentlich 
erscheint,  wird  sie  durch  besondere  sprachliche  Mittel  bezeichnet,  wobei 
jedoch  häufig  nicht  sowohl  die  Pluralbedeutung,  als  vielmehr  die  singu- 
larische Bedeutung  eine  derartige  besondere  Auszeichnung  erfährt.  So 
haben  sich  z.B.  die  malayo-polynesischen  Sprachen,  nach  Fr.  Müller, 
„zum  Begriffe  der  Zahl  als  einer  Mehrfaches  in  eine  lebendige  Einheit 
fassenden  Kategorie  nie  erhoben",  so  daß  ihre  Substanzwörter  weder 
eigentlich  konkret,  noch  eigentlich  abstrakt,  sondern  ein  Mittelding  zwi- 
schen beiden  sind.  , „Mensch*  gilt  dem  Malayen  weder  für  einen  Men- 
schen in  concreto,  noch  für  Mensch  =  Menschheit  in  abstracto,  sondern 
als  Bezeichnung  für  Menschen,  die  man  eben  gesehen  hat  und  kennt. 
Das  Wort  (dran)  entspricht  aber  dennoch  mehr  unserem  Plural  als  Sin- 
gular und  letzterer  muß  überall  durch  ein  Wort,  das  ,eins'  bedeutet, 

1  Vgl,  das  System  der  japanischen  und  chinesischen  „Numerative"  bei  Hoffmann, 
Japan.  Sprachlehre,  S.  i49ff- 

I91 


näher  angedeutet  werden1."  Hier  ist  also  nicht  zunächst  die  bloße  Einzel- 
heit konzipiert,  die  dann  durch  ein  sprachliches  Formans  in  die  Mehr- 
heitsbedeutung umgesetzt  wird,  sondern  aus  der  undifferenzierten  Viel- 
heit kann  sich  auf  der  einen  Seite  durch  Hinzufügung  bestimmter  No- 
mina mit  allgemein-kollektivem  Sinn  die  Pluralbedeutung,  auf  der  anderen 
Seite  durch  Anwendung  bestimmter  individualisierender  Partikeln  die 
Singularbedeutung  entwickeln2.  Die  gleiche  Anschauung  des  Einheit- 
Mehrheits-Verhältnisses  liegt  auch  vielen  altaischen  Sprachen  zugrunde, 
in  denen  gleichfalls  ein  und  dasselbe,  grammatisch  nicht  näher  dif- 
ferenzierte Wort  für  den  Ausdruck  der  Einheit  und  für  den  der  Mehr- 
heit gebraucht  werden  kann.  Dasselbe  Appellativum  kann  daher  hier  einer- 
seits das  einzelne  Individuum  und  das  ganze  Genus,  andererseits  eine  un- 
bestimmte Anzahl  von  Individuen  bezeichnen3.  Aber  auch  diejenigen 
Sprachkreise,  die  den  Unterschied  zwischen  Singular  und  Plural  formell 
klar  ausgebildet  haben,  zeigen  noch  mancherlei  Erscheinungen,  die 
deutlich  darauf  hinweisen,  daß  dieser  strengen  Scheidung  ein  Stadium 
relativer  Indifferenz  vorausgegangen  ist.  Häufig  findet  es  sich  hier,  daß 
ein  Wort,  das  bereits  die  äußere  Prägung  des  Plurals  trägt,  seiner  gram- 
matischen Konstruktion  nach  im  entgegengesetzten  Sinne  gebraucht,  also 
mit  dem  Singular  des  Verbums  verbunden  wird,  weil  es  seiner  Grund- 
bedeutung nach  nicht  sowohl  als  diskrete  Mehrheit,  als  vielmehr  als 
kollektive  Gesamtheit  und  somit  als  kollektive  Einfachheit  empfunden 
wird4.  Im  Indogermanischen  erklärt  sich  die  Tatsache,  daß  im  Arischen 
und  im  Griechischen  der  Plural  der  Neutra  mit  der  Einzahl  des  Verbums 
verbunden  wird,  bekanntlich  auf  diese  Weise :  die  Endung  -ä  dieser  Neutra 

1  S.  Fr.  Müller,  Novara-Reise,  S.  274 f.;  vgl.  für  die  australischen  Sprachen,  S.  2 46 f.; 
s.  auch  Fr.  Müller,  Grundriß  II,  2,  n/iff. 

2  Näheres  hierüber  bei  Codrington,  Melanesian  Languages,  S.  i48f.;  H.  G.  v.  d. 
Gabelen tz,  Die  melanes.  Sprachen,  S.  23,  255. 

3  Vgl.  Boethlingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  3/Jof.;  H.  Winkler,  Der  ural-altaische 
Sprachstamm,  S.  187;  zur  „Pluralbildung"  in  den  altaischen  Sprachen  s.  auch  Grunzel, 
Vergl.  Grammat.  der  altaischen  Sprachen,  S.  t\"ii. 

4  Im  Ägyptischen  werden,  nach  Erman  (Ägypt.  Grammat.,  S.  io8f.),  viele  Begriffe, 
die  ihrem  Sinne  nach  rein  pluralisch  sind,  durch  kollektive  Abstrakta  im  Singular  um- 
schrieben und  die  Form  des  verbalen  Prädikats  gemäß  dieser  Auffassung  umgestaltet. 
Ebenso  sind  in  den  südsemitischen  Sprachen  nach  Brockelmann  (Grundriß  I,  [\%-jfi., 
vgl.  II,  77 ff.)  die  Grenzen  zwischen  Singular,  Kollektiv  und  Plural  noch  in  ständigem 
Flusse  begriffen,  so  daß  Kollektiva  bei  leichter  Verschiebung  wieder  zum  Singular 
werden  und  dann  einen  neuen  Plural  bilden  können.  Für  den  indogermanischen 
Sprachkreis  s.  die  Beispiele,  die  Meyer-Lübke,  Grammat.  der  roman.  Sprachen  II, 
69 ff.,  III,  26ff.  aus  den  romanischen  Sprachen  gibt. 


192 


hat  ursprünglich  keinen  pluralen  Sinn  besessen,  sondern  geht  auf  die  singu- 
lare Femininendung  -a  zurück,  die  als  Bezeichnung  kollektiver  Abstrakta 
verwendet  wurde.  Die  Formen  auf  -a  waren  also  von  Haus  aus  weder  plura- 
lisch noch  singularisch,  sondern  Kollektiva  schlechthin,  die  je  nach  Bedürf- 
nis bald  in  der  einen,  bald  in  der  anderen  Weise  gefaßt  werden  konnten1. 

Auf  der  anderen  Seite  zeigt  sich,  daß  die  Sprache  —  analog  dem,  was 
beim  Zählverfahren  zu  beobachten  war  —  auch  in  der  Form  der  Plural- 
bildung, nicht  unvermittelt  der  abstrakten  Kategorie  der  Einheit  eine  ab- 
strakte Mehrheitskategorie  gegenüberstellt,  sondern  daß  zwischen  beiden 
mannigfache  Abstufungen  und  Übergänge  bestehen.  Die  ersten  Viel- 
heiten, die  von  ihr  unterschieden  werden,  sind  nicht  Vielheiten  schlecht- 
hin, sondern  spezifische  Vielheiten,  die  einen  besonderen  und  auszeich- 
nenden qualitativen  Charakter  an  sich  tragen.  Abgesehen  von  dem 
Gebrauch  des  Dual  und  Trial,  unterscheiden  viele  Sprachen  einen 
doppelten  Plural:  einen  engeren  für  zwei  und  mehrere,  aber  immer 
wenige  und  einen  weiteren  für  viele  Gegenstände.  Dieser  Gebrauch, 
den  Dobritzhoff  er  von  der  Sprache  der  Abiponen  berichtet2,  hat  in 
den  semitischen  Sprachen  z.  B.  im  Arabischen  sein  genaues  Gegen- 
bild3. Humboldt  bemerkt  in  der  Darstellung  der  Mehrheitsformen  des 
Arabischen,  das  neben  einem  Dual  den  beschränkten  Plural  von  3 — 9 
und  den  Vielheits-Plural  für  10  und  mehr  oder  eine  unbestimmte  An- 
zahl von  Gegenständen  kennt,  daß  die  hier  zugrunde  liegende  Ansicht, 
den  Gattungsbegriff  gewissermaßen  als  außer  der  Kategorie  des  Nume- 
rus liegend  zu  betrachten  und  von  ihm  durch  Beugung  Singularis  und  Plu- 
ralis  zu  unterscheiden,  „unleugbar  eine  sehr  philosophische"  genannt  wer- 
den müsse4.  In  Wahrheit  scheint  jedoch  hier  der  Gattungsbegriff  nicht  so- 
wohl seiner  generischen  Bestimmtheit  nach  konzipiert  und,  kraft  eben 
dieser  Bestimmtheit  aus  der  Unterscheidung  des  Numerus  herausgehoben 
zu  werden,  als  er  vielmehr  in  diese  Form  der  Unterscheidung  noch  gar  nicht 

1  In  den  Singular  setzte  man,  nach  Brugraann,  seit  urindogermanischer  Zeit  ein  No- 
men, wenn  man  seinen  Begriffsinhalt  als  etwas  Einheitliches  vorstellte  und  tatsächlich 
etwa  vorhandene  Gliederung  der  Einheit  nicht  berücksichtigte;  andererseits  wurde  der 
Plural  nicht  nur  da  gebraucht,  wo  man  mehrere  Exemplare  einer  Gattung,  mehrere 
getrennte  Vorgänge  und  Handlungen  unterschied,  sondern  auch,  wo  bei  einem  Begriff 
seine  irgendwie  mehrheitliche  Wesenheit  ausgedrückt  werden  sollte  (Brugmann,  Kurze 
vgl.  Grammat.,  S.  4i3;  vgl.  Griechische  Grammat.  »,  S.  36of.). 

2  Dobritzhof f er,  Historia  de  Abiponibus  II,  i66ff.  (cit.  bei  Humboldt,  Über  den 
Dualis,  W.  VI,  1,  i9f.). 

3  Näheres  bei  Brockelmann,  Grundriß  I,  436f. 

4  Über  den  Dualis,  a.  a.  0.  VI,  1,  20. 

13  193 


eingetreten  ist.  Der  Unterschied,  den  dieSprache  durch  den  Singular  und  Plu- 
ral ausdrückt,  ist  an  der  Gattung  nicht  aufgehoben,  sondern  er  hat  sich  an 
ihr  noch  nicht  in  voller  Schärfe  vollzogen;  der  quantitative  Gegensatz  von 
Einheit  und  Vielheit  ist  nicht  durch  eine  übergreifende  qualitative  Ein- 
heit überwunden,  weil  er  zunächst  noch  gar  nicht  bestimmt  gesetzt  ist. 
Die  Einheit  der  Gattung  bedeutet  ein  distinktes  Eins  gegenüber  der  nicht 
minder  distinkten  Vielheit  der  Arten  —  in  der  unbestimmten  Kollektiv- 
bedeutung, aus  der  sich  in  einer  großen  Zahl  von  Sprachen  die  Singular- 
wie  die  Pluralbedeutung  erst  herausschält,  bildet  aber  gerade  die  In- 
distinktheit  das  entscheidende  Moment.  Die  Vielheit  wird  als  bloßer 
Haufe,  als  Menge  oder  Masse,  also  als  ein  sinnliches,  nicht  als  ein  logisches 
Ganze  erfaßt.  Ihre  Allgemeinheit  ist  die  eines  Eindrucks,  der  sich  noch 
nicht  in  seine  einzelnen  Elemente  und  Komponenten  auseinandergelegt  hat, 
nicht  die  eines  übergeordneten  Begriffs,  der  das  Besondere,  als  ein  Ge- 
sondertes und  „Ersondertes",  in  sich  faßt. 

Eben  dieses  Grundmoment  der  Sonderung  aber  ist  es,  kraft  dessen 
erst  aus  dem  bloßen  Begriff  der  Menge  und  der  Vielheit  der  strenge  Be- 
griff der  Zahl  erwächst.  Die  bisherige  Betrachtung  hat  uns  zwei  Wege 
und  Richtungen  kennen  gelehrt,  in  denen  sich  die  Sprache  diesem  Begriff 
nähert,  den  sie  gemäß  ihrer  Eigenart  freilich  nicht  anders  als  in  sinn- 
licher Hülle  erfassen  kann.  Auf  der  einen  Seite  hielt  das  sprachliche  Den- 
ken schon  in  den  primitivsten,  an  den  Gliedmaßen  des  menschlichen 
Körpers  orientierten  Zählungen  das  Moment  der  „Ordnung  in  der  Folge" 
fest.  Wenn  diese  Zählungen  zu  irgendeinem  Ergebnis  führen  sollten,  so 
mußte  im  Durchlaufen  der  einzelnen  Glieder  nicht  willkürlich  von 
dem  einen  zum  andern  übergegangen,  sondern  irgendeine  Regel  der  Ab- 
folge innegehalten  werden.  Auf  der  anderen  Seite  war  es  der  Eindruck 
der  Vielfachheit  schlechthin,  das  Bewußtsein  eines  zunächst  noch  unbe- 
stimmten Ganzen,  das  sich  in  irgendeiner  Weise  in  „Teile"  zerlegt,  wo- 
durch sich  die  Sprache  in  der  Bildung  ihrer  allgemeinen  Kollektivbe- 
zeichnungen geleitet  zeigte.  In  beiden  Fällen  erscheint  das  Denken  der 
Zahl  und  ihr  sprachlicher  Ausdruck  an  die  Grundformen  der  Anschau- 
ung, an  die  Erfassung  des  räumlichen  und  des  zeitlichen  Seins  gebunden. 
Die  erkenntniskritische  Analyse  zeigt,  wie  beide  Formen  zusammenwirken 
müssen,  um  den  wesentlichen  Gehalt  des  Zahlbegriffs  ans  Licht  zu  för- 
dern. Wenn  die  Zahl  sich  für  die  Erfassung  des  kollektiven  „Beisammen" 
auf  die  Anschauung  des  Raumes  stützt,  so  bedarf  sie  der  Anschauung  der 
Zeit,  um  das  charakteristische  Gegenmoment  zu  dieser  Bestimmung,  um 
den  Begriff  der  distributiven  Einheit  und  Einzelheit  auszubilden. 


194 


Denn  eben  dies  ist  die  gedankliche  Aufgabe,  die  sie  zu  bewältigen  hat, 
daß  sie  beide  Forderungen  nicht  nur  für  sich  erfüllt,  sondern  daß  sie  sie 
als  eine  einzige  begreift.  Jede  wahrhaft  zahlenmäßig  bestimmte  Vielheit 
ist  eben  damit  zugleich  als  Einheit,  jede  Einheit  zugleich  als  Vielheit 
gedacht  und  erfaßt.  Nun  findet  sich  freilich  diese  korrelative  Einigung 
gegensätzlicher  Momente  in  jedem  geistigen  Grundakt  des  Bewußtseins 
wieder.  Immer  handelt  es  sich  darum,  die  Elemente,  die  in  die  Synthesis 
des  Bewußtseins  eingehen,  in  dieser  nicht  einfach  nebeneinander  stehen 
zu  lassen,  sondern  als  Ausdruck  und  Ergebnis  ein  und  desselben  Grund- 
akles  zu  begreifen,  —  die  Verknüpfung  als  Sonderung,  die  Sonderung 
als  Verknüpfung  erscheinen  zu  lassen.  Aber  so  notwendig  diese  doppelte 
Bestimmung  ist,  so  kann  doch,  je  nach  der  besonderen  Eigenart  des  Pro- 
blems, in  der  Gesamtsynthese  bald  der  eine,  bald  der  andere  der  beiden 
Faktoren  sein  Übergewicht  behaupten.  Wenn  in  dem  exakten  mathema- 
tischen Zahlbegriff  das  reine  Gleichgewicht  zwischen  der  Funktion  der 
Verknüpfung  und  Sonderung  erreicht  scheint,  wenn  sich  hier  das  Gebot 
der  einheitlichen  Zusammenfassung  zu  einem  Ganzen  und  das  Gebot  der 
durchgängigen  Diskretion  der  Elemente  in  idealer  Strenge  erfüllen  —  so 
überwiegt  im  Bewußtsein  des  Baumes  und  der  Zeit  je  eines  dieser  Motive 
und  behauptet  gegenüber  dem  anderen  den  Vorrang.  Denn  im  Baum  stellt 
sich  vorzugsweise  das  Moment  des  Bei-  und  Ineinanderseins  der  Elemente, 
in  der  Zeit  das  Moment  ihres  Nach-  und  Auseinanderseins  dar.  Keine 
einzelne  räumliche  Gestalt  kann  angeschaut  oder  gedacht  werden,  ohne 
zugleich  den  Baum  als  Ganzes,  „in"  welchem  sie  enthalten  sein  soll, 
mitzudenken:  die  Besonderheit  der  Gestalt  ist  hier  immer  nur  als  Ein- 
schränkung des  allbefassenden  „einigen"  Baumes  möglich.  Auf  der  an- 
deren Seite  ist  der  zeitliche  Augenblick  das,  was  er  ist,  zwar  gleichfalls 
nur  dadurch,  daß  er  als  Moment  in  einer  Folge,  als  Glied  in  einer  Suk- 
zession erscheint:  aber  eben  diese  Folge  kann  nur  dadurch  konstituiert 
werden,  daß  jedes  einzelne  Moment  alle  anderen  von  sich  ausschließt, 
daß  ein  einfaches  unteilbares  „Jetzt",  ein  reiner  Gegenwartspunkt  gesetzt 
wird,  der  sich  von  aller  Vergangenheit  und  aller  Zukunft  schlechthin  un- 
terscheidet. Das  konkrete  Denken  der  Zahl,  wie  es  in  der  Sprache  seinen 
Ausdruck  findet,  nimmt  beide  Leistungen :  die  des  Baumbewußtseins  und 
die  des  Zeitbewußtseins,  in  seinen  Dienst  —  und  es  benutzt  sie,  um  kraft 
ihrer  zwei  verschiedene  Momente  an  der  Zahl  zur  Ausbildung  zu  bringen. 
Von  der  Unterscheidung  der  räumlichen  Objekte  her  gelangt  die  Sprache 
zu  ihrem  Begriff  und  ihrem  Ausdruck  der  kollektiven  Vielheit  —  von  der 
Unterscheidung  der  zeitlichen  Akte  gelangt  sie  zu  ihrem  Ausdruck  der  Be- 


i3* 


ig5 


sonderung  und  Vereinzelung.  In  der  Form  der  Pluralbildung  scheint  die- 
ser doppelte  Typus  der  geistigen  Auffassung  der  Mehrheit  sich  deutlich 
auszuprägen.  Die  Bildung  der  Mehrheitsform  erscheint  in  dem  einen  Fall 
durch  die  Anschauung  dinglicher  Komplexe,  in  dem  anderen  durch  die 
Anschauung  der  rhythmisch-periodischen  Wiederkehr  der  Phasen  eines 
bestimmten  zeitlichen  Prozesses  geleitet;  in  dem  einen  richtet  sie  sich  vor- 
wiegend auf  gegenständliche  Ganzheiten,  die  aus  einer  Mehrheit  von  Teilen 
bestehen,  in  dem  anderen  auf  die  Wiederholung  von  Ereignissen  oder 
Tätigkeiten,  die  sich  miteinander  zu  einer  stetigen  Folge  verknüpfen.  — 
So  haben  in  der  Tat  diejenigen  Sprachen,  die  in  ihrem  ganzen  Bau  eine 
vorwiegend  verbale  Struktur  aufweisen,  auch  eine  eigentümliche  rein 
„distributive"  Auffassung  der  Mehrheit  entwickelt,  die  sich  von  der  kol- 
lektiven scharf  abhebt.  Die  scharfe  Herausarbeitung  und  Charakteristik 
der  verbalen  Akte  wird  hier  zum  eigentlichen  Vehikel  der  Mehrheitsauf- 
fassung. Die  Sprache  der  Klamath-Indianer  z.  B.  hat  kein  eigenes  Mit- 
tel ausgebildet,  um  zwischen  der  Bezeichnung  einzelner  Objekte  und 
der  einer  Mehrheit  von  Objekten  zu  unterscheiden.  Aber  in  größter 
Genauigkeit  und  Folgerichtigkeit  wird  statt  dessen  der  Unterschied  be- 
achtet und  festgehalten,  der  zwischen  einem  Tun  besteht,  das  sich  in 
einem  einmaligen  zeitlichen  Akt  erschöpft,  und  einem  solchen,  das  eine 
Mehrheit  zeitlich  verschiedener,  aber  inhaltlich  gleichartiger  Phasen  in 
sich  faßt.  „Für  den  Geist  des  Klamath-Indianers"  —  sagt  Gatschet  — ■ 
„erschien  die  Tatsache,  daß  Verschiedenes  zu  verschiedenen  Zeiten  wieder- 
holt getan  wird,  oder  daß  dasselbe  mehrmals  durch  verschiedene  Per- 
sonen getan  wurde,  weit  bedeutungsvoller,  als  die  reine  Idee  der  Mehr- 
heit, wie  wir  sie  in  unseren  Sprachen  besitzen.  Diese  Kategorie  der  Ge- 
sondertheit machte  auf  ihn  einen  so  starken  Eindruck,  daß  die  Sprache 
sie  überall  durch  ein  besonderes  symbolisch-lautliches  Mittel,  durch  die 
Verdoppelung  zum  Ausdruck  bringt."  Alle  Ausdrücke  des  „Plurals"  in 
unserem  Sinne  sind  daher  im  Klamath  erweislich  jüngeren  Ursprungs, 
während  der  Gedanke  der  Sonderung  eines  Aktes  in  eine  Mehrheit  gleich- 
artiger Prozesse,  durch  das  angegebene  Mittel  der  Reduplikation,  das  die 
gesamte  Sprache  bis  herab  zu  den  Postpositionen  und  gewissen  adver- 
bialen Partikeln  durchdringt,  stets  scharf  und  eindeutig  bezeichnet  wird1. 
Das  Hupa,  eine  Sprache  des  athapaskischen  Sprachkreises,  verwendet  in 
vielen  Fällen  den  Singular,  wo  wir  den  Plural  erwarten  würden:  näm- 
lich immer  dann,  wenn  an  einer  Handlung  zwar  eine  Mehrheit  von  Indivi- 
duen beteiligt  ist,  die  Handlung  selbst  aber  als  eine  Einheit  erscheint. 

1  S.  Gatschet,  Klamath-Language,  S.  £19,  464,  611. 
196 


Dagegen  wird  auch  hier  das  distributive  Verhältnis  durch  die  Wahl  eines 
besonderen  Präfixes  stets  aufs  genaueste  bezeichnet1.  In  der  gleichen 
Funktion  wird  insbesondere  die  Reduplikation  auch  außerhalb  des  Krei- 
ses der  amerikanischen  Eingeborenensprachen  gebraucht2.  Wieder  hat 
sich  hier  eine  an  sich  gedankliche  Form  der  Auffassung  in  der  Sprache 
ihren  unmittelbar-sinnlichen  Ausdruck  geschaffen.  Die  einfache  Wieder- 
holung des  Lautes  ist  das  zugleich  primitivste  und  wirksamste  Mittel,  um 
die  rhythmische  Wiederkehr  und  die  rhythmische  Gliederung  eines  Aktes, 
insbesondere  einer  menschlichen  Tätigkeit  zu  bezeichnen.  Vielleicht  stehen 
wir  hier  an  einer  Stelle,  an  der  wir,  wenn  irgendwo,  noch  einen  Blick  in 
die  ersten  Motive  der  Sprachbildung  und  in  die  Art  des  Zusammenhangs 
zwischen  Sprache  und  Kunst  tun  können.  Man  hat  versucht,  die  Anfänge 
der  Dichtung  bis  zu  jenen  ersten  primitiven  Arbeitsgesängen  der 
Menschheit  zurückzuverfolgen,  in  denen  sich  die  empfundene  Rhythmik 
der  eigenen  körperlichen  Bewegungen  gleichsam  zum  erstenmal  nach 
außen  wendet.  Wie  diese  Arbeitsgesänge  noch  heute  über  die  ganze  Erde 
verbreitet  sind  und  wie  ähnlich  sie  sich  allenthalben  in  ihrer  Grundform 
bleiben,  hat  Büchers  umfassende  Untersuchung  über  Arbeit  und  Rhyth- 
mus gezeigt.  Jede  Form  der  physischen  Arbeit  bedingt  schon  beim  Ein- 
zelnen, noch  mehr  aber,  wenn  sie  in  Gemeinschaft  vollzogen  wird,  eine 
zweckmäßige  Koordination  von  Bewegungen,  die  ihrerseits  unmittelbar 
zur  rhythmischen  Zusammenfassung  und  zur  rhythmischen  Abteilung  der 
einzelnen  Arbeitsphasen  hindrängt.  Für  das  Bewußtsein  stellt  sich  die- 
ser Rhythmus  in  doppelter  Art  dar,  indem  er  sich  einmal  in  der  reinen 
Bewegungsempfindung,  in  dem  Wechsel  des  Anspannens  und  Erschlaf- 
fens der  Muskel,  andererseits  in  objektiver  Form  in  den  Wahrneh- 
mungen des  Gehörsinnes,  in  dem  Gleichmaß  der  Laute  und  Geräusche,  die 
die  Arbeit  begleiten,  ausprägt.  Das  Bewußtsein  des  Tuns  und  seiner  Dif- 
ferenzierung knüpft  an  diese  sinnlichen  Differenzen  an:  das  Mahlen  und 
Reiben,  das  Stoßen  und  Ziehen,  das  Pressen  und  Treten  unterscheidet  sich 
eben  darin,  daß  es,  wie  seinen  besonderen  Zweck,  so  auch  je  seinen 
eigenen  Takt  und  Ton  besitzt.  In  der  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  der  Ar- 
beitslieder,  in  den  Spinn-  und  Webeliedern,  den  Dresch-  und  Ruderlie- 

1  S.  Goddard,  Athapascan  (Hupa),  (in  Boas'  Handbook  I,  io/i);  vgl.  Boas,  Kwakiutl 
(a.  a.  0.  I,  l\kk)'-  „The  idea  of  plurality  is  not  clearly  developed.  Reduplication  of  a  noun 
expresses  rather  the  occurence  of  an  object  here  and  there,  or  of  different  kinds  of  a 
particular  object,  than  plurality.  It  is  therefore  rather  a  distributive  than  a  true  plural. 
It  seems  that  this  form  is  gradually  assuming  a  purely  plural  singnificance". 

2  Vgl.  die  Anwendung  der  Reduplikation  zur  Bezeichnung  des  „distributiven"  Plurals  in 
den  Hamitensprachen  s.  Meinhof,  Die  Sprachen  der  Hamiten,  S.  2 5,  171. 


J97 


dem,  in  den  Liedern,  die  beim  Mahlen  und  Backen  u.  s.  f.  gesungen  wer- 
den, kann  man  gleichsam  noch  unmittelbar  heraushören,  wie  hier  eine 
spezifische  rhythmische  Empfindung,  die  durch  die  besondere  Richtung 
der  Arbeit  bestimmt  wird,  nur  dadurch  bestehen  und  sich  in  das  Werk 
umsetzen  kann,  daß  sie  sich  gleichzeitig  im  Laut  objektiviert1.  Vielleicht 
entstammen  auch  einige  Formen  der  Reduplikation  beim  Verbum,  als 
Ausdrücke  eines  Aktes,  der  eine  Mehrheit  rhythmisch  wiederkehrender  Pha- 
sen in  sich  schließt,  einer  solchen  Verlautbarung,  die  ursprünglich  von  dem 
eigenen  Tun  des  Menschen  seinen  Ausgang  nahm.  In  jedem  Fall  konnte  die 
Sprache  das  Bewußtsein  der  reinen  Zeitform  und  der  reinen  Zahlform  nicht 
anders  gewinnen,  als  dadurch,  daß  sie  es  an  bestimmte  Inhalte,  an  gewisse 
rhythmische  Grunderlebnisse  anknüpfte,  in  welchen  beide  Formen  wie  in 
unmittelbarer  Konkretion  und  Verschmelzung  gegeben  waren.  Daß  es  hier- 
bei die  Differenzierung  nicht  sowohl  der  Dinge,  als  vielmehr  der  Akte 
war,  von  der  die  Sonderung  und  „Distribuierung",  also  eines  der  Grund- 
momente der  Zählung,  ihren  Ausgang  nahm,  scheint  auch  dadurch  be- 
stätigt zu  werden,  daß  in  vielen  Sprachen  der  Mehrheitsausdruck  beim 
Verbum  nicht  nur  dort  gebraucht  wird,  wo  eine  tatsächliche  Mehrheit  von 
Tätern  vorhanden  ist,  sondern  wo  ein  einzelnes  Subjekt  ein  und  dasselbe 
Tun  auf  verschiedene  Objekte  richtet2.  Für  eine  Anschauung  der  Mehr- 

1  Näheres  s.  bei  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  (4-  Aufl.  Lpz.  1909). 

2  Dies  ist  also  der  umgekehrte,  aber  genau  entsprechende  Fall,  der  soeben  (S.  196)  am 
Beispiel  des  Hupa  betrachtet  wurde.  Während  dort  der  Singular  des  Verbums  auch  bei 
einer  Mehrheit  der  Subjekte  gebraucht  wird,  wenn  die  Handlung  selbst  (wie  etwa  die 
Ausführung  eines  Tanzes)  als  eine  unteilbare  Einheit  angesehen  wird,  so  tritt  anderer- 
seits in  den  meisten  amerikanischen  Eingeborenensprachen  ein  transitives  Verbum  in  den 
Plural,  wenn  sein  direktes  Objekt  in  der  Mehrzahl  steht,  die  Handlung  also  auf  ver- 
schiedene Gegenstände  gerichtet  und  dadurch  in  sich  selbst  gespalten  erscheint.  Auch  in 
anderen  Sprachen  ist  der  Ausdruck  der  Mehrheit  am  Verbum  nicht  sowohl  von  der  Viel- 
heit der  Subjekte,  als  vielmehr  von  der  der  Objekte  des  Wirkens,  oder  von  beiden  zu- 
gleich, abhängig.  (Beispiele  aus  dem  Kiwai,  einer  Papuasprache,  gibt  Ray,  Torres- 
Expedit.  III,  3nf.;  von  den  afrikanischen  Sprachen  unterscheidet  z.  B.  die  Nuba- 
Sprache,  ob  das  Objekt,  auf  das  sich  die  Tätigkeit  bezieht,  ein  einzelnes  ist  oder  aus 
einer  Mehrheit  besteht.  Reinisch,  Nuba-Sprache,  S.  56f.,  69L  Die  Tagalische 
Sprache,  die  von  Humboldt  im  Kawi-Werk  eingehend  beschrieben  wird,  wendet 
beim  Verbum  oft  ein  bestimmtes  Pluralpräfix  an,  um  dadurch  ebensowohl  die  Mehr- 
heit der  Handelnden  wie  insbesondere  eine  in  der  Handlung  selbst  liegende  Vielfältigkeit 
oder  Mehrfachheit  zu  bezeichnen.  Der  Begriff  der  Mehrheit  wird  in  diesem  Falle  bald 
auf  die  Handelnden,  bald  auf  die  Handlung  oder  auch  auf  die  mehr  oder  weniger  häufige 
Beschäftigung  mit  ihr  bezogen.  So  bedeutet:  mag-sülat  (von  sulat  schreiben')  sowohl: 
,viele  schreiben  als  gewöhnlicher  Plural,  wie  ein  Frequentativum  ,er  schreibt  viel' ,  oder 
es  drückt  einen  „habituellen  Modus"  aus  (,es  ist  sein  Geschäft  zu  schreiben).  Näheres 
bei  Humboldt,  a.  a.  0.  II,  317,  376ff.). 

198 


heit,  die  sich  wesentlich  auf  die  reine  Form  des  Akts  selbst  richtet,  ist  es 
in  der  Tat  von  untergeordneter  Bedeutung,  ob  an  ihm  nur  ein  Individuum 
oder  mehrere  beteiligt  sind,  während  die  Zerlegung  in  einzelne  Aktphasen 
stets  von  entscheidender  Wichtigkeit  ist. 

Wenn  wir  bis  hierher  die  Grundformen  der  reinen  Anschauung,  die 
Formen  des  Raumes  und  der  Zeit,  als  den  Ausgangspunkt  der  Zahl-  und 
Mehrheitsbildung  betrachtet  haben,  so  ist  indessen  damit  die  vielleicht 
ursprünglichste  und  tiefste  Schicht,  in  der  der  Zählakt  wurzelt,  noch  nicht 
berührt.  Denn  auch  hier  kann  die  Betrachtung  nicht  vom  Objekt  allein 
und  von  den  Unterschieden  innerhalb  der  objektiven,  der  räumlich-zeit- 
lichen Sphäre  ausgehen,  sondern  sie  muß  zu  den  Grundgegensätzen  zu- 
rücklenken, die  aus  der  reinen  Subjektivität  herstammen.  Eine  ganze 
Reihe  von  Anzeichen  spricht  dafür,  daß  auch  die  Sprache  die  ersten  zah- 
lenmäßigen Sonderungen,  die  sie  vollzieht,  aus  diesem  Gebiet  geschöpft 
hat,  —  daß  es  nicht  sowohl  das  dingliche  Neben-  und  Auseinander  der 
Gegenstände  oder  Vorgänge  als  vielmehr  die  Trennung  des  „Ich"  und 
„Du"  gewesen  ist,  an  der  sich  das  Bewußtsein  der  Zahl  zuerst  entfaltet 
hat.  Es  ist,  als  wenn  auf  diesem  Gebiet  eine  weit  größere  Feinheit  der 
Unterscheidung,  eine  stärkere  Empfindlichkeit  auch  für  den  Gegensatz 
des  „Einen"  und  „Vielen",  als  im  Kreise  der  bloßen  Sachvorstellungen 
herrschte.  Viele  Sprachen,  die  eine  eigentliche  Pluralform  beim  Nomen 
nicht  entwickelt  haben,  prägen  diese  nichtsdestoweniger  an  den  persön- 
lichen Fürwörtern  aus1;  andere  wenden  zwei  verschiedene  Pluralzeichen 
an,  von  denen  das  eine  ausschließlich  für  die  Pronomina  gebraucht  wird2. 
Oft  wird  die  Mehrheit  beim  Nomen  nur  dann  besonders  ausgedrückt, 
wenn  es  sich  um  vernünftige  und  belebte  Wesen,  nicht  dagegen,  wenn  es 
sich  um  leblose  Gegenstände  handelt3.  Im  Jakutischen  stehen  Teile  des 

1  Für  die  amerikanischen  Sprachen  vgl.  z.B.  die  Darstellung  des  Maidu  durch  Roland 
B.  Dixon  (in  Boas'  Handbook  I,  683 ff.):  „Ideas  of  number  are  unequally  developed  in 
Maidu.  In  nouns,  the  exact  expression  of  number  seems  to  have  been  feit  as  a  minor  need; 
whereas,  in  the  case  of  pronominal  forms,  number  is  clearly  and  accurately  expressed" 
(S.  708).  Auch  in  den  melanesischen,  sowie  in  den  polynesischen  und  indonesischen 
Sprachen  ist  es  nur  beim  Pronomen  zur  Ausbildung  einer  scharfen  Zahlunterscheidung 
gekommen;  näheres  bei  Codrington,  Melanes.  languages,  S.  110,  und  bei  H.  G.  v.  d. 
Gabelentz,  Die  melanes.  Sprachen,  S.  37.  Die  Bakairi-Sprache,  die  weder  den  Unter- 
schied des  Singulars  und  Duals  noch  eine  allgemeine  Pluralbezeichnung  kennt,  hat  An- 
sätze für  eine  solche  für  die  erste  und  zweite  Person  des  Pronomens  ausgebildet;  vgl. 
v.  d.  Steinen,  Bakairi-Sprache,  S.  324,  34af. 

2  Dies  ist  z.B.  im  Tibetanischen  der  Fall;  vgl.  J.  J.  Schmidt,  Grammat.  der  tibet. 
Sprache,  Petersburg  1839,  S.  63  f. 

3  Vielfältige  Beispiele  für  diesen  Gebrauch  bei  Fr.  Müller,  Grundriß  II,  1,  261;  II,  1, 


199 


Körpers,  sowie  Kleidungsstücke  gewöhnlich  im  Singular,  auch  wenn  sie 
zweifach  oder  mehrfach  an  einem  Individuum  vorhanden  sind,  pflegen 
dagegen  in  den  Plural  zu  treten,  wenn  sie  mehreren  Personen  zuge- 
hören1: die  Unterscheidung  der  Zahl  ist  somit  auch  hier  in  größerer 
Schärfe  für  die  Anschauung  der  Individuen,  als  innerhalb  der  bloßen 
Sachanschauung  durchgebildet.  — 

Und  auch  hier  drückt  sich  nun  in  den  Zahlbezeichnungen,  die  dieser 
personalen  Sphäre  entstammen,  jene  Wechselbeziehung  aus,  die  über- 
haupt zwischen  der  Zahl  und  dem  Gezählten  besteht.  Es  hat  sich  bereits 
allgemein  gezeigt,  daß  die  ersten  Zahlbezeichnungen,  die  die  Sprache  er- 
schafft, von  ganz  bestimmten  konkreten  Zählungen  herrühren  und  gleich- 
sam noch  die  Farbe  derselben  an  sich  tragen.  Diese  eigentümliche  und 
spezifische  Färbung  wird  am  deutlichsten  dort  erkennbar,  wo  die  Zahl- 
bestimmung nicht  von  der  Unterscheidung  der  Dinge,  sondern  von  der  der 
Personen  ihren  Ausgang  nimmt.  Denn  hier  tritt  die  Zahl  zunächst  nicht 
als  ein  allgemeingültiges  gedankliches  Prinzip,  nicht  als  ein  unbeschränkt 
fortsetzbares  Verfahren  auf,  sondern  hier  schränkt  sie  sich  von  Anfang 
an  innerhalb  eines  bestimmten  Kreises  ein,  dessen  Grenzen  nicht  nur 
durch  die  objektive  Anschauung,  sondern  noch  schärfer  und  klarer  durch 
die  reine  Subjektivität  des  Gefühls  bezeichnet  sind.  Kraft  der  letzteren 
wird  das  „Ich"  vom  „Du",  das  „Du"  vom  „Er"  geschieden;  aber  es  be- 
steht zunächst  kein  Anlaß  und  keine  Notwendigkeit,  über  diese  scharf 
bestimmte  Dreiheit,  die  im  Unterschied  der  „drei  Personen"  gegeben  ist, 
zur  Anschauung  einer  weiteren  Vielheit  fortzugehen.  Soweit  eine  solche 
Vielheit  konzipiert  und  sprachlich  bezeichnet  wird,  trägt  sie  doch  nicht 
den  gleichen  Charakter  der  „Distinktheit"  an  sich,  der  sich  in  der  wech- 
selseitigen Sonderung  der  personalen  Sphären  ausprägt.  Jenseit  der  Drei 
beginnt  vielmehr  sozusagen  das  Reich  der  unbestimmten  Mehrheit  —  der 
bloßen  Kollektivität,  die  in  sich  nicht  weiter  gegliedert  wird.  In  der  Tat 
sehen  wir  überall  in  der  Entwicklung  der  Sprache  die  ersten  Zahlbil- 
dungen an  derartige  Schranken  gebunden.  Die  Sprachen  vieler  Naturvölker 
zeigen,  daß  die  Tätigkeit  der  Sonderung,  wie  sie  sich  am  Gegensatz 

3 1 4 f.,  HI,  2,  5o;  —  für  die  melanesischen  Sprachen  s.  v.  d.  Gabelentz,  a.a.O., 
S.  87.  —  Im  Hupa  haben  nur  wenige  Nomina  eine  Pluralform:  es  sind  solche,  die  das 
Alter  oder  den  Stand  eines  Menschen  bezeichnen  oder  die  eine  Verwandtschaftsbezie- 
hung ausdrücken.  (Goddard,  Athapascan  in  Boas'  Handbook  I,  io4.)  Im  Aleütischen 
gibt  es  zwei  verschiedene  Ausdrücke  der  Mehrheit,  deren  einer  für  lebende  Wesen, 
deren  anderer  für  leblose  Gegenstände  gebraucht  wird;  s.  Victor  Henry,  Esquisse 
d'une  grammaire  raisonnee  de  la  langue  aleoute,  Paris  1879,  S.  i3. 
1  S.  Boethlingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  34o. 


200 


des  Ich  und  Du  entfaltet,  von  der  „Eins"  zur  „Zwei"  fortgeht  —  daß 
es  ein  weiterer  bedeutsamer  Schritt  ist,  wenn  die  „Drei"  in  diesen  Kreis 
einbezogen  wird,  daß  aber,  darüber  hinaus,  die  Kraft  der  Auseinander- 
haltung, die  Leistung  der  „Diskretion",  die  zur  Zahlbildung  hinführt, 
gleichsam  erlahmt.  Bei  den  Buschmännern  reichen  die  Zahlausdrücke 
eigentlich  nur  bis  Zwei:  schon  der  Ausdruck  für  Drei  besagt  nichts  an- 
deres als  ,vier  und  wird  in  Verbindung  mit  der  Fingersprache  für  alle 
Zahlen  bis  10  hinauf  gebraucht1.  Auch  die  Ureinwohner  von  Viktoria 
haben  keine  Zahlworte  über  2  hinaus  entwickelt.  In  der  Binandele- 
Sprache  auf  Neu-Guinea  sind  nur  drei  Zahlworte  für  1,  2,  3  vorhanden, 
während  Zahlen  über  3  durch  Umschreibung  gebildet  werden  müssen2.  In 
allen  diesen  Beispielen,  denen  sich  viele  andere  an  die  Seite  stellen  las- 
sen3, tritt  deutlich  hervor,  wie  eng  der  Zählakt  ursprünglich  an  der  An- 
schauung des  Ich,  Du  und  Er  haftet  und  wie  er  sich  von  ihr  nur  ganz 
allmählich  loslöst.  Die  besondere  Rolle,  die  der  Dreizahl  in  der  Sprache 
und  im  Denken  aller  Völker  zukommt4,  scheint  hierin  ihre  letzte  Erklä- 
rung zu  finden.  Wenn  man  von  der  Zahlauffassung  der  Naturvölker  all- 
gemein gesagt  hat,  daß  jede  Zahl  hier  noch  ihre  eigene  individuelle  Phy- 
siognomie habe,  daß  sie  eine  Art  mystisches  Sein  und  eine  mystische  Be- 
sonderheit besitze,  so  gilt  dies  vor  allem  von  der  Zwei  und  der  Drei.  Beide 
sind  Gebilde  besonderer  Art,  sie  besitzen  gleichsam  je  eine  spezifische 
geistige  Tönung,  kraft  deren  sie  sich  aus  der  gleichförmigen  und  homo- 
genen Zahlenreihe  herausheben.  Auch  in  denjenigen  Sprachen,  die  ein 
reich  entwickeltes  und  durchgebildetes  „homogenes"  Zahlsystem  besitzen, 
ist  diese  Sonderstellung  der  Zahlen  1  und  2,  unter  Umständen  auch  der 
Zahlen  von  1  bis  3  oder  von  1  bis  4,  an  gewissen  formalen  Bestimmungen 
noch  deutlich  kenntlich.  Im  Semitischen  sind  die  Zahlworte  für  1  und  2 
Adjektiva,  die  übrigen  dagegen  abstrakte  Nomina,  die  sich  das  Gezählte  im 

1  Vgl.  Fr.  Müller,  Grundriß  I,  2,  26  f. 

2  Vgl.  Sayce,  Introduction  to  the  science  of  language  I  4i2. 

3  Solche  Beispiele  ihsbes.  aus  dem  Gebiet  der  Papuasprachen  finden  sich  bei  Ray, 
Torres-Expedit.  III,  46,  288,  33i,  345,  373;  s.  auch  Fr.  Müller,  Die  Papuasprachen, 
Globus,  Bd.  72  (1897)  S.  i4o.  Im  Kiwai  wird  dasselbe  Wort  (potoro),  das  zur  Be- 
zeichnung des  Trials  dient,  auch  für  4  angewandt:  seine  Bedeutung  ist  daher  wahrschein- 
lich .wenige',  während  jede  Zahl  über  3  durch  sirio  /viele'  wiedergegeben  wird  (Ray, 
a.  a.  0.,  S.  3o6).  Für  die  melanesischen  Sprachen  s.  H.  C.  v.  d.  Gabelentz,  a.a.O., 
S.  258.  Bei  den  Bakairi  bestehen  nach  K.  v.  d.  Steinen  deutliche  Anzeichen  dafür, 
daß  die  2  die  „Grenze  der  alten  Arithmetik",  der  Ausdruck  der  Vielheit  schlechthin  ge- 
wesen ist;  das  Wort,  das  hier  für  sie  im  Gebrauch  ist,  wird  von  ihm  auf  eine  Wortver- 
bindung zurückgeführt,  die  eigentlich  „mit  dir"  besagt.  (Die  Bakairi-Sprache,  S.  352  f .). 

4  S.  hrz.  das  Material  bei  Usener,  Dreizahl,  Rheinisches  Museum,  N.  F.,  Bd.  58. 


201 


Genitiv  pluralis  unterordnen  und  dabei  das  dem  Gezählten  entgegen- 
gesetzte Geschlecht  besitzen1.  In  der  indogermanischen  Ursprache  waren 
nach  dem  übereinstimmenden  Zeugnis  des  Indo-Iranischen,  des  Baltisch- 
Slawischen  und  des  Griechischen  die  Zahlworte  von  i  bis  4  flektiert, 
während  die  Zahlworte  von  5  bis  19  durch  unflektierte  Eigenschaftsworte, 
die  darüber  hinausgehenden  Zahlen  durch  Substantiva  mit  dem  Genitiv 
des  Gezählten  gebildet  wurden2.  Auch  eine  grammatische  Form,  wie  die 
des  Duals  haftet  weit  länger  an  den  persönlichen  Fürwörtern,  als  sie  sich 
bei  anderen  Wortklassen  erhält.  Am  deutschen  Pronomen  der  ersten  und 
zweiten  Person  erhält  sich  der  Dual,  der  sonst  in  der  ganzen  Deklination 
untergeht,  noch  geraume  Zeit3;  ebenso  ist  in  der  Entwicklung  der  sla- 
wischen Sprachen  der  „objektive"  Dual  weit  früher  als  der  „subjektive" 
verloren  gegangen4.  Auch  der  etymologische  Ursprung  der  ersten  Zahl- 
wörter scheint  in  vielen  Sprachen  noch  auf  diesen  Zusammenhang  mit 
den  Grundworten,  die  für  die  Unterscheidung  der  drei  Personen  ausge- 
bildet waren,  hinzudeuten :  insbesondere  scheint  für  das  Indogermanische 
eine  gemeinsame  etymologische  Wurzel  des  Ausdrucks  für  „Du"  und  des 
Ausdrucks  für  „Zwei"  erwiesen5.  Scherer  beruft  sich  auf  diesen  Zusam- 
menhang, um  daraus  zu  folgern,  daß  wir  hier  an  einem  gemeinsamen 
sprachlichen  Ursprungsort  der  Psychologie,  der  Grammatik  und  der 
Mathematik  stünden;  daß  hier  die  Wurzel  der  Zweiheit  bis  zu  jenem  Ur- 
dualismus  zurückführe,  der  aller  Möglichkeit  des  Sprechens  und  des  Den- 
kens zugrunde  liegt6.  Denn  die  Möglichkeit  des  Sprechens  werde  nach 
Humboldt  durch  Anrede  und  Erwiderung  bedingt,  beruhe  also  auf  einer 
Spannung  und  einer  Spaltung,  die  sich  zwischen  dem  Ich  und  Du  her- 
stellt, um  sich  sodann  in  eben  dem  Akt  des  Sprechens  wieder  auszu- 
gleichen, so  daß  dieser  Akt  als  die  eigentliche  und  wahrhafte  „Vermitt- 
lung zwischen  Denkkraft  und  Denkkraft"  erscheine. 

1  Vgl.  Brockelmann,  Grundriß  I,  484ff.,  II,  273ff. 

2  Vgl.  Meillet,  Einf.  in  die  vgl.  Grammat.  der  indogerm.  Sprachen,  S.  2Ö2ff;  Brug- 
mann,  Kurze  vgl.  Grammat.,  S.  36gff. 

3  Von  den  deutschen  Dialekten  haben  das  Westfälische  und  das  Bayerisch-Österreichische 
bekanntlich  noch  heute  diesen  Gebrauch  des  Duals  in  Resten  bewahrt;  näheres  z.  B.  bei 
Jakob  Grimm,  Deutsche  Grammatik  I,  33o,ff. 

4  Miklosich,  Vergl.  Grammat.  der  slaw.  Sprachen  IV,  4o;  über  ganz  analoge  Erschei- 
nungen im  Gebiet  der  finnisch-ugrischen  Sprachen  s.  z.  B.  Szinnyei,  Finnisch- 
ugrische  Sprachwissenschaft,  Lpz.  1910,  S.  60. 

5  Vgl.  über  diese  Frage  Benfey,  Das  indogermanische  Thema  des  Zahlworts  ,zwei'  ist 
du,  Göttingen  1876;  daß  das  urindg.  *duuö  „letztlich  wohl  auf  personale  Anschauung 
zurückgehe"  nimmt  auch  Brugmann,  Grundriß  II,  2,  8ff .,  an. 

6  Scherer,  Zur  Gesch.  der  deutschen  Sprache,  S.  3o8ff.,  355. 


202 


Gestützt  auf  diese  spekulative  Grundauffassung  der  Sprache,  hat 
W.  v.  Humboldt  in  seiner  Abhandlung  über  den  Dualis  den  Ge- 
brauch dieser  Form,  die  bis  dahin  von  der  Grammatik  oft  als  ein  bloßer 
Ballast,  als  ein  unnützes  Raffiniment  der  Sprache  bezeichnet  worden  war, 
erst  von  innen  her  zu  erhellen  vermocht.  Er  weist  dem  Dual  einen  einer- 
seits subjektiven,  andererseits  objektiven  Ursprung  und  demgemäß  eine 
teils  sinnliche,  teils  geistige  Urbedeutung  zu.  Der  ersteren  Richtung,  die 
die  Zweiheit  als  eine  in  der  Natur  gegebene,  sinnlich  faßbare  Tatsache 
nimmt,  folgt  die  Sprache,  nach  Humboldt,  überall  dort,  wo  sie  den  Dual 
vorwiegend  als  Ausdruck  einer  reinen  Sachanschauung  verwendet.  Dieser 
Gebrauch  ist  über  fast  alle  Sprachgebiete  verbreitet.  Die  doppelt  vor- 
handenen Dinge  stellen  sich  für  das  Sprachgefühl  als  eine  besondere, 
generisch  zusammengehörige  Gesamtheit  dar.  In  den  Bantusprachen  z.  B. 
bilden  solche  doppelt  vorhandenen  Dinge,  wie  die  Augen  und  Ohren,  die 
Schultern  und  Brüste,  die  Knie  und  Füße,  eine  eigene  Klasse,  die  durch 
ein  besonderes  Nominalpräfix  gekennzeichnet  ist1.  Neben  diese  natür- 
lichen Zweiheiten  treten  sodann  die  künstlichen:  wie  die  Paarigkeit  der 
körperlichen  Gliedmaßen,  so  wird  auch  die  bestimmter  Geräte  und  Werk- 
zeuge von  der  Sprache  besonders  herausgehoben.  Aber  dieser  Gebrauch 
des  Duals  innerhalb  der  Sphäre  der  reinen  Nominalbegriffe  zeigt  sich  in 
der  Entwicklung  der  meisten  Sprachen  in  stetem  Rückgang  begriffen. 
Im  Semitischen  gehört  er  der  Grundsprache  an,  beginnt  aber  in  den  Ein- 
zelsprachen mehr  und  mehr  zu  schwinden2.  Im  Griechischen  ist  der  Dual 
in  einzelnen  Dialekten  schon  in  vorhistorischer  Zeit  geschwunden,  und 
auch  bei  Homer  befindet  er  sich  bereits  im  Zustand  der  Auflösung.  Nur 
im  attischen  Dialekt  behauptet  er  sich  längere  Zeit,  um  jedoch  auch  hier 
im  4-  Jahrhundert  vor  Chr.  allmählich  zu  verschwinden 3.  In  diesem  nicht 
an  ein  besonderes  Gebiet  und  an  besondere  Bedingungen  geknüpften  Ver- 
hältnis4 drückt  sich  offenbar  ein  allgemeiner  sprachlogischer  Zusammen- 
hang aus.  Der  Rückgang  des  Duals  fällt  mit  dem  allmählichen,  stetig  fort- 
schreitenden Übergang  von  der  individuellen  undkonkreten  Zahl  zur  Reihen- 
zahl zusammen.  Je  stärker  der  Gedanke  der  Zahlen  reihe  alseinesnach  einem 

1  S.  Meinhof,  Bantugrammatik,  S.  8f. 

2  Vgl.  Brockelmann,  Kurzgef.  vgl.  Grammat.,  S.  222. 

3  Brugmann,  Griechische  Grammatik3,  S.  371;  Meillet,  a.  a.  0.,  S.  6;  vgl.  auch 
Fr.  Müller,  Der  Dual  im  indogermanischen  und  semitischen  Sprachgebiet,  Silzungsbe- 
richte der  Wiener  Akad.,  Philos.-hist.  Kl.,  Bd.  XXXV. 

4  Im  Altägyptischen  ist  der  Dual  noch  in  weiterem  Umfange  vorhanden,  während  er  im 
Koptischen  bis  auf  geringe  Reste  ausgestorben  ist  (s.  Erman,  Ägypt.  Grammat.,  S.106, 
Steindorf,  Kopt.  Grammat.,  S.  69,  73). 


ao3 


streng  einheitlichen  Prinzip  aufgebauten  Ganzen  sich  durchsetzt,  um  so 
mehr  wird  jede  Einzelzahl,  statt  einen  besonderen  Inhalt  zu  repräsentie- 
ren, zur  bloßen  Stelle,  die  jeder  anderen  gleichwertig  ist.  Die  Heterogenei- 
tät  beginnt  der  reinen  Homogeneität  zu  weichen.  Aber  es  ist  begreiflich, 
daß  dieser  neue  Gesichtspunkt  sich  weit  langsamer  innerhalb  der  per- 
sönlichen Sphäre,  als  innerhalb  der  bloßen  Dingsphäre  durchsetzt:  denn 
die  erstere  ist  ihrem  Ursprung  und  ihrem  Wesen  nach  auf  die  Form  der 
Heterogeneität  gestellt.  Das  „Du"  ist  dem  „Ich"  nicht  gleichartig,  son- 
dern es  tritt  ihm  als  sein  Gegensatz,  als  Nicht-Ich  gegenüber:  der 
„Zweite"  entsteht  hier  also  nicht  aus  der  einfachen  Wiederholung  der 
Einheit,  sondern  verhält  sich  zu  ihr  als  der  qualitativ  „Andere".  Zwar 
kann  auch  das  „Ich"  und  „Du"  zur  Gemeinschaft  des  „Wir"  zusammen- 
gehen —  aber  in  dieser  Form  der  Vereinigung  zum  „Wir"  handelt  es 
sich  um  etwas  völlig  anderes,  als  um  eine  kollektiv-dingliche  Zusammen- 
fassung. Schon  Jakob  Grimm  hat  gelegentlich  den  Unterschied  zwischen 
den  dinglichen  und  den  persönlichen  Pluralbegriffen,  die  die  Sprache 
ausbildet,  betont;  schon  er  weist  darauf  hin,  daß,  während  man  einen 
dinglichen  Plural  als  eine  Summe  gleichartiger  Elemente  ansehen,  die 
Männer  also  z.  B.  als  Mann  und  Mann  definieren  könne,  das  „Wir" 
keineswegs  als  eine  derartige  Summe  darzustellen  sei,  da  es  nicht  so- 
wohl als  ,Ich  und  Ich',  als  vielmehr  als  ,Ich  und  Du',  oder  als  ,Ich  und 
Er' gefaßt  werden  muß1.  Das  rein  „distrubutive"  Motiv  der  Zahlbildung,  das 
Motiv  der  reinen  Sonderung  der  Einheiten  tritt  daher  hier  noch  schärfer, 
als  in  jener  Form  der  Zählung  hervor,  die  von  der  Anschauung  der  Zeit 
und  der  zeitlichen  Vorgänge  ihren  Ausgang  nahm2. 

Das  gleiche  Bestreben,  die  Elemente,  die  in  die  Einheit  des  „Wir"  zu- 
sammengefaßt werden,  in  dieser  nicht  einfach  aufgehen  zu  lassen,  son- 
dern sie  in  ihrer  Besonderheit  und  spezifischen  Bestimmtheit  zu  bewah- 
ren, bekundet  sich  in  dem  Gebrauch,  den  die  Sprache  von  dem  Trial 

1  Vgl.  Jak.  Grimm,  Kleinere  Schriften  III,  23o,ff. 

2  Vgl.  Fr.  Müller,  Grundriß  II,  i,  761".  —  S.  auch  die  Bemerkung  von  G.  v.  d.  Gabe- 
len tz,  Die  Sprachwissenschaft,  S.  2 96 f.:  „Das  Familienleben  verkörpert,  um  .  .  gram- 
matisch zu  reden,  die  sämtlichen  Personalpronomina,  Singularis,  Dualis  und  Pluralis; 
die  Familie  oder  Sippe  fühlt  sich  als  dauernde  Einheit  anderen  Familien  gegenüber, 
„Wir"  treten  in  Gegensatz  zu  „Euch"  und  „Ihnen".  Ich  glaube,  das  ist  nicht  bloße 
Wortspielerei.  Wo  konnte  das  persönliche  Fürwort  besser  wurzeln,  als  in  der  Gewohn- 
heit eines  fortgesetzten  Familienlebens?  Manchmal  ist  es  sogar,  als  enthielten  die  Spra- 
chen Erinnerungen  an  den  Zusammenhang  zwischen  den  Vorstellungen  des  Weibes  und 
des  Du.  Das  Chinesische  bezeichnet  beide  mit  einem  Worte  .  .  Ähnlich  ist  es,  wenn  in 
Sprachen  der  Thai-Familie  die  Silbe  me  die  Bedeutung  „Du"  und  „Mutter"  in  sich  ver- 
einigt." 

204 


und  von  dem  inklusiven  und  exklusiven  Plural  macht.  Beides  sind 
nahe  verwandte  Erscheinungen.  Besonders  streng  ist  der  Gebrauch  des 
Duals  und  Trials  in  den  melanesischen  Sprachen  geregelt,  die  in  jedem 
Falle,  wo  von  zwei  oder  drei  Personen  die  Rede  ist,  sorgfältig  darauf 
achten,  daß  eine  entsprechende  Zahlbestimmung  verwendet  wird ;  —  und 
hier  erhält  auch  die  Form  der  ersten  Person  des  Pronomens  eine  andere 
Gestalt,  je  nachdem  der  Redende  sich  in  die  Bezeichnung  des  „Wir"  ein- 
schließt oder  von  ihr  ausschließt1.  Auch  die  australischen  Eingeborenen- 
sprachen pflegen  zwischen  dem  Singular  und  Plural  die  Formen  des  Dual 
und  Trial  einzuschieben,  wobei  letztere  je  eine  Form  besitzt,  die  den  An- 
geredeten einschließt  und  eine  andere,  die  ihn  ausschließt.  Das  „wir  beide" 
kann  also  bald  ,du  und  ich',  bald  kann  es  „er  und  ich';  das  „wir  drei" 
kann  ,ich  und  du  und  er',  bald  kann  es  ,ich  und  er  und  er'  u.  s.  f.  be- 
deuten2. In  manchen  Sprachen  drückt  sich  diese  Unterscheidung  schon  in 
der  lautlichen  Form  der  Mehrheitsbezeichnung  aus  —  wie  z.  B.  in  der 
Delaware-Sprache  nach  Humboldt  der  inklusive  Plural  aus  einer  Zusam- 
menfügung der  Pronominallaute  für  „ich"  und  „du",  der  exklusive  da- 
gegen aus  einer  Wiederholung  des  Pronominallauts  für  „ich"  gebildet 
wird3.  Die  Ausbildung  der  homogenen  Zahlenreihe  und  der  homogenen 
Zahlanschauung  setzt  schließlich  dieser  im  strengen  Sinne  individualisie- 
renden Auffassung  eine  bestimmte  Grenze.  An  die  Stelle  der  besonderen 
Individuen  tritt  die  Gattung,  die  sie  insgesamt  und  in  gleicher  Weise 
umfaßt,  an  die  Stelle  der  qualifizierenden  Besonderung  der  Elemente  tritt 
die  Gleichartigkeit  des  Verfahrens  und  der  Regel,  nach  denen  sie  zu 
quantitativen  Ganzen  zusammengefaßt  werden. 

Überblickt  man  jetzt  das  Ganze  des  Verfahrens,  das  die  Sprache  in  der 
Bildung  der  Zahlvorstellung  und  der  Zahlworte  befolgt,  so  lassen  sich  die 
einzelnen  Momente  desselben  geradezu  per  aniiphrasin  aus  der  exakten  Me- 
thodik der  Zahlbildung  ableiten,  die  in  der  reinen  Mathematik  in  Gel  tung  ist. 
Es  zeigt  sich  hierin  mit  besonderer  Schärfe,  wie  der  logisch-mathematische 
Begriff  der  Zahl,  ehe  er  zu  dem  wird,  was  er  ist,  sich  erst  aus  seinem 

1  Vgl.  Codrington,  Melanesian  languages,  S.  1 1  if Ray,  Torres-Exped.  III,  S.  £28  u.  ö. 

2  Näheres  bei  Matthews,  Aboriginal  languages  of  Victoria  (J.  and  Proceed.  of  the 
R.  Soc.  of  N.  S.  Wales  XXXVI,  72)  und  Languages  of  some  native  tribes  of  Queens- 
land etc.,  ibid.  S.  i55f.,  162.  Eine  Mehrheit  der  Pluralformen  des  Personalpronomens 
findet  sich  auch  in  den  Munda-Sprachen  und  im  Nikobar  (vgl.  P.  W.  Schmidt,  Die 
Mon-Khmer- Völker,  S.  5of.).  Für  die  amerikanischen  Eingeborenensprachen  s.  die  ver- 
schiedenen Beispiele  des  Gebrauchs  des  „Inklusivs"  und  „Exklusivs"  in  Boas'  Hand- 
book, S.  Ö73f.,  76if.,  8i5  u.  ö.,  sowie  v.  d.  Steinen,  Bakairi-Sprache,  S.  34o,f. 

3  S.  Humboldt,  Kawi-Werk  II,  39. 


205 


Gegensatz  und  Gegenteil  heraus  gestalten  muß.  Als  die  wesentlichen  logi- 
schen Eigenschaften  der  mathematischen  Zahlenreihe  hat  man  ihre  Not- 
wendigkeit und  Allgemeingültigkeit,  ihre  Einzigkeit,  ihre  unendliche  Fort- 
setzbarkeit  und  die  völlige  Äquivalenz  und  Gleichwertigkeit  ihrer  ein- 
zelnen Glieder  bezeichnet1.  Aber  keines  dieser  Merkmale  trifft  auf  jenes 
Verfahren  der  Zahlbildung  zu,  das  in  der  Sprache  seinen  ersten  Ausdruck 
und  Niederschlag  findet.  Hier  gibt  es  kein  notwendiges  und  allgemein- 
gültiges Prinzip,  das  alle  zahlenmäßigen  Setzungen  mit  einem  geistigen 
Blicke  zu  umfassen  und  durch  eine  einheitliche  Regel  zu  beherrschen  er- 
laubt. Hier  gibt  es  keine  Einzigkeit  „der"  Zahlreihe  schlechthin,  —  son- 
dern jede  neue  Klasse  von  zählbaren  Objekten  erfordert,  wie  wir  gesehen 
haben,  im  Grunde  einen  neuen  Ansatz  und  neue  Mittel  der  Zählung.  Auch 
von  der  Unendlichkeit  der  Zahl  kann  noch  keine  Rede  sein :  das  Bedürfnis 
wie  die  Möglichkeit  des  Zählens  reicht  nicht  weiter,  als  die  Fähigkeit  der 
anschaulichen  und  vorstellungsmäßigen  Verknüpfung  von  Gegenständen 
zu  Gruppen  mit  ganz  bestimmten  anschaulichen  Gruppen-Charakteren 
reicht2.  Ebensowenig  geht  das  Gezählte  in  den  Zählakt  als  ein  mit  keiner 
qualitativen  Eigenschaft  mehr  Behaftetes,  als  bestimmungslose  Einheit 
ein,  sondern  es  bewahrt  seinen  besonderen  Ding-  oder  Eigenschafts- 
charakter. Bei  den  Eigenschaftsbegriffen  äußert  sich  dies  darin,  daß  sich 
auch  bei  ihnen  die  Form  der  Abstufung  und  der  reihenmäßigen  Zusam- 
menfassung nur  ganz  allmählich  entwickelt.  Betrachtet  man  die  Form  der 
Steigerung  des  Adjektivs,  die  Formen  des  Positiv,  Komparativ  und 
Superlativ,  die  unsere  Kultursprachen  ausgebildet  haben,  so  liegt  in  ihnen 
jedesmal  ein  allgemeiner  Begriff,  ein  bestimmtes  generisches  Merkmal  zu- 
grunde, das  in  der  Steigerung  nur  seiner  Größe  nach  variiert  wird.  Aber 
diesem  Unterschied  der  reinen  Größenbestimmungen  steht  in  den  meisten 
dieser  Sprachen  noch  deutlich  erkennbar  ein  anderes  Verfahren  gegen- 
über, das  den  Größenunterschied  selbst  als  einen  inhaltlichen  Artunter- 
schied auffaßt.  Die  Suppletiverscheinungen,  die  im  Semitischen  und  im 
Indogermanischen  in  der  Steigerung  der  Adjektiva  auftreten,  sind  die 
sprachlichen  Zeugen  dieser  Auffassung.  Wenn  z.  B.  im  indogermanischen 
Kreise  bestimmte  Eigenschaftsbegriffe  —  wie  gut  und  schlecht,  übel  und 
schlimm,  groß  und  viel,  klein  und  wenig  —  nicht  von  einem  einzigen 
Grundstamm,  sondern  von  ganz  verschiedenen  Wortstämmen  gebildet 
werden  (wie  dies  z.  B.  in  unserem  ,,gut"  und  „besser",  im  lat.  bonus, 

1  S.  z.  B.  G.  F.  Lipps,  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Mathematik.  Wundts 
Philos.  Studien,  Bd.  IX— XI,  XIV. 

2  Vgl.  hrz.  die  treffenden  Bemerkungen  Wertheimers,  a.  a.  O.,  bes.  S.  365ff. 


206 


melior,  optimus,  im  griech.  äya'&og,  ä/uelvcov  ägiorog,  ßefaicov  und  ßefaiorog, 
xgeirrcov  und  KgärioTog  der  Fall  ist)  —  so  hat  man  dies  darauf  zurückge- 
führt, daß  hier  eine  ältere  „individualisierende"  Auffassung  durch  die 
spätere  „gruppierende"  Ansicht  noch  deutlich  hindurchscheine,  —  daß  die 
ursprüngliche  „qualitative  Sprachformung"  sich  gegenüber  der  mehr  und 
mehr  um  sich  greifenden  Tendenz  zur  „quantitativen  Sprachformung" 
behaupte1.  Statt  der  Abstraktion  eines  einheitlich-konzipierten  und  laut- 
lich einheitlich-bezeichneten  Eigenschaftsbegriffs,  der  sich  nur  in  seiner 
Gradabstufung  unterscheidet,  begegnet  uns  hier  eine  Grundanschauung, 
die  jedem  „Grad"  einer  Eigenschaft  noch  sein  eigenes  unvertauschbares 
Sein  beläßt,  die  in  ihm  also  nicht  ein  bloßes  „Mehr"  oder  „Weniger", 
sondern  ein  Abgesondertes  und  „Anderes"  sieht.  Klarer  noch  tritt  diese 
Ansicht  in  solchen  Sprachen  heraus,  die  eine  eigene  Form  der  Steigerung 
des  Adjektivums  überhaupt  nicht  entwickelt  haben.  In  der  großen  Mehr- 
zahl der  Sprachen  fehlt  das,  was  wir  als  „Komparativ"  und  „Superlativ" 
zu  bezeichnen  pflegen,  völlig.  Das  Verhältnis  der  Gradunterscheidung 
kann  hier  immer  nur  mittelbar  durch  Umschreibungen  wiedergegeben 
werden,  indem  hierfür  entweder  verbale  Ausdrücke,  wie  „übertreffen", 
„überwinden",  „hinausgehen"  gebraucht  werden2  oder  die  beiden  Bestim- 
mungen, zwischen  denen  der  Vergleich  vollzogen  werden  soll,  in  einfacher 
Parataxe  nebeneinander  treten3.  Auch  adverbiale  Partikel,  die  ausdrücken, 
daß  ein  Ding  im  Vergleich  mit  einem  andern  oder  „gegenüber"  einem 
andern  groß  oder  schön  u.  s.  w.  ist,  können  in  diesem  Sinne  verwendet 
werden4.  Vielen  dieser  Partikeln  haftet  ursprünglich  ein  räumlicher  Sinn 
an,  so  daß  sich  hier  die  qualitative  Gradabslufung  auf  die  örtlichen  Ver- 
hältnisse des  Hoch  und  Tief,  des  Oben  und  Unten  zu  stützen  und  aus  ihr 
hervorzugehen  scheint5.  Auch  hier  setzt  somit  das  sprachliche  Denken 

1  S.  Osthoff,  Vom  Suppletivwesen  der  indogerman.  Sprachen,  Heidelberg  1899,  S.  /igff. 

2  Beispiele  hierfür  insbesondere  aus  afrikanischen  Sprachen  bei  Meinhof,  Bantugramnia- 
tik,  S.  84;  bei  Westermann,  Ewe-Grammat.,  S.  102,  Golasprache,  S.  39,  A7,  Roehl, 
Schambala-Grammatik,  S.  25. 

3  Beispiele  bei  Roehl,  a.  a.  0.,  S.  25;  Codrington,  Melanes.  Languages,  S.  274; 
Gatschet,  Klamath-Language,  S.  5 20 f. 

4  S.  z.  B.  Migeod,  The  Mende  Language,  London,  1908,  S.  65  u.  s.  —  Von  den  semi- 
tischen Sprachen  hat  nur  das  Arabische  eine  besondere  Form  für  die  Steigerung  der 
Adjektiva,  einen  sogen.  „Elativ",  entwickelt;  nach  Brockelmann  (Grundriß  I,  372, 
II,  2ioff.)  handelt  es  sich  dabei  um  ganz  junge,  speziell  arabische  Bildungen. 

6  In  der  Nuba-Sprache  (vgl.  Reinisch,  Nuba-Sprache,  S.  3i)  wird  der  Komparativ 
durch  eine  Postposition  umschrieben,  die  eigentlich  „über"  bedeutet;  im  Fidschi  ist  in 
gleicher  Funktion  ein  Adverb,  das  „aufwärts"  besagt,  im  Gebrauch  (vgl.  H.  C.  v.  d.  Gabe- 
lentz,  Melanes.  Spr.,  S.  6of.).  Auch  die  Komparationssuffixe  des  Indogermanischen 

2O7 


eine  räumliche  Anschauung  ein,  wo  das  abstrakt-logische  Denken  einen 
reinen  Beziehungsbegriff  zu  fordern  scheint.  Und  damit  schließt  sich 
wieder  der  Kreis  unserer  Betrachtung.  Von  neuem  zeigt  sich,  daß  die  Be- 
griffe von  Raum,  Zeit  und  Zahl  das  eigentliche  Grundgerüst  der  objek- 
tiven Anschauung  ausmachen,  wie  sie  sich  in  der  Sprache  aufbaut.  Aber 
sie  können  ihre  Aufgabe  nur  vollziehen,  weil  sie  sich,  ihrer  Gesamt- 
struktur nach,  in  einer  eigentümlichen  ideellen  Mitte  halten  —  weil  sie 
eben  dadurch,  daß  sie  durchaus  an  der  Form  des  sinnlichen  Ausdrucks 
festhalten,  das  Sinnliche  selbst  fortschreitend  mit  geistigem  Gehalt  er- 
füllen und  es  zum  Symbol  des  Geistigen  gestalten. 

IV.  Die  Sprache  und  das  Gebiet  der  „inneren  Anschauung".  — 
Die  Phasen  des  Ichbegriffs 

i* 

Die  Analyse  der  Sprache  war  bisher  wesentlich  darauf  gerichtet,  die 
Kategorien  aufzuweisen,  nach  denen  sie  im  Aufbau  der  objektiven 
Anschauungswelt  verfährt.  Aber  schon  hier  zeigte  es  sich,  daß  diese  me- 
thodisch gesetzte  Grenze  sachlich  nicht  in  wirklicher  Strenge  festzu- 
halten war.  Überall  sahen  wir  uns  vielmehr  schon  bei  der  Darstellung 
jener  „objektiven"  Kategorien  auf  die  subjektive  Sphäre  zurückgewiesen; 
überall  ergab  sich,  daß  jede  neue  Bestimmung,  die  die  Welt  der  Gegen- 
stände innerhalb  der  Sprache  empfing,  auch  auf  die  Bestimmung  der 
Ich  weit  zurückwirkte.  Denn  in  Wahrheit  handelt  es  sich  hier  um  korre- 
lative Anschauungskreise,  die  sich  wechselseitig  ihre  Grenzen  bestimmen. 
Jede  neue  Gestalt  des  Objektiven,  wie  z.  B.  seine  räumliche,  seine  zeit- 
liche, seine  zahlenmäßige  Erfassung  und  Sonderung  ergab  daher  zugleich 
ein  verändertes  Bild  der  subjektiven  Wirklichkeit  und  schloß  auch  an 
dieser  rein  „inneren"  Welt  neue  Züge  auf. 

Aber  daneben  verfügt  nun  die  Sprache  über  eigene  und  selbständige 
Mittel,  die  rein  der  Erschließung  und  Gestaltung  dieses  anderen,  „subjek- 
tiven" Daseins  dienen:  —  und  sie  sind  in  ihr  nicht  minder  festgewurzelt 
und  nicht  minder  ursprünglich,  als  die  Formen,  in  denen  sie  die 
Dingwelt  erfaßt  und  darstellt.  Noch  heute  begegnet  freilich  vielfach  die 
Anschauung,  daß  die  Ausdrücke,  mit  denen  die  Sprache  das  persönliche 
Sein  und  die  Verhältnisse  in  ihm  wiedergibt,  gegenüber  den  anderen,  die 
der  Sach-  und  Dingbestimmung  angehören,  nur  von  abgeleiteter  und  sekun- 

-ero-,  -lero-  rühren  nach  Brugmann  (Kurze  vgl.  Grammat.,  S.  32iff.)  von  Adverbien 
lokaler  Bedeutung  her. 


208 


därer  Bedeutung  seien.  In  Versuchen  zu  einer  logisch-systematischen  Ein- 
teilung der  verschiedenen  Wortklassen  findet  sich  häufig  die  Ansicht 
durchgeführt,  daß  das  Pronomen  keine  selbständige  Wortklasse  mit 
eigenem  geistigen  Gehalt,  sondern  nur  eine  einfache  lautliche  Vertretung 
des  Dingworts,  des  Substantivums  sei;  daß  es  somit  nicht  zu  den  eigent- 
lich autonomen  Ideen  der  Sprachbildung  gehöre,  sondern  nur  den  Ersatz 
für  ein  anderes  darstelle1.  Aber  schon  Humboldt  hat  gegen  diese  „eng- 
grammatische  Auffassung"  mit  entscheidenden  Gründen  Einspruch  er- 
hoben. Er  betont,  daß  es  eine  ganz  unrichtige  Vorstellung  sei,  das  Pro- 
nomen als  den  spätesten  Redeteil  in  der  Sprache  anzusehen:  denn  das 
Erste  im  Akte  der  Sprache  sei  die  Persönlichkeit  des  Sprechenden  selbst, 
der  in  beständiger  unmittelbarer  Berührung  mit  der  Natur  stünde  und 
unmöglich  unterlassen  könne,  ihr  auch  in  der  Sprache  den  Ausdruck 
seines  Ich  gegenüberzustellen.  „Im  Ich  aber  ist  von  selbst  auch  das  Du 
gegeben,  und  durch  einen  neuen  Gegensatz  entsteht  die  dritte  Person,  die 
sich  aber,  da  nun  der  Kreis  der  Fühlenden  und  Sprechenden  verlassen 
wird,  auch  zur  toten  Sache  erweitert2."  Gestützt  auf  diese  spekulative 
Grundansicht  hat  sodann  auch  die  empirische  Sprachforschung  vielfach 
den  Versuch  unternommen,  die  persönlichen  Pronomina  gleichsam  als 
einen  „Urfelsen  der  Sprachschöpfung",  als  den  altertümlichsten  und  dun- 
kelsten, aber  auch  festesten  und  beharrlichsten  Bestand  aller  Sprachen 
zu  erweisen3.  Wenn  jedoch  Humboldt  in  diesem  Zusammenhang  betont, 
daß  das  ursprünglichste  Gefühl,  das  Ich,  kein  nachher  erst  erfundener, 
allgemeiner,  diskursiver  Begriff  sein  könne,  so  ist  freilich  andererseits 
zu  erwägen,  daß  dieses  ursprüngliche  Gefühl  nicht  ausschließlich  in  der 
expliziten  Bezeichnung  des  Ich  als  Pronomen  der  ersten  Person  ge- 
sucht werden  darf.  Die  Sprachphilosophie  würde  vielmehr  selbst  in  der 
von  ihm  bekämpften  engen,  logisch-grammatischen  Ansicht  stehen  blei- 
ben, wenn  sie  die  F.orm  und  die  Gestaltung  des  Ichbewußtseins  ledig- 
lich an  der  Entwicklung  dieser  Bezeichnung  messen  wollte.  In  der  psy- 

1  Diese  Auffassung  des  Pronomens  als  einer  bloßen  „idee  suppleante"  wird  z.  B.  ver- 
treten von  Raoul  de  la  Grasserie,  Du  Verbe  comme  g6nerateur  des  autres  parties 
du  discours,  Paris  io,i4-  —  Der  Name  des  „Pronomens"  oder  der  dvrcovvfica  bei 
den  antiken  Grammatikern  geht  auf  diese,  Auffassung  zurück:  vgl.  z.  B.  Apollonius  de 
Syntaxi,  L.  II,  cap.  5. 

2  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  io3f.);  vgl.  bes.  die  Abhandl. 
über  den  Dualis  (W.  VI,  i,  26 ff.)  und  über  die  Verwandtschaft  der  Ortsadverbien  mit 
dem  Pronomen  (W.  VI,  1,  3o4ff.). 

3  Jak.  Grimm,  Deutsche  Grammatik  I,  335ff.;  W.  Scherer,  Zur  Gesch.  der  deutschen 
Sprache,  S.  21 5. 


209 


chologischen  Analyse  und  Beurteilung  der  Kindersprache  ist  man  oft  dem 
Irrtum  verfallen,  in  dem  ersten  Auftreten  des  Ichlautes  auch  die  pri- 
märe und  früheste  Stufe  des  Ichgefühls  zu  sehen.  Aber  darin  ist  über- 
sehen, daß  der  innere  seelisch-geistige  Gehalt  und  seine  sprachliche  Aus- 
drucksform sich  niemals  schlechthin  decken,  und  daß  insbesondere  die 
Einheit  dieses  Gehalts  sich  keineswegs  in  der  Einfachheit  des  Aus- 
drucks zu  spiegeln  braucht.  Die  Sprache  verfügt  vielmehr,  um  eine  be- 
stimmte Grundanschauung  zu  vermitteln  und  darzustellen,  über  eine  Fülle 
verschiedenartiger  Ausdrucksmittel,  und  erst  aus  der  Gesamtheit  und  dem 
Zusammenwirken  derselben  wird  die  Richtung  der  Bestimmung,  die  sie 
innehält,  deutlich  erkennbar.  Die  Gestaltung  des  Ichbegriffs  ist  daher 
nicht  an  das  Pronomen  gebunden,  sondern  sie  erfolgt  ebenso  sehr  durch 
andere  sprachliche  Sphären,  wie  z.  B.  durch  das  Medium  des  Nomen  und 
durch  das  Medium  des  Verbum  hindurch.  Insbesondere  an  diesem  letz- 
teren können  die  feinsten  Besonderungen  und  Nuancierungen  des  Ich- 
gefühls sich  ausprägen,  da  im  Verbum  die  objektive  Vorgangsauffassung 
sich  mit  der  subjektiven  Auffassung  des  Tuns  am  eigentümlichsten  durch- 
dringt, und  da  in  diesem  Sinne  die  Verba  sich,  nach  dem  Ausdruck  der 
chinesischen  Grammatiker,  als  die  eigentlich  „lebenden  Wörter"  von  den 
Nomina  als  „toten  Wörtern"  charakteristisch  unterscheiden1. 

Zunächst  freilich  scheint  auch  der  Ausdruck  des  Ich  und  des  Selbst 
der  Anlehnung  an  die  nominale  Sphäre,  an  das  Gebiet  der  substantiell- 
gegenständlichen Anschauung  zu  bedürfen  und  sich  von  ihr  nur  schwer 
losreißen  zu  können.  In  den  verschiedensten  Sprachkreisen  begegnen  uns 
Ichbezeichnungen,  die  von  gegenständlichen  Bezeichnungen  hergenommen 
sind.  Insbesondere  zeigt  die  Sprache,  wie  das  konkrete  Selbstgefühl  an- 
fangs noch  völlig  an  die  konkrete  Anschauung  des  eigenen  Leibes  und 
seiner  einzelnen  Gliedmaßen  gebunden  bleibt.  Es  ergibt  sich  hier  dasselbe 
Verhältnis,  das  uns  im  Ausdruck  der  räumlichen,  der  zeitlichen  und  der 
zahlenmäßigen  Bestimmungen  entgegentrat,  die  gleichfalls  diese  durch- 
gehende Orientierung  am  physischen  Dasein  und  insbesondere  am  mensch- 
lichen Körper  zeigen.  Vor  allem  sind  es  die  altaischen  Sprachen,  in 
denen  sich  dieses  System  der  Ichbezeichnung  sehr  deutlich  ausprägt.  Alle 
Zweige  dieses  Sprachstammes  zeigen  eine  Neigung,  das,  was  wir  durch 
die  persönlichen  Fürwörter  ausdrücken,  durch  Nomina,  die  mit  Kasus- 
endungen oder  auch  mit  Possessivsuffixen  versehen  sind,  zu  bezeichnen. 
Die  Ausdrücke  für  ,ich'  oder  ,mich'  werden  daher  durch  andere,  die  etwa 
mein  Sein,  mein  Wesen  oder  auch  in  „drastisch-materieller  Weise",  ,mein 

1  Vgl.  hrz.  G.  v.  d  .  Gabelentz,  Chines.  Grammatik,  S.  112L 


2IO 


Körper'  oder  ,mein  Busen'  besagen,  ersetzt.  Auch  ein  rein  räumlicher 
Ausdruck,  z.  B.  ein  Wort,  das  seiner  Grundbedeutung  nach  etwa  mit 
JMiüelpunkt'  wiederzugeben  wäre,  kann  in  diesem  Sinne  verwendet  wer- 
den1. In  ähnlicher  Weise  wird  z.  B.  im  Hebräischen  das  Reflexivpro- 
nomen nicht  nur  durch  Worte  wie  Seele  oder  Person,  sondern  auch  durch 
solche  wie  Antlitz,  wie  Fleisch  oder  Herz  wiedergegeben2  —  wie  ja  auch 
das  lateinische  persona  ursprünglich  das  Antlitz  oder  die  Maske  des  Schau- 
spielers bedeutet  und  in  seiner  Verwendung  im  Deutschen  noch  lange  ge- 
braucht wird,  um  das  äußere  Ansehen,  die  Figur  und  Statur  eines  Einzel- 
wesens zu  bezeichnen3.  Im  Koptischen  bedient  man  sich  zur  Wiedergabe 
des  Ausdrucks  „ Selbst"  des  Nomens  ,Leib',  dem  die  Possessivsuffixe  an- 
gehängt werden*.  Auch  in  den  indonesischen  Idiomen  wird  das  Reflexiv- 
objekt durch  ein  Wort  bezeichnet,  das  ebenso  wohl  Person  und  Geist,  wie 
Leib  besagt5.  Schließlich  reicht  dieser  Gebrauch  auch  bis  in  die  indoger- 
manischen Sprachen,  wo  z.  B.  im  vedischen  und  klassischen  Sanskrit  das 
Selbst  und  das  Ich  bald  durch  das  Wort  für  ,Seele'  (atmän),  bald  durch 
das  für  ,Leib'  (lanu)  wiedergegeben  wird6.  In  alledem  zeigt  sich,  daß  die 
Anschauung  des  Selbst,  der  Seele,  der  Person  dort,  wo  sie  in  der  Sprache 
aufzuleuchten  beginnt,  zunächst  noch  verhaftet  an  den  Körpern  klebt  — 
wie  ja  auch  in  der  mythischen  Anschauung  die  Seele  und  das  Selbst 
des  Menschen  anfangs  als  bloße  Wiederholung,  als  „Doppelgänger" 
des  Leibes  gedacht  wird.  Auch  in  der  formellen  Behandlung  bleiben  die 
pronominalen  und  die  nominalen  Ausdrücke  in  vielen  Sprachen  auf  lange 
Zeit  hin  ungeschieden,  indem  sie  mittels  der  gleichen  Formelemente 
flektiert  und  in  Numerus,  Genus  und  Kasus  einander  angeglichen  werden7. 

1  Näheres  hierüber  hei  II.  Winkler,  Der  ural-altaische  Sprachstamm,  S.  5gff.,  iGof., 
bei  Hoff  mann,  Japan.  Sprachlehre,  S.  91  ff.  u.  bei  J.  J.  Schmidt,  Grammat.  der 
xnongol.  Sprache,  Pelersb.  i83i,  S.  tibi. 

2  Über  das  allgemeine  Verfahren,  das  die  semitischen  Sprachen  zum  Ausdruck  des  Re- 
flexivpronomens anwenden,  s.  Brockelmann,  Grundriß  II,  228  u.  327;  in  den  mei- 
sten Fällen  muß  das  Reflexivum  mit  dem  Wort  für  , Seele*  oder  seinen  Synonymen 
(Mann,  Kopf,  Wesen)  umschrieben  werden. 

3  Näheres  in  Grimms  Deutsch.  Wörterb.  VII,  Sp.  1 56 1/62. 

4  Steindorff,  Kopt.  Grammatik  $  88;  ähnlich  im  Altägyptischen  vgl.  Erman,  a.a.O., 
S.  85. 

6  Vgl.  Brandstetler,  Indonesisch  u.  Indogermanisch  im  Satzbau,  Luzern  1  g  1 4,  S.  18. 

6  Whitney,  Indische  Grammatik,  S.  190;  Delbrück,  Vergl.  Syntax  I,  ^77- 

7  Vgl.  Wundt,  Die  Sprache  II,  /^f.  u.  die  dort  aus  Fr.  Müller 's  Grundriß  ange- 
führten Beispiele.  —  Nicht  auf  der  gleichen  Stufe,  wie  die  hier  betrachteten  Erschei- 
nungen, stehen  solche  substantivischen  oder  adjektivischen  Umschreibungen  der  persön- 
lichen Fürwörter,  die  durch  Rücksichten  der  Etikette  und  des  Zeremoniells  bedingt 


211 


Fragt  man  freilich  nicht  sowohl  nach  der  Form,  in  welche  die  Sprache 
die  Ichvorstellung  kleidet,  als  vielmehr  nach  dem  geistigen  Gehalt  dieser 
Vorstellung  selbst,  so  zeigt  sich,  daß  der  letztere  auch  innerhalb  des  Ge- 
biets des  rein  nominalen  oder  verbalen  Ausdrucks  zu  scharfer  Bezeich- 
nung und  zu  deutlicher  Bestimmung  gelangen  kann.  In  fast  allen  Spra- 
chen, die  eine  Unterscheidung  der  Nomina  nach  bestimmten  Klassen 
durchführen,  findet  sich  der  Gegensatz  einer  Personen-  und  einer  Sachen- 
klasse bestimmt  entwickelt.  Und  es  handelt  sich  hierbei  nicht  um  eine  ein- 
fache, gleichsam  biologische  Abgrenzung  zwischen  dem  Gebiet  des  Be- 
lebten und  des  Unbelebten,  die  als  solche  noch  ganz  der  Anschauung  der 
Natur  angehören  würde,  sondern  um  oft  überraschende  Feinheiten  in  der 
Auffassung  und  Nuancierung  persönlichen  Daseins.  In  den  Bantusprachen 
bezeichnet  eine  eigene,  durch  ein  besonderes  Präfix  herausgehobene 
Klasse  den  Menschen  als  selbständig  handelnde  Persönlichkeit,  während 
eine  andere  Klasse  die  belebten,  aber  nicht  persönlichen  Wesen  umfaßt. 
In  diese  letztere  wird  der  Mensch  immer  dann  eingereiht,  wenn  er  nicht 
als  selbständig  Handelnder,  sondern  als  Organ  und  als  Vertreter  eines 
anderen,  z.  B.  als  sein  Bote,  sein  Gesandter  oder  Geschäftsträger  auftritt. 
Die  Sprache  trennt  also  hier  die  Arten  und  die  Grade  der  Persönlichkeit 
je  nach  der  Funktion,  die  sie  ausübt  und  je  nach  der  selbständigen  oder 
unselbständigen  Form  und  Richtung  des  Willens,  die  sich  darin  aus- 
prägt1. Einen  Keim  zu  dieser  Grundanschauung  kann  man  auch  in  den- 
jenigen Sprachen  finden,  die  die  Benennung  persönlicher  Wesen  dadurch 
von  bloßen  Sachbezeichnungen  unterscheiden,  daß  sie  ihr  einen  beson- 
deren „persönlichen  Artikel"  vorangehen  lassen.  In  den  melanesischen 
Sprachen  wird  ein  solcher  Artikel  regelmäßig  den  Namen  von  Individuen 

sind,  und  nach  Humboldt  (W.  VI,  i,  307 f.  u.  Kawi-Werk  II,  335)  einem  „Zustande 
halber  Zivilisation"  angehören.  Hier  werden  für  die  zweite,  angeredete  Person  Ausdrücke 
der  Erhabenheit  (wie  Herrscher,  Herrlichkeit),  für  das  eigene  Ich  Ausdrücke  der  Er- 
niedrigung (wie  Diener,  Sklave  u.  s.  f.)  gebraucht.  Am  weitesten  hierin  ist  das  Japa- 
nische gegangen,  in  welchem  durch  solche  Höflichkeitsumschreibungen,  die  nach  dem 
Range  des  Sprechenden  und  des  Angeredeten  aufs  genaueste  abgestuft  werden,  der  Ge- 
brauch der  persönlichen  Pronomina  völlig  verdrängt  worden  ist.  ,,Die  Unterscheidung 
dreier  grammatischer  Personen  (ich,  du,  er)"  —  sagt  Hoffmann  (Japan.  Sprachlehre, 
S.  75)  hierüber  —  „ist  der  japanischen  Sprache  fremd  geblieben.  Alle  Personen,  so- 
wohl die  des  Sprechenden,  als  die,  zu  der  oder  von  der  man  spricht,  werden  als  In- 
halt der  Vorstellung,  also,  nach  unserem  Idiom,  in  der  dritten  Person  aufgefaßt  und 
die  Etikette  hat,  die  Bedeutung  der  Eigenschaftswörter  betrachtend,  zu  entscheiden, 
welche  Person  mit  diesem  oder  jenem  Worte  gemeint  sei.  Die  Etikette  unterscheidet 
allein  zwischen  dem  Ich  und  Nicht-Ich,  erniedrigt  das  eine,  erhöht  das  andere." 
1  Vgl.  hrz.  Meinhof,  Bantugrammatik,  S.  6f. 


212 


und  Stämmen  vorangesetzt;  er  findet  sich  aber  auch  vor  unbelebten 
Dingen,  wie  Bäumen  oder  Booten,  Schiffen  oder  Waffen,  wenn  sie  nicht 
als  bloße  Vertreter  ihrer  Gattung,  sondern  als  Individuen  gefaßt  und  mit 
einem  bestimmten  Eigennamen  versehen  werden.  Einzelne  Sprachen  ha- 
ben zwei  verschiedene  persönliche  Artikel  ausgebildet,  die  verschiedenen 
Klassen  belebter  Wesen  beigelegt  werden,  wobei  offenbar  eine  Art  Wert- 
abstufung innerhalb  des  Persönlichkeitsbegriffs  selbst  zugrunde  liegt1. 
Ein  Gefühl  für  derartige,  dem  Kreise  der  reinen  Subjektivität  angehörige 
Unterschiede  bekunden  auch  einige  australische  Eingeborenensprachen, 
die  eine  verschiedene  Form  des  Nominativ,  des  Subjektsausdrucks,  wäh- 
len, wenn  es  sich  darum  handelt,  ein  Wesen  einfach  als  daseiend  und 
wenn  es  sich  darum  handelt,  es  als  tätig,  als  selbständig  handelnd  zu  be- 
zeichnen2. Analoge  Unterschiede  vermag  die  Sprache  am  Verbum  zu  be- 
zeichnen, indem  z.  B.  durch  ein  besonderes  Präfix  an  ihm  zum  Ausdruck 
gebracht  wird,  ob  es  sich  in  dem  Vorgang,  der  durch  das  Verbalwort  aus- 
gesagt wird,  um  ein  einfaches  „natürliches"  Geschehen  oder  um  die  Ein- 
wirkung eines  tätigen  Subjekts  oder  eine  gemeinschaftliche  Aktion 
mehrerer  solcher  Subjekte  handelt3.  In  alledem  haben  wir  es  äußerlich 
nicht  mit  Unterscheidungen  zu  tun,  die  von  der  Sprache  am  Pronomen 

1  Näheres  hierüber  s.  bei  Codrington,  Melanes.  Languages,  S.  io8ff.  u.  bei  Brand- 
stelter,  Der  Artikel  des  Indonesischen,  S.  6,  36,  46.  Von  den  amerikanischen  Einge- 
borenensprachen besitzt  z.B.  das  Hupa  ein  besonderes  Fürwort  der  dritten  Person,  das 
für  die  erwachsenen  männlichen  Mitglieder  des  Stammes,  ein  anderes,  das  für  Kinder 
und  Greise,  für  Mitglieder  anderer  Stämme  und  für  Tiere  in  Gebrauch  ist,  s.  Goddard, 
Alhapascan  in  Boas'  Handbook  I,  117. 

2  Der  einfache,  lediglich  der  Benennung  einer  Person  oder  eines  Gegenstandes  dienende 
Nominativ  unterscheidet  sich  hier  von  dem  „Nominativus  agenlis" ,  der  dort  zur  Verwen- 
dung kommt,  wo  ein  transitives  Verbum  an  das  Subjekt  herantritt.  „Wenn  man  z.  B.  in 
der  Ferne  eine  Person  wahrnimmt  und  frägt:  Wer  ist  dies?,  so  bekommt  man  die  Ant- 
wort: kore  (ein  Mann);  will  man  aber  sagen:  der  Mann  hat  das  Känguruh  getötet,  so 
bedient  man  sich  einer  anderen  Form,  der  subjektiven  Nominativform,  welche  überall 
dort  eintreten  muß,  wo  das  Nomen  als  wirkend,  handelnd  hingestellt  werden  soll."  S. 
Fr.  Müller,  Novara-Reise,  S.  247;  vgl.  bes.  Matthews,  Aboriginal  Languages  of 
Victoria,  S.  78,  86,  94. 

3  Vgl.  Godrington,  Melanes.  Languages,  S.  i83ff.  —  Das  Bugische,  ein  indonesi- 
sches Idiom,  kennt  beim  Verbum  zwei  verschiedene  „Passivpräfixe",  von  denen  das  eine 
die  Nuance  des  „Unbeabsichtigten"  enthält,  also  ein  Ereignis  bezeichnet,  das  ohne  die 
Mitwirkung  eines  tätigen  Subjekts  „von  selbst"  eingetreten  ist.  S.  B randstetter, 
Sprachvergleich.  Charakteristik  eines  indones.  Idioms,  Luzern  191 1,  S.  37  f.  Die  Nuba- 
Sprache  macht  nach  Reinisch  (Nuba-Sprache,  S.  63ff.)  einen  scharfen  Unterschied 
zwischen  der  Passiv-  und  der  Inchoativform  beim  Verbum:  die  erstere  wird  gebraucht, 
wenn  ein  Zustand  durch  tätiges  Eingreifen  eines  Subjekts,  die  letztere,  wenn  er  durch 
bloße  Naturbedingungen  infolge  des  regelrechten  Laufes  der  Ereignisse  herbeigeführt  wird. 


2l3 


getroffen  werden,  aber  es  ist  ersichtlich,  daß  nichtsdestoweniger  der  reine 
Begriff  des  persönlichen  Seins  und  Wirkens  scharf  erfaßt  und  in  man- 
nigfachen geistigen  Abstufungen  durchgeführt  wird.  — 

Die  außerordentliche  Fülle  dieser  Abstufungen  tritt  besonders  in  den 
reichen  Möglichkeiten  zulage,  die  die  Sprache  zur  Unterscheidung  der 
sogen.  „Genusunterschiede"  am  Yerbum  besitzt.  Vom  Standpunkt  der 
rein  logischen  Analyse  des  Tuns  scheint  an  ihm  auf  den  ersten  Blick  nur 
ein  einziger,  scharf  ausgeprägter  Unterschied  erfaßbar  zu  sein:  das  selb- 
ständige Tun  steht  dem  bloßen  Erleiden,  die  aktive  Form  steht  der  pas- 
siven gegenüber.  Schon  die  Aristotelische  Kategorientafel  hat  daher  den 
grammalischen  Unterschied,  den  wir  durch  den  Gegensatz  des  „Aktiv" 
und  „Passiv"  auszudrücken  pflegen,  zu  allgemein  logischer  und  meta- 
physischer Bedeutung  zu  erheben  gesucht.  Aber  es  ist  keineswegs  zu- 
treffend, wenn  man  behauptet  hat,  daß  Aristoteles,  indem  er  in  dieser 
Weise  den  Grundgegensatz  des  Wirkens  und  Leidens,  des  jzoietv  und  ndoxeiv 
in  den  Mittelpunkt  stellt,  sich  hierbei  lediglich  von  Tendenzen  leiten  ließ, 
die  ihm  durch  die  Form  und  Eigenart  der  griechischen  Sprache  unmit- 
telbar gegeben  und  gewissermaßen  aufgedrängt  waren.  Die  Sprache,  für 
sich  allein,  hätte  hier  eher  einen  andern  Weg  gewiesen :  denn  gerade  im 
Griechischen  ist  der  Unterschied  des  „Passivums"  gegen  die  übrigen 
Genera  des  Verbums  weder  morphologisch  noch  semasiologisch  scharf 
durchgeführt.  Das  Passivum  hat  sich  hier  auch  funktionell  erst  allmäh- 
lich teils  aus  dem  Aktiv,  teils  aus  dem  Medium  entwickelt1.  Blickt  man 
vollends  auf  andere  Sprachkreise  hinüber,  so  zeigt  sich  deutlich,  daß  der 
einfache  Gegensatz  des  Tuns  und  Erleidens  in  der  Ausbildung  des  verbalen 
Ausdrucks  keineswegs  allein  bestimmend  oder  ausschlaggebend  ist,  son- 
dern daß  er  hier  durch  eine  Fülle  anderer  Gegensatzmotive  beständig 
gekreuzt  wird.  Auch  dort,  wo  die  Sprachen  ihn  als  solchen  klar  entwickelt 
haben,  wo  sie  zwischen  „aktiven"  und  „passiven"  Formen  scharf  unter- 
scheiden, ist  dieser  Unterschied  doch  nur  einer  unter  vielen:  er  gehört 
einer  Gesamtheit  begrifflicher  Stufenfolgen  des  verbalen  Ausdrucks  an 
und  wird  durch  sie  vermittelt.  In  anderen  Sprachen  wieder  kann  dieser 
Gegensatz  ganz  fehlen,  so  daß  hier,  wenigstens  formell,  kein  besonderer 
passiver  Gebrauch  des  Verbums  vorhanden  ist.  Bestimmungen,  für  die  wir 
gewohnt  sind  einen  passiven  Ausdruck  einzusetzen,  werden  hier  durch 
aktive  Verbalformen,  insbesondere  durch  die  dritte  Person  Pluralis  des 
aktiven  Verbums  umschrieben  und  ersetzt2.  In  den  malayischen  Sprachen 

1  Psähercs  bei  Brugmann,  Griech.  Grammat.3,  S.  458 ff. 

2  Beispiele  hierfür  aus  den  melanesischen  Sprachen  bei  Godrington,  a.  a.  0.  S.  i()if-; 


2l4 


ist,  nach  Humboldt,  die  sogen.  „Passivbildung"  eigentlich  die  Umsetzung 
in  eine  Nominalform:  ein  eigentliches  Passiv  gibt  es  nicht,  weil  das  Ver- 
bum  selbst  nicht  als  Aktivum  gedacht  ist,  sondern  mehr  nominalen  Cha- 
rakter hat.  Der  Bezeichnung  des  Vorgangs  haftet  hier  zunächst  weder 
die  Beziehung  auf  einen  Tätigen,  noch  die  auf  einen  Leidenden  an:  das 
Yerbum  konstatiert  einfach  den  Eintritt  des  Vorgangs  selbst,  ohne  ihn 
ausdrücklich  an  die  Energie  eines  Subjekts  zu  knüpfen  oder  die  Bezie- 
hung zu  dem  Objekt,  das  von  ihm  betroffen  wird,  in  der  Verbalform  selbst 
kenntlich  zu  machen1. 

Aber  daß  diese  mangelnde  Entwicklung  des  abstrakten  Gegensatzes 
von  Tun  und  Leiden  nicht  etwa  darin  ihren  Grund  hat,  daß  hier  die  kon- 
krete Anschauung  des  Tuns  selber  und  seiner  Nuancierungen  noch  fehlt: 
das  zeigt  sich  auf  der  anderen  Seite  darin,  daß  eben  diese  Anschauung 
oft  in  überraschender  Vielseitigkeit  in  den  gleichen  Sprachen,  denen  die 
formelle  Unterscheidung  des  Aktivum  und  Passivum  fehlt,  ausgebildet  sein 
kann.  Die  „Genera"  des  Verbs  sind  hier  häufig  nicht  nur  einzeln  aufs 
schärfste  bestimmt,  sondern  sie  können  einander  auch  in  der  mannig- 
faltigsten Weise  überdecken  und  sich  zu  immer  komplexeren  Ausdrücken 
zusammenschließen.  An  der  Spitze  stehen  hier  zunächst  jene  Formen,  die 
einen  Zeitcharakter  an  der  Handlung  bezeichnen  —  wobei  es  sich  je- 
doch, nach  dem  Früheren,  nicht  sowohl  um  den  Ausdruck  ihrer  relati- 
ven Zeitstufe,  als  vielmehr  um  den  Ausdruck  der  Aktionsart  handelt. 
Es  tritt  eine  scharfe  Trennung  der  „perfektiven"  und  „imperfektiven", 
der  „momentanen"  oder  „kursiven",  der  einmaligen  oder  iterativen  Aktions- 
art ein:  es  wird  unterschieden,  ob  die  Handlung  in  dem  Moment  des 
Sprechens  als  eine  vollendete  und  abgeschlossene  vorliegt  oder  ob  sie  noch 
in  der  Entwicklung  begriffen  ist,  ob  sie  auf  einen  bestimmten  Augenblick 

aus  afrikanischen  Sprachen  bei  Westermann,  Sudansprachen,  S.  70,  Migeod,  Mende 
Language,  S.  82.  Zum  Ersatz  des  fehlenden  Passivum  dienen  oft  auch  impersonale  Wen- 
dungen oder  Formen  aktiver  Prägung,  denen  aber  eine  passive  Bedeutungsnuance 
innewohnt.  Ein  Satz  wie  ,,er  wird  geschlagen"  kann  etwa  durch  Ausdrücke  wie  ,er 
empfängt  oder  erträgt  das  Schlagen'  oder,  ganz  materiell,  durch  ,er  ißt  Schläge'  wie- 
dergegeben werden.  (Beispiele  bei  Fr.  Müller,  Novara-Reise,  S.  98.)  Das  Japanische 
bildet  mittels  eines  Hilfsverbums,  dessen  Grundbedeutung  ,bekommen,  sich  zueignen' 
ist,  abgeleitete  Verba,  die  das  Sich-Zueignen  einer  von  außen  kommenden  Wirkung  be- 
zeichnen und  in  diesem  Sinne  als  Verba  passiva  gebraucht  werden  können  (Iloff- 
mann,  Japan.  Sprachlehre,  S.  242).  Auch  im  Chinesischen  ist  die  Bildung  des  „Pas- 
sivs" durch  solche  Hilfszeitwörter  wie  »sehen,  finden,  empfangen'  (z.  B.  Haß  sehen 
für  »gehaßt  werden')  häufig,  vgl.  G.  v.  d.  Gabelentz,  Chines.  Grammat.,  S.  n3,  428f. 
1  Humboldt,  Kawi-Werk  II,  80,  85,  vgl.  die  Parallelen  aus  australischen  Sprachen  bei 
Fr.  Müller,  Novara-Reise,  S.  2Ö4f.  S.  auch  Codrington,  a.  a.  O.,  S.  192. 


2l5 


beschränkt  ist  oder  sich  über  eine  größere  Zeitdauer  erstreckt,  ob  sie  in 
einem  einzigen  Akt  oder  in  mehrfach  wiederholten  Akten  sich  vollzieht. 
Zur  Bezeichnung  derartiger  Bestimmungen  kann  —  neben  den  früher 
erwähnten  Mitteln  zum  Ausdruck  der  „Aktionsart"1  —  je  eine  eigene  Ge- 
nusform des  Verbums  gebraucht  werden.  Um  den  einfachen  Zustand  als 
solchen  zu  bezeichnen,  kann  ein  „Stativ" ,  um  ein  allmähliches  Werden 
auszudrücken,  kann  ein  Inchoativ,  um  den  Abschluß,  den  eine  Handlung 
gefunden  hat,  auszudrücken,  kann  ein  „Cessativ"  oder  „Konklusiv"  ge- 
braucht werden,  Soll  die  Handlung  als  eine  anhaltende  und  regelmäßige, 
als  eine  Gewohnheit  oder  dauernde  Gepflogenheit  gekennzeichnet  werden, 
so  tritt  dafür  die  Form  des  „Habitualis"  ein2.  Andere  Sprachen  haben  in 
besonders  reichem  Maße  die  Unterscheidung  der  momentanen  Zeitwörter 
von  den  frequentativen  Zeitwörtern  durchgebildet3.  Neben  diesen  Unter- 
schieden, die  im  wesentlichen  die  Handlung  nach  ihrem  objektiven  Charak- 
ter betreffen,  kann  sodann  in  der  Verbalform  vor  allem  die  eigene  innere 
Stellungnahme,  die  das  Ich  ihr  gegenüber  einnimmt,  zum  Ausdruck  ge- 
langen. Diese  selbst  kann  hierbei  entweder  rein  theoretischer  oder  prakti- 
scher Art  sein,  kann  der  reinen  Willenssphäre  oder  auch  der  Urteilssphäre 
entstammen.  In  ersterer  Hinsicht  kann  die  Handlung  als  erwünscht,  als 
verlangt  oder  gefordert,  in  letzterer  kann  sie  als  assertorisch  oder  als  pro- 
blematisch gewiß  bezeichnet  werden.  Nach  dieser  Richtung  bilden  sich 
jetzt,  wie  zuvor  die  Unterschiede  in  der  Benennung  der  Aktionsarten,  die 
eigentlich  „modalen"  Unterschiede  aus.  Es  entwickelt  sich  der  Konjunk- 
tiv, der  zugleich  „volitive",  „deliberative"  und  „prospektive"  Bedeutung 
hat;  —  der  Optativ,  der  teils  im  Sinne  des  Wunsches,  teils  als  Ausdruck 
einer  Vorschrift  oder  einer  einfachen  Möglichkeit  gebraucht  wird4.  Auch 
ist  die  Form  des  Verlangens,  vom  einfachen  Wunsch  bis  zum  Befehl  hin, 
in  sich  wieder  verschiedenartiger  Abstufungen  fähig,  die  sich  etwa  in  der 
Unterscheidung  eines  einfachen  „Prekativ"  vom  „Imperativ"  aussprechen 
können5.  Viele  Indianersprachen  kennen  neben  einem  imperativen,  implora- 

1  Vgl.  ob.  S.  i77ff. 

2  Für  diesen  Gebrauch  des  „Stativs"  und  „Inchoativs"  sowie  des  „Habitualis"  vgl.  z.  B. 
die  Beispiele  bei  Reinisch,  Nuba-Sprache,  S.  53 f.,  58 ff .  u.  Hanoteau ,  Grammaire  Ka- 
byle,  S.  122 ff. 

3  So  besonders  die  finnisch-ugrischen  Sprachen,  s.  Szinnyei,  Finnisch-ugrische  Sprach- 
wissenschaft, S.  i2off.  Das  Ungarische  hat  allein  acht  verschiedene  Frequentativsuffixe, 
cf.  Simonyi,  Die  ungar.  Sprache,  S.  284ff. 

4  So  im  Indogermanischen,  vgl.  Brugmann,  Kurze  vgl.  Grammat.,  S.  578 ff. 

5  Eine  solche  Unterscheidung  kennt  z.  B.  das  Mongolische,  vgl.  J.  J.  Schmidt,  Gram- 
mat. der  mongol.  Sprache,  S.  7^-  Über  den  „Prekativ"  des  Altindischen  vgl.  Thumb, 
Handb.  des  Sanskrit,  Heidelb.  1905,  S.  385 f. 

2l6 


tiven,  desiderativen  und  obligativen  Modus,  der  ausdrückt,  daß  die  Hand- 
lung getan  werden  soll,  die  rein  theoretischen  Modi,  die  von  den  Gramma- 
tikern als  „Dubilaliv"  oder  „Quotativ"  bezeichnet  werden,  und  die  besagen, 
daß  die  Handlung  zweifelhaft  ist  oder  nur  auf  das  Zeugnis  eines  andern 
hin  berichtet  wird1.  Oft  wird  hier  auch  durch  ein  eigenes  Suffix  am 
Verbum  kenntlich  gemacht,  ob  das  Subjekt  den  Vorgang,  von  dem  es 
berichtet,  selbst  gesehen  oder  ob  es  ihn  gehört  hat  oder  ob  es  ihn,  statt  aus 
unmittelbarer  sinnlicher  Wahrnehmung,  nur  durch  Vermutung  und 
Schlußfolgerung  kennt;  auch  wird  gelegentlich  die  Kenntnis  eines  Vor- 
gangs, die  man  durch  einen  Traum  erlangt  hat,  von  der  im  Wachen  er- 
langten in  dieser  Weise  unterschieden2. 

Stellt  schon  hierin  sich  das  Ich  der  objektiven  Wirklichkeit  wollend 
oder  fordernd,  zweifelnd  oder  fragend,  gegenüber :  so  gewinnt  diese  Ge- 
genüberstellung ihre  höchste  Schärfe,  wenn  von  der  Einwirkung  des 
Ich  auf  den  Gegenstand  und  von  ihren  verschiedenen  möglichen  Formen 
die  Rede  ist.  Viele  Sprachen,  die  gegen  den  Unterschied  des  Aktiv  und 
Passiv  relativ  gleichgültig  sind,  unterscheiden  statt  dessen  aufs  genaueste 
die  Stufen  dieser  Einwirkung  und  ihre  größere  oder  geringere  Mittelbar- 
keit. Durch  ein  einfaches  lautliches  Mittel  (wie  etwa  durch  die  Verdoppe- 
lung des  mittleren  Radikals  in  den  semitischen  Sprachen)  kann  z.  B.  aus 
dem  Grundstamm  des  Verbums  ein  zweiter  Stamm  abgeleitet  werden,  der 
zunächst  intensive,  dann  aber  weiterhin  allgemein-kausative  Bedeutung  be- 
sitzt; neben  beide  tritt  noch  ein  dritter  Stamm,  dem  speziell  diese  letztere 
Funktion  zukommt.  An  die  Kausative  ersten  Grades  können  sich  dann 
solche  zweiten  und  dritten  Grades  anschließen,  durch  die  ein  ursprüng- 
lich intransitiver  Verbalstamm  zu  einer  doppelt  oder  dreifach  transitiven 
Bedeutung  umgestaltet  wird3.  Es  ist  ersichtlich,  wie  sich  in  derartigen 
sprachlichen  Erscheinungen  die  immer  weitergehende  Potenzierung 
widerspiegelt,  die  die  Anschauung  des  persönlichen  Wirkens  selbst  er- 
fährt: statt  der  einfachen  Auseinanderhaltung  des  Subjekts  und  des  Ob- 
jekts des  Tuns,  des  Wirkenden  und  des  Gewirkten  schieben  sich  hier 

1  S.  Powell,  The  evolution  of  language  (Rep.  of  the  Smithson.  Inst,  of  Washington,  I), 
S.  12. 

2  Beispiele  bei  Goddard,  Athapascan,  bei  Swanton,  Haida  und  bei  Boas,  Kwakiutl  in 
Boas'  Handbook  I,  io5,  124,  247 ff.,  443. 

3  Vgl.  z.  B.  Aug.  Müller,  Türk.  Grammatik,  S.  7iff.;  für  die  semitischen  Sprachen 
8.  Brockelmann,  Grundriß  I,  5o4ff.  Das  Äthiopische  besitzt  nach  Dillmann  (Äthiop. 
Grammat.,  S.  nöff.)  neben  dem  Grundstamm  einen  ,, Steigerungsstamm"  (Intensiv- 
stamm) und  einen  „Einwirkungsstamm";  von  allen  dreien  werden  durch  ein  und  dasselbe 
Bildungsmittel,  aber  unter  Belassung  ihrer  übrigen  Eigentümlichkeiten,  wieder  drei  Kau- 
sativstämme abgeleitet. 

217 


immer  mehr  Mittelglieder  ein,  die,  selbst  persönlicher  Natur,  dazu  dienen, 
die  Handlung  von  ihrem  ersten  Ursprung  in  einem  wollenden  Ich 
gleichsam  weiterzuleben  und  sie  ins  Gebiet  des  objektiven  Seins  hinüber- 
zuführen1). Diese  Anschauung  der  Mehrheit  der  Subjekte,  die  bei  einer 
Handlung  zusammenwirken,  kann  dann  weiterhin  einen  verschiedenen 
Ausdruck  finden,  je  nachdem  einfach  die  Tatsache  dieser  Mitwirkung 
bezeichnet  oder  aber  auf  die  Unterschiede  ihrer  Form  reflektiert  wird. 
In  ersterer  Hinsicht  braucht  die  Sprache  die  „Kooperativform"  des  Ver- 
bums oder  sie  bildet  einen  eigenen  „Mitwirkungs-  oder  Sozialstamm", 
der  besagt,  daß  eine  Person  an  der  Tätigkeit  oder  dem  Zustand  eines 
andern  in  irgendeiner  Weise  mitbeteiligt  ist2.  Einzelne  Sprachen  ver- 
wenden besondere  Kollektiv-Infixe,  um  damit  anzudeuten,  daß  irgend- 
eine Handlung  nicht  von  einem  einzelnen,  sondern  in  Gemeinschaft  vor- 
genommen wird3.  Was  die  Form  des  Zusammenwirkens  mehrerer  Indivi- 
duen angeht,  so  ist  es  vor  allem  bedeutsam,  ob  dieses  Zusammenwirken 
sich  lediglich  nach  außen  oder  ob  es  sich  nach  innen  wendet,  d.  h.  ob  einer 
Mehrheit  von  Subjekten  ein  einfaches  dinglichesObjektgegenübersteht  oder 
ob  die  einzelnen  in  ihrem  Tun  einander  selbst  wechselseitig  Subjekt  und 
Objekt  sind.  Aus  der  letzteren  Anschauung  erwächst  die  Ausdrucksform, 
die  die  Sprache  für  die  reziproke  Handlung  erschafft.  Auch  primitive 
Sprachen  unterscheiden  gelegentlich  scharf,  ob  die  Tätigkeit  der  Subjekte 
sich  gegen  eine  äußere  Sache  richtet,  oder  ob  sie  sie  gegeneinander  rich- 
ten4. Und  hier  ist  offenbar  bereits  die  Vorbereitung  zu  einem  weiteren 
folgenschweren  Schritt  gegeben.  Schon  in  der  reziproken  Handlung  fallen 
das  Wirkende  und  das,  worauf  gewirkt  wird,  in  einem  gewissen  Sinne  in 
eins  zusammen:  beide  gehören  hier  der  personalen  Sphäre  an,  und  es 
hängt  lediglich  von  der  Richtung  der  Betrachtung  ab,  ob  wir  sie  als  Sub- 
jekt oder  als  Objekt  des  Tuns  ansehen  wollen.  Dies  Verhältnis  vertieft 
sich  noch,  wenn  an  die  Stelle  der  Mehrheit  der  Subjekte  ein  einziges 

1  So  bedient  sich  z.  B.  die  Tagalische  Sprache  zur  Bildung  der  Kausalverba  eines  dop- 
pelten Präfixes:  das  eine  drückt  das  einfache  Hervorbringen  einer  Sache,  das  bloße 
eigene  Bewirken  aus,  während  das  andere  die  Veranlassung  einer  Handlung  durch  einen 
anderen  bezeichnet,  so  daß  jetzt  zwei  handelnde  Subjekte  eintreten.  Vgl.  Humboldt, 
Kawi-Werk  1J,  i43. 

2  Vgl.  hrz.  etwa  die  Beispiele  aus  der  Bedauye-Sprache  bei  Reinisch,  Bedauye  II, 
i3off.;  —  eine  Kooperalivform  des  Verbs  kennt  z.  B.  auch  das  Jakutische  (Boeth- 
lingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  364ff-)- 

3  So  die  Sprache  von  Taoripi,  s.  Ray,  Torres-Slrait-Exped.  III,  34o. 

4  So  z.  B.  die  Bungandity-Sprache  in  Süd-Australien,  die  von  Matthews,  J.  and  Proc. 
of  the  Royal  Soc.  of  N.S.Wales,  Bd.  XXXVII  (io,o3)  beschrieben  worden  ist,  s.d. 
S.  69. 


218 


tritt,  und  wenn  damit  der  Ausgangspunkt  der  Handlung  und  ihr  Ziel- 
punkt, nachdem  sie  sich  getrennt  haben,  inhaltlich  wieder  in  einen  Punkt 
zusammenfallen.  Dies  ist  der  Charakter  der  reflexiven  Handlung,  in  wel- 
cher das  Ich  nicht  sowohl  ein  anderes  oder  einen  anderen,  als  vielmehr 
sich  selbst  bestimmt,  —  in  der  es  sein  Tun  auf  sich  selber  zurücklenkt. 
In  vielen  Sprachen  ist  es  eben  diese  Reflexivbildung,  die  das  mangelnde 
Passivum  ersetzt1.  Am  reinsten  tritt  diese  Hinweisung  und  Rücklenkung 
der  Handlung  auf  das  Ich  und  das  energische  Bewußtsein  der  Subjekti- 
vität, das  sich  darin  bekundet,  in  dem  Gebrauch  hervor,  den  die  griechi- 
sche Sprache  von  den  medialen  Verbalformen  macht.  Nicht  mit  Unrecht 
hat  man  in  dem  Besitz  und  in  der  Verwendung  des  Mediums  einen  wesent- 
lichen und  auszeichnenden  Charakter  der  griechischen  Sprache  gesehen  — 
einen  solchen,  der  sie  zur  echt  „philosophischen' 4  Sprache  stempelt2. 
Die  indischen  Grammatiker  haben  für  den  Unterschied  der  aktiven  und 
der  medialen  Verbalform  einen  bezeichnenden  Ausdruck  geschaffen,  in- 
dem sie  die  erstere  „ein  Wort  für  einen  andern",  die  letztere  ,ein  Wort 
für  sich  selbst*  nennen3.  In  der  Tat  ist  es  die  Grundbedeutung  des  Me- 
diums, daß  es  den  Vorgang  als  in  der  eigenen  Sphäre  des  Subjekts  liegend 
betrachtet  und  die  innere  Beteiligung  des  Subjekts  an  ihm  betont.  „Bei 
jedem  einfachen  Aktivum"  — ■  sagt  Jakob  Grimm  —  „bleibt  es  an  sich 
zweifelhaft,  ob  der  intransitive  oder  transitive  Begriff  in  ihm  herrsche, 
z.  B.  ,ich  sehe'  kann  beides  heißen  sollen :  ich  sehe  mit  meinen  Augen,  oder 
ich  sehe  irgend  etwas  an;  xXauo  beides,  entweder  das  innere  Weinen  selbst, 
oder  das  Beweinen  eines  anderen.  Das  Medium  hebt  diesen  Zweifel 
und  bezieht  den  Sinn  notwendig  auf  das  Subjekt  des  Satzes,  z.  B.  tdalojum 
(ich  weine  um  mich,  für  mich)  .  .  .  Das  wahre  und  eigentliche  Me- 
dium ist  überhaupt  zur  Bezeichnung  dessen,  was  lebendig  in  der  inneren 
Seele  und  an  dem  Leib  vorgeht,  geschaffen,  daher  ihm  in  allen  Spra- 
chen, nach  ihrer  wundervollen  Einstimmung,  Begriffe  wie:  freuen, 
trauern,  wundern,  fürchten,  hoffen,  weilen,  ruhen,  sprechen,  kleiden, 
waschen  und  ähnliche  zustehen4."  Überblickt  man  jetzt  die  Mannigfal- 

1  So  im  semitischen  Sprachkreis  im  Äthiop isclien  (Dillmann,  S.  n5,  123)  u.  im 
Syrischen  (Nöldeke,  Syr.  Grammat.,  S.  96 ff.);  auch  im  Türkischen  tritt  (nach 
Aug.  Müller,  Türk.  Grammat.,  S.  7C)  für  das  Passiv  häufig  das  Reflexiv  ein. 

2  Vgl.  J.Stenzel,  Über  den  Einfluß  der  griechischen  Sprache  auf  die  philosophische 
Begrifi'sbildung,  Neue  Jahrbücher  f.  d.  klass.  Altertum  (1921),  S.  IÖ2  ff. 

3  Das  Medium  als  Atmanepadam  bei  Panini  I,  3,  72 — 74;  als  ein  besonderes  „Genus 
verbi"  erscheint  bei  den  europäischen  Grammatikern  das  Medium  erst  bei  Dionysius 
Thrax,  vgl.  Benfey,  Geschichte  der  Sprachwissenschaft,  S.  73  u.  1 44- 

4  J.  Grimm,  Deutsche  Grammat.,  I,  5o,8f. 


219 


tigkeit  der  verbalen  Genusunterscheidungen  und  erwägt  man,  daß  die 
meisten  dieser  Genera  sich  miteinander  wieder  zu  neuen  komplexen  Ein- 
heiten zusammenknüpfen  lassen  —  indem  z.  B.  vom  Passiv  und  Kausativ 
ein  Kausativ-Passiv,  vom  Kausativ  und  Reflexiv  ein  Reflexiv-Kausativ, 
weiterhin  ein  Reziprokum  des  Kausativs  u.  s.  f .  gebildet  werden  kann1  — 
so  erkennt  man,  daß  die  Kraft,  die  die  Sprache  in  solchen  Bildungen  be- 
weist, eben  darin  liegt,  daß  sie  den  Gegensatz  des  subjektiven  und  des 
objektiven  Seins  nicht  als  den  abstrakten  und  starren  Gegensatz  zweier 
einander  ausschließender  Gebiete  faßt,  sondern  daß  sie  ihn  in  der  viel- 
fältigsten Weise  dynamisch  vermittelt  denkt.  Sie  stellt  nicht  die  beiden 
Sphären  an  sich,  sondern  ihr  Ineinandergreifen  und  ihre  wechselseitige 
Bestimmung  dar  —  sie  erschafft  gleichsam  ein  Mittelreich,  durch  wel- 
ches die  Formen  des  Daseins  auf  die  des  Tuns,  die  Formen  des  Tuns 
auf  die  des  Daseins  bezogen  und  beide  miteinander  zu  einer  geistigen 
Ausdruckseinheit  verschmolzen  werden. 

2. 

Blickt  man  weiterhin  von  der  impliziten  Gestaltung,  die  die  Ichvorstel- 
lung im  Kreise  des  nominalen  und  verbalen  Ausdrucks  erfährt,  auf  ihre 
explizit-sprachliche  Durchbildung,  auf  die  allmähliche  Entwicklung  der 
eigentlichen  Pronomina,  hin  —  so  hat  schon  Humboldt  hervorgehoben, 
daß  zwar  das  Ichgefühl  als  ein  ursprünglicher  und  nicht  weiter  ableit- 
barer Bestand  aller  Sprachbildung  angesehen  werden  müsse,  daß  aber 
nichtsdestoweniger  der  Eintritt  des  Pronomen  in  die  wirkliche  Sprache 
von  großen  Schwierigkeiten  begleitet  sei.  Denn  das  Wesen  des  Ich  be- 
stünde darin,  Subjekt  zu  sein,  während  andererseits  im  Denken  und 
Sprechen  jeder  Begriff  vor  dem  wirklich  denkenden  Subjekt  zum  Ob- 
jekt werden  müsse2.  Dieser  Gegensatz  kann  nur  dadurch  vermittelt  und 
gelöst  werden,  daß  dasselbe  Verhältnis,  das  wir  zuvor  innerhalb  des  nomi- 
nalen und  verbalen  Ausdrucks  beobachtet  haben,  sich  nunmehr  auf  einer 
höheren  Stufe  wiederholt.  Auch  im  Kreis  des  pronominalen  Ausdrucks 
wird  eine  scharfe  Bezeichnung  des  Ich  nur  dadurch  gefunden  werden 
können,  daß  sie  sich  der  des  Objektiven  zwar  einerseits  gegenüberstellt, 
andererseits  aber  durch  sie  hindurchgeht.  Auch  dort,  wo  die  Sprache  den 
Gedanken  des  Ich  bereits  bestimmt  ausprägt,  wird  sie  ihm  daher  zunächst 

1  Belege  hierfür  finden  sich,  außer  in  den  semitischen  Sprachen,  z.B.  im  Jakutischen 
(Boethlingk,  S.  291),  im  Türkischen  (Aug.  Müller,  S.  7iff.),  in  der  Nuba- 
Sprache  (Reinisch,  S.  Ö2ff.)  u.  s. 

2  S.  Humboldt,  Ortsadverbien  (W.  VI  1,  3o6f .). 


220 


noch  eine  gegenständliche  Fassung  und  Formung  geben  müssen:  — 
wird  sie  an  der  Bezeichnung  des  Objektiven  die  des  Ich  gleichsam  erst 
finden  müssen. 

Diese  Voraussetzung  findet  ihre  Bestätigung,  wenn  man  die  Art  be- 
trachtet, in  der  die  Sprache  zum  Ausdruck  persönlicher  Verhältnisse 
nicht  sogleich  die  eigentlichen  persönlichen  Fürwörter,  sondern  die 
possessiven  Pronomina  benutzt.  In  der  Tat  nimmt  die  Idee  des  Be- 
sitzes, die  in  diesen  letzteren  dargestellt  ist,  zwischen  dem  Gebiet 
des  Objektiven  und  des  Subjektiven  eine  eigentümliche  Mittelstellung 
ein.  Was  besessen  wird,  ist  ein  Ding  oder  Gegenstand:  ein  Etwas,  das 
sich  schon  durch  die  Tatsache,  daß  es  zum  Besitzinhalt  wird,  als  bloße 
Sache  zu  erkennen  gibt.  Aber  indem  nun  eben  diese  Sache  als  Eigentum 
erklärt  wird,  erhält  sie  damit  selbst  eine  neue  Eigenheit,  rückt  sie  aus 
der  Sphäre  des  bloß  natürlichen  in  die  des  persönlich-geistigen  Daseins. 
Es  ist  gleichsam  eine  erste  Belebung,  eine  Verwandlung  der  Seinsform 
in  die  Ichform,  die  sich  hierin  ankündigt.  Auf  der  anderen  Seite  erfaßt 
sich  das  Selbst  hier  noch  nicht  in  einem  freien  und  ursprünglichen  Akt 
der  Selbsttätigkeit,  der  geistigen  und  willensmäßigen  Spontaneität,  son- 
dern schaut  sich  sozusagen  im  Bilde  des  Gegenstandes  an,  den  es  sich  als 
den  „seinigen"  zueignet.  Diese  Vermittlung  des  rein  „personalen"  durch 
den  „possessiven"  Ausdruck  zeigt  sich  nach  der  psychologischen  Seite  hin 
in  der  Entwicklung  der  Kindersprache,  in  welcher  die  Bezeichnung  des 
eigenen  Ich  weit  früher  durch  possessive  als  durch  personale  Pronomina 
zu  erfolgen  scheint.  Aber  deutlicher  als  derartige  nicht  ganz  sichere  und 
eindeutige  Beobachtungen1  sprechen  auch  hier  bestimmte  Erscheinungen 
der  allgemeinen  Sprachgeschichte.  Sie  zeigen,  daß  der  eigentlichen  schar- 
fen Ausbildung  des  Ichbegriffs  in  der  Sprache  ein  Zustand  der  Indiffe- 
renz vorauszugehen  pflegt,  in  der  der  Ausdruck  des  „Ich"  und  der  des 
„Mein",  der  des  „Du"  und  des  „Dein"  u.  s.  f .  sich  noch  nicht  geschie- 
den haben.  Der  Unterschied  beider  Fälle  —  so  bemerkt  Humboldt  —  wird 
wohl  empfunden,  aber  nicht  mit  der  formalen  Schärfe  und  Bestimmtheit, 
welche  der  Übergang  in  der  Lautbezeichnung  erfordert2.  Wie  die  mei- 
sten amerikanischen  Eingeborenensprachen,  so  gestalten  auch  die  Spra- 
chen des  ural-altaischen  Kreises  die  Konjugation  des  Verbums  fast  durch- 

1  Vgl.  über  diese  Frage  G.  und  W.  Stern,  a.  a.  0.,  S.  4i  u.  2 45 ff. 

2  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  1,  23i).  Die  „noch  vorhandene  Iden- 
tität des  Possessiv  und  Personalpronomens"  wird  auch  von  K.  v.  d.  Steinen  für  die  Ba- 
kairi-Sprache  betont.  Ein  und  dasselbe  Wort  (ura)  heiße  nicht  nur  ,ich',  sondern  auch 
,meines',  ,das  ist  mein',  ,das  gehört  mir',  wie  ein  anderes  ,du*  und  , deines',  ein  drittes 
,er'  und  ,seines'  besage  (Bakairi-Sprache,  S.  348f .,  38o). 


221 


gehend  derart,  daß  an  die  unbestimmte  Infinitivform  ein  possessives  Affix 
herantritt,  —  so  daß  also  z.  B.  der  Ausdruck  für  ,ich  gehe'  eigentlich 
,mein  Gehen'  besagt,  oder  daß  etwa  die  Ausdrücke  für  ,ich  baue,  du 
baust,  er  baut*  sprachlich  genau  die  gleiche  Struktur  wie  die  für  ,mein 
Haus,  dein  Haus,  sein  Haus'  aufweisen1.  Daß  diese  Eigentümlichkeit 
des  Ausdrucks  eine  eigentümliche  Anschauung  des  Verhältnisses  von  „Ich" 
und  „Wirklichkeit"  zugrunde  liegt,  ist  unverkennbar.  Wundt  sieht  die 
psychische  Ursache  für  dieses  Verharren  der  Nominalformen  im  Gebiet 
transitiver  Verbalbegriffe  darin,  daß  im  transitiven  Verbum  das  Objekt, 
auf  das  sich  die  Handlung  beziehe,  stets  unmittelbar  im  Bewußtsein  ge- 
geben sei,  also  vor  allem  anderen  zur  Bezeichnung  dränge,  so  daß  hier  der 
Nominalbegriff  stellvertretend  für  den  ganzen,  die  Handlung  aus- 
drückenden Satz  eintreten  könne2.  Aber  damit  ist  der  Tatbestand,  um 
den  es  sich  hier  handelt,  nicht  sowohl  psychologisch  erklärt,  als  vielmehr 
nur  psychologisch  umschrieben.  Es  ist  eine  geistig-verschiedene  Ansicht 
des  Tuns,  die  sich  in  seiner  Bezeichnung  als  reiner  Akt,  als  actus  purus 
und  die  sich  in  der  Bezeichnung  seines  objektiven  Zieles  und  seines  ob- 
jektiven Ergebnisses  ausspricht.  In  dem  einen  Fall  geht  der  Ausdruck 
des  Tuns  in  das  Innere  der  Subjektivität,  als  seinen  Ursprung  und  seine 
Quelle,  zurück;  im  anderen  konzentriert  er  sich  auf  seinen  Ertrag,  um 
erst  diesen  wieder,  durch  das  besitzanzeigende  Pronomen,  gleichsam  in 
die  Sphäre  des  Ich  zurückzunehmen.  Die  Beziehung  des  Ich  auf  den 
gegenständlichen  Inhalt  ist  in  beiden  Fällen  vorhanden,  aber  sie  trägt  in 
dem  einen  sozusagen  ein  entgegengesetztes  Vorzeichen,  als  im  anderen: 
die  Richtung  der  Bewegung  geht  das  eine  Mal  vom  Zentrum  zur  Peri- 
pherie, das  andere  Mal  von  der  Peripherie  zum  Zentrum. 

Ganz  besonders  eng  gestaltet  sich  diese  im  possessiven  Fürwort  aus- 
gedrückte und  also  durch  die  Idee  des  Besitzes  vermittelte  Verknüpfung 
von  Ich  und  Nicht-Ich,  wenn  das  Nicht-Ich  nicht  schlechthin  ein  belie- 
biger Gegenstand  der  ,Außenwelt'  ist,  sondern  dem  Gebiet  angehört,  in 
dem  das  „Innere"  und  das  „Äußere"  sich  zu  berühren  und  unmittel- 
bar ineinander  überzugehen  scheinen.  Selbst  spekulative  Philosophen  haben 
den  menschlichen  Leib  als  diejenige  Wirklichkeit  bezeichnet,  in  wel- 
cher dieser  Übergang  sich  für  uns  in  unverkennbarer  Deutlichkeit  voll- 
ziehe. So  sind  nach  Schopenhauer  das  Ich  und  der  Leib  nicht  zwei  ob- 

1  S.  H.  Winkler,  Der  ural-altaische  Sprachstamm,  S.  7Öf.,  171;  Beispiele  aus  anderen 
Sprachkreisen  finden  sich  in  Fr.  Müllers  Grundriß,  z.  B.  I,  2,  12,  I,  2,  Ii6f.,  1^2,  i53. 
II,  1,  i88,III,  2,  278  u.ö. 

2  Wundt,  a.  a.  O.,  II,  i/tf. 


222 


jektiv  erkannte  verschiedene  Zustände,  die  das  Band  der  Kausalität  ver- 
knüpft; sie  stehen  nicht  im  Verhältnis  der  Ursache  und  Wirkung;  son- 
dern sie  sind  eines  und  dasselbe,  nur  auf  zwei  gänzlich  verschiedene 
Weisen  gegeben.  Die  Aktion  des  Leibes  ist  nichts  anderes,  als  der  objek- 
tivierte, d.  h.  in  die  Anschauung  getretene  Akt  des  Willens  —  der  Leib 
ist  nichts,  als  die  Objektität  des  Willens  selbst1.  Von  hier  aus 
wird  es  verständlich,  daß  auch  die  Sprache  in  den  Bezeichnungen,  die 
sie  für  den  menschlichen  Leib  und  seine  einzelnen  Teile  schafft,  den  ob- 
jektiven und  den  subjektiven  Ausdruck  sich  unmittelbar  durchdringen 
läßt:  —  daß  mit  der  rein  gegenständlichen  Benennung  hier  der  Ausdruck 
der  persönlichen  Beziehung  oft  zu  einem  untrennbaren  Ganzen  ver- 
schmilzt. Namentlich  die  Sprachen  von  Naturvölkern  zeigen  diese  Eigen- 
tümlichkeit häufig  in  scharfer  Ausprägung.  In  den  meisten  Indianer- 
sprachen kann  ein  Körperteil  niemals  mit  einem  allgemeinen  Ausdruck 
bezeichnet,  sondern  er  muß  stets  durch  ein  besitzanzeigendes  Fürwort 
näher  determiniert  werden:  es  gibt  also  keinen  abstrakten  und  losgelösten 
Ausdruck  für  den  Arm  oder  die  Hand  schlechthin,  sondern  immer  nur 
einen  Ausdruck  für  die  Hand  oder  den  Arm,  sofern  sie  einem  bestimmten 
Menschen  angehören2.  K.  v.  d.  Steinen  berichtet  von  der  Bakairi-Sprache, 
daß  bei  der  Feststellung  der  Namen  für  die  einzelnen  Körperteile  sorg- 
fältig darauf  zu  achten  war,  ob  man  den  Körperteil,  nach  dessen  Benen- 
nung man  fragte,  an  sich  selbst  oder  an  dem  Gefragten  oder  an  einem 
Dritten  zeigte,  da  in  allen  drei  Fällen  die  Antwort  verschieden  lautete. 
Das  Wort  für  , Zunge*  z.  B.  konnte  nur  in  der  Form:  meine  Zunge,  deine 
Zunge,  seine  Zunge  oder  etwa  unserer  aller,  die  wir  hier  sind,  Zunge  wie- 
dergegeben werden3.  Die  gleiche  Erscheinung  wird  von  Humboldt  aus 
der  mexikanischen,  von  Boethlingk  aus  der  jakutischen  Sprache  be- 
richtet4. In  den  melanesischen  Sprachen  wird  bei  der  Bezeichnung  von 
Körperteilen  ein  verschiedener  Ausdruck  gewählt,  wenn  es  sich  um  die 
allgemeine  Benennung,  und  wenn  es  sich  um  die  Benennung  eines  be- 
sonderen, einem  bestimmten  Individuum  zugehörigen  Körperteils  han- 
delt: im  ersteren  Fall  muß  zu  dem  gewöhnlichen  Ausdruck,  der  die 

1  Schopenhauer,  Welt  als  Wille  u.  Vorstell.  I,  i5if.,  II,  2891".  (Grisebach). 

2  Vgl.  Buschmann,  der  athapaskische  Sprachslamm  (Abb.  der  Berl.  Akad.  d.  Wiss. 
i854),  S.  i65,  23i;  Powell,  Introduction  to  the  Study  of  Indian  languages,  S.  18. 
Goddard,  Athapascan  in  Boas'  Handbook  I,  io3. 

3  K.  v.  d.  Steinen>  Unter  den  Naturvölkern  Zentral-Brasiliens,  S.  22. 

4  Vgl.  Boethlingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  347;  selüst  im  Ungarischen  werden  nach 
Simönyi,  a.  a.  0.,  S.  260,  Verwandtschaftsnamen  und  Namen  für  Körperteile  verhält- 
nismäßig selten  ohne  possessive  Personalsuffixe  gebraucht. 


223 


individualisierende  Bedeutung  hat,  also  meine  Hand,  deine  Hand,  u.  s.  f. 
bedeutet,  ein  generalisierendes  Suffix  hinzutreten1.  Diese  Verschmel- 
zung des  Nominalausdrucks  mit  dem  Possessivpronomen  greift  dann 
weiter  von  der  Bezeichnung  der  menschlichen  Gliedmaßen  auch  auf 
andere  Inhalte  über,  sofern  sie  in  besonders  naher  Zugehörigkeit  zum 
Ich  und  gleichsam  als  ein  Teil  seines  geistig-natürlichen  Seins  gedacht 
werden.  Häufig  sind  es  insbesondere  die  Ausdrücke  für  natürliche  Ver- 
wandtschaftsgrade, die  Ausdrücke  für  Vater  und  Mutter  u.  s.  f.,  die  nur 
in  fesler  Verbindung  mit  dem  possessiven  Pronomen  auftreten2.  Es  ergibt 
sich  hier  das  gleiche  Verhältnis,  das  uns  zuvor  in  der  Gestaltung  des  ver- 
balen Ausdrucks  entgegentrat:  daß  nämlich  für  die  Anschauung  der 
Sprache  die  objektive  Wirklichkeit  nicht  eine  einzige  homogene  Masse 
bildet,  die  der  Welt  des  Ich  einfach  als  Ganzes  gegenübersteht,  sondern 
daß  hier  verschiedene  Schichten  dieser  Wirklichkeit  bestehen,  daß  nicht 
eine  allgemeine  und  abstrakte  Beziehung  zwischen  Objekt  und  Subjekt 
schlechthin  vorhanden  ist,  sondern  daß  sich  verschiedene  Stufengrade 
des  Objektiven,  je  nach  seiner  größeren  ,Nähe'  oder  , Ferne'  zum  Ich, 
noch  deutlich  gegeneinander  absondern. 

Und  aus  dieser  Konkretion,  in  welcher  hier  die  Subjekt-Objekt-Be- 
ziehung gegeben  ist,  folgt  nun  noch  ein  weiterer  Zug.  Der  Grund- 
charakter des  reinen  Ich  besteht  darin,  daß  es,  im  Gegensatz  zu  allem 
Objektiven  und  Dinghaften,  absolute  Einheit  ist.  Das  Ich,  als  reine 
Form  des  Bewußtseins  gefaßt,  enthält  keinerlei  Möglichkeit  innerer  Un- 
terschiede mehr:  denn  solche  Unterschiede  gehören  nur  der  Welt  der 
Inhalte  an.  Wo  immer  daher  das  Ich  als  Ausdruck  des  Nicht-Dinglichen 
in  strengem  Sinne  genommen  wird,  da  muß  es  als  „reine  Identität  mit 
sich  selbst"  gefaßt  werden.  Schelling  hat  in  seiner  Schrift  „Vom  Ich 
als  Prinzip  der  Philosophie"  diese  Folgerung  aufs  schärfste  gezogen.  Ist 
das  Ich  nicht  sich  selbst  gleich,  ist  seine  Urform  nicht  die  Form  reiner 
Identität  —  so  betont  er  — ■,  so  verwischt  sich  alsbald  wieder  die  strenge 
Grenze,  die  es  von  aller  inhaltlich-gegenständlichen  Wirklichkeit  scheidet 
und  die  es  erst  zu  einem  unverkennbar  Selbständigen  und  Eigenen  macht. 
Das  Ich  ist  daher  entweder  gar  nicht  oder  nur  in  dieser  Urform  der 
reinen  Identität  zu  denken3.  Aber  zu  dieser  Anschauung  des  reinen,  des 
„transzendentalen"  Ich  und  seiner  Einheit  vermag  die  Sprache  nicht  un- 

1  Codrington,  a.  a.  O.,  S.  i^of. 

2  Vgl.  z.  B.  Reinisch,  Nuba-Sprache,  S.  45;  für  die  amerikan.  Sprachen  s.  Boas'  Hand- 
book, z.B.  I,  io3. 

3  S.  Schelling,  Vom  Ich,  S  7;  S.  W.  I,  177. 


224 


vermittelt  überzugehen.  Denn  wie  für  sie  die  personale  Sphäre  erst  all- 
mählich aus  der  possessiven  herauswächst,  wie  sie  die  Anschauung  der 
Person  an  die  des  objektiven  Besitzes  anheftet,  so  muß  die  Mannigfaltig- 
keit, die  im  bloßen  Besitzverhältnis  liegt,  auch  auf  den  Ausdruck  der  Ich- 
beziehung zurückwirken.  In  der  Tat  gehört  mein  Arm,  der  mit  dem 
Ganzen  meines  Leibes  organisch  verbunden  ist,  mir  auf  ganz  andere  Art 
an,  als  mir  meine  Waffe  oder  mein  Werkzeug  angehört  —  meine  Eltern, 
mein  Kind  sind  mir  auf  ganz  andere,  natürlichere  und  unmittelbarere 
Art  verbunden,  als  mein  Pferd  oder  mein  Hund  —  und  auch  im  Gebiet 
des  bloßen  Sachbesitzes  besteht  noch  ein  deutlich  fühlbarer  Unterschied 
zwischen  der  beweglichen  und  der  unbeweglichen  Habe  des  Individuums. 
Das  Haus,  in  dem  es  wohnt,  „gehört"  zu  ihm  in  einem  anderen  und 
festeren  Sinne,  als  etwa  der  Rock,  den  es  trägt.  Allen  diesen  Diffe- 
renzen wird  sich  die  Sprache  zunächst  anschmiegen:  statt  eines  ein- 
heitlichen und  allgemeinen  Ausdrucks  des  Besitzverhältnisses  wird  sie 
daher  so  viel  verschiedene  Ausdrücke  für  dasselbe  zu  entwickeln  suchen, 
als  es  deutlich  geschiedene  Klassen  konkreter  Zugehörigkeit  gibt.  Es 
ergibt  sich  hier  dieselbe  Erscheinung,  die  wir  in  der  Entstehung  und  der 
allmählichen  Ausbildung  der  Zahlworte  verfolgen  konnten.  Wie  die  ver- 
schiedenen Objekte  und  Objektgruppen  ursprünglich  verschiedene  „Zah- 
len" haben  —  so  haben  sie  auch  ein  verschiedenes  „Mein  und  Dein".  Den 
„Numeralsubstantiven"  mancher  Sprachen,  die  bei  der  Zählung  verschie- 
dener Gegenstände  zur  Verwendung  kommen,  steht  daher  eine  ganz  ana- 
loge Mannigfaltigkeit  der  „Possessiv-Substantiva"  zur  Seite.  In  den  mela- 
nesischen  und  in  vielen  polynesischen  Sprachen  wird,  um  das  Besitzver- 
hältnis wiederzugeben,  der  Bezeichnung  des  besessenen  Gegenstandes  ein 
Possessivsuffix  angefügt,  das  aber  je  nach  der  Klasse,  zu  der  der  Gegen- 
stand gehört,  wechselt.  Ursprünglich  sind  alle  diese  mannigfachen  Aus- 
drücke des  Besitzverhältnisses  Nomina,  was  sich  formell  noch  darin  deut- 
lich bekundet,  daß  ihnen  Präpositionen  vorangehen  können.  Diese  No- 
mina sind  derart  abgestuft,  daß  sie  verschiedene  Arten  der  Habe,  des 
Besitzes,  der  Zugehörigkeit  u.s.f.  unterscheiden.  Ein  derartiges  Possessiv- 
Nomen  wird  z.  B.  den  Verwandtschaftsnamen,  den  Gliedmaßen  des  mensch- 
lichen Körpers,  den  Teilen  eines  Dinges,  ein  anderes  den  Dingen,  die  man 
besitzt,  oder  den  Werkzeugen,  von  denen  man  Gebrauch  macht,  hinzu- 
gefügt —  eines  gilt  für  alle  Dinge,  die  zum  Essen,  ein  anderes  für  solche, 
die  zum  Trinken  bestimmt  sind1.  Häufig  wird  ein  verschiedener  Ausdruck 

1  Vgl.  hrz.  Ray,  The  Melanesian  Possessives,  American  Anthropologist,  XXI  (1919), 
S.  34gff. 

IÖ  2  2Ö 


angewendet,  je  nachdem  es  sich  um  einen  von  außen  kommenden  Be- 
sitz oder  um  ein  Objekt  handelt,  das  sein  Dasein  der  persönlichen  Tätig- 
keit des  Besitzers  verdankt1.  In  ähnlicher  Weise  unterscheiden  die  In- 
dianersprachen meist  zwischen  zwei  Hauptarten  des  Besitzes:  zwischen 
natürlichem  und  unübertragbarem  und  künstlichem  und  übertragbarem 
Besitz2.  Auch  rein  zahlenmäßige  Bestimmungen  können  eineMannigfaltig- 
keit  im  Ausdruck  des  Besitzverhältnisses  bedingen,  indem  bei  der  Wahl 
des  Possessivpronomens  unterschieden  wird,  ob  es  sich  um  einen,  um  zwei 
oder  um  mehrere  Besitzer  handelt  und  ob  der  besessene  Gegenstand  einzig 
oder  doppelt  oder  mehrfach  vorhanden  ist.  In  der  aleütischen  Sprache 
z.  B.  ergeben  sich  aus  der  Berücksichtigung  und  aus  der  Kombination 
all  dieser  Umstände  neun  verschiedene  Ausdrücke  des  possessiven  Pro- 
nomens3. Aus  alledem  geht  hervor,  daß  der  homogene  Besitzausdruck 
ebenso  wie  der  homogene  Zahlausdruck  erst  ein  relativ  spätes  Produkt 
der  Sprachbildung  ist  und  daß  auch  er  sich  erst  aus  der  Anschauung  des 
Heterogenen  herauslösen  muß.  Wie  die  Zahl  den  Charakter  der  „Gleich- 
artigkeit" erst  dadurch  erlangt,  daß  sie  sich  fortschreitend  aus  einem 
Dingausdruck  in  einen  reinen  Beziehungsausdruck  wandelt  —  so  gewinnt 
allmählich  auch  die  Einfachheit  und  Einerleiheit  der  Ichbeziehung 
den  Vorrang  vor  der  Vielfältigkeit  der  Inhalte,  die  in  diese  Beziehung 
eingehen  können.  Auf  dem  Wege  zu  dieser  rein  formalen  Bezeichnung 
des  Besitzverhältnisses  und  somit  auf  dem  Wege  zur  mittelbaren  Erfas- 
sung der  formalen  Einheit  des  Ich  scheint  sich  die  Sprache  überall  dort 
zu  befinden,  wo  sie  statt  der  possessiven  Fürwörter  den  Genitiv  als  Be- 
sitzausdruck verwendet.  Denn  dieser  wird,  obwohl  auch  er  in  konkreten, 
insbesondere  in  räumlichen  Anschauungen  wurzelt,  in  seiner  Fortbil- 
dung mehr  und  mehr  zu  einem  rein  „grammatischen"  Kasus,  zum  Aus- 
druck der  „Zugehörigkeit  überhaupt",  die  sich  auf  keine  Sonderform  des 
Besitzes  beschränkt.  Eine  Vermittlung  und  ein  Übergang  zwischen  beiden 

1  S.  Codringion,  Melanes.  lang.,  S.  I20,f. 

2  Solche  Unterschiede  der  Possessivsuffixe  für  übertragbaren  und  unübertragbaren  Be- 
sitz finden  sich  z.B.  im  Haida,  im  Tsimshian,  wo  weiterhin  zwischen  dem  übertrag- 
baren Besitz  belebter  Wesen  (mein  Hund)  und  unbelebter  Dinge  (mein  Haus)  unter- 
schieden wird,  und  in  den  Sprachen  der  Sioux-Indianer,  vgl.  Boas'  Handbook  I,  2  58, 
3q3,  o/,6f. 

3  Vgl.  Victor  Henry,  Langue  aleoutique,  S.  22;  ähnliches  gilt  für  die  Eskimosprache, 
vgl.  Thalbitzer  in  Boas'  Handbook  I,  102 1  ff.  Von  den  finnisch-ugrischen  Sprachen 
bemerkt  Szinnyei  (a.  a.  O.,  S.  1 15),  daß  es  hier  ursprünglich  zwei  Paradigmen  mit 
possessiven  Suffixen  gegeben  habe:  das  eine  für  singularischen,  das  andere  für  plura- 
lischen Besitz.  In  den  meisten  Einzelsprachen  habe  sich  aber  dieser  Unterschied  ver- 
dunkelt; am  besten  sei  er  im  Wogulischen  erhallen. 


226 


Anschauungen  läßt  sich  vielleicht  darin  erkennen,  daß  bisweilen  in  der 
Sprache  der  genitivische  Ausdruck  selbst  noch  mit  einem  besonderen 
Possessiv-Charakter  behaftet  erscheint,  indem  ein  eigenes  possessives  Suf- 
fix zu  einer  ständigen  und  in  keinem  Falle  zu  vernachlässigenden  Vervoll- 
ständigung des  Genetivverhältnisses  gehört1. 

Auf  einem  anderen  Wege  nähert  sich  die  Sprache  dem  Ausdruck  der 
rein  formalen  Einheit  des  Ich,  wenn  sie,  statt  die  Tätigkeit  wesentlich 
nach  ihrem  objektiven  Ziel  und  Ertrag  zu  kennzeichnen,  auf  den  Ur- 
sprung des  Tuns,  auf  das  handelnde  Subjekt  zurückgeht.  Dies  ist  die 
Richtung,  die  alle  diejenigen  Sprachen  nehmen,  die  das  Verbum  als  reines 
Tatwort  betrachten  und  die  Personenbezeichnung  und  -bestimmung  an 
das  persönliche  Fürwort  anknüpfen.  Das  Ich,  Du,  Er  löst  sich  in  ganz 
anderer  Schärfe  als  das  bloße  Mein,  Dein  und  Sein  aus  der  Sphäre  des 
Objektiven  heraus.  Das  Subjekt  des  Tuns  kann  nicht  mehr  als  bloßes 
Ding  unter  Dingen,  oder  als  Inhalt  unter  Inhalten,  erscheinen,  sondern  es 
ist  der  lebendige  Kraftmittelpunkt,  von  dem  die  Handlung  beginnt  und 
von  dem  sie  ihre  Richtung  empfängt.  Man  hat  versucht,  die  Typen  der 
Sprachbildung  danach  zu  unterscheiden,  ob  sie  die  Bezeichnung  des  ver- 
balen Vorgangs  wesentlich  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Empfindung 
oder  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Tat  vollziehen.  Dort,  wo  der  erstere 
Gesichtspunkt  vorwalte,  werde  auch  der  Ausdruck  des  Tuns  zu  einem 
bloßen  ,,es  erscheint  mir"  —  während  unter  der  Vorherrschaft  des  zwei- 
ten die  umgekehrte  Tendenz  walte,  auch  noch  das  bloße  Erscheinen  in  ein 
Tun  umzudeuten2.  In  einer  solchen  Steigerung  des  Tätigkeitsausdrucks 
aber  gewinnt  nun  auch  der  Ausdruck  des  Ich  eine  neue  Fassung.  Der 
dynamische  Ausdruck  der  Ichvorstellung  steht  der  Auffassung  des- 
selben als  reine  Formeinheit  weit  näher,  als  ein  nominaler  und  gegen- 
ständlicher Ausdruck.  Jetzt  bildet  sich  das  Ich  in  der  Tat  immer  deut- 
licher zum  reinen  Beziehungsausdruck  um.  Wenn  nicht  nur  alles  Tun, 
sondern  auch  alles  Erleiden,  wenn  nicht  nur  jede  Handlung,  sondern 
auch  jede  Zustandsbestimmung  durch  die  personale  Form  des  verbalen 
Ausdrucks  an  das  Ich  geknüpft  und  in  demselben  geeint  erscheint  — 
so  ist  dieses  Ich  selbst  zuletzt  nichts  anderes  mehr,  als  eben  diese  ideelle 
Mitte.  Es  ist  kein  eigener  vorstellbarer  oder  anschaulicher  Inhalt,  son- 

1  So  im  Türkischen,  wo  ein  Ausdruck  wie  ,das  Haus  des  Vaters'  so  gestaltet  ist,  daß  er 
eigentlich  ,des  Vaters  sein  Haus'  besagt,  vgl.  Aug.  Müller,  Türk.  Grammat.,  S.  64; 
ähnlich  in  den  finnisch-ugrischen  Sprachen,  vgl.  H.  Winkler,  Das  Ural-altaische  u. 
seine  Gruppen,  S.  7  ff. 

2  Näheres  bei  F.  N.  Finck,  Die  Haupttypen  des  Sprachbaus,  S.  i3f. 


227 


dern,  mit  Kant  zu  reden,  lediglich  dasjenige,  „worauf  in  bezug  Vor- 
stellungen synthetische  Einheit  haben".  In  diesem  Sinne  ist  die  Vorstel- 
lung Ich  „die  ärmste  unter  allen",  weil  sie  alles  konkreten  Gehalts  ent- 
leert scheint  —  aber  in  dieser  Leere  an  Gehalt  schließt  sie  freilich  zu- 
gleich eine  ganz  neue  Funktion  und  eine  ganz  neue  Bedeutung  in  sich. 
Für  diese  Bedeutung  besitzt  freilich  die  Sprache  keinen  adäquaten  Aus- 
druck mehr;  denn  sie  bleibt  auch  in  ihrer  höchsten  Geistigkeit  auf  die 
Sphäre  der  sinnlichen  Anschauung  bezogen  und  kann  daher  jene  „reine 
intellektuelle  Vorstellung"  des  Ich,  jenes  Ich  der  „transzendentalen  Apper- 
zeption" nicht  mehr  erreichen.  Aber  nichtsdestoweniger  vermag  sie  ihr 
wenigstens  mittelbar  den  Boden  zu  bereiten,  indem  sie  den  Gegensatz 
des  dinglich-objektiven  und  des  subjektiv-persönlichen  Seins  in  ihrem 
Fortgang  immer  feiner  und  schärfer  ausprägt  und  das  Verhältnis  beider 
auf  verschiedenen  Wegen  und  mit  verschiedenen  Mitteln  bestimmt. 

3. 

Der  Streit,  ob  die  Urworte,  von  denen  die  Sprache  ihren  Ausgang  nahm, 
verbale  oder  nominale  Natur  besaßen,  ob  sie  Dingbezeichnungen  oder 
Tätigkeitsbezeichnungen  gewesen  seien,  hat  die  Sprachwissenschaft  und 
Sprachphilosophie  lange  Zeit  lebhaft  bewegt.  Schroff  und  unvermittelt 
standen  sich  hier  die  Meinungen  gegenüber  —  und  für  jede  der  beiden 
Alternativen  wurden  nicht  nur  sprachgeschichtliche,  sondern  allgemein- 
spekulative Gründe  ins  Feld  geführt.  Es  schien  freilich  eine  Zeitlang, 
als  sei  dieser  Streit  verstummt,  seitdem  der  Begriff,  um  den  er  sich  be- 
wegte, selbst  problematisch  geworden  war.  Die  moderne  Sprachwissen- 
schaft hat  den  Versuch,  in  die  Urzeit  zurückzudringen  und  hier  das  Ge- 
heimnis der  Sprachschöpfung  unmittelbar  zu  belauschen,  mehr  und  mehr 
aufgegeben.  Für  sie  war  der  Begriff  der  „Sprach wurzel"  nicht  mehr  der 
Begriff  von  einer  realen  geschichtlichen  Existenz,  sondern  sie  sah  in  ihm 
—  wie  es  übrigens  schon  Humboldt  mit  seiner  gewohnten  kritischen 
Vorsicht  getan  hatte  —  nur  das  Ergebnis  der  grammatischen  Analyse. 
So  verblaßten  die  angeblichen  „Urformen"  der  Sprache  zu  bloßen  Ge- 
dankenformen, zu  Gebilden  der  Abstraktion.  So  lange  man  an  eine 
eigentliche  „Wurzelperiode"  der  Sprache  glaubte,  konnte  man  den  Ver- 
such wagen,  die  Gesamtheit  der  sprachlichen  Bildungen  auf  eine  „be- 
schränkte Anzahl  von  Matrizen  oder  Typen"  zurückzuführen  —  und  in- 
dem man  diese  Ansicht  mit  der  Anschauung  verband,  daß  alles  Sprechen 
seinen  Ursprung  in  gemeinschaftlich-verrichteten  menschlichen  Tätig- 
keiten habe,  ging  man  weiterhin  dazu  über,  in  der  sprachlichen  Grund- 


228 


gestalt  dieser  Typen  die  Spuren  dieses  Tuns  aufzuweisen.  In  diesem 
Sinne  hat  es  z.  B.  Max  Müller,  nach  dem  Vorgang  Ludwig  Noires,  unter- 
nommen, die  Wurzeln  des  Sanskrit  auf  eine  bestimmte  Zahl  von  sprach- 
lichen Urbegriffen,  auf  die  Ausdrücke  für  die  einfachsten  menschlichen 
Tätigkeiten,  für  das  Flechten  und  Weben,  für  das  Nähen  und  Binden,  für 
das  Schneiden  und  Teilen,  das  Graben  und  Stechen,  das  Brechen  und 
Schlagen  zurückzuführen1.  Versuche  dieser  Art  schienen  jedoch  ihren 
Sinn  verloren  zu  haben,  seit  man  den  Begriff  der  Wurzel  nicht  mehr 
inhaltlich,  sondern  formell  faßte, —  seit  man  in  ihm  nicht  sowohl  das  sach- 
liche Element  aller  Sprachbildung,  als  vielmehr  ein  methodisches  Element  der 
Sprachwissenschaft  erblickte.  Und  auch  dann,  wenn  man  nicht  bis 
zu  dieser  völligen  methodischen  Auflösung  des  Wurzelbegriffs  fortschritt 
—  wenn  man  ein  Recht  zu  der  Annahme  zu  haben  glaubte,  daß  z.  B.  im 
Indogermanischen  die  Wurzeln  in  einer  vor  der  Flexion  liegenden  Zeit 
reale  Existenz  hatten  — ,  schien  man  sich  jetzt  doch  jeder  Behauptung 
über  ihre  wirkliche  Form  enthalten  zu  müssen2.  Nichtsdestoweniger  fin- 
den sich  auch  heute  in  der  empirischen  Sprachforschung  selbst  wieder 
mannigfache  Anzeichen  dafür,  daß  das  Problem  der  Beschaffenheit  und 
Struktur  der  Urwurzeln  sich  von  neuem  zu  regen  beginnt.  Und  wieder  ist  es 
hier  die  These  des  verbalen  Ursprungs  und  des  verbalen  Charakters  dieser 
Wurzeln,  die  mit  besonderem  Nachdruck  auftritt.  Ein  französischer 
Sprachforscher,  der  diese  alte,  schon  von  Panini  verteidigte  These  kürz- 
lich zu  erneuern  versucht  hat,  stützt  sich  für  ihre  Durchführung,  außer 
auf  sprachgeschichtliche  Beobachtungen,  ausdrücklich  auf  Erwägungen, 
die  einer  anderen  Sphäre,  die  der  allgemeinen  Metaphysik  angehören.  Die 
Sprache  muß  nach  ihm  von  der  Bezeichnung  der  Verbalbegriffe  ihren 
Ausgang  genommen  und  von  hier  erst  allmählich  zu  der  der  Dingbegriffe 
fortgeschritten  sein,  weil  nur  die  Tätigkeiten  und  Veränderungen  sinn- 
fällig wahrgenommen  werden,  weil  nur  sie  als  Erscheinungen  gegeben 
sind,  während  das  Ding,  das  diesen  Veränderungen  und  Tätigkeiten  zu- 
grunde liegt,  immer  nur  mittelbar  erfaßt,  immer  nur  als  ihr  Träger 
erschlossen  werden  könne.  Wie  der  Weg  des  Denkens,  so  müsse  der  Weg 
der  Sprache  vom  Bekannten  zum  Unbekannten,  vom  Sinnlich-Wahr- 
genommenen  zum  bloß  Gedachten,  vom  „Phänomenon"  zum  „Noumenon" 
gehen:  die  Bezeichnung  des  Verbums  und  der  verbalen  Eigenschaf ts- 

1  Vgl.  Ludwig  Noire,  Der  Ursprung  der  Sprache,  S.  3i  i  ff .,  34i  ff .,  u.  Max  Müller, 
Das  Denken  im  Lichte  der  Sprache,  Lpz.  1888,  S.  37iff.,  Ö7iff. 

2  Dies  ist  z.  B.  der  Standpunkt,  den  B.  Delbrück  (Grundfragen  der  Sprachforschung, 
Straßb.  1901,  S.  n3ff.)  einnimmt. 


229 


begriffe  müsse  daher  den  Substanzbezeichnungen,  den  sprachlichen  „Sub- 
stantiven" notwendig  vorangegangen  sein1. 

Aber  gerade  diese  jueidßaotg  elg  ällo  yevog,  diese  überraschende  Wen- 
dung ins  Metaphysische,  läßt  die  methodische  Schwäche  der  Problem- 
stellung, die  hier  zugrunde  liegt,  klar  erkennen.  Auf  der  einen  Seite 
ruht  die  gesamte  Beweisführung  auf  einer  unverkennbaren  qualernio  ler- 
minorum:  der  Begriff  der  Substanz,  der  hier  als  Mittelbegriff  des  Schlus- 
ses gebraucht  wird,  tritt  in  zwei  ganz  verschiedenen  Bedeutungen  auf, 
indem  er  das  eine  Mal  im  metaphysischen,  das  andere  Mal  im  empirischen 
Sinne  genommen  wird.  Der  Vordersatz  des  Schlusses  spricht  von  der 
Substanz  als  dem  metaphysischen  Subjekt  der  Veränderungen  und  Eigen- 
schaften, als  dem  „Ding  an  sich",  das  „hinter"  allen  Qualitäten  und  Ak- 
zidenzen liegt  —  der  Schlußsatz  spricht  von  den  Nominalbegriffen  der 
Sprache,  die,  sofern  sie  zum  Ausdruck  von  Gegenständen  dienen,  diese 
natürlich  nicht  anders  denn  als  „Gegenstände  in  der  Erscheinung"  nehmen 
können.  Die  Substanz  im  ersteren  Sinne  ist  der  Ausdruck  einer  absoluten 
Wesenheit,  die  im  zweiten  Sinne  dagegen  stets  nur  der  Ausdruck  einer 
relativen,  einer  empirischen  Beharrlichkeit.  Wird  aber  das  Problem  in 
diesem  letzleren  Sinne  gefaßt,  so  verliert  der  Schluß,  der  hier  gezogen 
ist,  soweit  er  sich  auf  erkenntniskritische  Gründe  stützt,  alle  Beweis- 
kraft. Denn  die  Erkenntniskritik  lehrt  keineswegs,  daß  der  Gedanke  der 
veränderlichen  Eigenschaft  oder  des  veränderlichen  Zustandes  notwendig 
früher  als  der  des  „Dinges",  als  einer  relativ  beharrlichen  Einheit,  sei: 
sie  zeigt  vielmehr,  daß  sowohl  der  Begriff  des  Dinges,  wie  der  der  Eigen- 
schaft oder  des  Zustandes  gleich  berechtigte  und  gleich  notwendige  Bedin- 
gungen im  Aufbau  der  Erfahrungswelt  sind.  Sie  unterscheiden  sich  nicht 
als  Ausdrücke  gegebener  Wirklichkeiten  und  gemäß  der  Ordnung,  in  der 
diese  Wirklichkeiten,  sei  es  an  sich,  sei  es  mit  Bezug  auf  unsere  Er- 
kenntnis, aufeinander  folgen  —  sondern  als  Formen  der  Auffassung,  als 
Kalegorien,  die  einander  wechselseitig  bedingen.  Der  Gesichtspunkt  der 
Beharrung,  der  Gesichtspunkt  des  „Dinges"  ist  in  diesem  Sinne  weder 
vor  dem  der  Veränderung  noch  nach  ihm,  sondern  schlechterdings  nur 
mit  ihm,  als  sein  korrelatives  Moment,  gegeben.  Und  diese  Betrachtungs- 
weise gilt  nun  auch  in  umgekehrter  Richtung:  sie  wendet  sich  nicht 
minder  als  gegen  die  behauptete  notwendige  Ursprünglichkeit  des  Verbums 
und  der  Verbalbegriffe,  auch  gegen  die  psychologischen  Beweisgründe,  mit 
denen  man  statt  dessen  vielmehr  den  Primat  der  rein  gegenständlichen 

1  S.  Raoul  de  la  Grasserie,  Du  Verbe  corarae  generateur  des  autres  parties  du  discours 
(du  Phenomene  au  Noumene),  Paris  19 1 4- 


a3o 


Anschauung  und  der  bloßen  Nominalbegriffe  zu  erhärten  versucht  hat. 
„Man  kann  sich  unmöglich  denken",  —  so  bemerkt  z.  B.  Wundt  — 
„der  Mensch  habe  irgend  einmal  bloß  in  Verbalbegriffen  gedacht.  Das 
Umgekehrte,  daß  er  bloß  in  gegenständlichen  Vorstellungen  gedacht  habe, 
könnte  man  nach  den  psychologischen  Eigenschaften  viel  eher  verstehen; 
und  in  der  Tat  finden  sich  sehr  deutliche  Spuren  eines  solchen  Zustandes 
nicht  nur  in  der  Sprechweise  des  Kindes,  sondern  auch  in  zahlreichen 
wirklich  existierenden  Sprachen,  die  einen  ursprünglicheren  Zustand  be- 
grifflicher Entwicklung  bewahrt  haben1."  Auch  hier  gilt  indes,  daß  die 
Annahme,  der  Mensch  habe  jemals  in  „bloßen"  Nominalbegriffen  ge- 
dacht, den  gleichen  prinzipiellen  Mangel  in  sich  birgt,  wie  die  ent- 
gegengesetzte These,  die  die  Verbalbegriffe  als  das  zeitliche  und  sachliche 
Prius  ansieht.  Wir  stehen  hier  vor  einem  jener  Probleme,  die  nicht  durch 
ein  einfaches  Entweder  -  Oder  beantwortet,  sondern  die  nur  durch  eine 
grundsätzliche  kritische  Berichtigung  der  Fragestellung  selbst  ent- 
schieden werden  können.  Das  Dilemma,  das  lange  Zeit  die  Sprach- 
forscher in  zwei  verschiedene  Gruppen  und  Lager  schied,  ist  letztlich  ein 
Dilemma  der  Methode.  Bleibt  man  auf  dem  Boden  der  Abbildtheorie 
stehen  —  nimmt  man  somit  an,  daß  der  Zweck  der  Sprache  in  nichts  ande- 
rem liegen  könne,  als  darin,  bestimmte  in  der  Vorstellung  gegebene 
Unterschiede  äußerlich  zu  bezeichnen  — ,  so  hat  die  Frage  einen  guten 
Sinn,  ob  es  Dinge  oder  Tätigkeiten,  Zustände  oder  Eigenschaften  gewesen 
seien,  die  von  ihr  zuerst  hervorgehoben  worden  seien.  Im  Grunde  aber 
verbirgt  sich  in  dieser  Art  der  Fragestellung  nur  der  alte  Fehler  einer 
unmittelbaren  Verdinglichung  der  geistig-sprachlichen  Grundkategorien. 
Eine  Scheidung,  die  erst  „im"  Geiste,  d.  h.  durch  die  Gesamtheit  seiner 
Funktionen  erfolgt,  wird  als  eine  substantiell  vorhandene  und  bestehende 
dem  Ganzen  dieser  Funktionen  vorangestellt.  Dagegen  gewinnt  das  Pro- 
blem sofort  einen  anderen  Sinn,  wenn  man  darauf  reflektiert,  daß  „Dinge" 
und  „Zustände",  „Eigenschaften"  und  „Tätigkeiten"  nicht  gegebene  In- 
halte des  Bewußtseins,  sondern  Weisen  und  Richtungen  seiner  Formung 
sind.  Dann  zeigt  sich,  daß  weder  die  einen,  noch  die  anderen  unmittelbar 
wahrgenommen  und,  gemäß  dieser  Wahrnehmung,  sprachlich  bezeichnet 
werden  können,  sondern  daß  nur  die  zunächst  undifferenzierte  Mannig- 
faltigkeit der  sinnlichen  Eindrücke  in  der  Richtung  auf  die  eine  oder  die 
andere  Denk-  und  Sprachform  bestimmt  werden  kann.  Diese  Bestim- 
mung zum  Gegenstand  oder  zur  Tätigkeit,  nicht  die  bloße  Benennung 
des  Gegenstandes  und  der  Tätigkeit,  ist  es,  die  sich,  wie  in  der  logischen 

1  Wundt,  Die  Sprache  2  I,  594. 


20I 


Arbeit  der  Erkenntnis,  so  auch  in  der  geistigen  Arbeit  der  Sprache  aus- 
drückt. Nicht  darum  handelt  es  sich  daher,  ob  der  Akt  der  Benennung 
zuerst  Dinge  oder  Tätigkeiten  als  an  sich  seiende  Bestimmtheiten  der 
Wirklichkeit  ergreift,  sondern  darum,  ob  er  im  Zeichen  der  einen  oder 
der  anderen  sprachlich-gedanklichen  Kategorie  steht,  —  ob  er  gleich- 
sam sub  specie  nominis  oder  sub  specie  verbi  erfolgt. 

Und  es  läßt  sich  von  Anfang  an  erwarten,  daß  dieser  Frage  gegenüber 
eine  schlechthin  einfache  apriorische  Entscheidung  nichtmöglich  sein  wird. 
Wird  die  Sprache  nicht  mehr  als  das  eindeutige  Abbild  einer  eindeutig-ge- 
gebenen Wirklichkeit,  sondern  wird  sie  als  ein  Vehikel  in  jenem  großen  Pro- 
zeß der  „Auseinandersetzung"  zwischen  Ich  und  Welt  gefaßt,  in  dem  die 
Grenzen  beider  sich  erst  bestimmt  abscheiden,  so  ist  ersichtlich,  daß  diese 
Aufgabe  eine  Fülle  verschiedenartiger  möglicher  Lösungen  in  sich  birgt. 
Denn  das  Medium,  in  dem  die  Vermittlung  vor  sich  geht,  besteht  ja  nicht 
von  Anfang  an  in  fertiger  Bestimmtheit,  sondern  es  ist  und  wirkt  nur  da- 
durch, daß  es  sich  selbst  gestaltet.  Von  einem  Kategoriensystem  der 
Sprache  und  von  einer  Ordnung  und  Abfolge  der  sprachlichen  Kate- 
gorien in  zeitlicher  oder  logischer  Hinsicht  kann  daher  nicht  in  dem  Sinne 
gesprochen  werden,  daß  darunter  die  Aufstellung  einer  Anzahl  fester  For- 
men verstanden  wird,  in  denen,  wie  in  einem  vorgeschriebenen  Geleise, 
alle  Sprachentwicklung  ein  für  allemal  verläuft.  Wie  in  der  erkenntnis- 
kritischen Betrachtung,  so  kann  vielmehr  auch  hier  jede  einzelne  Kate- 
gorie, die  wir  aussondern  und  gegen  die  anderen  abheben,  immer  nur  als 
ein  einzelnes  Motiv  gefaßt  und  beurteilt  werden,  das  sich,  je  nach  den 
Beziehungen,  in  die  es  zu  anderen  Motiven  tritt,  zu  sehr  verschiedenen 
konkreten  Einzelgestaltungen  entfalten  kann.  Aus  dem  Ineinander  dieser 
Motive  und  aus  dem  verschiedenen  Verhältnis,  in  das  sie  zueinander  treten, 
ergibt  sich  die  „Form"  der  Sprache,  die  jedoch  nicht  sowohl  als  Seins- 
form, als  vielmehr  als  Bewegungsform,  nicht  als  statische,  sondern  als 
dynamische  Form  zu  fassen  ist.  Es  gibt  hier  demnach  keine  absoluten,  son- 
dern immer  nur  relative  Gegensätze  —  Gegensätze  des  Sinnes  und  der 
Richtung  der  Auffassung.  Der  Nachdruck  kann  bald  auf  das  eine,  bald 
auf  das  andere  Moment  fallen,  die  dynamischen  Akzente  zwischen  Ding- 
und  Eigenschafts-,  Zustands-  und  Tätigkeitsbegriffen  können  in  der  man- 
nigfachsten Weise  verteilt  werden  und  erst  in  diesem  Hin  und  Wieder, 
in  dieser  gewissermaßen  oszillierenden  Bewegung  besteht  der  besondere 
Charakter  jeder  sprachlichen  Form  als  schöpferischer  Form.  Je  schärfer 
man  diesen  Prozeß  in  der  Besonderung  aufzufassen  versucht,  die  er  in 
den  Einzelsprachen  erfährt,  um  so  deutlicher  wird,  daß  hier  die  einzelnen 


232 


Wortklassen,  die  unsere  grammatische  Analyse  zu  unterscheiden  pflegt, 
daß  das  Substantiv,  das  Adjektiv,  das  Pronomen,  das  Verbum,  nicht 
von  Anfang  an  vorhanden  sind  und  gleich  festen  substantiellen  Einheiten 
gegeneinander  wirken,  sondern  daß  sie  sich  gleichsam  gegenseitig  hervor- 
treiben und  gegeneinander  abgrenzen.  Die  Bezeichnung  entwickelt  sich 
nicht  am  fertigen  Gegenstand,  sondern  der  Fortschritt  des  Zeichens  und 
die  dadurch  erreichte  immer  schärfere  „Distinktion"  der  Bewußtseins- 
inhalte ist  es,  wodurch  sich  für  uns  immer  klarere  Umrisse  der  Welt, 
als  eines  Inbegriffs  von  „Gegenständen"  und  „Eigenschaften",  von  „Ver- 
änderungen" und  „Tätigkeiten",  von  „Personen"  und  „Sachen",  von  ört- 
lichen und  zeitlichen  Beziehungen  ergibt. 

Ist  somit  der  Weg,  den  die  Sprache  geht,  der  Weg  zur  Bestimmung, 
so  ist  zu  erwarten,  daß  diese  sich  allmählich  und  stetig  aus  einem  Stadium 
relativer  Unbestimmtheit  herausarbeiten  und  gestalten  wird.  Die  Sprach- 
geschichte bestätigt  diese  Vermutung  durchaus :  denn  sie  zeigt,  daß  wir,  je 
weiter  wir  in  der  Entwicklung  der  Sprache  zurückgehen  können,  mehr  und 
mehr  zu  einer  Phase  hingeführt  werden,  in  der  die  Bedeteile,  die  wir  in 
den  ausgebildeten  Sprachen  unterscheiden,  sich  weder  formell  noch  in- 
haltlich voneinander  abgesondert  haben.  Ein  und  dasselbe  Wort  kann 
hier  grammatisch  sehr  verschiedene  Funktionen  erfüllen,  kann  je  nach 
den  besonderen  Bedingungen,  unter  denen  es  auftritt,  als  Präposition  oder 
als  selbständiges  Nomen,  als  Verbum  oder  als  Substantivum  gebraucht 
werden.  Insbesondere  bildet  die  Indifferenz  von  Nomen  und  Verbum 
die  durchgehende  Begel,  die  den  Bau  der  Mehrzahl  der  Sprachen  be- 
stimmt. Man  hat  gelegentlich  gesagt,  daß  zwar  die  ganze  Sprache  in  den 
beiden  Kategorien  des  Nomens  und  des  Verbums  aufgehe,  daß  aber  ande- 
rerseits die  wenigsten  Sprachen  ein  Verbum  in  unserem  Sinne  kennen.  Zu 
einer  wirklich  scharfen  Scheidung  beider  Formklassen  scheinen  fast  aus- 
schließlich die  Sprachen  des  indogermanischen  und  des  semitischen  Krei- 
ses gelangt  zu  sein  —  und  selbst  in  ihnen  finden  sich  in  der  Satzgestaltung 
noch  fließende  Übergänge  zwischen  der  Form  der  Nominal-  und  der  Ver- 
balsätze1. Humboldt  bezeichnet  es  als  ein  Charakteristikum  des  ma- 
layischen  Sprachstammes,  daß  in  ihm  die  Grenzen  zwischen  dem  nomi- 

1  Vgl.  z.  B.  Nöldeke,  Syrische  Grammat.,  S.  2i5:  „Der  Nominalsatz,  d.  h.  der  Satz, 
welcher  ein  Subst.  Adj.  oder  eine  adverbiale  Bestimmung  zum  Prädikat  hat,  unter- 
scheidet sich  im  Syrischen  vom  Verbalsatz  nicht  allzu  scharf.  Das  sehr  viel  als  Prädikat 
verwandte,  zur  reinen  Verbalform  werdende  Partizipium,  das  doch  seine  nominale  Her- 
kunft nicht  verleugnet  .  .  .,  bezeichnet  Übergänge  vom  Nominalsatz  zum  Verbalsatz. 
Auch  der  innere  Bau  der  Nominal-  und  Verbalsätze  ist  im  Syrischen  nicht  sehr  ver- 
schieden." 


233 


nalen  und  verbalen  Ausdruck  so  weit  verwischt  würden,  daß  man  hier 
gleichsam  ein  Gefühl  der  Abwesenheit  des  Verbums  habe.  Ebenso  betont 
er  z.  B.  für  eine  Sprache,  wie  das  Barmanische,  daß  sie  aller  formalen 
Bezeichnungen  für  die  Verbalfunklion  völlig  ermangele,  so  daß  in  den 
Sprechenden  selbst  offenbar  keinerlei  lebendiges  Durchdringen  des  Ge- 
fühls der  wahren  Kraft  des  Verbums  vorhanden  sei1.  Was  hier  noch  als 
eine  Art  Anomalie  der  Sprachbildung  betrachtet  zu  werden  scheint,  — 
das  hat  sodann  die  weitere  Ausdehnung  der  Sprachvergleichung  als  eine 
allgemein  verbreitete  Erscheinung  aufgewiesen.  Immer  wieder  begegnet 
statt  der  scharfen  Trennung  des  Verbums  vom  Nomen  eine  mittlere,  eine 
gleichsam  amorphe  Form2.  Dies  tritt  auch  darin  deutlich  zutage,  daß  die 
Grenzen  der  grammatisch-formellen  Behandlung  der  Ding-  und  Tätig- 
keitsausdrücke  sich  erst  ganz  allmählich  gegeneinander  abscheiden.  „Kon- 
jugation" und  ,, Deklination"  fließen  in  ihrer  sprachlichen  Gestaltung 
zunächst  noch  vielfach  ineinander  über.  Überall  dort,  wo  die  Sprache  den 
Typus  der  „possessiven  Konjugation"  befolgt,  ist  schon  dadurch  ein  völ- 
liger Parallelismus  zwischen  dem  nominalen  und  dem  verbalen  Ausdruck 
gegeben3.  Ähnliche  Beziehungen  finden  sich  zwischen  den  Tätigkeits- und 
den  Eigenschaftsbezeichnungen:  ein  und  dasselbe  System  der  Abwandlung 
kann  ebenso  wie  die  Verba  auch  die  Adjektiva  umfassen4.  Selbst  komplexe 

1  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  VII,  i,  222,  28off.,  3o5;  Ygl.  bes.  das  Kawi- 
Wcrk  selbst  II,  81,  129  ff.,  287. 

2  Beispiele  s.  etwa  in  Fr.  Müller's  Grundriß:  aus  dem  Hottentottischen  I,  2,  I2ff.,  den 
Mande-Sprachen  I,  2,  ili2,  dem  Samojedischen  II,  2,  17/i,  dem  Jenissei-Ostjakischen  II, 
1,  n5. 

3  S.  oben  S.  222. 

L  Vielfältige  Beispiele  dieser  „adjektivischen  Konjugation"  s.  bei  de  la  Grasserie,  a. 
a.  O.  S.  32  ff.  —  Die  malayische  Sprache  erlaubt  jedes  Wort  ohne  Ausnahme  durch  einen 
Zusatz  in  ein  Verbum  zu  verwandeln;  umgekehrt  kann  hier  jeder  Verbalausdruck  durch 
bloße  Vorsetzung  des  bestimmten  Artikels  als  ein  Nomen  behandelt  werden  (Humboldt, 
Kawi-Werk,  II,  81,  3^8  ff.).  Im  Koptischen  trägt  das  Verbum  in  seiner  Infinitivform 
sogar  den  Geschlechtscharakter  der  substantivischen  Hauptwörter  an  sich:  der  Infinitiv 
ist  ein  Nomen  und  kann  seiner  Form  nach  männlich  oder  weiblich  sein.  Diesem  seinem 
nominalen  Charakter  entsprechend  regiert  er  ursprünglich  auch  kein  Objekt,  sondern 
einen  Genitiv,  der  wie  beim  Substantivum  unmittelbar  an  das  Nomen  regens  herantritt. 
(S.  Steindorff,  Koptische  Grammatik,  S.  91  f.)  Im  Jenissei-Ostjakischen,  sowie  in 
den  Dravida-Sprachen  lassen  die  Verbalformen  eine  Bekleidung  mit  Kasus-Suffixen  zu 
und  werden  demgemäß  „dekliniert"  —  wie  andererseits  in  manchen  Sprachen  das  No- 
men miL  einem  bestimmten  Temporalzeichen  versehen  und  somit  „konjugiert"  werden 
kann.  (Vgl.  Fr.  Müllers  Grundriß  II,  1,  n5,  i8of.,  III,  1,  198.)  In  der  Sprache  von 
Annalom  wird  —  nach  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissensch.,  S.  160 f.  —  nicht 
das  Verbum,  sondern  das  Pronomen  personale  konjugiert.  Dies  eröffnet  den  Satz,  zeigt 


234 


sprachliche  Gebilde,  selbst  ganze  Sätze  können  bisweilen  in  dieser  Art 
„konjugiert"  werden1.  Wenn  wir  geneigt  sind,  derartige  Erscheinungen 
als  Beweise  der  „Formlosigkeit"  einer  Sprache  aufzufassen,  so  sollten  wir 
sie  vielmehr  als  Belege  des  charakteristischen  „Werdens  zur  Form"  be- 
trachten. Denn  gerade  in  der  Unbestimmtheit,  die  der  Sprache  hier  noch 
anhaftet,  in  der  mangelnden  Ausbildung  und  Trennung  ihrer  einzelnen 
Kategorien,  liegt  vielmehr  ein  Moment  ihrer  eigenen  Bildsamkeit  und  ihrer 
wesentlichen  inneren  Bildungskraft.  Der  bestimmungslose  Ausdruck  ent- 
hält noch  alle  Möglichkeiten  der  Bestimmung  in  sich  und  überläßt  es 
gleichsam  der  weiteren  Entwicklung  der  besonderen  Sprachen,  für  welche 
dieser  Möglichkeiten  sich  jede  von  ihnen  entscheiden  will. 

Ein  allgemeines  Schema  dieser  Entwicklung  aufstellen  zuwollen,  scheint 
freilich  ein  vergebliches  Bemühen,  denn  gerade  darin,  daß  jede  Sprache 
im  Aufbau  ihres  Kategoriensystems  verschieden  verfährt,  liegt  der  kon- 
krete Reichtum  dieser  Entwicklung  beschlossen.  Nichtsdestoweniger  läßt 
sich  diese  konkrete  Fülle  der  Ausdrucksformen,  ohne  ihr  Gewalt  anzutun, 
auf  gewisse  Grundtypen  beziehen  und  um  sie  gruppieren.  Einzelnen  Spra- 
chen und  Sprachgruppen,  die  den  nominalen  Typus  in  voller  Reinheit  und 
Strenge  ausgebildet  haben,  in  denen  somit  der  gesamte  Aufbau  der  An- 
schauungswelt durch  die  gegenständliche  Anschauung  beherrscht  und 
geleitet  erscheint,  stehen  andere  gegenüber,  in  denen  der  grammatische 
und  syntaktische  Bau  durch  das  Verb  um  bestimmt  und  dirigiert  wird. 
Und  auch  im  letzteren  Falle  ergeben  sich  wieder  zwei  verschiedene  For- 
men sprachlicher  Gestaltung,  je  nachdem  der  verbale  Ausdruck  als  bloßer 
Vorgangsausdruck  oder  als  reiner  Tätigkeitsausdruck  gefaßt  wird, 
je  nachdem  er  sich  in  den  Verlauf  des  objektiven  Geschehens  versenkt 
oder  das  handelnde  Subjekt  und  seine  Energie  heraushebt  und  in  den 
Mittelpunkt  rückt.  Was  den  ersten,  streng  nominalen  Typus  betrifft,  so 
hat  er  eine  scharfe  und  deutliche  Ausprägung  vor  allem  in  den  Sprachen 
des  altaischen  Kreises  erfahren.  Hier  ist  der  gesamte  Satzbau  derart  ge- 
gliedert, daß  sich  ein  gegenständlicher  Ausdruck  einfach  an  den  anderen 
reiht  und  sich  attributiv  mit  ihm  verknüpft,  wobei  jedoch  dieses  einfache 
Prinzip  der  Gliederung,  indem  es  streng  und  allseitig  durchgeführt  wird, 
eine  Fülle  höchst  komplexer  Bestimmungen  zur  klaren  und  in  sich  ge- 
schlossenen Darstellung  bringen  kann.  „Ich  stehe  nicht  an"  —  so  urteilt 

an,  ob  von  der  ersten,  der  zweiten  oder  einer  dritten  Person  Singularis,  Dualis,  Trialis 
oder  Pluralis  die  Rede  ist,  ob  es  sich  um  ein  Gegenwärtiges,  Vergangenes  oder  Zukünf- 
tiges, Gewolltes  usw.  handele. 

1  So  im  Aleutischen,  vgl.  V.  Henry,  a.  a.  0.,  S.  6off. 


235 


z.  B.  H.  Winkler  über  dieses  Prinzip,  das  er  an  der  Struktur  des  japa- 
nischen Verbums  veranschaulicht  — ,  „es  einen  ganz  wunderbaren  Bau  zu 
nennen.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen  aller  Art,  der  feinsten  und 
minutiösesten  Schattierungen,  die  hierbei  in  kürzester  Form  zum  sprechen- 
den Ausdruck  gelangen,  ist  unerschöpflich:  was  wir  in  unseren  Sprachen 
durch  zahlreiche  Umschreibungen,  durch  Nebensätze  aller  Art,  relative 
wie  konjunktionale,  ausdrücken,  wird  hier  durch  einen  einzigen  Aus- 
druck oder  durch  ein  einziges  regierendes  Vollnomen  mit  einem  davon 
abhängigen  anderen  Verbalnomen  klar  wiedergegeben ;  ein  solches  Verbal- 
nomen stellt  in  voller  Klarheit  nach  unserer  Auffassung  einen  Hauptsatz 
mit  zwei,  drei  Nebensätzen  dar,  wobei  überdies  jedes  der  drei,  vier  Glieder 
die  mannigfachsten  Beziehungen  und  feinsten  Unterschiede  der  Zeit,  des 
Aktiven  oder  Passiven,  Kausativen,  Kontinuativen,  kurz  der  allerverschie- 
densten  Modifikationen  der  Handlung  in  sich  fassen  kann  .  .  .  Und  das 
alles  vollzieht  sich  großenteils  unter  Verzicht  auf  die  meisten  uns  ge- 
läufigen und  unentbehrlich  scheinenden  Formelemente.  Es  ist  somit  das 
Japanische  in  unserem  Sinne  eine  formlose  Sprache  par  excellence, 
womit  also  in  keiner  Weise  ein  Präjudiz  bezüglich  der  Wertung  dieser 
Sprache  gegeben  werden  soll,  wohl  aber  die  gewaltige  Divergenz  des  Baues 
angedeutet1."  Diese  Divergenz  liegt  wesentlich  darin,  daß  hier  das  Gefühl 
für  die  begriffliche  Nuancierung  der  Handlung  zwar  keineswegs  fehlt, 
daß  es  sich  aber  sprachlich  nur  soweit  ausdrücken  kann,  als  der  Ausdruck 
der  Handlung  sich  gleichsam  um  den  Gegenstandsausdruck  herumrankt 
und  in  ihn  als  nähere  Bestimmung  eingeht.  Den  Mittelpunkt  der  Bezeich- 
nung bildet  die  Existenz  des  Dinges  —  und  an  sie  bleibt  aller  Ausdruck 
von  Eigenschaften,  von  Beziehungen  und  Tätigkeiten  angelehnt.  Es  ist 
daher  eine  im  eigentlichen  Sinne  „substantielle"  Auffassung,  die  wir  in 
dieser  Bildung  der  Sprache  vor  uns  haben.  Im  japanischen  Verbum  findet 
sich  sehr  häufig  eine  reine  Existenzaussage,  wo  wir  nach  unseren  Denk- 
gewohnheiten eine  prädikative  Aussage  erwarten  würden.  Statt  eine  Ver- 
knüpfung zwischen  Subjekt  und  Prädikat  auszusagen,  wird  das  Vor- 
handensein oder  Nicht-Vorhandensein  des  Subjekts  oder  Prädikats,  seine 
Tatsächlichkeit  oder  Nicht-Tatsächlichkeit,  betont  und  herausgestellt.  Von 
dieser  ersten  Festsetzung  des  Seins  oder  Nicht-Seins  nehmen  alle  weiteren 
Bestimmungen  des  „Was",  des  Wirkens  und  Leidens  u.  s.  f.  ihren  Aus- 
gang2. Am  prägnantesten  tritt  dies  in  der  negativen  Wendung  heraus,  in 

1  H.  Winkler,  Der  ural-altaische  Sprachstamm,  S.  i66f. 

2  Ein  Satz  wie  „es  schneit"  lautet  daher  im  Japanischen  so,  daß  er  eigentlich  besagt 
„Schnees  Herabfallen  (ist)",  ein  Satz  wie  „der  Tag  hat  sich  geneigt,  es  ist  dunkel  ge- 


a36 


der  selbst  das  Nichtsein  noch  gleichsam  substantiell  gefaßt  wird.  Die  Ver- 
neinung einer  Handlung  lautet  derart,  daß  vielmehr  das  Nicht-Sein  der- 
selben positiv  festgestellt  wird :  es  gibt  nicht  in  unserem  Sinne  ein  „nicht 
Kommen",  sondern  nur  ein  Nichtsein,  Nichtvorhandensein  des  Kommens. 
Dabei  ist  der  Ausdruck  dieses  Nichtseins  selbst  so  gefügt,  daß  er  eigent- 
lich „das  Sein  des  Nicht"  besagt.  Und  wie  hier  die  Relation  der  Ver- 
neinung sich  in  einen  substantiellen  Ausdruck  wandelt,  so  gilt  das  gleiche 
für  die  anderen  Beziehungsausdrücke.  Im  Jakutischen  wird  das  Besitz- 
verhältnis  derart  wiedergegeben,  daß  von  dem  besessenen  Gegenstand 
die  Existenz  oder  Nicht-Existenz  ausgesagt  wird:  eine  Wendung  wie 
„mein  Haus  vorhanden"  oder  „mein  Haus  nicht  vorhanden",  drückt  aus, 
daß  ich  ein  Haus  besitze  oder  nicht  besitze1.  Auch  die  Zahlausdrücke 
sind  vielfach  so  gestaltet,  daß  die  Zahlbestimmung  gleich  einem 
selbständigen  gegenständlichen  Sein  erscheint  —  daß  also  statt  viele 
oder  alle  Menschen  ,Mensch  der  Vielheit*  oder  der  Allheit,  statt  fünf 
Menschen  eigentlich  Mensch  der  Fünfheit,  der  5  Stück,  der  Fünferlei- 
heit  u.  s.  f.  gesagt  wird2.  Die  modalen  oder  temporalen  Bestimmungen 
des  Verbalnomens  werden  in  der  gleichen  Weise  zum  Ausdruck  ge- 
bracht. Ein  substantivischer  Ausdruck,  wie  das  Bevorstehen,  bezeichnet, 
indem  er  attributiv  mit  dem  Verbalnomen  verknüpft  wird,  daß  die 
in  ihm  bezeichnete  Handlung  als  zukünftig  betrachtet  wird,  das  Ver- 
bum  also  im  futurischen  Sinne  zu  nehmen  ist3  —  ein  substantivischer 
Ausdruck  wie  Verlangen  dient  dazu,  die  sogen.  Desiderativform  des  Verbs 
zu  bilden  u.  s.  f.  Auch  sonstige  modale  Nuancen,  wie  die  des  Konditio- 
nalen, des  Konzessiven  werden  nach  dem  gleichen  Prinzip  bezeichnet4. 
Es  sind  lauter  einzelne  Seinsbestimmungen,  es  sind  selbständige  gegen- 
worden" lautet  so,  daß  er  besagt  „des  Tages  Dunkelgeworden-sein  (ist)".  Vgl.  Hoff- 
mann,  Japan.  Sprachlehre,  S.  66 f. 

1  S.  Winkler,  a.  a.  O.,  S.  iggff.;  Boethlingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  348. 

2  Winkler,  a.a.O.,  S.  IÖ2,  i57ff. 

3  S.  im  Jakutischen  (Boethlingk,  S.  2991".):  mein  bevorstehendes  Schneiden  =  der 
meinem  künftigen  Schneiden  unterliegende  Gegenstand,  aber  auch  =  ,,ich  werde  schnei- 
den" u.  s.  f.  Vgl.  die  Tempusbestimmung  beim  japanischen  Verbum,  wo  die  Formen,  die 
zum  Ausdruck  der  Zukunft  oder  Vergangenheit,  der  Vollendung  oder  Dauer  dienen, 
sämtlich  Verbindungen  eines  abhängigen  Verbalnomens,  das  den  Inhalt  der  Handlung 
bezeichnet,  mit  einem  zweiten  regierenden  Verbalnomen  sind,  das  die  zeitliche  Eigen- 
art derselben  kennzeichnet.  Also  Sehens  —  Streben,  Wollen,  Werden  (für  Sehenwerden); 
Sehens  —  Fortgehen  (für  Gesehen  haben)  usw.  Vgl.  H.  Winkler,  a.  a.  O.,  S.  i7Öff. 
und  Hoff  mann,  Japan.  Sprachlehre,  S.  2i4,  227. 

4  Näheres  bei  Winkler,  a.  a.  O.,  S.  i25ff.,  208 ff.,  und  Uralaltaische  Völker  u.  Spra- 
chen, bes.  S.  9off. 


237 


stäridliche  Fügungen,  die  die  Sprache  hier  ausprägt,  um  durch  ihr 
einfaches  Nebeneinander  die  Fülle  der  möglichen  gedanklichen  Ver- 
knüpfungen und  Yerknüpfungsformen  zur  mittelbaren  Darstellung  zu 
bringen. 

Eine  ganz  andere  geistige  Grundauffassung  tritt  uns  dort  entgegen,  wo 
die  Sprache  zwar  gleichfalls  noch  in  der  ursprünglichen  Indifferenz  des 
Nomen-Verbums  verharrt,  wo  sie  aber  die  indifferente  Grundform  im  ent- 
gegengesetzten Sinne  verwendet  und  akzentuiert.  Wenn  in  den  eben  be- 
trachteten Fällen  alle  sprachliche  Bestimmung  vom  Gegenstand  ihren 
Ausgang  nahm,  so  gibt  es  andere  Sprachen,  die  ebenso  scharf  und  präg- 
nant die  Bezeichnung  und  Bestimmung  desVorgangs  zum  Ausgangspunkt 
nehmen.  Wie  dort  das  Nomen,  so  erscheint  hier  das  Verbum,  sofern  es 
reiner  Vorgangsausdruck  ist,  als  der  eigentliche  Mittelpunkt  der  Sprache: 
wie  dort  alle  Verhältnisse,  auch  die  des  Geschehens  und  Tuns,  sich  in 
Seinsverhältnisse  umsetzen,  so  setzen  sich  hier  umgekehrt  auch  diese  letzte- 
ren in  Geschehensverhältnisse  und  Geschehensausdrücke  um.  In  dem 
einen  Falle  wird  die  Form  des  dynamischen  Werdens  gleichsam  in  die 
des  ruhenden  statischen  Daseins  hineingezogen  —  im  anderen  wird  auch 
das  Dasein  nur  insofern  erfaßt,  als  es  zum  Werden  in  Beziehung  steht. 
Aber  diese  Form  des  Werdens  hat  sich  mit  der  reinen  Ichform  noch  nicht 
durchdrungen,  und  sie  besitzt  daher,  bei  all  ihrer  Lebendigkeit  selbst 
noch  eine  überwiegend  objektive,  eine  unpersönliche  Gestalt.  Insofern 
stehen  wir  auch  hier  noch  in  der  dinglichen  Sphäre  —  aber  das  Zentrum 
derselben  hat  sich  verschoben.  Der  Nachdruck  der  sprachlichen  Bezeich- 
nung liegt  nicht  sowohl  auf  der  Existenz,  als  auf  der  Veränderung.  Zeigte 
es  sich  in  den  früher  betrachteten  Fällen,  daß  das  Substantivum  als  Ge- 
genstandsausdruck den  Gesamtbau  der  Sprache  beherrschte  —  so  werden 
wir  jetzt  erwarten  dürfen,  das  Verbum  als  Veränderungsausdruck  als  den 
eigentlichen  Kraftmittelpunkt  zu  finden.  Wie  die  Sprache  dort  be- 
müht war,  alle  noch  so  komplexen  Beziehungen  in  die  substantivische 
Form  umzuprägen  — ■  so  wird  sie  hier  alle  diese  Beziehungen  in  die  Form 
des  verbalen  Geschehensausdrucks  zusammenzufassen  und  gleichsam  ein- 
zufangen  versuchen.  Eine  derartige  Gesamtauffassung  scheint  den  meisten 
Indianersprachen  zugrunde  zu  liegen  —  und  man  hat  versucht,  sie  aus 
den  Strukturelementen  des  indianischen  Geistes  psychologisch  zu  erklären1. 
Wie  immer  man  sich  indes  zu  diesem  Erklärungsversuch  stellen  mag,  so 
zeigt  jedenfalls  schon  der  reine  Bestand  dieser  Sprachen  eine  ganz  eigene 
Methodik  der  Sprachgestaltung.  Die  allgemeinen  Umrisse  derselben  sind 

1  S.  die  Bemerkungen  von  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissenschaft,  S.  ^oaf. 

238 


am  schärfsten  von  Humboldt  in  seiner  Darstellung  des  Einverleibungs- 
verfahrens der  mexikanischen  Sprache  gezeichnet  worden.  Der  Kern  die- 
ses Verfahrens  besteht  bekanntlich  darin,  daß  die  Beziehungen,  die  andere 
Sprachen  im  Salz  und  in  der  analytischen  Gliederung  des  Satzes  zum 
Ausdruck  bringen,  hier  synthetisch  in  ein  einziges  Sprachgefüge,  in  ein 
komplexes  „Satzwort"  zusammengezogen  werden.  Den  Mittelpunkt  dieses 
Satzwortes  bildet  der  Ausdruck  der  verbalen  Handlung,  dem  sich  aber  die 
mannigfachsten  modifizierenden  Bestimmungen  in  reicher  Fülle  anschlie- 
ßen. Die  regierenden  und  regierten  Teile  des  Verbs,  insbesondere  die  Be- 
zeichnungen für  sein  näheres  oder  entfernteres  Objekt  werden  dem  Ver- 
balausdruck selbst  als  notwendiges  Komplement  eingefügt.  „Der  Satz"  — ■ 
so  bemerkt  Humboldt  —  „soll,  seiner  Form  nach,  schon  im  Verbum 
abgeschlossen  erscheinen  und  wird  nur  nachher,  gleichsam  durch  Appo- 
sition näher  bestimmt.  Das  Verbum  läßt  sich  gar  nicht  ohne  diese  vervoll- 
ständigenden Nebenbestimmungen  nach  Mexikanischer  Vorstellungsweise 
denken.  Wenn  daher  kein  bestimmtes  Objekt  dasteht,  so  verbindet  die 
Sprache  mit  dem  Verbum  ein  eigenes,  in  doppelter  Form  für  Personen. 

12       3        1  3 

und  Sachen  gebrauchtes  unbestimmtes  Pronomen:  ni-lla-qua,  ich  esse 

2  1    2     3        4  1         4  2  3 

etwas,  ni-le-tla-maca,  ich  gebe  jemandem  etwas..."  Die  Einverlei- 
bungsmethode drängt  somit  entweder  den  Gesamtinhalt  der  Aussage  in 
einen  einzigen  Verbalausdruck  zusammen,  oder  sie  läßt,  wenn  dies,  bei 
allzu  komplexen  Aussagen,  nicht  möglich  ist,  aus  dem  verbalen  Mittel- 
punkte des  Satzes  „Kennzeichen  gleichsam  wie  Spitzen  ausgehen,  um  die 
Richtungen  anzuzeigen,  in  welchen  die  einzelnen  Teile,  ihrem  Verhältnis 
zum  Satze  gemäß,  gesucht  werden  müssen".  Auch  dort,  wo  das  Verbum 
nicht  den  vollständigen  Inhalt  der  Aussage  in  sich  faßt,  enthält  es  daher 
doch  stets  das  allgemeine  Schema  der  Salzkonstruktion:  der  Satz  soll 
nicht  konstruiert,  nicht  aus  seinen  verschiedenartigen  Elementen  allmäh- 
lich aufgebaut,  sondern  als  zur  Einheit  geprägte  Form,  auf  einmal  hin- 
gegeben werden.  Die  Sprache  stellt  zuerst  ein  verbundenes  Ganze  hin,  das 
formal  vollständig  und  genügend  ist:  sie  bezeichnet  ausdrücklich  das  noch 
nicht  individuell  Bestimmte  als  ein  unbestimmtes  Etwas  durch  ein  Pro- 
nomen, malt  aber  nachher  dies  unbestimmt  Gebliebene  einzeln  aus1. 

Spätere  Untersuchungen  amerikanischer  Sprachen  haben  das  Gesamt- 
bild, das  Humboldt  hier  von  dem  Einverleibungsverfahren  entwirft,  in 
manchen  Zügen  modifiziert;  sie  haben  gezeigt,  daß  dieses  Verfahren  sich 
in  den  Einzelsprachen,  was  die  Art,  den  Grad  und  die  Ausdehnung  der 

l  Vgl.  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  iUf). 

239 


Einverleibung  betrifft,  sehr  verschieden  gestalten  kann1  —  aber  die  all- 
gemeine Charakteristik  der  eigentümlichen  Denkart,  die  ihm  zugrunde 
liegt,  wird  durch  solche  Feststellungen  nicht  wesentlich  geändert.  Man 
könnte,  mit  einem  mathematischen  Bilde,  die  Methode,  die  die  Sprache 
hier  einschlägt,  der  Aufstellung  einer  Formel  vergleichen,  in  der  die  all- 
gemeinen Verhältnisse  von  Größen  bezeichnet,  die  besonderen  Größen- 
werte  aber  unbestimmt  gelassen  werden.  Die  Formel  gibt  zunächst  ledig- 
lich die  allgemeine  Verknüpfungsweise,  die  funktionale  Beziehung,  die 
zwischen  gewissen  Größenarten  besteht,  in  einem  einheitlichen  zusammen- 
fassenden Ausdruck  wieder:  zu  ihrer  Anwendung  im  einzelnen  Falle  ist 
aber  erforderlich,  daß  die  in  ihr  auftretenden  unbestimmten  Größen 
x,  y,  z  durch  bestimmte  Größen  ersetzt  werden.  So  wird  auch  hier 
im  verbalen  Satzwort  die  Form  der  Aussage  gleich  anfangs  vollständig 
entworfen  und  vorweggenommen  —  und  sie  erfährt  nur  dadurch  eine  ma- 
teriale  Ergänzung,  daß  die  unbestimmten  Pronomina,  die  in  das  Satz- 
wort eingehen,  durch  nachträglich  hinzugefügte  sprachliche  Bestim- 
mungen in  ihrer  Bedeutung  näher  determiniert  werden.  Das  Verbum  als 
Vorgangsbezeichnung  strebt  danach,  das  lebendige  Ganze  des  im  Satz  aus- 
gedrückten Sinnes  in  sich  zu  vereinen  und  zu  konzentrieren;  aber  je 
weiter  es  in  dieser  Leistung  fortschreitet,  umsomehr  besteht  freilich  die 
Gefahr,  daß  es  von  der  Fülle  des  immer  neu  hinzudrängenden  Stoffes, 
den  es  zu  meistern  hat,  selbst  überwältigt  wird  und  in  diesem  Stoff  gleich- 
sam versinkt.  Um  den  verbalen  Kern  der  Aussage  spinnt  sich  jetzt  ein 
so  dichtes  Netz  modifizierender  Bestimmungen,  die  die  Art  und  Weise  der 
Handlung,  ihre  örtlichen  und  zeitlichen  Neben  umstände,  ihr  näheres  oder 
entfernteres  Objekt  angeben,  daß  es  schwer  fällt,  den  Gehalt  der  Aussage 
selbst  aus  dieser  Verschlingung  herauszulösen  und  ihn  als  selbständigen 
Bedeutungsgehalt  zu  erfassen.  Der  Ausdruck  der  Handlung  erscheint 
hier  niemals  als  generischer,  sondern  als  individuell-determinierter,  durch 
besondere  Partikel  gekennzeichneter  und  mit  ihnen  untrennbar  behafteter 
Ausdruck2.  Wenn  durch  die  Fülle  dieser  Partikel  die  Handlung  oder  der 

1  Vgl.  bes.  die  Untersuchungen  von  Lucien  Adam  über  den  „Polysynthetismus"  in  der 
Nahuatl-  und  Kechua-,  der  Quiche-  und  May a- Sprache  (Etudes  sur  six  langues  ameri- 
caines,  Paris  1878).  S.  ferner  Brinton,  On  polysynthesis  and  incorporation  as  cha- 
racteristics  of  American  languages.  Transact.  of  the  Americ.  Philos.  Soc.  of  Philadel- 
phia XXIII  (i885),  sowie  Boas'  Handbook  I,  573,  646 ff.  (Chinook),  ioo2ff.  (Eski- 
mo) u.  ö. 

2  Vgl.  hierfür  z.  B.  die  charakteristischen  Bemerkungen,  die  K.  v.  d.  Steinen  über  die 
Bakairisprache  macht.  Unter  den  Naturvölkern  Zentral-Brasil.,  S.  78  ff .,  Bakalri- 
Sprache,  S.  IX f. 

2  40 


Vorgang  einerseits  zwar  als  konkret-anschauliches  Ganze  erfaßt  wird  — 
so  gelangt  doch  andererseits  darin  die  Einheit  des  Geschehens  und  insbe- 
sondere die  Einheit  des  Subjekts  des  Tuns  nicht  zur  scharfen  sprach- 
lichen Auszeichnung  und  Abhebung1.  Das  volle  Licht  der  Sprache  trifft 
gleichsam  nur  den  Inhalt  des  Geschehens  selbst  —  nicht  das  Ich,  das  an 
ihm  tälig  beteiligt  ist.  Dies  zeigt  sich  auch  darin,  daß  z.  B.  in  den  meisten 
Indianersprachen  die  Flexion  des  Verbums  nicht  durch  das  Subjekt,  son- 
dern durch  das  Objekt  der  Handlung  beherrscht  wird.  Das  transitive  Ver- 
bum  wird  seinem  Numerus  nach  nicht  durch  das  Subjekt,  sondern  durch 
das  direkte  Objekt  bestimmt:  es  muß  in  der  Pluralform  stehen,  wenn 
es  sich  auf  eine  Mehrheit  von  Gegenständen,  auf  die  gewirkt  wird,  be- 
zieht. So  wird  hier  das  grammatische  Objekt  des  Satzes  zu  seinem  logi- 
schen Subjekt,  welches  das  Verbum  regiert2.  Die  Gestaltung  des  Satzes 
und  die  gesamte  Gestaltung  der  Sprache  nimmt  vom  Verbum  ihren  Aus- 
gang, aber  dieses  selbst  verharrt  in  der  Sphäre  der  objektiven  Anschau- 
ung: der  Eintritt  und  der  Ablauf  des  Ereignisses,  nicht  die  Energie  des 
Subjekts,  die  sich  in  der  Handlung  bekundet,  ist  das,  was  die  Sprache  als 
das  wesentliche  Moment  heraushebt  und  zur  Darstellung  bringt. 

Eine  Änderung  dieser  Grundanschauung  stellt  sich  uns  erst  in  den- 
jenigen Sprachen  dar,  die  zu  einer  rein  personalen  Gestaltung  der  ver- 
balen Handlung  übergegangen  sind,  bei  denen  also  die  Konjugation  ihrem 
Grundtypus  nach  nicht  in  einer  Verbindung  des  Verbalnomens  mit  pos- 
sessiven Suffixen,  sondern  in  einer  synthetischen  Verknüpfung  des  ver- 
balen Ausdrucks  mit  dem  Ausdruck  für  die  persönlichen  Fürwörter 

1  Für  das  Verbum  der  Klamath-Sprache  betont  Gatschet  (a.  a.  O.,  S.  572-f.),  daß  es  den 
verbalen  Akt  oder  Zustand  immer  nur  in  der  impersonalen  und  indefiniten  Form  —  ver- 
gleichbar unserem  Infinitiv  —  zum  Ausdruck  bringe.  In  einer  Satzfügung  wie  Du-bre- 
chen-Stock  bezeichne  daher  der  verbale  Ausdruck  nur  das  Brechen  schlechthin  ohne 
Rücksicht  auf  sein  Subjekt.  Ebenso  besitzen  die  Maya-Sprachen  keine  transitiven  aktiven 
Verben  in  unserem  Sinne:  sie  kennen  nur  Nomina  und  absolute  Verba,  die  einen  Zustand 
des  Seins,  eine  Eigenschaft  oder  eine  Tätigkeit  bezeichnen,  welche  als  Prädikate  zu  einem 
Personalpronomen  oder  einer  dritten  Person  als  Subjekt  konstruiert  werden,  die  aber 
kein  direktes  Objekt  zu  sich  nehmen  können.  Die  Worte,  die  zur  Darstellung  einer 
transitiven  Handlung  dienen,  sind  wurzelhafte  oder  abgeleitete  Nomina,  die  als  solche 
mit  dem  Possessivpräfix  verbunden  werden.  Ein  Mayasatz  wie  „du  hast  meinen  Vater 
getötet",  „du  hast  das  Buch  geschrieben"  besagt  daher  eigentlich:  „dein  Gelöteter  ist 
mein  Vater,  dein  Geschriebenes  ist  das  Buch".  (Näheres  bei  Ed.  Sei  er,  Das  Konjuga- 
tionssystem der  Maya-Sprache,  Berlin  1887,  S.  9,  17  ff.)  Auch  im  Verbalausdruck  der 
malayischen  Sprachen  sind  solche  „impersonale"  Wendungen  häufig;  man  sagt  hier: 
mein  Sehen  (war)  der  Stern  für:  ,ich  sah  den  Stern'  u.  s.  f .,  vgl.  Humboldt,  Kawi- 
Werk  II,  80,  35of.,  397. 

2  Vgl.  Gatschet,  a.  a.  O.,  S.  434  u.  bes.  Ed.  Seier,  a.  a.  0. 

»6  24l 


besteht.  Was  diese  Synthese  von  dem  Verfahren  der  sogen,  „polysynthe- 
tischen" Sprachen  unterscheidet,  ist  dies,  daß  sie  sich  auf  eine  vorange- 
gangene Analyse  stützt.  Die  Verknüpfung,  die  sich  hier  vollzieht,  ist  keine 
bloße  Verschmelzung,  kein  Ineinanderlaufen  der  Gegensätze  —  sondern 
sie  setzt  eben  diese  Gegensätze  selbst  und  deren  scharfe  Auseinander- 
haltung und  Sonderung  voraus.  Mit  der  Entwicklung  der  persönlichen 
Fürwörter  hat  sich  das  Gebiet  des  subjektiven  Seins  von  dem  des  objek- 
tiven im  sprachlichen  Ausdruck  klar  geschieden  —  und  doch  fassen  sich 
eben  die  Ausdrücke  für  das  subjektive  Sein  mit  denen  für  das  objektive 
Geschehen  in  der  Flexion  des  Verbums  wieder  zu  einer  neuen  Einheit  zu- 
sammen. Wo  immer  man  in  dieser  Zusammenfassung  die  wesentliche  und 
spezifische  Natur  des  Verbums  ausgedrückt  findet  —  da  muß  man  daher 
folgerecht  schließen,  daß  diese  Natur  sich  erst  in  der  Verknüpfung  des 
verbalen  Elements  mit  den  Ausdrücken  für  das  persönliche  Sein  vollende. 
„Denn  das  aktuale  Sein,  welches  in  der  grammatischen  Vorstellung  das 
Verbum  charakterisiert,"  —  sagt  Humboldt  —  „läßt  sich  nicht  leicht  an 
sich  ausdrücken,  sondern  verkündigt  sich  nur  dadurch,  daß  es  ein  Sein 
auf  eine  bestimmte  Weise  in  einer  bestimmten  Zeit  und  Person  ist  und 
daß  der  Ausdruck  dieser  Beschaffenheit  unzertrennlich  in  das  Grundwort 
verwebt  ist,  zum  sicheren  Zeichen,  daß  dasselbe  nur  mit  ihnen  gedacht  und 
gleichsam  in  sie  versetzt  werden  soll.  Seine  (des  Verbums)  Natur  ist  gerade 
diese  Beweglichkeit,  liegt  in  der  Unmöglichkeit  anders,  als  in  einem  einzelnen 
Fall  fixiert  zu  werden."  Dennoch  gehört  sowohl  die  zeitliche  wie  die  per- 
sönliche Bestimmung,  die  temporale  wie  die  personale  Fixierung  des  Ver- 
balausdrucks, nicht  zu  seinem  anfänglichen  Grundbestand,  sondern  beide 
bezeichnen  ein  Ziel,  das  in  der  sprachlichen  Entwicklung  erst  relativ  spät 
erreicht  wird.  Für  die  Zeitbestimmung  hat  sich  dies  bereits  ergeben2  — 
für  die  Beziehung  auf  das  Ich  kann  man  sich  die  allmählichen  Übergänge, 
die  hier  stattfinden,  verdeutlichen,  wenn  man  die  Art  betrachtet,  in  der 
einzelne  Sprachen  die  Sphäre  des  „transitiven"  Verbalausdrucks  von  der 
des  „intransitiven"  Ausdrucks,  auch  durch  rein  lautliche  Mittel,  unter- 
scheiden. So  wird  z.  B.  in  verschiedenen  semitischen  Sprachen  das  intran- 
sitive oder  halbpassive  Verbum,  welches  nicht  eine  rein  tätige  Handlung, 
sondern  einen  Zustand  und  ein  Leiden  ausdrückt,  durch  eine  andere 
Vokalaussprache  bezeichnet.  Im  Äthiopischen  ist,  nach  Dillmann,  diese 
Unterscheidung  der  intransitiven  Verba  durch  die  Aussprache  ganz  leben- 
dig geblieben:  alle  Verba,  welche  Eigenschaften,  leibliche  oder  geistige 

1  Humboldt,  Kawi-Werk,  II,  79L 

2  Vgl.  ob.  S.  171  f. 

242 


Bestimmtheiten,  Leidenschaften  oder  unfreie  Tätigkeiten  bezeichnen,  wer- 
den anders  ausgesprochen,  als  diejenigen,  in  denen  eine  reine  und  selb- 
ständige Aktivität  des  Ich  bezeichnet  werden  soll1.  Die  lautliche  Sym- 
bolik dient  hier  dem  Ausdruck  jenes  grundlegenden  geistigen  Prozesses, 
der  in  der  Sprachbildung  immer  deutlicher  heraustritt  —  sie  zeigt,  wie 
das  Ich  sich  im  Gegenbild  der  verbalen  Handlung  erfaßt  und  wie  es  in 
der  immer  schärferen  Herausarbeitung  und  Differenzierung  derselben 
auch  sich  selbst  erst  wahrhaft  findet  und  sich  in  seiner  Sonderstellung 
begreift. 


1  Dillmann,  Äthiop.  Grammat.,  S.  u6f. 

16* 


243 


KAPITEL  IV 

DIE  SPRACHE  ALS  AUSDRUCK 
DES  BEGRIFFLICHEN  DENKENS.  —  DIE  FORM 
DER  SPRACHLICHEN  BEGRIFFS-  UND  KLASSEN- 
BILDUNG 

I.  Die  qualifizierende  Begriffsbildung 

Das  Problem  der  Begriffsbildung  bezeichnet  den  Punkt,  an  dem  Logik 
und  Sprachphilosophie  sich  aufs  nächste  berühren,  ja  an  dem  sie  zu  einer 
untrennbaren  Einheit  zu  verschmelzen  scheinen.  Alle  logische  Analyse  des 
Begriffs  scheint  zuletzt  an  einen  Punkt  zu  führen,  an  dem  die  Betrach- 
tung der  Begriffe  in  die  der  Worte  und  Namen  übergeht.  Der  konsequente 
Nominalismus  zieht  beide  Probleme  in  ein  einziges  zusammen:  der  Ge- 
halt des  Begriffs  geht  ihm  in  dem  Gehalt  und  der  Leistung  des  Wortes 
auf.  So  wird  ihm  die  Wahrheit  selbst  zu  einer  nicht  sowohl  logischen, 
als  vielmehr  sprachlichen  Bestimmung:  „veritas  in  diclo,  non  in  re  con- 
sistit".  Sie  betrifft  eine  Übereinstimmung,  die  nicht  in  den  Dingen  selbst, 
noch  in  den  Ideen  zu  finden  ist,  sondern  die  sich  ausschließlich  auf  die 
Verknüpfung  der  Zeichen,  insbesondere  der  Lautzeichen,  bezieht.  Ein 
schlechthin  „reines",  ein  sprachloses  Denken  würde  den  Gegensatz  von 
Wahr  und  Falsch,  der  erst  im  Sprechen  und  durch  dasselbe  erzeugt  wird, 
nicht  kennen.  So  führt  die  Frage  nach  der  Geltung  und  dem  Ursprung 
des  Begriffs  hier  notwendig  auf  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Wor- 
tes zurück:  die  Erforschung  der  Genesis  der  Wortbedeutungen  und  der 
Wortklassen  erscheint  als  das  einzige  Mittel,  um  uns  den  immanenten 
Sinn  des  Begriffs  und  seine  Funktion  im  Aufbau  der  Erkenntnis  ver- 
ständlich zu  machen1. 

Die  schärfere  Betrachtung  zeigt  freilich,  daß  diese  Lösung,  die  der 
Nominalismus  für  das  Problem  des  Begriffs  darbietet,  insofern  eine 
Scheinlösung  bleibt,  als  sie  in  einen  Zirkel  ausläuft.  Denn  wenn  die  Sprache 
i  Vgl.ob.S.78ff. 

244 


hier  die  letzte,  die  im  gewissen  Sinne  einzige  „Erklärung"  der  Begriffs- 
funktion abgeben  soll,  so  kann  sie  doch  andererseits  in  ihrem  eigenen 
Aufbau  eben  dieser  Funktion  nirgends  entbehren.  Und  der  Zirkel,  der 
hier  im  Ganzen  begangen  wird,  kehrt  nun  auch  im  Einzelnen  wieder. 
Die  traditionelle  logische  Lehre  läßt  den  Begriff  „durch  Abstraktion" 
entstehen:  sie  weist  uns  an,  ihn  dadurch  zu  bilden,  daß  wir  übereinstim- 
mende Dinge  oder  Vorstellungen  miteinander  vergleichen  und  die  „ge- 
meinsamen Merkmale"  aus  ihnen  herauslösen.  Daß  die  von  uns  ver- 
glichenen Inhalte  schon  bestimmte  „Merkmale"  haben,  daß  sie  qualitative 
Bestimmungen  an  sich  tragen,  nach  denen  wir  sie  in  Ähnlichkeitsklassen 
und  Ähnlichkeitskreise,  in  Arten  und  Gattungen  abteilen  können,  wird 
hierbei  meist  als  eine  selbstverständliche,  keiner  besonderen  Erwähnung 
bedürftige  Voraussetzung  hingenommen.  Und  doch  liegt  gerade  in  dieser 
scheinbaren  Selbstverständlichkeit  eines  der  schwierigsten  Probleme  be- 
schlossen, das  die  Begriffsbildung  uns  bietet.  Hier  vor  allem  erneuert  sich 
die  Frage,  ob  die  „Merkmale",  nach  denen  wir  die  Dinge  in  Klassen  teilen, 
uns  schon  vor  der  Sprachbildung  gegeben  sind  oder  ob  sie  uns  vielleicht 
erst  durch  dieselbe  geliefert  werden.  „Die  Abstraktionstheorie"  —  so 
bemerkt  Sigwart  mit  Recht  —  „vergißt,  daß,  um  ein  vorgestelltes  Ob- 
jekt in  seine  einzelnen  Merkmale  aufzulösen,  schon  Urteile  notwendig  sind, 
deren  Prädikate  allgemeine  Vorstellungen  (nach  gewöhnlicher  Redeweise 
Begriffe)  sein  müssen;  und  daß  diese  Begriffe  zuletzt  irgendwie  anders 
als  durch  solche  Abstraktion  gewonnen  sein  müssen,  da  sie  den  Prozeß 
dieser  Abstraktion  erst  möglich  machen.  Sie  vergißt  ferner,  daß  bei 
diesem  Prozeß  vorausgesetzt  wird,  daß  der  Kreis  der  zu  vergleichenden 
Objekte  irgendwie  bestimmt  sei,  und  sie  setzt  stillschweigend  ein  Motiv 
voraus,  gerade  diesen  Kreis  zusammenzufassen  und  das  Gemeinschaftliche 
zu  suchen.  Dieses  Moliv  kann,  wenn  nicht  absolute  Willkür  herrschen  soll, 
zuletzt  nur  das  sein,  daß  jene  Objekte  zum  Voraus  als  ähnlich  erkannt 
werden,  weil  sie  alle  einen  bestimmten  Inhalt  gemeinsam  haben,  d.  h. 
daß  bereits  eine  allgemeine  Vorstellung  da  ist,  mit  Hilfe  welcher  diese 
Objekie  aus  der  Gesamtheit  aller  ausgeschieden  werden.  Die  ganze  Lehre 
von  der  Begriffsbildung  durch  Vergleichung  und  Abstraktion  hat  nur 
dann  einen  Sinn,  wenn,  wie  es  häufig  geschieht,  die  Aufgabe  vorliegt,  das 
Gemeinschaftliche  der  tatsächlich  durch  den  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch mit  demselben  Worte  bezeichneten  Dinge  anzugeben  und  dar- 
aus die  faktische  Bedeutung  des  Wortes  sich  deutlich  zu  machen.  Wenn 
verlangt  wird,  den  Begriff  des  Tieres,  des  Gases,  des  Diebstahls  usw. 
anzugeben,  da  kann  man  versucht  sein,  so  zu  verfahren,  daß  man  die  ge- 

245 


meinschaftlichen  Merkmale  aller  der  Dinge,  welche  übereinstimmend 
Tiere,  aller  der  Körper,  welche  Gase,  aller  der  Handlungen,  welche  Dieb- 
stahl genannt  werden,  aufsucht.  Ob  es  gelingt;  ob  diese  Anweisung  zur 
Begriffsbildung  ausführbar  ist,  das  ist  eine  andere  Frage;  sie  ließe  sich 
hören,  wenn  man  voraussetzen  könnte,  daß  es  nirgends  zweifelhaft  ist, 
was  man  Tier,  Gas,  Diebstahl  zu  nennen  habe,  —  d.  h.  wenn  man  den  Be- 
griff, den  man  sucht,  in  Wahrheit  schon  hat.  Einen  Begriff  so  durch 
Abstraktion  bilden  wollen,  heißt  also  die  Brille  suchen,  die  man  auf  der 
Na^e  trägt,  mit  Hilfe  eben  dieser  Brille1."  In  der  Tat  bringt  die  Abstrak- 
tionstheorie die  Frage  nach  der  Begriffsform  nur  dadurch  zur  Lö- 
sung, daß  sie,  bewußt  oder  stillschweigend,  auf  die  Sprachform  rekur- 
riert, womit  indes  das  Problem  nicht  sowohl  bewältigt,  als  vielmehr  nur 
in  ein  anderes  Gebiet  zurückgeschoben  ist.  Der  Prozeß  der  Abstraktion 
kann  sich  nur  an  solchen  Inhalten  vollziehen,  die  in  sich  schon  irgend- 
wie bestimmt  und  bezeichnet,  die  sprachlich  und  gedanklich  gegliedert 
sind.  Wie  aber  —  so  muß  jetzt  gefragt  werden  —  kommt  es  zu  dieser 
Gliederung  selbst?  Welches  sind  die  Bedingungen  jener  primären  For- 
mung, die  sich  in  der  Sprache  vollzieht  und  die  für  alle  weiteren  und 
komplexeren  Synthesen  des  logischen  Denkens  die  Grundlage  bildet?  Auf 
welchem  Wege  gelingt  es  der  Sprache,  dem  Heraklitischen  Fluß  des  Wer- 
dens, in  dem  kein  Inhalt  wahrhaft  gleichartig  wiederkehrt,  zu  entrinnen 
—  sich  ihm  gleichsam  gegenüberzustellen  und  aus  ihm  feste  Bestimmt- 
heilen herauszulösen?  Hier  liegt  das  eigentliche  Geheimnis  der  „Prädi- 
kation" als  eines  zugleich  logischen  und  sprachlichen  Problems.  Nicht 
dies  ist  der  Anfang  des  Denkens  und  Sprechens,  daß  irgendwelche  in  der 
Empfindung  oder  Anschauung  gegebene  Unterschiede  einfach  erfaßt  und 
benannt,  sondern  daß  bestimmte  Grenzlinien  selbständig  gezogen,  be- 
stimmte Trennungen  und  Verknüpfungen  vorgenommen  werden,  kraft 
deren  sich  nun  aus  der  fließend  immer  gleichen  Reihe  des  Bewußtseins 
klar  geschiedene  Einzelgestalten  herausheben.  Die  Logik  pflegt  die  eigent- 
liche Geburtsslätte  des  Begriffs  erst  dort  zu  finden,  wo  durch  bestimmte 
intellektuelle  Operationen,  insbesondere  durch  das  Verfahren  der  „Defini- 
tion" nach  genus  proximum  und  differentia  specifica,  eine  scharfe  Ab- 
grenzung des  Bedeutungsgehalts  des  Wortes  und  eine  eindeutige  Fixie- 
rung desselben  erreicht  wird.  Aber  um  zum  letzten  Ursprung  des  Be- 
griffs zu  gelangen,  muß  das  Denken  in  eine  noch  tiefere  Schicht  zurück- 
dringen, muß  es  die  Motive  der  Verknüpfung  und  Trennung  aufsuchen, 
die  sich  im  Prozeß  der  Wortbildung  selbst  wirksam  erweisen,  und  die 

1  Sigwart,  Logik2,  I,  32off. 
2/16 


für  die  Unterordnung  des  gesamten  Vorstellungsmaterials  unter  be- 
stimmte sprachliche  Klassenbegriffe  entscheidend  sind. 

Denn  die  primäre  Aufgabe  der  Begriffsbildung  ist  es  nicht,  wie  die 
Logik  unter  dem  Zwange  einer  jahrhundertealten  Tradition  zumeist  an- 
genommen hat,  die  Vorstellung  zu  immer  größerer  Allgemeinheit, 
sondern  sie  zu  wachsender  Bestimmtheit  zu  erheben.  Sofern  vom  Begriff 
„Allgemeinheit"  verlangt  wird,  so  ist  sie  doch  nicht  Selbstzweck,  sondern 
sie  dient  nur  als  Vehikel,  um  zum  eigentlichen  Ziel  des  Begriffs,  zum 
Ziel  der  Bestimmtheit  zu  gelangen.  Bevor  irgendwelche  Inhalte  mitein- 
ander verglichen  und  gemäß  dem  Grad  ihrer  Ähnlichkeit  in  Klassen  ge- 
ordnet werden  können,  deren  eine  die  andere  umfaßt,  müssen  sie  selbst 
als  Inhalte  bestimmt  sein.  Hierzu  aber  wird  ein  logischer  Akt  der  Set- 
zung und  Unterscheidung  gefordert,  durch  den  in  dem  stetigen  Fluß 
des  Bewußtseins  erst  irgendwelche  Einschnitte  entstehen,  durch  den  das 
rastlose  Kommen  und  Gehen  der  Sinneseindrücke  gleichsam  angehalten 
wird  und  gewisse  Ruhepunkte  gewinnt.  Nicht  die  Vergleichung  der  Vor- 
stellungen und  ihre  Zusammenfassung  nach  Arten  und  Gattungen,  son- 
dern die  Formung  der  Eindrücke  zu  Vorstellungen  ist  daher  die  ursprüng- 
liche und  die  entscheidende  Leistung  des  Begriffs.  Unter  den  modernen 
Logikern  ist  es  vor  allem  Lotze,  der  dies  Verhältnis  am  schärfsten  er- 
faßt hat,  wenngleich  er  sich  in  der  Deutung  und  Darstellung,  die  er  ihm 
gegeben  hat,  von  den  Fesseln,  die  ihm  die  logische  Tradition  auferlegte, 
nicht  völlig  zu  befreien  vermochte.  Seine  Lehre  vom  Begriff  geht  davon 
aus,  daß  die  ursprünglichste  Denkhandlung  nicht  in  der  Verknüpfung 
zweier  gegebener  Vorstellungen  bestehen  könne,  sondern  daß  die  logische 
Theorie  hier  noch  einen  Schritt  weiter  zurückzugehen  habe.  Damit  Vor- 
stellungen in  der  Form  eines  Gedankens  verbindbar  werden,  bedürfen 
sie  einzeln  einer  vorgängigen  Formung,  durch  welche  sie  überhaupt  erst 
zu  logischen  Bausteinen  werden.  Über  diese  erste  Leistung  des  Denkens 
pflege  man  nur  deshalb  hinwegzusehen,  weil  sie  in  der  Bildung  der  uns 
überkommenen  Sprache  beständig  schon  vollzogen  sei  und  weil  sie  dem- 
nach zu  den  selbstverständlichen  Voraussetzungen,  nicht  mehr  zu  der  eige- 
nen Arbeit  des  Denkens  zu  gehören  scheine.  In  Wahrheit  aber  enthalt© 
gerade  die  Schöpfung  der  Sprachworte,  wenn  man  von  bloßen  formlosen 
Interjektionen  und  Erregungslauten  absehe,  die  Grundform  des  Denkens, 
die  Form  der  Objektivierung  in  sich.  Diese  kann  hier  noch  nicht  darauf 
gerichtet  sein,  Verknüpfungen  des  Mannigfaltigen  herzustellen,  die  einer 
allgemeingültigen  Regel  unterstehen;  sondern  sie  löst  vor  allem  die  Vor- 
aufgabe, jedem  einzelnen  Eindruck  die  Bedeutung  eines  an  sich  Gültigen 

247 


zu  geben.  Von  der  Heraussetzung  des  Inhalts  in  eine  von  der  Erkenntnis 
ganz  unabhängige  Wirklichkeit  weiß  also  diese  Art  der  Objektivierung 
noch  nichts  —  sondern  ihr  handelt  es  sich  nur  darum,  den  Inhalt,  an 
dem  sie  sich  vollzieht,  für  die  Erkenntnis  zu  fixieren  und  ihn  im  Wech- 
sel und  Wandel  der  Eindrücke  für  das  Bewußtsein  als  ein  sich  selbst 
Gleiches  und  Wiederkehrendes  zu  kennzeichnen.  „Durch  die  logische  Ob- 
jektivierung, die  sich  in  der  Schöpfung  des  Namens  verrät,  wird  daher 
der  benannte  Inhalt  nicht  in  eine  äußere  Wirklichkeit  hinausgerückt;  die 
gemeinsame  Welt,  in  welcher  andere  ihn,  auf  den  wir  hinweisen,  wieder- 
finden sollen,  ist  im  allgemeinen  nur  die  Welt  des  Denkbaren;  ihr  wird 
hier  die  erste  Spur  eines  eigenen  Bestehens  und  einer  inneren  Gesetzlich- 
keit zugeschrieben,  die  für  alle  denkenden  Wesen  dieselbe  und  von  ihnen 
unabhängig  ist." 

Und  jetzt  knüpfen  sich  an  diese  erste  Fixierung  irgendwelcher,  durch 
das  Denken  und  die  Sprache  erfaßbarer  Qualitäten  weitere  Bestimmungen 
an,  in  denen  sie  miteinander  zu  gewissen  Verhältnissen  zusammentreten, 
in  denen  sie  sich  zu  Ordnungen  und  Reihen  zusammenfügen.  Die  ein- 
zelne Qualität  besitzt  nicht  nur  an  sich  selbst  ein  identisches,, Was", einen 
eigentümlichen  Bestand,  sondern  sie  ist  kraft  desselben  auf  andere  be- 
zogen —  und  auch  diese  Beziehung  ist  nicht  willkürlich,  sondern  weist 
eine  eigentümliche  objektive  Form  auf.  Aber  auch  diese  letztere  können 
wir,  obwohl  wir  sie  als  solche  erkennen  und  anerkennen,  dennoch  den 
Einzelinhalten  nicht  als  ein  Selbständiges  und  Ablösbares  gegenüberstel- 
len, sondern  sie  nur  an  ihnen  und  in  ihnen  aufweisen.  Fassen  wir  mehrere 
Inhalte,  nachdem  wir  sie  als  solche  fixiert  und  benannt  haben,  zur  Form 
einer  Reihe  zusammen,  so  scheint  damit  zugleich  ein  Gemeinsames  ge- 
setzt, das  sich  in  den  Einzelgliedern  der  Reihe  spezifiziert,  das  sich  in  ihnen 
allen,  jedoch  in  jedem  von  ihnen  mit  einem  eigentümlichen  Unterschied 
behaftet,  darstellt.  Dieses  erste  Allgemeine  ist  jedoch,  wie  Lotze  betont, 
von  wesentlich  anderer  Art,  als  es  die  gewöhnlichen  Gattungsbegriffe  der 
Logik  sind.  „Den  Allgemeinbegriff  eines  Tieres  oder  einer  geometrischen 
Figur  teilen  wir  einem  anderen  dadurch  mit,  daß  wir  ihm  vorschreiben, 
eine  genau  angebbare  Reihe  von  Denkhandlungen  der  Verknüpfung, 
Trennung  oder  Beziehung  an  einer  Anzahl  als  bekannt  vorausgesetzter 
Einzelvorstellungen  auszuführen;  am  Ende  dieser  logischen  Arbeit  werde 
vor  seinem  Bewußtsein  derselbe  Inhalt  stehen,  den  wir  ihm  mitzuteilen 
wünschten.  Worin  dagegen  das  allgemeine  Blau  bestehe,  das  wir  im  Hell- 
blau und  Dunkelblau,  oder  worin  die  allgemeine  Farbe,  die  wir  in  Rot 
und  Gelb  mitdachten,  läßt  sich  nicht  auf  demselben  Wege  verdeutlichen  . . . 


2  48 


Das,  worin  Rot  oder  Gelb  übereinstimmen,  und  wodurch  sie  beide  Farben 
sind,  läßt  sich  von  dem  nicht  abtrennen,  wodurch  Rot  rot  und  Gelb  gelb 
ist;  nicht  so  abtrennen  nämlich,  daß  dies  Gemeinsame  den  Inhalt  einer 
dritten  Vorstellung  bildete,  welche  von  gleicher  Art  und  Ordnung  mit 
den  beiden  verglichenen  wäre.  Empfunden  wird,  wie  wir  wissen,  stets 
nur  eine  bestimmte  Einzelschattierung  einer  Farbe,  nur  ein  Ton  von  be- 
stimmter Höhe, Stärke  und  Eigenart . .  .Wer  das  Allgemeine  der  Farbe  oder 
des  Tones  zu  fassen  sucht,  wird  sich  stets  dabei  antreffen,  daß  er  entweder 
eine  bestimmte  Farbe  und  einen  bestimmten  Ton  wirklich  vor  seiner  An- 
schauung hat,  nur  begleitet  von  dem  Nebengedanken,  jeder  andere  Ton 
und  jede  andere  Farbe  habe  das  gleiche  Recht,  als  anschauliches  Beispiel 
des  selbst  unanschaulich  bleibenden  Allgemeinen  zu  dienen ;  oder  seine  Er- 
innerung wird  viele  Farben  und  Töne  nacheinander  ihm  mit  demselben 
Nebengedanken  vorführen,  daß  nicht  diese  einzelnen  selbst  gemeint  sind, 
sondern  das  ihnen  Gemeinsame,  das  in  keiner  Anschauung  für  sich  zu 
fassen  ist . . .  Worte,  wie  Farbe  und  Ton  sind  in  Wahrheit  nur  kurze  Be- 
zeichnungen logischer  Aufgaben,  die  sich  in  der  Form  einer  geschlossenen 
Vorstellung  nicht  lösen  lassen.  Wir  befehlen  durch  sie  unserem  Bewußt- 
sein, die  einzelnen  vorstellbaren  Töne  und  Farben  vorzustellen  und  zu  ver- 
gleichen, in  dieser  Vergleichung  aber  das  Gemeinsame  zu  ergreifen,  das 
nach  dem  Zeugnis  unserer  Empfindung  in  ihnen  enthalten  ist,  das  jedoch 
durch  keine  Anstrengung  des  Denkens  von  dem,  wodurch  sie  verschieden 
sind,  sich  wirklich  ablösen  und  zu  dem  Inhalt  einer  gleich  anschaulichen 
neuen  Vorstellung  gestalten  läßt1." 

Wir  haben  diese  Lehre  Lotzes  vom  „ersten  Allgemeinen"  hier  ausführ- 
lich wiedergegeben,  weil  sie,  richtig  verstanden  und  interpretiert,  zum 
Schlüssel  für  das  Verständnis  der  ursprünglichen  Form  der  Begriffsbil- 
dung werden  kann,  die  in  der  Sprache  waltet.  Die  logische  Tradition  be- 
findet sich  diesem  Problem  gegenüber,  wie  gerade  die  Darlegungen  Lotzes 
deutlich  zeigen,  in  einem  eigentümlichen  Dilemma.  Daß  das  Streben  des 
Begriffs  schlechthin  auf  Allgemeinheit  gerichtet  sein  und  daß  seine  Lei- 
stung zuletzt  in  der  Gewinnung  von  Allgemeinvorstellungen  bestehen 
müsse,  steht  ihr  fest;  aber  es  erweist  sich  nun,  daß  dies  an  sich  überall 
gleichartige  Streben  nicht  auch  überall  in  der  gleichen  Weise  erfüllbar 
ist.  Eine  doppelte  Form  des  Allgemeinen  muß  demnach  unterschieden 
werden:  die  eine,  in  der  es  gleichsam  nur  implizit,  in  der  Form  einer 
Beziehung,  die  die  Einzelinhalte  aufweisen,  gegeben  ist;  die  andere,  in 
der  es  auch  explizit,  in  der  Art  einer  selbständigen  anschaulichen  Vor- 
i  Lotze,  Logik2,  Lpz.  1880,  S.  i4ff.;  2gff. 

2^9 


Stellung  heraustritt.  Aber  von  hier  aus  bedarf  es  nun  nur  noch  eines 
weiteren  Schrittes,  um  das  Verhältnis  umzukehren:  um  den  Bestand  der 
Beziehung  als  den  eigentlichen  Inhalt  und  das  eigentliche  logische  Fun- 
dament des  Begriffs,  die  , »Allgemeinvorstellung' '  dagegen  nur  als  ein 
keineswegs  immer  erforderliches  und  erreichbares  psychologisches  Acci- 
dens  desselben  anzusehen.  Lotze  hat  diesen  Schritt  nicht  getan;  statt  die 
Forderung  der  Bestimmung,  die  der  Begriff  stellt,  scharf  und  prinzipiell 
von  der  Forderung  der  Allgemeinheit  abzutrennen,  werden  ihm  die  pri- 
mären Bestimmtheiten,  zu  denen  der  Begriff  hinführt,  selbst  wieder  zu 
primären  Allgemeinheiten,  so  daß  es  nun  für  ihn,  statt  zwei  charakteri- 
stische Leistungen  des  Begriffs,  vielmehr  zwei  Formen  des  Allgemeinen: 
ein  „erstes'*  und  ein  „zweites"  Allgemeine  gibt.  Aber  aus  seiner  eigenen 
Darstellung  geht  hervor,  daß  diese  beiden  Arten  kaum  mehr  als  den 
Namen  miteinander  gemein  haben,  dagegen  in  ihrer  eigentümlichen 
logischen  Struktur  aufs  schärfste  geschieden  sind.  Denn  das  Verhältnis 
der  Subsumtion,  das  die  traditionelle  Logik  als  die  konstitutive  Beziehung 
ansieht,  durch  die  das  Allgemeine  mit  dem  Besonderen,  die  Gattung  mit 
den  Arten  und  Individuen  zusammenhängt,  ist  auf  die  Begriffe,  die  Lotze 
als  das  „erste  Allgemeine"  bezeichnet,  nicht  anwendbar.  Das  Blau  und  das 
Gelb  stehen  nicht  als  Besonderungen  unter  der  Gattung  der  „Farbe  über- 
haupt", sondern  „die"  Farbe  ist  nirgends  anders  als  in  ihnen,  sowie  in 
der  Gesamtheit  der  sonstigen  möglichen  Farbennuancen,  enthalten  und 
nur  als  eben  diese  reihenmäßig  geordnete  Gesamtheit  selbst  denkbar. 
Damit  aber  sind  wir,  von  Seiten  der  allgemeinen  Logik  selbst,  auf  eine 
Unterscheidung  hingewiesen,  die  auch  durch  die  Bildung  der  sprachlichen 
Begriffe  überall  hindurchgeht.  Bevor  die  Sprache  zur  generalisierenden 
und  subsumierenden  Form  des  Begriffs  übergehen  kann,  bedarf  sie  einer 
anderen  rein  qualifizierenden  Art  der  Begriffsbildung.  In  ihr  erfolgt 
die  Benennung  nicht  von  der  Gattung  aus,  der  irgendein  Ding  angehört, 
sondern  sie  knüpft  an  irgendeine  einzelne  Beschaffenheit  an,  die  an 
einem  anschaulichen  Gesamtinhalt  erfaßt  wird.  Die  Arbeit  des  Geistes 
besteht  nicht  darin,  daß  der  Inhalt  unter  einen  anderen  gestellt  wird, 
sondern  daß  er  als  ein  konkretes,  aber  undifferenziertes  Ganze  insofern 
eine  weitere  Besonderung  erfährt,  als  an  ihm  ein  bestimmtes  charakte- 
ristisches Moment  herausgehoben  und  in  den  Blickpunkt  der  Betrachtung 
gerückt  wird.  Auf  dieser  Konzentration  des  geistigen  Blicks  beruht  die 
Möglichkeit  der  „Benennung":  die  neue  gedankliche  Prägung,  die  der  In- 
halt erfährt,  ist  die  notwendige  Bedingung  für  seine  sprachliche  Be- 
zeichnung. 


2ÖO 


Die  Sprachphilosophie  hat  für  die  Gesamtheit  dieser  Fragen  einen 
charakteristischen  Begriff  geschaffen,  der  freilich  in  seinem  Gebrauch 
so  vieldeutig  und  zwiespältig  ist,  daß  er,  statt  eine  bestimmte  Lösung 
darzubieten,  vielmehr  zu  ihren  schwierigsten  und  meistumstrittenen  Pro- 
blemen zu  gehören  scheint.  Man  pflegt  seit  Humboldt,  um  das  spezifische 
Gesetz  zu  bezeichnen,  durch  das  sich  jede  Sprache  in  ihrer  Begriffsbildung 
von  anderen  unterscheidet,  von  der  „inneren  Form"  der  einzelnen  Sprachen 
zu  reden.  Humboldt  versteht  unter  diesem  Begriff  das  Beständige  und 
Gleichförmige  in  der  Arbeit  des  Geistes,  den  artikulierten  Laut  zum  Ge- 
dankenausdruck zu  erheben,  —  sofern  es  so  vollständig  als  möglich  in 
seinem  Zusammenhange  aufgefaßt  und  systematisch  dargestellt  wird. 
Aber  schon  bei  ihm  selbst  ist  diese  Bestimmung  nicht  eindeutig:  denn  bald 
soll  sich  die  Form  in  den  Gesetzen  der  sprachlichen  Verknüpfung,  bald 
soll  sie  sich  in  der  Bildung  der  Grundwörter  selbst  darstellen  und  aus- 
drücken. Sie  wird  demnach,  wie  man  gelegentlich  mit  Recht  gegen  Hum- 
boldt eingewandt  hat,  bald  im  morphologischen,  bald  im  semasiologischen 
Sinne  genommen;  sie  betrifft  auf  der  einen  Seite  das  Verhältnis,  in  dem 
bestimmte  grammatische  Grundkategorien,  wie  z.  B.  die  Kategorien  des 
Nomens  und  des  Verbums,  in  der  Bildung  der  Sprache  zueinander  stehen, 
auf  der  anderen  Seite  geht  sie  auf  den  Ursprung  der  Wortbedeutungen  selbst 
zurück1.  Überblickt  man  freilich  das  Ganze  von  Humboldts  Begriffs- 
bestimmungen, so  tritt  unverkennbar  hervor,  daß  der  letztere  Gesichts- 
punkt der  überwiegende  und  entscheidende  für  ihn  ist.  Daß  jede  beson- 
dere Sprache  eine  besondere  innere  Form  hat,  bedeutet  ihm  vor  allem, 
daß  sie  in  der  Wahl  ihrer  Bezeichnungen  niemals  einfach  die  an  sich  wahr- 
genommenen Gegenstände  ausdrückt,  sondern  daß  diese  Wahl  vornehm- 
lich durch  die  geistige  Gesamthaltung,  durch  die  Richtung  der  subjektiven 
Auffassung  der  Gegenstände  bestimmt  wird.  Denn  das  Wort  ist  nicht  ein 
Abdruck  des  Gegenstandes  an  sich,  sondern  des  von  diesem  in  der  Seele 
erzeugten  Bildes2.  In  diesem  Sinne  können  die  Wörter  verschiedener 
Sprachen  niemals  Synonyma  sein,  kann  ihr  Sinn,  genau  und  streng  ge- 
nommen, niemals  durch  eine  einfache  Definition,  die  schlechthin  die  ob- 
jektiven Kennzeichen  des  durch  sie  bezeichneten  Gegenstandes  aufzählt, 
mit  umschlossen  werden.  Es  ist  immer  eine  eigene  Weise  der  Sinnge- 
bung selbst,  die  sich  in  den  Synthesen  und  Zuordnungen  ausdrückt,  auf 

1  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  ^7 ff-),  vgl-  hrz.  die  Bemerkungen 
von  B.  Delbrück,  Vergleichende  Syntax  der  indogermanischen  Sprachen,  Straßb. 
i8a3ff.,1, 1x2. 

2  Vgl.  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  i,  5gf.,  891".,  igof.  u.  ö.)  ob.  S,  ioiff, 


2ÖI 


denen  die  Bildung  der  sprachlichen  Begriffe  beruht.  Wenn  der  Mond  im 
Griechischen  a!s  der  „Messende"  (jurjv),  im  Lateinischen  als  der  „Leuch- 
tende" (luna,  luc-na)  bezeichnet  wird,  so  ist  hier  ein  und  dieselbe  sinn- 
liche Anschauung  unter  ganz  verschiedene  Bedeutungsbegriffe  gerückt 
und  durch  sie  bestimmt.  Die  Art,  in  der  diese  Bestimmung  in  den  ein- 
zelnen Sprachen  erfolgt,  scheint  freilich,  eben  weil  es  sich  hier  um  einen 
höchst  komplexen,  von  Fall  zu  Fall  wechselnden  geistigen  Prozeß  han- 
delt, keiner  allgemeinen  Darstellung  mehr  fähig  zu  sein.  Hier  scheint 
nur  übrig  zu  bleiben,  sich  mitten  in  die  unmittelbare  Anschauung 
der  Einzelsprachen  selbst  zu  versetzen,  und  das  Verfahren,  dem  sie  folgen, 
statt  es  in  einer  abstrakten  Formel  zu  beschreiben,  unmittelbar  an  und  in 
den  besonderen  Phänomenen  nachzufühlen1.  Aber  wenn  die  philosophi- 
sche Analyse  niemals  den  Anspruch  erheben  darf,  die  besondere  Subjek- 
tivität, die  sich  in  den  Sprachen  ausdrückt,  zu  erfassen,  so  bleibt  doch 
gleichsam  die  allgemeine  Subjektivität  der  Sprache  für  sie  ein  Problem. 
Denn  wie  die  Sprachen  sich  untereinander  durch  je  einen  besonderen 
„Standpunkt  der  Weltansicht"  unterscheiden,  so  gibt  es  andererseits  eine 
Weltansicht  der  Sprache  selbst,  kraft  deren  sie  sich  aus  dem  Ganzen  der 
geistigen  Formen  heraushebt  und  in  der  sie  sich  mit  der  Weltansicht  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis,  der  Kunst,  des  Mythos  teils  berührt,  teils 
sich  gegen  sie  abgrenzt. 

Von  der  im  engeren  Sinne  logischen  Form  der  Begriffsbildung  unter- 
scheidet sich  die  sprachliche  Begriffsbildung  vor  allem  dadurch,  daß  in 
ihr  niemals  ausschließlich  die  ruhende  Betrachtung  und  Vergleichung 
der  Inhalte  entscheidend  ist,  sondern  daß  die  bloße  Form  der  „Reflexion" 
hier  überall  mit  bestimmten  dynamischen  Motiven  durchsetzt  ist,  — 
daß  sie  ihre  wesentlichen  Antriebe  niemals  allein  aus  der  Welt  des  Seins, 
sondern  immer  zugleich  aus  der  des  Tuns  empfängt.  Die  Sprachbegriffe 
stehen  noch  überall  auf  der  Grenze  zwischen  Aktion  und  Reflexion,  zwi- 
schen Tun  und  Betrachten.  Hier  gibt  es  kein  bloßes  Klassifizieren  und 
Ordnen  der  Anschauungen  nach  bestimmten  gegenständlichen  Kenn- 
zeichen, sondern  hier  äußert  sich,  eben  in  dieser  gegenständlichen  Er- 
fassung selbst,  immer  zugleich  ein  tätiges  Interesse  an  der  Welt  und  ihrer 
Gestaltung.  Herder  hat  gesagt,  daß  dem  Menschen  die  Sprache  ur- 
sprünglich dasselbe  gewesen  sei,  was  ihm  die  Natur  war:  ein  Pantheon, 

1  Ein  höchst  interessanter  und  lehrreicher  Versuch,  diese  Aufgabe  zur  Durchführung 
zu  bringen,  ist  auf  Grund  eines  außerordentlich  reichen  empirischen  Materials  von 
Byrne  unternommen  worden,  s.  General  Principles  of  the  structure  of  language,  2  vol., 
London  i885. 


2Ö2 


ein  Reich  belebter  handelnder  Wesen.  Die  Spiegelung  nicht  einer  objek- 
tiven Umwelt,  sondern  die  des  eigenen  Lebens  und  des  eigenen  Tuns  ist 
es  in  der  Tat,  wodurch  das  Weltbild  der  Sprache,  wie  das  primitive 
mythische  Bild  der  Natur,  in  seinen  eigentlichen  Grund-  und  Wesens- 
zügen bestimmt  wird.  Indem  der  Wille  und  das  Tun  des  Menschen  sich 
auf  einen  Punkt  richten,  indem  das  Bewußtsein  sich  auf  ihn  spannt  und 
konzentriert,  wird  er  damit  für  den  Prozeß  der  Bezeichnung  gleichsam 
erst  reif.  Im  Strom  des  Bewußtseins,  der  sonst  gleichförmig  abzulaufen 
schien,  entstehen  nunmehr  Wellenberge  und  Wellentäler:  es  bilden  sich 
einzelne  dynamisch-betonte  Inhalte,  um  die  sich  die  übrigen  gruppieren. 
Und  damit  ist  erst  der  Boden  für  jene  Zuordnungen  bereitet,  auf  denen 
die  Gewinnung  irgendwelcher  sprachlich-logischer  „Merkmale"  und  auf 
denen  die  Zusammenfassung  zu  bestimmten  Merkmalsgruppen  beruht, 
ist  erst  die  Grundlage  gegeben,  auf  welcher  die  qualifizierende  sprach- 
liche Begriffsbildung  sich  aufbauen  kann. 

Schon  in  dem  Übergang  von  den  bloßen  sinnlichen  Erregungslauten 
zum  Ruf  bekundet  sich  diese  allgemeine  Richtung  der  Sprachbildung. 
Der  Ruf  kann,  z.  B.  als  Angst-  oder  Schmerzruf,  noch  ganz  dem  Kreise 
der  bloßen  Interjektion  angehören;  aber  er  bedeutet  bereits  mehr  als  dies, 
sobald  sich  in  ihm  nicht  nur  ein  eben  empfangener  sinnlicher  Eindruck  im 
unmittelbaren  Reflex  nach  außen  wendet,  sondern  sobald  er  der  Aus- 
druck einer  bestimmten  und  bewußten  Zielrichtung  des  Willens  ist.  Denn 
das  Bewußtsein  steht  alsdann  nicht  mehr  im  Zeichen  der  bloßen  Repro- 
duktion, sondern  im  Zeichen  der  Antizipation:  es  verharrt  nicht  im  Ge- 
gebenen und  Gegenwärtigen,  sondern  greift  auf  die  Vorstellung  eines 
Künftigen  über.  Demgemäß  begleitet  jetzt  der  Laut  nicht  nur  einen 
vorhandenen  inneren  Gefühls-  und  Erregungszustand,  sondern  er  wirkt 
selbst  als  ein  Motiv,  das  in  das  Geschehen  eingreift.  Die  Veränderungen 
dieses  Geschehens  werden  nicht  lediglich  bezeichnet,  sondern  im  eigent- 
lichen Sinne  „hervorgerufen".  Indem  der  Laut  in  dieser  Weise  als  Or- 
gan des  Willens  wirkt,  ist  er  aus  dem  Stadium  der  bloßen  „Nach- 
ahmung" ein  für  allemal  herausgetreten.  In  der  Entwicklung  des  Kindes 
läßt  sich  schon  in  der  Epoche,  die  der  eigentlichen  Sprachbildung  voran- 
geht, beobachten,  wie  der  Charakter  des  kindlichen  Schreies  allmählich 
mehr  und  mehr  in  den  des  Rufes  übergeht.  Indem  der  Schrei  sich  in  sich 
selbst  differenziert,  indem  besondere,  wenngleich  noch  unartikulierte  laut- 
liche Äußerungen  für  verschiedene  Äff  ekteund  für  verschiedene  Richtungen 
des  Verlangens  eintreten,  wird  dadurch  der  Laut  auf  bestimmte  Inhalte, 
im  Unterschied  von  anderen,  gleichsam  hingelenkt  und  damit  die  erste 

2  53 


Form  seiner  „Objektivierung"  vorbereitet.  Auf  wesentlich  dem  gleichen 
Wege  wäre  auch  die  Menschheit  als  Ganzes  in  ihrer  Entwicklung  zur 
Sprache  fortgeschritten,  wenn  die  von  Lazarus  Geiger  aufgestellte  und 
von  Ludwig  Noire  weitergeführte  Theorie  zuträfe,  daß  alle  ursprüng- 
lichen Sprachlaute  nicht  von  der  objektiven  Anschauung  des  Seins,  son- 
dern von  der  subjektiven  des  Tuns  ihren  Ausgang  genommen  haben. 
Der  Sprachlaut  wurde,  gemäß  dieser  Theorie,  zur  Darstellung  der  Ding- 
welt erst  in  dem  Maße  fähig  und  tauglich,  als  diese  selbst  sich  allmählich 
aus  der  Sphäre  des  Wirkens  und  Schaffens  herausgestaltete.  Für  Noire 
ist  es  insbesondere  die  soziale  Form  des  Wirkens,  die  die  soziale  Funk- 
tion der  Sprache  als  Verständigungsmittel  erst  ermöglicht  hat.  Wäre  der 
Sprachlaut  nichts  anderes  als  der  Ausdruck  einer  individuellen,  im  ein- 
zelnen Bewußtsein  erzeugten  Vorstellung,  so  bliebe  er  innerhalb  der  Gren- 
zen dieses  Bewußtseins  auch  gleichsam  gefangen  und  besäße  keine  über 
sie  hinausreichende  Kraft.  Von  der  Vorstellungs-  und  Lautwelt  des  einen 
Subjekts  zu  der  des  anderen  ließe  sich  dann  niemals  eine  Brücke  schla- 
gen. Aber  indem  der  Laut  nicht  im  isolierten,  sondern  im  gemeinschaft- 
lichen Tun  der  Menschen  entsteht,  besitzt  er  damit  von  Anfang  an  einen 
wahrhaft  gemeinschaftlichen,  einen  „allgemeinen"  Sinn.  Die  Sprache  als 
sensorium  commune  konnte  nur  aus  der  Sympathie  der  Tätigkeit  her- 
vorgehen. „Es  war  die  auf  einen  gemeinsamen  Zweck  gerichtete  gemein- 
same Tätigkeit,  es  war  die  urälteste  Arbeit  unserer  Stammeltern,  aus 
welcher  Sprache  und  Vernunftleben  hervorquoll  .  .  .  Der  Sprachlaut  ist 
in  seiner  Entstehung  der  die  gemeinsame  Tätigkeit  begleitende  Ausdruck 
des  erhöhten  Gemeingefühls  .  .  .  Für  alles  übrige,  für  Sonne,  Mond, 
Baum  und  Tier,  Mensch  und  Kind,  Schmerz  und  Lust,  Speise  und  Trank, 
fehlte  absolut  jede  Möglichkeit  gemeinsamer  Auffassung,  also  auch  ge- 
meinsamer Bezeichnung;  nur  jenes  Eine,  die  gemeinsame,  nicht  aber  die 
individuelle  Tätigkeit  war  der  feste  unwandelbare  Boden,  aus  welchem 
das  Gemeinverständnis  hervorgehen  konnte  .  .  .  Alle  Dinge  treten  in  den 
menschlichen  Gesichtskreis,  d.  h.  sie  werden  erst  zu  Dingen,  in  dem  Maße, 
als  sie  menschliche  Tätigkeit  erleiden  und  darnach  erhalten  sie  ihre  Be- 
zeichnungen, ihre  Namen1." 

Der  empirische  Beweis,  auf  den  Noire  diese  seine  spekulative  These 
zu  stützen  versuchte,  darf  freilich  als  endgültig  gescheitert  gelten:  was 

1  Vgl.  Lazarus  Geiger,  Ursprung  und  Entwicklung  der  menschlichen  Sprache  und 
Vernunft,  2  Bände,  Frkf.  a.  M.  i868ff.;  Ludwig  Noir6,  Der  Ursprung  der  Sprache, 
Mainz  1877  (bes.  S.  323ff.);  Logos  —  Ursprung  und  Wesen  der  Begriffe,  Lpz.  i885, 
bes.  S.  20,6ff. 


254 


er  über  die  anfängliche  Form  der  Sprachwurzeln  und  der  menschlichen 
Urworte  vorbringt,  bleibt  ebenso  hypothetisch  und  zweifelhaft,  wie  es 
die  gesamte  Annahme  einer  ursprünglichen  „Wurzelperiode"  der  Sprache 
ist.  Aber  auch  wenn  man  nicht  die  Hoffnung  hegt,  von  diesem  Punkte 
aus  in  das  letzte  metaphysische  Geheimnis  des  Sprachursprungs  hinein- 
blicken zu  können,  so  zeigt  doch  schon  die  Betrachtung  der  empiri- 
schen Form  der  Sprachen,  wie  tief  sie  im  Gebiet  des  Wirkens  und  Tuns, 
als  ihrem  eigentlichen  Nähr-  und  Mutterboden,  verwurzelt  sind.  Insbeson- 
dere in  den  Sprachen  von  Naturvölkern  tritt  dieser  Zusammenhang  überall 
deutlich  hervor1  —  und  die  Kultursprachen  zeigen  ihn  um  so  klarer,  je 
mehr  man,  über  den  Kreis  ihrer  allgemeinen  Begriffsworte  hinaus,  auf 
die  Entwicklung  hinblickt,  die  sie  als  besondere  „Berufssprachen"  in  ver- 
schiedenen Gebieten  menschlicher  Tätigkeit  erfahren.  Usener  hat  dar- 
auf hingewiesen,  daß  sich  in  der  eigentümlichen  Struktur  dieser  Be- 
rufssprachen ein  gemeinsames  Moment  ausprägt,  das  ebensowohl  für  die 
Richtung  der  sprachlichen,  wie  für  die  Richtung  der  mythisch-religiösen 
Begriffsbildung  kennzeichnend  sei.  Der  Kreis  der  mythischen  „Sonder- 
götter", wie  der  Kreis  der  individuellen  und  partikularen  „Sondernamen" 
werde  erst  allmählich  überschritten,  indem  der  Mensch  von  besonderen 
Täligkeiten  zu  allgemeineren  fortschreite  und  zugleich  mit  dieser  wach- 
senden Allgemeinheit  seines  Tuns  auch  ein  immer  allgemeineres  Bewußt- 
sein desselben  gewinne:  —  aus  der  Erweiterung  des  Tuns  stamme  erst 
die  Erhebung  zu  wahrhaft  universellen  sprachlichen  und  religiösen  Be- 
griffen2. 

Der  Inhalt  dieser  Begriffe  und  das  Prinzip,  das  ihren  Aufbau  be- 
stimmt, wird  daher  erst  ganz  durchsichtig,  wenn  man  neben  und  hinter 
ihrem  abstrakt  logischen  Sinn  ihren  teleologischen  Sinn  erfaßt.  Die 
Wörter  der  Sprache  sind  nicht  sowohl  die  Wiedergabe  feststehender  Be- 
stimmtheiten der  Natur  und  der  Vorstellungswelt,  als  sie  vielmehr  Rich- 
tungen und  Richtlinien  des  Bestimmens  selbst  bezeichnen.  Hier  steht  das 
Bewußtsein  der  Gesamtheit  der  sinnlichen  Eindrücke  nicht  passiv  gegen- 
über, sondern  es  durchdringt  sie  und  erfüllt  sie  mit  seinem  eigenen 
inneren  Leben.  Nur  was  die  innere  Aktivität  in  irgendeiner  Weise  be- 
rührt, was  für  sie  „bedeutsam"  erscheint,  empfängt  auch  sprachlich  den 
Stempel  der  Bedeutung.  Wenn  man  daher  von  den  Begriffen  überhaupt 
gesagt  hat,  daß  das  Prinzip  ihrer  Bildung  statt  als  ein  Prinzip  der  „Ab- 

1  Vgl.  hrz.  bes.  einen  Aufsatz  Meinhofs,  Über  die  Einwirkung  der  Beschäftigung  auf 
die  Sprache  bei  den  Bantustämmen  Afrikas  (Globus,  Bd.  75  [1899],  S.  36iff.). 

2  Usener,  Götternamen,  Bonn  1896,  bes.  S.  3 17 ff. 

255 


straktion"  vielmehr  als  ein  Prinzip  der  Selektion  zu  bezeichnen  sei,  — 
so  gilt  dies  vor  allem  für  die  Form  der  sprachlichen  Begriffsbildung.  Hier 
werden  nicht  irgendwelche  vorhandene,  in  der  Empfindung  oder  Vorstel- 
lung gegebene  Unterschiede  des  Bewußtseins  einfach  fixiert  und  mit  einem 
bestimmten  Lautzeichen,  gleichsam  als  Marke,  versehen,  sondern  es  werden 
die  Grenzlinien  innerhalb  des  Ganzen  des  Bewußtseins  erst  selbst  gezogen. 
Kraft  der  Determination,  die  das  Tun  in  sich  selbst  erfährt,entstehen  dieDe- 
terminanlen  und  die  Dominanten  des  sprachlichen  Ausdrucks.  Das  Licht 
dringt  nicht  einfach  von  den  Gegenständen  her  in  die  Sphäre  des  Geistes  ein, 
sondern  es  breitet  sich,  vom  Zentrum  des  Tuns  selbst,  fortschreitend  aus1, 
und  macht  dadurch  erst  die  Welt  der  unmittelbar-sinnlichen  Empfindung 
zur  von  innen  her  erhellten,  zur  anschaulich  und  sprachlich  gestalteten 
Welt.  In  diesem  Prozeß  erweist  sich  die  Sprachbildung  dem  mythischen  Den- 
ken und  Vorstellen  verwandt  und  bewahrt  doch  andererseits  ihnen  gegen- 
über eine  selbständige  Richtung,  eine  ihr  eigentümliche  geistige  Tendenz. 
Wie  der  Mythos,  so  geht  auch  die  Sprache  von  der  Grunderfahrung  und 
der  Grundform  des  persönlichen  Wirkens  aus;  aber  sie  schlingt  nun  die 
Welt  nicht,  wie  dieser,  wieder  unendlich  vielfältig  in  diesen  einen 
Mittelpunkt  zurück,  sondern  gibt  ihr  eine  neue  Form,  in  welcher  sie  der 
bloßen  Subjektivität  des  Empfindens  und  Fühlens  gegenübertritt.  So 
gehen  in  ihr  der  Prozeß  der  Belebung  und  der  Prozeß  der  Bestimmung 
stetig  ineinander  über  und  wachsen  zu  einer  geistigen  Einheit  zusammen2. 

1  Als  ein  Beispiel  für  diesen  Prozeß  nehme  man  etwa,  was  Brugsch,  Religion  und  My- 
thologie der  alten  Ägypter,  S.  53,  aus  dem  Allägypt.  anführt:  „Im  Altägypt.  bezeichnet 
das  Wort  kod  der  Reihe  nach  die  verschiedenartigsten  Begriffe:  Töpfe  machen,  ein 
Töpfer  sein,  bilden,  schaffen,  bauen,  arbeiten,  zeichnen,  schiffen,  reisen,  schlafen,  außer- 
dem substantivisch:  Ebenbild,  Bild,  Gleichnis,  Ähnlichkeit,  Kreis,  Ring.  Allen  diesen 
und  ähnlichen  Ableitungen  liegt  die  Urvorstellung:  „umdrehen,  im  Kreise  herumdrehen" 
zugrunde.  Das  Herumdrehen  der  Töpferscheibe  rief  die  Vorstellung  der  bildnerischen 
Tätigkeit  des  Töpfers  hervor,  woraus  allgemein  der  Sinn  von  „bilden,  schaffen,  bauen, 
arbeilen"  entstand." 

2  Am  deutlichsten  läßt  sich  dieser  doppelte  Weg  vielleicht  an  der  Gestaltung  verfolgen, 
die  der  sprachliche  Ausdruck  der  Tätigkeit  selbst,  die  das  Verb  um  in  den  flektierenden 
Sprachen  erhält.  Hier  vereinen  und  durchdringen  sich  zwei  scheinbar  ganz  verschiedene 
Funktionen,  indem  sich  im  Verbum  auf  der  einen  Seite  die  Kraft  der  Objektivierung, 
auf  der  anderen  Seite  die  Kraft  der  Personifizierung  am  klarsten  ausprägt.  Auf  das 
erslere  Moment  weist  schon  Humboldt  hin,  der  im  Verbum  den  unmittelbaren  sprach- 
lichen Ausdruck  für  den  geistigen  „Akt  des  synthetischen  Setzens"  sieht.  „Durch  einen 
und  denselben  synthetischen  Akt  knüpft  es  durch  das  Sein  das  Prädikat  mit  dem  Sub- 
jekt zusammen,  allein  so,  daß  das  Sein,  welches  mit  einem  energischen  Prädikate  in  ein 
Handeln  übergeht,  dem  Subjekte  selbst  beigelegt,  also  das  bloß  als  verknüpfbar  Ge- 
dachte zum  Vorhandenen  oder  Vorgange  in  der  Wirklichkeit  wird.  Man  denkt  nicht  bloß 


a56 


In  dieser  Doppelrichtung  vom  Inneren  zum  Äußeren  hin  und  von  diesem 
wieder  zu  jenem  zurück,  in  diesem  Fluten  und  Rückfluten  des  Geistes 
stellt  sich  für  ihn  erst  die  Gestalt  sowie  die  Begrenzung  der  inneren  und 
äußeren  Wirklichkeit  her. 

Mit  alledem  ist  freilich  zunächst  nur  ein  abstraktes  Schema  der  sprach- 
lichen Begriffsbildung  aufgestellt,  ist  gleichsam  nur  der  Rahmen  für  sie 
bezeichnet,  ohne  daß  bisher  die  Einzelzüge  des  Bildes  selbst  herausge- 
treten sind.  Um  zu  einer  genaueren  Erfassung  dieser  Einzelzüge  vorzu- 
dringen, muß  man  die  Art  verfolgen,  in  der  die  Sprache  allmählich  von 
einer  rein  „qualifizierenden"  Auffassung  zur  „generalisierenden",  in  der 
sie  vom  Sinnlich-Konkreten  zum  Generisch-Allgemeinen  fortschreitet. 
Vergleicht  man  die  sprachliche  Gestaltung  der  Begriffe  in  unseren  ent- 
wickelten Kultursprachen  mit  derjenigen  in  den  Sprachen  der  Natur- 
völker, so  tritt  der  Gegensatz  der  Grundanschauung  alsbald  klar  hervor. 
Die  letzteren  sind  überall  dadurch  ausgezeichnet,  daß  sie  jedes  Ding, 
jeden  Vorgang,  jede  Tätigkeit,  die  sie  bezeichnen,  in  höchster  anschau- 
licher Bestimmtheit  hinstellen,  daß  sie  alle  differenzierenden  Eigenschaf- 
ten des  Dinges,  alle  konkreten  Besonderungen  des  Vorganges,  alle  Modifi- 
kationen und  Nuancierungen  des  Tuns  aufs  deutlichste  zum  Ausdruck  zu 
bringen  streben.  In  dieser  Hinsicht  besitzen  sie  eine  Ausdrucksfülle,  die 
von  unseren  Kultursprachen  niemals  auch  nur  annähernd  erreicht  wird. 
Insbesondere  sind  es  die  räumlichen  Bestimmungen  und  Verhältnisse, 
die  hier,  wie  sich  bereits  gezeigt  hat,  ihre  sorgsamste  Ausprägung  fhv 
den1.  Aber  neben  die  räumliche  Besonderung  der  Verbalausdrücke  tritt 
weiterhin  ihre  Besonderung  nach  den  verschiedenartigsten  anderen  Ge- 
sichtspunkten. Jeder  modifizierende  Umstand  einer  Handlung,  mag  er 
ihr  Subjekt  oder  ihr  Objekt,  mag  er  ihr  Ziel  oder  das  Werkzeug,  mit 
dem  sie  ausgeführt  wird,  betreffen,  wirkt  unmittelbar  auf  die  Wahl  des 
Ausdrucks  ein.  In  einigen  nordamerikanischen  Sprachen  wird  die  Tätig- 
keit des  Waschens  durch  dreizehn  verschiedene  Verba  bezeichnet,  je  nach- 
dem es  sich  um  das  Waschen  der  Hände  oder  des  Gesichts,  um  das  Wa- 
den einschlagenden  Blitz,  sondern  der  Blitz  ist  es  selbst,  der  herniederfährt  .  .  ,.  Der 
Gedanke,  wenn  man  sich  so  sinnlich  ausdrücken  könnte,  verläßt  durch  das  Verbum 
seine  innere  Wohnstätte  und  tritt  in  die  Wirklichkeit  über."  (Einleit.  zum  Kawi-Werk, 
W.  VII,  i,  21^.)  Auf  der  anderen  Seite  betont  z.  B.  Hermann  Paul,  daß  schon  die 
sprachliche  Form  des  Verbums  als  solche  ein  Moment  der  Naturbelebung  in  sich  schließe, 
das  der  mythischen  „Beseelung"  des  Universums  verwandt  sei:  in  der  Verwendung  des 
Verbums  überhaupt  liege  schon  „ein  gewisser  Grad  von  Personifikation  des  Subjekts" 
(Prinzipien  der  Sprachgeschichte  3,  S.  89). 
l  Vgl.  ob.S.  i/i7ff. 


*7 


sehen  von  Schüsseln,  von  Kleidern,  von  Fleisch  u.  s.  f.  handelt1.  Ein 
Äquivalent  für  unseren  allgemeinen  Ausdruck  des  „Essens"  findet  sich 
—  nach  den  Angaben  Trumbulls  —  in  keiner  amerikanischen  Einge- 
borenensprache; dagegen  gibt  es  eine  Fülle  verschiedener  Verba,  deren 
eines  z.  B.  bei  animalischer,  deren  anderes  bei  vegetabilischer  Nahrung 
gebraucht  wird,  deren  eines  das  Mahl  eines  Einzelnen,  deren  anderes  ein 
gemeinsames  Mahl  ausdrückt  u.  s.  w.  Bei  dem  Verbum  des  Schlagens 
kommt  es  darauf  an,  ob  es  sich  um  einen  Schlag  mit  der  Faust  oder  mit 
der  flachen  Hand,  mit  einer  Rute  oder  mit  einer  Peitsche  handelt;  bei 
dem  Verbum  des  Brechens  werden  je  nach  der  Art  des  Zerbrechens  und 
nach  dem  Instrument,  mit  dem  es  erfolgt,  verschiedene  Bezeichnungen 
angewandt2.  Und  die  gleiche,  fast  schrankenlose  Differenzierung  gilt, 
wie  für  die  Tätigkeitsbegriffe,  auch  für  die  Dingbegriffe.  Auch  hier  ist 
das  Bestreben  der  Sprache,  ehe  sie  zur  Schaffung  bestimmter  Klassen- 
bezeichnungen und  „Gattungsbegriffe"  gelangt,  vor  allem  auf  die  Be- 
zeichnung der  „Varietäten"  gerichtet.  Die  Ureinwohner  von  Tasmanien 
hatlen  kein  Wort,  um  den  Begriff  des  Baumes  auszudrücken,  dagegen 
je  einen  besonderen  Namen  für  jede  einzelne  Spielart  der  Akazie,  des 
blauen  Gummibaumes  u.s. f.3.  Von  den  Bakairi  berichtet  K.  v.  d.  Steinen, 
daß  jede  Papageien-  und  jede  Palmenart  von  ihnen  aufs  genaueste  unter- 
schieden und  benannt  werde,  während  die  Artbegriffe  des  Papageien  und 
der  Palme  als  solche  kein  sprachliches  Äquivalent  besitzen4.  Die  gleiche 
Erscheinung  findet  sich  auch  in  übrigens  hoch  entwickelten  Sprachen 
wieder.  Das  Arabische  z.  B.  hat  für  einzelne  Tier-  oder  Pflanzenvarietäten 
eine  so  erstaunliche  Fülle  von  Bezeichnungen  entwickelt,  daß  man  es 
als  Beleg  dafür  anführen  konnte,  wie  durch  die  bloße  Philologie  und 
Wörterkunde  das  Studium  der  Naturgeschichte  und  der  Physiologie  un- 
mittelbar gefördert  werden  könne.  Hammer  hat  in  einer  eigenen  Ab- 
handlung nicht  weniger  als  5744  Namen  für  das  Kamel  im  Arabischen 
zusammengestellt,  die  je  nach  dem  Geschlecht,  nach  dem  Alter  oder  nach 
irgendwelchen  individuellen  Kennzeichen  des  Tieres  variieren.  Es  gibt  be- 
sondere Bezeichnungen  nicht  nur  für  das  männliche  und  weibliche  Kamel, 
für  das  junge  Kamelfohlen  und  das  erwachsene  Kamel,  sondern  auch 

1  Sayce,  Introduction  to  the  science  of  language  I,  120. 

2  Trumbull,  Transactions  of  the  Americ.  Philol.  Assoc.  1869/70;  vgl.  Powell,  In- 
troduction to  tlve  study  of  Indian  languages,  Washington  1880,  S.  61.  —  Für  Einzel- 
heilen s.  die  Beispiele  aus  den  Algonkin-Sprachen  u.  aus  den  Sprachen  der  Sioux-In- 
dianer  in  Boas'  Handbook  I,  807 ff.,  902 ff.  u.  ö. 

»  Vgl.  Sayce,  a.a.O.,  II,  S.  5. 

4  K.  v.  d.  Steinen,  Unter  den  Naturvölkern  Zentral-Brasiliens,  Berl.  1897,  S.  84. 


258 


innerhalb  dieser  Klassen  bestehen  die  feinsten  Abstufungen.  Das  Fohlen, 
das  noch  keine  Seitenzähne  hat,  das  Fohlen,  welches  zu  gehen  anfängt, 
weiterhin  das  Kamel  vom  ersten  bis  zum  zehnten  Jahre  tragen  je  einen 
eigenen  Namen.  Andere  Unterschiede  werden  von  der  Begattung,  der 
Schwangerschaft,  der  Geburt,  wieder  andere  von  besonderen  körperlichen 
Eigentümlichkeiten  hergenommen:  ein  eigener  Name  dient  etwa  dazu,  ein 
Kamel  mit  großen  oder  kleinen  Ohren,  mit  geschnittenem  Ohr  oder 
mit  herunterhängenden  Ohrlappen,  mit  großer  Kinnlade  oder  mit  starkem 
herabhängenden  Kinn  u.  s.  f.  zu  bezeichnen x.  — 

In  alledem  handelt  es  sich  offenbar  nicht  um  das  zufällige  üppige  Wu- 
chern eines  einzelnen  Sprachtriebes,  sondern  es  prägt  sich  darin  eine  ur- 
sprüngliche Form  und  eine  Grundtendenz  der  sprachlichen  Begriffsbil- 
dung aus,  die,  auch  nachdem  die  Sprache  im  allgemeinen  über  sie  hin- 
weggeschritten ist,  in  einzelnen  charakteristischen  Nachwirkungen  häufig 
noch  deutlich  erkennbar  ist.  Als  solche  Nachwirkungen  hat  man  insbe- 
sondere diejenigen  Phänomene  der  Sprachgeschichte  gedeutet,  die  man 
seit  Herrn.  Osthoff  als  Suppletiverscheinungen  zu  bezeichnen  pflegt.  Es 
ist,  insbesondere  im  Flexions-  und  Wortbildungssystem  der  indogerma- 
nischen Sprachen,  eine  bekannte  Erscheinung,  daß  bestimmte  Wörter 
und  Wortformen,  die  sich  miteinander  zu  einem  Flexionssystem  verbin- 
den, wie  z.  B.  die  einzelnen  Kasus  eines  Substantivs,  die  verschiedenen 
Zeitformen  eines  Verbs  und  die  Steigerungsformen  eines  Adjektivs, 
nicht  von  ein  und  demselben  sprachlichen  Stamm,  sondern  von  zwei 
oder  mehreren  solcher  Stämme  gebildet  werden.  Neben  der  „regelrech- 
ten" Bildung  der  Verbalflexion  und  der  adjektivischen  Steigerung 
stehen  Fälle,  wie  wir  sie  in  fero,  tuli,  latum,  cpegco,  oioco,  rjveyxov 
vor  uns  haben,  die  auf  den  ersten  Blick  als  bloße  „Ausnahmen", 
als  willkürliche  Durchbrechungen  des  Prinzips  erscheinen,  das  formal 
und  bedeutungsmäßig  Verknüpfte  auch  durch  wurzelverwandte  WTorte  zu 
bezeichnen.  Das  Gesetz,  das  diese  Ausnahmen  beherrscht,  hat  Osthoff 
dadurch  aufzuzeigen  vermocht,  daß  er  sie  im  allgemeinen  einer  älteren 
Schicht  der  Sprachbildung  zuweist,  in  der  die  „individualisierende" 
Auffassung  vor  der  „gruppierenden"  noch  das  Übergewicht  besessen 
habe.  Dieses  Übergewicht  mußte  sich  nach  ihm  um  so  länger  be- 
haupten, je  näher  die  einzelnen  in  der  Sprache  festgehaltenen  Begriffs- 
und Bedeutungskreise  dem  natürlichen  Vorstellungskreise  des  Menschen 
und  seiner  unmittelbaren  Tätigkeits-  und  Interessensphäre  lagen.  „Wie 

1  S.  Hammer-Purgstall,  Das  Kamel.  Denkschriften  der  Kais.  Akad.  d.  Wiss.  zu 
Wien.  Philos.-histor.  KL,  Bd.  VI  u.  VII  (i855£.). 


i7* 


2ÖQ 


der  Mensch  mit  seinem  leiblichen  Auge  allemal  das  räumlich  Zunächst- 
liegende in  schärferer  Besonderung  erschaut,  so  werden  auch  mit  dem  see- 
lischen Auge,  dessen  Spiegel  die  Sprache  ist,  die  Dinge  der  Vorstellungs- 
welt desto  schärfer  und  individueller  erfaßt,  je  näher  sie  dem  Empfinden 
und  Denken  des  Sprechenden  treten,  je  intensiver  und  lebhafter  sie  in- 
folgedessen das  Gemüt  zu  ergreifen,  das  psychische  Interesse  des  Ein- 
zelnen, d.  i.  des  Menschen-  und  des  Yölkerindividuums  zu  erregen  pflegen." 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  erscheint  es  in  der  Tat  bedeutsam,  daß  eben 
jene  Begriffskreise,  für  die  die  Sprachen  der  Naturvölker  die  größte  Man- 
nigfaltigkeit und  Vielseitigkeit  der  Benennung  zeigen,  auch  diejenigen 
sind,  bei  denen,  innerhalb  der  indogermanischen  Sprachen,  die  Suppletiv- 
erscheinungen am  reichhaltigsten  entwickelt  sind  und  bei  denen  sie  sich 
am  längsten  behaupten.  Von  den  Tätigkeitsworten  sind  es  insbesondere 
die  Verba  der  Bewegung:  das  ,, Gehen"  und  „Kommen",  das  „Laufen" 
und  „Rennen",  dann  die  Verba  des  Essens,  des  Schlagens,  des  Sehens,  des 
Sprechens  u.  s.  f.,  an  denen  die  vielfältigste  Besonderung  sich  findet.  Daß 
in  der  indogermanischen  Grundsprache  z.  B.  die  Varietäten  des  „Gehens" 
früher  unterschieden  waren,  als  dessen  allgemein  sprachlicher  Begriff 
gefunden  war,  hat  G.  Gurtius  im  einzelnen  erwiesen  —  und  er  hat  wei- 
terhin dargelegt,  daß  die  Vorstellungen  des  Schauens  und  Spähens,  des 
Blickens,  Achtens  und  Wahrens  im  Indogermanischen  früher  geschieden 
gewesen  sein  müssen,  als  die  Bezeichnungen  der  verschiedenen  Sinnes- 
tätigkeiten als  solcher,  des  Sehens,  Hörens  und  Fühlens,  sich  heraus- 
bildeten. Und  erst  der  spätesten  Entwicklung  gehören  Verba  an,  die  wie 
das  nachhomerische  aio&dveo&m,  sentire,  empfinden  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung überhaupt  bezeichnen1.  Erwägt  man,  daß  den  Erscheinungen 
des  Suppletivwesens  im  Indogermanischen  ganz  analoge  Bildungen  in 
anderen  Sprachkreisen,  z.  B.  in  den  semitischen  Sprachen  entsprechen, 
so  ergibt  sich,  daß  hier  die  Form  der  Wortbildung  in  der  Tat  eine  all- 
gemeine Richtung  der  sprachlichen  Begriffsbildung  widerspiegelt.  Von 
einer  ursprünglichen  „individualisierenden"  Tendenz  der  Sprache  wird 
man  freilich  in  strengem  Sinne  kaum  reden  können:  denn  jede  noch  so 
konkret  gefaßte  Benennung  einer  einzelnen  Anschauung  geht  über  ihre 
rein  individuelle  Erfassung  bereits  hinaus  und  ist  ihr  in  gewissem  Sinne 
entgegengerichtet.  Aber  es  ist  allerdings  eine  Allgemeinheit  verschiedener 
Dimensionen,  die  sich  in  den  Sprachbegriffen  ausdrücken  kann.  Stellt 
man  sich  die  Gesamtheit  der  Anschauungswelt  als  eine  gleichförmige 

1  Curtius,  Grundz.  der  griech.  Etymologie5,  S.  98f.;  zum  Ganzen  s.  Osthoff,  Vom 
Suppletivwesen  der  indogerman.  Sprachen,  Akad.  Rede,  Heidelberg  1899. 


260 


Ebene  vor,  aus  der  durch  den  Akt  der  Benennung  fort  und  fort  bestimmte 
Einzelgestalten  herausgehoben  und  gegen  ihre  Umgebung  abgesondert 
werden,  so  betrifft  dieser  Prozeß  der  Bestimmung  zunächst  immer  nur 
einen  einzelnen,  eng  begrenzten  Teil  dieser  Ebene.  Nichtsdestoweniger 
kann  auf  diesem  Wege,  indem  sich  alle  diese  Einzelkreise  aneinander- 
legen,  allmählich  das  Ganze  der  Ebene  fortschreitend  ergriffen  und  mit 
einem  immer  dichter  werdenden  Netzwerk  von  Benennungen  gleichsam 
übersponnen  werden.  So  fein  jedoch  die  einzelnen  Maschen  dieses  Netzes 
auch  sein  mögen,  so  ist  es  doch  in  sich  selbst  einstweilen  nur  locker 
gefügt.  Denn  noch  hat  jedes  Wort  nur  seinen  eigenen,  relativ  beschränkten 
Aktionsradius,  jenseits  dessen  seine  Kraft  erlischt.  Es  fehlt  an  der  Mög- 
lichkeit, eine  Mehrheit  und  Verschiedenheit  von  Bedeutungskreisen  selbst 
wieder  zu  einem  neuen,  durch  eine  einheitliche  Form  bezeichneten  sprach- 
lichen Ganzen  zusammenzufassen.  Die  Kraft  der  Gestaltung  und  Absonde- 
rung, die  in  jedem  einzelnen  Wort  beschlossen  ist,  setzt  ein,  aber  sie  gelangt 
frühzeitig  an  ihr  Ende,  und  nun  muß  in  einem  neuen  und  selbständigen  An- 
satz ein  neuer  Umkreis  der  Anschauung  erschlossen  werden.  Durch  die  Sum- 
mierung all  dieser  verschiedenen  Einzelimpulse,  deren  jeder  sich  für  sich 
allein  und  unabhängig  auswirkt,  kommt  es  allenfalls  zu  kollektiven,  nicht 
aber  zu  wahrhaft  generischen  Einheiten.  Die  Totalität  des  sprachlichen 
Ausdrucks  bildet  hier,  sofern  sie  erreicht  wird,  selbst  nur  ein  Aggregat, 
nicht  aber  ein  in  sich  gegliedertes  System;  die  Kraft  der  Gliederung  hat 
sich  in  der  einzelnen  Benennung  erschöpft  und  reicht  zur  Bildung  über- 
greifender Einheiten  nicht  aus. 

Ein  weiterer  Schritt  auf  dem  Wege  zur  generischen  Allgemeinheit  ist 
dagegen  getan,  wenn  die  Sprache,  statt  sich  damit  zu  begnügen,  für  be- 
stimmte Anschauungskreise  bestimmte  Benennungen  zu  schaffen,  nun 
dazu  übergeht,  diese  letzteren  selbst  derart  zu  verknüpfen,  daß  die  sach- 
liche Zusammengehörigkeit  von  Inhalten  sich  auch  in  der  Sprachform 
klar  ausprägt.  Dieses  Bestreben,  Laut  und  Bedeutung  dadurch  in  ein 
strengeres  Verhältnis  zueinander  zu  setzen,  daß  bestimmten  begriff- 
lichen Bedeutungsreihen  bestimmte  Lautreihen  als  ihre  Entsprechung 
zugeordnet  werden,  kennzeichnet  den  Fortgang  von  der  rein  qualifizie- 
renden zur  klassifizierenden  sprachlichen  Begriffsbildung.  Sie  ist  in  der 
einfachsten  Form  dort  gegeben,  wo  Gruppen  verschiedener  Worte  dadurch 
als  eine  Einheit  gekennzeichnet  sind,  daß  sie  durch  ein  gemeinsames  Suf- 
fix oder  Präfix  eine  übereinstimmende  sprachliche  Markierung  erhalten. 
Die  besondere  Bedeutung,  die  jedem  Wort  als  solchem  zukommt,  wird 
jetzt  dadurch  ergänzt,  daß  zu  ihm  ein  allgemeines  Determinationselement 


261 


hinzutritt,  welches  seine  Beziehung  zu  anderen  sprachlichen  Gebilden 
kenntlich  macht.  Eine  derartige,  durch  ein  bestimmtes  klassifikatorisches 
Suffix  zusammengehaltene  Gruppe  liegt  z.  B.  in  den  indogermanischen 
Verwandtschaf  Isnamen :  in  den  Namen  für  Vater  und  Mutter,  Bruder, 
Schwester  und  Tochter  vor.  Die  gemeinsame  Endung  -tar  (ter),  die  in 
ihnen  auftritt  (pitär,  mätär,  bhrätar,  sväsar,  duhitär  TictTrjQ,  ixy\ty\q}  ygä- 
ro)g,  $vyaxY\Q  u.s.f.),  verbindet  diese  Namen  zu  einer  in  sich  geschlossenen 
Reihe  und  stempelt  sie  damit  zu  Ausprägungen  ein  und  desselben  „Be- 
griffs" —  der  jedoch  nicht  als  eine  selbständige  und  ablösbare  Einheit 
außerhalb  der  Reihe  selbst  besteht,  sondern  dessen  Bedeutung  eben 
in  dieser  Funktion  der  Zusammenfassung  der  Einzelglieder  der  Pieihe 
aufgeht.  Aber  es  wäre  irrig,  wenn  man  aus  diesem  Grunde  die  Leistung, 
die  die  Sprache  hier  vollzogen  hat,  nicht  als  eine  gedankliche,  als  eine, 
im  strengen  Sinne  logische  Leistung  gelten  lassen  wollte.  Denn  die  lo- 
gische Theorie  des  Begriffs  weist  deutlich  darauf  hin,  daß  der  „Reihen- 
begriff" dem  „Gattungsbegriff"  an  Kraft  und  Bedeutsamkeit  nicht 
nachsteht,  ja  daß  er  ein  wesentliches  Moment  und  einen  integrierenden  Be- 
stand des  Gattungsbegriffs  selbst  ausmacht1.  Hält  man  sich  dies  gegen- 
wärtig, so  tritt  das  Prinzip,  das  in  diesen  Bildungen  der  Sprache  waltet, 
alsbald  in  seiner  ganzen  Bedeutung  und  Fruchtbarkeit  hervor.  Man  wird 
dem  geistigen  Gehalt  dieses  Prinzips  nicht  völlig  gerecht,  wenn  man  diese 
Bildungen  damit  erklärt  zu  haben  glaubt,  daß  man  sie  auf  das  psycho- 
logische Gesetz  der  bloßen  Ähnlichkeitsassozialion  zurückleitet.  Der  zu- 
fällige Verlauf  der  Assoziationen,  der  von  Fall  zu  Fall,  von  Individuum  zu 
Individuum  verschieden  ist,  genügt  so  wenig,  den  Grund  und  Ursprung 
der  sprachlichen,  wie  den  der  rein  logischen,  der  Erkenntnisbegriffe,  ver- 
ständlich zu  machen.  „Die  psychologisch  einzig  mögliche  Weise,  sich  den 
Vorgang  der  Bildung  der  indogermanischen  Verwandtschaftsnamen  zu 
denken,"  —  so  bemerkt  Wundt  —  „besteht  darin,  daß  von  der  Bildung 
eines  Verwandtschaftsnamens  zu  der  eines  anderen  eine  Assoziation  der 
beiden  Vorstellungen  und  der  sie  begleitenden  Gefühle  herüberreichte, 
welche  eine  Angieichung  derjenigen  Lautelemente  des  Wortes  bewirkte, 
die  nicht  dem  Ausdruck  des  besonderen  Inhaltes  der  Vorstellung  dienten. 
Auf  dem  Wege  der  successiven  assoziativen  Angieichung  also,  nicht  auf 
dem  der  simultanen  Bildung  übereinstimmender  Begriffszeichen  kann 
allein  ein  solches  einer  Klasse  von  Vorstellungen  gemeinsames  deter- 
minierendes Lautzeichen  entstanden  sein,  und  der  Begriff  der  Zusammen- 

1  Näheres  hierüber  in  m.  Schrift  „Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff",  bes.  Kap.  i 
und  4- 


262 


gehörigkeit  der  Objekte  ist  darum  auch  nicht  der  Bildung  dieser  deter- 
minativen Elemente  vorausgegangen,  sondern  er  hat  sich  vollkommen 
gleichzeitig  mit  ihnen  entwickelt.  Denn  er  ist  offenbar  der  beim  Über- 
gang von  einem  Gegenstande  zum  anderen  unmittelbar  sich  einstellende 
Ausdruck  der  Zusammengehörigkeit,  wobei  diese  letztere  vielmehr  auf 
gewissen  begleitenden  Gefühlen  von  übereinstimmender  Färbung  als  auf 
einer  eigentlichen  Vergleichung  beruhte1."  Dagegen  ist  jedoch  zu  sagen, 
daß,  welches  auch  immer  das  ursprüngliche  psychologische  Motiv  zur 
Zusammenfassung  einer  bestimmten  Gruppe  von  Namen  gewesen  sein 
mag,  die  Zusammenfassung  selbst  einen  selbständigen  logischen  Akt  mit 
einer  ihm  eigentümlichen  logischen  Form  darstellt.  Eine  Determination, 
die  ausschließlich  in  der  Sphäre  des  Gefühls  verbliebe,  vermöchte  für 
sich  allein  keine  neue  objektive  Bestimmung  zu  schaffen.  Denn  irgend- 
welche gefühlsmäßige  Assoziationen  können  schließlich  zwischen  allen, 
auch  den  heterogensten  Inhalten  des  Bewußtseins  bestehen,  so  daß  sich 
von  hier  aus  kein  Weg  zu  jener  Art  der  „Homogeneität"  finden  läßt,  die 
im  logischen  und  sprachlichen  Begriff  hergestellt  oder  zum  mindesten 
gefordert  wird.  Das  Gefühl  kann  noch  alles  mit  allem  verbinden;  es 
enthält  daher  keine  ausreichende  Erklärung  dafür,  daß  bestimmte  In- 
halte sich  zu  bestimmten  Einheiten  verknüpfen.  Hierzu  wird  vielmehr 
ein  gedanklicher  Gesichtspunkt  der  Vergleichung  gefordert,  der  in  den 
Reihenbildungen  der  Sprache  auch  dort  deutlich  erkennbar  ist,  wo  er 
nur  in  der  Form  eines  klassifikatorischen  Suffixes,  nicht  in  der  eines 
selbständigen  Begriffs-  und  Stoff wortes  seinen  Ausdruck  findet2.  Wenn 
die  Sprache  den  Umstand,  daß  bestimmte  Inhalte  generisch  zusammen- 
gehören, zur  Darstellung  bringt,  so  dient  sie  schon  damit  als  ein  Vehikel 
des  intellektuellen  Fortschritts,  —  gleichviel,  ob  es  ihr  zu  erfassen  und  zu 
bezeichnen  gelingt,  worin  dieser  Zusammenhang  besteht.  Auch  hierin 
bewährt  sie  sich  als  Vorwegnahme  einer  Aufgabe,  die  ihre  eigentliche 
Lösung  freilich  erst  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  finden  kann: 
sie  wird  gleichsam  zur  Präsumtion  des  logischen  Begriffs.  Dieser  letztere 
begnügt  sich  nicht  damit,  eine  Zuordnung  und  eine  Zusammengehörigkeit 
von  Inhalten  einfach  zu  behaupten,  sondern  er  fragt  nach  dem  „Warum" 
dieser  Zuordnung:  er  will  ihr  Gesetz  und  ihren  „Grund"  erfassen.  Die 

1  Wundt  Völkerpsychologie2, 11,  i5f. 

2  Daß  übrigens  viele  dieser  „klassifikatorischen  Suffixe",  gleich  anderen  Suffixen,  auf 
konkrete  Begriffs-  und  Stoff worte  zurückgehen,  ist  unverkennbar  (Vgl.  hrz.  Kap.  5). 
Im  Gebiet  der  indogermanischen  Sprachen  scheint  ein  derartiger  Zusammenhang  im  ein- 
zelnen allerdings  meist  nicht  mehr  etymologisch  nachweisbar  zu  sein;  s.  hrz.  die  Be- 
merk, in  Brugmanns  Grundriß2,  II,  i84,  582ff.  u.  ö. 


263 


Analyse  der  Begriffszusammenhänge  führt  hier  zuletzt  auf  ihre  „gene- 
tische Definition"  zurück:  auf  die  Angabe  eines  Prinzips,  aus  dem  sie 
entspringen  und  aus  welchem  sie,  als  dessen  Besonderungen,  abgeleitet 
werden  können.  Zu  dieser  Betrachtung  vermag  sich  die  Sprache  so  wenig 
in  ihren  qualifizierenden  und  „klassifizierenden",  wie  in  ihren  im  engeren 
Sinne  „generischen"  Begriffen  zu  erheben.  Aber  sie  bereitet  ihr  überall 
den  Boden,  indem  sie  das  erste  Schema  der  Zuordnung  überhaupt  schafft. 
Dieses  Schema  mag  noch  so  wenig  von  der  objektiven  Zusammengehörig- 
keit der  Inhalte  selbst  enthalten,  so  fixiert  sich  in  ihm  doch  gleichsam 
die  subjektive  Seite  des  Begriffs,  so  stellt  sich  in  ihm  das  dar,  was  er  als 
Frage  bedeutet.  In  der  Tat  hat  auch  geschichtlich  die  Entdeckung  des 
Problems  des  Begriffs  darin  bestanden,  daß  man  die  sprachlichen  Aus- 
drücke der  Begriffe,  statt  sie  als  endgültig  hinzunehmen,  vielmehr  als 
logische  Fragen  würdigen  und  verstehen  lernte.  Der  Sokratische  Aus- 
druck des  Begriffs:  das  rl  eou  hat  hier  seinen  Ursprung:  die  Induk- 
tion, kraft  welcher  Sokrates  zum  Begriff  „hinführt",  besteht  darin,  daß 
von  der  vorläufigen  und  präsumtiven  Einheit  der  Wortform  ausge- 
gangen wird,  um  aus  ihr  die  bestimmte  und  definitive  Gestalt  der  lo- 
gischen Begriffe  zu  gewinnen1.  In  diesem  Sinne  schließen  auch  die  Zu- 
ordnungen und  Klassifikationen  der  Sprache  eben  in  der  Subjektivität, 
die  ihnen  unvermeidlich  anhaftet,  zugleich  eine  gewisse  Idealität,  eine 
Richtung  auf  die  objektive  Einheit  der  „Idee"  in  sich. 


II.  Grundrichtungen  der  sprachlichen  Klassenbildung 

Die  Aufgabe,  die  verschiedenen  Formen  der  Begriffs-  und  Klassen- 
bildung, die  in  den  Einzelsprachen  wirksam  sind,  zu  beschreiben,  und 
sie  in  ihren  letzten  geistigen  Motiven  zu  verstehen,  liegt  jenseits  des  Ge- 
biets und  der  methodischen  Möglichkeiten  der  Sprachphilosophie.  Sie 
kann,  soweit  sie  überhaupt  lösbar  ist,  nur  von  der  allgemeinen  Linguistik 
und  von  den  besonderen  Sprachwissenschaften  in  Angriff  genommen  wer- 
den. Die  Wege,  die  dieSprache  hier  einschlägt,  sind  so  vielfältig  verschlungen 
und  so  dunkel,  daß  es  nur  durch  die  genaueste  Versenkung  und  durch 
die  feinste  Einfühlung  in  das  Detail  der  Einzelsprachen  gelingen  kann, 
sie  allmählich  zu  erhellen.  Denn  gerade  die  Art  der  Klassenbildung  macht 
ein  wesentliches  Moment  jener  „inneren  Form"  aus,  durch  welche  sich 
die  Sprachen  spezifisch  voneinander  unterscheiden.  Aber  so  wenig  die 
reiche  und  vielseitige  geistige  Formung,  die  die  Sprache  hier  vollzieht, 
i  S.  ob.  S.  6if. 

a64 


sich  ein  für  allemal  in  ein  fertiges  abstraktes  Schema  einfangen  und 
durch  dasselbe  bezeichnen  läßt  —  so  heben  sich  doch  auch  hier  in  der 
Vergleichung  der  besonderen  Phänomene  gewisse  allgemeine  Gesichts- 
punkte heraus,  nach  denen  die  Sprache  in  ihren  Klassifikationen  und 
Zuordnungen  verfährt.  Man  kann  versuchen,  diese  Gesichtspunkte  derart 
zu  ordnen,  daß  man  dabei  jenen  ständigen  Fortgang  vom  ,, Konkreten" 
zum  „Abstrakten",  der  die  Richtung  der  Sprachentwicklung  überhaupt 
bestimmt,  als  leitendes  Prinzip  benutzt:  wobei  man  sich  freilich  gegen- 
wärtig halten  muß,  daß  es  sich  hier  nicht  um  eine  zeitliche,  sondern  um 
eine  methodische  Schichtung  handelt  und  daß  demnach  in  einer  ge- 
gebenen historischen  Gestalt  der  Sprache  die  Schichten,  die  wir  hier 
gedanklich  zu  sondern  versuchen,  neben-  und  miteinander  bestehen  und 
sich  in  der  mannigfachsten  Weise  übereinander  lagern  können. 

Auf  der  untersten  Stufe  der  geistigen  Skala  scheinen  wir  uns  dort  zu 
befinden,  wo  die  Vergleichung  und  Zuordnung  der  Objekte  lediglich  von 
irgendeiner  Ähnlichkeit  des  sinnlichen  Eindrucks,  den  sie  hervorrufen, 
ausgeht.  Die  Sprachen  der  Naturvölker  bieten  mannigfache  Beispiele  für 
dies  Verfahren  einer  Zusammenfassung,  die  ganz  von  sinnlichen  Mo- 
tiven beherrscht  ist.  Das  inhaltlich  Verschiedenartigste  kann  hier  zu  einer 
„Klasse"  zusammengefaßt  werden,  sobald  es  nur  irgendeine  Analogie  der 
sinnlich-wahrnehmbaren  Form  aufweist.  In  den  melanesischen  Sprachen, 
sowie  in  vielen  amerikanischen  Eingeborenensprachen  besteht  die  Ten- 
denz, besondere  Präfixe  für  diejenigen  Gegenstände  zu  gebrauchen,  die 
durch  ihre  längliche  oder  runde  Form  gekennzeichnet  sind.  Durch  diese 
Tendenz  werden  z.  B.  die  Ausdrücke  für  Sonne  und  Mond  mit  denen  für 
das  menschliche  Ohr,  für  Fische  von  bestimmter  Form,  für  Kanus  u.  s.  f. 
zu  ein  und  derselben  sprachlichen  Gruppe  zusammengeschlossen,  wäh- 
rend auf  der  anderen  Seite  etwa  die  Namen  für  Nase  und  Zunge,  als  Be- 
zeichnungen länglicher  Gegenstände,  stehen1.  Schon  einer  ganz  anderen 
Schicht  der  Betrachtung  scheinen  solche  Klassenunterscheidungen  anzuge- 
hören, die,  statt  von  einer  bloßen  Ähnlichkeit  im  Inhalt  der  einzelnen  Wahr- 
nehmungsdinge auszugehen,  auf  irgendeiner  Verhältnisbestimmung  gegrün- 
det sind,  die  also  die  Objekte  je  nach  ihrer  Größe,  ihrer  Zahl,  ihrer  Stellung 
und  Lage  voneinander  unterscheiden.  In  ersterer  Hinsicht  verwenden  z.  B.  die 

1  Codrington,  Melanesian  languages,  S.  1 46 f.  —  Was  die  amerikanischen  Sprachen 
betrifft,  so  zerlegt  z.  B.  die  Haida-Sprache  alle  Nomina  in  verschiedene,  durch  sinnlich- 
räumliche Merkmale  gekennzeichnete  Gruppen,  unterscheidet  also  scharf  die  Gruppe  der 
„langen",  der  „dünnen",  der  „runden",  der  „flachen",  der  „eckigen",  der  „faden- 
förmigen" Gegenstände.  S.  Swanton,  Haida  in  Boas'  Handbook  I,  216,  227  ff. 


265 


Bantu-Sprachen  ein  besonderes  Präfix,  um  damit  besonders  große  Dinge 
zu  bezeichnen,  während  andere  Präfixe  als  Verkleinerungsprälixe  dienen; 
auch  werden  hier  Gegenstände,  die  regelmäßig  als  Elemente  einer  kollek- 
tiven Vielheit,  als  ,, einer  von  vielen"  vorkommen,  von  solchen  geschieden, 
die,  gleich  den  Augen,  den  Ohren,  den  Händen  des  Menschen  in  paar- 
weiser Gliederung  als  „doppelt  vorhandene  Dinge"  auftreten1.  Was  die 
Stellung  und  Lage  betrifft,  so  ist  es  z.  B.  in  vielen  amerikanischen  Ein- 
geborenensprachen für  die  Klassenzugehörigkeit  eines  Wortes  bestimmend, 
ob  der  Gegenstand,  den  es  bezeichnet,  als  stehend,  als  sitzend  oder  liegend 
gedacht  wird2.  Wenn  hier  eine  Gliederung  der  Objekte  nach  direkten,  an- 
schaulich-faßbaren Merkmalen  stattfindet,  so  begegnet  daneben  auch  eine 
Klassifikation,  die  ein  merkwürdiges  mittelbares  Prinzip  der  Einteilung 
benutzt,  indem  sie  die  Gesamtheit  der  Dinge  den  Gliedern  des  mensch- 
lichen Leibes  zuordnet  und  sie  kraft  der  Zugehörigkeit  zum  einen  oder 
anderen  Glied  zu  verschiedenen  sprachlichen  Gruppen  zusammenfaßt.  Man 
erkennt  hierin  das  gleiche  Motiv,  das  uns  bereits  im  Aufbau  der  Raum- 
anschauung durch  die  Sprache  und  in  der  Bildung  gewisser  primärer 
Raumworte  entgegengetreten  ist:  der  menschliche  Körper  und  die  Unter- 
scheidung seiner  einzelnen  Gliedmaßen  dient  als  eine  der  ersten  und 
notwendigen  Grundlagen  der  sprachlichen  „Orientierung"  überhaupt3. 
So  wird  in  manchen  Sprachen  die  Einteilung  der  Körperteile  geradezu 
als  das  durchgehende  Schema  benutzt,  nach  dem  sich  die  Auffassung  des 
Weltganzen  und  seiner  Gliederung  richtet,  insofern  hier  jedes  einzelne 
Ding,  das  die  Sprache  benennt,  zunächst  mit  irgendeinem  Körperteil,  etwa 
mit  dem  Mund,  mit  den  Beinen,  mit  dem  Kopf,  dem  Herzen,  der 
Brust  u.  s.  f.  verknüpft  wird  und  gemäß  dieser  Grundbeziehung  die  Ein- 
zelobjekte in  bestimmte  Klassen,  in  feste  „Genera"  abgeteilt  werden*.  In 

1  S.  die  Darstellung  der  Klassenpräfixe  in  Meinhofs  vergl.  Grammat.  der  Bantu- 
sprachen,  S.  8  ff.,  16  ff. 

2  Vgl.  Powell,  Introd.  to  Ihe  study  of  Indian  Languages,  S.  48.  —  In  der  Ponca- 
Sprache,  die  zwischen  belebten  und  unbelebten  Gegenständen  unterscheidet,  dient  in  der 
ersleren  Klasse  ein  besonderes  Präfix  dazu,  um  einen  ruhenden,  ein  anderes,  um  einen 
bewegten  Gegenstand  zu  bezeichnen,  ein  Präfix  wird  für  ein  einzelnes  belebtes  Wesen, 
wenn  es  steht,  ein  anderes  für  ein  solches  Wesen,  wenn  es  sitzt,  gebraucht  u.  s.  f. 
cf.  Boas  und  Swanton,  Siouan  in  Boas'  Handbook  I,  q4o. 

3  S.  ob.  S.  i56ff. 

4  Bezeichnend  hierfür  ist  insbesondere  die  sehr  merkwürdige  Klasseneinteilung  der  süd- 
andamanischen  Sprachen,  die  von  E.  H.  Man  (On  the  aborginal  inhabitants  of  the 
Andaman  Islands,  with  report  of  researches  into  the  language  of  the  South  Andaman 
Island  by  A.  J.  Ellis,  London  i883)  eingehend  beschrieben  worden  ist;  Ergänzungen  zu 
der  Darstellung  Mans  sind  von  M.  V.  Portman,  Notes  on  the  Languages  of  South 


266 


solchen  Einteilungen  wird  sehr  deutlich,  daß  die  ersten  Begriffsunter- 
scheidungen der  Sprache  noch  durchweg  an  materielle  Substrate  ge- 
bunden sind;  daß  die  Beziehung  zwischen  den  Gliedern  derselben  Klasse, 
wenn  sie  gedacht  werden  soll,  sich  immer  zugleich  auch  in  irgendeiner 
Weise  biidmäß'ig  verkörpern  muß.  In  den  am  reichsten  entwickelten 
und  am  feinsten  durchgebildeten  Klassensystemen,  wie  sie  uns  in  den 
Bantusprachen  begegnen,  scheint  dann  freilich  eine  Gesamtanschauung 
gewonnen,  die  über  diesen  ersten  Kreis  bloß  sinnlicher  Unterscheidungen 
entschieden  hinausreicht.  Hier  bewährt  die  Sprache  bereits  die  Kraft, 
das  Ganze  des  Seins,  sofern  es  als  räumliches  Ganze  genommen  wird, 
als  einen  Komplex  von  Beziehungen  zu  erfassen  und  es  aus  ihnen  ge- 
wissermaßen herauswachsen  zu  lassen.  Wenn  in  dem  genau  abgestuften 
Inbegriff  von  „Lokativpräfixen",  dessen  sich  die  Bantusprachen  be- 
dienen, einerseits  die  verschiedene  Entfernung  der  Objekte  vom  Re- 
denden, dann  aber  auch  ihre  mannigfachen  räumlichen  Verhältnisse,  ihr 
„Ineinander",  ihr  „Aneinander"  und  ihr  „Außereinander"  scharf  be- 
zeichnet werden,  —  so  beginnt  hier  die  unmittelbare  Form  der  räum- 
lichen Anschauung  gleichsam  eine  systematische  Gestalt  anzunehmen. 
Es  ist,  als  würde  der  Raum  hier,  als  eine  mehrfach  bestimmte  Mannig- 
faltigkeit, von  der  Sprache  förmlich  aufgebaut,  als  werde  er  aus  den 
einzelnen  Orts-  und  Richtungsunterscheidungen  zu  einer  in  sich  ge- 
schlossenen und  doch  zugleich  in  sich  differenzierten  Einheit  gestaltet1. 
In  solchen  Klasseneinteilungen  scheint  sich  daher  bereits  ein  Trieb  und 
eine  Kraft  zur  Organisation  zu  bewähren,  die  auch  dort,  wo  der  Gegen- 
stand selbst  noch  ganz  im  Kreis  des  anschaulichen  Seins  verharrt,  doch 
ihrem  Prinzip  nach  über  diesen  bereits  hinausdrängt  und  auf  neue  und 
eigentümliche  Formen  der  „Synthesis  des  Mannigfaltigen"  hinweist,  über 
die  die  Sprache  verfügt. 

Hierbei  liegt  es  freilich  im  Wesen  der  Sprache  selbst  begründet,  daß 

Andaman  Group  of  Tribes,  Calcutta  1898,  gegeben  worden.  Im  Klassensystem  des 
Andamanischen  bilden  zunächst  die  menschlichen  Wesen  eine  besondere  Klasse,  die  von 
den  sonsligen  Nomina  unterschieden  wird;  dann  aber  werden  die  einzelnen  Körperteile, 
sowie  die  Verwandtschaftsnamen  in  Gruppen  abgeteilt,  die  sprachlich  scharf  voneinander 
getrennt  werden,  so  daß  z.  B.  für  jede  besondere  Gruppe  besondere  possessive  Für- 
wörter, besondere  Ausdrücke  des  mein,  dein,  sein  u.  s.  f.  im  Gebrauch  sind.  Zwischen 
den  einzelnen  Körperteilen  selbst  und  den  Verwandtschaftsgruppen  besteht  dann  wei- 
terhin wieder  eine  Reihe  analogischer  Zuordnungen  und  „Identitäten".  (Cf.  Man.  a.  a. 
O.,  S.  5iff.  und  Portman,  a.  a.  0.,  S.  37ff.). 

1  Vgl.  hrz.  die  Darstellung  des  Systems  der  „Lokativpräfixe"  der  Bantu-Sprachen  in 
Meinhofs  Bantugrammalik,  S.  igff . 


267 


jede  derartige  Synthese  nicht  ausschließlich  durch  theoretische,  sondern 
durch  imaginative  Gesichtspunkte  beherrscht  wird  und. daß  daher  auch 
die  sprachliche  „Begriffsbildung"  auf  weite  Strecken  hin  nicht  sowohl 
als  eine  Leistung  der  logischen  Vergleichung  und  Verknüpfung  der 
Wahrnehmungsinhalte,  als  vielmehr  als  eine  Leistung'  der  Sprach- 
phantasie erscheint.  Die  Form  der  Reihenbildung  wird  niemals  ledig- 
lich durch  die  objektive  „Ähnlichkeit"  der  Einzelinhalte  bestimmt,  son- 
dern sie  folgt  dem  Zuge  der  subjektiven  Einbildungskraft.  Die  Motive, 
durch  welche  die  Sprache  in  ihren  Klassenbildungen  geleitet  wird, 
scheinen  daher  durchweg,  soweit  uns  überhaupt  ein  Einblick  in  sie  ver- 
stattet ist,  den  primitiven  mythischen  Begriffsformen  und  Klassen- 
einteilungen noch  nahe  verwandt  zu  sein1.  Auch  hier  bewährt  sich,  daß 
die  Sprache  als  geistige  Gesamtform  auf  der  Grenze  zwischen  Mythos 
und  Logos  steht,  und  daß  sie  andererseits  die  Mitte  und  Vermittlung 
zwischen  der  theoretischen  und  der  ästhetischen  Weltbetrachtung  dar- 
stellt. Daß  auch  die  uns  nächstliegende  und  geläufigste  Form  der  sprach- 
lichen Klassenbildung,  daß  auch  die  Scheidung  der  Nomina  in  die  drei 
„Geschlechter"  des  Maskulinum,  Femininum  und  Neutrum  von  solchen 
halb  mythischen,  halb  ästhetischen  Motiven  durchsetzt  ist,  tritt  in  den 
Einzelanwendungen,  die  dieses  Prinzip  erfährt,  oft  noch  unverkennbar 
hervor.  Gerade  solche  Sprachforscher,  die  mit  der  Kraft  und  Schärfe  der 
grammatisch-logischen  Analyse  die  größte  Tiefe  und  Feinheit  der  künst- 
lerischen Intuition  vereinten,  haben  daher  geglaubt,  hier  das  Prinzip  der 
sprachlichen  Begriff  sbildung  an  seiner  eigentlichen  Quelle  zu  erfassen  und 
es  gleichsam  unmittelbar  belauschen  zu  können.  Jakob  Grimm  leitet  den 
Geschlechtsunterschied  der  indogermanischen  Sprachen  aus  einer  Übertra- 
gung des  natürlichen  Geschlechts  ab,  die  sich  schon  im  frühesten  Zustand 
der  Sprache  vollzogen  habe.  Nicht  nur  dem  Masculinum  und  Femininum, 
sondern  auch  dem  Neutrum  wird  von  ihm  ein  derartiger  „natürlicher 
Anfang"  zugeschrieben,  sofern  sein  eigentlicher  Ursprung  in  dem  „Be- 
griff von  foetus  oder  proles  lebendiger  Geschöpfe"  gesucht  wird.  Wenn 
Grimm  weiterhin  zu  zeigen  versucht,  daß  das  Masculinum  durchgehend 
das  Frühere,  Größere,  Festere,  Sprödere,  Raschere,  das  Tätige,  Beweg- 
liche, Zeugende  —  das  Femininum  dagegen  das  Spätere,  Kleinere,  Wei- 
chere, Stillere,  das  Leidende  und  Empfangende  —  das  Neutrum  das  Er- 
zeugte und  Gewirkte,  das  Stoffartige,  Generelle,  Kollektive,  Unent- 
wickelte bezeichne,  so  ist  ihm  freilich  hierin  die  moderne  Sprachf or- 

1  Näheres  hierüber  in  m.  Aufs.  „Die  Begriffsform  im  mythischen  Denken"  (Studien 
der  Bibliothek  Warburg  I),  Leipzig  1922. 


268 


schung  nur  zum  kleinen  Teil  gefolgt.  Schon  im  Kreise  der  indogerma- 
nischen Sprachwissenschaft  trat  der  ästhetischen  Theorie  Grimms  die 
nüchternere  Theorie  Brugmanns  entgegen,  die  die  Ausdehnung  des  Ge- 
schlechtsunterschiedes über  die  Gesamtheit  der  Nomina  nicht  in  irgend- 
einer allgemeinen  Wesensrichtung  der  Sprachphantasie,  sondern  in  be- 
stimmten formellen  und  in  gewissem  Sinne  zufälligen  Analogien  be- 
gründet sein  läßt.  Statt  von  einer  Anschauung  der  Belebung  und  Be- 
seelung der  Dinge,  sei  die  Sprache  in  der  Ausbildung  und  Fixierung  dieses 
Unterschieds  vielmehr  durch  an  sich  bedeutungslose  Ähnlichkeiten  der 
Lautform  geleitet  worden:  —  so  habe  z.  B.  der  Umstand,  daß  gewisse 
, natürliche  Feminina",  gewisse  Bezeichnungen  für  weibliche  Wesen,  auf 
die  Endung  -a  (-rj)  ausgingen,  dahin  geführt,  daß  allmählich  auf  rein 
assoziativem  Wege  alle  mit  dieser  Endung  versehenen  Worte  derselben 
Klasse  der  „Feminina"  zugewiesen  wurden1.  Auch  vermittelnde  Theorien, 
die  die  Ausbildung  des  grammatischen  Geschlechts  teils  auf  anschaulich- 
inhaltliche, teils  auf  formale  Motive  zurückzuführen  und  die  Wirksamkeit 
beider  gegeneinander  abzugrenzen  versuchten,  sind  vielfach  versucht  wor- 
den2. In  seiner  ganzen  Bedeutung  und  Weite  konnte  freilich  das  Problem, 
das  hier  zugrunde  liegt,  erst  erfaßt  werden,  seit  sich  durch  Ausdehnung  der 
Sprachforschung  über  den  indogermanischen  und  semitischen  Kreis  mehr 
und  mehr  zeigte,  daß  der  Geschlechtsunterschied,  wie  er  im  Indogerma- 
nischen und  Semitischen  besteht,  nur  ein  Sonderfall  und  vielleicht  ein 
Überrest  weit  reicherer  und  weit  schärfer  durchgebildeter  Klasseneintei- 
lungen ist.  Geht  man  von  solchen  Einteilungen,  wie  sie  insbesondere  die 
Bantusprachen  darbieten,  aus,  so  ergibt  sich  unzweifelhaft,  daß  die  Un- 
terscheidung des  Geschlechts  im  Sinne  des  „Sexus"  im  Ganzen  der  Mit- 
tel, deren  sich  die  Sprache  zur  Ausprägung  „generischer"  Unterschei- 
dungen überhaupt  bedient,  nur  einen  relativ  geringen  Raum  einnimmt,  — 
daß  hierin  also  nur  eine  einzelne  Richtung  der  Sprachphantasie,  nicht 
aber  deren  allgemeines  und  durchgehendes  Prinzip  erfaßt  werden  kann. 
In  der  Tat  kennt  eine  große  Reihe  von  Sprachen  die  Trennung  der 
Nomina  nach  dem  natürlichen  Geschlecht  oder  nach  irgendeiner  Analogie 
desselben  überhaupt  nicht.  Das  männliche  und  weibliche  Geschlecht 
wird  hier  an  unbelebten  Wesen  überhaupt  nicht  unterschieden,  während 
es  an  Tieren  entweder  durch  besondere  Worte  ausgedrückt  oder  derart 

1  S.  Brugmann,  Das  grammatische  Geschlecht  in  den  indogermanischen  Sprachen, 
Techmers  Zeitschr.  für  allgem.  Sprachwissensch.  IV,  iooff.;  vgl.  auch  Kurze  vgl. 
Grammat.,  S.  36iff. 

2  Vgl.  z.  B.  Wilmans,  Deutsche  Grammatik,  III,  725ff. 

269 


bezeichnet  wird,  daß  dem  allgemeinen  Namen  der  Tierart  ein  Wort  hin- 
zugefügt wird,  das  die  besondere  Geschlechtsbezeichnung  enthält.  Auch 
im  menschlichen  Kreise  tritt  diese  Bezeichnung  ein,  indem  z.  B.  ein 
allgemeiner  Ausdruck  wie  Kind  oder  Diener  durch  Zusätze  dieser  Art 
zum  Ausdruck  für  Sohn  und  Tochter,  Knecht  und  Magd  u.  s.  f.  gestaltet 
wird1. 

Humboldt,  der  gleich  Jakob  Grimm  den  Ursprung  der  sprachlichen 
Klasseneinteilungen  in  einer  Grundfunktion  des  sprachlichen  ,, Einbil- 
dungsvermögens" findet,  faßt  daher  dieses  Vermögen  von  Anfang  an  in 
einem  weiteren  Sinne,  indem  er  statt  von  dem  Unterschiede  des  natür- 
lichen Geschlechts  von  dem  allgemeinen  Unterschied  des  Belebten  und 
Unbelebten  ausgeht.  Er  stützt  sich  hierbei  im  wesentlichen  auf  seine 
Beobachtungen  an  amerikanischen  Eingeborenensprachen,  von  denen  die 
meisten  den  Unterschied  des  natürlichen  Geschlechts  entweder  gar  nicht 
oder  nur  gelegentlich  und  unvollkommen  bezeichnen,  die  aber  statt  dessen 
für  den  Gegensatz  zwischen  leblosen  und  lebendigen  Gegenständen  überall 
das  feinste  Gefühl  bekunden.  In  den  Algonkin-Sprachen  ist  es  dieser 
Gegensatz,  der  die  gesamte  Struktur  der  Sprache  beherrscht.  Ein  beson- 
deres Suffix  (-a)  bezeichnet  hier  ein  Objekt,  das  in  sich  die  Eigenschaften 
des  Lebens  und  der  selbständigen  Bewegung  vereint;  ein  anderes  (-i)  be- 
zeichnet die  Gegenstände,  die  dieser  Attribute  ermangeln.  Jedes  Verbum 
oder  Nomen  muß  unter  die  eine  oder  die  andere  dieser  beiden  Klassen  fal- 
len: wobei  freilich  die  Unterordnung  sich  keineswegs  allein  nach  den 
Merkmalen  richtet,  die  die  rein  empirische  Beobachtung  darbietet,  son- 
dern durch  die  Richtung  der  mythischen  Phantasie  und  der  mythischen 
Naturbelebung  entscheidend  mitbestimmt  wird.  So  werden  z.  B.  in 
diesen  Sprachen  eine  große  Zahl  von  Pflanzen  —  unter  ihnen  die 
wichtigsten  Pflanzenarten,  wie  das  Korn  und  der  Tabak  —  der  Klasse  der 
belebten  Gegenstände  zugerechnet2.  Wenn  anderwärts  auch  die  Gestirne 
mit  den  Menschen  und  Tieren  grammatisch  in  dieselbe  Klasse  versetzt 
werden,  so  sieht  Humboldt  hierin  den  deutlichsten  Beleg  dafür,  daß 

1  Dieses  Verfahren,  das  vor  allem  in  den  finnisch-ugrischen  u.  den  altaischen  Sprachen 
gilt,  deren  keine  eine  Genusbezeichnung  im  Sinne  des  Indogermanischen  kennt,  ist  auch 
sonst  weit  verbreitet.  Für  die  letzteren  s.  z.  B.  Boethlingk,  Die  Sprache  der  Jakuten, 
S.  3/13  und  J.  J.  Schmidt,  Grammat.  der  mongol.  Sprache,  S.  22 ff .;  für  andere  Sprach- 
kreise s.  H.  C.  v.  d.  Gabelentz,  Die  melanes.  Sprachen,  S.  88;  Westermann, DieSudan- 
sprachen,  S.  3g ff.;  Matthews,  Languages  of  some  native  tribes  of  Queensland,  J.  and 
Proc.  of  the  Royal  Soc.  of  N.  S.  Wales  XXXVI  (1902),  S.  i48,  168. 

2  Zur  Klassenbildung  der  Algonkin-Sprachen  s.  W.  Jones,  Algonquian  (Fox)  in  Boas' 
Handbook  I,  760 f. 


27O 


sie  im  Denken  der  Völker,  die  diese  Gleichsetzung  vollziehen,  als  sich 
durch  eigene  Kraft  bewegende  und  wahrscheinlich  auch  als  die  mensch- 
lichen Schicksale  von  oben  herab  leitende  mit  Persönlichkeit  begabte 
Wesen  betrachtet  werden1.  Besteht  diese  Folgerung  zu  Recht,  so  würde 
sich  damit  erweisen,  daß  die  Sprache  in  derartigen  Klasseneinteilungen 
zwar  noch  unmittelbar  mit  dem  mythischen  Denken  und  Vorstellen  ver- 
woben ist,  aber  daß  sie  sich  andererseits  über  die  erste  primitive  Grund- 
schicht dieses  Denkens  bereits  zu  erheben  beginnt.  Denn  während  in  dieser 
Schicht  noch  eine  Form  der  „Allbeseelung"  herrscht,  die  das  Ganze  der 
Weit  und  jedes  besondere  Dasein  in  ihm  gleichmäßig  umfaßt  und  durch- 
dringt, so  hebt  sich  in  der  Anwendung,  die  die  Sprache  von  dem  Gegen- 
satz der  Personen-  und  Sachklasse  zu  machen  pflegt,  aus  der  allgemeinen 
Sphäre  des  „Lebens"  allmählich  immer  bestimmter  das  persönliche  selbst- 
bewußte Dasein,  als  ein  Sein  von  eigentümlicher  Bedeutung  und  von 
eigentümlichem  Wert,  heraus.  So  zerfallen  z.  B.  in  den  Drawida-Sprachen 
alle  Nomina  in  zwei  Klassen,  deren  eine  die  „vernünftigen",  deren  andere 
die  „unvernünftigen"  Wesen  umfaßt  —  der  ersteren  gehören  außer  den 
Menschen  die  Götter  und  Halbgötter,  der  zweiten  außer  den  unbelebten 
Dingen  auch  die  Tiere  an2.  Der  Schnitt,  der  hier  durch  das  Ganze  der 
Welt  gelegt  wird,  erfolgt  also  nach  einem  wesentlich  anderen  Prinzip, 
als  nach  dem  der  schlichten  und  gleichsam  differenzlosen  mythischen  Be- 
lebung des  Alls.  Auch  die  Bantusprachen  scheiden  in  ihrem  Klassen- 
system scharf  zwischen  dem  Menschen  als  selbständig  handelnder  Per- 
sönlichkeit und  jeder  Art  des  belebten,  aber  nicht  persönlichen  Seins. 
Sie  gebrauchen  demnach  ein  besonderes  Präfix  für  Geister,  sofern  diese 
nicht  als  selbständige  Persönlichkeiten  gedacht  werden,  sondern  als  das 
Belebende  oder  als  das,  was  einen  Menschen  befällt,  so  daß  mit  diesem 
Präfix  insbesondere  Krankheiten,  ferner  Rauch,  Feuer,  Ströme,  der  Mond 
als  Naturkräfte  versehen  werden3.  Die  Auffassung  des  im  engeren 
Sinne  persönlich-geistigen  Seins  und  Wirkens  hat  sich  damit  in  der 
Sprache  einen  eigenen  Ausdruck  geschaffen,  kraft  dessen  sie  sich  von  der 
Lebens-  und  Seelenvorstellung  des  bloßen  Animismus,  von  der  Ansicht 
der  Seele  als  einer  allgemeinen,  aber  eben  in  dieser  Allgemeinheit  zu- 
nächst völlig  unbestimmten  mythischen  Potenz,  zu  sondern  vermag. 
Dabei  bewährt  sich  freilich  auch  an  diesem  Punkte  wieder,  daß  die 

*  Humboldt,  Einl.  zum  Kawi-Werk,  W.  VII,  i,  172 f. 

2  Fr.  Müller,  Grundr.  der  Sprachwissensch.  III,  1,  173;  Reise  der  Fregatte  Novara, 
S.83. 

3  S.  hierf .  die  Beispiele  bei  Meinhof,  Bantugrammatik,  S.  6f. 


271 


Scheidung  in  eine  besondere  Personen-  und  Sachenklasse  und  die  Zuord- 
nung der  einzelnen  Gegenstände  zu  je  einer  dieser  beiden  Klassen  nicht 
lediglich  nach  „objektiven"  Kriterien  erfolgt,  sondern  daß  hier  das  be- 
grifflich-logische Gefüge  der  Wirklichkeit,  wie  es  sich  in  der  Sprache 
darstellt,  mit  rein  subjektiven,  nur  im  unmittelbaren  Gefühl  zu  erfas- 
senden Unterschieden  noch  ganz  durchsetzt  und  erfüllt  ist.  Niemals  wird 
diese  Zuordnung  durch  bloße  Wahrnehmungs-  oder  Urteilsakte,  sondern 
immer  zugleich  durch  Affekt-  und  Willensakte,  durch  Akte  der  inneren 
Stellungnahme  bestimmt.  Es  ist  demgemäß  eine  häufige  Erscheinung, 
daß  der  Name  eines  Dinges,  das  an  sich  der  Sachenklasse  angehört,  in  die 
Personenklasse  übertritt,  um  damit  den  Gegenstand,  von  dem  die  Rede 
ist,  nach  seinem  Wert  und  seiner  Wichtigkeit  herauszuheben  und  ihn  als 
besonders  bedeutsam  zu  kennzeichnen1.  Selbst  in  Sprachen,  die  in  ihrer 
uns  bekannten  gegenwärtigen  Struktur  den  Unterschied  der  Nomina  nach 
dem  natürlichen  Geschlecht  durchgeführt  haben,  schimmert  in  dem  Ge- 
brauch, den  sie  von  ihm  machen,  oft  noch  deutlich  durch,  daß  er  auf 
eine  ältere  Unterscheidung  der  Personen-  und  Sachenklasse,  die  zugleich 
als  eine  Wertunterscheidung  empfunden  wurde,  zurückgeht2.  So  eigen- 
tümlich solche  Phänomene  auf  den  ersten  Blick  erscheinen  mögen,  so 
bekundet  sich  doch  in  ihnen  nur  das  Grundprinzip  der  sprachlichen  Be- 

1  In  der  Gola-Sprache  in  Liberia  erhält  (nach  Westermann,  Die  Gola-Sprache,  S .  27) 
ein  Hauptwort,  dem  eigentlich  ein  anderes  Präfix  zukommt,  häufig  das  o-Präfix  der  Men- 
schen- und  Tierklasse,  wenn  es  als  ein  besonders  großer,  hervorragender,  wertvoller 
Gegenstand  hervorgehoben  werden  soll,  der  um  dieser  Eigenschaften  willen  in  die 
Klasse  der  lebenden  Wesen  versetzt  wird:  „so  sagt  man  neben  kesie  ölpalme  auch 
osie,  dadurch  diese  Palme  als  einen  der  wichtigsten  Bäume  auszeichnend,  kekul  Baum, 
aber  okul  ein  besonders  großer  schöner  Baum;  ebu  Feld,  aber  obuo  das  große,  üppig 
stehende  Feld.  Die  gleiche  Versetzung  in  die  o-Klasse  findet  auch  bei  Bäumen  oder 
anderen  Gegenständen  statt,  die  im  Märchen  redend  oder  handelnd  auftreten."  In  den 
Algonkin-Sprachen  werden  häufig  kleine  Tiere  der  Klasse  der  „unbelebten"  Gegen- 
stände, dagegen  bestimmte  besonders  wichtige  Pflanzenarten  der  Klasse  der  „belebten" 
Gegenstände  zugerechnet,  s.  ob.  S.  270  und  Boas'  Handbook  I,  36. 

2  Charakteristische  Beispiele  hierfür  werden  von  Meinhof  und  Reinisch  aus  dem 
Bedauye  angeführt,  wo  z.B.  sa  die  Kuh,  als  Hauptstütze  des  gesamten  Hauswesens, 
masculini  generis,  dagegen  sa  das  Fleisch  ein  Femininum  ist,  da  es  von  minderem 
Belang  ist  (S.  Meinhof,  Die  Sprachen  der  Hamiten,  S.  i3g).  Auch  in  den  Semiten- 
sprachen  hat  —  nach  Brockelmann,  Grundriß  I,  4o4ff.  —  die  Unterscheidung  der 
Nomina  in  die  Genera  des  Masculinum  und  Femininum  mit  dem  natürlichen  Sexus  wahr- 
scheinlich von  Hause  aus  nichts  zu  tun;  vielmehr  liegt  auch  hier  eine  ursprüngliche 
Rang-  und  Wertunterscheidung  zugrunde,  die  im  Gebrauch  des  Femininums  als  Dete- 
riorativ-  und  Deminutivform  noch  in  Resten  erkennbar  ist.  Vgl.  bes.  Brockelmann, 
Grundr.  II,  4*8ff.  und  Kurzgef.  vergl.  Grammat.,  S.  ig8ff. 


2r;2 


griffsbildung  überhaupt.  Die  Sprache  folgt  niemals  einfach  dem  Zuge 
der  Eindrücke  und  Vorstellungen,  sondern  tritt  ihm  mit  selbständiger 
Aktion  gegenüber:  sie  unterscheidet,  wählt  und  richtet  und  schafft  ver- 
möge solcher  Stellungnahme  erst  bestimmte  Zentren,  bestimmte  Mittel- 
punkte der  objektiven  Anschauung  selbst.  Diese  Durchdringung  der  Welt 
der  sinnlichen  Eindrücke  mit  den  inneren  Maßen  des  Urteils  und  der  Be- 
urteilung hat  zur  Folge,  daß  die  theoretischen  Bedeutungsnuancen  und  die 
affektiven  Wertnuancen  in  ihr  zunächst  noch  ständig  ineinander  über- 
gehen. Aber  die  innere  Logik  der  Sprache  bekundet  sich  nichtsdestowe- 
niger darin,  daß  die  Unterscheidungen,  die  sie  schafft,  nicht  alsbald  wie- 
der vergehen  und  sich  verflüchtigen,  sondern  daß  sie  eine  Art  von  Behar- 
rungstendenz, eine  eigentümliche  logische  Konsequenz  und  Notwendig- 
keit besitzen,  vermöge  deren  sie  sich  nicht  nur  selbst  behaupten,  sondern 
sich  auch  mehr  und  mehr  von  einzelnen  Teilen  der  Sprachbildung  über 
das  Ganze  derselben  ausdehnen.  Durch  die  Regeln  der  Kongruenz,  die 
den  grammatischen  Bau  der  Sprache  beherrschen  und  die  namentlich  in 
den  Präfix-  und  Klassensprachen  in  schärfster  Durchbildung  vorhanden 
sind,  übertragen  sich  die  begrifflichen  Unterschiede,  die  am  Nomen  ge- 
troffen werden,  von  hier  auf  die  Gesamtheit  aller  sprachlichen  Formen. 
Im  Bantu  muß  jedes  Wort,  das  zu  einem  Substantivum  in  attributive 
oder  prädikative  Beziehung  tritt,  jede  Zahlbestimmung,  jedes  Adjektiv 
oder  Pronomen,  durch  das  es  näher  bezeichnet  wird,  das  charakteristische 
Klassenpräfix  des  Wortes  annehmen.  Ebenso  bezieht  sich  hier  das  Ver- 
bum  durch  je  ein  besonderes  Präfix  auf  seinen  Subjektsnominativ  und 
auf  das  Wort,  das  zu  ihm  im  Verhältnis  des  Objektsakkusativ  steht1.  So 
beherrscht  das  Prinzip  der  Klasseneinteilung,  einmal  gefunden,  nicht 
nur  die  Gestaltung  der  Nomina,  sondern  greift  von  hier  aus  auf  die  ge- 
samte syntaktische  Fügung  der  Sprache  über  und  wird  zum  eigentlichen 
Ausdruck  ihres  Zusammenhangs,  ihrer  geistigen  „Artikulation".  So  er- 
scheint hier  die  Leistung  der  Sprachphantasie  überall  aufs  engste  ver- 
knüpft mit  einer  bestimmten  Methodik  des  sprachlichen  Denkens.  Wie- 
der zeigt  hier  die  Sprache  bei  all  ihrer  Gebundenheit  und  Verflochtenheit 
in  die  Welt  des  Sinnlichen  und  Imaginativen  die  Tendenz  und  die  Kraft 
zum  Logisch-Allgemeinen,  durch  die  sie  sich  fortschreitend  zu  einer 
immer  reineren  und  selbständigen  Geistigkeit  ihrer  Form  befreit. 


1  Vgl.  hrz.  die  Darstellung  der  Syntax  der  Bantusprachen  bei  Meinhof,  S.  83f 6. 
Ähnliches  gilt  für  die  Syntax  der  meisten  Indianersprachen,  vgl.  hrz.  Powell,  In- 
troduct.  to  the  study  of  Indian  languages,  S.  48 f. 


18 


273 


KAPITEL  V 


DIE  SPRACHE  UND  DER  AUSDRUCK  DER  REINEN 
BEZIEHUNGSFORMEN.  —  DIE  URTEILSSPHÄRE 
UND  DIE  RELATIONSBEGRIFFE 

Von  der  Sphäre  der  sinnlichen  Empfindung  zu  der  der  Anschauung, 
von  der  Anschauung  zum  begrifflichen  Denken  und  von  diesem  wieder 
zum  logischen  Urteil  führt  für  die  erkenntniskritische  Betrachtung  ein 
stetiger  Weg.  Die  Erkenntniskritik  ist  sich,  indem  sie  diesen  Weg  durch- 
mißt, bewußt,  daß  die  einzelnen  Phasen  desselben,  so  scharf  sie  in  der 
Reflexion  voneinander  geschieden  werden  müssen,  doch  niemals  als  von- 
einander unabhängige,  losgelöst  existierende  Gegebenheiten  des  Bewußt- 
seins anzusehen  sind.  Vielmehr  schließt  hier  nicht  nur  jedes  komplexere 
Moment  das  einfachere,  nicht  nur  jedes  „spätere"  Moment  das  „frühere" 
ein  —  sondern  umgekehrt  ist  auch  jenes  in  diesem  vorbereitet  und  ange- 
legt. Alle  Bestandteile,  die  den  Begriff  der  Erkenntnis  konstituieren,  sind 
wechselseitig  aufeinander  und  auf  das  gemeinsame  Ziel  der  Erkenntnis, 
auf  den  „Gegenstand"  bezogen:  die  genauere  Analyse  vermag  daher  in 
jedem  einzelnen  von  ihnen  schon  den  Hinweis  auf  alle  übrigen  zu  ent- 
decken. Die  Funktion  der  einfachen  Empfindung  und  Wahrnehmung 
„verbindet"  sich  hier  nicht  nur  mit  den  intellektuellen  Grundfunktionen 
des  Begreif ens,  des  Urteilens  und  Schließens,  sondern  sie  ist  selbst  schon 
eine  solche  Grundfunktion  —  sie  enthält  implizit,  was  dort  in  bewußter 
Formung  und  in  selbständiger  Gestaltung  heraustritt.  Es  ist  zu  erwarten, 
daß  auch  in  der  Sprache  sich  dieselbe  unlösliche  Korrelation  der  geistigen 
Mittel,  mit  denen  sie  ihre  Welt  aufbaut,  bewähren  wird,  daß  auch  hier 
jedes  ihrer  besonderen  Motive  schon  die  Allgemeinheit  ihrer  Form  und 
das  spezifische  Ganze  dieser  Form  in  sich  schließen  wird.  Und  dies  be- 
währt sich  in  der  Tat  darin,  daß  nicht  das  einfache  Wort,  sondern  erst 
der  Satz  das  eigentliche  und  ursprüngliche  Element  aller  Sprachbildung 
ist.  Auch  diese  Erkenntnis  gehört  zu  den  fundamentalen  Einsichten,  die 


274 


Humboldt  ein  für  allemal  für  die  philosophische  Betrachtung  der 
Sprache  festgestellt  hat.  „Man  kann  sich  unmöglich''  —  so  betont  er  — 
„die  Entstehung  der  Sprache  als  von  der  Bezeichnung  der  Gegenstände  durch 
Wörter  beginnend  und  von  da  zur  Zusammenfügung  übergehend  denken.  In 
der  Wirklichkeit  wird  die  Rede  nicht  aus  ihr  vorangegangenen  Wörtern  zu- 
sammengesetzt, sondern  die  Wörter  gehen  umgekehrt  aus  dem  Ganzen  der 
Rede  hervor1."  Die  Folgerung,  die  Humboldt  hier  aus  einem  spekulativen 
Grundbegriff  seines  sprachphilosophischen  Systems  —  aus  dem  Begriff 
der  „Synthesis"  als  Ursprung  alles  Denkens  und  Sprechens  —  gewinnt2, 
ist  sodann  durch  die  empirisch-psychologische  Analyse  in  allen  Teilen  be- 
stätigt worden.  Auch  sie  betrachtet  den  „Primat  des  Satzes  vor  dem  Wort" 
als  eines  ihrer  wichtigsten  und  sichersten  Ergebnisse3.  Zu  dem  gleichen 
Resultat  führt  die  Sprachgeschichte,  die  überall  zu  lehren  scheint,  daß 
sich  die  Heraussonderung  des  Einzelwortes  aus  dem  Satzganzen  und  die 
Abgrenzung  der  einzelnen  Redeteile  gegeneinander  nur  ganz  allmählich 
vollzogen  hat  und  daß  sie  frühen  und  primitiven  Sprachgestaltungen  noch 
so  gut  wie  völlig  fehlt4.  Die  Sprache  beweist  sich  auch  hierin  als  ein  Or- 
ganismus, in  welchem,  gemäß  der  bekannten  Aristotelischen  Definition, 
das  Ganze  früher  als  die  Teile  ist.  Sie  beginnt  mit  einem  komplexen  Ge- 
samtausdruck, der  sich  erst  nach  und  nach  in  Elemente,  in  relativ  selb- 
ständige Untereinheiten  zerlegt.  So  tritt  sie  uns,  so  weit  wir  sie  auch  zu- 
rückverfolgen mögen,  immer  schon  als  geformte  Einheit  entgegen.  Keine 
ihrer  Äußerungen  kann  als  ein  bloßes  Beisammen  einzelner  materialer 
Bedeutungslaute  verstanden  werden,  sondern  in  jeder  treffen  wir  zugleich 

1  Einleit.  zum  Kawi-Werk,  W.  VII,  i,  72f.;  vgl.  bes.  S.  1 43. 

2  Vgl.  hrz.  ob.  S.  io4. 

3  Dieser  Primat  wird  außer  von  Wundt  insbesondere  auch  von  Ottmar  Dittrich, 
Grundzüge  der  Sprachpsychologie  I  (iqo3)  und  Die  Probleme  der  Sprachpsychologie- 
(iqi3)  verfochten. 

4  Vgl.  hierzu  z.  B.  die  Bemerkungen  von  Sayce,  Introduction  to  the  science  of  lan- 
guage  I,  inff.,  sowie  B.  Delbrück,  Vergl.  Syntax  der  indogerman.  Sprachen  III, 
S.  5.  Daß  in  den  sögen,  „polysynthetischen"  Sprachen  eine  scharfe  Grenze  zwischen  dem 
einzelnen  Wort  und  dem  Ganzen  des  Satzes  überhaupt  nicht  zu  ziehen  ist,  ist  bekannt; 
vgl.  bes.  die  Darstellung  der  amerikanischen  Eingeborenensprachen  in  Boas'  Hand- 
book of  the  Americ.  Ind.  Languages  I,  27 ff.,  762  ff.,  1002  ff.  u.  ö.  Auch  für  die 
altaischen  Sprachen  betont  H.  Wink ler,  daß  es  in  ihnen  zur  eigentlichen  Worteinheit 
nur  mangelhaft  gekommen  sei,  vielmehr  das  Wort  meist  nur  in  seiner  Satzzusammen- 
gehörigkeit zum  Worte  werde.  (Das  Uralaltaische  und  seine  Gruppen,  S.  9,  43  u.  ö.) 
Und  selbst  in  Flexionssprachen  begegnen  überall  Reste  eines  altertümlichen  Sprach- 
zustandes, in  dem  die  Grenzen  zwischen  Satz  und  Wort  noch  durchaus  fließend  waren, 
vgl.  z.  B.  für  die  semitischen  Sprachen  die  Bemerk,  in  Brockelmanns  Grundriß  II, 
iff. 


18* 


275 


Bestimmungen,  die  rein  dem  Ausdruck  der  Beziehung  zwischen  den 
Einzeielementen  dienen  und  diese  Beziehung  selbst  in  mannigfacher  Weise 
gliedern  und  abstufen. 

Diese  Erwartung  scheint  freilich  nicht  erfüllt  zu  werden,  wenn  man 
die  Struktur  der  sogen.  isolierenden  Sprachen"  ins  Auge  faßt,  in  denen 
man  in  der  Tat  oft  den  unmittelbaren  Beweis  für  die  Möglichkeit  und  die 
Wirklichkeit  schlechthin  „formloser"  Sprachen  erbracht  sah.  Denn  hier 
scheint  sich  das  eben  angenommene  Verhältnis  zwischen  Satz  und  Wort 
nicht  nur  nicht  zu  bestätigen,  sondern  unmittelbar  in  sein  Gegenteil  zu 
verkehren.  Das  Wort  scheint  jene  Selbständigkeit,  jene  echte  „Substan- 
tialität"  zu  besitzen,  kraft  deren  es  in  sich  selbst  „ist"  und  aus  sich 
allein  begriffen  werden  muß.  Die  einzelnen  Wörter  stehen  im  Satze 
als  materiale  Bedeutungsträger  einfach  nebeneinander,  ohne  daß  ihre 
grammatische  Beziehung  zu  irgendeiner  gesonderten  expliziten  Heraus- 
hebung gelangt.  Im  Chinesischen,  das  den  Hauptbeleg  für  den  Typus 
der  isolierenden  Sprachen  bildet,  kann  ein  und  dasselbe  Wort  bald  als 
Substantivum,  bald  als  Adjektivum,  bald  als  Adverbium,  bald  als  Verbuni 
gebraucht  werden,  ohne  daß  diese  Verschiedenheit  der  grammatischen 
Kategorie  an  ihm  selbst  in  irgendeiner  Weise  kenntlich  wäre.  Auch  die 
Tatsache,  daß  ein  Substantivum  in  diesem  oder  jenem  Numerus  oder  Ka- 
sus, ein  Verbum  in  diesem  oder  jenem  Genus,  Tempus  oder  Modus  ge- 
braucht wird,  drückt  sich  in  der  Lautgestalt  des  Wortes  in  keiner  Weise 
aus.  Die  Sprachphilosophie  hat  lange  Zeit  geglaubt,  vermöge  dieser  Ge- 
staltung des  Chinesischen  einen  Blick  in  jene  Urperiode  der  Sprachbil- 
dung tun  zu  können,  in  der  alle  menschliche  Rede  noch  in  der  Anein- 
anderreihung einfacher  und  einsilbiger  „Wurzeln"  bestand:  ein  Glaube, 
der  dann  freilich  durch  die  historische  Forschung  schon  dadurch  mehr 
und  mehr  zerstört  wurde,  daß  sie  zeigte,  daß  die  strenge  Isolierung,  wie 
sie  heute  im  Chinesischen  herrscht,  kein  schlechthin  ursprünglicher  Be- 
stand, sondern  erst  ein  vermitteltes  und  abgeleitetes  Ergebnis  ist.  Die  An- 
nahme, daß  die  Wörter  des  Chinesischen  nie  einen  Wandel  erfahren  hät- 
ten, und  daß  die  Sprache  niemals  irgend  eine  Art  von  Wort-  oder  Form- 
bildung besessen  habe,  wird  —  wie  G.  v.  d.  Gabelen tz  betont  —  unhalt- 
bar, sobald  man  das  Chinesische  den  nächstverwandten  Sprachen  ver- 
gleicht und  es  im  Gesamtkreis  dieser  letzteren  betrachtet.  Hier  trete  so- 
gleich hervor,  daß  es  noch  mannigfache  Spuren  älterer  agglutinierender, 
ja  auch  echt  flexivischer  Bildung  an  sich  trage.  In  dieser  Hinsicht  glaubt 
man  heute  vielfach  die  Entwicklung  des  Chinesischen  mit  der  des  mo- 
dernen Englisch  vergleichen  zu  können,  in  dem  sich  gleichfalls  der  Über- 


276 


gang  von  einem  Zustand  der  Flexion  zu  einem  Stadium  relativer  Flexions- 
losigkeit  vor  unseren  Augen  zu  vollziehen  scheint1.  Noch  bedeutsamer 
aber  als  solche  geschichtliche  Übergänge  ist  der  Umstand,  daß  auch  dort, 
wo  die  reine  Isolierung  sich  endgültig  durchgesetzt  hat,  dies  keineswegs 
den  Fortgang  zur  „Formlosigkeit"  schlechthin  besagt,  sondern  daß  sich 
gerade  hier,  in  einem  scheinbar  widerstrebenden  Material,  die  Gewalt 
der  Form  noch  aufs  deutlichste  und  kräftigste  ausprägen  kann.  Denn  die 
Isolierung  der  Worte  gegeneinander  hebt  den  Gehalt  und  den  ideellen 
Sinn  der  Satzform  keineswegs  auf  —  sofern  die  verschiedenen  logisch- 
grammatischen  Verhältnisse  der  Einzelworte,  auch  ohne  daß  besondere 
Laute  zu  ihrem  Ausdruck  verwendet  werden,  in  der  Wortstellung  aufs 
prägnanteste  bezeichnet  werden.  Man  könnte  in  diesem  Mittel  der  Wort- 
stellung, das  das  Chinesische  zu  höchster  Konsequenz  und  Schärfe  ent- 
wickelt hat,  rein  logisch  betrachtet,  sogar  das  eigentlich  adäquate  Mittel 
des  Ausdrucks  grammatischer  Verhältnisse  sehen.  Denn  eben  als  Ver- 
hältnisse, die  selbst  sozusagen  kein  eigenes  Vorstellungssubstrat  mehr  be- 
sitzen, sondern  in  reinen  Beziehungen  aufgehen,  scheinen  sie  bestimmter 
und  deutlicher,  als  durch  eigene  Wort-  und  Lautfügungen,  durch  die 
bloße  Relation  derselben,  die  sich  in  der  Stellung  ausdrückt,  bezeichnet 
werden  zu  können.  In  diesem  Sinne  hat  schon  Humboldt,  dem  im  üb- 
rigen die  Flexionssprachen  als  die  Ausprägung  der  vollendeten,  der  „rein 
gesetzmäßigen  Form"  der  Sprache  galten,  vom  Chinesischen  gesagt,  daß 
sein  wesentlicher  Vorzug  eben  in  der  Folgerichtigkeit  bestehe,  mit  der 
hier  das  Prinzip  der  Flexionslosigkeit  durchgeführt  werde.  Gerade  die 
scheinbare  Abwesenheit  aller  Grammatik  habe  hier  die  Schärfe  des  Sinnes, 
den  formalen  Zusammenhang  der  Rede  zu  erkennen,  im  Geiste  der  Na- 
tion erhöht  —  je  weniger  äußere  Grammatik  die  chinesische  Sprache 
besitze,  um  so  mehr  innere  wohne  ihr  bei2.  Die  Strenge  des  Baus  geht 
hier  in  der  Tat  so  weit,  daß  man  von  der  chinesischen  Syntax  gesagt  hat, 
daß  sie  in  allen  wesentlichen  Stücken  nichts  anderes,  als  die  logisch  folge- 
richtige Entwicklung  einiger  weniger  Grundgesetze  sei,  aus  denen  man, 
rein  auf  dem  Wege  der  logischen  Deduktion,  alle  besonderen  Anwen- 
dungen ableiten  könne3.  Stellt  man  dieser  Feinheit  der  Gliederung  an- 
dere isolierende  Sprachen  von  primitiver  Prägung  gegenüber  —  wie 
z.  B.  unter  den  Negersprachen  das  Ewe  das  Beispiel  einer  rein  isolie- 

1  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  Sprachwissenschaft,  S.  2Ö2f.;  Chines.  Grammatik,  S.  QOff'.; 
vgl.  auch  B.  Delbrück,  Grundfragen,  S.  n8f. 

2  Humboldt,  Einleit.  zum  Kawiwerk  (W.  VII,  i,  S.  271  ff.,  S.  3o4f.). 

3  v.  d.  Gabelentz,  Chines.  Grammat.,  S.  19. 


277 


renden  Sprache  darbietet1  —  so  wird  alsbald  fühlbar,  wie  innerhalb  ein 
und  desselben  „Sprachtypus"  die  mannigfachsten  Abstufungen  und  die 
weitesten  Gegensätze  der  Formbildung  möglich  sind.  Schleichers  Ver- 
such, das  Wesen  der  Sprache  nach  dem  Verhältnis  zu  bestimmen,  in  wel- 
chem in  ihr  Bedeutung  und  Beziehung  zu  einander  stehen  und  danach 
eine  einfach  fortschreitende  dialektische  Reihe  zu  konstruieren,  in  der 
sich  die  isolierenden,  die  agglutinierenden  und  die  flektierenden  Spra- 
chen wie  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  zu  einander  verhalten  sollten2, 
litt  daher  unter  anderem  auch  daran,  daß  hier  das  eigentliche  Eintei- 
lungsprinzip verschoben  wurde,  sofern  die  sehr  verschiedenartige  Gestal- 
tung, die  das  Verhältnis  von  , Beziehung'  und  , Bedeutung*  innerhalb 
desselben  Typus  annehmen  kann,  keine  Berücksichtigung  fand.  Im  üb- 
rigen ist  auch  die  starre  Abgrenzung  des  flektierenden  und  des  agglu- 
tinierenden Typus  der  empirisch-historischen  Forschung  mehr  und  mehr 
unter  den  Händen  zerronnen3.  In  alledem  bestätigt  sich  auch  für  die 
Sprache  jenes  Verhältnis  des  „Wesens"  zur  „Form",  das  sich  in  dem  alten 
scholastischen  Satze:  forma  dat  esse  rei  ausspricht.  Wie  es  der  Erkennt- 
niskritik nicht  gelingt,  den  Stoff  der  Erkenntnis  von  ihrer  Form  derart 
abzuscheiden,  daß  beide  als  selbständige  Inhalte  erscheinen,  die  sich 
nur  äußerlich  miteinander  verbinden,  sondern  wie  hier  beide  Momente 
immer  nur  in  Beziehung  aufeinander  gedacht  und  definiert  werden 
können,  so  ist  auch  im  Sprachlichen  der  bloße  und  nackte  Stoff  nichts 
als  eine  Abstraktion  —  als  ein  Grenzbegriff  der  Methode,  dem  keine  un- 
mittelbare „Wirklichkeit",  kein  realer  und  faktischer  Bestand  entspricht. 

Selbst  in  den  flektierenden  Sprachen,  die  den  Gegensatz  des  stofflichen 
Bedeutungs-  und  des  formalen  Beziehungsausdrucks  am  schärfsten  aus- 
prägen, zeigt  sich,  daß  das  Gleichgewicht,  das  hier  zwischen  den  bei- 
den verschiedenen  Ausdrucksmomenten  erreicht  wird,  ein  gewissermaßen 
labiles  Gleichgewicht  ist.  Denn  so  klar  sich  hier  im  allgemeinen  die 
kategorialen  Begriffe  von  den  Stoff-  und  Sachbegriffen  abheben,  so 
findet  doch  andererseits  zwischen  beiden  Gebieten  insofern  ein  ständiger 
Übergang  statt,  als  es  eben  die  Sachbegriffe  selbst  sind,  die  der  Darstel- 
lung der  Beziehungen  als  Unterlage  dienen.  Am  deutlichsten  tritt  dieser 
Sachverhalt  hervor,  wenn  man  die  Suffixe,  die  in  den  flektierenden 
Sprachen  zum  Ausdruck  der  Qualität  und  Eigenschaft,  der  Art  und  Be- 

1  Näheres  in  Westermanns  Ewe-Grammat.,  S.  4ff->  3off. 

2  Sprachvergleichende  Untersuchungen  I  ( 18/48),  S.  6ff.,  II,  S.  5ff.  vgl.  ob.  S.  108 ff.). 

3  S.  hierüber  schon  Boethlingk,  Sprache  der  Jakuten,  S.  XXIV  (i85i),  vgl.  unt.  S.  281 
Anm.  2. 


278 


schaffenheit  u.  s.  f.  gebraucht  werden,  auf  ihren  etymologischen  Ur- 
sprung zurückverfolgt.  Bei  einer  großen  Anzahl  dieser  Suffixe  wird  die 
materiale  Bedeutung,  der  sie  entstammen,  durch  die  sprachgeschichtliche 
Betrachtung  unmittelbar  aufgewiesen  und  sichergestellt.  Immer  zeigt  sich 
hier  als  Grundlage  ein  konkreter,  ein  sinnlich-gegenständlicher  Ausdruck, 
der  aber  diesen  anfänglichen  Charakter  mehr  und  mehr  abstreift  und  sich 
zu  einem  allgemeinen  Verhältnisausdruck  umgestaltet1.  Erst  durch  diese 
Verwendung  der  Suffixe  wird  für  die  sprachliche  Bezeichnung  der  reinen 
Relationsbegriffe  der  Boden  bereitet.  Was  zunächst  als  spezielle  Ding- 
bezeichnung diente,  das  geht  jetzt  in  den  Ausdruck  einer  kategorialen 
Bestimmungsform,  z.  B.  in  den  Ausdruck  des  Eigenschaftsbegriffs 
schlechthin,  über2.  Aber  wenn  dieser  Übergang,  psychologisch  gesehen, 

1  Im  Deutschen  bildet  hierfür  z.B.  die  Entwicklung  der  Suffixe  -heil,  -schaft,  -tum, 
-bar,  -lieh,  -sam,  -haft  einen  bekannten  Beleg.  Das  Suffix  -lieh,  das  eins  der  Haupt- 
mittel für  die  Bildung  adjektivischer  Begriffe  geworden  ist,  weist  unmittelbar  auf  ein 
Substantivum  lika  (=  Leib,  Körper)  zurück.  ,,Der  Typus  eines  Wortes,  wie  weiblich  — 
sagt  H.  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgesch.  3,  S.  322  —  geht  zurück  auf  ein  altes  Bahu- 
vrihi-Kompositum,  urgermanisch  *wibolikis,  eigentlich  Weibesgestalt,  dann  durch  Me- 
tapher 'Weibesgestalt  habend'.  Zwischen  einem  derartigen  Kompositum  und  dem  Sim- 
plex mhd.  lieh,  nhd.  Leiche  ist  eine  derartige  Diskrepanz  anfänglich  der  Bedeutungen, 
später  auch  der  Lautformen  herausgebildet,  daß  jeder  Zusammenhang  aufgehoben  ist. 
Vor  allem  aber  hat  sich  aus  der  sinnlichen  Bedeutung  des  Simplex  ,Gestalt,  äußeres  An- 
sehen' die  abstraktere  .Beschaffenheit'  entwickelt."  Bei  dem  Suffix  -heit  ist  das  substan- 
tivische Grundwort,  dem  es  entstammt,  im  Gotischen  und  Althochdeutschen,  sowie  im 
Altsächsischen  und  Altnordischen  noch  als  selbständiges  Wort  im  Gebrauch.  Seine  Grund- 
bedeutung scheint  hier  die  der  Person,  oder  die  des  Standes  und  der  Würde  zu  sein, 
aber  daneben  hat  sich  aus  ihr  schon  früh  die  allgemeine  Bedeutung  der  Beschaffenheit, 
der  Art  und  Weise  (got.  haidus)  entwickelt,  die  nun,  in  der  Umprägung  zum  Suffix,  für 
jede  abstrakte  Eigenschaftsbezeichnung  verwendet  werden  konnte.  (Näheres  z.  B.  in 
Grimms  Deutschem  Wörterbuch  IV,  2,  Sp.  91  off.)  Von  einer  anderen  Grundanschau- 
ung aus,  aber  in  der  gleichen  Richtung  und  nach  demselben  Prinzip  fortschreitend,  ha- 
ben die  romanischen  Sprachen  ihre  adverbialen  Ausdrücke  der  Art  und  Weise  geformt, 
indem  sie  hierfür  zwar  nicht  den  Begriff  von  einem  körperlichen  Sein  und  einer  kör- 
perlichen Gestalt,  wohl  aber  den  zunächst  noch  ganz  konkret  gefaßten  Ausdruck  des 
Geistigen  verwenden,  der  allmählich  den  reinen  Suffix-  und  Beziehungscharakter  ge- 
winnt (fierement  ==  fera  mente  u.  s.  f .). 

2  So  geht  z.B.  im  Sanskrit  das  Suffix  -maya  ursprünglich  auf  ein  Substantivum  (maya 
=  Stoff,  Material)  zurück  und  wird  gemäß  der  Bedeutung  desselben  zunächst  zur  Bil- 
dung solcher  Adjectiva  verwendet,  die  eine  Stoff bezeichnung  in  sich  schließen  —  erst 
im  weiteren  Gebrauch  entwickelt  sich  sodann,  kraft  der  Umformung  des  Nomens  zum 
Suffix,  aus  dem  speziellen  Begriff  der  stofflichen  Eigenschaft  die  allgemeine  Eigen- 
schafts- und  „Qualitäts"-Bedeutung  (mrn-maya  aus  Lehm  gemacht,  aber  möha-maya 
,auf  Verblendung  beruhend'  etc.).  Näheres  bei  Brugmann,  Grundriß  II,  i3  u.  bei 
Thumb,  Handbuch  des  Sanskrit,  S.  44 I. 


279 


sozusagen  ein  negatives  Vorzeichen  trägt,  so  drückt  sich  doch  eben  in  die- 
ser Negation  selbst  ein  eminent  positiver  Akt  der  Sprachbildung  aus. 
Es  könnte  auf  den  ersten  Blick  freilich  scheinen,  als  ob  die  Entwick- 
lung der  Suffixe  wesentlich  darauf  beruhte,  daß  die  substantielle  Grund- 
bedeutung des  Wortes,  von  dem  sie  sich  herleiten,  mehr  und  mehr  in  den 
Hintergrund  gedrängt  und  schließlich  ganz  vergessen  wird.  Dieses  Ver- 
gessen geht  oft  so  weit,  daß  neue  Suffixbildungen  entstehen  können,  die 
ihren  Ursprung  keinerlei  konkreter  Anschauung  mehr,  sondern  gleich- 
sam einem  mißleiteten  Trieb  der  sprachlichen  Form-  und  Analogiebil- 
dung verdanken.  So  geht  bekanntlich  im  Deutschen  die  Bildung  des  Suf- 
fixes -keit  auf  ein  derartiges  sprachliches  „Mißverständnis"  zurück:  in- 
dem in  Bildungen  wie  ewic-heit  das  auslautende  c  des  Wortstammes 
mit  dem  anlautenden  h  des  Suffixes  verschmolz,  entstand  auf  diesem 
Wege  ein  neues  Suffix,  das  sich  durch  Analogiewirkungen  immer  weiter 
verbreitete1.  Aber  auch  in  solchen  Prozessen,  die  man,  rein  formell  und 
grammatisch,  als  „Entgleisungen"  des  Sprachsinnes  anzusehen  pflegt, 
liegt  kein  bloßer  Irrweg  der  Sprache  vor,  sondern  es  stellt  sich  darin 
vielmehr  die  Erhebung  zu  einer  neuen  Formansicht,  der  Übergang  vom 
substantialen  Ausdruck  zum  reinen  Beziehungsausdruck,  dar.  Die  psy- 
chologische Verdunklung  des  ersteren  wird  zum  logischen  Mittel  und  zum 
Vehikel  für  die  fortschreitende  Ausbildung,  die  der  letztere  gewinnt. 

Freilich  darf  man,  um  sich  diesen  Fortgang  zum  Bewußtsein  zu  bringen, 
nicht  bei  den  einfachen  Phänomenen  der  Wortbildung  stehen  bleiben. 
Seine  Grundrichtung  und  sein  Gesetz  kann  vielmehr  erst  an  den  Verhält- 
nissen der  Satzbildung  erfaßt  werden  —  denn  wenn  der  Satz  als  Ganzes 
der  eigentliche  Träger  des  sprachlichen  „Sinnes"  ist,  so  werden  auch  an 
ihm  erst  die  logischen  Nuancierungen  dieses  Sinnes  deutlich  hervortreten 
können.  Jeder  Satz,  auch  der  sogen,  eingliedrige,  stellt  schon  in  seiner 
Form  wenigstens  die  Möglichkeit  einer  inneren  Gliederung  dar  und  ent- 
hält die  Forderung  einer  solchen  Gliederung.  Aber  diese  kann  sich  nun 
in  sehr  verschiedenen  Graden  und  Stufen  vollziehen.  Bald  kann  die  Kraft 
zur  Synthese  die  der  Analyse  überwiegen  —  bald  kann  umgekehrt  die 
analytische  Kraft  der  Sonderung  zu  einer  relativ  hohen  Ausbildung  ge- 
langt sein,  ohne  daß  ihr  eine  gleich  starke  Kraft  zur  Zusammenfassung 
entspricht.  In  der  dynamischen  Wechselwirkung  und  in  dem  Wettstreit 

1  Das  Material  hierfür  ist  in  Grimms  Deutschem  Wörterbuch  V,  Sp.  5ooff.  (s.  v. 
„keit")  zusammengestellt.  Ganz  ähnliche  Prozesse  einer  „mißverständlichen"  Bildung 
von  Suffixen  finden  sich  auch  in  andern  Sprachkreisen,  vgl.  z.B.  Simonyi,  Die  unga- 
rische Sprache,  S.  276t. 


280 


beider  Kräfte  entsteht  das,  was  man  die  „Form"  jeder  bestimmten 
Sprache  nennt.  Betrachtet  man  etwa  die  Form  der  sogen,  „polysynthe- 
tischen" Sprachen,  so  scheint  hier  der  Trieb  zur  Verknüpfung  bei  weitem 
vorzuherrschen  —  ein  Trieb,  der  sich  vor  allem  in  dem  Bestreben  aus- 
drückt, die  funktionale  Einheit  des  sprachlichen  Sinnes  auch  material 
und  äußerlich  in  einer  zwar  sehr  komplexen,  aber  in  sich  geschlossenen 
Lautfügung  darzustellen.  Das  Ganze  des  Sinnes  wird  in  ein  einziges 
Satz-Wort  zusammengedrängt,  in  dem  es  nun  gleichsam  eingekapselt  und 
wie  von  einer  festen  Schale  umschlossen  erscheint.  Aber  eben  diese  Ein- 
heit des  Sprachausdrucks  ist  insofern  noch  nicht  echte  gedankliche  Ein- 
heit, als  sie  nur  auf  Kosten  der  logischen  Allgemeinheit  eben  dieses 
Ausdrucks  gewonnen  werden  kann.  Je  mehr  modifizierende  Bestim- 
mungen das  Satzwort  durch  Einverleibung  von  ganzen  Worten  oder  von 
einzelnen  Partikeln  in  sich  aufnimmt,  um  so  mehr  dient  es  der  Bezeich- 
nung einer  besonderen  konkreten  Situation,  die  es  in  all  ihren  Einzelheiten 
auszuschöpfen  sucht,  die  es  aber  mit  anderen  gleichartigen  nicht  zu  einem 
umfassenden  generellen  Zusammenhang  verknüpft1.  Demgegenüber  stellt 
sich  z.  B.  in  den  flektierenden  Sprachen  ein  ganz  anderes  Verhältnis  der 
beiden  Grundkräfte  der  Analysis  und  Synthesis,  der  Sonderung  und  Ver- 
einigung dar.  Hier  enthält  schon  die  Worteinheit  selbst  gleichsam  eine 
innere  Spannung  und  die  Ausgleichung  und  Überwindung  derselben.  Das 
Wort  baut  sich  aus  zwei  deutlich  getrennten,  zugleich  aber  unlöslich  mit- 
einander verknüpften  und  auf  einander  bezogenen  Momenten  auf.  Einem 
Bestandteil,  der  rein  der  objektiven  Bezeichnung  des  Begriffs  dient,  steht 
hier  ein  anderer  gegenüber,  der  lediglich  die  Funktion  erfüllt,  das  Wort  in 
eine  bestimmte  Kategorie  des  Denkens  zu  versetzen,  es  als  „Substan- 
tivum",  „Adjektivum"  oder  „Verbum"  oder  als  „Subjekt"  oder  näheres 
oder  entfernteres  Objekt  zu  kennzeichnen.  Jetzt  tritt  der  Beziehungsindex, 
kraft  dessen  das  einzelne  Wort  mit  der  Gesamtheit  des  Satzes  verknüpft 
wird,  nicht  mehr  äußerlich  an  das  Wort  heran,  sondern  er  verschmilzt 
mit  ihm  und  wird  zu  einem  seiner  konstitutiven  Elemente2.  Die  Diffe- 

1  Vgl.  hrz.  was  oben  (S.  257 f.)  über  die  Form  der  „Begriffsbildung"  in  den  amerikan. 
Sprachen  ausgeführt  wurde,  s.  auch  S.  23o,ff. 

2  Daß  übrigens  dieser  Prozeß  selbst  wieder  sehr  verschiedene  Grade  und  Stufen  zu-i 
läßt,  und  daß  in  dieser  Hinsicht  eine  scharfe  und  absolute  Grenzscheide  zwischen  den 
flektierenden  und  den  sogen,  agglutinierenden  Sprachen  nicht  besteht,  ist  schon  von 
Boethlingk  in  seiner  Darstellung  des  Jakutischen  (i85i)  betont  worden.  Boethlingk 
hebt  hervor,  daß  zwar  in  den  indogermanischen  Sprachen  im  allgemeinen  „Stoff"  und 
„Form"  weit  inniger  als  in  den  sogen,  agglutinierenden  verbunden  seien,  daß  aber  in 
einigen  Gliedern  der  ural-altaischen  Sprachen,  namentlich  im  Finnischen  und  Jaku- 


28l 


rentiation  zum  Wort  und  die  Integration  zum  Satz  bilden  korrelative  Me- 
thoden, die  sich  zu  einer  einzigen  streng  einheitlichen  Leistung  zusam- 
menschließen. Humboldt  und  die  ältere  Sprachphilosophie  haben  in  die- 
sem Sachverhalt  den  Beweis  dafür  gesehen,  daß  die  echten  Flexions- 
sprachen den  Gipfel  der  Sprachbildung  überhaupt  darstellen  und  daß  sich 
in  ihnen,  und  nur  in  ihnen,  die  „rein  gesetzmäßige  Form"  der  Sprache 
in  idealer  Vollkommenheit  auspräge.  Aber  auch  wenn  man  sich  gegen  die 
Aufstellung  derartiger  ahsoluter  Wertmaßstäbe  zurückhaltender  und 
skeptischer  verhält,  so  ist  doch  unverkennbar,  daß  für  die  Ausbildung  des 
rein  bezieh  entlichen  Denkens  in  den  Flexionssprachen  in  der  Tat  ein 
außerordentlich  wichtiges  und  wirksames  Organ  geschaffen  ist.  Je  mehr 
dieses  Denken  fortschreitet,  um  so  bestimmter  muß  es  auch  die  Gliede- 
rung der  Rede  nach  sich  gestalten,  —  wie  andererseits  eben  diese  Gliede- 
rung selbst  wieder  auf  die  Form  des  Denkens  entscheidend  zurückwirkt.  — 
Und  der  gleiche  Fortschritt  zur  immer  schärferen  Gliederung,  der  gleiche 
Fortgang  von  der  Einheit  eines  bloßen  Aggregats  zur  Einheit  einer  systema- 
tischen „Form"  zeigt  sich,  wenn  man  statt  des  Verhältnisses  des  Wortes  zum 
Satz  die  sprachliche  Verknüpfung  der  Einzelsätze  selbst  ins  Auge  faßt.  Inden 
ersten  Etappen  der  Sprachbildung,  zu  denen  wir  psychologisch  zurückgehen 
können,  bildet  die  einfache  Parataxe  die  Grundregel  für  den  Bau  des 
Satzes.  Die  Kindersprache  zeigt  sich  durchgehend  von  diesem  Prinzip 
beherrscht1.  Ein  Satzglied  reiht  sich  an  das  andere  in  bloßer  Nebenord- 
nung, und  auch  wo  mehrere  Sätze  zusammentreten,  weisen  sie  nur  eine 
lockere,  meist  asyndetische  Verbindung  auf.  Die  einzelnen  Sätze  können, 
wie  an  einer  Schnur  aufgereiht,  einander  folgen,  aber  sie  sind  noch 
nicht,  innerlich  miteinander  verkettet  und  ineinander  „gefügt",  so- 
fern zunächst  keinerlei  sprachliches  Mittel  besteht,  um  ihre  Über-  und 
Unterordnung  in  scharfer  Differenzierung  zu  bezeichnen.  Wenn  daher 
die  griechischen  Grammatiker  und  Rhetoren  das  Kennzeichen  des  Stils 
der  Rede  in  der  Entwicklung  der  Periode  sahen,  in  welcher  die  Sätze  nicht 
in  unbestimmter  Folge  nacheinander  hinlaufen,  sondern  in  der  sie  sich 
gleich  Steinen  eines  Gewölbes  gegenseitig  tragen  und  stützen2,  so  ist  dieser 

tischen,  beide  keineswegs  so  äußerlich  aneinanderkleben,  wie  vielfach  angenommen  wor- 
den sei.  Auch  hier  finde  vielmehr  eine  stetige  Entwicklung  zur  „Formbildung"  statt, 
die  sich  in  verschiedenen  Sprachen,  z.B.  im  Mongolischen,  im  Türkisch-Tatarischen  und 
im  Finnischen  in  ganz  verschiedenen  Phasen  darstelle.  (Die  Sprache  der  Jakuten,  Einl., 
S.  XXIV;  vgl.  bes.  Heinr.  Winkler,  Das  Uraltaische  und  seine  Gruppen,  S.  44ff-> 
über  die  „Morphologie"  der  ural-altaischen  Sprachen.) 

1  Vgl.  Gl.  und  W.  Stern,  Die  Kindersprache,  S.  182 ff. 

2  Demetrius,  De  elocutione,  §  11 — 13  (cit.  bei  Humboldt,  W.  VII,  223). 


282 


„Stil"  der  Sprache  erst  ihr  letztes  und  höchstes  Produkt.  Er  fehlt  nicht 
nur  den  Sprachen  der  Naturvölker1,  sondern  scheint  auch  in  den  höchst 
entwickelten  Kultursprachen  nur  ganz  allmählich  gewonnen  zu  werden. 
Auch  hier  muß  sehr  häufig  ein  komplexes  gedankliches  Verhältnis  kau- 
saler oder  teleologischer  Art  —  ein  Verhältnis  von  Grund  und  Folge,  von 
Bedingung  und  Bedingtem,  von  Zweck  und  Mittel  u.  s.  f.  —  durch  ein- 
fache Koordination  wiedergegeben  werden.  Oft  dient  eine  absolute  Satz- 
fügung, vergleichbar  dem  lateinischen  Ablativus  absolutus  oder  dem  grie- 
chischen Genetivus  absolutus,  dazu,  solche  komplexen  Beziehungen  des 
„indem"  und  „nachdem",  des  „weil"  und  „daher",  des  „obgleich"  und„da- 
mit"  anzudeuten.  Die  einzelnen  Gedanken,  die  die  Rede  konstituieren,  liegen 
hier  sprachlich  gleichsam  noch  in  einer  Ebene:  es  gibt  noch  keine  per- 
spektivische Unterscheidung  zwischen  Vorder-  und  Hintergrund  in  der 
Rede  selbst2.  Die  Sprache  beweist  die  Kraft  der  Unterscheidung  und  Glie- 

1  Belege  für  die  Vorherrschaft  der  Parataxe  in  den  Sprachen  der  Naturvölker  lassen  sich 
den  Darstellungen  der  meisten  Negersprachen  und  der  amerikanischen  Eingeborenen- 
sprachen entnehmen.  Für  die  ersteren  s.  z.B.  Steinthal,  Die  Mande-Negersprachen, 
S.  i2off.,  2^7ff.  und  Roehl,  Schambalasprache,  S.  27;  für  die  letzteren  s.  Gatschet, 
Klamath  language,  S.  656ff.  Im  Ewe  werden  —  nach  Westermann,  Ewe-Grammat. 
S.  106  —  alle  abhängigen  Nebensätze,  wenn  sie  vor  dem  Hauptsatze  stehen,  mit  dem 
Artikel  lä  abgeschlossen;  sie  werden  also  eigentlich  als  Satzteile,  nicht  als  Sätze  ange- 
sehen. In  der  Nubasprache  werden  die  Nebensätze  wie  Nomina  behandelt  und  er- 
scheinen daher  mit  denselben  Kasusbezeichnungen  wie  die  Nennwörter  (Reinisch, 
Nuba-Sprache,  S.  1/42). 

2  Besonders  charakteristische  Belege  hierfür  scheinen  sich  im  Kreise  der  finnisch- 
ugrischen  und  der  altaischen  Sprachen  zu  finden.  Vom  Satzbau  dieser  Sprachen  sagt 
H.  Winkler,  daß  in  ihm  ursprünglich  für  Nebensätze  aller  Art  überhaupt  kein  Raum 
sei,  weil  das  ganze  Satzgefüge  ein  adnominalartiger,  geschlossener,  einheitliche?,  wort- 
artiger Komplex  sei  oder  lediglich  die  lückenlose  Verbindung  eines  subjektartigen  Teils 
mit  einem  prädikatartigen  darstelle.  In  beiden  Fällen  trete  alles  nach  unserer  Auffas- 
sung Nebensächliche,  wie  die  zeitlichen  und  örtlichen,  die  begründenden  und  konditionalen 
Bestimmungen  zwischen  die  beiden  einzig  wesentlichen  Teile  des  Satzes  oder  Satzwortes. 
„Das  ist  keine  Fiktion,  sondern  das  ist  noch  fast  unverkennbar  das  eigentliche  Wesen 
des  Satzes  in  den  meisten  uralaltaischen  Zweigen,  so  im  Mongolischen,  Tungusischen, 
Türkischen  und  Japanischen  .  .  .  Das  Tungusische  .  .  .  macht  den  Eindruck,  als  ob  in 
diesem  eigentümlich  herausgebildeten  Idiom  für  alles,  was  an  relative  oder  relativ- 
artige  Bindung  erinnert,  überhaupt  kein  Raum  sei.  Im  Wotjakischen  erscheint  unser 
indogermanischer  konjunktionaler  Nebensatz  gleichmäßig  und  regelmäßig  in  der  Ge- 
stalt einer  dem  Satzgefüge  eingereihten  Nebenbestimmung  nach  Art  der  indogerma- 
nischen sogen,  absoluten  Genitive,  Ablative,  Akkusative."  (Der  ural-altaische  Sprach- 
stamm, S.  85f.,  i07ff.)  Auch  im  Chinesischen  ist  es  —  nach  G.  v.  d.  Gabelentz, 
Chines.  Grammatik  S.  168 f.  —  eine  häufige  Erscheinung,  daß  ganze  Sätze  einfach  an- 
einandergereiht werden  und  daß  lediglich  dem  Zusammenhange  zu  entnehmen  ist,  ob  man 
ein  zeitliches  oder  ursächliches,  ein  relatives  oder  konzessives  Verhältnis  zu  denken  habe. 


283 


derung  im  „Beisammen"  der  Teile  des  Satzes;  aber  sie  gelangt  nicht  dazu, 
dieses  rein  statische  Verhältnis  auf  ein  dynamisches,  auf  ein  Verhältnis 
der  wechselseitigen  gedanklichen  Abhängigkeit  zurückzuführen  und  es  als 
solches  zur  expliziten  Darstellung  zu  bringen.  Statt  der  Schichtung  und 
der  genauen  Abstufung  in  Nebensätze  dient  etwa  eine  einzige  Gerundial- 
konstruktion  dazu,  eine  Fülle  der  verschiedenartigsten  Bestimmungen  und 
Modifikationen  der  Handlung  ohne  das  allgemeine  Gesetz  der  Beiord- 
nung zu  verlassen,  mit  einander  zusammenschließen  und  sie  in  einem 
festen,  aber  auch  eigentümlich  starren  Gefüge  zu  umfassen1. 

Ihren  negativen,  aber  nicht  minder  charakteristischen  Ausdruck  findet 
die  Gedanken-  und  Sprachform,  die  sich  hierin  ausprägt,  in  dem  Fehlen 
derjenigen  Wortklasse,  die  —  wie  schon  die  Bezeichnung  besagt,  die  die 
Grammatiker  für  sie  geschaffen  haben  —  als  eines  der  Grundmittel  des 
beziehentlichen  Denkens  und  des  sprachlichen  Beziehungsausdrucks  anzu- 
sehen ist.  Das  Pronomen  relativum  scheint  in  der  Entwicklung  der 
Sprache  überall  eine  späte,  und  wenn  man  die  Gesamtheit  der  Sprachen 
überblickt,  eine  verhältnismäßig  seltene  Bildung  darzustellen.  Bevor  die 
Sprache  zu  dieser  Bildung  fortgeschritten  ist,  müssen  die  Verhältnisse, 
die  wir  durch  Relativsätze  zum  Ausdruck  bringen,  durch  mehr  oder  min- 
der komplexe  Satzfügungen  ersetzt  und  umschrieben  werden.  Verschiedene 
Methoden  dieser  Umschreibung  hat  Humboldt  am  Beispiel  der  ameri- 
kanischen Eingeborenensprachen,  insbesondere  am  Beispiel  des  Peru- 
anischen und  Mexikanischen,  erläutert2.  Auch  die  melanesischen  Spra- 
chen lassen  an  Stelle  der  Unterordnung  durch  Relativsätze  und  relative 

1  Höchst  markante  Beispiele  für  derartige  Satzfügungen  werden  z.  B.  von  J.  J.  Schmidt 
in  seiner  „Grammatik  der  mongolischen  Sprache"  (bes.  S.  62 ff.,  i2  4ff.)  angeführt. 
Ein  Satz  wie  unser  deutscher  Satz:  „Nachdem  ich  das  Pferd  von  meinem  älteren  Bru- 
der erbeten  und  es  meinem  jüngeren  Bruder  übergeben  hatte,  nahm  dieser  dasselbe  von 
mir  in  Empfang,  bestieg  es,  während  ich  ins  Haus  ging,  um  einen  Strick  zu  holen,  und 
entfernte  sich,  ohne  Jemandem  etwas  zu  sagen"  lautet  im  Mongol.  so,  daß  er,  wörtlich 
übersetzt  besagt:  „Ich  das  Pferd  von  meinem  älteren  Bruder  erbittend  nehmend,  meinem 
jüngeren  Bruder  gegeben  habend,  dieser  dasselbe  von  mir  empfangend,  einen  Strick  zu 
holen  in  das  Haus  (während)  ich  ging,  der  jüngere  Bruder,  Jemandem  ohne  etwas  zu 
sagen,  es  besteigend  sich  entfernte."  (Hierbei  ist  noch  —  wie  H.  Winkler  a.a.O., 
S.  112  bemerkt  —  durch  das  Wort  ,während'  in  der  Übersetzung  ein  konjunktionales 
Verhältnis  eingeflochten,  wo  die  entsprechende  Stelle  des  Textes  keinerlei  Konjunktion 
aufweist.)  Ähnliche,  ebenfalls  sehr  bezeichnende  Beispiele  der  Satzkonstruktion  durch 
Anwendung  der  Gerundia,  Supina  und  partizipialähnlicher  Bildungen  werden  von  J. 
J.  Schmidt  z.B.  aus  dem  Tibetanischen  angeführt  (Tibet.  Grammat.,  S.  197). 

2  S.  Einleit.  zum  Kawi-Werk  (W.  VII,  1,  2Ö3f.).  Auch  die  Klamath-Sprache  gebraucht 
dort,  wo  wir  eingeschobene  Relativsätze  anwenden,  einen  Partizipial-  oder  Verbalaus- 
druck, s.  Gatschet,  Klamath  language,  S.  657. 


284 


Pronomina  eine  einfache  Nebenordnung  von  Bestimmungen  treten1.  Was 
das  Ural-Altaische  betrifft,  so  betont  H.  Winkler,  daß  es  gemäß  seinem 
Grundcharakter,  der  selbständige  Nebeneinheiten  nicht  duldet,  in  all 
seinen  Zweigen  relativartige  satzbindende  Konjunktionen  ursprünglich 
überhaupt  nicht  oder  nur  in  schwachen  Ansätzen  kenne  —  wo  später 
solche  Konjunktionen  gebraucht  würden,  da  gingen  sie  regelmäßig,  wenn 
nicht  immer,  auf  reine  Interrogativa  zurück.  Insbesondere  die  westliche 
Gruppe  des  Ural-Altaischen,  die  Gruppe  der  finnisch-ugrischen  Sprachen, 
ist  zu  dieser  Entwicklung  der  relativen  Pronomina  aus  dem  Interrogativum 
fortgeschritten,  bei  der  jedoch  vielfach  indogermanische  Einflüsse  als  mit- 
wirkend angesehen  werden2.  In  anderen  Sprachen  wieder  werden  zwar 
durch  besondere  Partikel  selbständige  Relativsätze  gebildet,  dabei  werden 
sie  aber  so  gänzlich  als  substantivische  Nomina  empfunden,  daß  ihnen  der 
bestimmte  Artikel  vorangestellt  wird,  oder  daß  sie  als  Subjekt  oder  Objekt 
eines  Satzes,  als  Genitiv,  nach  einer  Präposition  u.  s.  f.  gebraucht  werden 
können3.  In  all  diesen  Erscheinungen  scheint  deutlich  hervorzutreten, 
wie  die  Sprache  die  reine  Kategorie  der  Relation  gleichsam  nur  zögernd 
ergreift  und  wie  sie  ihr  nur  auf  dem  Umweg  über  andere  Kategorien, 
insbesondere  über  die  der  Substanz  und  der  Eigenschaft4,  gedanklich  faß- 
bar wird.  Und  dies  gilt  selbst  für  diejenigen  Sprachen,  die  in  ihrer  Ge- 
samtstruktur den  eigentlichen  „Stil"  der  Rede,  die  Kunst  der  hypotak- 
tischen Gliederung  schließlich  bis  zur  höchsten  Feinheit  durchgebildet 
haben.  Auch  die  indogermanischen  Sprachen,  von  denen  man  ge- 
sagt hat,  daß  sie,  dank  ihrer  erstaunlichen  Fähigkeit  zur  Differenzie- 
rung des  Beziehungsausdrucks,  die  eigentlichen  Sprachen  des  philo- 
sophischen Idealismus  seien,  haben  diese  Fähigkeit  nur  allmählich  und 
schrittweise  erlangt5.  Auch  in  ihnen  zeigt  z.  B.  ein  Vergleich  zwischen 

1  Beispiele  bes.  bei  H.  G.  v.  d.  Gabelentz,  Die  melanes.  Sprachen  I,  202f.,  232f., 
II,  28;  Codrington,  Melanes.  languages,  S.  i36. 

2  S.  Winkler,  Der  Uralaltaische  Sprachstamm,  S.  86ff.,  o,8f.,  noff.;  vgl.  auch 
Simonyi,  Die  ungar.  Sprache,  S.  257,  423. 

3  Vgl.  Steindorff,  Koptische  Grammatik,  S.  227ff;  —  auch  in  den  semitischen  Spra- 
chen ist  die  „Substantivierung  asyndetischer  Relativsätze"  häufig,  s.  hierüber  Brockel- 
mann, Grundriß  II,  56iff. 

4  So  besitzt  z.  B.  das  Japanische  (nach  Hoffmann,  Japan.  Sprachlehre,  S.  99) 
keine  Relativsätze,  sondern  muß  sie  in  adjektivische  Sätze  verwandeln;  ähnliches  gilt 
für  das  Mongolische,  vgl.  J.  J.  Schmidt,  Grammat.  der  mongol.  Sprache,  S.  47f-, 
I27f . 

5  „Les  langues  de  cette  famille  semblent  creees  pour  l'abstraction  et  la  metaphisique. 
Elles  ont  une  souplesse  merveilleusse  pour  exprimer  les  relations  les  plus  intimes  des 
choses  par  les  flexions  de  leurs  noms,  par  les  temps  et  les  modes  si  varies  de  leurg 


285 


dem  Bau  des  Griechischen  und  dem  des  Sanskrit,  wie  die  einzelnen  Glie- 
der dieser  Gruppe  in  Hinsicht  auf  die  Kraft  und  Freiheit  des  beziehent- 
lichen  Denkens  und  des  rein  beziehentlichen  Ausdrucks,  auf  ganz  ver- 
schiedenen Stufen  stehen.  In  der  Urzeit  scheint  auch  hier  die  Hauptsatz- 
form gegenüber  der  Nebensatzform,  die  parataktische  gegenüber  der  hy- 
potaktischen Verbindung  deutlich  den  Vorrang  zu  behaupten.  Wenn  diese 
Urzeit  bereits  Relativsätze  besaß,  so  hat  ihr  doch,  nach  dem  Zeugnis  der 
Sprachvergleichung,  ein  fester  Bestand  scharf  gegeneinander  abgegrenzter 
Konjunktionen  zum  Ausdruck  des  Grundes,  der  Folge,  der  Anreihung, 
des  Gegensatzes  u.  s.  f.  noch  gemangelt1.  Im  Altindischen  fehlen  die  Kon- 
junktionen als  eine  fest  ausgeprägte  Wortklasse  fast  gänzlich:  was  an- 
dere Sprachen,  vor  allem  das  Lateinische  und  Griechische  durch  subordi- 
nierende Konjunktionen  zum  Ausdruck  bringen,  wird  hier  durch  das  in 
seinem  Gebrauch  fast  unumschränkte  Prinzip  der  Nominalkomposition 
und  durch  Erweiterungen  des  Hauptsatzes  durch  Partizipien  und  Ge- 
rundien ersetzt2.  Aber  auch  im  Griechischen  selbst  hat  sich  der  Fortgang 
von  dem  parataktischen  Bau  der  Homerischen  Sprache  zu  dem  hypotak- 
tischen der  attischen  Kunstprosa  nur  allmählich  vollzogen3.  In  alledem 
bewährt  sich,  daß  dasjenige,  was  Humboldt  den  Akt  des  selbsttätigen, 
des  synthetischen  Setzens  in  den  Sprachen  genannt  hat,  und  was  er, 
außer  im  Verbum,  besonders  im  Gebrauch  der  Konjunktionen  und  des 
Relativpronomens  ausgeprägt  sah,  eines  der  letzten  ideellen  Ziele  der 
Sprachbildung  ist,  zu  dem  sie  nur  durch  mannigfaltige  Vermittlungen 
gelangt. 

In  besonderer  Schärfe  und  Deutlichkeit  stellt  sich  dies  schließlich  in 

verbes,  par  leurs  mots  composes,  par  la  delicatesse  de  leurs  particules.  Possedant  seules 
l'admirable  secret  de  la  periode  elles  savent  relier  dans  un  tout  les  membres  divers  de 
la  phrase  .  .  .  Tout  devient  pour  elles  abstraction  et  categorie.  Elles  sont  les  langues  de 
l'idealisme."  Renan,  De  l'origine  du  langage  8,  S.  ip,4- 

1  „Die  Relativsätze"  —  sagt  Meillet,  Introduct.  ä  l'etude  comparative  des  langues  indo- 
europeennes,  dtsch.  Ausg.  von  Printz,  S.  23i  —  „sind  die  einzigen  subordinierten 
Sätze,  die  man  füglich  als  idg.  ansehen  darf.  Die  anderen  Typen,  namentlich  die  Kon- 
ditionalsätze, haben  in  jedem  idg.  Dialekt  eine  andere  Form."  Etwas  anders  wird  das 
Verhältnis  von  Brugmann  gefaßt,  der  die  mangelnde  Übereinstimmung  daraus  er- 
klärt, daß  konjunktionale  Partikel  in  der  Urzeit  zwar  vorhanden  gewesen  seien,  daß  sie 
aber  in  ihr  noch  einen  weiteren  Gebrauchsbereich  gehabt  hätten  und  noch  nicht  als 
Ausdruck  für  ein  bestimmtes  einzelnes  Gedankenverhältnis  fixiert  gewesen  seien  (Kurze 
vgl.  Grammat.  S.  653). 

2  Beispiele  s.  bei  Whitney,  Ind.  Grammatik,  S.  3g4f -  und  bei  Thumb,  Handbuch 
des  Sanskrit,  S.  434,  47&ff. 

3  Näheres  bei  Brugmann,  Griech.  Grammat.3,  S.  555f. 


286 


der  Ausgestaltung  derjenigen  Sprachform  dar,  die  sich  ihrer  Grundbe- 
deutung nach  von  allem  dinglich-substantiellen  Ausdruck  prinzipiell  schei- 
det, um  lediglich  dem  Ausdruck  der  Synthesis  als  solcher,  dem  Aus- 
druck der  reinen  Verknüpfung  zu  dienen.  Im  Gebrauch  der  Kopula  erst 
gewinnt  die  logische  Synthesis,  die  sich  im  Urteil  vollzieht,  ihre  adäquate 
sprachliche  Bezeichnung  und  Bestimmung.  Schon  die  „Kritik  der  reinen 
Vernunft"  hat  sich  in  ihrer  Analyse  der  reinen  Urteilsfunktion  auf  die- 
sen Zusammenhang  hingewiesen  gesehen.  Das  Urteil  bedeutet  für  sie  die 
„Einheit  der  Handlung",  durch  welche  das  Prädikat  auf  das  Subjekt  be- 
zogen und  mit  ihm  zu  einem  Sinnganzen,  zur  Einheit  eines  objektiv  be- 
stehenden und  objektiv  gegründeten  Zusammenhangs  verknüpft  wird.  Und 
diese  intellektuelle  Einheit  der  Handlung  ist  es  nun,  die  in  der  sprach- 
lichen Verwendung  der  Kopula  ihre  Darstellung  und  ihr  Gegenbild  findet. 
„Wenn  ich  die  Beziehung  gegebener  Erkenntnisse  in  jedem  Urteile  ge- 
nauer untersuche  —  so  heißt  es  in  dem  Abschnitt  über  die  transzendentale 
Deduktion  der  reinen  Verstandsbegriffe  —  und  sie,  als  dem  Verstände 
angehörige,  von  dem  Verhältnisse  nach  Gesetzen  der  reproduktiven  Ein- 
bildungskraft (welches  nur  subjektive  Gültigkeit  hat)  unterscheide,  so 
finde  ich,  daß  ein  Urteil  nichts  andres  sei  als  die  Art  gegebene  Erkennt- 
nisse zur  objektiven  Einheit  der  Apperzeption  zu  bringen.  Darauf  zielt 
das  Verhältniswörtchen  „ist"  in  denselben,  um  die  objektive  Einheit  ge- 
gebener Vorstellungen  von  der  subjektiven  zu  unterscheiden.  Denn  dieses 
bezeichnet  die  Beziehung  derselben  auf  die  ursprüngliche  Apperzeption 
und  die  notwendige  Einheit  derselben."  Sage  ich:  ,der  Körper  ist 
schwer',  so  will  dies  soviel  sagen,  als  daß  Körperlichkeit  und  Schwere  im 
Objekt  miteinander  verbunden  seien  und  nicht  etwa  bloß  in  der  subjek- 
tiven Wahrnehmung  jederzeit  beisammenstehen1.  So  eng  stellt  sich  selbst 
für  den  reinen  Logiker  Kant  die  Beziehung  dar,  die  zwischen  dem  objek- 
tiven Sinn  des  Urteils  und  der  sprachlichen  Form  der  prädikativen  Aus- 
sage besteht.  Für  die  Entwicklung  der  Sprache  aber  ist  freilich  klar,  daß 
sie  zu  der  Abstraktion  jenes  reinen  Seins,  das  sich  in  der  Kopula  aus- 
drückt, nur  ganz  allmählich  vordringen  kann.  Der  Ausdruck  des  „Seins" 
als  einer  reinen  transzendentalen  Beziehungsform  ist  für  sie,  die  ur- 
sprünglich ganz  in  der  Anschauung  des  substantiellen,  des  gegenständ- 
lichen Daseins  steht  und  an  sie  gebunden  bleibt,  immer  erst  ein  spätes 
und  mannigfach-vermitteltes  Ergebnis.  So  zeigt  sich  in  einer  großen  Zahl 
von  Sprachen,  daß  sie  eine  Kopula,  in  unserem  logisch-grammatischen 
Sinne,  überhaupt  nicht  kennen  und  daß  sie  ihrer  nicht  bedürfen.  Ein  ein- 

1  S.  Krit.  d.  rein.  Vern.,  zweite  Aufl.,  S.  i/jiff. 


287 


heitlicher  und  allgemeiner  Ausdruck  dessen,  was  in  unserm  „Verhältnis- 
wörtchen ist"  bezeichnet  wird,  fehlt  nicht  nur  den  Sprachen  der  Natur- 
völker —  wie  den  meisten  Negersprachen,  den  Sprachen  der  amerika- 
nischen Eingeborenen  u.  s.  f.  —  sondern  er  ist  auch  in  anderen  hochent- 
wickelten Sprachen  nicht  zu  finden.  Selbst  dort,  wo  eine  Unterscheidung 
des  prädikativen  Verhältnisses  vom  rein  attributiven  vorhanden  ist,  braucht 
das  erstere  keine  besondere  sprachliche  Auszeichnung  zu  erfahren.  So 
wird  z.  B.  im  ural-altaischen  Kreis  die  Verbindung  des  Subjektsausdrucks 
mit  dem  Prädikatsausdruck  fast  durchweg  durch  einfache  Nebenein- 
anderfügung beider  vollzogen,  so  daß  ein  Ausdruck  wie  ,die  Stadt  groß', 
„die  Stadt  ist  groß*',  ein  Ausdruck  wie  ,ich  Mann'  „ich  bin  ein  Mann" 
besagt  u.s.  f.1.  In  andern  Sprachen  begegnen  zwar  vielfach  Wendungen, 
die  auf  den  ersten  Blick  ganz  dem  Gebrauch  unserer  Kopula  zu  ent- 
sprechen scheinen,  die  aber  in  Wahrheit  hinter  der  Allgemeinheit  ihrer 
Funktion  weit  zurückbleiben.  Das  „Ist"  der  Kopula  hat  hier,  wie  sich 
bei  näherer  Analyse  ergibt,  nicht  den  Sinn  eines  universellen,  der  Ver- 
knüpfung schlechthin  dienenden  Ausdrucks,  sondern  es  haftet  ihm  eine 
besondere  und  konkrete,  meist  eine  örtliche  oder  zeitliche  Nebenbedeutung 
an.  Statt  des  rein  beziehentlichen  Seins  findet  sich  ein  Ausdruck,  der  die 
Existenz  an  diesem  oder  jenem  Ort  ein  Da-  oder  Dort-sein  oder  auch 
die  Existenz  in  diesem  oder  jenem  Moment  bezeichnet.  Demgemäß  tritt 
hier  eine  Differenzierung  im  Gebrauch  der  scheinbaren  Kopula  je  nach 
der  verschiedenen  räumlichen  Lage  des  Subjekts  oder  nach  sonstigen  an- 
schaulichen Modifikationen,  mit  denen  es  gegeben  ist,  ein  —  so  daß  also 
eine  andere  „Kopula"  verwendet  wird,  wenn  das  Subjekt,  von  dem  die 
Rede  ist,  steht,  als  wenn  es  sitzt  oder  liegt,  eine  andere,  wenn  es  wacht,  als 
wenn  es  schläft  u.s.  f.2.  An  die  Stelle  des  formalen  Seins  und  des  for- 

1  Vgl.  H.  Winkler,  Der  uralaltaische  Sprachstamm,  S.  68 f.;  für  die  finnisch-ugrischen 
Sprachen  s.  z.B.  Simonyi,  Die  ungar.  Sprache,  S.  4o3f. 

2  Beispiele  hierfür  finden  sich  insbesondere  in  den  amerikanischen  Sprachen:  so  fehlt 
z.B.  den  Algonkinsprachen  ein  allgemeines  Verbum  des  „Seins",  während  sie  eine  große 
Zahl  von  Worten  besitzen,  die  das  Sein  an  diesem  oder  jenem  Ort,  zu  dieser  oder  jener  Zeit 
oder  unter  dieser  oder  jener  besonderen  Bedingung  bezeichnen.  In  der  Klamath-Sprache  ist 
das  Verbum  (gi),  das  als  Ausdruck  des  kopulativen  Seins  verwendet  wird,  in  Wahrheit  eine 
demonstrative  Partikel,  die  ein  Da-  oder  Dort-sein  ausdrückt.  (Näheres  bei  Gatschet, 
Klamath  language,  S.  A3off.,  67/if.  und  bei  Trumbull,  Transactions  of  the  Americ. 
Philol.-Assoc.  1869/70).  Auch  die  Indianersprachen  der  Maya-Familie  verwenden  in 
der  prädikativen  Aussage  bestimmte  Demonstrativpartikel,  die  z.  B.  mit  Tempuszeichen 
verbunden  werden  können  und  dann  ganz  den  Anschein  eines  echten  Verbum  substan- 
tivum  gewinnen.  Doch  entspricht  keine  dieser  Partikel  dem  allgemeinen  und  rein 
beziehentlichen  Ausdruck  des  Seins:  vielmehr  fallen  die  einen  unter  den  Nominal- 


288 


malen  Sinns  der  Verknüpfung  treten  hier  also  immer  mehr  oder  weniger 
material  gefaßte  Ausdrücke,  die  noch  gleichsam  die  Farbe  einer  ein- 
zelnen sinnlich-gegebenen  Wirklichkeit  an  sich  tragen1. 

Und  auch  dort,  wo  die  Sprache  bereits  dazu  fortgeschritten  ist,  alle 
diese  Sonderbestimmungen  der  Existenz  in  einen  allgemeinen  Seinsaus- 
druck zusammenzufassen,  bleibt  noch  immer  der  Abstand  fühlbar,  der 
zwischen  jedem  noch  so  umfassenden  Ausdruck  des  bloßen  Daseins 
und  dem  „Sein"  als  Ausdruck  der  reinen  prädikativen  „Synthesis"  be- 
steht. Hier  spiegelt  die  Sprachentwicklung  ein  Problem  wieder,  das  weit 
über  ihren  eigenen  Umkreis  hinausreicht,  und  das  noch  in  der  Geschichte 
des  logischen  und  philosophischen  Denkens  eine  entscheidende  Rolle  ge- 
spielt hat.  Deutlicher  als  an  irgend  einem  andern  Punkte  läßt  sich  hier 
erkennen,  wie  dieses  Denken  sich  zwar  mit  der  Sprache,  aber  zugleich 
immer  auch  gegen  sie  entwickelt.  Von  den  Eleaten  an  läßt  sich  das  große 
Ringen  verfolgen,  das  der  philosophische  Idealismus  mit  der  Sprache  und 
mit  der  Vieldeutigkeit  ihres  Seinsbegriffs  zu  führen  hat.  Mit  der  reinen 
Vernunft  den  Streit  um  das  wahre  Sein  zu  entscheiden  —  das  war  die 
scharf  bestimmte  Aufgabe,  die  Parmenides  sich  stellte.  Aber  ist  dieses 
wahrhafte  Sein  der  Eleatik  rein  im  Sinn  des  logischen  Urteils  gegründet, 
entspricht  es  lediglich  dem  eozi  der  Kopula,  als  der  Grundform  jeder 
gültigen  Aussage,  —  oder  haftet  auch  ihm  noch  eine  andere,  eine  kon- 
kretere Urbedeutung  an,  durch  die  es  der  Anschauung  einer  „wohlgerun- 
deten Kugel"  vergleichbar  wird?  Parmenides  unternimmt  den  Versuch, 
sich  ebenso  wie  aus  den  Fesseln  der  gewöhnlichen  sinnlichen  Weltansicht 
auch  aus  den  Fesseln  der  Sprache  zu  lösen.  „Darum  —  so  verkündet  er  — 

begriff:  „gegeben,  gesetzt,  vorhanden",  während  andere  die  Lage  an  einem  bestimmten 
Ort  oder  das  Geschehen  zu  einer  bestimmten  Zeit  andeuten.  (Vgl.  Seier,  Das  Konju- 
gationssystem der  Maya-Sprachen,  S.  8  und  i4-)  Eine  analoge  Besonderung  findet  sich 
in  den  melanesischen  Sprachen  und  in  vielen  afrikanischen  Sprachen.  „Ein  eigentliches 
Verbum  substantivum  —  so  sagt  z.B.  H.  C.  v.  d.  Gabelentz  —  fehlt  im  Fidschi; 
zuweilen  kann  es  durch  yaco  geschehen,  werden,  tu  da  sein,  vorhanden  sein,  tiko  da  sein, 
dauern  usw.  gegeben  werden,  doch  immer  mit  einer  dem  eigentlichen  Begriff  dieser 
Verba  entsprechenden  Nebenbedeutung."  (Die  melanes.  Sprachen,  S.  l\o;  vgl.  bes. 
S.  106.)  Für  die  afrik.  Sprachen  vgl.  z.B.  die  verschiedenen  Ausdrücke  für  das  Ver- 
bum substantivum  die  Migeod  (Mende  Language,  S.  7Öff.)  aus  den  Mande-Neger- 
sprachen  und  die  Westermann  (Ewegrammat.,  S.  70)  aus  dem  Ewe  anführt. 
1  So  bleibt  z.  B.  im  Nikobarischen  das  Sein  der  bloß  kopulativen  Verknüpfung 
stets  unausgedrückt:  das  „Verbum  substantivum"  hat  hier  stets  den  Sinn  des  Daseins, 
des  Existierens  und  Vorhandenseins,  insbesondere  des  Daseins  an  einem  bestimmten 
Orte,  s.  Roepstorff,  A  Dictionary  of  the  Nancowry  Dialect  of  the  Nicobarese  lan- 
guage, Calcutta  i884,  S.  XVII,  XXIVf. 


19 


289 


ist  all  das  bloßer  Name,  was  die  Sterblichen  in  der  Überzeugung,  es  sei 
wahr,  festgelegt  haben:  nämlich  Werden  und  Vergehen,  Sein-  und  zu- 
gleich Nicht-Sein,  wie  Veränderung  des  Orts  und  Wechsel  der  leuch- 
tenden Farbe."  Und  doch  ist  auch  er  im  Ausdruck  seines  höchsten  Prin- 
zips noch  einmal  der  Gewalt  der  Sprache  und  der  schillernden  Vielfältig- 
keit ihres  Seinsbegriffs  erlegen.  In  der  Eleatischen  Grundformel,  in  dem 
Satz :  sott  xö  elvai  gehen  die  verbale  und  die  substantivische,  die  prädi- 
kative und  die  absolute  Bedeutung  des  Seins  unmittelbar  in  einander  über. 
Auch  Pia  ton  ist  hier  erst  nach  langen  gedanklichen  Kämpfen,  die  sich 
am  deutlichsten  in  dem  nach  Parmenides  benannten  Dialog  widerspiegeln, 
zu  einer  schärferen  Scheidung  gelangt.  Im  „Sophistes",  der  diese  Kämpfe 
abschließt,  wird  zum  erstenmal  in  der  Geschichte  der  Philosophie  die  lo- 
gische Natur  der  reinen  Relationsbegriffe  klar  herausgearbeitet  und  das 
eigentümliche,  das  spezifische  „Sein",  das  ihnen  zukommt,  bestimmt. 
Von  dieser  neu  gewonnenen  Einsicht  aus  kann  Piaton  der  gesamten 
früheren  Philosophie  entgegenhalten,  daß  sie  das  Prinzip  des  Seins  ge- 
sucht habe,  aber  statt  den  wahren  und  radikalen  Ursprung  des  Seins 
immer  nur  einzelne  seiner  Arten,  immer  nur  bestimmte  Formen  des 
Seienden  aufgewiesen  und  zur  Grundlage  gemacht  habe.  Aber  selbst  mit 
dieser  prägnanten  Formulierung  ist  der  Gegensatz,  der  sich  im  Begriff 
des  Seins  birgt,  nicht  aufgehoben,  sondern  erst  scharf  bezeichnet.  Durch 
die  Geschichte  des  gesamten  mittelalterlichen  Denkens  geht  fortan  dieser 
Gegensatz  hindurch.  Die  Frage,  wie  die  beiden  Grundarten  des  Seins, 
wie  „Essenz"  und  „Existenz"  gegeneinander  abzugrenzen  und  wie  sie 
trotz  dieser  Abgrenzung  miteinander  zu  vereinen  sind,  wird  zu  einem  Zen- 
tralproblem der  mittelalterlichen  Philosophie.  Im  ontologischen  Gottesbe- 
weis, als  dem  spekulativen  Mittelpunkt  der  mittelalterlichen  Theologie 
und  Metaphysik,  erfährt  diese  Frage  ihre  schärfste  Zuspitzung.  Aber  auch 
die  moderne  kritische  Form  des  Idealismus,  die  auf  den  „stolzen  Namen 
einer  Ontologie"  verzichtet,  um  sich  mit  dem  bescheidenen  einer  „Ana- 
lytik des  reinen  Verstandes"  zu  begnügen,  sieht  sich  immer  wieder  in  die 
Mehrdeutigkeit  des  Seinsbegriffs  verstrickt.  Noch  nach  der  Kantischen 
Kritik  des  ontologischen  Beweises  hält  es  Fichte  für  erforderlich,  aus- 
drücklich auf  den  Unterschied  des  prädikativen  und  des  absoluten  Seins 
hinzuweisen.  Indem  er  in  der  „Grundlage  der  gesamten  Wissenschafts- 
lehre" den  Satz  A  ist  A  als  den  ersten,  schlechthin  unbedingten  Grundsatz 
aller  Philosophie  aufstellt,  fügt  er  hinzu,  daß  in  diesem  Satz,  in  welchem 
das  „Ist"  lediglich  die  Bedeutung  der  logischen  Kopula  habe,  über  die  Exi- 
stenz oder  Nicht-Existenz  des  A  nicht  das  Geringste  ausgesagt  werde.  Das 


290 


Sein  ohne  Prädikat  gesetzt  drücke  ganz  etwas  anderes  aus  als  sein  mit  einem 
Prädikate :  der  Satz  „A  ist  A"  behaupte  nur,  wenn  A  sei,  so  sei  A;  dagegen 
sei  in  ihm  davon,  ob  überhaupt  A  sei  oder  nicht,  gar  nicht  die  Frage1.  — 
Wenn  in  dieser  Weise  selbst  das  philosophische  Denken  beständig  mit 
der  Unterscheidung  zweier  Seinsbegriffe  zu  ringen  hat,  —  so  ist  es  be- 
greiflich, daß  im  sprachlichen  Denken  beide  von  Anfang  an  nur  in  eng- 
ster Verflechtung  miteinander  auftreten,  und  daß  es  nur  ganz  allmäh- 
lich gelingt,  den  reinen  Sinn  der  Kopula  aus  dieser  Verflechtung  heraus- 
zulösen. Daß  die  Sprache  ein  und  dasselbe  Wort  benutzt,  um  den  Be- 
griff der  Existenz  und  um  den  der  prädikativen  Verbindung  zu  bezeichnen, 
ist  eine  weit  verbreitete,  nicht  auf  einzelne  Sprachstämme  beschränkte  Er- 
scheinung. Um  hier  nur  das  Indogermanische  zu  betrachten,  so  zeigt  sich 
in  ihm  überall,  daß  die  mannigfachen  Bezeichnungen,  die  es  zur  Darstel- 
lung des  prädikativen  Seins  verwendet,  sämtlich  auf  die  Urbedeutung  des 
„Daseins"  zurückgehen:  sei  es,  daß  dieses  letztere  in  ganz  allgemeinem 
Sinne,  als  bloßes  Vorhandensein,  sei  es,  daß  es  in  einem  besonderen  und 
konkreten  Sinne,  als  Leben  und  Atmen,  als  Wachsen  und  Werden,  als 
Dauern  und  Verweilen  gefaßt  wird.  ,,Die  Kopula"  —  so  sagt  Brug- 
mann  hierüber  —  „war  ursprünglich  ein  Verbum  mit  anschaulicher  Be- 
deutung (die  Grundbedeutung  von  *es-mi  'ich  bin'  ist  unbekannt,  die 
älteste  belegbare  ist  'ich  existire')  und  das  Substantiv  oder  Adjektiv  war 
Apposition  zum  Subjekt,  die  mit  dem  Prädikatsverbum  in  innere  Be- 
ziehung gesetzt  war  (die  Erde  ist  eine  Kugel  =  die  Erde  existiert  als 
Kugel).  Das  sogen.  Herabsinken  des  Verbums  zur  Kopula  geschah  da- 
durch, daß  der  Nachdruck  auf  das  Prädikatsnomen  rückte,  so  daß  es  auf 
den  Vorstellungsinhalt  des  Verbums  nicht  mehr  ankam  und  dieser  sich 
verflüchtigte.  Das  Verbum  wurde  so  bloßes  Formwort  .  .  .  Als  Kopula 
fungierte  in  uridg.  Zeit  sicher  es-  'sein',  daneben  vielleicht  auch  schon 
Formen  von  bheu-  'wachsen,  werden',  das  sich  damals  mit  es-  suppletiv 
verband1."  Näher  scheint  die  Differenzierung  im  Gebrauch  beider  Wur- 
zeln so  erfolgt  zu  sein,  daß  es  (as)  als  Ausdruck  der  gleichmäßig  fortge- 
setzten Existenz  gefaßt  und  demgemäß  für  die  Bildung  der  durativen 
Formen  des  Präsensstammes  verwendet  wurde,  während  die  Wurzel  bheu, 
als  Ausdruck  des  Werdens,  vorzugsweise  in  den  Zeitformen  zur  Anwendung 
kam,  welche  wie  der  Aorist  und  das  Perfekt  ein  eintretendes  oder  vollen- 
detes Geschehen  bezeichnen  (vgl.  z-cpV-v,  jie-(pv-xa,  fui)2.  Die  sinnliche 

1  Gf.  Fichte,  S.  W.  I,  Q2f. 

2  S.  Brugmann,  Kurze  vgl.  Grammat.,  S.  627;  Curtius,  Grundz.  der  griech.  Etymo- 
logie 5,  S.  3o4,  375. 


Grund-  und  Urbedeutung  der  letzteren  Wurzel  ist  —  im  Gebrauch  von 
cpvco  'ich  zeuge',  von  (pvojuac  'ich  wachse*  u.  s.  f.  —  im  Griechischen  noch 
deutlich  spürbar.  Im  Germanischen  tritt  neben  die  Wurzel  bheu,  die  in 
die  Bildung  des  Präsensstammes  (ich  bin,  du  bist  etc.)  eindringt,  die 
Hilfswurzel  ues  (got.  wisan,  ich  war  etc.),  die  ursprünglich  den  Sinn  des 
Wohnens  und  Verweilens,  des  Dauerns  und  „Währens"  (ahd.  weren)  be- 
sitzt. Wieder  anders  hat  sich  die  Entwicklung  im  Romanischen  gestaltet, 
in  welchem  der  Ausdruck  des  Seinsbegriffs  an  die  anschauliche  Bedeu- 
tung des  Stehens  geknüpft  erscheint1.  Und  wie  sich  hier  der  Ausdruck 
des  Seins  an  die  Vorstellung  der  örtlichen  Beharrung  und  der  Ruhe  an- 
lehnt, so  lehnt  sich  umgekehrt  der  Ausdruck  des  Werdens  an  die  Vorstel- 
lung der  Bewegung  an:  die  Anschauung  des  Werdens  wird  aus  der  des 
Drehens,  sich  Wendens  entwickelt2.  Auch  aus  der  konkreten  Bedeutung 
des  Kommens  und  Gehens  kann  sich  die  allgemeine  des  Werdens  ent- 
falten3. In  alledem  zeigt  sich,  daß  auch  diejenigen  Sprachen,  in  denen 
der  Sinn  für  die  logische  Eigenart  der  Kopula  scharf  entwickelt  ist,  sich 
in  der  Bezeichnung  derselben  zunächst  nur  wenig  von  anderen  unter- 
scheiden, denen  dieser  Sinn  entweder  ganz  abgeht,  oder  die  es  zum  min- 
desten zu  einem  umfassenden  und  allgemeingültigen  Ausdruck  des  Ver- 
bum  substantivum  nicht  gebracht  haben.  Auch  hier  kann  die  geistige 
Form  des  Beziehungsausdrucks  sich  immer  nur  in  einer  bestimmten  mate- 
rialen  Umhüllung  darstellen,  die  aber  schließlich  so  weit  durchdrungen 
und  bewältigt  wird,  daß  sie  nicht  mehr  als  bloße  Schranke,  sondern  als 
der  sinnliche  Träger  eines  rein  ideellen  Bedeutungsgehalts  erscheint.  — 

So  bewährt  sich  an  dem  allgemeinen  Beziehungsausdruck,  der  sich 
in  der  Kopula  darstellt,  die  gleiche  Grundrichtung  der  Sprache,  die  wir 
in  aller  sprachlichen  Gestaltung  der  besonderen  Beziehungsbegriffe  ver- 
folgen konnten.  Es  ist  dieselbe  Wechselbestimmung  des  Sinnlichen  durch 
das  Geistige,  des  Geistigen  durch  das  Sinnliche,  die  wir  auch  hier  wie- 
derfinden —  wie  wir  sie  zuvor  in  der  sprachlichen  Darstellung  der  Raum- 
und  Zeitbeziehung,  der  Zahlbeziehung  und  der  Ich-Beziehung  gefunden 

1  Vgl.  italien.  stato,  franz.  ete  von  lat.  stare  als  Partizipialformen  zu  essere  und  etre. 
Eben  dieser  Hilfsgebrauch  des  sta  —  ,stehen*  war  nach  Osthoff,  Vom  Suppletivwesen 
der  idg.  Sprachen,  S.  i5  auch  der  altkeltischen  Sprache  bekannt. 

2  So  hängt  got.  wairpan  (werden)  mit  lat.  vertere  etymologisch  zusammen  und  ebenso 
geht  z.  B.  das  griechische  tibIco  auf  eine  Wurzel  zurück,  die  im  Altindischen  ,sich  regen, 
bewegen,  umherstreichen,  fahren,  wandern'  besagt.  Näheres  bei  Brugmann,  Kurze  vgl. 
Grammat.,  S.  628  und  bei  Delbrück,  Vgl.  Syntax  III,  12 ff. 

3  Vgl.  z.  B.  in  den  neueren  Sprachen:  diventare,  divenire,  devenir,  engl,  to  become, 
vgl.  auch  Humboldt,  Einl.  zum  Kawi-Werk,  W.  VII,  2 18 f. 


292 


haben.  Es  liegt  nahe,  die  innige  Verflechtung,  die  beide  Momente  in  der 
Sprache  eingehen,  im  sensualistischen  Sinne  zu  deuten  —  und  schon 
Locke  hat,  auf  Grund  einer  derartigen  Deutung,  die  Sprache  als  einen 
Hauptzeugen  für  seine  empiristische  Grundansicht  der  Erkenntnis  in  An- 
spruch genommen1.  Aber  auch  für  das  sprachliche  Denken  darf  man  sich, 
solchen  Deutungen  gegenüber,  auf  den  scharfen  Unterschied  berufen,  den 
Kant,  innerhalb  der  Kritik  der  Erkenntnis,  zwischen  „Anheben"  und  „Ent- 
springen" macht.  Wenn  in  der  Entstehung  der  Sprache  Sinnliches  und 
Gedankliches  unlöslich  ineinander  verflochten  scheinen,  so  begründet 
doch  diese  Korrelation,  eben  als  solche,  zwischen  beiden  kein  Verhältnis 
einer  bloß  einseitigen  Abhängigkeit.  Denn  der  intellektuelle  Ausdruck 
vermöchte  sich  nicht  am  sinnlichen  und  aus  dem  sinnlichen  zu  entwickeln, 
wenn  er  in  diesem  nicht  schon  ursprünglich  beschlossen  läge;  —  wenn 
nicht,  mit  Herder  zu  sprechen,  schon  die  sinnliche  Bezeichnung  einen 
Akt  der  „Reflexion",  einen  Grundakt  der  „Besinnung"  in  sich  faßte.  Das 
Wort:  jidvra  fteia  xal  äv&Qcomva  ndvxa  findet  daher  vielleicht  nirgends 
eine  so  deutliche  Bestätigung,  als  in  der  Bedeutungs-  und  Formenlehre 
hochentwickelter  Sprachen :  der  Gegensatz  zwischen  den  beiden  Extremen 
des  Sinnlichen  und  des  Intellektuellen  faßt  den  eigentümlichen  Gehalt 
der  Sprache  nicht,  weil  diese  in  all  ihren  Leistungen  und  in  jeder  Einzel- 
phase ihres  Fortschritts  sich  als  eine  zugleich  sinnliche  und  intellek- 
tuelle Ausdrucksform  erweist. 


i  S.  ob.  S.  73f. 


293 


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