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ERNST CASSIRER
PHILOSOPHIE DER SYMBOLISCHEN FORMEN
PHILOSOPHIE DER
SYMBOLISCHEN
FORMEN
VON
ERNST CASSIRER
ERSTER TEIL:
DIE SPRACHE
923
BRUNO CASSIRER VERLAG BERLIN
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1923 by Bruno Cassirer
Dietsch & Brückner, Hof-Buch- und - Steindrucker, Weimar
Germany
VORWORT
Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten
Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche „Substanz-
begriff und Funktionsbegriff" (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei
dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesent-
lichen auf die Struktur des mathemalischen und des naturwissenschaft-
lichen Denkens bezogen, für die Behandlung geisteswissenschaftlicher
Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus,
daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung
und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissen-
schaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen wer-
den, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Er-
weiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen
des wissenschaftlichen Erkennens der Welt zu untersuchen, mußte dazu
übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des „Verstehens"
der Welt bestimmt gegen einander abzugrenzen und jede von ihnen so
scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentüm-
lichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche „Formenlehre" ,
des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen,
daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer
methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefun-
den werden könne. Der Lehre von der natur wissenschaftlichen Begriffs-
und Urteilsbildung, durch die das „Objekt" der Natur in seinen konsti-
tutiven Grundzügen bestimmt, durch die der „Gegenstand" der Erkennt-
nis in seiner Bedingtheit durch die Erkenntnisfunktion erfaßt wird,
mußte eine analoge Bestimmung für das Gebiet der reinen Subjektivität
zur Seite treten. Diese Subjektivität geht in der erkennenden Betrachtung
der Natur und der Wirklichkeit nicht auf, sondern sie erweist sich überall
dort wirksam, wo überhaupt das Ganze der Erscheinung unter einen be-
stimmten geistigen Blickpunkt gestellt und von ihm aus gestaltet wird. Es
mußte gezeigt werden, wie jede dieser Gestaltungen je eine eigene Auf-
V
gäbe im Aufbau des Geistes erfüllt und je einem besonderen Gesetz unter-
steht. Aus der Beschäftigung mit diesem Problem entwickelte sich der
Plan einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen, wie er in
der Einleitung näher dargelegt ist. Was die Durchführung im einzelnen
betrifft, so beschränkt sich der vorliegende erste Teil auf eine Analyse der
sprachlichen Form; ein zweiter Band, der, wie ich hoffe, etwa in einem
Jahre erscheinen wird> soll den Entwurf zu einer Phänomenologie des my-
thischen und des religiösen Denkens enthalten, während im dritten und
letzten Band die eigentliche „Erkenntnislehre4 ' d. h. die Formenlehre des
wissenschaftlichen Denkens zur Darstellung gelangen soll.
Eine Betrachtung der Sprache nach ihrem rein philosophischen Ge-
halt und unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten philosophischen „Sy-
stems" bedeutet freilich ein Wagnis, das seit den ersten grundlegenden
Arbeiten Wilhelm von Humboldts kaum jemals wieder unternommen
worden ist. Wenn Humboldt, wie er im Jahre i8o5 an Wolf schrieb,
die Kunst entdeckt zu haben glaubte, die Sprache als ein Vehikel zu ge-
brauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der gan-
zen Welt zu durchfahren, so schien durch die Richtung, die die Sprach-
forschung und die Sprachphilosophie im neunzehnten Jahrhundert ge-
nommen haben, ein solcher Anspruch mehr und mehr zurückgedrängt zu
werden. Statt zu einem Vehikel der philosophischen Erkenntnis schien die
Sprache bisweilen zu dem eigentlichen und stärksten Instrument der phi-
losophischen Skepsis zu werden. Aber selbst wenn man von diesen Folge-
rungen der modernen Sprachkritik, für die die Philosophie der Sprache
mit der Bestreitung und Auflösung ihres geistigen Gehalts gleichbe-
deutend wurde, absieht, so trat doch immer stärker die Überzeugung her-
vor, daß eine philosophische Grundlegung der Sprache, wenn überhaupt,
so nur mit den Mitteln der psychologischen Forschung zu gewinnen
sei. Das Ideal einer schlechthin universellen, einer „philosophischen"
Grammatik, dem noch der Empirismus und der Rationalismus des 1 7. und
18. Jahrhunderts auf verschiedenen Wegen nachgegangen waren, schien
seit der Grundlegung der wissenschaftlichen Sprachvergleichung ein für
allemal zerstört: nun blieb nur übrig, die Einheit der Sprache statt in.
ihrem logischen Gehalt, in ihrer Entstehung und in den psychologischen
Gesetzen dieser Entstehung aufzuweisen. Wundts großes Werk über die
Sprache, das nach langer Zeit wieder den Versuch unternahm, die Ge-
samtheit der Spracherscheinungen zu umfassen und einer bestimmten
geistigen Deutung zu unterwerfen, entnimmt das Prinzip dieser Deutung
dem Begriff und der Methodik der Völkerpsychologie. In der gleichen
VI
Richtung des Denkens hatte Steinthal in seiner „Einleitung in die
Psychologie und Sprachwissenschaft" (1871) den Herbar tschen Begriff
der Apperzeption als das Fundament der Sprachbetrachtung zu erweisen
gesucht. Im bewußten und scharfen Gegensatz zu den Grundlagen der
Steinthalschen und Wundtschen Sprachansicht kehrt sodann Marty
(1908) zu dem Gedanken einer „allgemeinen Grammatik und Sprach-
philosophie" zurück, die er als den Entwurf einer „deskriptiven Bedeu-
tungslehre" versteht. Aber auch hier wird der Aufbau dieser Bedeutungs-
lehre mit rein psychologischen Mitteln zu vollziehen gesucht; ja die Auf-
gabe der Sprachphilosophie wird ausdrücklich derart abgegrenzt, daß zu
ihr alle auf das Allgemeine und Gesetzmäßige an den sprachlichen Er-
scheinungen gerichteten Probleme gehören sollen, sofern sie „entweder
psychologischer Natur sind oder wenigstens nicht ohne eine vornehm-
liche Hilfe der Psychologie gelöst werden können". So schien auf diesem
Gebiete — trotz des Widerspruchs, dem diese Anschauung in den Kreisen
der Sprachforschung selbst, vor allem bei Karl Voss ler, begegnete —
der Psychologismus und Positivismus nicht nur als methodisches Ideal
festgestellt, sondern fast zu einem allgemeinen Dogma erhoben zu sein.
Der philosophische Idealismus freilich hat nicht aufgehört, dieses Dogma
zu bekämpfen, aber auch er hat der Sprache die autonome Stellung, die
sie bei Wilh. von Humboldt besaß, nicht wiedererobert. Denn statt sie
als eine selbständige, auf einem eigentümlichen Gesetz beruhende geistige
„Form" zu verstehen, hat er versucht, sie auf die allgemeine ästhetische
Ausdrucksfunktion zurückzuführen. In diesem Sinne hat Benedetto Groce
das Problem des sprachlichen Ausdrucks dem Problem des ästhetischen
Ausdrucks ein- und untergeordnet, wie auch Hermann Cohens System
der Philosophie die Logik, die Ethik und Ästhetik und zuletzt die Reli-
gionsphilosophie als selbständige Glieder behandelt hat, auf die Grund-
fragen der Sprache aber nur gelegentlich und im Zusammenhang mit den
Grundfragen der Ästhetik eingeht.
Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß die vorliegende Darstellung sich
in philosophischer Hinsicht nicht innerhalb eines fest abgesteckten Ge-
dankenkreises bewegen konnte, sondern daß sie überall versuchen mußte,
sich ihren methodischen Weg selbst zu bahnen. Um so reicher waren da-
gegen die Hilfsquellen, die sich ihr für die Durchführung ihres Themas
aus der Entwicklung ergaben, die die Sprachwissenschaft seit der Zeit
Wilhelm von Humboldts genommen hat. Wenn der Gedanke einer wahr-
haft universellen Sprachbetrachtung bei Humboldt noch als ein Postulat
der idealistischen Philosophie erscheinen kann, so scheint dieses Postulat
VII
sich seither mehr und mehr seiner konkreten wissenschaftlichen Erfül-
lung genähert zu haben. Die philosophische Betrachtung wird freilich
gerade durch diesen Reichtum des empirisch-wissenschaftlichen For-
schungsmaterials vor eine kaum zu überwindende Schwierigkeit gestellt.
Denn sie kann ebensowenig auf dieses Detail verzichten, wie sie sich
ihm, wenn sie ihrer eigenen Absicht und Aufgabe getreu bleiben will, ganz
gefangen geben darf. Diesem methodischen Dilemma gegenüber blieb
keine andere Entscheidung übrig, als die Fragen, mit denen hier an die
Sprachforschung herangetreten wurde, zwar in systematischer Allgemein-
heit zu formulieren, die Antwort auf diese Fragen aber in jedem ein-
zelnen Falle aus der empirischen Forschung selbst zu gewinnen. Es mußte
versucht werden, einen möglichst weiten Überblick nicht nur über die
Erscheinungen eines einzelnen Sprachkreises, sondern über die Struk-
tur verschiedener und in ihrem gedanklichen Grundtypus weit von ein-
ander abweichenden Sprachkreise zu gewinnen. Der Kreis der sprach-
wissenschaftlichen Literatur, die bei der Durcharbeitung der Probleme
beständig zu Rate gezogen werden mußte, erfuhr hierdurch freilich eine
so große Erweiterung, daß das Ziel, das diese Untersuchung sich anfangs
gesteckt hatte, immer weiter in die Ferne rückte, ja daß ich mich immer
von neuem vor die Frage gestellt sah, ob dieses Ziel für mich überhaupt
erreichbar sei. Wenn ich trotzdem auf dem einmal beschrittenen Wege wei-
ter ging, so geschah es, weil ich, je mehr sich mir ein Einblick in die
Mannigfaltigkeit der Spracherscheinungen erschloß, um so deutlicher
wahrzunehmen glaubte, wie auch hier alles Einzelne sich wechsel-
seitig erhellt und wie es sich gleichsam von selbst einem allgemeinen
Zusammenhang einfügt. Auf die Herausarbeitung und Verdeutlichung
dieses Zusammenhangs, nicht auf die Betrachtung irgendwelcher Einzel-
erscheinungen sind die folgenden Untersuchungen gerichtet. Wenn
der erkenntniskritische Grundgedanke, an dem sie orientiert sind, sich
bewährt, wenn die Darstellung und Charakteristik der reinen Sprach-
form, wie sie hier versucht worden ist, sich als gegründet erweist, so
wird Vieles, was im einzelnen übersehen oder versehen worden ist, bei
einer künftigen Bearbeitung des Themas leicht seine Ergänzung und Be-
richtigung finden können. Ich selbst bin mir bei der Arbeit an dieser
Schrift der Schwierigkeit des Gegenstandes und der Grenzen meiner Ar-
beitskraft zu deutlich bewußt geworden, als daß ich nicht jede Kritik
der Fachkenner freudig begrüßen sollte; um diese Kritik zu erleichtern,
habe ich überall, wo es sich um die Deutung und Verwertung des sprach-
wissenschaftlichen Einzelmaterials handelte, meine Gewährsmänner aus-
VIII
drücklich genannt und meine Quellen so deutlich bezeichnet, daß dadurch
eine unmittelbare Nachprüfung ermöglicht wird.
Es bleibt mir noch übrig, allen denen meinen Dank zu sagen, die mich
während der Ausarbeitung dieses Buches durch das Interesse, das sie im
allgemeinen an ihm nahmen oder durch ihren speziellen sachkundigen
Rat unterstützt haben. Bei dem Versuch, in die Struktur der sogen, „pri-
mitiven" Sprachen einen genaueren Einblick zu gewinnen, haben mir von
Anfang an — neben den Schriften von Boas und Seier über die ame-
rikanischen Eingeborenensprachen — die Werke Carl Meinhofs als
Führer gedient. Nach meiner Berufung nach Hamburg im Jahre 191 9
konnte ich nicht nur die reiche Bibliothek des von Meinhof gelei-
teten Seminars für afrikanische und Südseesprachen benutzen, sondern
ich durfte mich auch in vielen schwierigen Einzelfällen seines stets bereit-
willig gewährten und stets außerordentlich fördernden Rates erfreuen.
Auch meinen Kollegen Prof. Otto Dempwolff und Prof. Heinrich
Junker bin ich für manche Förderung, die ich im Gespräch mit ihnen
gewonnen habe, zu Dank verpflichtet. Weit hinaus über das Maß einzelner
Anregungen geht sodann dasjenige, was die folgende Darstellung Ernst
Hoffmann in Heidelberg und Emil Wolf f in Hamburg verdankt. Mit
ihnen, die selbst mitten in der philologischen und sprachwissenschaft-
lichen Einzelarbeit stehen, weiß ich mich vor allem in der Grundanschau-
ung eins, auf der dieses Buch beruht: in der Überzeugung, daß die
Sprache, wie alle geistigen Grundfunktionen, ihre philosophische Auf-
hellung nur innerhalb eines Gesamtsystems des philosophischen Idealis-
mus finden kann. Ernst Hoffmann habe ich ferner herzlich dafür zu
danken, daß er trotz eigener starker Arbeitsbelastung die Korrekturen
dieses ersten Bandes mitgelesen hat. Einzelne wichtige Hinweise und Er-
gänzungen, die er hierbei gegeben hat, konnten leider aus technischen
Gründen bei der Drucklegung nicht mehr in vollem Umfang berück-
sichtigt werden; ich hoffe aber sie bei einer späteren Bearbeitung des
Themas nutzen zu können.
HAMBURG, im April 1923.
ERNST CASSIRER.
IX
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Einleitung und Problemstellung
I. Der Begriff der symbolischen Form und die Systematik der symbolischen
Formen i
II. Die allgemeine Funktion des Zeichens. — Das Bedeutungsproblem ... 17
III. Das Problem der „Repräsentation" und der Aufbau des Bewußtseins ... 26
IV. Die ideelle Bedeutung des Zeichens. — Die Überwindung der Abbildtheorie 4i
Erster Teil: Zur Phänomenologie der sprachlichen
Form
Kapitel I : Das Sprachproblem in der Geschichte der Philosophie
I. Das Sprachproblem in der Geschichte des philosophischen Idealismus (Piaton,
Descartes, Leibniz)
II. Die Stellung des Sprachproblems in den Systemen des Empirismus (Bacon,
Hobbes, Locke, Berkeley)
III. Die Philosophie der französischen Aufklärung (Condillac,Maupertuis, Diderot)
IV. Die Sprache als Affektausdruck. — Das Problem des „Ursprungs der Sprache"
(Giambattista Vico, Hamann, Herder, Die Romantik)
V. Wilhelm von Humboldt
VI. August Schleicher und der Fortgang zur „naturwissenschaftlichen" Sprach-
ansicht
VII. Die Begründung der modernen Sprachwissenschaft und das Problem der
„Lautgesetze" 112
Kapitel Ii : Die Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks
I. Die Sprache als Ausdrucksbewegung. — Gebärdensprache und Wortsprache 122
II. Mimischer, analogischer und symbolischer Ausdruck i32
Kapitel III : Die Sprache in der Phase des anschaulichen
Ausdrucks
I. Der Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen . . . . i/j6
II. Die Zeitvorstellung 166
III. Die sprachliche Entwicklung des Zahlbegriffs 180
IV. Die Sprache und das Gebiet der „inneren Anschauung". — Die Phasen des
Ichbegriffs
1. Die Herausarbeitung der „Subjektivität" im sprachlichen Ausdruck . . 208
2. Personaler und possessiver Ausdruck 220
3. Der nominale und der verbale Typus des Sprachausdrucks 228
XI
Kapitel IV: Die Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. —
Die Form der sprachlichen Begriffs- und Klassenbildung Seite
I. Die qualifizierende Begriffsbildung 2^4
II. Grundrichtungen der sprachlichen Klassenbildung a64
Kapitel V: Die Sprache als Ausdruck der logischen Beziehungs-
formen. — Die Relationsbegriffe 274
XII
EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG
I
Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation wird durch
den Begriff des Seins bezeichnet. In dem Augenblick, da dieser Begriff
sich als solcher konstituiert, da gegenüber der Vielfältigkeit und Ver-
schiedenheit des Seienden das Bewußtsein von der Einheit des Seins er-
wacht, entsteht erst die spezifisch-philosophische Richtung der Welt-
betrachtung. Aber noch auf lange Zeit bleibt diese Betrachtung in dem
Umkreis des Seienden, den sie zu verlassen und zu überwinden strebt,
gebunden. Der Anfang und Ursprung, der letzte „Grund" alles Seins soll
ausgesprochen werden: aber so klar diese Frage gestellt wird, so wenig
reicht die Antwort, die für sie gefunden wird, in ihrer besonderen konkre-
ten Bestimmtheit an diese höchste und allgemeinste Fassung des Problems
heran. Was als das Wesen, als die Substanz der Welt bezeichnet wird, das
greift nicht prinzipiell über sie hinaus, sondern ist nur ein Auszug aus eben
dieser Welt selbst. Ein einzelnes, besonderes und beschränktes Seiende wird
herausgegriffen, um aus ihm alles andere genetisch abzuleiten und zu „er-
klären". Diese Erklärung verharrt demnach, so wechselvoli sie sich inhalt-
lich auch gestalten mag, ihrer allgemeinen Form nach, doch stets inner-
halb derselben methodischen Grenzen. Anfangs ist es ein selbst noch sinn-
liches Einzeldasein, ein konkreter „Urstoff", der als letzter Grund für die
Gesamtheit der Erscheinungen aufgestellt wird; dann wendet sich die Er-
klärung ins Ideelle und an Stelle dieses Stoffes tritt bestimmter ein rein
gedankliches „Prinzip" der Ableitung und Begründung heraus. Aber auch
dieses steht, näher betrachtet, noch in einer schwebenden Mitte zwischen
dem „Physischen" und „Geistigen". So sehr es die Farbe des Ideellen
trägt, so ist es doch auf der -anderen Seite der Welt des Existierenden
aufs engste verhaftet. In diesem Sinne bleibt die Zahl der Pythagoreer,
bleibt das Atom Demokrits, so groß der Abstand ist, der beide von dem
Urstoff der Ionier trennt, ein methodisches Zwitterwesen, das in sich
selbst seine eigentliche Natur noch nicht gefunden und sich gleichsam
über seine wahre geistige Heimat noch nicht entschieden hat. Diese innere
Unsicherheit wird endgültig erst in der Ideenlehre Piatons überwunden.
3
Die große systematische und geschichtliche Leistung dieser Lehre besteht
darin, daß in ihr die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philo-
sophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in
expliziter Gestalt heraustritt. Was Piaton unter dem Namen der „Idee"
sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den Elcaten,
bei den Pythagoreern, bei Demokrit als immanentes Prinzip wirksam; aber
bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt.
Piaton selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstan-
den. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über
die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die
entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation
der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form
eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde,
zum erstenmal als Problem erkannt worden sei. Er fragt nicht mehr
schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur
des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses
Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegen-
über verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen,
zu Mythen vom Sein.1 Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung
soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht
mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen
Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und da-
mit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie
seit Parmenides als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und
tiefere Bedeutung. Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des
Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und
Wert des Prinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein
einher, es ist kein bloßes Reflektieren „über" dasselbe, sondern seine
eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins be-
stimmt. —
In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich so-
dann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die
realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffen-
heit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt — da
formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des
Denkens um. Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch
in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch
hier geht der Weg nicht einzig von den „Tatsachen" zu den „Gesetzen" und
1 Vgl. bes. Sophistes 243 C ff.
k
von diesen wieder zu den „Axiomen" und „Grundsätzen" zurück: sondern
eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der
Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen,
müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach
erscheint das, was die Wissenschaft als ihr „Sein" und ihren „Gegen-
stand" bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzer-
leglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der
Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seins-
begriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung
zu geraten — und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt
sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als
sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt,
wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden ent-
zogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie
ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr
als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene
intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physi-
kalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grund-
mittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist1. Heinrich
Hertz hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine „Prinzipien der
Mechanik" einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte
Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht. Er
bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Natur-
erkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen:
— das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus
dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns „innere Schein-
bilder oder Symbole" der äußeren Gegenstände machen, die von solcher
Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die
Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.
„Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfah-
rung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir
an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche
in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen
Eingreifens auftreten werden . . . Die Bilder, von welchen wir reden,
sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die
eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten
Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend-
1 Näheres hierüber in m. Schrift „Zur Einstein'schen Relativitätstheorie", Berl. 1921;
vgl. bes. den ersten Abschnitt über „Maßbegriffe und Dingbegriffe".
5
eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen
wir auch nicht und haben auch kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vor-
stellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem überein-
stimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung."1
So fährt die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, auf der Heinrich
Hertz fußt, — so fährt die Theorie der „Zeichen", wie sie zuerst von
Helmholtz eingehend entwickelt worden ist, fort, die Sprache der Ab-
bildtheorie der Erkenntnis zu sprechen; — aber der Begriff des „Bildes"
hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren. Denn an die Stelle
einer irgendwie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und
Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine
allgemeine intellektuelle Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der
physikalischen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der
Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel
der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst
aus sich heraus erst herstellen. Der Zusammenhang der objektiven Gegen-
stände und die Art ihrer wechselseitigen Abhängigkeit soll im System der
physikalischen Begriffe überschaut werden, — aber diese Überschau wird
nur möglich, sofern diese Begriffe schon von Anfang an einer bestimmten
einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis angehören. Der Gegenstand
läßt sich nicht als ein nacktes Ansich unabhängig von den wesentlichen
Kategorien der Naturerkenntnis hinstellen, sondern nur in diesen Kate-
gorien, die seine eigene Form erst konstituieren, zur Darstellung bringen.
In diesem Sinne werden für Hertz die Grundbegriffe der Mechanik, ins-
besondere die Begriffe von Masse und Kraft zu „Scheinbildern", die, wie
sie von der Logik der Naturerkenntnis geschaffen sind, auch den allge-
meinen Forderungen dieser Logik unterstehen, unter denen die apriorische
Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit
der Beschreibung den ersten Platz einnimmt.
Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoff-
nung und den Anspruch auf eine „unmittelbare" Erfassung und Wieder-
gabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie
zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung
bleiben muß. Und in dieser Einsicht liegt nun eine weitere und folgen-
reiche idealistische Konsequenz beschlossen. Wenn die Definition, die Be-
stimmung des Erkenntnisgegenstandes immer nur durch das Medium
einer eigentümlichen logischen Begriffsstruktur erfolgen kann, so ist die
Folgerung nicht abzuweisen, daß einer Verschiedenheit dieser Medien
1 H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Lpz. i8g4, S. iff.
6
auch eine verschiedene Fügung des Objekts, ein verschiedener Sinn
„gegenständlicher" Zusammenhänge entsprechen muß. Selbst innerhalb
des Umkreises der „Natur" fällt sodann der physikalische Gegenstand
nicht schlechthin mit dem chemischen, der chemische nicht schlechthin
mit dem biologischen zusammen — weil die physikalische, die che-
mische, die biologische Erkenntnis je einen besonderen Gesichtspunkt der
Fragestellung in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem
Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen.
Fast kann es den Anschein haben, als sei durch dieses Resultat der idea-
listischen Gedankenentwicklung die Erwartung, mit der sie begonnen
hatte, endgültig vereitelt. Das Ende dieser Entwicklung scheint ihren An-
fang zu negieren — denn wieder droht nun die gesuchte und geforderte
Einheit des Seins in eine bloße Mannigfaltigkeit des Seienden ausein-
anderzugehen. Das Eine Sein, an dem das Denken fest hält und von dem
es nicht ablassen zu können scheint, ohne seine eigene Form zu zerstören,
zieht sich aus dem Gebiet der Erkenntnis mehr und mehr zurück. Es
wird zu einem bloßen X, das, je strenger es seine metaphysische Einheit
als „Ding an sich" behauptet, umsomehr aller Möglichkeit des Er-
kennens entrückt und schließlich völlig ins Gebiet des Unerkennbaren
abgedrängt wird. Diesem starren metaphysischen Absolutum aber steht
nun das Reich der Erscheinungen, das eigentliche Gebiet des Wiss- und
Kennbaren, in seiner unveräußerlichen Vielheit, in seiner Bedingtheit und
Relativität gegenüber. Schärfer betrachtet aber ist freilich eben in dieser
schlechthin unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und
der Wissensgegenstände die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig
abgewiesen, sondern sie ist hier vielmehr in einer neuen Form gestellt.
Die Einheit des Wissens kann jetzt allerdings nicht mehr dadurch
verbürgt und sichergestellt werden, daß es in all seinen Formen auf
ein gemeinsames „einfaches" Objekt bezogen wird, das sich zu diesen
Formen wie das transzendente Urbild zu den empirischen Abbildern ver-
hält, — aber statt dessen ergibt sich jetzt die andere Forderung, die ver-
schiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten
Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen ein-
zelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich wechsel-
seitig bedingen und fordern. Das Postulat einer derartigen rein funktio-
nellen Einheit tritt nunmehr an die Stelle des Postulats der Einheit des
Substrats und der Einheit des Ursprungs, von dem der antike Seinsbegriff
wesentlich beherrscht wurde. Von hier aus ergibt sich die neue Aufgabe,
die der philosophischen Kritik der Erkenntnis gestellt ist. Sie muß den
7
Weg, den die besonderen Wissenschaften im Einzelnen beschreiten, im
Ganzen verfolgen und im Ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen,
ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die
Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander
zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und der-
* selben geistigen Grundfunktion verstehen lassen. Und wenn diese letz-
tere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe,
die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip,
von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen
Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles
besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt,
die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnis-
funktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören,
zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion
zusammenfaßt. —
Aber noch einmal weitet sich an dieser Stelle der Blick, sobald man er-
wägt, daß die Erkenntnis, so universell und umfassend ihr Begriff auch
genommen werden mag, doch im Ganzen der geistigen Erfassung und
Deutung des Seins, immer nur eine einzelne Art der Formgebung dar-
stellt. Sie ist eine Gestaltung des Mannigfaltigen, die von einem spezi-
fischen, damit aber zugleich von einem in sich selbst klar und scharf
begrenzten Prinzip geleitet wird. Alle Erkenntnis geht zuletzt, so ver-
schieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die^
Vielheit der Erscheinungen der Einheit des „Satzes vom Grunde" zu
unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern
es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem es als Glied eines sei
es logischen, sei es teleologischen oder kausalen „Gefüges" erscheint. Auf
dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine univer-
selle Gesetzes- und Ordnungsform bleibt die Erkenntnis wesentlich ge-
richtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im
System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im
Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich
als gewisse Weisen der „Objektivierung" bezeichnen: d.h. als Mittel, ein
Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben; aber sie erreichen
dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als
auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes. Jede echte
geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden
Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine
nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhan-
8
denes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in *
sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte
„Bedeutung", einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt
für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die
Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht
ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr
nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch
jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellek-
tuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ur-
sprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin
in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede
von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und kon-
stituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des „Wirklichen".
Sie sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirk-
liches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in
seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt. Faßt
man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in
diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem
heraus, das einen neuen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der
Geisteswissenschaften erschließt. —
Die „Revolution der Denkart", die Kant innerhalb der theoretischen
Philosophie durchführt, beruht auf dem Grundgedanken, daß das Ver-
hältnis, das bisher zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstande allge-
mein angenommen wurde, einer radikalen Umwendung bedürfe. Statt vom
Gegenstand als dem Bekannten und Gegebenen auszugehen, müsse viel-
mehr mit dem Gesetz der Erkenntnis als dem allein wahrhaft Zugäng-
lichen und als dem primär Gesicherten begonnen werden; statt die allge-
meinsten Eigenschaften des Seins im Sinne der ontologischen Metaphysik
zu bestimmen, müsse durch eine Analyse des Verstandes die Grundform
des Urteils als der Bedingung, unter welcher Objektivität allein setz bar
ist, ermittelt und in allen ihren mannigfachen Verzweigungen bestimmt
werden. Diese Analyse erschließt nach Kant erst die Bedingungen, auf
denen jedes Wissen vom Sein und auf denen sein reiner Begriff selbst
beruht. Aber der Gegenstand, den die transzendentale Analytik auf diese
Weise vor uns hinstellt, ist als Korrelat der synthetischen Einheit des
Verstandes, selbst ein rein logisch bestimmter Gegenstand. Er bezeichnet
daher nicht alle Objektivität schlechthin, sondern nur jene Form der ob-
jektiven Gesetzlichkeit, die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft,
insbesondere in den Begriffen und Grundsätzen der mathematischen
9
Physik fassen und darstellen läßt. So erweist er sich schon für Kant
selbst, sobald er dazu fortschreitet, in dem Ganzen der drei Kritiken das
wahrhafte „System der reinen Vernunft" zu entwickeln, als zu eng. Das
mathematisch-naturwissenschaftliche Sein erschöpft in seiner idealisti-
schen Fassung und Deutung nicht alle Wirklichkeit, weil in ihm bei
weitem nicht alle Wirksamkeit des Geistes und seiner Spontaneität be-
faßt ist. In dem intelligiblen Reich der Freiheit, dessen Grundgesetz die
Krilik der praktischen Vernunft entwickelt, in dem Reich der Kunst und
im Reich der organischen Naturformen, wie es sich in der Kritik der
ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft darstellt, tritt je eine neue
Seite dieser Wirklichkeit heraus. Diese allmähliche Entfaltung des
kritisch-idealistischen Regriffs der Wirklichkeit und des kritisch-ideali-
stischen Regriffs des Geistes gehört zu den eigentümlichsten Zügen des
Kantischen Denkens und ist geradezu in einer Art Stilgesetz dieses Denkens
begründet. Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von
Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig
hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem
stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der
Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt
werden, als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird. Es
liegt in der Natur dieses Prozesses, daß sein Anfang und sein Ende nicht
nur auseinanderfallen, sondern daß sie einander scheinbar widerstreiten
müssen — aber der Widerstreit ist kein anderer, als er zwischen Potenz
und Akt, zwischen der bloßen logischen „Anlage" eines Regriffs und
seiner vollständigen Entwicklung und Auswirkung besteht. Vom Stand-
punkt'dieser letzteren nimmt auch die Copernikanische Drehung, mit der
Kant begonnen hatte, einen neuen und erweiterten Sinn an. Sie bezieht
sich nicht allein auf die logische Urteilsfunktion, sondern greift mit
gleichem Grund und Recht auf jede Richtung und auf jedes Prinzip
geistiger Gestaltung über. Immer liegt die entscheidende Frage darin, ob
wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu
b verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser „begründet"
sein lassen. Diese Frage bildet das geistige Rand, das die verschiedenen
Problemgebiete mit einander verknüpft : — sie stellt deren innere methodische
Einheit dar, ohne sie jemals in eine sachliche Einerleiheit zusammenfallen
zu lassen. Denn das Grundprinzip des kritischen Denkens, das Prinzip des
„Primats" der Funktion von dem Gegenstand, nimmt in jedem Sonder-
gebiet eine neue Gestalt an und verlangt eine neue selbständige Regrün-
dung. Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des
10
sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und
die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß dar-
aus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung
nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem
objektiven Sinnzusammenhang und einem objektivenAnschauungsganzen
sich vollzieht.
Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht c
zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr
als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip
gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.
Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und voll-
ständige Bewährung. Solange die philosophische Betrachtung sich ledig-
lich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf
diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-reali-
stischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. Der Gegenstand der
Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Gesetz in
irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden — aber er muß nichts-
destoweniger, wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den
Grundkategorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden
und gegeben sein. Geht man dagegen nicht sowohl vom allgemeinen Welt-
begriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus, so gewinnt da-
mit die Frage alsbald eine veränderte Gestalt. Denn der Inhalt des Kultur-
begriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen 6
Produzierens nicht loslösen: das „Sein" ist hier nirgends anders als im «
„Tun" erfaßbar. Nur sofern es eine spezifische Richtung der ästheti-
schen Phantasie und der ästhetischen Anschauung gibt, gibt es ein Gebiet
ästhetischer Gegenstände, — und das Gleiche gilt für alle übrigen geisti-
gen Energien, kraft deren für uns die Form und der Umriß eines be^
stimmten Gegenstandsbereichs sich gestaltet. Auch das religiöse Bewußt-
sein bildet — so sehr es von der „Realität", von der Wahrheit seines
Gegenstandes überzeugt ist — diese Realität nur auf der untersten Stufe,
nur auf der Stufe eines rein mythologischen Denkens, in eine einfache
dingliche Existenz um. Auf allen höheren Stufen der Betrachtung da-
gegen ist es sich mehr oder minder deutlich bewußt, daß es seinen Gegen-
stand nur dadurch „hat", daß es sich in einer durchaus eigenartigen, ihm
allein zugehörigen Weise auf ihn bezieht. Es ist eine Art des Sich-Ver-
haltens, es ist die Richtung, die sich der Geist auf ein gedachtes Objektive
gibt, in welcher hier die letzte Gewähr eben dieser Objektivität selbst ent-
halten ist. Das philosophische Denken tritt all diesen Richtungen gegen-
1 1
über — nicht lediglich in der Absicht, jede von ihnen gesondert zu ver-
folgen oder sie im Ganzen zu überblicken, sondern mit der Voraussetzung,
daß es möglich sein müsse, sie auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf
ein ideelles Zentrum zu beziehen. Dieses Zentrum aber kann, kritisch be-
trachtet, niemals in einem gegebenen Sein, sondern nur in einer gemein-
samen Aufgabe liegen. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen
Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die
Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu
Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, — zu mannig-
fachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt
% der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu
einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.
Denn wie die moderne Sprachphilosophie, um den eigentlichen Ansatz-
punkt für eine philosophische Betrachtung der Sprache zu finden, den
Begriff der „inneren Sprachform" aufgestellt hat — so läßt sich sagen,
daß eine analoge „innere Form" auch für die Religion und den Mythos,
für die Kunst und für die wissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen
und zu suchen ist. Und diese Form bedeutet nicht lediglich die Summe
oder die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen dieser
< Gebiete, sondern das bedingende Gesetz ihres Aufbaus. Freilich gibt es
zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß
wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen „abstra-
hieren"; aber eben diese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwen-
diges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Ein-
zelnen. Die Philosophie ist sich im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe
einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer
mehr oder weniger bewußt geblieben; aber sie hat zumeist nur Teile
dieser Aufgabe, und zwar mehr in negativer als in posiliver Absicht, direkt
in Angriff genommen. Ihr Bestreben ging in dieser Kritik häufig weniger
auf die Darstellung und Begründung der positiven Leistungen jeder Ein-
zelform, als auf die Abwehr falscher Ansprüche. Seit den Tagen der
griechischen Sophistik gibt es eine skeptische Sprachkritik, wie es eine
skeptische Mythenkritik und Erkenntniskritik gibt. Diese wesentlich nega-
tive Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder
Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Be-
streben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu
geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich
in Anspruch zu nehmen. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres beson-
deren Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit
12
sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzu-
drücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung
innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des
Kuliurbegriffs. Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrach-
tung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwun-
gen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens an-
zuknüpfen, die in der Sprache und in den sprachlichen Allgemeinbe-
griffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. Aber
indem sie die Sprache als Material und Grundlage benutzt, schreitet sie
zugleich notwendig über sie hinaus. Ein neuer „Logos", der von einem
anderen Prinzip als dem des sprachlichen Denkens geleitet und beherrscht
wird, tritt nun hervor und bildet sich immer schärfer, immer selbstän-
diger aus. Und an ihm gemessen, erscheinen nun die Bildungen der
Sprache nur noch wie Hemmungen und Schranken, die durch die Kraft
und Eigenart des neuen Prinzips fortschreitend überwunden werden
müssen. Die Kritik der Sprache und der sprachlichen Denkform wird zu
einem integrierenden Bestand des vordringenden wissenschaftlichen und
philosophischen Denkens. Und auch in den übrigen Gebieten wiederholt
sich dieser typische Gang der Entwicklung. Die einzelnen geistigen Rich-
tungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander,
sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die
anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft er-
weist. Die Religion und die Kunst stehen in ihrem rein geschichtlichen
Wirken einander so nahe und durchdringen sich derart, daß beide bis-
weilen auch ihrem Gehalt und dem inneren Prinzip des Bildens nach un-
unterscheidbar zu werden scheinen. Von den Göttern Griechenlands hat
man gesagt, daß sie Homer und Hesiod ihre Entstehung verdanken. Und
doch scheidet sich andererseits gerade das religiöse Denken der Griechen
in seinem weiteren Fortgang immer bestimmter von diesem seinem ästhe-
tischen Anfang und Urgrund. Immer entschiedener lehnt es sich seit
Xenophanes gegen den mythisch-dichterischen und gegen den sinn-
lich-plastischen Gottesbegriff auf, den es als Anthropomorphismus er-
kennt und verwirft. In derartigen geistigen Kämpfen und Konflikten, wie
sie sich in der Geschichte in immer neuer Potenzierung und Steigerung
darstellen, scheint von der Philosophie als der höchsten Einheitsinstanz
die alleinige letzte Entscheidung zu erwarten zu sein. Aber die dogmati-
schen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forde-
rung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in
dem Kampfe, der sich hier vollzieht, nicht über ihm: sie vertreten trotz
i3
aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des
Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu be-
greifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes
als metaphysische Hypostasen eines bestimmten logischen oder ästhe-
tischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte All-
gemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich
damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete
Totalität ihrer Formen ab. Der Gefahr eines derartigen Abschlusses ver-
möchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es
ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und
der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: — einen
Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu
umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu
machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese For-
men zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, „trans-
zendenten" Sein oder Prinzip haben. Dann erstünde eine philosophische
Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch
die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre
Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und
Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen
Energien und schließlich mit deren Allheit steht.
An Versuchen und Ansätzen zu einer derartigen Systematik hat es seit
den Anfängen der neueren Philosophie und seit der Grundlegung des
modernen philosophischen Idealismus nicht gefehlt. Schon Descartes'
methodische Programmschrift, schon die „Regulae ad directionem in-
genir weisen zwar den Versuch der alten Metaphysik, die Gesamtheit
der Dinge zu überblicken und in die letzten Geheimnisse der Natur
eindringen zu wollen, als vergeblich ab, aber um so nachdrücklicher be-
stehen sie darauf, daß es möglich sein müsse, die „universitas" des
Geistes gedanklich zu erschöpfen und auszumessen. „Ingenii limites
definire" das Gesamtgebiet und die Grenzen des Geistes zu bestimmen:
dieser Wahlspruch Descartes' wird nunmehr zum Leitwort der gesamten
neueren Philosophie. Aber der Begriff des „Geistes" ist hierbei in sich
selbst noch zwiespältig und zweideutig, da er bald im engeren, bald im
weiteren Sinne gebraucht wird. Wie die Philosophie Descartes' von einem
neuen umfassenden Begriff des Bewußtseins ausgeht, dann aber diesen
Begriff, im Ausdruck der cogitatio, wieder mit dem reinen Denken
zusammenfallen läßt — so fällt für Descartes und für den gesamten
Rationalismus auch die Systematik des Geistes mit der des Denkens zu-
i4
sammen. Die universitas des Geistes, seine konkrete Totalität gilt daher
erst dann als wahrhaft erfaßt und als philosophisch durchdrungen, wenn
es gelingt, sie aus einem einzigen logischen Prinzip zu deduzieren.
Damit ist die reine Form der Logik wieder zum Prototyp und Vorbild
für jegliches geistige Sein und jegliche geistige Form erhoben. Und wie
bei Descartes, der die Reihe der Systeme des klassischen Idealismus be-
ginnt, so steht bei Hegel, der diese Reihe abschließt, dieser methodische
Zusammenhang noch einmal in voller Deutlichkeit vor uns. Die Forde-
rung, das Ganze des Geistes als konkretes Ganze zu denken, also nicht
bei seinem einfachen Begriff stehen zu bleiben, sondern ihn in die Ge-
samtheit seiner Manifestationen zu entwickeln, hat Hegel mit einer
Schärfe, wie kein Denker vor ihm, gestellt. Und doch soll andererseits die
Phänomenologie des Geistes, indem sie diese Forderung zu erfüllen
strebt, damit nur der Logik den Boden und den Weg bereiten. Die
Mannigfaltigkeit der geistigen Formen, wie sie die Phänomenologie auf-
stellt, läuft zuletzt gleichsam in eine höchste logische Spitze aus — und
in diesem ihrem Ende findet sie erst ihre vollendete „Wahrheit* ' und
Wesenheit. So reich und vielgestaltig sie ihrem Inhalt nach ist, so unter-
steht sie doch ihrer Struktur nach einem einzigen und im gewissen Sinne
einförmigen Gesetz — dem Gesetz der dialektischen Methode, das den
sich gleichbleibenden Rhythmus in der Selbstbewegung des Begriffs dar-
stellt. Der Geist beschließt alle Bewegung seines Gestaltens im absoluten
Wissen, indem er hier das reine Element seines Daseins, den Begriff,
gewinnt. In diesem seinem letzten Ziel sind alle früheren Stadien, die er
durchlaufen, zwar noch als Momente enthalten, aber auch zu bloßen Mo-
menten aufgehoben. Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen
nur der Form des Logischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis
eine echte und wahrhafte Autonomie zu gebühren. Der Begriff ist nicht
nur das Mittel, das konkrete Leben des Geistes darzustellen, sondern er
ist das eigentliche substantielle Element des Geistes selbst. Demnach wird
alles geistige Sein und Geschehen, so sehr es in seiner spezifischen Besonde-
rung erfaßt und in dieser Besonderung anerkannt werden soll, doch zu-
letzt gleichsam auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert — und
diese Beziehung ist es erst, in welcher sein tiefster Gehalt und seine
eigentliche Bedeutung erfaßt wird.
Und in der Tat scheint diese letzte Zentrierung aller geistigen Formen
in der einen logischen Form durch den Begriff der Philosophie selbst
und insbesondere durch das Grundprinzip des philosophischen Idealismus
notwendig gefordert zu sein. Denn verzichtet man auf diese Einheit, so
i5
scheint überhaupt von einer strengen Systematik dieser Formen keine
Rede mehr sein zu können. Als Gegenbild und Widerspiel der dialekti-
schen Methode bleibt alsdann nur ein rein empirisches Verfahren übrig.
Läßt sich kein allgemeines Gesetz aufweisen, kraft dessen die eine geistige
Form mit Notwendigkeit aus der anderen hervorgeht, bis schließlich die
ganze Reihe der geistigen Gestaltungen gemäß diesem Prinzip durch-
laufen ist — so läßt sich, wie es scheint, der Inbegriff dieser Gestaltungen
nicht mehr als ein in sich geschlossener Kosmos denken. Die einzelnen
Formen stehen dann einfach nebeneinander: sie lassen sich zwar ihrem
Umfang nach übersehen und in ihrer Resonderheit beschreiben, aber es
drückt sich in ihnen nicht mehr ein gemeinsamer ideeller Gehalt aus.
Die Philosophie dieser Formen müßte dann schließlich in ihre Geschichte
ausmünden, die sich je nach ihren Gegenständen als Sprachgeschichte, als
Religions- und Mythengeschichte, als Kunstgeschichte u. s. f. darstellen
und spezifizieren würde. Somit ergibt sich an diesem Punkte ein eigentüm-
liches Dilemma. Halten wir an der Forderung der logischen Einheit fest,
so droht zuletzt in der Allgemeinheit der logischen Form die Resonderung
jedes Einzelgebiets und die Eigenart seines Prinzips sich zu verwischen —
versenken wir uns dagegen in eben diese Individualität und bleiben wir
bei ihrer Retrachtung stehen, so laufen wir Gefahr, uns in ihr zu ver-
lieren und keinen Rückweg mehr ins Allgemeine zu finden. Ein Ausweg
aus diesem methodischen Dilemma könnte nur dann gefunden werden,
wenn es gelänge, ein Moment aufzuweisen und zu ergreifen, das sich in
jeder geistigen Grundform wiederfindet und das doch andererseits in
keiner von ihnen in schlechthin gleicher Gestalt wiederkehrt. Dann ließe
sich im Hinblick auf dieses Moment der ideelle Zusammenhang der ein-
zelnen Gebiete — der Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der
Sprache und der Erkenntnis, des Ästhetischen und des Religiösen — be-
haupten, ohne daß in ihm die unvergleichliche Eigenheit einer jeden
von ihnen verloren ginge. Wenn sich ein Medium finden ließe, durch
welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grund-
richtungen vollzieht, hindurchgeht, und in welchem sie nichtsdestoweniger
ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt, — so wäre
damit das notwendige Mittelglied für eine Retrachtung gegeben, die das-
jenige, was die transzendentale Kritik für die reine Erkenntnis leistet,
auf die Allheit der geistigen Formen überträgt. Die nächste Frage, die
wir uns zu stellen haben, wird also darin bestehen, ob es in der Tat für
die mannigfachen Richtungen des Geistes ein solches mittleres Gebiet
und eine vermittelnde Funktion gibt, und ob diese Funktion bestimmte
16
typische Grundzüge aufweist, kraft deren sie sich erkennen und be-
schreiben läßt.
II
Wir greifen hierfür zunächst wieder auf den Begriff des „Symbols"
zurück, wie ihn Heinrich Hertz vom Standpunkt der physikalischen Er-
kenntnis fordert und kennzeichnet. Was der Physiker in den Erscheinungen
sucht ist die Darstellung ihrer notwendigen Verknüpfung. Aber diese Dar-
stellung läßt sich nicht anders vollziehen, als dadurch, daß er die unmittel-
bare Welt der sinnlichen Eindrücke nicht nur hinter sich läßt, sondern sich
scheinbar völlig von ihnen abwendet. Die Begriffe, mit denen er operiert, die
Begriffe des Raumes und der Zeit, der Masse und der Kraft, des materiellen
Punktes und der Energie, des Atoms oder des Äthers sind freie „Schein-
bilder", die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfah-
rung zu beherrschen und als gesetzlich-geordnete Welt zu übersehen,
denen aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht
Aber obwohl keine derartige Entsprechung stattfindet — und vielleicht
gerade weil sie nicht stattfindet — ist doch die Begriffswelt der Physik
in sich selbst völlig geschlossen. Jeder Einzelbegriff, jedes besonder©
Scheinbild und Zeichen gleicht dem artikulierten Wort einer in sich be-
deutungs- und sinnvollen, nach festen Regeln gegliederten Sprache. Schon
in den ersten Anfängen der modernen Physik, schon bei Galilei findet
sich der Vergleich, daß das „Buch der Natur" in mathematischer Sprache
verfaßt und nur in mathematischer Chiffreschrift lesbar sei. Und seit-
her zeigt die gesamte Entwicklung der exakten Naturwissenschaft, wie in
der Tat jeder Fortschritt ihrer Problemstellung und ihrer Begriffsmittel
mit einer zunehmenden Verfeinerung ihres Zeichensystems Hand in
Hand ging. Die scharfe Erfassung der Grundbegriffe der Galileischen
Mechanik gelang erst, als durch den Algorithmus der Differentialrech-
nung gleichsam der allgemein logische Ort dieser Begriffe bestimmt und
ein allgemeingültiges mathematisch-logisches Zeichen für sie geschaffen
war. Und von hier aus, von den Problemen, die mit der Entdeckung der
Analysis des Unendlichen zusammenhingen, vermochte Leibniz alsbald
das allgemeine Problem, das in der Funktion der Zeichengebung enthalten
ist, aufs schärfste zu bestimmen, vermochte er den Plan seiner univer-
sellen „Charakteristik" zu einer wahrhaft philosophischen Bedeutung zu
erheben. Die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und
Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht,
kann nach der Grundüberzeugung, die er vertritt und festhält, von der
Logik der Zeichen nicht getrennt werden. Denn das Zeichen ist keine
bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesent-
liches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig-
gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft desssen dieser
Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Be-
stimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts
geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen
Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte
Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es
sich stützt. Jedes „Gesetz" der Natur nimmt für unser Denken die Gestalt
einer allgemeinen „Formel" an — jede Formel aber läßt sich nicht
anders denn durch eine Verknüpfung allgemeiner und spezifischer Zei-
chen darstellen. Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik
und Algebra darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik,
kein besonderes Naturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam
sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das
Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer
nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt.
Aber dieses Wechsel Verhältnis bleibt nun nicht auf die Wissenschaft
beschränkt, sondern geht auch durch alle anderen Grundformen geistigen
Schaffens hindurch. Für sie alle gilt, daß sie die ihnen gemäße und eigen-
tümliche Auffassungs- und Gestaltungsweise nur dadurch zur Geltung
bringen können, daß sie für sie gleichsam ein bestimmtes sinnliches Sub-
strat erschaffen. So wesentlich ist hier dieses Substrat, daß es bisweilen
den gesamten Bedeutungsgehalt, den eigentlichen „Sinn" dieser Formen zu
umschliessen scheint. Die Sprache scheint sich vollständig als ein System
von Lautzeichen definieren und denken zu lassen — die Welt der Kunst
und die des Mythos scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich-faß-
baren Gestalten, die beide vor uns hinstellen, zu erschöpfen. Und damit ist
in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so
verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes
erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur
an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem
Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die
verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen — ge-
länge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere
Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das
Ideal der „allgemeinen Charakteristik", wie Leibniz es für die Erkenntnis
aufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen als-
18
dann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch
welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache
und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt
und generell mitbestimmt würden.
Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des
traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser
Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem „mundus sensibilis"
einen anderen Kosmos, den „mundus intelligibilis" gegenüberzustellen
und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. Im wesentlichen
aber verlief die Grenze derart, daß die Welt des Intelligiblen durch das
Moment des reinen Tuns, die Welt des Sinnlichen durch das Moment des
Leidens bestimmt wurde. Dort herrschte die freie Spontaneität des Geisti-
gen, hier die Gebundenheit, die Passivität des Sinnlichen. Für jene „all-
gemeine Charakteristik" aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt
im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dieser Gegensatz
kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinn-
lichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbe-
ziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider er-
scheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funk-
tion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen
muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. Im Kreis des
Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße „Reaktion" und
dem, was reine „Aktion" ist, zwischen dem, was der Sphäre des „Ein-
drucks" und dem, was der Sphäre des „Ausdrucks" angehört, unter-
schieden werden. Der dogmatische Sensualismus fehlt nicht nur darin,
daß er die Bedeutung und Leistung der rein intellektuellen Faktoren
unterschätzt, sondern vor allem auch darin, daß er die Sinnlichkeit
selbst, wenngleich er sie als eigentliche Grundkraft des Geistes pro-
klamiert, keineswegs in der ganzen Weite ihres Begriffs und in der Totali-
tät ihrer Leistungen erfaßt. Er entwirft auch von ihr ein ungenügendes
und verstümmeltes Bild, sofern er sie lediglich auf die Welt der „Im-
pressionen", auf die unmittelbare Gegebenheit der einfachen Empfindun-
gen beschränkt. Darin ist verkannt, daß es auch eine Aktivität des Sinn-
lichen selbst, daß es, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen,
auch eine „exakte sinnliche Phantasie" gibt, die sich in den verschieden-
sten Gebieten geistigen Schaffens als wirksam erweist. In ihnen allen
zeigt sich in der Tat dies als das eigentliche Vehikel ihres immanenten
Fortgangs, daß sie neben und über der Welt der Wahrnehmung eine
eigene freie Bildwelt erstehen lassen: eine Welt, die ihrer unmittelbaren
2*
19
Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt,
die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinn-
lichkeit darstellt. Hier handelt es sich nicht um ein einfach gegebenes und
vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannig-
faltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden.
So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der un-
mittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß
wir es „benennen" und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen
Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen
Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen
ganz neuen „Bestand", weil eine neue geistige Artikulation. Die Unter-
scheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch
den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen
geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über
die bloße Unmittelbarkeit der sogen, sinnlichen Qualitäten erhoben sind.
So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen
sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt
der Anschauung und Vorstellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits
jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiterhin in der Bildung des Be-
griffs, als wissenschaftlichen Begriffs, als bestimmter logischer Form-
einheit äußert. Hier liegt der erste Anfang jener allgemeinsten Funktion
des Trennens und Verknüpfens, die ihren höchsten bewußten Ausdruck
in den Analysen und Synthesen des wissenschaftlichen Denkens findet.
Und neben der Welt der Sprach- und Begriffszeichen steht nun, mit ihr
unvergleichbar und ihr dennoch dem geistigen Ursprung nach verwandt,
jene Gestaltenwelt, die der Mythos oder die Kunst erschafft. Denn auch
die mythische Phantasie ist, so stark sie im Sinnlichen wurzelt, doch über
die bloße Passivität des Sinnlichen hinaus. Mißt man sie an den gewöhn-
lichen empirischen Maßstäben, wie sie die sinnliche Erfahrung uns dar-
bietet, so müssen ihre Gebilde als schlechthin „unwirklich" erscheinen,
aber gerade in dieser Unwirklichkeit bekundet sich die Spontaneität und
die innere Freiheit der mythischen Funktion. Und diese Freiheit fällt
keineswegs mit einer völlig gesetzlosen Willkür zusammen. Die Welt des
Mythos ist kein bloßes Gebilde der Laune oder des Zufalls, sondern sie
hat ihre eigenen Fundamentalgesetze des Bildens, die durch alle ihre be-
sonderen Äußerungen hindurchwirken. Im Gebiet der künstlerischen An-
schauung wird es sodann vollends deutlich, daß alle Auffassung einer
ästhetischen Form am Sinnlichen nur dadurch möglich wird, daß wir
selbst die Grundelemente der Form bildend erzeugen. Alles Verständnis
20
räumlicher Gestalten z. B. ist zuletzt an diese Tätigkeit ihrer inneren Pro-
duktion und an die Gesetzmäßigkeit dieser Produktion gebunden. So
zeigt sich durchweg, wie gerade die höchste und reinste geistige Aktivität,
die das Bewußtsein kennt, durch bestimmte Weisen der sinnlichen Akti-
vität bedingt und vermittelt ist. Auch hier haben wir das eigentliche und
wesentliche Leben der reinen Idee immer nur am farbigen Abglanz der
Erscheinungen. Das System der mannigfachen Äußerungen des Geistes ist
für uns nicht anders erfaßbar, als dadurch, daß wir die verschiedenen
Richtungen seiner ursprünglichen Bildkraft verfolgen. In dieser erblicken
wir im Reflex die Wesenheit des Geistes — denn diese kann sich für uns
nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen
Materials betätigt
Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in
der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet,
das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an
mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten. Sie
alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewußtseinserschei-
nungen hinaus; — sie beanspruchen ihnen gegenüber ein Allgemein-
gültiges hinzustellen. Dieser Anspruch mag sich vor einer späteren
kritisch-philosophischen Betrachtung und vor ihrem entwickelten und
durchgebildeten Wahrheitsbegriff möglicherweise als hinfällig erweisen;
— aber daß er überhaupt erhoben wird, gehört zum Wesen und Cha-
rakter der einzelnen Grundformen selbst. Sie selbst sehen ihre Gebilde
nicht nur überhaupt als objektiv-gültig, sondern zumeist geradezu als
den eigentlichen Kern des Objektiven, des „Wirklichen" an. So ist es für
die ersten gleichsam naiven und unreflektierten Äußerungen des sprach-
lichen Denkens, wie für das Denken des Mythos bezeichnend, daß sich
für sie der Inhalt der „Sache" und der des „Zeichens" nicht deutlich
scheidet, sondern daß beides in völliger Indifferenz in einander überzu-
gehen pflegt. Der Name einer Sache und diese selbst sind untrennbar mit
einander verschmolzen; — das bloße Wort oder Bild birgt in sich eine
magische Kraft, durch die sich uns das Wesen des Dinges zu eigen gibt.
Und man braucht diese Anschauung nur vom Reellen ins Ideelle, vom
Dinglichen ins Funktionale zu wenden, um in ihr in der Tat einen berech-
tigten Kern zu entdecken. Denn wirklich bildet in der immanenten Ent-
wicklung des Geistes der Gewinn des Zeichens stets einen ersten und
notwendigen Schritt für die Gewinnung der objektiven Wesenserkenntnis.
Das Zeichen bildet gleichsam für das Bewußtsein das erste Stadium und
den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen
21
Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes
bestimmt und herausgehoben wird. Kein bloßer Inhalt des Bewußtseins
kehrt als solcher, nachdem er einmal vergangen und durch andere ersetzt
ist, in streng-identischer Bestimmtheit wieder. Er ist als das, was er war,
ein für alle mal dahin, sobald er aus dem Bewußtsein geschwunden ist.
Aber diesem unaufhörlichen Wechsel der inhaltlichen Qualitäten stellt
nun das Bewußtsein die Einheit seiner selbst und seiner Form gegenüber.
Seine Identität beweist sich nicht in dem, was es ist oder hat, sondern in
dem, was es tut, erst wahrhaft. Durch das Zeichen, das mit einem Inhalt ver-
knüpft wird, gewinnt dieser in sich selbst einen neuen Bestand undeine neue
Dauer. Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel
der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu,
die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Emp-
findung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als
Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte,
deren jedem gegenüber es also ein erstes „Allgemeines" darstellt. In der
symbolischen Funktion des Bewußtseins, wie sie sich in der Sprache,
in der Kunst, im Mythos betätigt, heben sich zuerst aus dem Strom des
Bewußtseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begriff-
licher, teils rein anschaulicher Natur heraus; an die Stelle des ver-
fließenden Inhalts tritt die in sich geschlossene und in sich beharrende
Einheit der Form.
Dabei aber handelt es sich nicht um einen bloßen Einzelakt, sondern
um einen stetig fortschreitenden Prozeß der Bestimmung, der der ge-
samten Entwicklung des Bewußtseins sein Gepräge gibt. Auf der ersten
Stufe scheint die Fixierung, die dem Inhalt durch das sprachliche
Zeichen, durch das mythische oder künstlerische Bild zuteil wird, über
sein Festhalten in der Erinnerung, also über seine einfache Repro-
duktion nicht hinauszugehen. Das Zeichen scheint hier dem Inhalt, auf
den es sich bezieht, nichts hinzuzufügen, sondern ihn einfach seinem
reinen Bestand nach festzuhalten und zu wiederholen. Selbst in der psycho-
logischen Entwicklungsgeschichte der Kunst hat man eine Phase der
bloßen „Erinnerungskunst" nachweisen zu können geglaubt, in der alle
künstlerische Gestaltung noch in der einzigen Richtung wirkt, daß be-
stimmte Züge des Sinnlich-Wahrgenommenen hervorgehoben und in
einem selbstgeschaffenen Bilde der Erinnerung dargeboten werden1.
Aber je klarer die einzelnen Grundrichtungen in ihrer spezifischen
Energie hervortreten, um so deutlicher wird zugleich, daß auch alle
1 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. III: Die Kunst, 2. Aufl., S.nöff.
22
scheinbare „Reproduktion" für das Bewußtsein stets eine ursprüngliche
und autonome Leistung zur Voraussetzung hat. Die Reproduzierbarkeit des
Inhalts selbst ist an die Produktion eines Zeichens für ihn gebunden, in
welcher das Bewußtsein frei und selbständig verfährt. Damit gewinnt
auch der Begriff der „Erinnerung" einen reicheren und tieferen Sinn.
Um sich eines Inhalts zu erinnern, muß ihn sich das Bewußtsein zuvor
auf eine andere Weise als in der bloßen Empfindung oder Wahrnehmung
innerlich zu eigen gemacht haben. Hier genügt nicht die bloße Wieder-
holung des Gegebenen in einem anderen Zeitpunkt, sondern in ihr muß
sich zugleich eine neue Art der Auffassung und Formung geltend machen.
Denn jede „Reproduktion" des Inhalts schließt schon eine neue Stufe
der „Reflexion" in sich. Schon indem das Bewußtsein ihn nicht mehr
einfach als gegenwärtigen hinnimmt, sondern ihn als etwas Vergangenes
und dennoch für es selbst nicht Verschwundenes im Bilde vor sich hin-
stellt, hat es durch dies veränderte Verhältnis, in das es zu ihm tritt,
sich und ihm eine veränderte ideelle Bedeutung gegeben. Und diese tritt
nun immer bestimmter und reicher hervor, je mehr die eigene Bildwelt
des Ich sich differenziert. Das Ich übt jetzt nicht nur eine ursprüngliche
Aktivität des Bildens aus, sondern es lernt sie zugleich tiefer und tiefer
verstehen. Und damit treten die Grenzen der „subjektiven" und der „ob-
jektiven" Welt erst wahrhaft klar und scharf heraus. Es ist eine der
wesentlichen Aufgaben der allgemeinen Erkenntniskritik, die Gesetze auf-
zuweisen, nach denen diese Abgrenzung sich innerhalb des rein theore-
tischen Gebiets, mit den Methoden des wissenschaftlichen Denkens, voll-
zieht. Sie zeigt, daß das „subjektive" und das „objektive" Sein nicht von
Anfang an als starr geschiedene, inhaltlich völlig bestimmte Sphären ein-
ander gegenüberstehen, sondern daß beide erst im Prozeß der Erkenntnis
und gemäß den Mitteln und Bedingungen desselben ihre Bestimmtheit
gewinnen. So erweist sich die kategoriale Scheidung zwischen „Ich" und
„Nicht-Ich" als eine durchgreifende, beständig wirksame Funktion des
theoretischen Denkens, während die Art, wie diese Funktion ihre Er-
füllung findet, wie also die Inhalte des „subjektiven" und des „objek-
tiven" Seins sich gegen einander begrenzen, je nach der erreichten Er-
kenntnisstufe verschieden ist. Das „Objektive" der Erfahrung sind, für
die theoretisch-wissenschaftliche Weltbetrachtung, ihre beständigen und
notwendigen Elemente — welchen Inhalten aber diese Beständigkeit und
Notwendigkeit zuerkannt wird, das hängt einerseits von dem allgemeinen
methodischen Maßstab ab, den das Denken an die Erfahrung anlegt,
andererseits ist es durch den jeweiligen Stand der Erkenntnis, durch die
23
Gesamtheit ihrer empirisch und theoretisch gesicherten Einsichten be-
dingt. Die Art, in der wir den begrifflichen Gegensatz des „Subjektiven"
und „Objektiven" in der Gestaltung der Erfahrungswelt, im Aufbau der
Natur zur Anwendung und Durchführung bringen, zeigt sich, in diesem
Zusammenhang betrachtet, nicht sowohl als die Lösung des Erkenntnis-
problems, als vielmehr als der vollständige Ausdruck desselben1. Aber
in seinem ganzen Reichtum und in seiner inneren Vielgestaltigkeit er-
scheint dieser Gegensatz erst dann, wenn wir ihn über die Grenzen des
theoretischen Denkens und seiner spezifischen Begriffsmittel hinaus ver-
folgen. Nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Sprache, dem
Mythos, der Kunst, der Religion ist es eigen, daß sie die Bausteine
liefern, aus denen sich für uns die Welt des „Wirklichen", wie die des
Geistigen, die Welt des Ich aufbaut. Auch sie können wir nicht als ein-
fache Gebilde in eine gegebene Welt hineinstellen, sondern wir müssen
sie als Funktionen begreifen, kraft deren je eine eigentümliche Ge-
staltung des Seins und je eine besondere Teilung und Scheidung desselben
sich vollzieht. Ebenso wie die Mittel verschieden sind, deren sich jede
Funktion hierbei bedient, wie es ganz verschiedene Maßstäbe und Kriterien
sind, die von jeder einzelnen vorausgesetzt und zur Anwendung gebracht
werden, so ist auch das Ergebnis ein verschiedenes. Der Wahrheits- und
Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der
Religion oder der Kunst ist — so wahr es ein besonderes und unver-
gleichliches Grundverhältnis ist, das in ihnen zwischen „Innen" und
„Außen", zwischen dem Sein des Ich und der Welt nicht sowohl be-
zeichnet, als vielmehr gestiftet wird. Ehe zwischen all diesen mannig-
fachen, einander kreuzenden und einander widersprechenden Ansichten
und Ansprüchen entschieden werden kann, müssen sie zunächst in
kritischer Genauigkeit und Strenge unterschieden werden. Die Lei-
stung jeder einzelnen muß an ihr selbst, nicht an den Maßstäben und
Forderungen irgendeiner anderen, gemessen werden — und erst am
Ende dieser Betrachtung kann sich die Frage erheben, ob und wie alle
diese verschiedenen Formen der Welt- und Ich-Auffassung miteinander
vereinbar sind — ob sie zwar nicht ein und dasselbe, an sich bestehende
„Ding" abbilden, wohl aber sich zu einer Totalität und zu einer einheit-
lichen Systematik des geistigen Tuns ergänzen. —
Für die Philosophie der Sprache ist diese Betrachtungsweise zuerst
von Wilh. v. Humboldt in voller Klarheit erfaßt und durchgeführt
1 Zur Ergänzung und näheren Begründung vgl. die Darstellung in m. Schrift: Sub-
stanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, Cap. VI.
a4
worden. Für Humboldt ist das Lautzeichen, das die Materie aller Sprach-
bildung darstellt, gleichsam die Brücke zwischen dem Subjektiven und
Objektiven, weil sich in ihm die wesentlichen Momente beider vereinen.
Denn der Laut ist auf der einen Seite gesprochener und insofern von uns
selbst hervorgebrachter und geformter Laut; auf der anderen Seite aber
ist er, als gehörter Laut, ein Teil der sinnlichen Wirklichkeit, die uns
umgibt Wir erfassen und kennen ihn daher als ein zugleich „Inneres"
und „Äußeres" — als eine Energie des Inneren, die sich in einem Äußeren
ausprägt und objektiviert. „Indem in der Sprache das geistige Bestreben
sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum
eigenen Ohr zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität
hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. Dies
vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch
stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurück-
kehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre
Denken unmöglich . . . Denn die Sprache kann ja nicht als ein da-
liegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer
Stoff, sondern muß als ein sich ewig erzeugendes angesehen werden,
wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und ge-
wissermaßen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben
. . . Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen,
so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich'
auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten,
um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten1."
In dieser kritisch-idealistischen Auffassung der Sprache ist zugleich ein
Moment bezeichnet, das für jede Art und für jede Form der Symbol-/
gebung gültig ist. In jedem von ihm frei entworfenen Zeichen erfaßt der
Geist den „Gegenstand", indem er dabei zugleich sich selbst und die
eigene Gesetzlichkeit seines Bildens erfaßt. Und diese eigentümliche Durch-
dringung bereitet erst der tieferen Bestimmung der Subjektivität wie der
Objektivität den Boden. Auf der ersten Stufe dieser Bestimmung hat es
den Anschein, als ob die beiden gegensätzlichen Momente noch einfach
getrennt neben und gegen einander stünden. Die Sprache etwa kann in
ihren frühesten Bildungen gleich sehr als reiner Ausdruck des Inneren,
wie des Äußeren, als Ausdruck der bloßen Subjektivität, wie der bloßen
Objektivität gefaßt werden. In der ersteren Hinsicht scheint der Sprach-
laut nichts anderes als den Erregungs- und Affektlaut, in der zweiten
nichts anderes als den einfachen Nachahmungslaut zu bedeuten. Die
* S.Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk, S.-W. (Akademie-Ausg.), VII, 55ff.
verschiedenen spekulativen Ansichten, die über den „Ursprung der
Sprache'* geäußert worden sind, bewegen sich in der Tat zwischen diesen
beiden Extremen, deren keines jedoch den Kern und das geistige Wesen
der Sprache selbst trifft. Denn durch sie wird weder ein einseitig Sub-
jektives, noch ein einseitig Objektives bezeichnet und zum Ausdruck ge-
bracht, sondern es tritt in ihr eine neue Vermittlung, eine eigentümliche
Wechselbestimmung zwischen beiden Faktoren ein. Weder die bloße
Entladung des Affekts, noch die Wiederholung objektiver lautlicher Reize
stellt demgemäß schon den charakteristischen Sinn und die charakte-
ristische Form der Sprache dar: diese entsteht vielmehr erst dort, wo
beide Enden sich in eins verknüpfen und dadurch eine neue vorher nicht
gegebene Synthese von „Ich" und „Welt" geschaffen wird. Und eine
analoge Beziehung stellt sich weiterhin in jeder wahrhaft selbständigen
und ursprünglichen Richtung des Bewußtseins her. Auch die Kunst kann
so wenig als der bloße Ausdruck des Inneren, wie als die Wiedergabe der
Gestalten einer äußeren Wirklichkeit bestimmt und begriffen werden,
sondern auch in ihr liegt das entscheidende und auszeichnende Moment
in der Art, wie durch sie das „Subjektive" und das „Objektive", wie das
reine Gefühl und die reine Gestalt ineinander aufgehen und eben in die-
sem Aufgehen einen neuen Bestand und Inhalt gewinnen. Noch schärfer,
als es in der Beschränkung auf die rein intellektuelle Funktion möglich
ist, tritt in all diesen Beispielen hervor, daß wir in der Analyse der geisti-
gen Formen nicht mit einer feststehenden dogmatischen Abgrenzung des
Subjektiven gegen das Objektive beginnen können, sondern daß ihre
Begrenzung und die Feststellung ihres Bereichs erst durch diese Formen
selbst vollzogen wird. Jede besondere geistige Energie trägt in besonderer
Weise zu dieser Feststellung bei und wirkt demgemäß an der Konstituie-
rung des Ichbegriffs, wie des W'eltbegriffs mit. Die Erkenntnis wie
die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie
ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen des äußeren oder des
inneren Seins, so wie sie sich in ihm erzeugen, einfach zurückwirft, son-
dern sie sind statt solcher indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen
Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Ge-
staltung.
III
Das erste Problem, das uns in der Analyse der Sprache, der Kunst, des
Mythos entgegentritt, besteht in der Frage, wie überhaupt ein bestimmter
sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen „Bedeu-
tung" gemacht werden kann. Begnügt man sich damit, alle diese Gebiete
26
rein ihrem materiellen Bestand nach aufzufassen, also die Zeichen, deren sie
sich bedienen, lediglich ihrer physischen Beschaffenheit nach zu beschrei-
ben, so wird man auf einen Inbegriff besonderer Empfindungen, auf
einfache Qualitäten des Gesichts-, Gehörs- oder Tastsinns als letzte Grund-
elemente zurückgeführt. Aber nun begibt sich das Wunder, daß diese
einfache sinnliche Materie durch die Art, in der sie betrachtet wird, ein
neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt. Indem der physische
Laut, der sich als solcher nur durch Höhe und Tiefe, durch Intensität
und Qualität unterscheidet, sich zum Sprachlaut formt, bestimmt er sich
damit zum Ausdruck der feinsten gedanklichen und gefühlsmäßigen
Differenzen. Was er unmittelbar ist, tritt jetzt völlig zurück gegenüber
dem, was er mittelbar leistet und „besagt* '. Auch die konkreten Einzel-
elemente, aus denen das Werk der Kunst sich aufbaut, zeigen deutlich
dieses Grundverhältnis. Kein künstlerisches Gebilde läßt sich als die ein-
fache Summe dieser Elemente verstehen, sondern in jedem wirkt ein
bestimmtes Gesetz und ein spezifischer Sinn ästhetischer Formgebung.
Die Synthese, in der das Bewußtsein eine Folge von Tönen zur Einheit
einer Melodie verknüpft, ist von derjenigen, kraft deren eine Mannigfal-
tigkeit von Sprachlauten sich für uns zur Einheit eines „Satzes" zusam-
menfügt, offenbar völlig verschieden. Aber gemeinsam ist ihnen das Eine,
daß in beiden Fällen die sinnlichen Einzelheiten nicht für sich stehen
bleiben, sondern daß sie sich einem Bewußtseins-Ganzen einfügen und
von diesem erst ihren qualitativen Sinn erhalten. —
Versuchen wir, die Gesamtheit der Beziehungen, durch welche die Ein-
heit des Bewußtseins bezeichnet und als solche konstituiert wird, in einem
ersten allgemeinen Überblick vor uns hinzustellen, so werden wir zu-
nächst auf eine Reihe bestimmter Grundrelationen geführt, die als eigen-
tümliche und selbständige „Weisen" der Verknüpfung einander gegen-
überstehen. Das Moment des „Nebeneinander", wie es sich in der Form
des Raumes, das Moment des Nacheinander, wie es sich in der Form
der Zeit darstellt — die Verknüpfung von Seinsbestimmungen in der Art,
daß die eine als „Ding", die andere als „Eigenschaft" gefaßt wird,
oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als
Ursache des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ur-
sprünglichen Beziehungsarten. Der Sensualismus versucht vergeblich, sie
aus dem unmittelbaren Inhalt der einzelnen Impressionen herzuleiten und
zu erklären. „Fünf Töne auf einer Flöte" mögen immerhin, nach Humes
bekannter psychologischer Theorie, die Vorstellung der Zeit „ergeben" —
aber dies Resultat ist nur dann möglich, wenn das charakteristische Be-
27
ziehungs- und Ordnungsmoment des „Nacheinander" schon stillschwei-
gend in den Inhalt der Einzeltöne mit aufgenommen und damit also die
Zeit ihrer allgemeinen Strukturform nach bereits vorausgesetzt wird. Für
die psychologische wie für die erkenntniskritische Analyse erweisen sich
daher die eigentlichen Grundformen der Beziehung schließlich als ebenso-
viele einfache und auf einander nicht reduzierbare „Qualitäten" des Be-
wußtseins, als es die einfachen Sinnesqualitäten, die Elemente der Ge-
sichts-, der Gehörs- oder Tastempfindung sind. Und doch kann sich auf
der anderen Seite das philosophische Denken nicht dabei beruhigen, die
Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen lediglich als solche, als einfachen
faktischen Tatbestand hinzunehmen. Bei den Empfindungen mögen wir
uns damit begnügen, ihre verschiedenen Grundklassen einfach aufzu-
zählen und sie als unverbundene Vielheit vor uns hinzustellen: — was
dagegen die Relationen betrifft, so scheint das, was sie als Einzel-
formen der Verknüpfungen leisten, nur dann für uns faßbar und ver-
ständlich zu werden, wenn wir sie selbst wieder durch eine Synthesis
höherer Art miteinander verknüpft denken. Seit Piaton im Sophistes
dieses Problem der xoivcovta rcbv yevwv, der systematischen „Gemein-
schaft" der reinen Ideen und Formbegriffe aufgestellt hat, ist es in der
Geschichte des philosophischen Denkens nicht wieder zur Ruhe gekom-
men. Die kritische und die metaphysisch-spekulative Lösung dieses Pro-
blems aber unterscheiden sich darin, daß beide einen verschiedenen Begriff
des „Allgemeinen" und damit einen verschiedenen Sinn des logischen
Systems selber voraussetzen. Die erstere Betrachtung geht auf den Begriff
des Analytisch-Allgemeinen zurück, die zweite zielt auf den des Synthe-
tisch-Allgemeinen hin. Dort begnügen wir uns damit, die Mannigfaltig-
keit der möglichen Verknüpfungsformen in einem höchsten Systembe-
griff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen
unterzuordnen; hier suchen wir zu verstehen, wie sich aus einem ein-
zigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen
Formen entwickelt. Wenn die letztere Betrachtungsweise nur einen An-
fangspunkt und einen Zielpunkt zuläßt, die beide durch die stete An-
wendung ein und desselben methodischen Prinzips im synthetisch-deduk-
tiven Beweisgang mit einander verknüpft und vermittelt werden — so
duldet die andere nicht nur, sondern sie fordert geradezu eine Mehrheit
verschiedener „Dimensionen" der Betrachtung. Sie stellt das Problem
einer Einheit, die von Anfang an auf Einfachheit verzichtet. Die ver-
schiedenen Weisen der geistigen Formung werden als solche anerkannt,
ohne daß der Versuch gemacht wird, sie einer einzigen, einfach-fort-
38
schreitenden Reihe einzuordnen. Und doch wird, gerade in einer solchen
Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformen unter sich keines-
wegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt der Gedanke des
Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eines ein-
fachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt. Jede Form
wird sozusagen einer besonderen Ebene zugeteilt, innerhalb welcher sie
sich auswirkt und in der sie ihre spezifische Eigenart völlig unabhängig
entfaltet — aber gerade in der Gesamtheit dieser ideellen Wirkungsweisen
treten nun zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische Verhal-
tungsweisen hervor, die sich als solche herausheben und beschreiben
lassen.
Als erstes Moment tritt uns hierbei ein Unterschied entgegen, den wir
als den der Qualität und der Modalität der Formen bezeichnen können.
Unter der „Qualität" einer bestimmten Beziehung soll hierbei die beson-
dere Verknüpfungsart verstanden werden, kraft deren sie innerhalb des
Bewußtseinsganzen Reihen schafft, die einem speziellen Gesetz der Zu-
ordnung ihrer Glieder unterstehen. So bildet etwa das „Beisammen"
gegenüber dem „Nacheinander", die Form der simultanen gegenüber der
der successiven Verknüpfung eine solche selbständige Qualität. Nun kann
aber andererseits ein und dieselbe Beziehungsform auch dadurch eine
innere Wandlung erfahren, daß sie innerhalb eines anderen Form Zu-
sammenhangs steht. Jede einzelne Beziehung gehört — unbeschadet
ihrer Besonderheit — immer zugleich einem Sinn ganzen an, das selbst
wieder seine eigene „Natur", sein in sich geschlossenes Formgesetz be-
sitzt. So ist z. B. diejenige allgemeine Relation, die wir „Zeit" benennen,
gleich sehr ein Element der theoretisch-wissenschaftlichen Erkennt-
nis, wie sie ein wesentliches Moment für bestimmte Gebilde des ästhe-
tischen Bewußtseins darstellt. Die Zeit, wie sie bei Newton im Beginn
der Mechanik als beharrliche Basis alles Geschehens und als das in sich
gleichförmige Maß aller Veränderungen erklärt wird, scheint mit der Zeit,
wie sie im musikalischen Kunstwerk und in seinen rhythmischen Maßen
waltet, zunächst kaum mehr als den Namen gemein zu haben — und
doch schließt diese Einheit der Benennung wenigstens insofern eine Ein-
heit der Bedeutung in sich, als in beiden jene allgemeine und abstrakte
Qualität gesetzt ist, die wir durch den Ausdruck des „Nacheinander" be-
zeichnen. Aber es ist freilich je eine besondere „Weise", je ein eigener
Modus des Nacheinander, der im Bewußtsein der Naturgesetze als Ge-
setzen von der Zeitform des Geschehens und der in der Erfassung der
rhythmischen Maße eines Tongebildes waltet. Analog können wir gewisse
29
räumliche Formen, gewisse Komplexe von Linien und Figuren, in dem
einen Fall als künstlerisches Ornament, in dem anderen als geometrische
Zeichnung auffassen und kraft dieser Auffassung ein und demselben Ma-
terial einen ganz verschiedenen Sinn verleihen. Die Einheit des Raumes,
die wir uns im ästhetischen Schauen und Erzeugen, in der Malerei, in der
Plastik, in der Architektur aufbauen, gehört einer ganz anderen Stufe an,
als diejenige, die sich in bestimmten geometrischen Lehrsätzen und in
einer bestimmten Form der geometrischen Axiomatik darstellt. Hier gilt
die Modalität des logisch-geometrischen Begriffs, dort die Modalität der
künstlerischen Raumphantasie: — hier wird der Raum als ein Inbegriff
von einander abhängiger Bestimmungen, als ein System von „Gründen"
und „Folgen" gedacht, dort wird er als ein Ganzes, im dynamischen In-
einander seiner Einzelmomente, als anschauliche und gefühlsmäßige Ein-
heit erfaßt. Und damit ist die Reihe der Gestaltungen, die das Raum-
bewußtsein durchläuft, noch nicht erschöpft: denn auch im mythischen
Denken zeigt sich eine ganz eigentümliche Raumansicht, eine Weise der
Gliederung und der „Orientierung" der Welt nach räumlichen Gesichts-
punkten, die von der Art, in der sich im empirischen Denken die räum-
liche Gliederung des Kosmos vollzieht, scharf und charakteristisch ge-
schieden ist1. Nicht minder erscheint z. B. die allgemeine Form der
„Kausalität" in völlig verschiedenem Lichte, je nachdem wir sie auf
der Stufe des wissenschaftlichen oder des mythischen Denkens betrachten.
Auch der Mythos kennt den Begriff der Kausalität : er gebraucht ihn so-
wohl in seinen allgemeinen Theogonien und Kosmogonien, wie er ihn zur
Deutung einer Fülle von Einzelerscheinungen benutzt, die er auf Grund
dieses Begriffs mythisch „erklärt". Aber das letzte Motiv dieser „Erklä-
rung" ist ein durchaus anderes, als dasjenige, das die kausale Erkennt-
nis durch theoretisch-wissenschaftliche Begriffe beherrscht. Das Pro-
blem des Ursprungs als solches ist der Wissenschaft und dem Mythos
gemeinsam ; aber die Art und der Charakter, die Modalität des Ursprungs
ändert sich, sobald wir von dem einen Gebiet ins andere übertreten, — so-
bald wir den Ursprung, statt ihn als mythische Potenz zu fassen, als
wissenschaftliches Prinzip gebrauchen und ihn als solches verstehen
lernen.
So zeigt sich durchweg, daß, um eine bestimmte Beziehungsform in
ihrem konkreten Gebrauch und in ihrer konkreten Bedeutung zu charak-
terisieren, nicht nur die Angabe ihrer qualitativen Beschaffenheit als
1 Vgl. hrz. m. Studie über die Begriffsform im mythischen Denken (Studien der Bibl.
Warburg I, Lpz. 1922).
3o
solcher, sondern auch die Angabe des Gesamtsystems, in dem sie steht, er-
forderlich ist. Bezeichnen wir etwa schematisch die verschiedenen Rela-
tionsarten — wie die Relation des Raumes, der Zeit, der Kausalität u. s. f. —
als Rlf R2, R3 . . . so gehört zu jeder noch ein besonderer „Index der
Modalität" ju2, ju8 . . ., der angibt, innerhalb welches Funktions-
und Bedeutungszusammenhangs sie zu nehmen ist. Denn jeder dieser Be-
deutungszusammenhänge, die Sprache wie die wissenschaftliche Erkennt-
nis, die Kunst wie der Mythos, besitzt sein eigenes konstitutives Prinzip,
das allen besonderen Gestaltungen in ihm gleichsam sein Siegel aufdrückt.
Es ergibt sich hieraus eine außerordentliche Mannigfaltigkeit von Form-
verhältnissen, deren Reichtum und deren innere Verwicklungen sich
jedoch erst in der genauen Analyse jeder einzelnen Gesamtform über-
blicken lassen. Aber auch abgesehen von dieser Besonderung führt schon
die allgemeinste Betrachtung des Bewußtseinsganzen auf gewisse grund-
legende Einheitsbedingungen, auf Bedingungen der Verknüpfbarkeit, der
geistigen Zusammenfassung und der geistigen Darstellung überhaupt,
zurück. Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein
Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen
Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird.
Kant hat einmal — in seiner Schrift über die negativen Größen — das
Problem der Kausalität dahin formuliert, wie es zu verstehen sei, daß,
weil etwas ist, darum zugleich etwas anderes, von ihm völlig Verschie-
denes sein solle und sein müsse. Wenn man mit der dogmatischen Meta-
physik seinen Ausgangspunkt vom Begriff des absoluten Daseins nimmt
— so muß in der Tat diese Frage zuletzt als unlösbar erscheinen. Denn
ein absolutes Sein fordert auch letzte absolute Elemente, deren jedes in
substantieller Starrheit für sich ist und für sich begriffen werden muß.
Aber dieser Begriff der Substanz weist nun keinen notwendigen, ja nicht
einmal einen begreiflichen Übergang zur Vielheit der Welt, zur Mannig-
faltigkeit und Verschiedenheit ihrer besonderen Erscheinungen auf. Auch
bei Spinoza wird der Übergang von der Substanz als dem, was in se est
et per se concipitur, zu der Reihe der einzelnen abhängigen und veränder-
lichen Modi nicht sowohl deduziert, als vielmehr erschlichen. Überhaupt
sieht sich die Metaphysik, wie ihre Geschichte lehrt, immer deutlicher vor
ein gedankliches Dilemma gestellt. Sie muß entweder mit dem Grund-
begriff des absoluten Daseins vollen begrifflichen Ernst machen, womit
alle Relationen sich zu verflüchtigen, alle Vielheit des Raumes, der Zeit,
der Kausalität sich in bloßen Schein aufzulösen droht — oder sie muß
diese Beziehungen, indem sie sie anerkennt, als ein bloß Äußeres und Zu-
3i
fälliges, als ein schlechthin „Accidentelles", zum Sein hinzutreten lassen.
Dann aber zeigt sich alsbald ein eigentümlicher Rückschlag: denn mehr
und mehr wird nun deutlich, daß eben dieses „Zufällige" dasjenige ist,
was für die Erkenntnis zugänglich und in ihre Formen faßbar ist,
während das nackte „Wesen", das als Grundlage der besonderen Be-
stimmungen gedacht werden sollte, sich in die Leere einer bloßen Ab-
straktion verliert. Was als „All der Realität", als Inbegriff aller Wirk-
lichkeit verstanden werden sollte, das erweist sich zuletzt als ein Etwas,
das nur noch das Moment der bloßen Bestimmbarkeit, aber nichts mehr
von selbständiger und positiver Bestimmtheit in sich enthält.
Dieser Dialektik der metaphysischen Seinslehre ist nur dann zu ent-
gehen, wenn „Inhalt" und „Form", „Element" und „Beziehung" von
Anfang an so gefaßt werden, daß beide nicht als voneinander unabhän-
gige Bestimmungen, sondern als miteinander gegeben und in wechsel-
seitiger Determination gedacht erscheinen. Je schärfer sich in der Ge-
schichte des Denkens die moderne „subjektive" Wendung der Spekulation
ausprägte, um so mehr setzte sich diese allgemeine methodische Forde-
rung durch. Denn die Frage nimmt sofort eine neue Gestalt an, wenn sie
vom Boden des absoluten Seins auf den des Bewußtseins versetzt wird.
Jede „einfache" Qualität des Bewußtseins hat nur insofern einen bestimm-
ten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen und in
durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser
Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht
ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt
demnach kein „Etwas" im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne
weitere Vermittlung ein „Anderes" und eine Reihe von anderen gesetzt
würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch
seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgend-
einer Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsen-
tation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegeben-
heit und „Präsenz" des Inhalts nennen. Dies tritt sofort deutlich hervor,
wenn wir auch nur den einfachsten Fall dieser „Präsenz", wenn wir die
zeitliche Beziehung und die zeitliche „Gegenwart" betrachten. Nichts
scheint sicherer zu sein, als daß alles, was wahrhaft unmittelbar im Be-
wußtsein gegeben ist, sich auf einen einzelnen Zeitpunkt, auf ein be-
stimmtes „Jetzt" bezieht und in ihm beschlossen ist. Das Vergangene ist im
Bewußtsein „nicht mehr", das Zukünftige ist in ihm „noch nicht" vor-
handen : beide scheinen also seiner konkreten Wirklichkeit, seiner eigent-
lichen Aktualität gar nicht anzugehören, sondern in bloße gedankliche Ab-
32
straktionen aufzugehen. Und doch gilt andererseits, daß der Inhalt,
den wir als das „Jetzt" bezeichnen, nichts als die ewig fließende Grenze
ist, die das Vergangene vom Zukünftigen scheidet. Diese Grenze ist, unab-
hängig von dem, was durch sie begrenzt wird, gar nicht setzbar: sie exi-
stirt nur im Akt der Scheidung selbst, nicht als etwas, was vor diesem Akt
und losgelöst von ihm gedacht werden könnte. Nicht als starres substanti-
elles Dasein, sondern nur als der schwebende Übergang vom Vergangenen
zum Künftigen, vom Nicht-Mehr zum Noch-Nicht ist der einzelne zeit-
liche Augenblick, sofern er eben als zeitlicher bestimmt werden soll, zu
fassen. Wo das Jetzt anders, wo es absolut genommen wird, da bildet es
in Wahrheit nicht mehr das Element, sondern die Negation der Zeit. Die
zeitliche Bewegung erscheint dann in ihm angehalten und dadurch ver-
nichtet. Für ein Denken, das wie das Denken der Eleatik lediglich auf
das absolute Sein hinzielt und in ihm zu verharren strebt, ruht der flie-
gende Pfeil — weil ihm in jedem unteilbaren „Jetzt" immer nur eine ein-
zige, eindeutige bestimmte und unteilbare „Lage" zukommt. Soll dagegen
der zeitliche Moment der zeitlichen Bewegung zugehörig gedacht, soll er,
statt aus ihr herausgehoben und ihr entgegengesetzt zu werden, wahrhaft in
sie hineingestellt werden: so ist dies nur dadurch möglich, daß in dem
Moment als einzelnem zugleich der Prozeß als Ganzes mitgedacht wird
und daß beide, Moment und Prozeß, für das Bewußtsein in eine vollkom-
mene Einheit zusammengehen. Die Form der Zeit selbst kann für uns in
keiner anderen Weise „gegeben" sein, als dadurch, daß sich im Zeitele-
ment die Zeitreihe nach vorwärts und nach rückwärts darstellt. Denken
wir uns einen einzelnen Querschnitt des Bewußtseins, so können wir ihn
als solchen nur dadurch erfassen, daß wir nicht lediglich bei ihm selbst
verweilen, sondern in den verschiedenen Beziehungsrichtungen kraft be-
stimmter räumlicher, zeitlicher oder qualitativer Ordnungsfunktionen über
ihn hinausgehen. Weil wir in dieser Weise im aktualen Sein des Be^
wußtseins ein Nicht-Seiendes, im Gegebenen ein Nicht-Gegebenes festzu-
halten vermögen — darum allein gibt es für uns jene Einheit, die wir
auf der einen Seite als die subjektive Einheit des Bewußtseins, auf der
anderen Seite als die objektive Einheit des Gegenstandes bezeichnen.
Auch die psychologische und erkenntniskritische Analyse des Raum-
bewußtseins führt auf die gleiche Urfunktion der Repräsentation zurück.
Denn zunächst setzt alle Erfassung eines räumlichen „Ganzen" die Bil-
dung zeitlicher Gesamtreihen voraus: die „simultane" Synthesis des Be-
wußtseins kann sich, wenngleich sie einen eigenen und ursprünglichen
Wesenszug von ihm ausmacht, doch immer nur auf Grund der
3
33
successiven Synthesis vollenden und darstellen. Sollen bestimmte Elemente
zu einem räumlichen Ganzen vereinigt werden, so müssen sie zuvor im
Nacheinander des Bewußtseins durchlaufen und gemäß einer bestimmten
Regel aufeinander bezogen werden. Weder die sensualistische Psycholo-
gie der Engländer, noch die metaphysische Psychologie Herbarts hat frei-
lich begreiflich zu machen vermocht, wie aus dem Bewußtsein der zeit-
lichen Verknüpfung das der räumlichen entsteht — wie aus der bloßen
Folge von Gesichts-, Tast- und Muskelempfindungen oder aus einem
Komplex einfacher Vorstellungsreihen das Bewußtsein des „Beisammen"
sich bildet. Aber das eine ist jedenfalls in diesen Theorien, die von ganz
verschiedenen Ausgangspunkten herkommen, übereinstimmend anerkannt,
daß der Raum in seiner konkreten Gestaltung und Gliederung nicht als
fertiger Besitz der Seele „gegeben" ist, sondern daß er erst im Prozeß
des Bewußtseins und gleichsam in seiner Gesamtbewegung für uns zu-
stande kommt. Nun würde aber eben dieser Prozeß selbst für uns in
lauter isolierte, gegeneinander beziehungslose Einzelheiten zerfallen und
daher gar nicht die Zusammenfassung zu einem Ergebnis erlauben, wenn
nicht auch hier die allgemeine Möglichkeit bestünde, das Ganze bereits
im Element, wie das Element im Ganzen zu erfassen. Der „Ausdruck des
Vielen im Einen", die multorum in uno expressio, als welche Leibniz
das Bewußtsein überhaupt charakterisiert, tritt somit auch hier bestim-
mend hervor. Zur Anschauung bestimmter räumlicher Gebilde gelan-
gen wir nur, indem wir einerseits Gruppen sinnlicher Wahrnehmungen,
die sich im unmittelbaren sinnlichen Erlebnis wechselseitig verdrängen,
in einer Vorstellung vereinigen und indem wir andererseits diese Einheit
wieder in die Verschiedenheit ihrer einzelnen Komponenten auseinander-
gehen lassen. In solchem Wechselspiel der Konzentration und der Ana-
lyse baut sich erst das räumliche Bewußtsein auf. Die Gestalt erscheint
hierbei ebensowohl als mögliche Bewegung, wie die Bewegung als mög-
liche Gestalt erscheint.
Berkeley hat in seinen Untersuchungen zur Theorie des Sehens, die
einen Anfangspunkt der modernen physiologischen Optik bilden, die Ent-
wicklung der Raumwahrnehmung der Entwicklung der Sprache vergli-
chen. Es ist eine Art natürliche Sprache, d. h. eine feste Zuordnung von
Zeichen und Bedeutungen, durch die nach ihm die räumliche .Anschau-
ung erst gewonnen und erst befestigt werden kann. Nicht indem wir ein
fertig-vorhandenes dingliches Urbild des „absoluten Raumes" in unserer
Vorstellung abbilden, sondern indem wir die verschiedenen, an sich un-
vergleichlichen Eindrücke der mannigfachen Sinnesgebiete, insbesondere
34
des Gesichts- und des Tastsinns, als Repräsentanten und Zeichen für ein-
ander gebrauchen lernen, entstehe für uns die Welt des Raumes als eine
Welt miteinander systematisch verknüpfter und aufeinander bezogener
Perzeptionen. Berkeley hat hierbei, seiner sensualistischen Grundvoraus-
setzung gemäß, versucht, die Sprache des Geistes, die er als eine Bedin-
gung der räumlichen Anschauung nachweist, ausschließlich als eine
Sprache der Sinne zu verstehen. Aber dieser Versuch hebt, näher
betrachtet, sich selbst auf. Denn es liegt schon im Begriff der Sprache
selbst, daß sie niemals bloß sinnlich sein kann, sondern eine eigentüm-
liche Durchdringung und Wechselwirkung sinnlicher und begrifflicher
Faktoren darstellt, sofern in ihr stets die Erfüllung der individuellen
sinnlichen Zeichen mit einem allgemeinen gedanklichen Bedeutungsgehalt
vorausgesetzt wird. Das gleiche gilt auch für jede andere Art der „Re-
präsentation" — der Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem
anderen und durch ein anderes. Denken wir uns die sinnliche Grundlage
für den Aufbau der Raumvorstellung in bestimmten Gesichts-, Bewe-
gungs- und Tastempfindungen gegeben, so enthält doch eben die Summe
dieser Empfindungen nichts von jener charakteristischen Einheitsform,
die wir „Raum" nennen. Diese äußert sich vielmehr erst in einer der-
artigen Zuordnung, daß dadurch von jeder einzelnen dieser Qualitäten
zu ihrer Gesamtheit übergegangen werden kann. Wir denken auf diese
Weise in jedem Element, sofern wir es als räumliches setzen, schon eine
Unendlichkeit möglicher Richtungen gesetzt und der Inbegriff dieser
Richtungen macht erst das Ganze der räumlichen Anschauung aus. Das
räumliche „Bild", das wir von einem einzelnen empirischen Gegenstand,
etwa von einem Hause, besitzen, kommt nur dadurch zustande, daß wir
eine einzelne relativ begrenzte perspektivische Ansicht in diesem Sinne
erweitern; daß wir sie nur als Ausgangspunkt und Anregung benutzen,
um von ihr aus ein sehr komplexes Ganze räumlicher Relationen aufzu-
bauen. In diesem Sinne verstanden ist der Raum nichts weniger als ein
ruhendes Gefäß und Behältnis, in das die „Dinge", als gleichfalls fertige,
eingehen, er stellt vielmehr einen Inbegriff ideeller Funktionen dar, die
sich gegenseitig zur Einheit eines Ergebnisses ergänzen und bestimmen.
Wie wir im einfachen „Jetzt" der Zeit zugleich das Früher und Später,
also die Grundrichtungen des zeitlichen Fortgangs ausgedrückt fanden, so
setzen wir in jedem „Hier" schon ein „Da" und ein „Dort". Die einzelne
Stelle ist nicht vor dem Stellensystem, sondern nur im Hinblick auf das-
selbe und in korrelativer Beziehung zu ihm gegeben.
Eine dritte Form der Einheit, die sich über der räumlichen und zeit-
3*
35
liehen Einheit erhebt, ist die Form der gegenständlichen Verknüp-
fung. Wenn wir einen Inbegriff bestimmter Eigenschaften zum Ganzen
eines beharrlichen Dinges mit mannigfachen und wechselnden Merkmalen
zusammenschließen, so setzt dieser Zusammenschluß die Verknüpfung
im Neben- und Nacheinander voraus, ohne doch in ihr aufzugehen. Das
relativ Konstante muß vom Veränderlichen unterschieden, — bestimmte
räumliche Konfigurationen müssen festgehalten werden, damit der Be-
griff vom Dinge, als dem bleibenden „Träger" der wandelbaren Eigen-
schaften, sich bilden kann. Auf der anderen Seite aber fügt der Gedanke
dieses „Trägers" zur Anschauung des räumlichen Beisammen und des
zeitlichen Nacheinander ein eigenes und neues Moment von selbständiger
Bedeutung hinzu. Die empiristische Analyse der Erkenntnis hat freilich
immer wieder versucht, diese Selbständigkeit zu bestreiten. Sie sieht im
Gedanken des Dinges nichts anderes als eine rein äußerliche Verknüp-
fungsform; sie sucht zu zeigen, daß Inhalt und Form des „Gegenstandes"
sich in der Summe seiner Eigenschaften erschöpft. Aber es tritt hierbei
alsbald derselbe Grundmangel hervor, der der empiristischen Zergliederung
des Ichbegriffs und des Ichbewußtseins anhaftet. Wenn Hume das Ich
als ein „Bündel von Perzeptionen" erklärt, so hebt diese Erklärung —
abgesehen davon, daß in ihr nur die Tatsache der Verbindung über-
haupt festgehalten, aber über die besondere Form und Art der Syn-
these zum „Ich" nicht das geringste ausgesagt ist — sich schon darum
selbst auf, weil im Begriff der Perzeption der Begriff des Ich, der
scheinbar analysiert und in seine Bestandteile zerlegt werden sollte,
noch vollständig unzerlegt enthalten ist. Was die einzelne Perzeption zur
Perzeption macht, was sie als Qualität der „Vorstellung" etwa von einer
beliebigen Dingqualität unterscheidet, das ist eben ihre „Zugehörigkeit
zum Ich." Diese entsteht nicht erst in der nachträglichen Zusammen-
fassung einer Mehrheit von Perzeptionen, sondern ist schon jeder ein-
zelnen ursprünglich eigen. Ein ganz analoges Verhältnis besteht in der
Verknüpfung der vielfältigen „Eigenschaften" zur Einheit eines „Dinges".
Wenn wir die Empfindungen des Ausgedehnten, des Süßen, des Rauhen,
des Weißen zur Vorstellung des „Zuckers", als eines einheitlichen ding-
lichen Ganzen, vereinen, so ist dies nur möglich, sofern schon jede ein-
zelne dieser Qualitäten ursprünglich mit Rücksicht auf dieses Ganze be-
stimmt gedacht wird. Daß die Weiße, die Süße u. s. f. nicht lediglich
als Zustand in mir, sondern als „Eigenschaft", als gegenständliche Quali-
tät gefaßt wird, — dies schließt die gesuchte Funktion und den Ge-
sichtspunkt des ,Dinges' schon vollständig in sich. In der Setzung des
36
Einzelnen waltet also hier bereits ein allgemeines Grundschema, das dann,
in der fortschreitenden Erfahrung vom „Ding" und seinen „Eigen-
schaften", nur mit immer neuem konkreten Inhalt erfüllt wird. Wie der
Punkt als einfache und einzelne Lage immer nur „im" Räume, d. h.
logisch gesprochen unter Voraussetzung eines Systems aller Lagebestim-
mungen möglich ist — wie der Gedanke des zeitlichen „Jetzt" nur in
Rücksicht auf eine Reihe von Momenten und auf die Ordnung und Folge
des Nacheinander, die wir „Zeit" nennen, sich bestimmen läßt — so gilt
das gleiche auch für das Ding- und Eigenschaftsverhältnis. In all diesen
Verhältnissen, deren nähere Bestimmung und Zergliederung Sache der
speziellen Erkenntnistheorie ist, zeigt sich derselbe Grundcharakter des
Bewußtseins, daß das Ganze hier nicht erst aus den Teilen gewonnen
wird, sondern daß jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen,
nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner allgemeinen Struktur und Form
nach bereits in sich schließt. Jedes Einzelne gehört hier schon ursprüng-
lich einem bestimmten Komplex an und bringt die Regel dieses Kom-
plexes in sich zum Ausdruck. Erst die Gesamtheit dieser Regeln aber
macht die wahrhafte Einheit des Bewußtseins als Einheit der Zeit, des
Raumes, der gegenständlichen Verknüpfung u. s. f. aus.
Die traditionelle psychologische Begriffssprache bietet für die Be-
zeichnung dieses Sachverhalts kaum einen völlig zutreffenden Ausdruck
dar, weil die Psychologie sich erst spät, erst in ihrem Übergang zur
modernen „Gestaltpsychologie", von den Voraussetzungen der sensua-
lis tischen Grundansicht losgerungen hat. Für diese letztere, die alle Ob-
jektivität im „einfachen" Eindruck beschlossen sein läßt, besteht alle
Verknüpfung in nichts anderem als in der bloßen Zusammenfassung, in
der „Association" der Eindrücke. Dieser Terminus ist weit genug, um alle
Möglichkeiten der Beziehung, die im Bewußtsein bestehen, gleichmäßig
zu umfassen; aber er macht zugleich, in dieser seiner Weite, ihre Be-
sonderheit und Eigenart unkenntlich. Beziehungen der verschiedensten
Qualität und Modalität werden unterschiedslos durch ihn bezeichnet
„Association" heißt die Vereinigung von Elementen zur Einheit der Zeit
oder des Raumes, zur Einheit des Ich oder des Gegenstandes, zum Gan-
zen eines Dinges oder einer Folge von Ereignissen — zu Reihen, deren Glie-
der durch den Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung und zu solchen,
die durch den Gesichtspunkt von „Mittel" und „Zweck" miteinander ver-
bunden sind. „Association" gilt ferner als der hinreichende Ausdruck für
das logische Gesetz der Verknüpfung des Einzelnen zur begrifflichen
Einheit der Erkenntnis, wie etwa für die Formen der Gestaltung, die
37
sich im Aufbau des ästhetischen Bewußtseins als wirksam erweisen.
Aber eben hierin tritt sofort hervor, daß dieser Begriff allenfalls nur den
nackten Tatbestand der Verbindung überhaupt bezeichnet, ohne das ge-
ringste über ihre spezifische Art und Regel zu verraten. Die Verschieden-
heit der Wege und Richtungen, durch die das Bewußtsein zu seinen Syn-
thesen gelangt, wird hierdurch völlig verdeckt. Nennen wir die „Elemente"
a, b, c, d u.s. f., so gibt es, wie sich gezeigt hat, ein genau abgestuftes
und in sich differenziertes System mannigfacher Funktionen F (a, b),
%p (c, d) u. s. f., in denen sich ihre Verknüpfung ausspricht, das aber in
dem angeblichen Gattungsbegriff der Association nicht sowohl zum
Ausdruck, als vielmehr zum Verschwinden, weil zur völligen Nivellierung
gebracht wird. Und noch ein anderer wesentlicher Mangel haftet dieser
Bezeichnung an. Die Inhalte, die man miteinander in Association treten
läßt, bleiben, so eng sie sich auch verknüpfen und so innig sie miteinander
„verschmelzen" mögen, doch ihrem Sinn und Ursprung nach trenn-
bare Inhalte. Sie werden im Fortschritt der Erfahrung zu immer festeren
Verbänden und Gruppen zusammengefügt; aber ihr Bestand als solcher
ist nicht erst durch die Gruppe, sondern schon vor ihr gegeben. Gerade
dieses Verhältnis des „Teils" zum „Ganzen" ist es jedoch, was in den
echten Synthesen des Bewußtseins prinzipiell überwunden ist. In ihnen
entsteht das Ganze nicht erst aus den Teilen, sondern es konstituiert
dieselben und gibt ihnen ihre wesentliche Bedeutung. So denken wir, wie
sich gezeigt hat, in jedem begrenzten Ausschnitt des Raumes die Rich-
tung auf das Ganze des Raumes in jedem einzelnen zeitlichen Augenblick
die allgemeine Form des Nacheinander mitgesetzt, wie auch die Setzung
jeder besonderen Eigenschaft das allgemeine Verhältnis von „Substanz"
und „Accidens" und damit die charakteristische Dingform in sich faßt.
Eben diese Durchdringung, dieses intensive „Durch-einander-Bedingt-
sein" aber läßt die Association, als Ausdruck des bloßen Beieinander der
Vorstellungen, unerklärt. Die empirischen Regeln über den bloßen Ab-
lauf der Vorstellungen, die sie aufstellt, machen die spezifischen Grund-
gebilde und Grundgestalten, zu denen die Vorstellungen sich zusammen-
schließen, und die Einheit des „Sinnes", die sich zwischen ihnen herstellt,
nicht verständlich.
Die Selbständigkeit dieses „Sinnes" zu retten und zu erweisen ist da-
gegen die Aufgabe, die die rationalistische Theorie der Erkenntnis sich
stellt. Es ist eines der wesentlichen geschichtlichen Verdienste dieser
Theorie, daß durch sie, kraft ein und derselben gedanklichen Wendung,
eine neue und tiefere Ansicht vom Bewußtsein überhaupt und ein neuer
38
Begriff vom „Gegenstand" der Erkenntnis begründet wird. So bewährt
sich das Wort Descartes', daß die Einheit des Objektiven, die Einheit
der Substanz nicht in der Wahrnehmung, sondern nur in der Reflexion
des Geistes auf sich selbst, in der inspectio mentis erfaßt werden könne.
Es ist der schärfste Gegensatz zur empiristischen Theorie der „Associa-
tion", der sich in dieser Grundlehre des Rationalismus ausspricht —
und doch ist auch hier die innere Spannung zwischen zwei grundverschie-
denen Wesenselementen des Bewußtseins, zwischen seiner bloßen „Ma-
terie" und seiner reinen „Form", nicht aufgehoben. Denn der Grund
für die Verknüpfung der Bewußtseinsinhalte wird auch hier in einer
Tätigkeit gesucht, die irgendwie von außen her zu den einzelnen Inhalten
hinzutritt. Die „Ideen" der äußeren Wahrnehmung, die Ideen des Hellen
und Dunklen, des Rauhen und Glatten, des Farbigen und Tönenden sind
nach Descartes an und für sich nur als Bilder in uns (velut picturae)
und in diesem Sinne als bloß subjektive Zuständigkeiten gegeben. Was
uns über diese Stufe hinausführt, was uns ermöglicht, von der Mannig-
faltigkeit und Wandelbarkeit der Eindrücke zur Einheit und Konstanz
des Gegenstandes fortzuschreiten, ist die von diesen Eindrücken völlig
unabhängige Funktion des Urteils und des „unbewußten Schließens".
Die objektive Einheit ist eine rein formale Einheit, die als solche weder
gehört noch gesehen, sondern nur im logischen Fortgang des reinen Den-
kens erfaßt werden kann. Der metaphysische Dualismus Descartes'
wurzelt letzten Endes in diesem seinen methodischen Dualismus: die
Lehre von der absoluten Scheidung zwischen der ausgedehnten und der
denkenden Substanz ist nur der metaphysische Ausdruck für einen
Gegensatz, der bei ihm schon in der Darstellung der reinen Bewußtseins-
funktion selbst sichtbar wird. Und selbst bei Kant zeigt, im Beginn der
Kritik der reinen Vernunft, dieser Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und
Denken, zwischen den „materialen" und den „formalen" Grundbestim-
mungen des Bewußtseins noch seine alte unverminderte Kraft — wenn-
gleich hier sofort der Gedanke auftritt, daß beide vielleicht in einer ge-
meinsamen, wenngleich uns unbekannten Wurzel zusammenhängen möch-
ten. Gegen diese Formulierung des Problems aber ist vor allem einzuwen-
den, daß eben die Entgegensetzung, die hier vorgenommen wird, erst ein
Werk der Abstraktion, der logischen Schätzung und Bewertung der ein-
zelnen Erkenntnisfaktoren ist, während die Einheit der Bewußtseins-Ma-
terie und der Bewußtseinsform, des „Besonderen" und des „Allgemeinen",
der sinnlichen „Gegebenheitsmomente" und der reinen „Ordnungs-
momente" eben jenes ursprünglich-gewisse und ursprünglich-bekannte
39
Phänomen bildet, von dem jede Analyse des Bewußtseins ausgehen
muß. Will man diesen Sachverhalt, der an sich freilich über die Grenzen
des Mathematischen hinausgeht, mit einem mathematischen Gleichnis
und Sinnbild verdeutlichen, so könnte man, im Gegensatz zur bloßen
, Association", den Ausdruck der „Integration" wählen. Das Bewußt-
seinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein exten-
siver Teil zur Summe der Teile, sondern wie ein Differential zu
seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese
selbst ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt
ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins
schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitge-
geben denken: — jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eigenen
und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen,
die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind. Alles „Dasein" im Be-
wußtsein besteht eben darin und ist nur dadurch, daß es alsbald in
solchen verschiedenartigen Richtungen der Synthesis über sich hin-
ausgeht. Wie das Bewußtsein des Augenblicks schon den Hinweis auf
die Zeitreihe, das Bewußtsein einer einzelnen räumlichen Stelle schon
den Hinweis auf „den" Raum als Inbegriff und Allheit der möglichen
Lagebestimmungen in sich schließt, so waltet allgemein eine Fülle von
Beziehungen, durch welche im Bewußtsein des Einzelnen zugleich die
Form des Ganzen ausgedrückt ist. Nicht aus der Summe seiner sinnlichen
Elemente (a, b, c, d . . .), sondern gleichsam aus der Gesamtheit seiner
Beziehungs- und Formdifferentiale (drt, dr2, dr3 , . .) baut sich das
„Integral" des Bewußtseins auf. Die volle Aktualität des Bewußtseins
bringt nur das zur Entfaltung, was der „Potenz" und der allgemeinen
Möglichkeit nach schon in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt.
Damit erst ist die allgemeinste kritische Lösung für jene Frage Kants
erreicht, wie es zu denken sei, daß weil „etwas" ist, dadurch zugleich ein
„Anderes", von ihm völlig Verschiedenes sein müsse. Das Verhältnis, das,
vom Standpunkt des absoluten Seins betrachtet, um so paradoxer er-
scheinen mußte, je schärfer es betrachtet und analysiert wurde, ist das
notwendige, das aus sich unmittelbar verständliche, wenn es vom Stand-
punkt des Bewußtseins gesehen wird. Denn hier gibt es von Anfang an
kein abstraktes „Eines", dem in gleich abstrakter Sonderung und Los-
lösung ein „Anderes" gegenübersteht, sondern das Eine ist hier „im"
Vielen, wie das Viele „im" Einen ist: in dem Sinne, daß beide sich wech-
selseitig bedingen und sich wechselseitig repräsentieren.
ho
IV
Die bisherigen Erwägungen gingen darauf aus, eine Art erkenntnis-
kritischer „Deduktion", eine Begründung und Rechtfertigung des Be-
griffs der Repräsentation zu geben, sofern die Repräsentation, die Dar-
stellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als
eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst
und als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden sollte.
Aber nicht auf diese allgemeinste logische Bedeutung der repräsenta-
tiven Funktion sind die folgenden Betrachtungen gerichtet. In ihnen
soll das Problem des Zeichens nicht nach rückwärts in seine letzten
„Gründe", sondern nach vorwärts in die konkrete Entfaltung und Aus-
gestaltung, die es in der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kulturge-
biete erfährt, verfolgt werden. Für diese Betrachtung ist jetzt ein neues
Fundament gewonnen. Auf die „natürliche" Symbolik, auf jene Dar-
stellung des Bewußtseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment
und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens an-
gelegt ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik,
wenn wir die „willkürlichen" Zeichen begreifen wollen, die sich das Be-
wußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft. Die Kraft
und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht
in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten
geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. Daß ein sinnlich-Einzelnes,
wie es z. B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein geistigen
Bedeutung werden kann — dies wird zuletzt nur dadurch verständlich,
daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des
einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Set-
zung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall
angewandt wird. Weil jeder Sonderinhalt des Bewußtseins in einem Netz-
werk mannigfacher Beziehungen steht, kraft deren er, in seinem ein-
fachen Sein und seiner Selbstdarstellung, zugleich den Hinweis auf
andere und wieder andere Inhalte in sich schließt, kann und muß es auch
bestimmte Gebilde des Bewußtseins geben, in denen diese reine Form
des Hinweisens sich gleichsam sinnlich verkörpert. Daraus ergibt sich
sofort die eigentümliche Doppelnatur dieser Gebilde: ihre Gebundenheit
ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich
schließt In jedem sprachlichen „Zeichen", in jedem mythischen oder
künstlerischen „Bild" erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich
über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-,
Hör- oder Tastbaren umgesetzt. Es tritt eine selbständige Gestaltungs-
weise, eine spezifische Aktivität des Bewußtseins auf, die sich von aller
Gegebenheit der unmittelbaren Empfindung oder Wahrnehmung unter-
scheidet, um sich dann doch eben dieser Gegebenheit selbst als Vehikel,
als Mittel des Ausdrucks zu bedienen. Damit wird die „natürliche" Sym-
bolik, die wir im Grundcharakter des Bewußtseins selbst angelegt fanden,
auf der einen Seite benutzt und festgehalten, während sie auf der anderen
Seite überboten und verfeinert wird. Denn in dieser „natürlichen" Sym-
bolik war es immer ein gewisser Teilbestand des Bewußtseins, der, aus
dem Ganzen herausgehoben, dennoch die Kraft behielt, eben dieses Ganze
zu vertreten und es durch diese Vertretung im gewissen Sinne wiederher-
zustellen. Ein vorhandener Inhalt besaß die Fähigkeit, außer sich selbst
zugleich ein anderes, nicht unmittelbar Gegebenes, sondern nur durch ihn
Vermitteltes vorstellig zu machen. Die symbolischen Zeichen aber, die
uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, „sind"'
nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Be-
deutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der
Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Be-
deutens auf. Hier ist das Bewußtsein, um das Ganze im Einzelnen zu er-
fassen, nicht mehr auf die Anregung des Einzelnen selbst, das als solches
gegeben sein muß, angewiesen, sondern hier erschafft es sich selbst
bestimmte konkret-sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeu-
tungskomplexe. Weil diese Inhalte, als selbstgeschaffene, auch ganz in
der Gewalt des Bewußtseins sind, darum vermag es durch sie, wie der be-
zeichnende Ausdruck lautet, auch alle jene Bedeutungen immer von
neuem mit Freiheit „hervorzurufen". Indem wir z. B. eine gegebene An-
schauung oder Vorstellung mit einem willkürlichen Sprachlaut ver-
knüpfen, scheinen wir zunächst ihrem eigentlichen Inhalt nicht das ge-
ringste hinzugefügt zu haben. Und doch nimmt, schärfer betrachtet, in
dieser Schaffung des Sprachzeichens auch der Inhalt selbst für das Be-
wußtsein einen neuen „Charakter", weil eine neue Bestimmtheit, an. Seine
scharfe und klare geistige „Reproduktion" erweist sich geradezu an den
Akt der sprachlichen „Produktion" gebunden. Denn nicht dies ist die Auf-
gabe der Sprache, Bestimmungen und Unterschiede, die in der Vorstel-
lung schon vorhanden sind, lediglich zu wiederholen, sondern sie als
solche erst zu setzen und kenntlich zu machen. Und so ist es überall die
Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Ein-
drücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzu-
nehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner
Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für
42
/
uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der
Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in ver-
schiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie
alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt
ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Mate-
rial gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren. So unterscheidet
sich in der Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt und in ihren
verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Be-
wußtsein. Hier erst tritt an die Stelle der passiven Hingegebenheit an
irgendein äußeres Dasein eine selbständige Prägung, die wir ihm geben,
und durch die es für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirk-
lichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythos und die Kunst, die Sprache
und die Wissenschaft sind in diesem Sinne Prägungen zum Sein: sie sind
nicht einfache Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stel-
len die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses
dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert,
— als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine
Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.
Blickt man auf dieses Ziel voraus, so wird damit auch die besondere
Bestimmung der verschiedenen Zeichensysteme und der Gebrauch, den das
Bewußtsein von ihnen macht, erst verständlich. Wäre das Zeichen nichts
anderes als die Wiederholung eines bestimmten, in sich fertigen Einzel-
inhalts der Anschauung oder Vorstellung, so wäre weder abzusehen, was
mit einer solchen schlichten Kopie des Vorhandenen geleistet werden,
noch wie sie in wirklicher Strenge erreicht werden sollte. Denn es liegt auf
der Hand, daß die Nachahmung an das Original niemals heranreichen,
es für die geistige Betrachtung niemals ersetzen könnte. Unter der Vor-
aussetzung einer derartigen Norm wird man daher notwendig zu einer
prinzipiellen Skepsis gegen den Wert des Zeichens überhaupt geführt.
Wird es etwa als die eigentliche und wesentliche Aufgabe der Sprache be-
trachtet, jene Wirklichkeit, die wir in den einzelnen Empfindungen und
Anschauungen bereits fertig vor uns liegen haben, nur in dem fremden
Medium des Sprachlauts nochmals zum Ausdruck zu bringen — so zeigt
sich sofort, wie unendlich weit alles Sprechen hinter dieser Aufgabe zu-
rückbleiben muß. Der unbegrenzten Fülle und Mannigfaltigkeit der an-
schaulichen Wirklichkeit gegenüber müssen alle sprachlichen Symbole
als leer, ihrer individuellen Bestimmtheit gegenüber müssen sie als ab-
strakt und vag erscheinen. In dem Augenblick, in dem die Sprache mit
der Empfindung oder Anschauung in dieser Hinsicht in Wettstreit zu
43
treten versucht, muß sich demnach ihre Ohnmacht unverkennbar er-
weisen. Aber das jiqwtov ipevöog der skeptischen Sprachkritik liegt
eben darin, daß dieser Maßstab als der allein gültige, als der einzig-mög-
liche vorausgesetzt wird. In Wahrheit aber zeigt die Analyse der Sprache —
insbesondere wenn man nicht von der bloßen Einzelheit des Wortes, sondern
von der Einheit des Satzes ausgeht — ,daß jeder sprachliche Ausdruck, weit
entfernt, ein bloßer Abdruck der gegebenen Empf indungs- oder Anschau-
ungswelt zu sein, vielmehr einen bestimmten selbständigen Charakter der
„Sinngebung" in sich faßt. Und das gleiche Verhältnis tritt bei den Zeichen
der verschiedensten Art und Herkunft hervor. Von ihnen allen läßt sich
in gewissem Sinne sagen, daß sie ihren Wert nicht sowohl in dem besitzen,
was sie vom konkret-sinnlichen Einzelinhalt und seinem unmittelbaren
Bestand festhalten, als in dem, was sie von diesem unmittelbaren Be-
stand unterdrücken und fallen lassen. Auch die künstlerische Zeichnung
wird zu dem, was sie ist und wodurch sie sich von einer bloß mecha-
nischen Reproduktion unterscheidet, erst durch das, was sie am „ge-
gebenen" Eindruck wegläßt. Sie ist nicht die Wiedergabe des letzteren
in seiner sinnlichen Totalität, sondern sie hebt an ihm bestimmte „prä-
gnante" Momente heraus, d. h. Momente, durch die das Gegebene über
sich selbst erweitert und die künstlerisch-aufbauende, die synthetische
Raumphantasie in eine bestimmte Richtung geleitet wird. Was hier,
wie in anderen Gebieten, die eigentliche Kraft des Zeichens ausmacht, ist
somit eben dies: daß in dem Maße, als die unmittelbaren Inhaltsbestim-
mungen zurücktreten, die allgemeinen Form- und Relationsmomente zu
um so schärferer und reinerer Ausprägung gelangen. Das Einzelne als
solches wird scheinbar beschränkt; aber eben damit vollzieht sich um so
bestimmter und kräftiger jene Leistung, die wir als „Integration zum
Ganzen" bezeichnet haben. Daß alles Einzelne des Bewußtseins nur
dadurch „besteht", daß es das Ganze potentiell in sich schließt und
gleichsam im steten Übergang zum Ganzen begriffen ist, hat sich bereits
gezeigt. Der Gebrauch des Zeichens aber befreit diese Potentialität erst
zur wahrhaften Aktualität. Jetzt schlägt in der Tat ein Schlag tau-
send Verbindungen, die alle in der Setzung des Zeichens zum mehr oder
minder kräftigen und deutlichen Mitschwingen gelangen. In dieser Set-
zung löst sich das Bewußtsein mehr und mehr von dem direkten Sub-
strat der Empfindung und der sinnlichen Anschauung los: aber gerade
darin beweist es um so entschiedener die in ihm liegende ursprüngliche
Kraft der Verknüpfung und Vereinheitlichung.
Am klarsten tritt vielleicht diese Tendenz in der Funktion der wissen-
44
schaftlichen Zeichensysteme heraus. Die abstrakte chemische „Formel"
etwa, die als Bezeichnung eines bestimmten Stoffes gebraucht wird, ent-
hält nichts mehr von dem, was die direkte Beobachtung und die sinn-
liche Wahrnehmung uns an diesem Stoffe kennen lehrt; — aber statt
dessen stellt sie den besonderen Körper in einen außerordentlich reichen
und fein gegliederten Beziehungskomplex ein, von dem die Wahrneh-
mung als solche überhaupt noch nichts weiß. Sie bezeichnet den Körper
nicht mehr nach dem, was er sinnlich „ist" und als was er sich uns un-
mittelbar sinnlich gibt, sondern sie faßt ihn als einen Inbegriff mög-
licher „Reaktionen", möglicher kausaler Zusammenhänge, die durch all-
gemeine Regeln bestimmt werden. Die Gesamtheit dieser gesetzlichen Ver-
knüpfungen ist es, die in der chemischen Konstitutionsformel mit dem
Ausdruck des Einzelnen verschmilzt, und durch die nun dieser Ausdruck
ein durchaus neues charakteristisches Gepräge erhält. Hier wie in anderen
Fällen dient das Zeichen dazu, eine Vermittlung für den Übergang vom
bloßen „Stoff" des Bewußtseins zu seiner geistigen „Form" zu schaf-
fen. Eben weil es selbst ohne eigene sinnliche Masse auftritt, weil es so-
zusagen in einem reinen Äther der Bedeutung schwebt, besitzt es in sich
die Fähigkeit, statt bloßer Einzelheiten des Bewußtseins seine komplexen
Gesamtbewegungen zur Darstellung zu bringen. Es ist nicht die Wider-
spiegelung eines festen Bewußtseinsbestandes, sondern die Richtlinie einer
solchen Bewegung. So ist das Wort der Sprache seiner physischen Sub-
stanz nach ein bloßer Lufthauch; aber in diesem Hauch waltet eine außer-
ordentliche Kraft für die Dynamik der Vorstellung und des Gedankens.
Diese Dynamik wird durch das Zeichen ebensowohl gesteigert, als ge-
regelt. Schon der Leibnizische Entwurf der „Gharakteristica gereralis"
hebt es als einen wesentlichen und allgemeinen Vorzug des Zeichens her-
vor, daß es nicht nur der Darstellung, sondern vor allem der Entdek-
kung bestimmter logischer Zusammenhänge dient, — daß es nicht nur
eine symbolische Abkürzung des bereits Bekannten bietet, sondern neue
Wege ins Unbekannte, nicht-Gegebene erschließt. Hierin bewährt sich von
einer neuen Seite her die synthetische Kraft des Bewußtseins überhaupt,
die sich darin äußert, daß jede Konzentration seines Gehalts, die es er-
reicht, ihm zugleich zum Antrieb wird, seine bisherigen Grenzen zu er-
weitern. Die Zusammenfassung, die im Zeichen gegeben ist, gewährt da-
her neben dem bloßen Rückblick immer zugleich einen neuen Ausblick.
Sie setzt einen relativen Abschluß, der jedoch unmittelbar die Aufforde-
rung zum Weiterschreiten enthält und der die Bahn für diesen weiteren
Fortschritt frei macht, indem er seine allgemeine Regel erkennen läßt.
45
Insbesondere die Geschichte der Wissenschaft bietet für diesen Sachver-
halt die mannigfachsten Belege dar — sie zeigt, was es für die Lösung
eines bestimmten Problems oder Problemkomplexes bedeutet, wenn es
gelingt, sie auf eine feste und klare „Former' zu bringen. So sind z. B.
weitaus die meisten Fragen, die ihre Lösung im Newtonischen Fluxions-
begriff und im Leibnizischen Algorithmus der Differentialrechnung ge-
funden haben, schon vor Leibniz und Newton vorhanden gewesen und von
den verschiedensten Richtungen her — von Seiten der algebraischen Ana-
lysis, der Geometrie und der Mechanik — in Angriff genommen worden.
Aber erst indem für sie ein einheitlicher und umfassender symbolischer
Ausdruck gewonnen wurde, wurden alle diese Probleme wahrhaft be-
herrschbar: denn jetzt bildeten sie keine lockere und zufällige Folge
bloßer Einzelfragen mehr, sondern es war in einem bestimmten allge-
mein anwendbaren Verfahren, in einer Grundoperation, deren Regeln
feststanden, das gemeinsame Prinzip ihres Ursprungs bezeichnet.
So findet in der symbolischen Funktion des Bewußtseins ein Gegensatz
seine Darstellung und seine Vermittlung, der schon in dem einfachen Be-
griff des Bewußtseins selbst gegeben und gegründet ist. Alles Bewußtsein
stellt sich uns in der Form des zeitlichen Geschehens dar — aber mitten
in diesem Geschehen sollen sich nun bestimmte Bereiche von „Gestal-
ten" herausheben. Das Moment der stetigen Veränderung und das Mo-
ment der Dauer sollen also ineinander übergehen und ineinander auf-
gehen. Diese allgemeine Forderung ist es, die sich in den Gebilden der
Sprache, des Mythos, der Kunst und in den intellektuellen Symbolen der
Wissenschaft auf verschiedene Weise erfüllt. Alle diese Gebilde er-
scheinen gleichsam noch dem lebendigen, sich ständig erneuernden Pro-
zeß des Bewußtseins unmittelbar angehörig: und doch herrscht in ihnen
zugleich das geistige Bestreben, in diesem Prozeß bestimmte Halt- und
Ruhepunkte zu gewinnen. So bewahrt in ihnen das Bewußtsein den Charak-
ter des stetigen Fließens ; — aber es verfließt dennoch nicht ins Unbestimmte,
sondern gliedert sich selbst um feste Form- und Bedeutungsmittelpunkte.
Jede solche Form ist nach ihrem reinen „Ansich" als ein avzö xa&' avzb
im Platonischen Sinne, aus dem Strom des bloßen Vorstellungsverlaufs
herausgehoben — aber sie muß zugleich, um überhaupt zu erscheinen
und um ein Dasein „für uns" zu gewinnen, in diesem Ablauf in irgend-
einer Weise repräsentiert sein. In der Erschaffung und im Gebrauch der
verschiedenen Gruppen und Systeme symbolischer Zeichen sind beide
Bedingungen insofern erfüllt, als hier in der Tat ein sinnlicher Einzel-
inhalt, ohne aufzuhören, ein solcher zu sein, die Kraft erlangt, dem Be-
46
wußtsein ein Allgemeingültiges darzustellen. Hier verliert daher eben-
sowohl der sensualistische Grundsatz „Nihil est in intellectu, quod non
ante fuerit in sensu", wie seine intellektualistische Umkehrung seine Gel-
tung. Denn es handelt sich nicht mehr um ein Voraufgehen oder Nach-
folgen des „Sinnlichen" gegenüber dem „Geistigen", sondern um die
Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material
des Sinnlichen selbst. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint es als
Einseitigkeit des abstrakten „Empirismus", wie des abstrakten „Idealis-
mus", daß in beiden eben dieses Grundverhältnis nicht zur vollen Klar-
heit entwickelt ist. Auf der einen Seite wird ein Begriff vom Gegebenen
und Einzelnen aufgestellt, ohne daß erkannt ist, daß jeder solche Begriff,
explizit oder implizit, immer schon die Momente und Bestimmungen
irgendeines Allgemeinen in sich fassen muß — auf der anderen Seite
wird die Gültigkeit und Notwendigkeit dieser Bestimmungen behauptet,
ohne daß das Medium bezeichnet wird, kraft dessen sie sich in der psy-
chologischen Gegebenheit des Bewußtseins allein darzustellen vermögen.
Geht man dagegen statt von irgendwelchen abstrakten Postulaten von der
konkreten Grundform des geistigen Lebens selbst aus, so erscheint die-
ser dualistische Gegensatz als aufgehoben. Der Schein einer ursprüng-
lichen Trennung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, zwi-
schen „Idee" und „Erscheinung" verschwindet. Denn freilich blieben wir
auch hier in einer Welt der „Bilder" befangen — aber es handelt sich
nicht um solche Bilder, die irgendeine an sich bestehende Welt der
„Sachen" wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ur-
sprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist.
Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die
„Wirklichkeit" nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich
dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns. In der
Totalität seiner eigenen Leistungen und in der Erkenntnis der spezifischen
Regel, durch die jede von ihnen bestimmt wird, sowie in dem Bewußt-
sein des Zusammenhangs, der alle diese besonderen Regeln wieder zur Ein-
heit einer Aufgabe und einer Lösung vereint: in alledem besitzt nun-
mehr der Geist die Anschauung seiner selbst und die der Wirklichkeit.
Auf die Frage aber, was das absolut Wirkliche außerhalb dieser Gesamt-
heit der geistigen Funktionen, was das „Ding an sich" in diesem Sinne sein
möge — auf diese Frage erhält er freilich keine Antwort mehr, es sei
denn, daß er sie mehr und mehr als ein falsch gestelltes Problem, als ein
Trugbild des Denkens erkennen lernt. Der echte Begriff der Realität läßt
sich nicht in die bloße abstrakte Seinsform hineinpressen, sondern er
4?
geht in die Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen des geistigen Lebens
auf — aber eines solchen Lebens, dem selbst das Gepräge der inneren
Notwendigkeit und damit das Gepräge der Objektivität aufgedrückt ist
In diesem Sinne bedeutet jede neue „symbolische Form", bedeutet nicht
nur die Begriffswelt der Erkenntnis, sondern auch die anschauliche Welt
der Kunst, wie die des Mythos oder der Sprache nach dem Wort Goethes
eine von dem Inneren an das Äußere ergehende Offenbarung, eine „Syn-
these von Welt und Geist", die uns der ursprünglichen Einheit beider erst
wahrhaft versichert. —
Und damit fällt zugleich neues Licht auf einen letzten fundamen-
talen Gegensatz, mit dem die moderne Philosophie seit ihren ersten
Anfängen immer wieder gerungen und den sie immer schärfer durchge-
bildet hat. Die „subjektive" Wendung, die sich in ihr vollzog, führte sie
mehr und mehr dazu, die Gesamtheit ihrer Probleme statt in der Einheit
des Seinsbegriffs im Begriff des Lebens zu zentrieren. Aber wenn damit
der Gegensatz der Subjektivität und Objektivität in der Form, in der er
in der dogmatischen Ontologie auftrat, beschwichtigt und seine endgül-
tige Versöhnung angebahnt schien — so trat jetzt, im Umkreis des Lebens
selbst, ein um so radikalerer Gegensatz hervor. Die Wahrheit des Lebens
scheint nirgends anders als in seiner reinen Unmittelbarkeit gegeben
und in ihr beschlossen zu sein — alles Begreifen und Erfassen des Lebens
aber scheint eben diese Unmittelbarkeit zu bedrohen und aufzuheben.
Geht man vom dogmatischen Seinsbegriff aus, so tritt freilich auch hier
der Dualismus von Sein und Denken, je weiter die Betrachtung fort-
schreitet, um so deutlicher hervor — aber es scheint nichtsdestoweniger
die Möglichkeit und die Hoffnung zurückzubleiben, daß in dem Bilde,
welches die Erkenntnis vom Sein entwirft, wenigstens ein Rest der Wahr-
heit des Seins aufbehalten ist. Es scheint, als ginge das Sein zwar nicht
vollständig und adäquat, aber doch mit einem Teil seiner selbst in dieses
Bild der Erkenntnis ein — als greife es mit seiner eigenen Substanz in
die des Erkennens über, um in ihr eine mehr oder minder getreue Spiege-
lung von sich selbst zu erzeugen. Die reine Unmittelbarkeit des Lebens
aber läßt keine derartige Teilung und Zerfällung zu. Sie kann, wie es
scheint, nur ganz oder gar nicht geschaut werden: sie tritt in die mittel-
baren Darstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondern bleibt
als ein prinzipiell Anderes, ihnen Entgegengesetztes außerhalb ihrer
stehen. Nicht in irgendeiner Form der Repräsentation, sondern nur in
der reinen Intuition läßt sich der ursprüngliche Gehalt des Lebens er-
fassen. Alle Auffassung des Geistigen hat daher, wie es scheint, zwischen
48
diesen beiden Extremen zu wählen. Es gilt die Entscheidung, ob wir das
Substantielle des Geistes in seiner reinen Ursprünglichkeit, die allen mit-
telbaren Gestaltungen vorausliegt, suchen — oder ob wir uns der Fülle
und Vielfältigkeit eben dieser Vermittlungen hingeben wollen. Nur in der
ersteren Auffassung scheinen wir an den eigentlichen, den echten Kern
des Lebens zu rühren, der aber als ein schlechthin einfacher, in sich selbst
verschlossener Kern erscheint — während wir in der zweiten zwar das
gesamte Schauspiel der Entwicklungen des Geistes vor uns vorüberziehen
lassen, das sich jedoch, je tiefer wir uns in dasselbe versenken, um so
deutlicher in ein bloßes Schauspiel, in ein reflektiertes Abbild ohne selb-
ständige Wahrheit und Wesenheit, auflöst. Die Kluft zwischen diesen
beiden Gegensätzen läßt sich — so scheint es — durch keine Bemühung
des vermittelnden Denkens, das selbst ganz auf der einen Seite des Ge-
gensatzes verharrt, jemals überbrücken: je weiter wir in der Richtung
auf das Symbolische, auf das bloß-Signifikative fortschreiten, um so
mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition.
Nicht nur die philosophische Mystik hat immer wieder vor diesem
Problem und diesem Dilemma gestanden, sondern auch die reine Logik
des Idealismus hat es wiederholt aufs schärfste erfaßt und bezeichnet.
Piatons Darlegungen im siebenten Brief über das Verhältnis der „Idee"
zum „Zeichen" und über die notwendige Inadäquatheit, die zwischen der
einen und dem anderen besteht, schlagen ein Motiv an, das fortan in den
mannigfachsten Variationen wiederkehrt. In Leibniz' Methodenlehre der
Erkenntnis ist die „intuitive Erkenntnis" von der bloß „symbolischen"
durch einen scharfen Schnitt getrennt. Und gegenüber der Intuition, als
der reinen Schau, als der eigentlichen „Sicht" der Idee, sinkt selbst für
ihn, den Urheber des Gedankens der „allgemeinen Charakteristik",
alle Erkenntnis durch bloße Symbole auf die Stufe der „blinden Erkennt-
nis" (cogitatio caeca) herab1. Die menschliche Erkenntnis zwar kann
der Bilder und Zeichen nirgends entraten; aber sie ist eben hierdurch als
menschliche, d. h. als begrenzte und endliche charakterisiert, der das
Ideal des vollkommenen, des urbildlichen und göttlichen Verstandes
gegenübersteht. Und selbst bei Kant, der diesem Ideal seinen genauen lo-
gischen Ort angewiesen hat, indem er es als bloßen Grenzbegriff der Er-
kenntnis bestimmte, und der es damit kritisch bewältigt zu haben glaubte,
selbst bei ihm wird — an einer Stelle, die den rein methodischen Höhe-
punkt der „Kritik der Urteilskraft" bildet — der Gegensatz zwischen dem
1 Vgl. Meditaliones de cognitione, veritale et ideis, Leibniz' Philos. Schriften (Ger-
hardt), IV, 422 ff.
49
,,intellectus archetypus" und dem „inlellectus ectypus", zwischen dem
intuitiven, urbildlichen und dem diskursiven, „der Bilder bedürftigen"
Verstand noch einmal in höchster prinzipieller Schärfe herausgearbei-
tet. Vom Standpunkt dieses Gegensatzes scheint sich notwendig zu er-
geben, daß je reicher der Symbolgehalt der Erkenntnis oder irgend-
einer anderen geistigen Form wird, um so mehr ihr reiner Wesensge-
halt verkümmern muß. Die Fülle der Bilder bezeichnet nicht, sondern
verdeckt und verhüllt das bildlos-Eine, das hinter ihnen steht und auf das
sie, wenngleich vergeblich, abzielen. Nur die Aufhebung aller bildlichen
Bestimmtheit, nur die Rückkehr zu dem „lauteren Nichts", wie es in der
Sprache der Mystik heißt, kann uns zu dem echten Ur- und Wesensgrund
zurückführen. Anders gefaßt stellt sich eben dieser Gegensatz als ein Wi-
derstreit und als eine ständige Spannung zwischen „Kultur" und „Leben"
dar. Denn eben dies ist das notwendigeSchicksal der Kultur, daß all das, was
sie in ihrem ständig weiterschreitenden Prozeß der Gestaltung und „Bil-
dung" erschafft, uns von der Ursprünglichkeit des Lebens fortschreitend
entfernt. Je reicher und energischer der Geist sich bildend betätigt, um so
weiter scheint ihn eben dieses sein Tun von dem Urquell seines eigenen
Seins abzuziehen. Mehr und mehr zeigt er sich jetzt in seinen eigenen
Schöpfungen — in den Worten der Sprache, in den Bildern des Mythos
oder der Kunst, in den intellektuellen Symbolen der Erkenntnis — be-
fangen, die sich gleich einem zarten und durchsichtigen, aber nichtsdesto-
weniger unzerreißbaren Schleier um ihn legen. Die eigentliche, die tiefste
Aufgabe einer Philosophie der Kultur, einer Philosophie der Sprache,
der Erkenntnis, des Mythos u. s. f. aber scheint eben darin zu bestehen,
diesen Schleier aufzuheben — von der vermittelnden Sphäre des bloßen
Bedeutens und Bezeichnens wieder in die ursprüngliche des intuitiven
Schauens zurückzudringen. Aber auf der anderen Seite widerstreitet gerade
das eigentümliche Organ, über welches die Philosophie allein verfügt,
der Lösung dieser Aufgabe. Für sie, die sich erst in der Schärfe des
Begriffs und in der Helle und Klarheit des „diskursiven" Denkens
vollendet, ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittel-
barkeit, verschlossen. Hier bleibt daher für sie kein anderer Ausweg, als
die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun,
muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden. Wenn alle Kultur
sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter
symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie
nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern viel-
mehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und be-
5o
wüßt zu machen. In dieser Bewußtheit erst erhebt sich der Gehalt des
Lebens zu seiner echten Form. Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß
naturgegebenen Daseins heraus: es bleibt ebensowenig ein Stück dieses
Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollen-
det sich zur Form des „Geistes", Die Negation der symbolischen Formen
würde daher in der Tat, statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr
die geistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für uns notwen-
dig gebunden erweist. Geht man dagegen den umgekehrten Weg, — ver-
folgt man nicht das Ideal einer passiven Schau der geistigen Wirklich-
keiten, sondern versetzt man sich mitten in ihre Aktivität selbst — faßt
man sie nicht als die ruhende Betrachtung eines Seienden, sondern als
Funktionen und Energien des Bildens, so lassen sich zuletzt an diesem Bil-
den selbst, so verschieden und ungleichartig die Gestalten sein mögen,
die aus ihm hervorgehen, doch gewisse gemeinsame und typische Grund-
züge der Gestaltung selbst herausheben. Wenn es der Philosophie der
Kultur gelingt, solche Grundzüge zu erfassen und sichtbar zu machen, so
hat sie damit ihre Aufgabe, gegenüber der Vielheit der Äußerungen des
Geistes die Einheit seines Wesens zu erweisen, in einem neuen Sinne
erfüllt — denn diese letztere erweist sich eben darin am deutlichsten,
daß die Mannigfaltigkeit seiner Produkte der Einheit seines Produ-
zierens keinen Eintrag tut, sondern sie vielmehr erst bewährt und
bestätigt.
4*
5i
ERSTER TEIL
ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER SPRACH-
LICHEN FORM
KAPITEL I
DAS SPRACHPROBLEM IN DER GESCHICHTE DER
PHILOSOPHIE*
I
Die philosophische Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der
Sprache ist im Grunde so alt, wie die Frage nach dem Wesen und Ur-
sprung des Seins. Denn eben dies charakterisiert die erste bewußte Re-
flexion über das Ganze der Welt, daß für sie Sprache und Sein, Wort und
Sinn sich noch nicht voneinander abgesondert haben, sondern daß sie
ihr als eine untrennbare Einheit erscheinen. Weil die Sprache selbst eine
Voraussetzung und Bedingung der Reflexion ist, weil erst in ihr und
durch sie die philosophische „Besonnenheit* ' erwacht, — darum findet
auch die erste Besinnung des Geistes sie immer schon als eine gegebene
Realität, als eine „Wirklichkeit", die der physischen vergleichbar und
ebenbürtig ist, vor. Die Welt der Sprache umfängt den Menschen, in dem
Augenblick, in dem er zuerst seinen Blick auf sie richtet, in derselben
Bestimmtheit und Notwendigkeit und in der gleichen „Objektivität", mit
der ihm die Welt der Dinge gegenübertritt. Hier wie dort steht vor ihm
ein Ganzes, das in sich selbst sein eigenes Wesen und seine eigenen, aller
individuellen Willkür entrückten Bindungen besitzt. So wenig wie die Be-
1 Eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Sprachphilosophie ist noch ein
Desiderat: der Überweg'sche Grundriß der Geschichte der Philosophie verzeichnet in
seiner neuesten (elften) Auflage (1920) neben den allgemeinen Darstellungen der Philo-
sophiegeschichte eine Fülle von Monographien zur Geschichte der Logik und Erkennt-
nistheorie, der Metaphysik und Naturphilosophie, der Ethik, der Religionsphilosophie,
der Ästhetik, nennt aber kein einziges Werk zur Geschichte der Sprachphilosophie. Nur
die antike Sprachphilosophie hat in den bekannten Werken von Lersch u. Stein Ihal,
sowie in der Literatur über die antike Grammatik und Rhetorik eine eingehendere Dar-
stellung erfahren. Die folgende knappe geschichtliche Einleitung erhebt natürlich nicht
den Anspruch, diese Lücke auszufüllen; sie will nur die Hauptmomente in der philo-
sophischen Entwicklung der „Sprachidee" herausgreifen und einige vorläufige Richt-
linien für eine künftige ausführliche Bearbeitung des Themas aufstellen.
55
schaffenheit der Dinge oder die unmittelbare Beschaffenheit seiner sinn-
lichen Eindrücke — so wenig geht, für diese erste Stufe der Betrachtung,
auch das Sein und die Bedeutung der Worte auf eine freie Tätigkeit des
Geistes zurück. Das Wort ist nicht eine Bezeichnung und Benennung,
nicht ein geistiges Symbol des Seins, sondern es ist selbst ein realer Teil
von ihm. Die mythische Anschauung der Sprache, die der philosophischen
überall vorausgeht, ist durchgehend durch diese Indifferenz von Wort
und Sache gekennzeichnet. Für sie ist im Namen jedes Dinges sein Wesen
beschlossen. An das Wort und seinen Besitz knüpfen sich unmittelbar
magische Wirkungen. Wer sich des Namens bemächtigt und ihn zu ge-
brauchen weiß, der hat damit die Herrschaft über den Gegenstand selbst
gewonnen, — der hat sich ihn mit all seinen Kräften zu eigen gemacht.
Aller Wort- und Namenzauber beruht auf dieser Voraussetzung, daß die
Welt der Dinge und die der Namen eine einzige Wirklichkeit, weil ein
einziger in sich ungeschiedener Wirkenszusammenhang ist. Es ist die
gleiche Form der Substantialität und die gleiche Form der Kausalität, die
in jeder von ihnen gilt und die sie mit einander zu einem in sich geschlos-
senen Ganzen verknüpft.
Diese eigentümliche ,, Ganzheit" des mythischen Weltbildes, diese Auf-
hebung aller Besonderungen der Dinge in einen mythisch-magischen
Kreis des Wirkens schließt nun auch für die Auffasssung der Sprache
eine bedeutsame Konsequenz in sich. Sobald der Mythos sich über die
Stufe der primitivsten magischen „Praxis" erhebt, die je eine besondere
Wirkung durch die Anwendung eines besonderen Mittels zu erreichen
strebt, die also im unmittelbaren Tun ein Einzelnes an ein anderes Ein-
zelne knüpft, — sobald er in noch so roher und unvollkommener Form
sein eigenes Tun zu verstehen sucht, ist er damit bereits zu einer neuen
Sphäre der Allgemeinheit durchgedrungen. Als Erkenntnisform ist
ihm, wie jeder anderen Erkenntnis, der Zug zur Einheit wesentlich. Sollen
die geistigen Wesenheiten und Kräfte, in denen der Mythos lebt, für das
Tun des Menschen beherrschbar sein, so müssen sie in sich selbst be-
reits irgendwelche bleibende Bestimmungen aufweisen. So schließt
schon der erste unmittelbar sinnliche und praktische Zwang, den der
Mensch auf die ihn umgebenden Dinge der Natur ausübt, den ersten Keim
für den Gedanken einer in ihnen waltenden theoretischen Notwendigkeit
in sich. Je weiter das mythische Denken fortschreitet, um so mehr hören
die dämonischen Einzelkräfte auf, bloße Einzelkräfte, bloße „Augen-
blicksgötter" oder „Sondergötter" zu sein; — um so mehr zeigt sich auch
zwischen ihnen eine Art Über- und Unterordnung, eine Art der hierarchi-
56
sehen Gliederung. Die mythische Ansicht der Sprache geht in der
gleichen Richtung fort, indem sie sich von der Anschauung der beson-
deren Kraft, die im einzelnen Wort und in der einzelnen magischen For-
mel enthalten ist, mehr und mehr zum Gedanken einer allgemeinen Po-
tenz erhebt, die das Wort als solches, die die „Rede" als Ganzes besitzt.
In dieser mythischen Form wird der Begriff der Sprache als Einheit
zuerst konzipiert. Schon in der frühesten religiösen Spekulation kehrt
mit charakteristischer Gleichförmigkeit in weit auseinanderliegenden Ge-
bieten dieser Gedanke wieder. Für die vedische Religion bildet die gei-
stige Kraft des Wortes eines der Grundmotive, aus dem sie erwächst:
das heilige Wort ist es, das in dem Gebrauch, den der Wissende, der Prie-
ster, von ihm macht, zum Herrn über alles Sein, über Götter und Menschen
wird. Schon im Rigveda wird der Gebieter des Wortes mit der allnäh-
renden Kraft, dem Sorna, gleichgesetzt und als der bezeichnet, welcher
über alles mit Macht gebietet. Denn der menschlichen Rede, die entsteht
und vergeht, liegt die ewige und unvergängliche Rede, die himmlische
Väc zugrunde. „Ich wandle — so spricht diese himmlische Rede in
einem Hymnus von sich selbst — mit den Vasu's, mit den Rudra's, mit
den Aditya's und mit allen Göttern . . . Ich bin die Königin, die Spen-
derin der Güter, die wissende, bin der ehrwürdigen erste; vielfach ver-
teilt, an vielen Orten weilend, vieles durchdringend, machten mich die Göt-
ter. Wer Einsicht hat, der speiset durch mich Speise; wer atmet, wenn
er höret, was ich sage . . . Dem Winde gleichend wahrlich stürm' ich vor-
wärts, mit Macht erfassend sämtliche Geschöpfe. Weit ob dem Himmel,
weit hier ob der Erde bin ich so groß an Majestät geworden1."
Noch eng verschwistert mit dieser mythischen Ansicht von der Würde
und Allmacht des himmlischen Wortes scheint auf den erster) Blick der
Begriff des „Logos" zu sein, wie er sich zuerst in der griechischen Speku-
lation gestaltet. Denn auch hier ist das Wort ein Ewiges und Unvergäng-
liches; auch, hier geht auf seine Einheit und Unzerstörbarkeit die Einheit
und der Bestand des Seienden überhaupt zurück. So wird für Heraklit
der Logos zum „Lenker des AU". Gleich dem Kosmos, den es beherrscht,
hat es keiner von den Göttern und keiner der Menschen geschaffen, son-
dern es war immerdar und ist und wird sein. Aber mitten in der Sprache
des Mythos, die Heraklit noch spricht, wird jetzt ein ganz neuer Ton ver-
1 Rigveda X, 125 — die Übersetz, nach Benfey, Gesch. der Sprachwissenschaft u.
oriental. Philologie in Deutschland, München 1869, S. 41! zur mythisch-religiösen
Bedeutung der Väc vgl. bes. Brihadäranyaka Upanishad 1, 5, 3ff. (bei Deussen, Sech-
zig Upanishad's des Veda 3, Lpz., 1921,8. Aoiff.).
57
nehmlich. Der mythischen Ansicht des Weltgeschehens tritt zum ersten
Mal in voller Bewußtheit und Klarheit der philosophisch-spekulative
Grundgedanke von der einheitlichen und unverbrüchlichen Gesetzlich-
keit des All gegenüber. Die Welt ist kein Spielball dämonischer Mächte
mehr, die sie nach Laune und Willkür regieren, sondern sie untersteht
einer schlechthin allgemeinen Regel, die alles einzelne Sein und alles ein-
zelne Geschehen bindet und die ihm seine festen Maße anweist. „Die
Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten, sonst werden die Erinnyen,
die Schergen der Dike, sie ausfindig zu machen wissen." (fr. 94, Diels.)
Und dieses eine in sich unveränderliche Gesetz des Kosmos ist es nun,
was sich, in verschiedener Form und doch innerlich sich selbst gleich,
in der Welt der Natur, wie in der der Sprache ausdrückt. Denn eines ist
Weisheit: den Sinn zu erkennen, der durch alles hindurchwirkt —
ev xö oocpov, imoraofiai yvcbfxrjv, oxerj exvßegvrjoe ndvxa dia ndvrcov. (fr. 4i»)
Der magisch-mythische Kraftzusammenhang hat sich somit jetzt in
einen Sinnzusammenhang gewandelt. Dieser aber erschließt sich uns
freilich nicht, solange wir noch dabei stehen bleiben, das Eine Sein
nur getrennt und bruchstückweise, nur zerschlagen in eine Vielheit be-
sonderer „Dinge", zu erfassen, sondern erst, wenn wir es als ein leben-
diges Ganze anschauen und erfassen. Auch die Sprache vereinigt in sich
beide Ansichten: auch in ihr findet sich, je nachdem wir sie betrachten,
nur eine zufällige und partikuläre Auffassung des Seins oder eine echt
spekulative und allgemeine ausgedrückt. Betrachten wir den Logos der
Sprache nur in der Form, in der er sich im einzelnen Wort darstellt und
niederschlägt — so zeigt sich, daß jedes Wort den Gegenstand, den es
bezeichnen will, vielmehr begrenzt und in dieser Begrenzung verfälscht.
Durch die Fixierung im Wort wird der Inhalt aus dem kontinuierlichen
Strom des Werdens, in dem er steht, herausgehoben, wird er also nicht
nach seiner Totalität erfaßt, sondern nur nach einer einseitigen Bestim-
mung dargestellt. Hier bleibt, wenn wir wieder zur tieferen Erkenntnis
des echten Wesens des Dinges vordringen wollen, kein anderer Weg, als
diese einseitige Bestimmung in einer anderen wiederum aufzuheben, also
jedem Wort, das einen bestimmten Einzelbegriff in sich faßt, den Ge-
gensatz eben dieses Begriffs gegenüberzustellen. Und so zeigt sich in der
Tat, im Ganzen der Sprache, jede Bedeutung an ihr Gegenteil, jeder Sinn
an seinen Gegensinn gebunden und wird erst mit ihm vereint zum ad-
äquaten Ausdruck des Seins. Die geistige Synthese, die Vereinigung, die
sich im Wort vollzieht, gleicht darin der Harmonie des Kosmos
und drückt sie in sich aus, daß sie eine in sich „gegenstrebige" ist:
58
naMvxQOJios äQjxoviY\ oxcogneg xo^ov xal Xvgrjg (fr. 5 1). Und hier tritt
uns das Grundgesetz des All zugleich in gesteigerter, in poten-
zierter Form entgegen. Denn was im Seienden als Gegensatz er-
scheint, das wird im Ausdruck der Sprache zum Widerspruch: — und
nur in einem solchen Wechselspiel von Setzung und Aufhebung, von
Spruch und Widerspruch gelingt es, das wahrhafte Gesetz und die innere
Struktur des Seienden in der Sprache wiederzugeben. So begreift man,
von Heraklits Gesamtanschauung der Welt aus, die Grundform seines
Stils, dessen vielberufene „Dunkelheit" nicht zufällig und willkürlich,
sondern der adäquate und notwendige Ausdruck des Gedankens selbst
ist. Heraklits Sprachstil und sein Denkstil bedingen sich wechselseitig:
beide stellen, nach verschiedenen Seiten hin, das gleiche Grundprinzip
seiner Philosophie, das Prinzip des ev diacpsQÖjUEvov eavrcp dar. Sie weisen
auf jene „unsichtbare Harmonie" hin, die, nach Heraklits Wort, besser ist
als die sichtbare, und wollen an ihr gemessen sein. Wie Heraklit das
einzelne Objekt in den stetigen Strom des Werdens stellt und es in ihm
zugleich vernichtet und aufbewahrt sein läßt, so soll auch das einzelne
Wort sich zum Ganzen der „Rede" verhalten. Selbst die innere Viel-
deutigkeit, die dem Wort anhaftet, ist daher kein bloßer Mangel der
Sprache, sondern ein wesentliches und positives Moment der in ihr ge-
legenen Ausdruckskraft. Denn in "ihr erweist sich eben, daß seine Gren-
zen, wie die des Seienden selbst, nicht starre, sondern fließende sind. Nur
in dem beweglichen und vielgestaltigen Sprachwort, das gleichsam seine
eigenen Grenzen immer wieder durchbricht, findet die Fülle des weltge-
staltenden Logos ihr Gegenbild. Alle Trennungen, die die Sprache voll-
zieht und vollziehen muß, müssen von ihr selbst als vorläufige und rela-
tive erkannt werden, die sie selbst wieder zurücknimmt, sofern sie den
Gegenstand unter einen neuen Gesichtspunkt der Betrachtung rückt.
„Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Überfluß und
Hunger: er wandelt sich aber wie Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk
vermengt wird, nach eines jeglichen Belieben bald so, bald anders be-
nannt wird." (fr. 62, 67.) So sind Unsterbliche sterblich, Sterbliche
unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben, (fr.
62.) Wer daher mit Verstand reden will, der darf sich durch die Besonde-
rung der Worte nicht täuschen lassen, sondern muß hinter sie zurück-
dringen zu dem allem Gemeinsamen, zum k~vvov xal fteiov1. Dann erst,
1 %vv vocoi Xsyovxag ioxvQtCeo&at XQV X&L £vveöi ndvxcov, oxcognsg vö/ucot jiöXig, xal noXv
iaxvQotEQwq . XQtcpovxai ydq Tidvxeg oi äv&gcbjieioi v6[M)i vnb evog xov tietov xgaxet ydg
xoöovxov öxooov edsXsi xal i^agxsT näoi xal nsQiyivexai. (fr. 11 4.).
59
wenn Sinn und Gegensinn der Worte in dieser Weise verstanden und
miteinander verknüpft werden, kann das Wort zum Führer und zur
Richtschnur der Erkenntnis werden. So begreift man, daß auch die
meisten der ,, Etymologien", mit denen Heraklit spielt, diese zwiefache
Wendung in sich schließen: daß sie Wort und Sache, statt durch
irgendeine Ähnlichkeit, mit Vorliebe per anliphrasin miteinander ver-
bunden und aneinander gebunden sein lassen. „Des Bogens Name ist Leben,
sein Werk aber ist Tod" (zcbt ovv to^coi övojua ßiog, egyov de ddvaxoq. fr. 48).
Jeder einzelne sprachliche Inhalt ist immer zugleich Enthüllung und Ver-
hüllung der Wahrheit des Seins; ist immer zugleich rein bedeutend und
bloß andeutend1. So gleicht in dieser Weltansicht die Sprache der Sibylle,
die, nach Heraklits Wort, mit rasendem Mund Ungeschminktes und Un-
gesalbtes redet, die aber nichtsdestoweniger mit ihrer Stimme durch die
Jahrtausende reicht: denn der Gott treibt sie. (fr. 92.) Sie faßt in sich
einen Sinn, der ihr selbst doch verschlossen bleibt, den sie sich nur
ahnend im Bild und Gleichnis zu enträtseln vermag.
Aber wenn sich in dieser Auffassung der Sprache eine zwar unbe-
stimmte und ungeklärte, aber doch in sich selbst völlig geschlossene Ge-
samtkonzeption des Seins und des Geistes ausdrückt — so wird bei den
nächsten Nachfolgern Heraklits, die sich seine Lehre zu eigen machen,
diese ihre originale Bedeutung immer weiter zurückgedrängt. Was bei ihm,
in einer letzten Tiefe der metaphysischen Intuition, noch als unmittelbar
eins gefühlt wurde, — das fällt jetzt, in der diskursiven Betrachtung und
Behandlung des Sprachproblems in heterogene Bestandteile, in einander
widerstreitende logische Einzelthesen auseinander. Beide Motive, die He-
raklits Metaphysik zu einer Einheit zusammengeschaut und zusammenge-
zwungen hatte: die Lehre von der Identität von Wort und Sein und von
dem Gegensatz zwischen Wort und Sein, erfahren jetzt ihre selbständige
Entwicklung. Damit erst wird das Problem der Sprache in wirklicher
begrifflicher Schärfe gestellt — aber zugleich wird damit der Grundge-
danke Heraklits, indem man versucht, ihn aus der Form der symbolischen
Andeutung in die des abstrakten Begriffs umzubilden, gleichsam zer-
schlagen und in kleine gangbare Münze umgeprägt. Was bei ihm ein
sorgsam behütetes Geheimnis war, auf das er nur von fern her hinzu-
deuten wagte — das wird jetzt mehr und mehr zum eigentlichen Gegen-
stand des philosophischen Tages- und Streitgesprächs. Xenophons Me-
morabilien entwerfen ein anschauliches Bild davon, wie im Athen des
fünften Jahrhunderts dieses Lieblingsthema der 6g&oT?]g tcov ovo^drcov
1 Vgl. bes. fr. 32: ev ro oo(pov /novvov leyeoftai ovx stielet xai e§e).ei Zrjvög ovofxa.
60
beim Wein und bei der Mahlzeit verhandelt wurde1. Besteht zwischen der
Sprachform und der Seinsform, zwischen dem Wesen der Worte und
dem der Dinge, ein natürlicher oder nur ein vermittelter und konventio-
neller Zusammenhang? Drückt sich in den Worten das innere Gefüge des
Seins aus, oder zeigt sich in ihnen kein anderes Gesetz, als dasjenige, das
die Willkür der ersten Sprachbildner ihnen aufgeprägt hat? Und wenn
das letztere gilt: — muß dann nicht, sofern überhaupt noch irgendein
Zusammenhang zwischen Wort und Sinn, zwischen Sprechen und Denken
angenommen wird, das Moment der Willkür, das dem Wort unvermeid-
lich anhaftet, auch die objektive Bestimmtheit und die objektive Not-
wendigkeit des Denkens und seiner Inhalte fragwürdig machen? Daher
scheint die Sophistik, um ihren Satz der Relativität aller Erkenntnis zu
verfechten, um den Menschen als „Maß aller Dinge" zu erweisen, der
Betrachtung der Sprache ihre besten Waffen entlehnen zu können. Sie
ist in der Tat von ihren ersten Anfängen an in jenem Mittelreich der
Worte, das zwischen der „objektiven" und der „subjektiven" Wirklich-
keit, zwischen dem Menschen und den Dingen steht, recht eigentlich
heimisch; sie befestigt sich in ihm, um von hier aus ihren Kampf gegen
die Ansprüche des „reinen", des angeblich allgemeingültigen Denkens zu
führen. Das überlegene Spiel, das sie mit der Mehrdeutigkeit der Worte
treibt, liefert ihr auch die Dinge in die Hand und erlaubt ihr, deren Be-
stimmtheit in die freie Bewegung des Geistes aufzulösen. So führt die
erste bewußte Reflexion über die Sprache und die erste bewußte Herr-
schaft, die der Geist über sie gewinnt, zugleich zur Herrschaft der
Eristik; — aber von hier, von der Besinnung auf den Gehalt und Ur-
grund des Sprechens geht andererseits auch die Reaktion aus, die zu einer
neuen Grundlegung und zu einer neuen Methodik des Begriffs hinführt.
Denn wie die Sophistik am Wort das Moment der Vieldeutigkeit und
der Willkür erfaßt und heraushebt — so erfaßt Sokrates an ihm die
Bestimmtheit und Eindeutigkeit, die freilich nicht als Tatsache in ihm
gegeben ist, wohl aber als latente Forderung in ihm liegt. Die vermeinte
Einheit der Wortbedeutung wird ihm zum Ausgangspunkt, an dem seine
charakteristische Frage, die Frage nach dem xi eou, nach dem identischen
und in sich beharrenden Sinn des Begriffs einsetzt. Wenn das Wort die-
sen Sinn nicht unmittelbar in sich schließt, so deutet es doch beständig
auf ihn hin — und die Aufgabe der Sokratischen „Induktion" besteht
1 Memorabil. Lib. III, i/j, 2; über das weitere geschichtliche Material zu dieser Frage
vgl. Steinthal, Gesch. der Sprachwissenschaft bei den Griechen u. Römern 2, Ber-
lin 1890, I, 76ff.
6l
darin, diese Hindeutung zu verstehen, sie aufzunehmen und sie fort-
schreitend zur Wahrheit zu machen. Hinter der fließenden und unbe-
stimmten Wortgestalt soll die dauernde identische Begriffsgestalt, als das
eigentliche, die Möglichkeit des Sprechens wie des Denkens erst begrün-
dende Eidos aufgewiesen werden. Pia ton wurzelt in diesen Grundvoraus-
setzungen der Sokratik, und durch sie wird seine Stellung zum Wort und
zur Sprache bestimmt. Er ist in seiner Jugend der Schüler des Kratylos,
der, der Sophistik gegenüber, die andere, die positive Kehrseite des Hera-
klitischen Gedankens vertritt, indem er in den Worten die eigentlichen und
echten, das Wesen der Dinge ausdrückenden und befassenden Erkenntnis-
mittel sieht. Die Identität, die Heraklit zwischen dem Ganzen der Sprache
und dem Ganzen der Vernunft behauptet hatte, wird hier auf das Ver-
hältnis des einzelnen Wortes zu seinem gedanklichen Inhalt übertragen.
Aber mit dieser Übertragung, mit dieser Umsetzung des metaphysischen
Gehalts des Heraklitischen Logos-Begriffs in eine pedantisch-abstruse
Etymologie und Philologie, war freilich bereits jene reductio ad absur-
dum gegeben, die Piatons Dialog „Kratylos" nun in voller dialektischer
und stilistischer Meisterschaft vollzieht. Die These, daß es für jegliches
Sein eine „natürliche" Richtigkeit der Bezeichnung gebe (ovo juaxog ögfto-
zrjxa elrai exdozco rcbv övtcqv <pvoei jzeyvxvtav) wird jetzt in der überlegenen
Ironie dieses Dialogs in sich selbst zerstört und in dieser naiven Form
für immer beseitigt. Aber mit dieser Einsicht ist für Piaton nicht jegliche
Beziehung zwischen Wort und Erkenntnis abgebrochen, sondern es
ist an Stelle des unmittelbaren und unhaltbaren Ähnlichkeitsverhältnisses
zwischen beiden vielmehr ein tieferes mittelbares Verhältnis getreten. Im
Aufbau und im Stufengang des dialektischen Wissens behält das Wort
einen ihm eigentümlichen Platz und Wert. Die fließenden Grenzen, die
jederzeit bloß relative Festigkeit des Wortgehalts wird für den Dialek-
tiker zum Ansporn, um sich, im Gegensatz und im Kampf mit ihm, zur
Forderung der absoluten Festigkeit des Bedeutungsgehalts der reinen
Begriffe, zur ßeßaLOTrjg des Ideenreichs, zu erheben1. Aber erst Pia-
tons Altersphilosophie hat diese Grundanschauung, im positiven wie im
negativen Sinne, zur vollständigen Entfaltung gebracht. Die Echtheit des
siebenten Platonischen Briefes wird vielleicht durch nichts deutlicher er-
wiesen, als daß er in dieser Hinsicht unmittelbar an das Ergebnis des
Kratylos anknüpft und es erst zu voller methodischer Klarheit und zu
durchgreifender systematischer Begründung bringt.
Vier Stufen der Erkenntnis sind es, die der siebente Brief unterschei-
1 Vgl. bes. Kratylos 386 A, 438 D ff.
62
det und die erst in ihrer Gesamtheit zur Anschauung des wahren Seins,
des Erkenntnisgegenstandes, als des yvcooTovxal äArj&cbgöv hinführen. Die
untersten Stufen sind durch den Namen, durch die sprachliche Defi-
nition des Gegenstandes und durch sein sinnliches Abbild, durch övojua,
Xöyog und ä'öcoAov gegeben. So kann z. B. das Wesen des Kreises in dieser
dreifachen Weise erfaßt werden: das eine Mal, indem wir einfach den
Namen des Kreises aussprechen, das andere Mal, indem wir diesen Namen
durch eine Erklärung des in ihm Gemeinten näher bestimmen und
umgrenzen, indem wir also etwa den Kreis als dasjenige Gebilde „defi-
nieren", was von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt allseitig die gleiche
Entfernung hat, und schließlich, indem wir irgendeine sinnliche Gestalt,
sei sie im Sande hingezeichnet oder vom Drechsler verfertigt, als Bild,
als Modell des Kreises vor uns hinstellen. Keine dieser Darstellungen im
Wort, in der Definition und im Modell erreicht und faßt die wahre We-
senheit des Kreises — denn sie alle gehören nicht dem Reich des Seins,
sondern dem des Werdens an. Wie der Laut wandelbar und flüchtig ist,
wie er entsteht und vergeht, so kann auch das gezeichnete Bild des
Kreises wieder weggewischt, das vom Drechsler gebildete Modell wieder
vernichtet werden — alles Bestimmungen, von denen der Kreis als solcher
(avrög 6 xvxXog) in keiner Weise betroffen wird. Und doch wird anderer-
seits erst durch diese für sich unzureichenden Vorstufen die vierte und
fünfte Stufe, die wissenschaftliche Erkenntnis und ihr Gegenstand, er-
reicht. In diesem Sinne bleiben Name und Bild, övofia und eidcoXov, von
der vernünftigen Einsicht, der emoirj/ur], aufs schärfste geschieden —
und gehören doch andererseits zu ihren Voraussetzungen, zu den Vehikeln
und Mittlern, vermöge deren wir uns erst, im stetigen Fortschritt und
Stufengang, zur Erkenntnis erheben können (dt d>v xr\v emoTrjjurjv ävdyxrt
TiaQaylyveoftai) . Das Wissen vom Gegenstand und dieser selbst erscheint
demnach ebensowohl als etwas, was diese drei Stufen überschreitet, wie
als etwas, was sie in sich befaßt — als deren Transzendenz und deren'
Synthese1.
In diesen Entwicklungen des siebenten Platonischen Briefes ist —
zum erstenmal in der Geschichte des Denkens — der Versuch gemacht,
den Erkenntniswert der Sprache in rein methodischem Sinne zu
bestimmen und zu umgrenzen. Die Sprache wird als ein erster Anfangs-
1 S. den siebenten Brief 342 A ff.; zur Echtheit des siebenten Briefes vgl. bes. Wila-
mowitz, Piaton, I, 64iff., II, 282 ff., sowie die eingehende Analyse der philosophischen
Stelle bei Jul. Stenzel, Über den Aufbau der Erkenntnis im VII. Platonischen Brief,
Sokrates, Jahrg. 47, S. 63ff. und E. Howald, Die Briefe Piatons, S. 34 (Zürich 1923).
63
punkt der Erkenntnis anerkannt, aber sie ist auch nicht mehr als ein
solcher Anfangspunkt. Ihr Bestand ist noch flüchtiger und wandelbarer
als der der sinnlichen Vorstellung; die Lautgestalt des Wortes oder des
aus övöjuaza und Qr^iaxa sich aufbauenden sprachlichen Satzes faßt
den eigentlichen Gehalt der Idee noch weniger, als es das sinnliche Mo-
dell oder Abbild tut. Und doch bleibt andererseits ein bestimmter Zu-
sammenhang zwischen Wort und Idee gewahrt: wie von den sinn-
lichen Inhalten gesagt wird, daß sie nach den Ideen „streben", so ist
ein solcher Hinweis und gleichsam eine geistige Tendenz auf sie auch in
den Gebilden der Sprache anzuerkennen. Zu dieser relativen Anerkennung
war Piatons System vor allem deshalb bereit und fähig, weil in ihm ein
Grundmoment, das aller Sprache wesentlich ist, zum erstenmal in seiner
prinzipiellen Bestimmtheit und in seiner ganzen Bedeutsamkeit erkannt
war. Alle Sprache ist als solche „Repräsentation"; ist Darstellung einer
bestimmten „Bedeutung" durch ein sinnliches „Zeichen". Solange die
philosophische Betrachtung im Kreise des bloßen Daseins verharrt, ver-
mag sie für dieses eigenartige Verhältnis im Grunde keine Analogie und
keinen zutreffenden Ausdruck zu finden. Denn in den Dingen selbst, sei
es, daß man sie nach ihrem Bestände als Inbegriffe von „Elementen"
betrachtet, sei es, daß man die Wirkungszusammenhänge zwischen ihnen
verfolgt, findet sich nichts, was der Beziehung des „Wortes" auf den
„Sinn", dem Verhältnis des „Zeichens" zu der in ihm gemeinten „Bedeu-
tung" entspricht. Für Piaton erst, für den sich die charakteristische Um-
kehr der Fragestellung vollzogen hat, die er im Phädon beschreibt, —
für den es feststeht, daß der Weg des philosophischen Denkens nicht von
den 7igdyjuaia zu den Xoyoi, sondern von den Xoyoi zu den jiQayjuaTa geht,
da nur in der Wahrheit der Begriffe die Wirklichkeit der Dinge
erfaßt und erschaut werden könne1 — für ihn erst gewinnt der Begriff
der Repräsentation eine wahrhaft zentrale systematische Bedeutung. Denn
er ist es, in den sich das Grundproblem der Ideenlehre zuletzt zusammen-
faßt, durch den sich das Verhältnis von „Idee" und „Erscheinung" aus-
drückt. Die „Dinge" der gemeinen Weltansicht, die sinnlich konkreten
Erfahrungsgegenstände — sie werden, vom Standpunkt des Idealismus
aus gesehen, selbst zu „Bildern", deren Wahrheitsgehalt nicht in dem
liegt, was sie unmittelbar sind, sondern in dem, was sie mittelbar aus-
drücken. Und dieser Begriff des Bildes, des el'dcoXov schafft nun eine
neue geistige Vermittlung zwischen Sprachform und Erkenntnisform. Um
das Verhältnis zwischen beiden klar und scharf zu bezeichnen, um die
1 Vgl. Phädon 99 D ff.
64
„Sphäre" des Worts von der der reinen Begriffe abzugrenzen und sie zu-
gleich mit ihr in Verbindung zu halten, braucht Piaton jetzt nur auf den Zen-
tralgedanken der Ideenlehre, auf den Gedanken der „Teilhabe" zurückzu-
greifen. Das Dunkel, das Heraklits metaphysische Lehre von der Einheit
von Wort und Sinn und von dem Gegensatz zwischen beiden umgab, er-
scheint jetzt, in diesem neuen Methodenbegriff der /usdefig l, mit einem
Schlage geklärt. Denn in der „Teilhabe" ist in der Tat ebensowohl ein
Moment der Identität, wie ein Moment der Nicht-Identität enthalten; in
ihr ist ebensowohl ein notwendiger Zusammenhang und eine Einheit der
Elemente, wie eine scharfe prinzipielle Auseinanderhaltung und Unter-
scheidung derselben gesetzt. Die reine Idee des „Gleichen selbst" bleibt,
gegenüber den gleichen Steinen oder Hölzern, durch die sie repräsentiert
wird, ein anderes, ein ezegov — und doch läßt sich eben dieses Andere,
vom Standpunkt der bedingten sinnlichen Weltansicht, nur in dieser Dar-
stellung erfassen. Im gleichen Sinne wird der physisch-sinnliche Gehalt
des Wortes für Piaton zum Träger einer ideellen Bedeutung, die als solche
doch in die Grenzen der Sprache nicht einzuspannen ist, sondern jenseits
ihrer stehen bleibt. Sprache und Wort streben nach dem Ausdruck des
reinen Seins ; aber sie erreichen ihn niemals, weil sich in ihnen der Bezeich-
nung dieses reinen Seins immer die Bezeichnung eines anderen, einer zu-
fälligen „Beschaffenheit" des Gegenstandes beimischt. Daher bezeichnet
das, was die eigentliche Kraft der Sprache ausmacht, immer auch ihre
eigentliche Schwäche, die sie zur Darstellung des höchsten, des wahrhaft
philosophischen Erkenntnisgehalts unfähig macht2.
Die Geschichte der Logik, wie die des Erkenntnisproblems überhaupt,
zeigt freilich, daß die scharfe Grenze, die Piaton hier zwischen den beiden
Bedeutungen des Xöyog, zwischen dem Begriff „an sich" und seinemsprach-
lichen Bepräsentanten gezogen hatte, sich allmählich wieder zu verwi-
schen droht. Dies gilt schon für die erste systematische Grundlegung der
Logik, — obgleich es zweifellos zu viel behauptet ist, wenn man gesagt
hat, daß Aristoteles die wesentlichen Grundunterscheidungen, auf denen
sich seine logischen Lehren aufbauen, der Sprache entnommen habe.
Aber allerdings weist schon die Bezeichnung der „Kategorien" darauf
hin, wie eng sich bei ihm die Analyse der logischen und die der sprach-
1 Für die methodische Stellung des Begriffs der pedeq'ig im Ganzen der Plato-
nischen Philosophie verweise ich auf Ernst Hoffmanns vortreffliche Darstellung Me-
thexis und Melaxy bei Piaton im Sokrates, Jahrg. 19 19, S. £8ff.
2 Vgl. bes. Brief VII, 342: ngög yag xovxotg xavxa (seil. ovo(xa, Xoyog, sidcoXov) oi>x rjxxov
smx^tQsX t6 noiov xi jiegl exaoxov drjkovv rj xo öv exdoxov dtä xb xcöv loycov aofteveg' cbv
evexa vovv s%wv ovdelg xoX(j,rjoet jcoxs slg avxo xt&ivai xa vevorj^ieva vri avxov.
5
65
liehen Formen miteinander berühren. Die Kategorien stellen die allge-
meinsten Seinsverhältnisse dar, die als solche zugleich die obersten Gat-
tungen der Aussage (yhrj oder oyr\^o.za rrjg xaz^yoglag) bedeuten. Sie
sind, ontologisch gefaßt, die Grundbestimmungen des Wirklichen, die
letzten „Prädikate" des Seienden; aber diese Prädikate können, wie von
den Dingen her, so auch von der allgemeinen Form des Prädizierens her
betrachtet und aus ihr entwickelt werden. So scheint in der Tat die Ge-
staltung des Satzes und seine Zerlegung in Worteinheiten und Wort-
klassen für Aristoteles in der Aufstellung seines Systems der Kategorien
vielfach vorbildlich gewesen zu sein. In der Kategorie der Substanz blickt
die grammatische Bedeutung des „Substantivum", in Quantität und Qua-
lität, im „Wann" und „Wo" blickt die Bedeutung des Adjektivs und der
Ort- und Zeitadverbien noch überall deutlich hindurch — und insbeson-
dere die vier letzten Kategorien, das jtoteTv und nao%Eiv, das e%eiv und
xeioftat, scheinen erst dann völlig durchsichtig zu werden, wenn man sie
auf gewisse Grundunterschiede bezieht, die die griechische Sprache in
der Bezeichnung des Verbums und der verbalen Aktion festhält1. Die
logische und die grammatische Spekulation schienen daher hier einander
durchgängig zu entsprechen und sich wechselseitig zu bedingen — wie
denn das Mittelalter im Anschluß an Aristoteles an dieser Entsprechung
festgehalten hat1. Als dann in der neueren Zeit der Kampf gegen die
Aristotelische Logik einsetzte, als man ihr das Recht, „die" Systematik
des Geistes zu heißen, bestritt, da bildete freilich umgekehrt gerade das
enge Bündnis, das sie mit der Sprache und der allgemeinen Grammatik
eingegangen war, einen der wichtigsten und gefährlichsten Angriffs-
punkte. Von hier aus hat in Italien Lorenzo Valla, in Spanien Lodovico
Vives, in Frankreich Petrus Ramus die scholastisch-aristotelische Phi-
losophie aus den Angeln zu heben versucht. Im Anfang hält sich dieser
Kampf noch innerhalb der Sprachforschung und Sprachbetrachtung
selbst: gerade die „Philologie" der Renaissance ist es, die von ihrer ver-
tieften Ansicht der Sprache aus auch eine neue „Denklehre" fordert.
Wfas die Scholastik an der Sprache erfaßt hat, das sind, wie jetzt einge-
wandt wird, nur ihre äußerlich grammatischen Verhältnisse, während ihr
eigentlicher Kern, der statt in der Grammatik vielmehr in der Stilistik
zu suchen ist, ihr verborgen geblieben ist. Unter diesem Gesichtspunkt
1 Näheres über diesen Zusammenhang bes. bei Trendelenburg, De Aristotelis Cate-
goriis (Berlin i833) und Geschichte der Kategorienlehre (Histor. Beiträge zur Philo-
sophie, Bd. I, i846, S. 23 ff.).
2 Vgl. z. B. Duns Scotus, Tractatus de modis significandi seu grammatica speculativa.
66
greifen die großen Stilkünstler der Renaissance die Syllogistik und ihre
„barbarischen" Formen nicht sowohl von der logischen, als von der ästhe-
tischen Seite an. Aber allmählich nimmt auch dieser Kampf der Rheto-
ren und Stilisten gegen die bloßen „Dialektiker", wie er z.B. in Vallas
„dialektischen Disputationen" geführt wird, eine andere Form an; denn
je weiter die Renaissance zu den eigentlichen klassischen Quellen zurück-
dringt, um so mehr wird ihr, statt der scholastischen Auffassung der
Dialektik, wieder ihr ursprünglicher Platonischer Begriff lebendig. Im
Namen dieses Begriffs wird jetzt der Rückgang von den Worten zu den
„Sachen" gefordert — unter den Sachwissenschaften aber steht gemäß
der Grundansicht der Renaissance, die sich allmählich immer entschiede-
ner durchsetzt, die Mathematik und die mathematische Naturtheorie an
erster Stelle. Damit tritt, auch innerhalb der reinen Sprachphilosophie,
der Orientierung an der Grammatik immer bewußter und entschiedener
die Forderung einer anderen Orientierung gegenüber:1 die echt syste-
matische Auffassung und Gestaltung der Sprache scheint nur erreicht
werden zu können, wenn sie sich auf die Systematik der Mathematik be-
zieht und von ihr den Maßstab entlehnt.
In der Lehre Descartes', die dem neuen Wissensideal der Renaissance
die universelle philosophische Begründung gibt, rückt daher auch die
Theorie der Sprache in ein neues Licht. Descartes selbst hat in seinen
systematischen Hauptschriften die Sprache nicht zum Gegenstand selb-
ständiger philosophischer Reflexionen gemacht — aber in der einzigen
Stelle eines Briefes an Mersenne, in der er das Problem berührt, gibt er
ihm sogleich eine sehr charakteristische und für die Folgezeit höchst
bedeutsame Wendung. Das Ideal der Einheit des Wissens, der „sapientia
humana", die stets ein und dieselbe bleibt, auf wie viele verschiedene Ge-
genstände sie sich auch erstrecken mag, wird jetzt auch auf die Sprache
übertragen. Der Forderung der „Mathesis universalis" tritt die Forderung
einer „Lingua universalis" zur Seite. Wie in allen Erkenntnissen, die auf
diesen Namen wirklich Anspruch haben, immer nur die Eine identische
Grundform der Erkenntnis, der menschlichen Vernunft, wiederkehrt, so
muß auch allem Sprechen die eine, allgemeine Vernunftform der Sprache
überhaupt zugrunde liegen, die von der Fülle und Verschiedenheit der
Wortformen zwar verhüllt wird, aber durch sie nicht völlig unkenntlich
gemacht werden kann. Denn wie zwischen den Ideen der Mathematik,
z. B. zwischen den Zahlen, eine ganz bestimmte Ordnung besteht, so bildet
1 Die geschichtlichen Belege hierfür s. in meiner Schrift über das Erkenntnispro-
blem, 3. Aufl., I, 120 — 135.
5*
67
überhaupt das Ganze des menschlichen Bewußtseins samt allen Inhalten,
die in dasselbe jemals eingehen können, einen streng geordneten Inbegriff.
Wie daher aus relativ wenigen Zahlzeichen das ganze System der Arith-
metik sich aufbauen läßt, so müßte sich auch durch eine begrenzte Zahl
sprachlicher Zeichen, wenn diese nur nach bestimmten allgemeingültigen
Regeln verknüpft werden, die Gesamtheit der Denkinhalte und ihre Struk-
tur erschöpfend bezeichnen lassen. Von der Ausführung dieses Planes
nimmt freilich Descartes Abstand : denn da die Schöpfung der Universal-
sprache die Analyse aller Bewußtseinsinhalte in ihre letzten Elemente, in
die einfachen konstitutiven „Ideen" voraussetzen würde, so kann sie mit
Erfolg erst dann unternommen werden, wenn diese Analyse selbst an ihr
Ende gelangt und damit das Ziel der „wahren Philosophie" erreicht ist1.
Von der kritischen Vorsicht, die sich in diesen Worten des Begründers
der neueren Philosophie ausspricht, läßt sich indes die unmittelbar fol-
gende Epoche wenig beirren. In rascher Folge treten jetzt die mannig-
fachsten Systeme künstlicher Universalsprachen hervor, die, in der Aus-
führung höchst verschieden, doch in ihrem Grundgedanken und im
Prinzip ihres Aufbaus nahe miteinander übereinstimmen. Immer wird
davon ausgegangen, daß es eine begrenzte Zahl von Begriffen gibt, daß
jeder von ihnen zu den anderen in einem ganz bestimmten sachlichen Ver-
hältnis, in einer Beziehung der Zuordnung, der Über- oder Unterordnung
stehe, und daß das Ziel einer wahrhaft vollkommenen Sprache darin be-
stehen müsse, diese natürliche Hierarchie der Begriffe in einem System
von Zeichen zum adäquaten Ausdruck zu bringen. Von dieser Voraussetzung
aus ordnet z. B. Delgarno in seiner „Ars Signorum" alle Begriffe unter
1 7 höchste Gattungsbegriffe, deren jeder durch einen bestimmten Buch-
staben bezeichnet wird, welcher als Anfangsbuchstabe für jedes unter die
betreffende Kategorie fallende Wort dient: und ebenso werden die
Unterklassen, die innerhalb der gemeinsamen Gattung unterschieden wer-
den können, je durch einen besonderen Buchstaben oder Laut, der an den
Anfangsbuchstaben herantritt, dargestellt. Wilkins, der dieses System zu
ergänzen und zu vervollkommnen sucht, stellt statt der ursprünglichen
1 7 Hauptbegriffe deren 4o auf, die lautlich durch je eine besondere, aus
einem Konsonanten und einem Vokal bestehende Silbe ausgedrückt wer-
den2. Über die Schwierigkeit, die „natürliche" Ordnung der Grundbegriffe
1 S. Descartes' Brief an Mersenne vom 20. November 1829; Correspond. (ed. Adam-
Tannery), I, 8off.
2 Bezeichnet etwa der Buchstabe P die allgemeine Kategorie der „Quantität", so werden
die Begriffe der Größe überhaupt, des Raumes und des Maßes durch Pe, Pi, Po aus-
68
aufzufinden und ihr wechselseitiges Verhältnis in erschöpfender und ein-
deutiger Weise zu bestimmen, gleiten all diese Systeme verhältnismäßig
rasch hinweg. Das methodische Problem der Begriffsbezeichnung wan-
delt sich ihnen mehr und mehr in ein rein technisches; es genügt ihnen,
irgendeine, rein konventionelle, Einteilung der Begriffe zugrunde zu
legen und sie durch fortschreitende Differenzierung für den Ausdruck
der konkreten Denk- und Vorstellungsinhalte tauglich zu machen.
Erst Leibniz, der das Sprachproblem wieder in den Zusammenhang
der allgemeinen Logik stellt und der die letztere als Voraussetzung
aller Philosophie, aller theoretischen Erkenntnis überhaupt, begreift,
faßt auch das Problem der Universalsprache in einer neuen Tiefe. Der
Schwierigkeit, auf die schon Descartes hingewiesen hatte, ist er sich in
vollem Maße bewußt; aber er glaubt in den Fortschritten, die die philo-
sophische und wissenschaftliche Erkenntnis inzwischen gemacht hat,
auch völlig neue Mittel zu ihrer Überwindung zu besitzen. Jede „Charak-
teristik", die sich nicht auf eine willkürliche Zeichensprache beschränken,
sondern als Gharacteristica realis die wahren Grundverhältnisse der
Dinge zur Darstellung bringen will, fordert eine logische Analyse der In-
halte des Denkens. Aber die Aufstellung eines derartigen „Gedanken-
alphabets" erscheint als keine unbegrenzte und unlösbare Aufgabe mehr,
sofern man, statt von beliebigen, mehr oder weniger zufälligen Gliede-
rungen des gesamten Begriffsstoffes auszugehen, den Weg, den die neu
begründete Kombinatorik und die neu begründete mathematische Ana-
lysis gewiesen haben, folgerichtig bis zu Ende geht. Wie die algebraische
Analysis uns lehrt, daß jede Zahl sich aus bestimmten ursprünglichen
Elementen aufbaut, daß sie sich in eindeutiger Weise in „Primfak-
toren" zerlegen und als deren Produkt darstellen läßt, so gilt das
gleiche auch für jeden Erkenntnisinhalt überhaupt. Der Zerlegung in
Primzahlen entspricht die Zerlegung in primitive Ideen — und es ist
einer der Grundgedanken der Leibnizschen Philosophie, daß beide im
wesentlichen nach dem gleichen Prinzip und kraft ein und derselben all-
umfassenden Methodik zustande gebracht werden können und müssen1.
Der Zirkel, daß die Form einer wahrhaft allgemeinen Charakteristik das
gedrückt u. s. f . Vgl. George Delgarno, Ars Signorum vulgo Cliaracter universalis et
lingua plülosophica, London 1661, und Wilkins, An Essay towards a Real cliaracter
and a Philosophical Language. London 1C68. Einen kurzen Abriß der Systeme von
Delgarno und Wilkins hat Couturat, La Logique de Leibniz, Paris 1901, Note III
u. IV, S. 544ff-, gegeben.
1 Näheres hierüber in m. Schrift: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grund-
lagen, S. io5ff., 487ff., sowie bei Couturat, a. a. 0., bes. Cap. 3—5.
69
Wissen, nach seinem Inhalt und seinem Aufbau, schon als gegeben vor-
auszusetzen scheint, und daß andererseits eben diese Charakteristik es sein
soll, kraft deren uns dieser Aufbau erst wahrhaft faßbar und verständ-
lich wird — dieser Zirkel löst sich für Leibniz dadurch, daß für ihn hier
überhaupt nicht zwei getrennte Aufgaben vorliegen, deren eine nach der
anderen in Angriff genommen werden könnte, sondern daß beide von ihm
in reiner sachlicher Korrelation gedacht werden. Der Fortschritt der
Analyse und der Fortschritt der Charakteristik fordern und bedingen sich
wechselweise: denn jede logische Einheitssetzung und jede logische Un-
terscheidung, die das Denken vollzieht, besteht für dasselbe in wirk-
licher Klarheit und Schärfe erst dann, wenn sie sich in einem bestimm-
ten Zeichen fixiert haben. So gesteht Leibniz Descartes zu, daß die
echte Universalsprache der Erkenntnis von dieser selbst, also von der
„wahren Philosophie" abhängig sei, aber er fügt hinzu, daß sie nichts-
destoweniger deren Vollendung nicht abzuwarten brauche, daß sich
vielmehr beide Leistungen, die Analysis der Ideen und die Zeichen-
gebung, an und miteinander entwickeln würden.1 Es spricht sich hierin
nur jene allgemeinste methodische Grundüberzeugung und gleichsam jene
methodische Grunderfahrung aus, die er in der Entdeckung der Analysis
des Unendlichen bewährt gefunden hatte: wie dort der Algorithmus der
Differentialrechnung sich nicht bloß als ein bequemes Mittel der Dar-
stellung des Gefundenen, sondern als ein echtes Organon der mathemati-
schen Forschung erwiesen hatte, so soll allgemein die Sprache dem Denken
diesen Dienst leisten; — sie soll nicht nur seiner Bahn folgen, sondern
diese Bahn erst zubereiten und sie fortschreitend ebnen.
So erhält Leibniz' Rationalismus in der Betrachtung der Sprache,
die rein als Erkenntnismittel, als Instrument der logischen Analyse, auf-
gefaßt wird, erst seine letzte Bestätigung und Vollendung; — aber zu-
gleich gewinnt dieser Rationalismus jetzt, im Vergleich zu Descartes, ge-
wissermaßen eine konkrete Form. Denn die Korrelation, die hier zwischen
Denken und Sprechen behauptet wird, rückt auch das Verhältnis zwischen
Denken und Sinnlichkeit in ein neues Licht. Mag immerhin die Sinnlich-
keit der fortschreitenden Auflösung in die distinkten Ideen des Verstandes
bedürfen, — so gilt doch andererseits, für den Standpunkt, in dem der
endliche Geist sich befindet, immer auch die umgekehrte Bindung. Auch
unsere „abstraktesten" Gedanken enthalten immer noch einen Zusatz der
Einbildungskraft, der für uns zwar weiter zerlegbar ist, bei dem aber die
1 S. Leibniz' Bemerkungen zum Brief Descartes' an Mersenne: Opuscules et fragments
inedits, ed. Gouturat, Paris 1903, S. 27t.
70
Analyse niemals an eine letzte Grenze gelangt, sondern vielmehr ins Un-
endliche fortschreiten kann und muß1. Hier stehen wir an dem Punkte,
an dem der Grundgedanke der Leibnizschen Logik sich mit dem Grund-
gedanken seiner Metaphysik berührt und an dem er unmittelbar in den-
selben übergeht. Für diese Metaphysik ist der Stufenbau des Seins durch
den Stufengang der Erkenntnis bestimmt. Die Monaden, als die einzig
wahrhaften substantiellen Wesenheiten, weisen untereinander keinen an-
deren Unterschied auf, als denjenigen, der in dem verschiedenen Grade
der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Vorstellungsinhalte besteht. Nur
dem höchsten, dem göttlichen Sein eignet die vollkommene Erkennt-
nis, die in keinem Sinne mehr repräsentativ, sondern rein intuitiv ist,
d. h. die ihre Gegenstände nicht mehr mittelbar durch Zeichen betrachtet,
sondern sie unmittelbar in ihrer reinen und ursprünglichen Wesenheit
anschaut. Hiermit verglichen erscheint selbst die höchste Stufe, zu der
sich das Wissen des endlichen Geistes erhebt, erscheint auch die distinkte
Erkenntnis der Figuren und Zahlen, nur als inadäquates Wissen: denn
sie muß sich, statt die geistigen Inhalte selbst zu erfassen, großenteils mit
ihren Zeichen genügen lassen. Bei jedem längeren mathematischen Beweis
sind wir zu dieser Stellvertretung gezwungen. Wer z. B. ein reguläres
Tausendeck denkt, der ist sich nicht immer der Natur der Seite, der
Gleichheit und der Zahl tausend, bewußt, sondern er gebraucht diese
Worte, deren Sinn ihm nur dunkel und unvollkommen gegenwärtig ist,
statt der Ideen selber, da er sich erinnert, daß er ihre Bedeutung kenne,
eine nähere Erklärung aber im gegenwärtigen Augenblick nicht für not-
wendig erachtet. Hier haben wir es also, statt *mit einer rein intuitiven,
mit einer „blinden" oder symbolischen Erkenntnis zu tun, die, wie die
Algebra und Arithmetik, so auch fast unser gesamtes sonstiges Wissen
beherrscht2. So sieht man, wie die Sprache, indem sie im Entwurf der
allgemeinen Charakteristik das Ganze der Erkenntnis mehr und mehr zu
umspannen sucht, eben dieses Ganze zugleich beschränkt und es in ihre
eigene Bedingtheit hineinzieht. Aber diese Bedingtheit hat keineswegs
einen bloß negativen Charakter, sondern schließt ein durchaus positives
Moment in sich. Wie jede noch so dunkle und verworrene sinnliche Vor-
stellung einen echten rationalen Erkenntnisgehalt in sich schließt, der
1 Les plus abstraites pensees ont besoin de quelque imagination: et quand on considere
ce que c'est que les pensees confuses (qui ne manquent jamais d'accompagner les plus
distinctes que nous puissions avoir) comme sont Celles des couleurs, odeurs, saveurs, de
la chaleur, du froid etc. on reconnoist qu'elles enveloppent toujours l'infini. Reponse aux
reflexions de Bayle, Philos. Schriften (Gerhardt), IV., 563.
2 S. Meditationes de cognitione, veritate et ideis (i684). Philos. Sehr. IV, 422 ff.
71
nur der Entfaltung und „Auswicklung' ' bedarf, so ist auch jedes sinn-
liche Symbol der Träger einer rein geistigen Bedeutung, die freilich in
ihm nur „virtuell" und implizit gegeben ist. Das echte Ideal der „Auf-
klärung" besteht darin, diese sinnlichen Hüllen nicht mit einem Schlage
abzustreifen, diese Symbole nicht wegzuwerfen, sondern sie mehr und
mehr als das, was sie sind, zu verstehen und sie damit geistig zu be-
herrschen und zu durchdringen.
So weit und universell indes die logische und metaphysische Gesamt-
ansicht ist, der Leibniz hier die Sprache einfügt, so droht doch gerade in
dieser Universalität ihr besonderer Gehalt unterzugehen. Der Plan der
allgemeinen Charakteristik beschränkt sich nicht auf ein einzelnes Gebiet,
sondern er will alle Arten und Gruppen von Zeichen, von den einfachen
Laut- und Wortzeichen bis hinauf zu den Zahlzeichen der Algebra, wie
den Symbolen der mathematischen und logischen Analysis, in sich fassen.
Er geht ebensowohl auf diejenigen Äußerungsformen, die lediglich einem
natürlichen, unwillkürlich hervorbrechenden „Instinkt" zu entstammen
scheinen, wie auf diejenigen, die in einer freien und selbstbewußten
Schöpfung des Geistes ihren Ursprung haben. Damit ist jedoch die spe-
zifische Eigentümlichkeit der Sprache, als Laut- und Wortsprache, nicht
sowohl gewürdigt und erklärt, als sie vielmehr letzten Endes ausgeschaltet
erscheint. Wäre das Ziel der allgemeinen Charakteristik erreicht, wäre
jede einfache Idee durch ein einfaches sinnliches Zeichen und jede kom-
plexe Vorstellung durch eine entsprechende Kombination solcher Zeichen
ausgedrückt, so wäre alle Besonderheit und Zufälligkeit der Einzel-
sprachen wieder in eine einzige allgemeine Grundsprache aufgelöst.
Leibniz verlegt diese Grundsprache, diese lingua Adamica, wie er sie
mit einem alten Ausdruck der Mystiker und Jacob Boehmes benennt1,
nicht in eine paradiesische Vergangenheit der Menschheit zurück, sondern
er faßt sie als einen reinen Idealbegriff, dem sich unsere Erkenntnis
fortschreitend annähern muß, um das Ziel der Objektivität und Allge-
meingültigkeit zu erreichen. In dieser ihrer letzten und höchsten, in ihrer
endgültigen Gestalt wird nach ihm die Sprache erst als dasjenige heraus-
treten, was sie wesentlich ist: — hier wird das Wort keine bloße Hülle
des Sinnes mehr sein, sondern als ein echter Zeuge der Einheit der Ver-
nunft erscheinen, die, als notwendiges Postulat, aller philosophischen
Erfassung eines besonderen geistigen Seins zugrunde liegt.
1 Zur Idee der „Lingua Adamica" vgl. Philos. Schriften VII, 198, 20^; Nouveaux
Essais III, 2 (Gerh. V, 260) u. ö.
72
1
II
Einen anderen Weg der Betrachtung der Sprache scheint der philo-
sophische Empirismus einzuschlagen, indem er, seiner Grundtendenz
gemäß, bestrebt ist, das Faktum der Sprache, statt es auf ein logisches
Ideal zu beziehen, in seiner einfachen und nüchternen Tatsächlichkeit, in
seinem empirischen Ursprung und seinem empirischen Zweck zu be-
greifen. Statt die Sprache in irgendeine, sei es logische, sei es meta-
physische Utopie aufgehen zu lassen, soll sie lediglich in ihrem psycho-
logischen Bestand erkannt und in ihrer psychologischen Leistung gewür-
digt werden. Auch in dieser Fassung der Aufgabe übernimmt freilich
der Empirismus von den gegnerischen rationalistischen Systemen eine
wesentliche Voraussetzung, indem er zunächst die Sprache ausschließlich
als ein Mittel der Erkenntnis betrachtet. Locke hebt ausdrücklich her-
vor, daß sein Plan einer Verstandeskritik ursprünglich dsn Gedanken
einer eigenen Sprachkritik nicht in sich gefaßt habe : erst allmählich habe
sich ihm gezeigt, daß die Frage nach der Bedeutung und dem Ursprung
der Begriffe sich von der nach dem Ursprung der Benennungen nicht
abtrennen lasse1. Nachdem aber dieser Zusammenhang einmal erkannt
ist, wird jetzt für ihn die Sprache zu einem der wichtigsten Zeugen für
die Wahrheit der empiristischen Grundansicht. Leibniz sagt einmal, daß
die Natur es liebe, an irgendeinem Punkte ihre letzten Geheimnisse offen
darzulegen und sie uns gleichsam in sichtbaren Proben unmittelbar vor
Augen zu stellen. Als eine solche Probe auf seine Gesamtanschauung der
geistigen Wirklichkeit sieht Locke die Sprache an. „Es kann uns etwas
tiefer in den Ursprung all unserer Begriffe hineinführen — so beginnt er
seine Analyse der Worte — „wenn wir beachten, in welchem Maße unsere
Worte von sinnlichen Ideen abhängig sind, und wie auch diejenigen, die
dazu bestimmt sind, ganz unsinnliche Vorgänge und Begriffe auszu-
drücken, dennoch hier ihren Ursprung nehmen und von offenbar sinn-
lichen Ideen erst auf verwickeitere Begriffe übertragen werden. So sind
»erfassen4, »begreifen', vorstellen' u. s. w. alles Worte, die von der Wirk-
samkeit sinnlicher Dinge hergenommen sind, um dann auf bestimmte
Operationen unseres Geistes angewandt zu werden. Geist (spirit) ist seiner
Grundbedeutung nach dasselbe wie Atem (breath); Engel bedeutet Bote,
und ich zweifle nicht, daß wir, wenn wir alle Ausdrücke auf ihre Wur-
zeln zurückverfolgen könnten, den gleichen Gebrauch sinnlicher Bezeich-
nungen für unsinnliche Dinge in allen Sprachen finden würden. Daraus
können wir einen Schluß darauf ziehen, von welcher Art und Herkunft
1 Locke, Essay III, 9, sect. 21.
73
die Begriffe waren, die den Geist der ersten Sprachbildner erfüllten und
wie die Natur sogar in der Benennung der Dinge dem Menschen unmerk-
lich die Ursprünge und die Prinzipien all seiner Erkenntnis andeutete.
Denn alle Ideen, die wir haben, stammen entweder von sinnlichen Gegen-
ständen außer uns oder aus der inneren Tätigkeit unseres Geistes, deren
wir uns unmittelbar bewußt werden1."
Damit ist die systematische Grundthese bezeichnet, auf die sich alle Er-
örterung des Sprachproblems innerhalb des Empirismus mittelbar oder
unmittelbar bezieht. Die Analyse der Sprache ist auch hier nicht Selbst-
zweck, sondern sie soll nur dem eigentlichen Hauptproblem, der Analyse
der Ideen, als Mittel und als Vorbereitung dienen. Denn alle sprachlichen
Benennungen dienen niemals unmittelbar dem Ausdruck der Dinge selbst,
sondern sie beziehen sich einzig auf die Ideen des Geistes, auf die eigenen
Vorstellungen des Sprechenden. Dies wird, als allgemeinster Grundsatz
aller Sprachbetrachtung, schon von Hobbes formuliert, der damit die
Sprachphilosophie dem Kreis und der Herrschaft der Metaphysik endgül-
tig entzogen zu haben glaubt. Da die Namen Zeichen der Begriffe, nicht
Zeichen der Gegenstände selbst sind, so fällt aller Streit, ob sie die Ma-
terie oder die Form der Dinge oder etwas aus beiden Zusammengesetztes
bezeichnen, als eine leere metaphysische Frage hinweg2. Locke fußt auf
dieser Entscheidung, zu der er immer wieder zurückkehrt und die er nach
allen Seiten hin ausspinnt. In der Einheit des Wortes — so betont auch er
— drückt sich niemals die Natur der Gegenstände selbst, sondern immer
nur die subjektive Art aus, in der der menschliche Geist bei der Zu-
sammenfassung seiner einfachen sinnlichen Ideen verfährt. Durch irgend-
ein substantielles Vorbild, durch irgendeine reale Wesenheit der Dinge
ist der Geist bei dieser Zusammenfassung nicht gebunden. Er kann nach
freier Willkür bald den einen, bald den anderen Vorstellungsinhalt stärker
betonen, bald diese, bald jene Gruppen einfacher Elemente zu Gesamt-
verbänden vereinen. Je nachdem hierbei die Verbindungslinien verschie-
den gezogen und die Trennungspunkte verschieden gesetzt werden, sondern
sich die verschiedenen Klassen der sprachlichen Begriffe und Bedeu-
tungen, die somit immer nur ein Spiegelbild eben dieses subjektiven Ver-
fahrens der Verbindung und Trennung selbst, nicht aber der objektiven
Beschaffenheit des Seins und seines Aufbaus nach realen Arten und Gat-
tungen, nach logisch-metaphysischen Genera und Species, sein können3.
1 Locke, Essay, III, i, sect. 5.
2 Hobbes, Elementorum philosophiae Sectio prima. De corpore Pars I, Gap. 2, sect. 5.
3 Locke, Essay, bes. Book III, Cap. 2 u. 6.
74
Die Lehre von der Definition nimmt damit dem Rationalismus gegenüber
eine neue Wendung. Der Gegensatz von Nominaldefinition und Real-
definition, von VVorterklärung und Sacherklärung fällt weg: denn jede
Definition kann nur beanspruchen, eine Umschreibung des Namens
des Dinges, nicht eine Darstellung seines ontologischen Bestandes und
seiner ontologischen Konstitution zu sein. Denn nicht nur ist uns
die Natur jedes Wesens im besonderen unbekannt, sondern wir können
auch mit dem allgemeinen Begriff dessen, was ein Ding an sich
selbst sein soll, keine bestimmte Vorstellung verbinden. Der einzige
Begriff der „Natur" eines Dinges, mit dem wir einen klaren Sinn
verknüpfen können, hat keine absolute, sondern eine nur relative Bedeu-
tung; er schließt eine Beziehung auf uns selbst, auf unsere seelische Or-
ganisation und unsere Erkenntniskräfte in sich. Die Natur eines Dinges
bestimmen heißt für uns nichts anderes, als die einfachen Ideen zu ent-
wickeln, die in ihm enthalten sind und die in seine Gesamtvorstellung
als Elemente eingehen1.
So scheint diese Grundansicht, ihrem Ausdruck nach, freilich wieder
zu der Leibnizischen Form der Analyse und zu der Leibnizischen Forde-
rung eines allgemeinen „Gedankenalphabets" zurückzulenken — aber
hinter dieser Einheit des Ausdrucks verbirgt sich ein scharfer syste-
matischer Gegensatz. Denn zwischen beiden Auffassungen der Sprache
und der Erkenntnis steht nun der entscheidende geistige Bedeutungs-
wandel, der sich im Terminus der „Idee" selbst vollzogen hat. Auf der
einen Seite wird die Idee in ihrem objektiv-logischen, auf der anderen
in ihrem subjektiv-psychologischen Sinne gefaßt; auf der einen Seite steht
ihr ursprünglicher Platonischer, auf der anderen Seite ihr modern-empi-
ristischer und sensualistischer Begriff. Dort bedeutet die Auflösung aller
Inhalte der Erkenntnis in ihre einfachen Ideen und deren Bezeichnung
den Rückgang auf letzte und allgemeingültige Prinzipien des Wissens;
hier steht sie für die Ableitung aller komplexen geistigen Gebilde aus den
unmittelbaren Gegebenheiten des inneren oder äußeren Sinnes, aus
den Elementen der „Sensation" und „Reflexion". Damit aber ist auch die
Objektivität der Sprache, wie die der Erkenntnis überhaupt, in einem
ganz neuen Sinne zum Problem geworden. Für Leibniz und für den ge-
samten Rationalismus ist das ideelle Sein der Begriffe und das reale
der Dinge durch eine unlösliche Korrelation verknüpft: denn „Wahrheit"
und „Wirklichkeit" sind in ihrem Grund und in ihrer letzten Wurzel
1 Vgl. hierzu bes. d'Alembert, Essai sur les el6ments de philosophie ou sur les principes
des connoissances humaines, sect. IV.
75
eins1. Alles empirische Dasein und alles empirische Geschehen ist in sich
derart verknüpft und geordnet, wie die intelligiblen Wahrheiten es for-
dern: — und eben hierin besteht seine Wirklichkeit, besteht das, was
Schein und Sein, Realität und Traum voneinander unterscheidet2. Diese
Wechselbeziehung, diese „prästabilierte Harmonie" zwischen dem Ideellen
und dem Reellen, zwischen dem Bereich der allgemeingültigen und not-
wendigen Wahrheiten und dem des besonderen und faktischen Seins ist
für den Empirismus aufgehoben. Je schärfer er die Sprache nicht als
Ausdruck der Dinge, sondern als Ausdruck der Begriffe nimmt, um
so bestimmter und gebieterischer muß sich daher für ihn die Frage er-
heben, ob nicht das neue geistige Medium, das hier anerkannt ist, die
letzten „wirklichen" Elemente des Seins, statt sie zu bezeichnen, vielmehr
verfälscht. Von Bacon bis zu Hobbes und Locke kann man fortschrei-
tend die Entwicklung und die immer schärfere Zuspitzung dieser Frage
verfolgen, bis sie zuletzt bei Berkeley in voller Klarheit vor uns steht
Für Locke ist der Erkenntnis, so sehr er sie in den besonderen Daten der
Sinnes- und Selbstwahrnehmung gegründet sein läßt, doch eine Tendenz
zur „Allgemeinheit" eigen: und dieser Tendenz auf das Allgemeine der
Erkenntnis kommt die Allgemeinheit des Wortes entgegen. Das abstrakte
Wort wird zum Ausdruck der „abstrakten allgemeinen Idee", die hier
noch, neben den Einzelempfindungen, als eine psychische Wirklichkeit
von eigener Art und von selbständiger Bedeutung anerkannt wird3. Der
Fortschritt und die Konsequenz der sensualistischen Ansicht aber führt
notwendig auch über diese relative Anerkennung und diese wenigstens
mittelbare Duldung des „Allgemeinen" hinaus. Das Allgemeine hat so
wenig im Bereich der Ideen, wie in dem der Dinge irgendeinen wahr-
haften und gegründeten Bestand. Damit aber steht nun das Wort und die
Sprache überhaupt gleichsam völlig im Leeren. Für das, was in ihnen aus-
gesprochen ist, findet sich weder im physischen, noch im psychischen
1 „la verit6 6tant une meme chose avec l'etre (Descartes, Meditat. V).
2 Vgl. z.B. Leibniz, Hauptschriften (Ausg. Cassirer-B uch e nau), I, 100, 287, 3^9,
II, 4o2f u. s.
3 „A distinct name for every particular thing would not be of any great use for the
improvement of the knowledge, which, ihough founded in particular ihings, enlarges
iiself by general views; to which things reduced into general names are properly sub
servient . . . Words become general by being made the signs of general ideas: and idcas
become general by separaling from them the circumstances of time and place, and any
other ideas that may determine them to this or that particular existence. By this way of
abstraction they are made capable of representing more individuals than one; each of
which, having in it a conformity to that abstract idea, is (as wie call it) of that sort."
Locke, Essay, B. III, Gap. III, sect. 4 — 6.
76
Sein, weder in den Dingen, noch in den Ideen irgendein Vorbild oder
„Archetyp". Alle Wirklichkeit — die seelische so gut wie die physische —
ist ihrem Wesen nach konkrete, individuell bestimmte Wirklichkeit: um
zu ihrer Anschauung vorzudringen, müssen wir uns daher vor allem der
falschen und trügerischen, der „abstrakten" Allgemeinheit des Wortes
entledigen. Mit aller Entschiedenheit wird diese Folgerung von Berkeley
gezogen. Jede Reform der Philosophie muß sich in erster Linie auf einer
Kritik der Sprache aufbauen, muß vor allen Dingen die Illusion weg- '
räumen, in der sie den menschlichen Geist seit jeher gefangen hält. „Es
kann nicht geleugnet werden, daß Worte trefflich dazu dienen, den gan-
zen Vorrat von Kenntnissen, der durch die vereinten Bemühungen von
Forschern aller Zeiten und Völker gewonnen worden ist, in den Gesichts-
kreis eines jedes Einzelnen zu ziehen und ihn in seinen Besitz zu bringen.
Zugleich aber muß anerkannt werden, daß die meisten Teile des Wissens
durch den Mißbrauch von Worten und allgemeinen Redeweisen erstaun-
lich verwirrt und verdunkelt worden sind. Es wäre daher zu wünschen,
daß ein jeder so sehr als möglich sich bemühte, eine klare Einsicht in die
Ideen zu gewinnen, die er betrachten will, indem er von denselben alle die
Bekleidung und all den beschwerlichen Anhang von Worten abtrennt,
der so sehr dazu beiträgt, das Urteil zu trüben und die Aufmerksamkeit
zu teilen. Vergeblich erweitern wir unseren Blick in die himmlischen
Räume und erspähen das Innere der Erde; vergeblich ziehen wir die
Schriften gelehrter Männer zu Rate und verfolgen die dunklen Spuren
des Altertums ; wir brauchten nur den Vorhang von Worten wegzuziehen,
um klar und rein den Baum der Erkenntnis zu erblicken, dessen Frucht
vortrefflich und unserer Hand erreichbar ist1."
Aber diese radikale Kritik der Sprache enthält freilich, näher betrach-
tet, mittelbar zugleich eine Kritik des sensualistischen Erkenntnis-
ideals, auf das sie sich stützt. Von Locke zu Berkeley hat sich in der
Stellung des Empirismus zum Sprachproblem eine eigentümliche Um-
kehr vollzogen. Wenn Locke in der Sprache seine Grundansicht der Er-
kenntnis bestätigt und beglaubigt fand, — wenn er sie zum Zeugen für
seine allgemeine These aufrief, daß nichts im Verstände sein könne, was
nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei: so zeigt sich jetzt vielmehr, daß
die eigentliche und wesentliche Funktion des Wortes innerhalb des sen-
sualistischen Systems keinen Raum hat. Soll dieses System aufrecht er-
halten werden, so bleibt kein anderes Mittel, als diese Funktion zu bestrei-
ten und auszuschalten. Die Struktur der Sprache wird jetzt nicht als
1 Berkeley, A treatise concerning the principles of human knowledge, Introd., $ 21-24-
77
Erläuterung der Struktur der Erkenntnis gebraucht, sondern sie bildet
zu ihr das genaue Widerspiel. Weit entfernt, einen auch nur bedingten
und relativen Wahrheitsgehalt in sich zu schließen, ist die Sprache viel-
mehr der Zauberspiegel, der uns die wahren Formen des Seins nur in
eigentümlicher Verfälschung und Verzerrung erkennen läßt. Hier hat sich
innerhalb des Empirismus selbst eine dialektische Entwicklung und eine
dialektische Umkehr vollzogen, die am deutlichsten und schlagendsten
heraustritt, wenn man die beiden geschichtlichen Extreme der empiristi-
schen Sprachphilosophie einander gegenüberstellt. Wenn Berkeley den
Wahrheits- und Erkenntnisgehalt der Sprache aufzuheben strebt, wenn
er in ihr den Grund alles Irrtums und aller Selbsttäuschung des mensch-
lichen Geistes sieht, so war bei Hobbes der Sprache nicht nur Wahrheit,
sondern — alle Wahrheit zugesprochen worden. Hobbes' Wahrheitsbe-
griff gipfelt in der These, daß Wahrheit nicht in den Dingen, sondern einzig
und allein in den Worten und im Gebrauch der Worte liege: veritas in
diclo, non in re consistit1. Die Dinge sind und bestehen als reale Einzel-
heiten, von denen uns in den konkreten sinnlich-einzelnen Empfindungen
Kunde wird. Aber weder das einzelne Ding, noch die einzelne Empfindung
kann jemals den wahrhaften Gegenstand des Wissens ausmachen: denn
jedes Wissen, das diesen Namen verdient, will statt bloß historischer
Kenntnis des Besonderen, vielmehr philosophische, d. h. notwendige Er-
kenntnis des Allgemeinen sein. Wenn daher die Sinnlichkeit und das Ge-
dächtnis sich im Faktischen beschränken, so geht alle Wissenschaft auf
allgemeine Beziehungen und Schlußfolgerungen, auf deduktive Ver-
knüpfungen2. Das Organ und das Instrument aber, dessen sie sich hier-
bei bedient, kann kein anderes als das Wort sein. Denn deduktive Einsicht
kann unser Geist nur von denjenigen Inhalten erwerben, die ihm nicht,
gleich den Dingen oder den sinnlichen Empfindungen, von außen her
gegeben sind, sondern die er selbst erschafft und von sich aus frei her-
vorbringt. Solche Freiheit aber eignet ihm nicht gegenüber den wirklichen
Gegenständen der Natur, sondern nur gegenüber ihren ideellen Stellver-
tretern, gegenüber den Bezeichnungen und Benennungen. Die Schaffung
eines Systems von Namen ist daher nicht nur eine Vorbedingung für jedes
System des Wissens — sondern alles wahrhafte Wissen geht in einer sol-
chen Schöpfung von Namen und in ihrer Verknüpfung zu Sätzen und Ur-
teilen auf. Wahrheit und Falschheit sind demgemäß nicht Attribute der
Dinge, sondern Attribute der Rede — und ein Geist, der der Rede ent-
1 Hobbes, De Corpore, P. I: Computatio sive Logica, Cap. III, $ 7.
2 Hobbes, Leviathan, P. I: De homine, Gap. V, $ 6.
78
behrte, wäre daher auch dieser Attribute, wäre der gesamten Unterschei-
dung und Entgegensetzung des „Wahren" und „Falschen" nicht mäch-
tig1. Für Hobbes ist daher die Sprache nur insofern eine Quelle des Irr-
tums, als sie zugleich, gemäß seiner nominalistischen Grundansicht, die
Bedingung der begrifflichen Erkenntnis überhaupt, somit die Quelle aller
Allgemeingültigkeit und aller Wahrheit ist.
In Berkeleys Kritik der Sprache und der Erkenntnis scheint dagegen
jetzt dem Allgemeinen auch diese letzte Stütze entzogen zu werden und da-
mit die Methodik des Rationalismus, die bei Hobbes überall noch unver-
kennbar fortwirkt, erst endgültig widerlegt und entwurzelt zu sein. Aber
indem jetzt das System Berkeleys von diesen seinen ersten Anfängen fort-
schreitet und sich weiter und weiter auszubauen strebt — vollzieht sich
in ihm selbst noch einmal eine eigenartige Rückkehr und Umwendung.
Es ist, als ob jetzt die anfänglich bestrittene, die gewaltsam zurückgehal-
tene Kraft des „Logos", der in der Sprache lebendig ist, sich allmählich
befreite und dem Zwange des sensualistischen Schemas, in das Berke-
ley alles Sprechen und Denken einzuspannen versuchte, entgegenwirkte.
Unvermerkt und schrittweise wird Berkeley von der Betrachtung und Ana-
lyse der Funktion des Zeichens und von der neuen positiven Wertung
aus, die das Zeichen für ihn gewinnt, zu einer veränderten Grundauf-
fassung der Erkenntnis hingedrängt. Er selbst vollzieht jetzt, insbesondere
in seiner letzten Schrift, der Siris, die entscheidende Wendung : er löst die
„Idee" aus all ihren sensualistisch-psychologischen Verflechtungen und
führt sie zu ihrer Platonischen Grundbedeutung zurück. Und in dieser letz-
ten Phase seines Systems gewinnt nun auch die Sprache wieder eine beherr-
schende, eine wahrhaft zentrale Stellung. Wenn zuvor der Wert der Sprache
aus allgemeinen Gründen der Berkeleyschen Psychologie und Metaphysik be-
stritten wurde — so stehen wir, in der endgültigen Gestalt eben dieser
Metaphysik, vor dem merkwürdigen Schauspiel, daß sich hier alle Wirk-
lichkeit, die geistige wie die sinnliche, vielmehr in Sprache verwandelt.
Denn jetzt hat sich die sinnliche Weltansicht selbst mehr und mehr in
eine rein symbolische umgestaltet. Was wir als die Wirklichkeit der
Wahrnehmungen und als die der Körper bezeichnen — das ist, tiefer
erfaßt und verstanden, nichts anderes als die sinnliche Zeichensprache, in
der sich ein allumfassender unendlicher Geist unserem endlichen Geiste
mitteilt2. In dem Ringen zwischen Metaphysik und Sprache ist daher
1 A. a. O. De homine, Cap. IV: Verum et Falsum attributa sunt non rerum, sed Ora-
tionis; ubi autem Oratio non est, ibi neque Verum est neque Falsum.
2 Nähere Ausführungen und Belege s. in m. Schrift über das Erkenntnisproblem, II,
3i5 ff.
79
schließlich die letztere Siegerin geblieben, — die Sprache, die anfangs
von der Schwelle der Metaphysik zurückgewiesen wurde, dringt zuletzt
nicht nur in ihre Sphäre ein, sondern sie ist es auch, die die Form eben
dieser Metaphysik entscheidend und wesentlich bestimmt.
III
In der Geschichte des Empirismus bleibt jedoch die letzte Phase des
ßerkeleyschen Systems nur eine vereinzelte Episode. Die allgemeine Ent-
wicklung geht in einer anderen Richtung; sie strebt immer deutlicher da-
hin, die logischen und metaphysischen Gesichtspunkte, unter denen bisher
das Verhältnis von Sprechen und Denken vornehmlich betrachtet worden
war, durch rein psychologische Gesichtspunkte zu ersetzen. Für die kon-
krete Sprachbetrachtung ergibt sich hieraus zunächst ein unmittelbarer
und unzweifelhafter Gewinn: denn jetzt tritt neben die Betrachtung des-
sen, was die Sprache als geistige Gesamtform ist, immer entschiedener
das Interesse an der Individualität, an der geistigen Eigentümlichkeit
der einzelnen Sprachen. Wenn die logische Grundansicht immer wieder
wie unter einem methodischen Zwange in das Problem der Universal-
sprache einmündet, so weist die psychologische Analyse vielmehr den ent-
gegengesetzten Weg. Auch Bacon fordert, in der Schrift „de dignitate et
augmentis scientiarum", neben der gewöhnlichen empirischen Sprach-
kunde, neben der „Grammatica litteraria" eine allgemeine Form der
„philosophischen Grammatik". Aber diese letztere soll nicht darauf aus-
gehen, irgendeinen notwendigen Zusammenhang zwischen den Worten
und den durch sie benannten Gegenstanden aufzuweisen : denn, so reizvoll
ein derartiges Unternehmen erscheinen mag, so gefährlich und schlüpfrig
würde es sich auch, bei der Dehnbarkeit der Worte und der Unsicherheit
jeder rein etymologischen Untersuchung, erweisen. Die edelste Form der
Grammatik wäre es vielmehr, wenn jemand, der in einer großen Zahl von
Sprachen, sowohl in Volkssprachen wie in gelehrten Sprachen, bewandert
wäre, von ihren verschiedenen Eigentümlichkeiten handelte und von jeder
einzelnen zeigte, worin ihr Vorzug und ihr Mangel besteht. Auf diese
Weise ließe sich nicht nur, durch Vergleichung der Einzelsprachen, das
Idealbild einer vollkommenen Sprache entwerfen, sondern zugleich wür-
den sich aus einer derartigen Betrachtungsweise die bedeutsamsten Auf-
schlüsse über den Geist und die Sitten der einzelnen Nationen ergeben.
In der Ausführung, die Bacon diesem Gedanken gibt und in der knappen
Charakteristik der griechischen, lateinischen und hebräischen Sprache,
die er unter diesem Gesichtspunkt versucht, hat er eine Forderung vor-
80
weggenommen, die ihre eigentliche Erfüllung erst bei Wilhelm v. Hum-
boldt gefunden hat1. Innerhalb des philosophischen Empirismus aber
wird seine Anregung nur insofern weitergeführt, als man sich der spezi-
fischen Prägung und Besonderung der Begriffe in jeder Einzelsprache
immer schärfer und deutlicher bewußt wird. Stehen die Sprachbegriffe
nicht einfach als Zeichen für objektive Gegenstände und Vorgänge, son-
dern als Zeichen für die Vorstellung, die wir uns von ihnen bilden, so
muß sich in ihnen notwendig nicht sowohl die Beschaffenheit der Dinge,
als die individuelle Art und Richtung der Auffassung der Dinge wider-
spiegeln. Diese wird sich mit besonderem Nachdruck dort geltend machen,
wo es sich nicht darum handelt, einfache sinnliche Eindrücke im Laut
festzuhalten, sondern wo das Wort als Ausdruck einer komplexen Ge-
samtvorstellung dient. Denn jede derartige Vorstellung und demgemäß
jeder Name, den wir solchen „gemischten Modi" (mixed modes, wie
Locke sie nennt), beilegen, geht letztlich auf die freie Aktivität des
Geistes zurück. Während der Geist hinsichtlich seiner einfachen Ein-
drücke schlechthin passiv ist und sie in der Gestalt, in der sie ihm von
außen gegeben werden, lediglich hinzunehmen hat, stellt sich in der Ver-
bindung dieser einfachen Ideen weit mehr seine eigene Natur, als die
der Objekte außer ihm dar. Nach einem realen Vorbild dieser Verknüp-
fungen braucht nicht gefragt zu werden; vielmehr sind die Arten und
Spezies der „gemischten Modi" und die Namen, die wir ihnen bei-
legen, vom Verstände ohne Modelle, ohne jede unmittelbare Anknüpfung
an wirklich existierende Dinge geschaffen. Dieselbe Freiheit, die Adam
besaß, als er die ersten Benennungen komplexer Vorstellungen nach
keinem anderen Musterbild, als dem seiner eigenen Gedanken erschuf, —
dieselbe Freiheit bestand und besteht weiterhin für alle Menschen2.
Hier stehen wir, wie man sieht, an der Stelle, an der im System des
Empirismus die Spontaneität des Geistes ihre, wenngleich vorläufig nur
bedingte und mittelbare, Anerkennung findet. Und diese wesentliche Ein-
schränkung der Abbildtheorie der Erkenntnis muß nun sofort auf die
Gesamtanschauung der Sprache zurückwirken. Wenn die Sprache in
ihren komplexen Begriffsworten nicht sowohl ein Spiegelbild des sinn-
lichen Daseins, als vielmehr ein Spiegelbild geistiger Operationen ist,
so wird diese Spiegelung sich auf unendlich vielfältige und verschieden-
1 S. Bacon, De dignitale et augmentis scinlarum, Lib. VI, Gap. r: Innumera sunt ejus-
modi, quae justum volumen complere possint. Non abs re igitur fuerit grammatica
philosophantem a simplici et litteraria distinguere, et desideraiam ponere.
2 S. Locke, Essay, B. II, ch. 22, sect. iff .; B. III, ch. 5, sect. 1— 3; ch. 6, sect. 5i u. s.
6
81
artige Weise vollziehen können und müssen. Ist der Gehalt und Ausdruck
des Begriffs nicht von der Materie der einzelnen sinnlichen Vorstellungen,
sondern von der Form ihrer Verknüpfung abhängig, so stellt im Grunde
jeder neue sprachliche Begriff eine neue geistige Schöpfung dar. Kein
Begriff der einen Sprache ist daher schlechthin in den einer anderen
„übertragbar". Schon Locke besteht auf dieser Schlußfolgerung; schon
er betont, daß, bei genauer Vergleichung verschiedener Sprachen, sich
in ihnen fast niemals Worte finden werden, die einander völlig ent-
sprechen und sich in der ganzen Sphäre ihres Sinnes miteinander voll-
kommen decken werden1. Damit aber ist von einer neuen Seite her das
Problem einer schlechthin „allgemeinen" Grammatik als Trugbild er-
wiesen. Immer schärfer erhebt sich die Forderung, statt einer solchen
allgemeinen Grammatik vielmehr die besondere Stilistik jeder Einzel-
sprache zu suchen und sie in ihrer Eigentümlichkeit zu begreifen. Das
Zentrum der Sprachbetrachtung wird damit von der Logik nicht nur
nach der Seite der Psychologie, sondern nach der Ästhetik hin ver-
schoben. Dies tritt besonders deutlich bei demjenigen Denker hervor, der
wie kein anderer innerhalb des empiristischen Kreises, mit der Schärfe
und Klarheit der logischen Analyse das lebendigste Gefühl für Indivi-
dualität, für die feinsten Schattierungen und Nuancierungen des ästhe-
tischen Ausdrucks verbindet. Diderot greift in seinem „Brief über die
Taubstummen" die Bemerkung Lockes auf; — aber was bei diesem ein
vereinzeltes Apercu gewesen war, das wird jetzt durch eine Fülle kon-
kreter Beispiele aus dem Gebiet des sprachlichen und insbesondere des
sprachkünstlerischen Ausdruckes belegt und in einem Stil dargestellt, der
selbst der unmittelbare Beweis dafür ist, wie jede wahrhaft originale
geistige Form sich die ihr gemäße Sprachform erschafft. Von einer
ganz bestimmten stilistischen Einzelfrage, vom Problem der sprachlichen
„Inversion" ausgehend, dringt Diderot methodisch und doch in freiester
Gedankenbewegung zum Problem der Individualität der Sprachform vor.
Wie Lessing, um die unvergleichliche Eigenheit des poetischen Genies
zu bezeichnen, an das Wort erinnert, daß sich eher dem Herkules seine
Keule nehmen lasse, als dem Homer oder Shakespeare ein einziger Vers —
so geht auch Diderot von diesem Worte aus. Das Werk eines wahrhaften
Dichters ist und bleibt unübersetzbar — man mag den Gedanken wieder-
geben, man wird vielleicht das Glück haben, hie und da einen gleichwer-
tigen Ausdruck zu finden; aber die Gesamtdarstellung, der Ton und
Klang des Ganzen, bleibt immer eine einzige subtile und unübertragbare
1 Locke, Essay, B. II, ch. 22, sect. 6; B. III, ch. 5, sect. 8.
82
„Hieroglyphe"1. Und eine solche Hieroglyphe, ein solches Form- und
Stilgesetz ist nicht nur in jeder besonderen Kunst, in der Musik, in der
Malerei, in der Plastik verwirklicht, sondern sie beherrscht auch jede be-
sondere Sprache und drückt ihr das geistige Siegel, das Gedankengepräge
wie das Gefühlsgepräge auf. —
So wird hier die Betrachtung der Sprache in unmittelbare Berührung
mit dem Zentralproblem gesetzt, das die gesamte Geistesgeschichte des
17. und 18. Jahrhunderts beherrscht. Im Begriff der Subjektivität
selbst vollzieht sich jetzt dieselbe charakteristische Wandlung, die uns
gleichzeitig in der Theorie der Kunst und des künstlerischen Schaffens
entgegentritt. Aus der engen empiristisch-psychologischen Fassung der
Subjektivität ringt sich immer deutlicher die tiefere und umfassendere
Ansicht hervor, durch die sie aus der Sphäre des bloß zufälligen Da-
seins und des willkürlichen Tuns herausgehoben und in ihrer spezifisch
geistigen „Form", d. h. in ihrer spezifischen Notwendigkeit anerkannt
wird. In der ästhetischen Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts faßt
sich diese gesamte Bewegung allmählich immer bestimmter und bewußter
in einem einzigen Mittelpunkt zusammen. Der Begriff des Genies wird
zum sprachlichen und gedanklichen Träger für die neue Ansicht des Gei-
stigen, die die Grenzen der empirisch-psychologischen, der bloß reflek-
tierenden Betrachtung sprengt. In Diderots „Lettre sur les sourds et
muets" bildet der Geniebegriff, so wenig er hier explizit hervortritt, das
belebende Prinzip aller sprachtheoretischen und kunsttheoretischen Ein-
zelerörterungen und den ideellen Einheitspunkt, auf den sie hinzielen.
Aber weit über dieses Einzelbeispiel hinaus läßt sich verfolgen, wie die-
ser Begriff von den verschiedensten Seiten her in die Sprachbetrachtung
eindringt. Schon im England des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhun-
derts ist die empirisch-psychologische Beschreibung und Erklärung gei-
stiger Vorgänge, die sie in ihre einzelnen sinnlichen und materialen
Faktoren aufzulösen sucht, keineswegs alleinherrschend, sondern es steht
ihr eine andere Anschauung gegenüber, die auf die „Form" dieser Vor-
gänge gerichtet ist und die diese Form in ihrer ursprünglichen und un-
zerlegbaren Ganzheit zu erfassen strebt. Ihren systematisch-philoso-
phischen Mittelpunkt hat diese Anschauung im englischen Piatonismus,
bei Gudworth und den Denkern der Schule von Cambridge, gefunden;
ihre vollendete literarische Darstellung hat sie bei Shaftesbury er-<
reicht. Aller äußeren Bildung des sinnlichen Daseins — das ist die ge-
meinsame Grundüberzeugung Shaftesburys und des englischen Plato-
1 Diderot, Lettre sur les sourds et muets (Oeuvres, ed. Naigeon, Paris 1798, II, 322 f.).
<5* 83
nismus — müssen bestimmte innere Maße (interior numbers) zugrunde
liegen — denn die Form kann niemals aus dem Stoff erzeugt werden,
sondern sie ist und besteht als ungewordene und unvergängliche, als rein
ideelle Einheit, die der Vielheit, indem sie sich ihr aufprägt, erst ihre
bestimmte Gestalt verleiht. Diese inneren und geistigen Maße, nicht die
zufällige Existenz und die zufällige Beschaffenheit der empirischen
Dinge, ist es, die der echte Künstler in seinem Werk darstellt. Ein sol-
cher Künstler ist in der Tat ein zweiter Schöpfer, ein wahrer Prometheus
unter Jupiter. „Gleich jenem höchsten Künstler oder der allgemeinen
bildenden Natur formt er ein Ganzes, das in sich selbst zusammenhängend
und wohlgegliedert ist, mit richtiger Unterordnung aller Teile, die es
konstituieren . . . Der geistige Künstler, der so den Schöpfer nachzu-
ahmen vermag und der so die innere Form und den Bau seiner Mitge-
schöpfe kennt, wird auch sich selbst und jene Zahlen und Maße, die die
Harmonie eines Geistes ausmachen, nicht verkennen." Was schon die Be-
trachtung jedes natürlichen organischen Körpers uns offenbart, das wird
zur unwiderleglichen Gewißheit, sobald wir auf unser eigenes Ich, auf
die Einheit unseres Bewußtseins hinblicken : daß jedes wahrhafte, in sich
beständige Sein seine Gestalt nicht von den Teilen empfängt, sondern daß
es als geformtes Ganze vor aller Teilung ist und wirkt. In seinem Ich
vermag jeder von uns unmittelbar ein individuelles Formprinzip, vermag
er seinen eigentümlichen „Genius" zu erfassen, den er sodann, im Be-
sonderen wie im Ganzen, als die stets verschiedene und doch mit sich
identische formgebende Macht, als den „Genius des Universum" wieder-
findet. Beide Gedanken entsprechen und bedingen einander — die empi-
rische Subjektivität drängt, wahrhaft verstanden und gedeutet, notwen-
dig über sich selbst hinaus und mündet in den Begriff des „allgemeinen
Geistes" ein1.
Was dieser ästhetisch-metaphysische Begriff der „inneren Form" für
die Anschauung der Sprache geleiset hat — das läßt sich an einem Werke
deutlich machen, das unmittelbar aus dem Kreise des englischen Neu-
platonismus hervorgegangen ist und seine allgemeine Weltansicht deutlich
widerspiegelt. Harris' „Hermes or a philosophical inquiry concerning
universal grammar" (1751) scheint sich, wenn man den Gesamtplan des
Werkes betrachtet, zunächst noch ganz in den Bahnen der rationalisti-
schen Sprachlehren zu bewegen, scheint noch das gleiche Ideal wie etwa
die „Grammaire generale et raisonnee" von Port Royal zu verfolgen. Auch
1 S. Shaftesbury, Soliloquy or Advice to an Author (Charakteristiks, ed. Robertson,
1900, I, i35 f.); vgl. bes. The Moralists, sect. V.
84
hier soll eine Grammatik geschaffen werden, die, ohne Rücksicht auf
die verschiedenen Idiome der besonderen Sprachen, nur die universellen,
für alle Sprachen identischen Prinzipien ins Auge faßt. Eine allgemeine
Logik und eine allgemeine Psychologie sollen der Gliederung des Sprach-
stoffs als Grundlage dienen und diese Gliederung als notwendig er-
scheinen lassen. Wie z. B. die Vermögen der Seele eine ursprüngliche
Zweiteilung aufweisen — wie dem Vorstellungsvermögen das Begehrungs-
vermögen gegenübersteht, so muß auch jeder sprachlich geformte Satz
entweder Aussagesatz oder Willensäußerung (a sentence of assertion or
a sentence of volition) sein — und allgemein ergibt sich auf dieser Grund-
lage, daß die Frage, warum die Sprache gerade diese und keine anderen
Redeteile, in dieser und keiner anderen Gestalt und Zahl in sich schließt,
sich eindeutig und prinzipiell beantworten lassen müsse. Merkwürdig und
interessant ist insbesondere Harris' Versuch, aus einer logischen und
psychologischen Analyse der Zeitvorstellung ein allgemeines Schema für
eine Darstellung der Tempusbildung des Verbums zu gewinnen1. Aber
je weiter er fortschreitet, um so deutlicher wird es, daß die Psychologie,
auf die er sich für die Betrachtung und Klassifikation der Sprachformen
stützt, eine reine „Strukturpsychologie" ist, die der Elementenpsychologie
des Sensualismus aufs schärfste entgegengesetzt ist. In seiner Ver-
teidigung der „allgemeinen Ideen" gegen ihre empiristischen Kritiker
knüpft Harris unmittelbar an die Schule von Cambridge an2. „Was mich
betrifft — so bemerkt er — so ist es mir immer, wenn ich die Einzel-
heiten über Sensation und Reflexion lese und wenn man mich im ganzen
über den Vorgang der Entstehung meiner Ideen belehrt, als wenn ich die
menschliche Seele gleich einem Schmelztiegel betrachten sollte, in dem
durch eine Art logischer Chemie Wahrheiten hervorgebracht werden —
Wahrheiten, die also ebenso wie irgend eine Pille oder ein Elixier, als
unsere eigenen Geschöpfe angesehen werden3." Dieser Anschauung der
Erzeugung der „Form" aus der „Materie" stellt er seine eigene gegen-
über, die, gestützt auf Piaton und Aristoteles, den durchgängigen Primat
der Form vertritt. Allen sinnlichen Formen müssen reine intelligible For-
men zugrunde liegen, die „früher" als die sinnlichen sind4. Und in diesem
Zusammenhang greift Harris, der als Neffe Shaftesburys seinem Ge-
1 Harris, Hermes 3d edition, London, 1771, B. I, chap. 6. (S. 97 ff.); zum Früheren
s. bes. B. I, Gh. 2, S. 17 ff.; Gh. 3, S. 24 ff.
2 A. a. 0. B. III, ch. 4, S. 35o ff. — zu vergleichen mit Cudworth, The true Intellec-
tual System of the Universe, London 1678, B. I., ch. 4-
3 A.a. O.B.III, ch. 5,S. 4<>4f.
* ibid. B. III, ch. 4,S. 38off.
85
dankenkreis wohl auch persönlich von früh an nahe stand, auf den Zen-
tralbegriff Shaftesburys, auf den Begriff des „Genius*' zurück. Jede
nationale Sprache hat ihren eigenen Sprachgeist; jede schließt ein eigen-
tümliches formgebendes Prinzip in sich. „Wir müssen darauf achten,
wie die Nationen, gleich den Einzelnen, ihre besonderen Ideen haben,
wie diese besonderen Ideen der Genius ihrer Sprache werden, da das
Symbol seinem Urbild entsprechen muß, wie daher die weisesten Na-
tionen, da sie die meisten und besten Ideen besitzen, auch die vollkom-
mensten und reichsten Sprachen haben." Wie es daher eine Natur, einen
Genius des römischen, des griechischen, des englischen Volkes gibt, so
gibt es auch einen Genius der lateinischen, der griechischen und der eng-
lischen Sprache1. Hier tritt — in dieser Bestimmtheit vielleicht zum
erstenmal — die neue Fassung des Begriffs des „Sprachgeistes" hervor,
die fortan die gesamte philosophische Betrachtung beherrscht. Wie dieser
Begriff in die deutsche Geistesgeschichte eindringt und wie er hier all-
mählich sein geistiges und sprachliches Bürgerrecht gewinnt, das läßt
sich an der meisterhaften Darstellung, die Rudolf Hildebrand in den
beiden Artikeln ,Geist' und ,Genie' des Grimmschen Wörterbuchs ge-
geben hat, Schritt für Schritt verfolgen2. Von Shaftesbury und Harris zu
Hamann und Herder führt hier ein direkter Weg. Hamann schreibt schon
im Jahre 1768 an Herder nach Riga, daß er für ihn bei seinem Verleger
den „Hermes" bestellt habe: „ein Werk, das mir zu Ihrem Plane (der
Behandlung der Sprache in den Fragmenten über die neuere deutsche
Literatur) unentbehrlich zu sein schien"3. Und Herder selbst, der sich
in seinem „Kritischen Wäldchen" über den Laokoon gegen Lessing auf
Harris' ästhetische Theorie beruft, weist auch auf dessen Sprachtheorie
beständig zurück. In seiner Vorrede zu der deutschen Übersetzung von
Monboddos Werk über den Ursprung und den Fortgang der Sprache
spricht er es ausdrücklich aus, daß durch diesen wie durch Harris ein
neuer sicherer Weg der Sprachbetrachtung gewiesen sei: „Genug . . . der
Pfad ist gebahnt: die Grundsätze unseres Autors und seines Freundes
Harris dünken mich nicht nur die einzig wahren und festen, sondern
auch seine ersten Versuche, mehrere Sprachen verschiedener Völker auf
verschiedenen Stufen der Kultur miteinander zu vergleichen, werden
immer Vorarbeiten eines Meisters bleiben. Und so wäre einmal (gewiß
noch nicht so bald) eine Philosophie des menschlichen Verstandes
1 A.a.O. B.III, ch. 5,S. 4ogff.
2 Vgl. bes. Grimm, Deutsch. Wörterbuch IV, I, 2, Sp. 2727 f. u. 3/ioi f .
3 Hamann an Herder 7. Sept. 1768, Schriften (Roth) III, 386.
86
aus seinem eigentümlichsten Werk, den verschiedenen Sprachen der Erde,
möglich1."
Was Herder an Harris' Sprachbetrachtung besonders anzog, war viel-
leicht der gleiche Zug, auf den er auch in seiner Beurteilung von
Harris' ästhetischer Theorie vor allem Gewicht legt. Der Aristotelische
Unterschied von egyov und evegyeia war durch Harris' „Dialog über
die Kunst", auf den sich Herder schon in seiner frühesten Erörterung
ästhetischer Probleme in den „kritischen Wäldern" ausdrücklich beruft2,
wieder in den Mittelpunkt der Kunsttheorie gerückt worden. Von hier
wirkt er auch auf die Sprachtheorie hinüber, in der er schließlich durch
Wilhelm v. Humboldt seine bestimmteste Formulierung und seine
streng systematische Fassung erhält. Die Sprache kann so wenig wie die
Kunst als ein bloßes Werk des Geistes, sondern sie muß als eine ihm
eigentümliche Form und „Energie" gedacht werden. Beide Motive: die
„energetische" Sprachtheorie und die energetische Kunsttheorie fanden
ihre ideelle Einigung wiederum im Begriff des Genies und in der cha-
rakteristischen Entwicklung, die er im 17. und 18. Jahrhundert erfuhr.
Denn das Entscheidende für diese Entwicklung ist die durchgehende Ten-
denz, alles geistige Sein auf den ursprünglichen schöpferischen Prozeß,
in dem es wurzelt, alle „Gebilde" auf Grundformen und Grundrich-
tungen des „Bildens" zurückzuführen3. Was die Sprache betrifft, so
scheint auf den ersten Blick diese Tendenz schon in jenen empiristischen
und rationalistischen Theorien des Sprachursprungs wirksam zu sein, die
sie, statt sie als ein göttliches, mit einem Schlage fertiges Werk zu bei-
trachten, vielmehr als eine freie Schöpfung der menschlichen Vernunft
begreifen wollen. Aber da die Vernunft selbst hier durchweg den Cha-
rakter der subjektiv- willkür liehen Reflexion behält, so löst sich das Pro-
blem der „Bildung" der Sprache alsbald wieder in das Problem ihrer
„Erfindung" auf. Es ist ein bewußt-zweckhaftes Verfahren, das der
Mensch in der Erfindung der ersten Sprachzeichen und in ihrer Ausge-
staltung zu Worten und Sätzen ausübt. Die Sprachtheorie der franzö-
1 Vorr. zur Übers, des Monboddo (1784), Suphan XV, i83; in ähnlicher Weise wird
auch in Herders „Metakritik" (1799), Suphan XXI, 57, über Harris geurteilt. Den
Wunsch eines deutschen Auszugs aus dem „Hermes" hatte Herder schon 1772 in der
Allg. Deutsch. Bibliothek ausgesprochen, Suphan V, 3i5.
2 S. Kritische Wälder III, 19 (Suphan Bd. III, S. iögff.) im Anschluß an Harris'
Three treatises the first concerning art, the second concern. music, painting and poetry etc.
London 1744-
3 Vgl. hrz. m. Schrift Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte,
bes. Cap. 2 u. 4-
87
sischen Aufklärung liebt es, diesen allmählichen Fortschritt der Sprache
mit dem methodischen Aufbau, den der Geist in der Wissenschaft, ins-
besondere in der Mathematik vollzieht, unmittelbar zu vergleichen und in
Parallele zu stellen. Für Gondillac sind alle Einzelwissenschaften, zu
denen der menschliche Geist gelangt, nur die Fortsetzung desselben Pro-
zesses der Analyse der Ideen, der mit der menschlichen Sprachbildung
beginnt. Neben die anfängliche Sprache der Lautzeichen tritt eine Sprache,
die sich allgemeiner, insbesondere arithmetischer und algebraischer Sym-
bole bedient; neben die Sprache der Worte tritt die „Sprache des Cal-
culs": aber in beiden waltet dasselbe Prinzip der Zergliederung, der Ver-
knüpfung und Ordnung der Vorstellungen. Wie die Wissenschaften in
ihrer Gesamtheit nichts anderes als wohlgeordnete Sprachen (Langues
bien faites) sind — so ist andererseits unsere Wort- und Lautsprache
nichts anderes als die erste Wissenschaft des Seienden, als die erste Äuße-
rung jenes Urtriebs der Erkenntnis, der vom Zusammengesetzten zum
Einfachen, vom Besonderen zum Allgemeinen strebt1. Maupertuis hat in
seinen „philosophischen Reflexionen über den Ursprung der Sprachen"
versucht, den Weg, den die Sprache hierbei einschlägt, im einzelnen zu
verfolgen; zu zeigen, wie sie von ihren ersten primitiven Anfängen an, in
denen sie nur über wenige Bezeichnungen komplexer sinnlicher Vorstel-
lungen verfügte, durch immer weitergehende bewußte Vergleichung und
bewußte Unterscheidung der Teile dieser Vorstellungen zu einem all-
mählich immer reicheren Schatz von Benennungen, von Wortformen und
Redeteilen, gelangt ist2. Dieser Ansicht der Sprache, die sie in die Sphäre
einer abstrakten Verständigkeit bannt, stellt Herder eine neue Anschau-
ung der „Sprachvernunft" gegenüber. Abermals tritt hier in über-
raschender Schärfe der tiefe Zusammenhang der geistigen Grundprobleme
zutage: denn der Kampf, der jetzt einsetzt, entspricht Zug für Zug dem
Kampf, den auf dem Gebiet der Kunst Lessing gegen Gottsched und
gegen den französischen Klassizismus geführt hatte. Auch die Gebilde der
Sprache sind im höchsten Sinn „regelmäßig", ohne daß sie doch aus
einer objektiven begrifflichen Regel abgeleitet und an ihr gemessen wer-
den könnten. Auch sie sind, vermöge der Übereinstimmung aller Teile zu
Einem Ganzen, durch und durch zweckmäßig gebildet — aber es waltet
in ihnen jene „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", die alle bloße Willkür
und alle bloß subjektive „Absicht" ausschließt. In der Sprache wie in
1 Condillac, La langue des calculs, Oeuvr., Paris 1798, Vol. a3.
2 Reflexions philosophiques sur l'origine des langues et la signification des mots, Oeuvres,
Lyon 1756, I, a5gff.
88
der Schöpfung des Kunstwerkes durchdringen sich daher die Momente,
die in der bloß verstandesmäßigen Reflexion einander fliehen, zu einer
neuen Einheit — zu einer Einheit, die zunächst freilich nur ein Problem,
nur eine neue Aufgabe vor uns hinstellt. Die Gegensätze von Freiheit
und Notwendigkeit, von Individualität und Allgemeinheit, von „Subjek-
tivität" und „Objektivität", von Spontaneität und Bindung mußten selbst
erst eine tiefere Bestimmung und eine neue prinzipielle Klärung erfahren,
ehe sie als philosophische Kategorien für die Erklärung des „Ursprungs
des Kunstwerks" und des „Ursprungs der Sprache" gebraucht werden
konnten.
IV
Die empiristischen und die rationalistischen, die psychologischen und
die logischen Theorien der Sprache stimmen in der Fassung, in der sie uns
bisher entgegengetreten sind, trotz aller inneren Gegensätzlichkeit, doch
in einem Grundzuge überein. Sie betrachten die Sprache wesentlich
nach ihrem theoretischen Gehalt: nach ihrer Stellung im Ganzen der
Erkenntnis und nach dem, was sie für den Aufbau der Erkenntnis leistet.
Mag sie als unmittelbares Werk der Vernunft und als ihr unentbehrliches
Organ aufgefaßt werden oder mag das Wort als eine bloße Hülle gelten,
das uns die Grundinhalte der Erkenntnis, die eigentlichen „Urperzep-
tionen" des Geistes verdeckt: immer wird als das Ziel der Sprache, an
dem sich ihr positiver oder negativer Wert bestimmt, das theoretische
Wissen und der Ausdruck dieses Wissens angesehen. Die Worte sind
Zeichen der Ideen — wobei die letzteren entweder als objektive und not-
wendige Erkenntnisinhalte oder als subjektive „Vorstellungen" gefaßt
werden. Je mehr indessen der Begriff der „Subjektivität", den die neuere
Philosophie fortschreitend erarbeitet, sich weitet und vertieft — je deut-
licher aus ihm eine neue wahrhaft universelle Auffassung der Spon-
taneität des Geistes erwächst, die sich gleich sehr als Spontaneität des
Gefühls und des Willens, wie als solche der Erkenntnis erweist, um so
entschiedener muß jetzt auch in der Leistung der Sprache ein anderes
Moment hervorgehoben werden. Die Sprache scheint gerade, wenn wir sie
zu ihren frühesten Anfängen zurückzuverfolgen suchen, nicht lediglich
repräsentatives Zeichen der Vorstellung, sondern emotionales Zeichen des
Affekts und des sinnlichen Triebes zu sein. Schon die antike Theorie
kennt diese Ableitung der Sprache aus dem Affekt, aus dem jid&os der
Empfindung und der Lust und Unlust. In diesen dem Menschen und den
Tieren gemeinsamen und somit wahrhaft „natürlichen" Urgrund müssen
«9
wir nach Epikur zurückgehen, um den Ursprung der Sprache zu be-
greifen. Diese ist nicht das Werk einer bloßen Konvention, einer willkür-
lichen Satzung und Vereinbarung, sondern gleich notwendig und gleich
natürlich, wie die unmittelbare Empfindung selbst. Wie das Sehen und
Hören, das Lust- und Schmerzgefühl dem Menschen von Anfang an eigen
ist, so ist es auch die Äußerung, die sich an unsere sinnlichen Empfindungen
und Gefühle anknüpft. So mußten in demselben Maße, wie die Empfin-
dungen der Menschen verschieden waren, wie sie je nach der Verschieden-
heit ihrer physischen Organisation und nach geistigen und ethnischen
Differenzen wechselten, wechselnde Laute entstehen, die erst allmählich,
zum Zwecke der Vereinfachung und der wechselseitigen Verständigung,
auf allgemeinere Wort- und Sprach typen zusammengezogen wurden1.
In der gleichen Weise wird von Lukrez das angebliche Wunder der
Spracherzeugung auf die allgemeinen und besonderen Gesetze der mensch-
lichen Natur zurückgeführt. Die Sprache entwickelt sich als ein besonderes
Gebiet aus dem allgemeinen Trieb zum sinnlich-mimischen Ausdruck,
der dem Menschen an- und eingeboren ist, der ihm nicht als Werk der
Überlegung, sondern unbewußt und ungewollt innewohnt2.
Die Philosophie der neueren Zeit greift, wie in der Naturphilosophie
und in der Erkenntnistheorie, so auch in der Sprachtheorie wieder auf
Epikur zurück. Im siebzehnten Jahrhundert erfährt die alte „Naturlaut-
theorie" insbesondere bei demjenigen Denker, der zuerst einen um-
fassenden systematischen Entwurf der Geisteswissenschaften gewagt
hat, eine höchst merkwürdige, nach Form und Begründung gleich origi-
nelle Erneuerung. Giambattista Vico stellt in seinen „Principi di scienza
nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni" das Sprachproblem
in den Umkreis einer allgemeinen Metaphysik des Geistes. Von der „poe-
tischen Metaphysik", die den Ursprung der Dichtkunst, sowie den des
mythischen Denkens enthüllen soll, dringt er durch das Mittelglied der
„poetischen Logik", in der die Genesis der dichterischen Tropen und
Gleichnisse erkannt werden soll, zur Frage nach dem Ursprung der
Sprache vor, die ihm gleichbedeutend mit der Frage nach dem Ursprung
der „Literatur", der Wissenschaften überhaupt ist. Auch er verwirft die
1 Vgl. Diogenes Laertius, Lib. X, sect. il\ % o&sv xai xa dvö/xaxa ägxys M ~&sosi
ysveodat, äXXy avxdg rag qpvoscg xcöv är&Qcbjioov, Haft' s'xaoxa s'&vrj l'dia 7iao%ovoag nä^rj
xai i'Sia Xapßavovoag cpavxdofxaxa, tdicog xbv dsga exjie[xtieiv , oxsXX6[xevov vq>' ixäoxcov
xwv jiaficbv xai xcöv (pavrao/xäxcov, oog av jzoxe xai Jiaga xovg xöjiovg xoov iftvcov diaqpoga
elr] ' voxeqov ds xoivoog xa$' sxaoxa fflvt) xa i'Sta xr&rjvai, JiQog xo xdg drjXobosig rjxxov ä[i-
cpißöXovg yeveo&ai dXXrjXoig xai ovvxofAWXEQOog drjXovfXEvag.
2 S. Lucret. De rerum natura, lib. V, i02Öff.
90
Lehre, daß die Urworte der Sprache lediglich auf konventionelle Set-
zungen zurückgingen; auch er fordert zwischen ihnen und ihren Bedeu-
tungen einen „natürlichen" Zusammenhang. Wenn die gegenwärtige
Phase der Sprachentwicklung, wenn unsere „Lingua volgare" diesen
Zusammenhang nicht mehr erkennen läßt, so hat dies keinen anderen
Grund, als daß sie sich von ihrem eigentlichen Urquell, von der Sprache
der Götter und Heroen, mehr und mehr entfernt hat. Aber selbst in der
heutigen Verdunklung und Zersplitterung enthüllt sich dem wahrhaft
philosophischen Blick noch die ursprüngliche Verknüpfung und Ver-
wandtschaft der Worte mit dem, was sie bedeuten. Da fast alle Worte von
natürlichen Eigenschaften der Dinge oder von sinnlichen Eindrücken und
Gefühlen hergenommen sind, so ist die Idee eines geistigen „Universal-
wörterbuches", das die Bedeutungen der Worte in allen verschiedenen
artikulierten Sprachen aufweist und sie sämtlich auf eine ursprüngliche
Einheit der Ideen zurückführt, nicht vermessen. Die eigenen Versuche,
die Vico in dieser Richtung unternimmt, zeigen freilich noch die ganze
naive Willkür einer rein spekulativen „Etymologie", die durch kritische
oder historische Rücksichten in keiner Weise eingeschränkt wird1. Alle
Urworte waren einsilbige Wurzeln, die entweder einen objektiven Natur-
laut onomatopoetisch wiedergaben, oder die als reine Empfindungslaute
der unmittelbare Ausdruck eines Affekts, eine Interjektion des Schmerzes
oder der Lust, der Freude oder der Trauer, der Verwunderung oder des
Schrecks, waren2. Einen Beleg für diese seine Theorie der Urworte, als
einfacher und einsilbiger Interjektionslaute, findet Vico z. B. in der
deutschen Sprache, die er — wie später Fichte — als eine eigentliche
Ursprache, als eine Lingua madre ansieht, weil die Deutschen, die nie-
mals von fremden Eroberern beherrscht worden seien, den Charakter
ihrer Nation und ihrer Sprache von alters her rein bewahrt hätten. An
die Bildung der Interjektionen schließt sich ihm sodann die der Prono-
1 Wie sehr diese naive Auffassung des Sinnes und der Aufgabe der „Etymologie" noch
im 18. Jahrhundert in der Sprachwissenschaft selbst verbreitet war, zeigt z.B. die
Rekonstruktion der Ursprache, die in der berühmten holländischen Philologenschule,
bei Hemsterhuis und Ruhnken versucht wurde. Näheres hierüber bei Benfey,
Gesch. der Sprachwissenschaft, S. 255 ff .
2 Vgl. hrz. das charakteristische Beispiel in Vi cos Scienza nuova Lib. II: Deila Sapienza
poetica (edit. Napoli 1811, Vol. II, 7of.): „Seguitarono a formarsi le voci umane con
Vinter jezione, che sono voci articolate all empito di passoni violente, che 'n tutte le
lingue sono monosillabe. Onde non e fuori del verisimile, che da primi fulmini inco-
miniciata a destarsi negli uomini la maraviglia, nascesse la prima Inter jezione da quella
di Giove, formata con la voce pa, e che poi restö raddoppiata pape, Interjezione di
maraviglia; onde poi nacque a Giove il titolo di Padre degli uomini e degli Dei" etc.
91
mina und Partikeln an, die gleichfalls in ihrer Grundgestalt auf lauter
einsilbige Wurzeln zurückführen — dann hätten sich die Nomina und
erst aus diesen, als die letzte Schöpfung der Sprache, die Verba entwickelt,
wie sich denn noch heute in der Kindersprache und in Fällen pathologi-
scher Sprachstörungen der Vorrang der Nomina vor den Verba und die
Zugehörigkeit der ersteren zu einer früheren Sprachschicht deutlich er-
kennen lasse1.
So barock und seltsam diese Theorie erscheinen mag, wenn man sie
lediglich in ihren Einzelausführungen betrachtet, so enthielt sie doch für
die Gesamtauffassung der Sprache einen wichtigen und fruchtbaren Keim.
An die Stelle der gleichsam statischen Beziehung zwischen Laut und Be-
deutung war hier eine dynamische getreten: die Sprache wurde auf die
Dynamik des Sprechens, diese letztere selbst aber wieder auf die Dynamik
des Gefühls und des Affekts zurückgeführt. Je entschiedener das acht-
zehnte Jahrhundert die Sonderstellung des Gefühls betonte, je mehr es
darauf hindrängte, in ihm die eigentliche Gründlage und die schöpfe-
rische Urpotenz des Geistigen anzunehmen, um so mehr sah es sich daher,
in der Theorie des Sprachursprungs, auf Vicos Lehre zurückgewiesen.
Es ist daher kein Zufall, daß Rousseau es war, der diese Lehre zunächst
aufnahm und der sie im einzelnen auszubauen versuchte2. In einem an-
deren und tieferen Sinne aber wirkten die Anschauungen Vicos bei dem
Manne weiter, der von allen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts seiner
symbolischen Metaphysik und seiner symbolischen Geschichtsauffassung
am nächsten steht und der gleich ihm die Poesie als die Muttersprache
des menschlichen Geschlechts betrachtet. So sehr dieser Denker, so sehr
Joh. Georg Hamann für den Ausdruck seiner Grundanschauung jede
rationale Form der Begründung verschmäht und so sehr seine Lehre aller
verstandesmäßigen Systematik zu spotten scheint: so sehr formt sie sich
ihm andererseits, indem er alle ihre Teile immer wieder auf das eine
Grundproblem der Sprache bezieht, zu einem gleichsam ungewollten im-
manenten System. Hier findet Hamanns Denken, das beständig in Gefahr
steht, sich dem Zuge des unmittelbaren Gefühls und des augenblicklichen
Eindrucks zu überlassen und sich damit ins Partikulare, ins Zufällige und
Peripherische zu verlieren, von Anfang an einen bestimmten Mittelpunkt,
den es nicht sowohl fixiert, als beständig umkreist. „Bei mir", — so be-
tont er selbst — „ist weder von Physik, noch Theologie die Rede, sondern
1 a. a.O., Vol. II, S.73f.
2 S. Rousseaus Essai sur l'origine des langues (zuerst als posthume Schrift 1782
erschienen).
92
Sprache die Mutter der Vernunft und der Offenbarung, ihr A und Q."
„Wenn ich auch so beredt wäre, wie Demosthenes, so würde ich doch nicht
mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist
Sprache, Xoyog. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu
Tode darüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für
mich; ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem
Schlüssel für diesen Abgrund1." Hier erschließt sich für Hamann das
eigentliche Wesen der Vernunft in seiner Einheit und in seiner inneren
Gegensätzlichkeit. „Was Demosthenes actio, Engel Mimik, Batteux Nach-
ahmung der schönen Natur nennt, ist für mich Sprache, das Organon
und Griterion der Vernunft, wie Young sagt. Hier liegt reine Vernunft
und zugleich ihre Kritik2. ' ' Aber eben dieses Sein, an dem sich für uns der
göttliche Logos unmittelbar zu offenbaren scheint, verschließt sich an-
dererseits all dem, was wir in unserer Sphäre mit dem Namen der „Ver-
nunft" bezeichnen. Für die Sprache gilt, wie für die Geschichte, daß sie,
„gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Rätsel
ist, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem anderen Kalbe, als
unserer Vernunft, zu pflügen3." Denn die Sprache ist keine Sammlung
diskursiver konventioneller Zeichen für diskursive Begriffe, sondern sie
ist das Symbol und Widerspiel des gleichen göttlichen Lebens, das uns
überall sichtbar-unsichtbar, geheimnisvoll und offenbar umgibt. Wie
für Heraklit, so ist daher für Hamann in ihr alles zugleich Äußerung und
Entäußerung, Enthüllung und Verhüllung. Die gesamte Schöpfung, die
Natur wie die Geschichte, ist nichts anderes als eine Rede des Schöpfers
an die Kreatur durch die Kreatur. „Es gehört zur Einheit der göttlichen
Offenbarung, daß der Geist Gottes sich durch den Menschengriffel der
heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, eben so erniedrigt und
seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechts-
gestalt, und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demut ist.
Den allein weisen Gott in der Natur bloß bewundern, ist vielleicht eine
ähnliche Beleidigung mit dem Schimpf, den man einem vernünftigen
Mann erweist, dessen Wert nach seinem Rock der Pöbel schätzt." „Die
Meinungen der Weltweisen sind Lesarten der Natur und die Setzungen der
Gottesgelehrten Lesarten der Schrift. Der Autor ist der beste Ausleger
seiner Worte; er mag durch Geschöpfe — durch Begebenheiten — oder
1 Hamann an Jacobi, Briefwechsel mit Jacobi, hg. von Gildemeister, Gotha 1868,
S. 122; an Herder (6. August 1784), Schriften (Roth) VII, i5i f.
«An Scheffner, 1 1. Febr. i785, Schriften (Roth) VII, 216.
3 Sokrat. Denkwürdigkeiten, Schriften II, 19.
93
durch Blut und Feuer und Rauchdampf reden, worin die Sprache des
Heiligtums besteht . . . Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem
Dialekte seiner Werke; — in allen Ein Ton von unermeßlicher Höhe
und Tiefe1."
Aber in diese Tiefe, in der es für Hamann nach seinem eigenen Be-
kenntnis immer dunkel blieb, fällt nun für Herder ein neues Licht. Für
die allgemeine Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist Herders
Preisschrift über den Ursprung der Sprache vor allem auch dadurch ent-
scheidend geworden, weil hier die schärfsten Gegensätze, die sich bisher
in der Auffassung und Auslegung des geistigen Seins und Wirkens gegen-
überstanden, eine ganz neue methodische Vermittlung fanden. Wie
Herder auf Hamann fußt, so war er in der Epoche, die der Preisschrift
vorangeht, der Schüler Kants und durch diesen mittelbar der Schüler
von Leibniz geworden. Von der Abhandlung „vom Erkennen und Emp-
finden der menschlichen Seele", deren Konzeption und Ausarbeitung der
Preisschrift unmittelbar nahe liegt, sagt Haym, daß sie der Geist der
Leibnizischen Philosophie von einem Ende bis zum anderen durchwehe,
ja daß sie nichts als eine Summe dieser Philosophie im Widerschein des
Herderschen Geistes sei2. Wie aber waren in der Auffassung der Sprache
die beiden äußersten Gegenpole, wie waren Hamann und Leibniz mitein-
ander zu vereinen? Wie ließ sich die Anschauung, die in der Sprache die
höchste Leistung analytischer Denkkraft, das eigentliche Organ zur Bil-
dung „distinkter" Begriffe sah, mit jener anderen verknüpfen, nach der
ihr Ursprung aller Reflexion des Verstandes entrückt und in das Dunkel
des Gefühls und seiner unbewußten poetischen Schöpferkraft zurückver-
legt wurde? Hier setzt Herders Frage und mit ihr seine neue Lösung des
Sprachproblems ein. Wenn alle Sprache im Gefühl und in seinen un-
mittelbar-triebhaften Äußerungen wurzelt, wenn sie nicht vom Bedürfnis
der Mitteilung, sondern vom Geschrei, von Tönen, von wilden artikulier-
ten Lauten ihren Ausgang nimmt — so macht doch ein solcher Inbegriff
von Lauten niemals das Wesen, niemals die eigentliche geistige „Form"
der Sprache aus. Diese Form entsteht erst, indem eine neue „Grundkraft
der Seele", die den Menschen von Anfang an vom Tier scheidet, sich wirk-
sam erweist. In der Darstellung, die er von dieser spezifisch menschlichen
1 Kleeblatt hellenistischer Briefe, Schriften II, 207. Aesthetica in nuce (Sehr. II, 2r][[i.):
zur Sprachtheorie Hamanns und ihrer Stellung im Ganzen seiner symbolischen Welt-
ansicht"; vgl. bes. die ausgezeichnete Darstellung R. Ungers, Hamanns Sprachtheorie
im Zusammenhange seines Denkens, München igo5.
2 Haym, Herder, I, 665.
94
Grundkraft der „Besonnenheit" gibt, und in der Rolle, die er ihr zuweist,
knüpft Herder ersichtlich überall an jenen Grundbegriff an, der
Leibniz' Logik mit seiner Psychologie verbindet. Die Einheit des Be-
wußtseins ist nach Leibniz nur durch die des geistigen Tuns, nur
durch die Einheit der Verknüpfung möglich, in der der Geist sich
selbst als beharrliche und identische Monas erfaßt und in der er ferner
ein und denselben Inhalt, wenn er ihm zu verschiedenen Zeiten entgegen-
tritt, als ein und dasselbe Wesen wiedererkennt. Diese Form des „Wie-
dererkennens" ist es, die bei Leibniz als Apperzeption, bei Herder als
„Reflexion", bei Kant als „Synthesis der Rekognition" gefaßt wird.
„Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei
würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch
alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, abson-
dern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt
sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem
ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen,
sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig
verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale ab-
sondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset
also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar
erkennen, sondern Eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften
bei sich anerkennen kann: der erste Actus dieser Anerkenntnis gibt
deutlichen Begriff; es ist das Erste Urtheil der Seele — und wodurch
geschähe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte,
und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! lasset
uns ihm das evgrjxa zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war
Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden1!" In
diesem Sinne kann für Herder die Sprache ganz als ein Erzeugnis der un-
mittelbaren Empfindung und zugleich ganz als ein Werk der Reflexion,
der Besinnung gefaßt werden: weil eben diese letztere nichts äußeres ist,
was nachträglich zum Inhalte der Empfindung hinzutritt, sondern weil
sie in ihn als konstitutives Moment eingeht. Erst die „Besinnung" ist es,
die die flüchtige sinnliche Regung zu einem in sich Bestimmten und Un-
terschiedenen und damit erst zu einem eigentlich geistigen „Inhalt" macht.
Hier ist also nicht, wie bei Maupertuis und Gondillac, die Perzeption ein
in sich fertiges und in sich beschlossenes psychisches Sein, an das sich der
Ausdruck im Begriff und im Begriffswort nur anschließt, sondern hier ist
es ein und derselbe Akt, in dem die Bestimmung der bloßen Eindrücke zu
1 Über den Ursprung der Sprache (1772); (Suphan, V, 34f.).
95
„Vorstellungen" und deren Benennung sich vollzieht. Der Naturgegebenheit
derPerzeptionen steht nicht mehr ein künstliches System von Zeichen gegen-
über, sondern die Perzeption schließt selbst, kraft ihrer geistigen Eigen-
art, schon ein eigentümliches Formmoment in sich, das, vollständig ent-
wickelt, in der Form des Wortes und der Sprache sich darstellt. Daher
ist die Sprache — wenngleich Herder fortfährt, von ihrer „Erfindung"
zu sprechen — für ihn niemals ein bloß Gemachtes, sondern ein von
innen her und notwendig Gewordenes. Sie ist ein Faktor im synthe-
tischen Aufbau des Bewußtseins selbst, kraft dessen sich die Welt der
sinnlichen Empfindungen erst zu einer Welt der Anschauung gestaltet:
sie ist somit keine Sache, die hervorgebracht wird, sondern eine Art und
eine Bestimmtheit des geistigen Zeugens und Bildens.
Der allgemeine Formbegriff, unter den die Sprache gefaßt wird, hat
damit eine entscheidende Wandlung erfahren. Herders Preisschrift be-
zeichnet scharf und genau die Grenze, an der der ältere rationalistische
Begriff der „Reflexionsform", der die Philosophie der Aufklärung be-
herrscht, in den romantischen Begriff der „organischen Form" über-
geht. Durch Friedrich Schlegels Schrift „über die Sprache und Weis-
heit der Inder" wird dieser neue Begriff zum erstenmal in voller Be-
stimmtheit in die Sprachbetrachtung eingeführt. Man wird indes den
tieferen Motiven dieser Auffassung nicht gerecht, wenn man in der Be-
zeichnung der Sprache als Organismus nur ein Bild, nur eine poetische
Metapher sieht. So abgeblaßt und vag uns diese Bezeichnung heute er-
scheinen mag : so inhaltsvoll und konkret drückte sich in ihr für Friedrich
Schlegel und seine Epoche die neue Stellung aus, die jetzt der Sprache im
Ganzen des geistigen Seins zugewiesen wurde. Denn der Begriff des Or-
ganismus, wie ihn die Romantik nimmt, dient nicht der Bezeichnung eines
einzelnen Faktums der Natur, eines besonderen und abgegrenzten
Gebiets gegenständlicher Phänomene, mit denen die sprachlichen Phä-
nomene freilich immer nur sehr mittelbar und ungenau verglichen werden
könnten. Nicht als Ausdruck für eine besondere Klasse von Erschei-
nungen, sondern als Ausdruck eines allgemeinen spekulativen Prinzips
wird hier dieser Begriff genommen — eines Prinzips, das geradezu das
letzte Ziel und den systematischen Einheitspunkt der romantischen Spe-
kulation bezeichnet. Das Problem des Organismus bildete die geistige
Mitte, auf die sich die Romantik von den verschiedensten Problemgebieten
her immer wieder hingewiesen und zurückgeführt sah. Goethes Metamor-
phosenlehre, Kants kritische Philosophie und Sendlings erste Entwürfe
der Naturphilosophie und des „Systems des transzendentalen Idealismus"
96
schienen hier in einem Punkt zusammenzustreben. Schon in der „Kritik
der Urteilskraft" erschien dieses Problem als der eigentliche „medius
terminus", durch den sich der dualistische Gegensatz zwischen den bei-
den Gliedern des Kantischen Systems versöhnte. Natur und Freiheit, Sein
und Sollen, die zuvor nicht nur als getrennte, sondern als einander anti-
nomisch gegenüberstehende Welten erscheinen konnten, waren jetzt durch
dieses Mittelglied aufeinander bezogen — und in dieser Beziehung schloß
sich für beide ein neuer Gehalt auf. Wenn Kant diesen Gehalt vor allem
methodisch faßt, wenn er die beiden Extreme, im kritisch-transzenden-
talen Sinne, wesentlich als „Gesichtspunkte" für die Betrachtung und
Deutung des Ganzen der Erscheinungswelt bestimmt — so wird für
Sehe Hing der Grundbegriff des Organischen zum Vehikel einer allum-
fassenden spekulativen Welterklärung. Wie Natur und Freiheit, so wird
Natur und Kunst in der Idee des Organischen geeint. Hier schließt sich
die Kluft, die das unbewußte Werden der Natur vom bewußten Schaffen
des Geistes zu trennen scheint — hier zuerst überfällt daher den Menschen
eine Ahnung von der wahren Einheit seiner eigenen Natur, in welcher
Anschauung und Begriff, Form und Gegenstand, Ideales und Reales ur-
sprünglich ein und dasselbe ist. „Daher der eigentümliche Schein, der
um diese Probleme ist, — ein Schein, den die bloße Reflexionsphilo-
sophie, die nur auf Trennung ausgeht, nie zu entwickeln vermag, wäh-
rend die reine Anschauung oder vielmehr die schöpferische Einbildungs-
kraft längst die symbolische Sprache erfand, die man nur auslegen darf,
um zu finden, daß die Natur um so verständlicher zu uns spricht, je
weniger wir über sie bloß reflektierend denken V
Erst aus dieser systematischen Gesamtbedeutung, die die Idee des Or-
ganismus für die Philosophie der Romantik besaß, läßt sich ermessen,
in welchem Sinne sie sich für die Betrachtung der Sprache fruchtbar er-
weisen mußte. Abermals traten hier die großen Gegensätze, um die sich
diese Betrachtung bisher bewegt hatte, in aller Schärfe einander gegen-
über: aber zwischen ihnen, zwischen dem „Bewußten" und „Unbe-
wußten", zwischen „Subjektivität" und „Objektivität", zwischen „In-
dividualität" und „Allgemeinheit" schien nun eine neue Vermittlung auf-
gewiesen. Für die Erklärung des organischen Lebens war der Begriff der
„individuellen Form" schon von Leibniz geprägt worden — und durch
Herder war er sodann über die ganze Weite des geistigen Daseins aus-
gebreitet, war er von der Natur auf die Geschichte, von dieser auf die
Kunst und auf die konkrete Betrachtung der Kunstarten und Kunststile
1 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797); S.W.II, 47.
^ 97
übertragen worden. Überall wird hier ein „Allgemeines" gesucht: aber
dieses wird nicht als ein an sich Seiendes, als die abstrakte Einheit einer
Gattung gefaßt, die den Einzelfällen gegenübersteht, sondern als eine
Einheit, die sich nur in der Allheit der Besonderungen darstellt. Diese
Allheit und das Gesetz, der innere Zusammenhang, der sich in ihr
ausdrückt: das erscheint jetzt als das echte Allgemeine. Für die Sprach-
philosophie bedeutet dies, daß sie auf das Bestreben, hinter der
individuellen Mannigfaltigkeit und der historischen Zufälligkeit der
Einzelsprachen die allgemeine Struktur einer Grund- und Ursprache zu
entdecken, ein für allemal verzichten lernt, daß auch sie die wahre All-
gemeinheit des „Wesens" der Sprache nicht in der Abstraktion von den
Besonderungen, sondern in der Totalität dieser Besonderungen sucht.
In dieser Verbindung der Idee der organischen Form und der Idee der
Totalität ist der Weg bezeichnet, auf welchem Wilhelm von Humboldt
seine philosophische Weltansicht gewinnt, die zugleich eine neue Grund-
legung der Sprachphilosophie in sich schließt1.
V
Schon von früh an ist die Betrachtung und das Studium der Sprache
für Wilh. v. Humboldt zum Zentrum aller seiner geistigen Interessen und
Bestrebungen geworden. „Im Grunde" — so schrieb er schon im Jahre
i8o5 an Wolf — „ist alles, was ich treibe, Sprachstudium. Ich glaube
die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu gebrauchen,
um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt
zu durchfahren." In einer Fülle von Einzelabhandlungen zur Sprach-
wissenschaft und Sprachgeschichte hat Humboldt diese Kunst geübt, bis
er in der großen zusammenfassenden Einleitung zum Kawi-Werk von ihr
die letzte und glänzendste Probe abgelegt hat. Nicht in allen Teilen seines
sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Werkes entspricht
freilich bei Humboldt der genialen Ausübung dieser Kunst die Bewußt-
heit, in der sie sich ihm darstellt. Sein Werk geht als geistige Schöpfung
nicht selten über das hinaus, was er selbst in klaren und scharfen Begrif-
fen von ihm aussagt. Aber immer birgt auch die Dunkelheit mancher
Humboldt'scher Begriffe, über die man so oft geklagt hat, einen produk-
tiven Gehalt in sich — einen Gehalt, der sich freilich zumeist nicht in
eine einfache Formel, in eine abstrakte Definition einfangen läßt, son-
1 Die folgende Darstellung der Sprachphilosophie W. v. Humboldts stützt sich z. T. auf
eine frühere Abhandlung, die u. d. T. „Die Kantischen Elemente in Wilh. v. Humboldts
Sprachphilosophie" in der Festschrift zu Paul Hensels 60. Geburtstag erschienen ist.
98
dem der erst im ganzen der konkreten Sprachanschauung Humboldts
sich wirksam und fruchtbar erweist.
Für jede Darstellung der Humboldtschen Grundgedanken entspringt
hieraus das Recht und die Notwendigkeit, die Gesamtheit dieser Gedanken
um bestimmte systematische Mittelpunkte zu gruppieren — auch wo er
diese Zentren nicht selbst als solche bezeichnet und herausgehoben hat.
Humboldt ist zwar im Grunde ein durchaus systematischer Geist; aber
er ist jeder bloß äußeren Technik der Systematisierung feind. So
geschieht es, daß er im Bestreben, in jedem einzelnen Punkte seiner
Untersuchung immer zugleich das Ganze seiner Sprachansicht vor uns
hinzustellen, der scharfen und klaren Sonderun g dieses Ganzen wider-
strebt. Seine Begriffe sind niemals die losgelösten und reinen Produkte
der logischen Analyse, sondern es schwingt in ihnen stets ein ästhetischer
Gefühlston, eine künstlerische Stimmung mit, die die Darstellung belebt,
aber die zugleich die Artikulation und den Gliederbau der Gedanken ver-
hüllt. Sucht man diesen Gliederbau bloßzulegen, so sieht man sich vor
allem auf drei große prinzipielle Gegensätze zurückgeführt, die das Den-
ken Humboldts bestimmen, und für die er in der Betrachtung der Sprache
einen kritischen Ausgleich und eine spekulative Versöhnung zu finden hofft.
Vor allem ist es die Trennung des individuellen und des „objektiven"
Geistes und die Wiederaufhebung dieser Trennung, die sich für Humboldt
im Bilde der Sprache unmittelbar darstellt. Jedes Individuum spricht seine
eigene Sprache — und doch wird es sich gerade in der Freiheit, mit der
es sich ihrer bedient, einer inneren geistigen Bindung bewußt. So ist
die Sprache überall Vermittlerin, erst zwischen der unendlichen und end-
lichen Natur, dann zwischen einem und dem anderen Individuum — zu-
gleich und durch denselben Akt macht sie die Vereinigung möglich und
entsteht aus derselben. „Man muß sich nur durchaus von der Idee los-
machen, daß sie sich so von demjenigen, was sie bezeichnet, absondern
lasse, wie z. B. der Name eines Menschen von seiner Person, und daß sie,
gleich einer verabredeten Chiffre, ein Erzeugnis der Reflexion und der
Übereinkunft oder überhaupt das Werk des Menschen (wie man den Be-
griff in der Erfahrung nimmt) oder gar des Einzelnen sei. Als ein wahres,
unerklärliches Wunder bricht sie aus dem Munde einer Nation, und als
ein nicht minder staunenswertes, wenngleich täglich unter uns wieder-
holtes und mit Gleichmütigkeit übersehenes, aus dem Lallen jedes Kindes
hervor und ist die leuchtendste Spur und der sicherste Beweis, daß der
Mensch nicht eine an sich abgesonderte Individualität besitzt, daß Ich
und Du nicht bloß sich wechselseitig fordernde, sondern, wenn man bis
7*
99
zu dem Punkte der Trennung zurückgehen könnte, wahrhaft identische
Begriffe sind, und daß es in diesem Sinne Kreise der Individualität gibt,
von dem schwachen, hilfsbedürftigen und hinfälligen Einzelnen hin bis
zum uralten Stamme der Menschheit, weil sonst alles Verstehen bis in alle
Ewigkeit hin unmöglich sein würde." So ist auch eine Nation in diesem
Sinne eine durch eine bestimmte Sprache charakterisierte geistige Form
der Menschheit, in bezug auf idealische Totalität individualisiert. „Die
Individualität zerschlägt, aber auf eine so wunderbare Weise, daß sie ge-
rade durch die Trennung das Gefühl der Einheit weckt, ja als ein Mittel
erscheint, diese wenigstens in der Idee herzustellen . . . Denn tief inner-
lich nach jener Einheit und Allheit ringend, möchte der Mensch über die
trennenden Schranken seiner Individualität hinaus, muß aber gerade, da
er, gleich dem Riesen, der nur von der Berührung der mütterlichen Erde
seine Kraft empfängt, nur in ihr Stärke besitzt, seine Individualität in
diesem höheren Ringen erhöhen. Er macht also immer zunehmende Fort-
schritte in einem in sich unmöglichen Streben. Hier kommt ihm nun auf
eine wahrhaft wunderbare Weise die Sprache zu Hilfe, die auch verbindet,
indem sie vereinzelt, und in die Hülle des individuellsten Ausdrucks die Mög-
lichkeit allgemeinen Verständnisses einschließt. Der Einzelne, wo, wann
und wie er lebt, ist ein abgerissenes Bruchstück seines ganzen Geschlechts
und die Sprache beweist und unterhält diesen ewigen, die Schicksale des
Einzelnen und die Geschichte der Welt leitenden Zusammenhang1."
Kantische und Schellingsche Elemente durchdringen sich merk-
würdig in diesem ersten metaphysischen Ansatz von Humboldts Sprach-
philosophie. Auf dem Boden der kritischen Analyse der Erkenntnisver-
mögen stehend, sucht Humboldt zu dem Punkte vorzudringen, an dem
der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität, von Individualität und
Allgemeinheit zu reiner Indifferenz sich aufhebt. Aber der Weg, den er
in der Aufweisung dieser letzten Einheit nimmt, ist nicht der Weg der
intellektuellen Anschauung, die uns unmittelbar über alle Schranken des
„endlichen" analytisch-diskursiven Begriffs hinwegheben soll. Wie Kant
als Kritiker der Erkenntnis, so steht Humboldt als Kritiker der Sprache
in dem „furchtbaren Bathos der Erfahrung". Fort und fort betont er,
daß ihre Betrachtung, wenngleich sie in die letzten Tiefen der Menschheit
zu führen bestimmt sei, um nicht chimärisch zu werden, von der ganz
trockenen, sogar mechanischen Zergliederung des Körperlichen in ihr an-
fangen müsse. Denn jene ursprüngliche Übereinstimmung zwischen der
1 Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (Vorstudie zur Einleitung
zum Kawiwerk); Gesamm. Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VI, i, S. I25f.
IOO
Welt und dem Menschen, auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntnis
der Wahrheit beruht und die wir daher allerdings in aller Erforschung
besonderer Gegenstände als allgemeines Postulat voraussetzen müssen,
kann doch für uns nur auf dem Wege der Erscheinung stückweise und
fortschreitend wiedergewonnen werden. In diesem Sinne ist das Objektive
nicht das Gegebene, sondern es bleibt stets das eigentlich zu Erringende1.
Mit dieser Bestimmung zieht Humboldt die sprachphilosophische Konse-
quenz aus Kants kritischer Lehre. An die Stelle des metaphysischen Gegen-
satzes der Subjektivität und Objektivität tritt ihre reine transzendentale
Korrelation. Wie bei Kant der Gegenstand, als „Gegenstand in der Er-
scheinung", der Erkenntnis nicht als ein Äußeres und Jenseitiges gegen-
übersteht, sondern durch deren eigene Kategorien erst „ermöglicht",
erst bedingt und konstituiert wird — so erscheint jetzt auch die Subjek-
tivität der Sprache als keine bloße Schranke mehr, die uns von der Er-
fassung des gegenständlichen Seins trennt, sondern als ein Mittel der
Formung, der „Objektivierung" der sinnlichen Eindrücke. Die Sprache
kommt so wenig wie die Erkenntnis von dem Objekt als einem Gegebenen
her, um es lediglich in sich „abzudrücken", sondern sie birgt in sich
eine geistige Auffassungsweise, die als entscheidendes Moment in all un-
sere Vorstellung des Objektiven eingeht. Die naiv-realistische Anschau-
ung bringt freilich, da sie selbst beständig in Objekten lebt, webt und
handelt, diese Subjektivität zu wenig in Anschlag; sie gelangt nur schwer
zu dem Begriff einer Subjektivität, die das Objektive nicht zufällig, lau-
nisch oder willkürlich, sondern nach inneren Gesetzen so umgestaltet,
daß das scheinbare Objekt selbst nur zu subjektiver und doch mit vollem
Recht auf Allgemeingültigkeit Anspruch machender Auffassung wird.
Ihr ist daher die Verschiedenheit der Sprachen nur eine Verschiedenheit
von Schällen, die sie, immer auf Sachen gerichtet, bloß als Mittel an-
sieht, zu diesen zu gelangen. Aber eben diese dinglich-realistische An-
sicht ist es, die die Ausdehnung der Sprachkenntnis verhindert und die
wirklich vorhandene tot und unfruchtbar macht2. Die eigentliche Ide-
alität der Sprache ist in ihrer Subjektivität gegründet. Daher war es
ein vergeblicher Versuch und wird stets ein solcher bleiben, wenn man
die Wörter der verschiedenen Sprachen mit allgemein-gültigen Zeichen
vertauschen wollte, wie dieselben die Mathematik in den Linien, Zahlen
und in der Buchstabenrechnung besitzt. Denn hiermit läßt sich immer
1 Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen
der Sprachentwicklung (1820); Werke IV, 27 f.
2 Über die Versch. des menschl. Sprachbaues, W. VI, 1, 119.
IOI
nur ein kleiner Teil der Masse des Denkbaren erschöpfen, lassen sich nur
solche Begriffe bezeichnen, die durch rein rationale Konstruktion gebildet
werden können. Wo aber der Stoff innerer Wahrnehmung und Emp-
findung zu Begriffen gestempelt werden soll, da kommt es auf das
individuelle Vorstellungsvermögen des Menschen an, das von seiner
Sprache unzertrennlich ist. „Das Wort, welches den Begriff erst zu einem
Individuum der Gedankenwelt macht, fügt zu ihm bedeutend von dem
Seinigen hinzu, und indem die Idee durch dasselbe Bestimmtheit emp-
fängt, wird sie zugleich in gewissen Schranken gefangen gehalten . . .
Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens und des Wortes von-
einander leuchtet es klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel
sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die
vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von
Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten
selbst." Hierin ist der Gsund und der letzte Zweck aller Sprachunter-
suchung für Humboldt enthalten. Geschichtlich prägt sich darin ein
merkwürdiger Prozeß aus, der von neuem lehrt, wie die eigentlich frucht-
baren philosophischen Grundgedanken auch über die unmittelbare Fas-
sung hinaus, die sie durch ihre ersten Urheber erhalten, sich fortdauernd
wirksam erweisen. Denn hier ist Humboldt, durch Kants und Herders
Vermittlung, von Leibniz' eng-logischer Ansicht der Sprache zu der tie-
feren und umfassenderen, universell-idealistischen Auffassung zurück-
gedrungen, die in den allgemeinen Prinzipien der Leibniz'schen Lehre
gegründet ist. Wie für Leibniz das Universum nur in der Spiegelung
durch die Monaden gegeben ist, wie jede derselben die Gesamtheit der
Phänomene unter einem individuellen „Gesichtspunkt" darstellt — und
wie doch andererseits eben die Gesamtheit dieser perspektivischen An-
sichten und die Harmonie unter ihnen dasjenige ausmacht, was wir die
Objektivität der Erscheinungen, die Wirklichkeit der phänomenalen Welt
nennen : — so wird hier auch jede einzelne Sprache zu einer solchen in-
dividuellen Weltansicht, und erst die Totalität dieser Weltansichten macht
den für uns erreichbaren Begriff der Objektivität aus. So begreift es sich,
daß die Sprache, indem sie dem Erkennbaren als subjektiv entgegensteht,
auf der anderen Seite dem Menschen, als empirisch-psychologischen Sub-
jekt, als objektiv gegenübertritt. Denn jede ist ein Anklang der allge-
meinen Natur des Menschen: „die Subjektivität der ganzen Menschheit
wird aber wieder in sich zu etwas Objektivem1".
1 Über das vergleichende Sprachstudium, W. IV, 21 ff.; vgl. bes. Grundzüge des all-
gemeinen Sprachtypus, W. V, 386ff. und die Einleit. zum Kawiwerk W.VII, 1, S. 5g ff.
I02
Mit dieser Auffassung der Objektivität als etwas, das nicht einfach ge-
geben und abzuschildern, sondern durch einen Prozeß der geistigen For-
mung zu erringen ist, ist nun auch das zweite Grundmoment der Hum-
boldt'schen Sprachbetrachtung gefordert und gesetzt. Jede Betrachtung
der Sprache muß „genetisch" verfahren: nicht in dem Sinne, daß sie sie
in ihrer zeitlichen Entstehung verfolgt und daß sie ihr Werden aus be-
stimmten empirisch-psychologischen „Ursachen" zu erklären versucht,
sondern in dem Sinne, daß sie das fertige Gefüge der Sprachbildung als
ein Abgeleitetes und Vermitteltes erkennt, das erst verstanden wird, wenn
es uns gelingt, es aus seinen Faktoren aufzubauen und die Art und Rich-
tung dieser Faktoren zu bestimmen. Das Zerschlagen der Sprache in Wör-
ter und in Regeln bleibt immer nur ein totes Machwerk wissenschaftlicher
Zergliederung — denn das Wesen der Sprache beruht niemals auf diesen
Elementen, die die Abstraktion und Analyse an ihr herausstellen, sondern
ausschließlich auf der sich ewig wiederholenden Arbeit des Geistes, den
artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Diese
Arbeit setzt in jeder Einzelsprache je an besonderen Mittelpunkten an und
breitet sich, von ihnen fortschreitend, nach verschiedenen Richtungen aus
— und doch schließt sich zuletzt eben diese Mannigfaltigkeit der Erzeu-
gungen zwar nicht zur sachlichen Einheit eines Erzeugnisses, wohl aber
zur ideellen Einheit eines in sich gesetzlichen Tuns zusammen. Wie sich
das Dasein des Geistes überhaupt nur in Tätigkeit und als solche denken
läßt — so gilt dies auch von jedem besonderen Dasein, das nur durch
ihn faßbar und möglich ist. Was wir das Wesen und die Form einer
Sprache nennen, das ist daher nichts anderes, als das Beständige und
Gleichförmige, das wir, nicht in einem Dinge, wohl aber in der Arbeit des
Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, nach-
weisen können1. Selbst das, was an der Sprache als ihr eigentlich sub-
stantieller Bestand erscheinen könnte, selbst das einfache aus dem Satz-
zusammenhang gelöste Wort teilt daher nicht, wie eine Substanz, etwas
schon Hervorgebrachtes mit, enthält auch nicht einen schon geschlossenen
Begriff, sondern regt bloß an, diesen mit selbständiger Kraft und auf be-
stimmte Weise zu bilden. „Die Menschen verstehen einander nicht da-
durch, daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht
dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig den-
selben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig in-
einander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und
inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen In-
1 Einleitung zum Kawiwerk, W. VII, i, S. 46 f.
io3
struments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber
dieselben Begriffe hervorspringen . . . Wird . . auf diese Weise das Glied
der Kette, die Taste des Instrumentes berührt, so erzittert das Ganze, und
was als Begriff aus der Seele hervorspringt, steht im Einklang mit allem,
was das einzelne Glied bis auf die weiteste Entfernung umgibt1." Der
Einklang in der unendlich vielfältigen Erzeugung des Sprach- und Be-
griffswortes, nicht die Einfachheit eines in ihm abgebildeten Daseins gibt
also auch hier den festen Halt und die Bürgschaft der Objektivität. Da-
her ist im Grunde auch niemals das einzelne Wort, sondern erst der Satz
der wahrhafte Träger des sprachlichen Sinnes: denn in ihm erst enthüllt
sich die ursprüngliche Kraft der Synthesis, auf der alles Sprechen, wie
alles Verstehen zuletzt beruht. Ihren knappsten und schärfsten Ausdruck
erhält diese Gesamtansicht in der bekannten Humboldtschen Formulie-
rung, daß die Sprache kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Ener-
geia) sei und daß daher ihre wahre Definition immer nur eine genetische
sein könne. Unmittelbar und streng genommen ist dies freilich die De-
finition des jedesmaligen Sprechens: aber im wahren und wesentlichen
Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als
„die" Sprache, kann man nur die Funktion und deren allseitige, von be-
stimmten Gesetzen beherrschte Ausübung als dasjenige ansehen, was ihre
Substantialität, ihren ideellen Bestand ausmacht2.
Im Begriff der Synthesis ist zugleich das dritte der großen Gegen-
satzpaare erreicht, unter denen Humboldt die Sprache betrachtet. Auch
dieser Gegensatz, auch die Unterscheidung von Stoff und Form, die
Humboldts Gesamtansicht beherrscht, wurzelt im Kantischen Gedanken-
kreise. Für Kant ist die Form ein bloßer Verhältnisausdruck, aber sie
macht eben darum, da all unser Wissen von Erscheinungen sich zuletzt in
ein Wissen von zeitlich-räumlichen Verhältnissen auflöst, das eigentlich
objektivierende Prinzip der Erkenntnis aus. Die Einheit der Form be-
gründet als Einheit der Verknüpfung die Einheit des Gegenstandes. Die
Verbindung eines Mannigfaltigen kann niemals durch Sinne in uns
kommen, sondern sie ist jederzeit ein „Aktus der Spontaneität der Vor-
stellungskraft". So können wir uns nichts als im Objekt verbunden vor-
stellen, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vor-
stellungen ist sie, die Verbindung, die einzige, die nicht durch Objekte
gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann3. Um
i ibid. W. VII, i, 169 f. 2 ibid. W. VII, 1, 46.
3 Krit. d. rein. Vernunft; Transz. Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, S i5, 2. Aufl.
S. 129 ff.
104
diese im transzendentalen Subjekt und seiner Spontaneität gegründete und
doch streng „objektive", weil notwendige und allgemeingültige, Form der
Verbindung zu kennzeichnen, hatte sich Kant selbst auf die Einheit des Ur-
teils und damit mittelbar auf die Einheit des Satzes gestützt. Das Urteil
ist ihm nichts anderes, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven
Einheit der Apperzeption zu bringen; sprachlich aber drückt sich diese
Einheit in der Kopula des Urteils, in dem Verhältniswörtchen „ist" aus,
das Subjekt und Prädikat verbindet. Durch dieses „Ist" erst wird ein
fester und unauf heblicher Bestand des Urteils gesetzt, wird ausgedrückt,
daß es sich hier um ein Zusammengehören von Vorstellungen, nicht um
ihr bloßes Zusammensein nach zufälligen psychologischen Assoziationen
handelt1. Humboldts Formbegriff dehnt das, was hier für eine einzelne
sprachliche Bestimmung ausgesprochen war, über das Ganze der Sprache
aus. In jeder vollkommenen und durchgebildeten Sprache muß zu dem
Akte der Bezeichnung eines Begriffs durch bestimmte materiale Merkmale
noch eine eigene Arbeit und eine eigene formale Bestimmung hinzutreten,
durch die der Begriff in eine gewisse Kategorie des Denkens versetzt,
also z. B. als Substanz, als Eigenschaft oder Tätigkeit bezeichnet wird.
Diese Versetzung des Begriffs in eine bestimmte Kategorie des Denkens
ist „ein neuer Akt des sprachlichen Selbstbewußtseins, durch welchen der
einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesamtheit der möglichen
Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in mög-
lichster Reinheit und Tiefe vollendete und der Sprache selbst fest einver-
leibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmel-
zung und Unterordnung, ihre selbständige, aus dem Denken entspringende
und ihre mehr den äußeren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit fol-
gende Tätigkeit2". Auch hier sind indes Stoff und Form, Rezeptivität
und Spontaneität — wie zuvor die Gegensätze des „Individuellen" und
„Allgemeinen", des „Subjektiven" und „Objektiven" — nicht ausein-
anderfallende Stücke, aus denen sich der Prozeß der Sprache zusammen-
setzt, sondern notwendig zueinander gehörige Momente eben dieses gene-
tischen Prozesses selbst, die sich nur in unserer Analyse voneinander
scheiden lassen. Die Priorität der Form vor dem Stoff, die Humboldt
mit Kant behauptet und die er am reinsten und schärfsten in den flek-
tierenden Sprachen ausgedrückt findet, wird daher auch von ihm als ein
Prius der Geltung, nicht als ein solches des empirisch-zeitlichen Daseins
gefaßt, da im Dasein jeder Sprache, auch in den sogenannten „isolie-
1 a.a.O. S 19, S. i4if. ~ "
2 Vorw. zum Kawiwerk W. VII, 1, 109.
Iö5
renden" Sprachen, beide Bestimmungen, die formale wie die stoffliche,
notwendig miteinander, nicht die eine ohne die andere, oder die eine
vor der anderen, gesetzt sind1. Mit alledem ist freilich nur der äußere
Umriß der Humboldtschen Sprachansicht und gleichsam ihr intellektu-
eller Rahmen bezeichnet. Was aber dieser Ansicht erst ihr Gewicht und
ihre Fruchtbarkeit gab, war die Art, in der nun durch Humboldts sprach-
liche Forschungen dieser Rahmen ausgefüllt wurde, war die doppelte
Richtung, in welcher er beständig von der Erscheinung zur Idee, und von
dieser wieder zu jener überging. Der Grundgedanke der transzendentalen
Methode: die durchgängige Beziehung der Philosophie auf die Wissen-
schaft, die Kant im Hinblick auf die Mathematik und die mathematische
Physik durchgeführt hatte, erschien jetzt in einem ganz neuen Gebiet be-
währt. Die neue philosophische Grundauffassung der Sprache forderte
und ermöglichte eine neue Gestaltung der Sprachwissenschaft. Bopp
greift in seiner Gesamtansicht der Sprache überall auf Humboldt zurück
— schon die ersten Sätze seiner „Vergleichenden Grammatik" vom Jahre
i833 gehen von dem Humboldtschen Begriff des „Sprachorganismus"
aus, um durch ihn die Aufgabe der neuen Wissenschaft der Sprachver-
gleichung allgemein zu bestimmen2.
VI
Indem indes der Begriff des „Organismus" aus dem Gebiet der speku-
lativen Sprachbetrachtung in den Bereich der empirischen Forschung
rückt, wird damit von neuem fühlbar, daß ihm eben wegen seiner Weite
eine Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit anhaftet, die ihn für die Behand-
lung konkreter Einzelaufgaben unbrauchbar zu machen droht. Wenn die
philosophische Spekulation in diesem Begriff wesentlich eine Vermittlung
zwischen einander entgegenstehenden Extremen gesehen hatte, so schien
er doch eben damit an der Natur jedes dieser Extreme irgendwelchen
Anteil zu gewinnen. Kann aber ein solcher Begriff, der gleichsam in allen
Farben schillert, noch länger gebraucht werden, wenn es sich darum
1 Vgl. hrz. bes. Humboldts Bemerkungen über die chinesische Sprache: Lettre a
M. Abel Remusat sur la nature des formes grammaticales en general et sur le genie de la
langue Chinoise en particulier, W. V, 254 ff über den grammat. Bau der chines.
Sprache, W. V., 3oaff .
2 „Ich beabsichtige in diesem Buche eine vergleichende, alles Verwandte zusammen-
fassende Beschreibung des Organismus der auf dem Titel genannten Sprachen, eine
Erforschung ihrer physischen und mechanischen Gesetze und des Ursprungs der die
grammatischen Verhältnisse bezeichnenden Formen." Bopp, Vergl. Gramm, des Sans-
krit, Zend, Griechischen usw., Berlin i833, S. i.
106
handelt, statt einer allgemeinen Metaphysik der Sprache ihre spezielle
Methodik zu begründen? Wenn darüber entschieden werden soll, ob die
Gesetze der Sprache ihrem methodologischen Grundcharakter nach als
naturwissenschaftliche oder als historische Gesetze zu bezeichnen sind;
wenn der Anteil der physischen und der geistigen Faktoren an der Sprach-
bildung und deren gegenseitiges Verhältnis festgestellt werden, wenn
schließlich bestimmt werden soll, wie weit bewußte und bewußtlose Pro-
zesse in der Bildung der Sprache zusammenwirken, so scheint der bloße
Begriff des „Sprachorganismus" auf alle diese Fragen die Antwort schul-
dig bleiben zu müssen. Denn gerade die mittlere, sozusagen schwebende
Stellung, die er zwischen „Natur" und „Geist", zwischen dem bewußt-
losen Wirken und dem bewußten Schaffen einnimmt, scheint zu ge-
statten, ihn bald nach der einen, bald nach der andern Seite der Betrach-
tung hinüberzuziehen. Es bedarf nur einer leichten Verschiebung, um ihn
aus dem labilen Gleichgewicht, in dem er sich hält, zu entfernen und ihm
je nach der Richtung, in der diese Verschiebung erfolgt, einen veränderten
Gehalt und eine veränderte, ja entgegengesetzte methodische Bedeutung
zu geben.
Die Geschichte der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert stellt uns
in der Tat den Prozeß, den wir hier allgemein und schematisch anzu-
deuten versucht haben, in konkreter Bestimmtheit vor Augen. Die Sprach-
wissenschaft vollzieht hier denselben Übergang, der sich gleichzeitig in
der Geschichtswissenschaft und in der Systematik der Geisteswissenschaf-
ten überhaupt vollzieht. Der Begriff des „Organischen" behält seine zen-
trale Stellung; aber sein Sinn und seine Tendenz erfährt eine durch-
greifende Wandlung, seitdem dem Entwicklungsbegriff der romantischen
Philosophie der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Natur-
wissenschaft gegenübertritt. Indem in der Betrachtung der Lebensphäno-
mene selbst der spekulative Begriff der organischen Form mehr und
mehr durch ihren rein naturwissenschaftlichen Begriff zurückgedrängt
wird, wirkt dies unmittelbar auf die Betrachtung der sprachlichen Phä-
nomene zurück. Es ist insbesondere die wissenschaftliche Entwicklung
August Schleichers, in welcher dieser geistige Wandlungsprozeß sich
in typischer Deutlichkeit ausprägt. Denn Schleicher hat in seiner Auf-
fassung der Sprache und der Sprachgeschichte nicht nur überhaupt den
Schritt von Hegel zu Darwin vollzogen, sondern er hat auch all die
Mittelstufen, die zwischen den beiden Anschauungen stehen, durchlaufen.
In ihm können wir daher nicht nur Anfang und Ende, sondern auch die
einzelnen Phasen jener Bewegung übersehen, kraft deren die spekulative
107
Sprachbetrachtung in die rein empirische überging, und in der auch der
Begriff des Sprachgesetzes allmählich erst seinen ganz scharfen Inhalt
erhalten hat.
Schleicher geht in seinem ersten größeren Werk, den „Sprachver-
gleichenden Untersuchungen" (i848) davon aus, daß das eigentliche
Wesen der Sprache, als des lautlich-artikulierten Ausdrucks des geistigen
Lebens in dem Verhältnis zu suchen sei, in welchem der Ausdruck der
Bedeutung und der Beziehung zu einander stehen. Durch die Art und
Weise, wie jede Sprache Bedeutung und Beziehung ausdrücke, werde sie
charakterisiert: — außer diesen beiden Momenten lasse sich schlecht-
hin kein drittes, das Wesen der Sprache bildendes Element denken. Auf
Grund dieser Voraussetzung werden die Sprachen in die drei großen
Haupttypen der isolierenden (einsilbigen), der agglutinierenden und der
flektierenden Sprachen eingeordnet. Die Bedeutung ist das Materielle, die
Wurzel; die Beziehung das Formelle, die an der Wurzel vorgenommene
Veränderung. Beide Momente müssen als notwendige Konstituentien in
der Sprache enthalten sein; aber wenngleich keines von ihnen an sich
völlig fehlen kann, so kann doch das Verhältnis, das sie zu einander
eingehen, ein sehr verschiedenes, so kann es ein bloß implizites oder ein
mehr oder weniger explizites sein. Die isolierenden Sprachen drücken
lautlich bloß die Bedeutung aus, während der Ausdruck der Beziehung
der Stellung der Lautworte und dem Akzent überlassen bleibt : die agglu-
tinierenden Sprachen besitzen neben den Bedeutungslauten zwar eigene
Beziehungslaute, aber beide sind nur äußerlich mit einander verbunden,
indem die Bezeichnung der Beziehung der Wurzel, ohne daß diese eine
innere Veränderung erfährt, rein stofflich und sinnfällig angehängt wird.
In den Flexionssprachen erst erscheinen beide Grundelemente nicht nur
aneinandergereiht, sondern wahrhaft verknüpft und mit einander durch-
drungen. War das Erste die differenzlose Identität von Beziehung und
Bedeutung, das reine Ansich der Beziehung — das Zweite die Differen-
zierung in Beziehungs- und Bedeutungslaute, also das Heraustreten der
Beziehung in ein gesondertes lautliches Dasein für sich, so ist das Dritte
das Aufheben jener Differenz, das sich Zusammenschließen derselben:
die Rückkehr zur Einheit, aber zu einer unendlich höheren Einheit, weil
sie, aus der Differenz erwachsen, diese zu ihrer Voraussetzung hat und als
aufgehoben in sich befaßt. Wenn bis hierher die Betrachtung Schleichers
streng dem dialektischen Schema Hegels folgt, das ebensowohl die
Wesensbestimmung der Sprache als Ganzes, wie die Auffassung ihrer
inneren Gliederung beherrscht, so steht doch andererseits, schon in den
108
„Sprachvergleichenden Untersuchungen" selbst, diesem Versuch einer dia-
lektischen Klassifikation der Versuch einer naturwissenschaftlichen
Klassifikation unmittelbar zur Seite. Der systematische Teil der Sprach-
forschung — so wird ausdrücklich betont — hat eine unverkennbare
Ähnlichkeit mit den Naturwissenschaften. Der ganze Habitus einer Spra-
chenfamilie läßt sich unter gewisse Gesichtspunkte bringen, wie der einer
Pflanzen- oder Tierfamilie. „Wie in der Botanik gewisse Merkmale —
Keimblätter, Beschaffenheit der Blüte — vor andern sich als Einteilungs-
grund tauglich erweisen, eben weil diese Merkmale gewöhnlich mit
anderen coincidieren, so scheinen in der Einteilung der Sprachen inner-
halb eines Sprachstammes, wie z. B. des Semitischen, Indogermanischen,
die Lautgesetze diese Rolle zu übernehmen. "Aber auch hier schlägt frei-
lich die Betrachtung zunächst nicht diesen empirischen Weg, sondern eine
rein spekulative Richtung ein. Die monosyllabischen Sprachen gleichen, da
sie keinerlei Gliederung des Wortes kennen, dem einfachen Krystall, der
im Gegensatze zu den gegliederten höheren Organismen als strenge Ein-
heit erscheint; den agglutinierenden Sprachen, die die Gliederung in Teile
erreicht, diese Teile aber noch nicht zu einem wahrhaften Ganzen ver-
schmolzen haben, entspricht im organischen Reich die Pflanze, während
die flektierenden Sprachen, bei denen das Wort die Einheit in der Man-
nigfaltigkeit der Glieder ist, dem animalischen Organismus entsprechen1.
Und hier handelt es sich für Schleicher nicht um eine bloße Analogie,
sondern um eine höchst bedeutsame objektive Bestimmung, die, wie sie
aus dem Wesen der Sprache selbst quillt, so auch über die Methodik
der Sprachwissenschaft entscheidet. Sind die Sprachen Naturwesen, so
müssen auch die Gesetze, nach denen sie sich entwickeln, nicht geschicht-
liche, sondern naturwissenschaftliche Gesetze sein. In der Tat fallen der
geschichtliche und der sprachbildende Prozeß sowohl inhaltlich als zeit-
lich völlig auseinander. Geschichte und Sprachbildung sind nicht neben
einander hergehende, sondern sich ablösende Fähigkeiten des mensch-
lichen Geistes. Denn die Geschichte ist das Werk des selbstbewußten
Willens, die Sprache das Werk einer bewußtlosen Notwendigkeit. Wenn
in jener sich die Freiheit darstellt, die sich eigentliche Wirklichkeit gibt,
so gehört diese der unfreien, natürlichen Seite des Menschen an. „Aller-
dings zeigt auch die Sprache ein Werden , das im weiteren Sinne des
Wortes Geschichte genannt werden mag : ein sukzessives Hervortreten der
Momente, aber dieses Werden ist so wenig ein charakteristisches Merkmal
1 S. bes. Sprachvergleichende Untersuchungen I (Bonn i8l\S), S.^fi.; II (Bonn i85o),
S. 5 ff.
109
der freien geistigen Sphäre, daß es gerade in der Natur am ungetrübtesten
hervortritt." Sowie die Geschichte eintritt, der Geist den Laut nicht mehr
erzeugt, sondern ihm gegenüber tritt und sich seiner als Mittel be-
dient, kann sich die Sprache nicht weiter entwickeln, im Gegenteil
schleift sie sich jetzt mehr und mehr ab. Die Bildung der Sprachen fällt
also vor die Geschichte, der Verfall der Sprachen dagegen in die histo-
rische Zeit1.
Die Sprache ist daher das für den Menschengeist, was die Natur für
den Weltgeist ist: der Zustand seines Andersseins. „Ihre Übereinstimmung
mit der Geschichte beginnt mit ihrer Vergeistigung, von dem Zeitpunkte
an, seitdem sie ihr Körperliches, ihre Form mehr und mehr verliert. Der
naturwissenschaftliche Teil der Sprachenkunde ist daher, im Gegensatz
zum historischen, der systematische." Wenn der Philologe, der die
Sprache nur als ein Mittel braucht, um durch sie in das geistige Wesen
und Leben der Völker einzudringen, es mit der Geschichte zu tun hat,
so ist dagegen das Objekt der Linguistik die Sprache, deren Beschaffen-
heit ebensosehr außerhalb der Willensbestimmung des Einzelnen liegt, als
es z. B. der Nachtigall unmöglich ist, ihr Lied mit dem der Lerche zu
vertauschen. „Das aber woran der freie Wille des Menschen so wenig in
organischer Weise etwas zu ändern vermag, als an seiner leiblichen Be-
schaffenheit, gehört nicht in das Gebiet des freien Geistes, sondern in
jenes der Natur. Demzufolge ist auch die Methode der Linguistik von der
aller Geschichtswissenschaften total verschieden und schließt sich wesent-
lich der Methode der übrigen Naturwissenschaften an . . . Wie die Na-
turwissenschaften, so hat auch sie die Erforschung eines Gebietes zur
Aufgabe, in welchem das Walten unabänderlicher natürlicher Gesetze er-
kennbar ist, an denen der Wille und die Willkür des Menschen nichts zu
ändern vermögen2".
Man sieht: von hier aus bedurfte es nur noch eines Schrittes, um die
Sprachbetrachtung völlig in die Naturbetrachtung, um die Sprachgesetze
in reine Naturgesetze aufzulösen; — und diesen Schritt hat Schleicher,
2 5 Jahre später, in seiner Schrift „Die Darwinsche Theorie und die
Sprachwissenschaft" getan. In dieser Schrift, die die Form eines „offenen
Sendschreibens an Ernst Haeckel" hat, wird der Gegensatz von „Natur"
und „Geist", der bisher Schleichers Auffassung der Sprache und ihrer
Stellung im System der Wissenschaf ten beherrschte, als unzeitgemäß fallen
gelassen. Schleicher stellt fest, daß die Richtung des Denkens der Neu-
1 Sprachvergl. Untersuchungen II, io ff.; vgl. bes. I, 16 ff.
2 Sprachvergl. Untersuch. II, 2 f.; vgl. II, 2iff. und I, 24ff.
HO
zeit „unverkennbar auf Monismus hinauslaufe". Der Dualismus, fasse
man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen
und Erscheinung, sei für die naturwissenschaftliche Anschauung ein voll-
kommen überwundener Standpunkt. Für diese gebe es keine Materie
ohne Geist, aber ebensowenig einen Geist ohne Materie : oder vielmehr es
gebe weder Geist noch Materie in gewöhnlichem Sinne, sondern nur eines,
das beides zugleich ist. Die Sprachwissenschaft hat hieraus die einfache
Folgerung zu ziehen, daß auch sie auf jegliche Sonderstellung ihrer
Gesetze zu verzichten hat. Die Theorie der Evolution, die Darwin für die
Arten der Tiere und Pflanzen geltend gemacht hat, muß nicht minder für
die Organismen der Sprachen gelten. Den Arten einer Gattung entsprechen
die Sprachen eines Stammes, den Unterarten die Dialekte oder Mund-
arten einer Sprache, den Varietäten und Spielarten entsprechen die Un-
termundarten oder Neben mundarten und endlich den einzelnen Indi-
viduen die Sprechweise der einzelnen die Sprache redenden Menschen.
Und auch hier auf sprachlichem Gebiet gilt die Entstehung der Arten -
durch allmähliche Differenzierung und die Erhaltung der höher ent-
wickelten Organismen im Kampf ums Dasein, womit der Darwinsche
Gedanke weit über sein ursprüngliches Gebiet hinaus bewährt und als
einheitliche Grundlage der Natur- und Geisteswissenschaften erwiesen
scheint1.
Methodisch befinden wir uns damit an dem äußersten Gegenpol von
Schleichers ursprünglichem Ausgangspunkt. Alles a priori Konstruierte —
so wird nun ausdrücklich erklärt — ist im besten Falle ein geistreiches
Spiel, für die Wissenschaft aber wertloser Plunder. Ist einmal erkannt,
daß „die Beobachtung die Grundlage des heutigen Wissens" ist, ist die
Empirie unbeschränkt in ihre Rechte eingesetzt, so folgt daraus, wie die
Auflösung jeglicher dialektischen Naturphilosophie, so auch die Auf-
lösung der bisherigen Sprachphilosophie: sie gehört einer vergangenen
Phase des Denkens an, deren Lösungen nicht nur, sondern selbst deren
Fragestellung endgültig hinter uns liegt.
Schleicher selbst ist freilich, auch in seiner letzten Fassung des Sprach-
problems, der Forderung, die er hier aufstellt, nur zum kleinen Teil ge-
recht geworden : — es ist leicht zu sehen, daß er in seiner Wendung von
Hegel zu Haeckel nur eine Form der Metaphysik gegen eine andere ver-
tauscht hat. Das gelobte Land des Positivismus auch wirklich zu be-
treten, war erst einer neuen Generation von Forschern vorbehalten, die,
statt auf eine monistische oder evolutionistische Gesamterklärung des
1 S. Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar 1873.
III
Wirklichen auszugehen, die Methodenprobleme der Sprachwissenschaft in
ihrer Besonderheit, in ihrer scharfen und klaren Isolierung, zu erfassen
und sie in dieser Isolierung zu lösen versuchten.
VII
Eine solche Beschränkung war freilich nicht in dem Sinne möglich,
daß dadurch das Sprachproblem mit einem Schlage aus all den Ver-
flechtungen und Verwicklungen gelöst erschien, in denen es einerseits mit
den Methodenfragen der Geschichtswissenschaft, andererseits mit denen
der Naturwissenschaft steht. Denn auch der Positivismus, dem nunmehr
die Lösung dieses Problems ein für allemal anvertraut scheint, ist,
wenn er die Möglichkeit der Metaphysik verneint/ eben in dieser Vernei-
nung selbst noch Philosophie. Als solche aber kann er niemals bei einer
bloßen Mannigfaltigkeit besonderer Tatsachen oder besonderer Gesetze
für Tatsächliches stehen bleiben, sondern muß für diese Mannigfaltigkeit
eine Einheit suchen, die nirgend anders als im Begriff des Gesetzes selbst
gefunden werden kann. Daß diesem Begriff eine einheitliche, in den ver-
schiedenen Gebieten des Wissens sich gleichbleibende Bedeutung zu-
kommt, wird zunächst einfach vorausgesetzt: aber je weiter die metho-
dische Selbstbestimmung fortschreitet, um so mehr muß gerade diese
Voraussetzung zum Problem werden. Wir reden von sprachlichen, von
historischen und von naturwissenschaftlichen „Gesetzen", zwischen denen
allen also irgend eine logische Gemeinsamkeit der Struktur angenommen
wird — aber wichtiger als diese Gemeinsamkeit erscheint vom Stand-
punkt der Methodenlehre die spezifische Prägung und Nuancierung, die
der Gesetzesbegriff in jedem Einzelgebiet erfährt. Soll das Ganze der
Wissenschaften als wahrhaft systematisches Ganze erfaßt werden, so muß
auf der einen Seite in ihnen allen eine allgemeine Aufgabe der Erkenntnis
herausgehoben, auf der anderen Seite aber gezeigt werden, wie diese Auf-
gabe in jeder von ihnen unter bestimmten besonderen Bedingungen je
eine besondere Lösung erfährt. Durch beide Rücksichten wird die Ent-
wicklung des Gesetzesbegriffs in der modernen Sprachwissenschaft be-
stimmt. Wenn man vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschafts-
geschichte und der allgemeinen Erkenntniskritik die Wandlungen dieses
Begriffs verfolgt, so tritt hier in sehr merkwürdiger und charakte-
ristischer Weise hervor, wie die einzelnen Gebiete des Wissens auch dort,
wo von einem unmittelbaren Einfluß des einen auf das andere nicht ge-
sprochen werden kann, einander ideell bedingen. Den verschiedenen
Phasen, die der Begriff des Naturgesetzes durchläuft, entsprechen, mit
112
fast lückenloser Vollständigkeit, ebensoviel verschiedene Auffassungen
der sprachlichen Gesetze. Und hier handelt es sich nicht um eine äußer-
liche Übertragung, sondern um eine tiefere Gemeinsamkeit : um die Aus-
wirkung bestimmter intellektueller Grundtendenzen der Zeit in ganz ver-
schiedenen Problemkreisen.
Die Prinzipienlehre der exakten Naturwissenschaft, wie sie um die
Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, hat ihren prägnantesten Ausdruck
in jenen berühmten Sätzen erhalten, mit denen Helmholtz seine Schrift
„Über die Erhaltung der Kraft" einleitet. Indem Helmholtz als Aufgabe
dieser Schrift den Nachweis bezeichnet, daß alle Wirkungen in der Natur
auf anziehende und abstoßende Kräfte zurückzuführen seien, deren In-
tensität nur von der Entfernung der auf einander wirkenden Punkte ab-
hänge, will er diesen Satz nicht als ein bloßes Faktum aufstellen, son-
dern seine Geltung und Notwendigkeit aus der Form des Naturbegreifens
selbst herleiten. Der Grundsatz, daß jede Veränderung in der Natur eine
zureichende Ursache haben müsse, ist nach ihm nur dann wahrhaft er-
füllt, wenn es gelingt, alles Geschehen auf letzte Ursachen zurückzu-
führen, welche nach einem schlechthin unveränderlichen Gesetz wirken,
welche folglich zu jeder Zeit unter denselben äußeren Verhältnissen die-
selbe Wirkung hervorbringen. Die Aufdeckung dieser letzten unver-
änderlichen Ursachen sei in jedem Fall das eigentliche Ziel der theore-
tischen Naturwissenschaften. „Ob nun wirklich alle Vorgänge auf solche
zurückzuführen seien, ob also die Natur vollständig begreiflich sein
müsse, oder ob es Veränderungen in ihr gebe, die sich dem Gesetze einer;
notwendigen Kausalität entziehen, die also in das Gebiet einer Sponta-
neität, Freiheit, fallen, ist hier nicht der Ort zu entscheiden; jedenfalls
ist es klar, daß die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu be-
greifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse, und
dieser Voraussetzung gemäß schließen und untersuchen, bis sie vielleicht
durch unwiderlegliche Facta zur Anerkenntnis ihrer Schranken genötigt
sein sollte1." Wie diese Voraussetzung, daß die Begreiflichkeit der Natur
mit ihrer durchgängigen Erklärbarkeit nach mechanischen Prinzipien zu-
sammenfalle, vom Gebiet des „anorganischen" Seins in das des orga-
nischen Geschehens übergriff, wie auch die beschreibende Naturwissen-
schaft von ihr ergriffen und vollständig beherrscht wurde, ist bekannt.
Die „Grenzen des Naturerkennens" fielen jetzt mit den Grenzen des
mechanischen Weltbildes zusammen. Einen Vorgang der anorganischen
oder organischen Natur erkennen hieß nichts anderes, als ihn in Ele-
1 Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft (1847); S- 2f-
8 * n3
mentarvorgänge, und zuletzt in die Mechanik der Atome aufzulösen : was
sich dieser Auflösung nicht fügt, das scheint für den menschlichen Geist
und für alle menschliche Wissenschaft ein schlechthin transzendentes
Problem bleiben zu müssen.
Denkt man sich diese Grundanschauung, die innerhalb der Naturwis-
senschaft am schärfsten in du Bois-Reymonds bekannter Rede „Über
die Grenzen des Naturerkennens" (1872) vertreten wurde, auf die Be-
trachtung der Sprache angewandt — so wird auch von einem Begreifen
der Sprache nur dann die Rede sein können, wenn es gelingt, ihre kom-
plexen Erscheinungen auf einfache Veränderungen letzter Elemente zu
reduzieren und für diese Veränderungen allgemeingültige Regeln aufzu-
stellen. Der älteren spekulativen Fassung des Gedankens des Sprachorga-
nismus lag eine derartige Folgerung fern, denn gerade weil das orga-
nische Geschehen für sie zwischen Natur und Freiheit stand, schien es
keiner absoluten Notwendigkeit unterworfen werden zu können, schien
es zwischen verschiedenen Möglichkeiten stets einen gewissen Spielraum
offen zu lassen. Bopp hatte gelegentlich ausdrücklich betont, daß man
in der Sprache keine Gesetze suchen dürfe, die festeren Widerstand lei-
steten als die Ufer der Flüsse und Meere1. Hier herrscht der Goethesche
Begriff des Organismus: die Sprache wird einer Regel unterworfen, die,
nach dem Goetheschen Ausdruck, fest und ewig, aber zugleich lebendig
ist. Jetzt aber, nachdem in der Naturwissenschaft selbst die Idee des
Organismus völlig in den Begriff des Mechanismus aufgelöst schien, blieb
für eine derartige Auffassung kein Raum mehr. Die ausnahmslose Ge-
setzlichkeit, die alles Werden der Sprache beherrscht, mag in den kom-
plexen Erscheinungen noch so sehr verdunkelt erscheinen; aber in den
eigentlichen Elementarvorgängen der Sprache, in den Erscheinungen des
Lautwandels, muß sie unverhüllt hervortreten. „Läßt man beliebige zu-
fällige, untereinander in keinen Zusammenhang zu bringende Abwei-
chungen zu" — so wird jetzt betont — „so erklärt man im Grunde da-
mit, daß das Objekt der Untersuchung, die Sprache, der wissenschaft-
lichen Erkenntnis nicht zugänglich ist2". Wie man sieht, ist es auch hier
eine allgemeine Voraussetzung über das Begreifen und die Begreiflichkeit
überhaupt, ist es ein ganz bestimmtes Erkenntnisideal, von dem aus
eine bestimmte Fassung der sprachlichen Gesetze gefordert wird. Seine
schärfste Fassung hat dieses Postulat der Ausnahmslosigkeit der Elementar-
gesetze in Brugmanns und Osthof fs „Morphologischen Untersuch un-
1 Vgl. Delbrück, Einleit. in das Sprachstudium, S. 21.
2 Leskien, Die Deklination im Slawisch-Litauischen und Germanischen (1876).
u4
gen" erhalten. „Aller Lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht,
vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen, d. h. die Richtung der Laut-
bewegung ist bei allen Angehörigen einer Sprachgenossenschaft . . stets
dieselbe und alle Wörter, in denen der der Lautbewegung unterworfene
Laut unter gleichen Verhältnissen erscheint, werden ohne Ausnahme von
der Änderung ergriffen1."
Aber wenn diese Anschauung der „junggramatischen Richtung"
sich jetzt immer fester begründete und wenn sie der gesamten wis-
senschaftlichen Sprachbetrachtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ihr eigentliches Gepräge gab, so unterlag hierbei doch der
Begriff des Lautgesetzes allmählich denselben Wandlungen, wie sie
gleichzeitig in der Auffassung des allgemeinen Begriffs des Na-
turgesetzes zu erkennen sind. Die Forderung, das Naturgeschehen aus
den allgemeinen Gesetzen des Mechanismus zu erklären, wird, je stren-
gere Geltung das rein positivistische Ideal in der Wissenschaft erhält,
mehr und mehr zurückgedrängt: an ihre Stelle tritt die bescheidenere
Aufgabe, es in solchen Gesetzen zu beschreiben. Die Mechanik selbst
ist jetzt — nach der bekannten Kirchhof f sehen Definition — nichts an-
deres als die vollständige und eindeutige Beschreibung der in der Natur
vor sich gehenden Bewegungsvorgänge2. Was sie gibt, sind nicht die
letzten absoluten Gründe des Geschehens, sondern nur die Formen, in
denen dies Geschehen verläuft. Mehr als einen solchen zusammenfassenden
Ausdruck empirisch beobachteter Regelmäßigkeiten wird man demnach,
wenn die Analogie zwischen Sprachwissenschaft und Naturwissenschaft
sich behauptet, auch von den Gesetzen der Sprache nicht zu erwarten und
nicht zu fordern haben. Auch hier wird es sich, wenn wir streng innerhalb
des Kreises des tatsächlich Gegebenen stehen bleiben, nicht darum han-
deln können, die letzten Kräfte der Sprachbildung aufzuweisen, sondern
lediglich bestimmte Gleichförmigkeiten an ihr durch Beobachtung
und Vergleichung festzustellen. Damit aber gewinnt nun auch die angeb-
liche „Naturnotwendigkeit" der Lautgesetze einen anderen Charakter.
„Nach allem, was erst die methodisch strenger gewordene Forschung
unserer Tage ermittelt hat — so formuliert noch Osthoff im Jahre 1878
das Prinzip der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze — stellt sich das
immer deutlicher heraus, daß die Lautgesetze der Sprachen geradezu
blind, mit blinder Naturnotwendigkeit wirken, daß es Ausnahmen von
1 Osthoff und Brugmann, Morphologische Untersuchungen, I, Lpz. 1878, S. XIII;
Leskien, a.a.O., Lpz. 1876, S. XXVIII.
2 Kirchhoff, Vöries, über mathematische Physik; Bd. I, Mechanik, S. 1, Berlin 1876.
8* n5
ihnen oder Verschonungen durch dieselben schlechterdings nicht gibt1."
Wesentlich nüchterner und kritischer wird indes die Art der Geltung,
die den Lautgesetzen eignet, von einem Forscher, wie Hermann Paul
bestimmt. „Das Lautgesetz — so betont er ausdrücklich — sagt nicht
aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten
muß, sondern es konstatiert nur die Gleichmäßigkeit innerhalb einer
Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen2." Einer derartigen Auf-
fassung, die im Begriff des Gesetzes nur den Ausdruck bestimmter Fakta
der Sprachgeschichte, nicht den Ausdruck der letzten Faktoren aller
Sprachbildung sieht, steht es frei, die beobachteten Gleichförmigkeiten
auf ganz verschiedene Kräfte zu verteilen. Neben den physischen Elemen-
tarprozessen der Lauterzeugung müssen nun auch die komplexen psychi-
schen Bedingungen des Sprechens wieder bestimmter in ihre Rechte
treten. Auf jene werden jetzt im allgemeinen die konstanten Gleichför-
migkeiten des Lautwandels, auf diese wird die scheinbare Durchbrechung
dieser konstanten Regeln zurückgeführt. Der strengen und ausnahmslosen
Durchführung der physiologischen Gesetze, die den Lautwandel regeln,
steht der Trieb der sprachlichen Analogiebildung gegenüber, der dar-
auf gerichtet ist, die formal zusammengehörigen Worte der Sprache
auch lautlich zusammenzuhalten und sie einander anzugleichen. Indes
hält sich freilich auch diese Anerkennung der psychischen, der „geisti-
gen" Faktoren der Sprachbildung zunächst noch in relativ engen Grenzen.
Denn der Begriff des Geistes bedeutet hier nicht mehr dasselbe, was er
für Humboldt und für die idealistische Philosophie bedeutet hatte. Er
trägt selbst eine unverkennbar naturalistische Prägung: er ist durch den
Begriff des Mechanismus hindurchgegangen und durch ihn bestimmt.
Als Grundgesetze des Geistes erscheinen demnach jetzt die psychologi-
schen Gesetze, die den „Mechanismus der Vorstellungen" beherrschen.
Ob man hierbei diese Gesetze im Sinne der Wundtschen, oder wie II. Paul
es tut, im Sinne der Herbartschen Psychologie formuliert, gilt vom rein
prinzipiellen Standpunkt aus gleichviel. Immer ist es zuletzt der Typus
der „Assoziationsgesetze", auf den man die Sprachgesetze zurückzuführen
1 Osthoff, Das Verbum in der Nominalkomposition im Deutschen, Griechischen, Sla-
vischen und Romanischen, Jena 1878, S. 826.
2 H.Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (zuerst 1886); 3. Aufl., Halle 1898,8.61.
Bei B.Delbrück erhält der gleiche Gedanke gelegentlich die paradoxe Formulierung,
daß zwar die „Lautgesetze an sich", nicht aber die „empirischen Lautgesetze" ausnahms-
los seien. (Das Wesen der Lautgesetze in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie" I,
1902, S. 294.)
Il6
und von dem aus man sie zu begreifen sucht1. Damit aber stehen die
inhaltlich verschiedenen Faktoren der Sprachbildung doch methodisch
auf der gleichen Linie und gehören gleichsam derselben Dimension der
Betrachtung an. Durch das Ineinandergreifen der verschiedenen physio-
logischen Mechanismen der Lauterzeugung und des psychologischen
Mechanismus der Assoziationen baut sich in der Seele des Individuums
die Sprache auf; — wird sie zu einem Ganzen, das doch für uns nicht
anders zu verstehen ist, als dadurch, daß wir es fortschreitend in phy-
sische und psychische Elementarprozesse zerlegen2.
Somit bleibt die Sprache hier dem Kreise des Naturgeschehens ein-
geordnet: aber an die Stelle des Naturbegriffs der Mechanik ist ein
weiterer Begriff, ist die „psycho-physische" Natur des Menschen getreten.
In der umfassendsten und konsequentesten Darstellung, die die Sprach-
erscheinungen vom Standpunkt der modernen Psychologie gefunden
haben, wird diese Wendung ausdrücklich hervorgehoben. Die Art, wie
Lautgesetze und Analogiebildungen fortwährend ineinandergreifen — so
betont Wundt — , wird offenbar viel verständlicher, wenn man sie nicht
als disparate, einander entgegenwirkende Kräfte, sondern als Bedingun-
gen auffaßt, die schließlich beide irgendwie in der einheitlichen psy-
chisch-physischen Organisation des Menschen begründet sind. ,, Damit
stimmt überein, daß wir einerseits wegen der gedächtnismäßigen Repro-
duktion lautgesetzlicher Formen notwendig bei diesen eine Mitwirkung
der nämlichen Assoziationen voraussetzen müssen, die man zur Erklä-
rung der Analogiebildungen heranzieht, und daß andererseits die Asso-
ziationen, wie alle psychischen Vorgänge, durch Einübung in automatische
Verbindungen übergehen, so daß diejenigen Erscheinungen, die von vorn-
herein auf die Seite der psychischen Momente verlegt werden, mit der
Zeit auf die der physischen zu stehen kommen. Nicht bloß sukzessiv wandelt
sich aber auf solche Weise das, was wir auf Grund gewisser in die Augen
fallender Merkmale ein Physisches nennen, in ein Psychisches, und um-
gekehrt dieses in jenes um, sondern vielfach durchkreuzen sich beide von
Anfang an so innig, daß sie gar nicht voneinander gesondert werden
können, weil mit jedem Moment der einen Art auch eines der anderen
hinwegfallen müßte3." Hier scheint die idealistische Forderung der „To-
1 Zu dieser beherrschenden Stellung des Assoziationsbegriffs und der Assoziationsgeselze
vgl. neben dem Werk Wundts z. B. H. Paul, a. a. O., S. 23 f.; 96 ff. u. ö.
2 Vgl. z. ß. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen
Formenbildung, Berlin 1879.
3 Wundt, Völkerpsychologie 2 I, 369.
"7
talität" — die Forderung, die Sprache nicht aus disparaten Elementen
zusammenzusetzen, sondern in ihr stets den Ausdruck des „ganzen" Men-
schen und seines geistig-natürlichen Seins zu sehen — in einer neuen
Form wiederzukehren : aber es zeigt sich freilich zugleich, daß diese For-
derung in dem, was hier die Einheit der „psychophysischen Natur" des
Menschen genannt wird, einstweilen nur eine vage Bezeichnung und eine
unzureichende Erfüllung gefunden hat. Blickt man jetzt auf das Ganze
der Entwicklung zurück, die die Sprachphilosophie von Humboldt bis zu
den „Junggrammatikern", von Schleicher bis Wundt durchlaufen hat,
so sieht man, daß sie sich, bei aller Ausdehnung der besonderen Kennt-
nisse und Erkenntnisse, rein methodisch betrachtet, im Kreise bewegt
hat. Die Sprachwissenschaft sollte auf die Naturwissenschaft bezogen,
sollte an ihrem Aufbau orientiert werden, um in sich die gleiche Sicher-
heit wie diese zu finden, um den gleichen Gehalt exakter, unverbrüchlicher
Gesetze zu erwerben. Aber der Begriff der Natur, auf den man sie zu
stützen versuchte, erwies sich mehr und mehr als eine bloß scheinbare
Einheit. Je schärfer er analysiert wurde, um so deutlicher wurde es, daß
er selbst noch Momente von ganz verschiedener Bedeutung und Herkunft
in sich barg. Solange das Verhältnis dieser Momente nicht durchschaut
und nicht eindeutig bestimmt ist, solange sind die verschiedenen natura-
listisch gefärbten Sprachbegriffe beständig in Gefahr, dialektisch in ihr
Gegenteil umzuschlagen. Am Begriff des Lautgesetzes läßt sich diese
Wandlung verfolgen: — denn wenn er anfangs dazu bestimmt war, die
strenge und ausnahmslose Notwendigkeit zu bezeichnen, die in allen
sprachlichen Veränderungen waltet, so wird er zuletzt dieser Bestimmung
mehr und mehr entfremdet. Der Lautwechsel und Lautwandel erscheint so
wenig als Ausdruck einer „blinden" Notwendigkeit, daß er vielmehr auf
bloß „statistische Zufallsregeln" zurückgedeutet wird. Die angeblichen
Gesetze der Natur werden in dieser Auffassung zu bloßen Gesetzen der
Mode, die durch irgendeinen individuellen Willkürakt erschaffen, sich
durch Gewohnheit festsetzen und durch Nachahmung weiter ausbreiten1.
So birgt gerade jener Begriff, der der Sprachwissenschaft die feste und
einheitliche Grundlage schaffen sollte, noch überall unvermittelte Gegen-
sätze in sich, durch die die philosophische Betrachtung der Sprache vor
neue Aufgaben gestellt wird.
1 Dies ist im wesentlichen die Auffassung der Lautgesetze, die B.Delbrück a.a.O.
vertritt, s. Annalen der Naturphilosophie I, 277 ff.; bes. S. 297 ff. Zur Fassung der
Lautgeselze als „Gesetze der Mode" s. auch Fr. Müller: Sind die Lautgesetze Natur-
geselze? in Techmers Zeitschrift I (i884), S. 211 ff.
Il8
Wie hierdurch das positivistische Schema der Betrachtung nicht nur
allmählich gelockert, sondern schließlich völlig gesprengt wird: das tritt
besonders deutlich in den Schriften Karl Vosslers zu Tage. Vossler
knüpft in seinen beiden Schriften „Positivismus und Idealismus in der
Sprachwissenschaft" (190/i) und „Sprache als Schöpfung und Entwick-
lung" (1905) an Hegel an; aber nicht minder deutlich als dieser Zusam-
menhang ist die Linie, die ihn mitWilh. v. Humboldt verbindet. Humboldts
Gedanke, daß die Sprache niemals als bloßes Werk (Ergon), sondern als
Tätigkeit (Energeia) zu begreifen ist, daß alles, was an ihr „Tatsache" ist,
erst völlig verständlich wird, wenn man es bis zu den geistigen „Tathand-
lungen" zurückverfolgt, aus denen es entspringt, erfährt hier unter verän-
derten geschichtlichen Bedingungen seine Erneuerung. Schon bei Humboldt
soll durch dieses Prinzip nicht sowohl der psychologische „Ursprung" der
Sprache, als vielmehr ihre bleibende, durch alle Phasen ihres geistigen
Aufbaus hindurchwirkende Form bezeichnet werden. Dieser Aufbau
gleicht nicht der bloßen Entfaltung eines gegebenen natürlichen Keimes,
sondern er trägt den durchgängigen Charakter geistiger Spontaneität,
die sich auf jeder neuen Stufe in neuer Weise äußert. In gleichem Sinne
wird auch von Vossler dem an sich vieldeutigen Begriff der „Entwick-
lung" der Sprache der Begriff der Sprache als Schöpfung gegenüber-
und entgegengestellt. Was sich an ihr, als gegebene Gesetzlichkeit eines
bestimmten Zustandes, in der Form von Begeln festhalten läßt, ist ein
bloßes Petrefakt; aber hinter diesem bloß Gewordenen stehen nun erst
die eigentlichen konstitutiven Akte des Werdens, die ständig sich er-
neuernden geistigen Zeugungsakte. Und in ihnen, auf denen das Ganze
der Sprache wesentlich beruht, soll nun auch die wahrhafte Erklärung des
Einzelnen der Spracherscheinungen gefunden werden. Die positivistische
Richtung der Betrachtung, die von den Elementen zum Ganzen, von den
Lauten zu den Worten und Sätzen und von hier zu dem eigentümlichen
„Sinn" der Sprache fortzuschreiten sucht, verkehrt sich daher jetzt in ihr
Gegenteil. Vom Primat des „Sinnes" und von der Allgemeinheit der
Sinnfügung aus gilt es, die Einzelphänomene der Sprachentwicklung und
der Sprachgeschichte zu begreifen. Der Geist, der in der menschlichen
Rede lebt, konstituiert den Satz, das Satzglied, das Wort und den Laut.
Wird mit diesem „idealistischen Kausalitätsprinzip" voller Ernst gemacht,
so müssen sämtliche Erscheinungen, die von den unteren Disziplinen, wie
Lautlehre, Flexionslehre, Wortbildung und Syntax, beschrieben werden,
ihre letzte und wahrhafte Erklärung in der obersten Disziplin, d. h. in der
Stilistik finden. Aus dem „Stil", der im Aufbau jeder Sprache waltet,
"9
sind ihre grammatischen Regeln, sind die „Gesetze", wie die „Aus-
nahmen" in der Formenbildung und in der Syntax zu erklären. Den
Sprachgebrauch, insofern er Konvention, d. h. schon erstarrte Regel ist,
stellt die Syntax dar, den Sprachgebrauch, sofern er lebendige Schöp-
fung und Rildung ist, betrachtet die Stilistik; der Weg muß also von
dieser zu jener, nicht von jener zu dieser gehen, so wahr in allem Gei-
stigen die Form des Werdens es ist, die uns das Verständnis der Form
des Gewordenen erst erschließt1.
Soweit es sich um die bloße Ermittlung der Tatsachen der Sprach-
geschichte, um die Kenntnis des Gegebenen handelt, kann freilich der
Positivismus als Forschungsprinzip, als „methodologischer Positivismus"
durchaus anerkannt bleiben. Was abgewehrt wird, ist nur jene positivi-
stische Metaphysik, die mit der Ermittlung der Tatsachen auch die Auf-
gabe ihrer geistigen Deutung erfüllt zu haben glaubt. An ihre Stelle tritt
eine Metaphysik des Idealismus, in der als zentrales Glied die Ästhetik
erscheint. „Ist die idealistische Definition : Sprache = geistiger Ausdruck
zu Recht bestehend" — so schließt Vossler — „so kann die Geschichte
der sprachlichen Entwicklung nichts anderes sein, als die Geschichte der
geistigen Ausdrucksformen, also Kunstgeschichte im weitesten Ver-
stand des Wortes2." Aber in dieser Folgerung, in der sich Vossler an
Renedetlo Groce anschließt, liegt freilich für die Sprachbetrachtung ein
neues Problem und eine neue Gefahr. Wieder ist sie jetzt in das Ganze
eines philosophischen Systems aufgenommen — aber diese Aufnahme
scheint zugleich die Redingung in sich zu schließen, daß die Sprache sich
mit einem der Glieder dieses Systems identifiziert. Wie im Gedanken der
allgemeinen, der rationalen Grammatik die Eigenart der Sprache zuletzt
in der universellen Logik aufging, so droht sie jetzt in der Ästhetik, als
allgemeine Wissenschaft des Ausdrucks, aufzugehen. Aber ist wirklich
die Ästhetik, wie Vossler mit Croce annimmt, die Wissenschaft des Aus-
drucks schlechthin, oder bedeutet sie nur eine Wissenschaft des Aus-
drucks — eine „symbolische Form", die andere gleichberechtigt neben sich
hat? Restehen nicht analoge Rezieh ungen, wie zwischen der Sprachform
und Kunstform, auch zwischen ihr und jenen anderen Formen, die,
wie der Mythos, durch das Medium einer eigenen Rildwelt, eine eigene
geistige Redeutungswelt aufbauen? Mit dieser Frage stehen wir wieder vor
dem systematischen Grundproblem, von dem wir ausgegangen waren. Die
1 Vgl. bes. Voss ler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft, Heidelberg
1904, S.8ff.
2 A. a. O. S. iof.; vgl. bes. S. 24ff. u. ö.
I20
Sprache steht in einem Brennpunkt des geistigen Seins, in dem sich
Strahlen ganz verschiedenartiger Herkunft vereinen und von dem Richt-
linien nach allen Gebieten des Geistes ausgehen. Daraus aber ergibt sich,
daß die Sprachphilosophie nur dann als ein Sonderfall der Ästhetik be-
zeichnet werden kann, wenn man diese letztere zuvor aus allen spezi-
fischen Beziehungen zum künstlerischen Ausdruck gelöst hat, — wenn
man, mit anderen Worten, die Aufgabe der Ästhetik derart allgemein
faßt, daß sie sich zu dem erweitert, was wir hier als die Aufgabe einer
universellen „Philosophie der symbolischen Formen" zu bestimmen ver-
sucht haben. Soll die Sprache als eine wahrhaft selbständige und ur-
sprüngliche Energie des Geistes erwiesen werden, so muß sie in das Ganze
dieser Formen eingehen, ohne mit irgend einem anderen schon bestehenden
Einzelglied desselben zusammenzufallen — so muß ihr bei aller systema-
tischen Verknüpfung, die sie mit der Logik und Ästhetik eingeht, eine
ihr eigentümliche Stelle in diesem Ganzen zugewiesen und damit ihre
„Autonomie" gesichert werden.
121
KAPITEL II
DIE SPRACHE INDER PHASE DES SINNLICHEN
AUSDRUCKS
I
Um die Eigentümlichkeit irgendeiner geistigen Form sicher zu be-
stimmen, ist es vor allem notwendig, daß man sie mit ihren eigenen
Maßen mißt. Die Gesichtspunkte, nach denen sie beurteilt und nach wel-
chen ihre Leistung abgeschätzt wird, dürfen nicht von außen an sie heran-
gebracht, sondern sie müssen der eigenen Grundgesetzlichkeit der Formung
selbst entnommen werden. Keine feststehende „metaphysische" Kate-
gorie, keine von andersher gegebene Bestimmung und Einteilung des Seins,
so sicher und festgegründet sie immer erscheinen mag, kann uns der Not-
wendigkeit eines solchen rein immanenten Anfangs überheben. Das Recht,
diese Kategorie anzuwenden, ist immer erst dann gesichert, wenn wir sie
nicht als ein festes Datum dem charakteristischen Formprinzip voran-
stellen, sondern wenn wir sie aus diesem Prinzip selbst abzuleiten und
zu verstehen vermögen. Jede neue Form stellt in diesem Sinne einen neuen
„Aufbau" der Welt dar, der sich nach spezifischen, nur für sie gültigen
Richtmaßen vollzieht. Die dogmatische Betrachtung, die vom Sein der
Welt als einem gegebenen und festen Einheitspunkt ausgeht, ist freilich
geneigt, alle diese inneren Unterschiede der geistigen Spontaneität in
irgendeinen Allgemeinbegriff vom „Wesen" der Welt aufgehen zu las-
sen und sie dadurch zum Verschwinden zu bringen. Sie schafft feste Zer-
legungen des Seins: sie teilt es etwa in eine „innere" und eine „äußere",
in eine „psychische" und eine „physische" Wirklichkeit, in eine Welt
der „Dinge" und der „Vorstellungen" — und auch innerhalb der ein-
zelnen, auf diese Weise gegeneinander abgegrenzten Bezirke wiederholen
sich ihr die gleichen Scheidungen. Auch das Bewußtsein, auch das Sein
der „Seele" zerfällt wieder in eine Reihe abgesonderter, gegeneinander
selbständiger „Vermögen". Erst die fortschreitende Kritik der Erkenntnis
122
lehrt uns diese Teilungen und Trennungen nicht als ein für allemal in
den Dingen selbst liegende, als absolute Bestimmungen zu nehmen, son-
dern sie als durch die Erkenntnis selbst vermittelte zu verstehen. Sie
zeigt, daß insbesondere der Gegensatz von „Subjekt" und „Objekt", von
„Ich" und „Welt" für die Erkenntnis nicht einfach hinzunehmen, son-
dern aus ihren Voraussetzungen zu begründen und in seiner Bedeutung
erst zu bestimmen ist. Und wie im Aufbau der Welt des Wissens, so gilt
das gleiche in irgendeinem Sinne für alle wahrhaft selbständigen geisti-
gen Grundfunktionen. Auch die Betrachtung des künstlerischen wie die
des mythischen oder sprachlichen Ausdrucks ist in Gefahr, ihr Ziel zu
verfehlen, wenn sie, statt sich unbefangen in die einzelnen Ausdrucks-
formen und Ausdrucksgesetze selbst zu vertiefen, von vornherein von
dogmatischen Annahmen über das Verhältnis zwischen „Urbild" und
„Abbild", zwischen „Wirklichkeit" und „Schein", zwischen „innerer" und
„äußerer" Welt ihren Ausgang nimmt. Die Frage muß vielmehr lauten,
ob nicht eben durch die Kunst, durch die Sprache und durch den
Mythos all diese Scheidungen mitbedingt sind und ob nicht jede dieser
Formen in der Setzung der Unterschiede nach verschiedenen Gesichts-
punkten verfahren und demgemäß die Grenzlinien verschieden ziehen
muß. Die Vorstellung einer starren substantiellen Abscheidung, eines
schroffen Dualismus zwischen der „inneren" und der „äußeren" Welt,
wird auf diese Weise mehr und mehr zurückgedrängt. Der Geist erfaßt
sich selbst und seinen Gegensatz zur „objektiven" Welt nur dadurch, daß
er bestimmte, in ihm selbst gelegene Unterschiede als Unterschiede der
Betrachtung an die Phänomene heranbringt und sie in diese letzteren
gleichsam hineinlegt.
So verharrt auch die Sprache zunächst gegenüber der Trennung der
Welt in zwei deutlich geschiedene Sphären, in ein „äußeres" und ein
„inneres" Sein nicht nur überhaupt in einer merkwürdigen Indifferenz —
sondern es scheint geradezu, als ob diese Indifferenz zu ihrem Wesen not-
wendig gehöre. Der seelische Inhalt und sein sinnlicher Ausdruck er-
scheinen hier derart in eins gesetzt, daß jener nicht schlechthin vor dem
anderen als ein Selbständiges und Selbstgenügsames besteht, sondern daß
er sich vielmehr erst in ihm und mit ihm vollendet. Beide, der Inhalt wie
der Ausdruck, werden erst in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu
dem, was sie sind : die Bedeutung, die sie in ihrer Beziehung aufeinander
empfangen, tritt zu ihrem Sein nicht bloß äußerlich hinzu, sondern sie
ist es, die dies Sein erst konstituiert. Hier liegt kein vermitteltes Er-
gebnis vor; sondern es besteht hierin eben jene grundlegende Synthese,
123
aus der die Sprache als Ganzes entspringt und durch die alle ihre Teile,
vom elementarsten sinnlichen bis zum höchsten geistigen Ausdruck, mit-
einander zusammengehalten werden. Und nicht nur die geformte und
artikulierte Lautsprache, sondern schon der einfachste mimische Aus-
druck eines inneren Geschehens zeigt diese unlösliche Verflechtung —
zeigt, daß dieses Geschehen keine in sich fertige und abgeschlossene
Sphäre bildet, aus der das Bewußtsein nur gleichsam zufällig, zum Zweck
der konventionellen Mitteilung an andere, heraustritt, sondern daß eben
diese seine scheinbare Entäußerung einen wesentlichen Faktor seiner
eigenen Bildung und Gestaltung ausmacht. Insofern hat die moderne
Sprachpsychologie das Problem der Sprache mit Recht dem Problem
einer allgemeinen Psychologie der Ausdrucksbewegungen einge-
ordnet1. Darin liegt, rein methodisch betrachtet, der wichtige Ansatz,
daß mit diesem Ausgang von der Bewegung und vom Bewegungsgefühl
der Kreis der Begriffsmittel, über die die traditionelle sensual istische
Psychologie verfügt, im Grunde bereits überschritten ist. Vom Standpunkt
der sensualistischen Ansicht ist der fixe und starre Zustand des Bewußt-
seins das Erstgegebene, ja im gewissen Sinne das Alleingegebene: die
Prozesse des Bewußtseins werden, sofern sie überhaupt in ihrer Eigen-
art anerkannt und gewürdigt werden, auf eine bloße Summe, auf eine
„Verbindung* ' von Zuständen zurückgeführt. Wird dagegen die Bewe-
gung und das Bewegungsgefühl als ein Element und als ein grundlegender
Faktor im Aufbau des Bewußtseins selbst betrachtet2, so liegt darin die
Anerkennung, daß auch hier die Dynamik nicht auf die Statik, sondern
diese auf jene zu gründen ist — daß alle „Wirklichkeit" des Psychischen
in Prozessen und Veränderungen besteht, die Fixierung zu Zuständen aber
erst ein nachträgli hes Werk der Abstraktion und Analyse darstellt. So
ist auch die mimische Bewegung eine unmittelbare Einheit des „Inneren"
und des „Äußeren", des „Geistigen" und „Leiblichen", sofern sie gerade
in dem, was sie direkt und sinnlich ist, ein anderes, aber in ihr selbst
Gegenwärtiges, bedeutet und „besagt". Hier findet kein bloßer „Über-
gang", keine willkürliche Hinzufügung des mimischen Zeichens zu dem
1 Ein vollständiges Sys'em der Ausdrucksbewegungen hat auf Grund der psychologischen
und ästhetischen Untersuchungen des 1 8. Jahrhunderts schon J.J.Engel in seinen
„Ideen zur Mimik" (Schriften, Berlin 1801, T. 7 und 8) aufzustellen versucht; zur
Fa sung der Sprache als Ausdrucksbewegung s. im übr. bes. Wundt, Die Sprache2, I,
37 ff.
2 Die-er Gedanke vom „Primat der Bewegung" ist mit besonderer Schärfe und Energie
in der Psychologie Hermann Cohens vertreten worden; vgl. bes. Cohens Ästhetik
des reinen Gefühls, Bd. I, S. 1 43 ff.
12/4
durch dasselbe bezeichneten Affekt statt, sondern beides, der Affekt und
seine Äußerung, die innere Spannung und ihre Entladung sind in ein und
demselben zeitlich-untrennbaren Akt gegeben. Jede Erregung des Inneren
drückt sich, kraft eines Zusammenhangs, der sich rein physiologisch
beschreiben und deuten läßt, ursprünglich in einer leiblichen Bewegung
aus — und der weitere Fortgang der Entwicklung besteht nur darin, daß
eine immer schärfere Differenzierung dieses Verhältnisses eintritt, in-
dem sich mit bestimmten Erregungen bestimmte Bewegungen in
immer genauerer Zuordnung verknüpfen. Freilich scheint diese Form
des Ausdrucks über den bloßen „Abdruck" des Inneren im Äußeren zu-
nächst nicht hinauszugehen. Ein äußerer Reiz greift vom Sensiblen ins
Motorische über, aber dies letztere bleibt dabei, wie es scheint, ganz inner-
halb des Gebiets der bloßen mechanischen Reflexe, ohne daß sich in ihm
vorerst eine höhere geistige „Spontaneität" ankündigte. Und doch ist schon
dieser Reflex das erste Anzeichen einer Aktivität, in der eine neue Form
des konkreten Ichbewußtseins und des konkreten Gegenstandsbewußtseins
sich aufzubauen beginnt. Darwin hat in seinem Werk über den „Ausdruck
der Gemütsbewegungen" eine biologische Theorie der Ausdrucksbewe-
gungen zu schaffen gesucht, indem er sie als Residuum ursprünglicher
Zweckhandlungen deutet. Der Ausdruck eines bestimmten Affekts wäre
demnach nichts als die Abschwächung einer früheren konkreten Zweck-
handlung; der Ausdruck des Zorns z. B. das abgeschwächte und verblaßte
Bild einer einstmaligen Angriffsbewegung, der des Schreckens das Bild
einer Abwehrbewegung u. s. f. Diese Auffassung ist einer Auslegung
fähig, die über den engeren Kreis von Darwins biologischer Problem-
stellung hinausführt und die Frage in einen allgemeineren Zusammen-
hang rückt. Jede elementare Ausdrucksbewegung bildet in der Tat inso-
fern eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch völlig
in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits
über diese bereits hinausgeht. Sie schließt in sich, daß der sinnliche Trieb,
statt direkt gegen sein Objekt vorzudringen und sich in ihm zu befrie-
digen und zu verlieren, eine Art Hemmung und Rückwendung erfährt, in
der nun eine neue Bewußtheit eben dieses Triebes erwacht. In diesem
Sinne bereitet gerade die Reaktion, die in der Ausdrucksbewegung ent-
halten ist, eine höhere geistige Stufe der Aktion vor. Indem die Aktion sich
gleichsam aus der unmittelbaren Form des Wirkens zurückzieht, gewinnt
sie damit für sich selbst einen neuen Spielraum und eine neue Freiheit;
steht sie damit bereits an dem Übergang vom bloß „Pragmatischen" zum
„Theoretischen", von dem physischen zum ideellen Tun. —
125
In der psychologischen Theorie der Gebärdensprache pflegt man
zwei Hauptformen von Gebärden zu unterscheiden. Auf der einen Seite
stehen die hinweisenden, auf der anderen die nachahmenden Ge-
bärden als Klassen, die sich inhaltlich und ihrer psychologischen Genese
nach deutlich gegeneinander abgrenzen lassen. Hierbei wird die hinwei-
sende Gebärde biologisch und entwicklungsgeschichtlich aus der Greif-
bewegung abgeleitet. „Die Arme und Hände" — so führt Wundt aus —
„sind von der frühesten Entwicklung des Menschen an als die Organe tätig,
mit deneU er die Gegenstände ergreift und bewältigt. Aus dieser offen-
bar ursprünglichen Verwendung der Greiforgane, in welcher der Mensch
den analogen Tätigkeiten der ihm nahestehenden Tiere nur dem Grade,
nicht dem Wesen nach überlegen ist, führt aber eine jener stufenweisen
Veränderungen, die zunächst eigentlich regressiver Art sind, in ihren Wir-
kungen jedoch wichtige Bestandteile einer fortschreitenden Entwicklung
bilden, zur ersten primitivsten Form pantomimischer Bewegungen. Sie
ist genetisch betrachtet nichts anderes als die bis zur Andeutung abge-
schwächte Greifbewegung. In allen möglichen Übergängen von der ur-
sprünglichen bis zur späteren Form begegnet sie uns noch fortwährend
beim Kinde. Dieses greift auch nach solchen Gegenständen, die es, weil
sie ihm zu fern sind, nicht erreichen kann. Damit geht aber die Greif-
bewegung unmittelbar in die Deutebewegung über. Nach oft wiederholten
Versuchen, die Gegenstände zu ergreifen, verselbständigt sich dann erst
die Deutebewegung als solche1." Und dieser scheinbar so einfache Schritt
zur Verselbständigung bildet nun eine der wichtigsten Etappen auf dem
Wege von der tierischen zur spezifisch-menschlichen Entwicklung. Denn
kein Tier schreitet zu der charakteristischen Umbildung der Greifbewe-
gung in die hinweisende Gebärde fort. Das „Greifen in die Ferne", wie
man das Deuten mit der Hand genannt hat, ist auch bei den höchstent-
wickelten Tieren über erste und unvollkommene Ansätze nicht hinaus-
gelangt. Schon diese entwicklungsgeschichtliche Tatsache weist darauf
hin, daß in diesem „Greifen in die Ferne" ein Zug von typischer, all-
gemein-geistiger Bedeutung verborgen liegt. Es ist einer der ersten Schritte,
durch den das empfindende und begehrende Ich den vorgestellten und be-
gehrten Inhalt von sich selbst entfernt und ihn sich damit erst zum
„Gegenstand", zum „objektiven" Inhalt gestaltet. Auf der primitiven
Stufe des Affekts und des Triebes ist alles „Erfassen" des Gegenstandes
nur sein unmittelbares sinnliches Ergreifen und In-Besitz-Nehmen. Das
fremde Sein soll in die Gewalt des eigenen gebracht, — soll rein materiell
1 Wundt, Völkerpsychologie 2 I, I20,f.
I2Ö
und seiner Stofflichkeit nach in den Kreis des Ich hineingezogen werden.
Selbst die ersten Anfänge der sinnlichen Erkenntnis stehen noch ganz
in diesem Zeichen: sie glauben nach dem prägnanten und charakteri-
stischen Platonischen Wort den Gegenstand geradezu mit Händen (anglt;
xaiv xeQ°*v) greifen zu können1. Aller Fortschritt des Begriffs und der
reinen „Theorie" aber besteht eben darin, diese erste sinnliche Unmittel-
barkeit fortschreitend zu überwinden. Das Objekt, der Gegenstand der
Erkenntnis, rückt mehr und mehr in die Ferne, so daß es für die kritische
Besinnung des Wissens auf sich selbst zuletzt geradezu als der „unend-
lich-ferne Punkt", als unendliche Aufgabe des Wissens erscheinen kann;
aber zugleich nimmt es in dieser scheinbaren Entfernung erst seine wahr-
hafte ideale Bestimmtheit an. Im logischen Begriff, im Urteil und Schluß
entwickelt sich jenes mittelbare Erfassen, das den eigentlichen Charakter
der „Vernunft" ausmacht. So scheint genetisch und sachlich in der Tat
ein stetiger Übergang vom „Greifen" zum „Begreifen" zu führen. Das
sinnlich-physische Greifen wird zum sinnlichen Deuten — aber in die-
sem letzteren liegt bereits der erste Ansatz zu den höheren Bedeu-
tungsfunktionen, wie sie in der Sprache und im Denken hervortreten. Um
die äußerste Spannweite dieses Gegensatzes auszumessen, könnte man
sagen, daß dem sinnlichen Extrem des bloßen „Weisens" das logische des
„Beweisens" gegenübersteht. Vom einfachen Aufweisen, durch welches
ein schlechthin Einzelnes (ein rode n im Aristotelischen Sinne) bezeich-
net wird, führt der Weg zu immer weitergehender allgemeiner Bestim-
mung: die anfänglich bloß deiktische Funktion wird zur Funktion der
„Apodeixis". Die Sprache selbst scheint diesen Zusammenhang noch darin
zu bewahren, daß sie die Ausdrücke für das Sprechen und Sagen mit denen
für das Zeigen und Weisen verknüpft. In den indogermanischen Sprachen
gehen die Verba des „Sagens" in dieser Weise großenteils auf die des
Zeigens zurück: „Dicere" stammt von derselben Wurzel, die im griech.
deixvvfu (got. *teihan, ga-teihan, ahd. zeigön) enthalten ist, wie griech.
<prjfu ydoxw auf eine Wurzel <pa (Sanskr. bha) zurückgeht, die ursprüng-
lich das Leuchten und Scheinen, wie das Erscheinen-Machen bezeichnet.
(Vgl. cpaed'co^w^cpalvco lat. fari, fateri u. s. f.)2.
Anders freilich scheint die Beurteilung der Gebärdensprache sich ge-
stalten zu müssen, wenn man statt von der Betrachtung der hinweisenden
1 Cf. Pia ton, Theatet, i55 E.
2 S. hierüber Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 5, Straßb.
1894. S. (s. v. zeigen); Curtius, Grundzüge der griech. Etymologie 5, Lpz. 1878,
S. u5, i34, 296.
Gebärden von der zweiten Grund- und Hauptklasse, von der Klasse der
nachahmenden Gebärden ausgeht. Denn die Nachahmung bildet als
solche bereits das Widerspiel zu jeglicher freien Form der geistigen
Tätigkeit. In ihr bleibt das Ich im äußeren Eindruck und seiner Beschaf-
fenheit befangen; je genauer es ihn, unter Ausschaltung aller eigener
Spontaneität, wiederholt, um so vollkommener hat die Nachahmung ihren
Zweck erreicht. Gerade die inhaltlich reichsten und differenziertesten
Gebärdensprachen, die Gebärdensprachen der Naturvölker, zeigen diese
Bindung am stärksten. Die Gebärdensprachen der Kulturvölker pflegen
neben den unmittelbar-sinnlichen, nachahmenden Zeichen noch eine Fülle
sogen, „symbolischer Gebärden" zu enthalten, die den Gegenstand oder
die Tätigkeit, die ausgedrückt werden soll, nicht direkt abbilden, son-
dern ihn nur mittelbar bezeichnen. Aber in ihnen — wie z. B. in der
Sprache der Zisterziensermönche und in der von Jorio eingehend darge-
stellten neapolitanischen Gebärdensprache1 — handelt es sich offenbar
nicht um primitive Formen, sondern um sehr komplexe Gebilde, auf die
die Form der Lautsprache bereits nachhaltig und bestimmend eingewirkt
hat. Je weiter man dagegen auf den eigentlichen und selbständigen Ge-
halt der Gebärdensprache zurückgeht, um so mehr scheinen alle bloßen
„Begriffszeichen" zu schwinden und durch einfache „Dingzeichen" er-
setzt zu sein. Das Ideal einer rein „natürlichen" Sprache, in der alle kon-
ventionelle Willkür ausgeschaltet ist, scheint daher hier erreicht. So wird
z. B. von der Gebärdensprache der Indianer Nordamerikas berichtet, daß
nur wenige Gesten ihrem Ursprung nach „konventionell" seien; die weit-
aus meisten dagegen in der einfachen Wiedergabe offenkundiger natür-
licher Phänomene bestünden2. Hebt man nur diesen Zug der pantomi-
mischen Nachbildung gegebener sinnlich-wahrnehmbarer Objekte heraus,
so scheint ein derartiges Verfahren noch gar nicht auf dem Wege
zur Sprache, als einer freien und originalen Betätigung des Geistes
zu sein. Hier muß indeß beachtet werden, daß ebensowohl die „Nach-
ahmung", wie die „Hinweisung" — ebensowohl die „mimische", wie
die „deiktische" Funktion — keine schlechthin einfache und überall
gleichförmige Leistung des Bewußtseins darstellt, sondern daß sich, in
der einen wie in der anderen, Elemente von verschiedener geistiger Her-
kunft und Bedeutung miteinander durchdringen. Auch bei Aristoteles
1 Andrea de Jorio, La Mimica degli antichi investigata nel Gestire Napolitano, Na-
poli i832; zur Sprache der Zisterziensermönche s. Wundt, a.a.O., I, i5iff.
2 Vgl. Mall er y, Sign languages among North American Indians, Reports of the Bureau
of Ethnology in Washington, I, 334-
128
werden die Worte der Sprache als „Nachahmungen" bezeichnet, und von
der menschlichen Stimme wird gesagt, daß sie das am meisten zur Nach-
ahmung geeignete und gebildete Organ sei1. Aber dieser mimische Cha-
rakter des Wortes steht für ihn mit seinem reinen Symbolcharakter nicht
im Gegensatz ; vielmehr wird der letztere nicht minder energisch betont,
indem hervorgehoben wird, daß der unartikulierte Empfindungslaut, wie
er sich schon in der Tierwelt finde, nur dadurch zum Sprachlaut werde,
daß er als Symbol verwendet wird2. Beide Bestimmungen vereinen sich
miteinander dadurch, daß die „Nachahmung" hier in jenem weiteren
Sinne und in der tieferen Bedeutung gebraucht wird, nach der sie für
Aristoteles nicht nur als Ursprung der Sprache, sondern auch als Ur-
sprung der künstlerischen Tätigkeit erscheint. Die jutjurjotg gehört, in die-
ser Art verstanden, selbst bereits dem Gebiet der noirjoig, der schaffenden
und gestaltenden Tätigkeit, an. Es handelt sich in ihr nicht mehr um die
bloße Wiederholung eines äußerlich Gegebenen, sondern um einen freien
geistigen Entwurf: das scheinbare „Nachbilden" hat in Wahrheit ein in-
neres „Vorbilden" zur Voraussetzung. Und in der Tat zeigt sich bei schär-
ferer Betrachtung, daß dieses Moment, das in der Form der künstle-
rischen Gestaltung rein und selbständig hervortritt, bis in die elementaren
Anfänge jeder scheinbar rein passiven Nachbildung herabreicht. Denn
auch diese besteht ja niemals darin, einen bestimmten Wirklichkeitsinhalt
Zug für Zug bloß nachzuzeichnen, sondern an ihm ein prägnantes Mo-
ment herauszuheben und damit einen charakteristischen „Umriß" seiner
Gestalt zu gewinnen. Damit aber befindet sich die Nachahmung selbst
bereits auf dem Wege zur Darstellung, in welcher die Objekte nicht
mehr einfach in ihrer fertigen Bildung hingenommen, sondern in der sie
vom Bewußtsein nach ihren konstitutiven Grundzügen aufgebaut werden.
Einen Gegenstand in diesem Sinne nachbilden heißt, ihn nicht bloß aus
seinen einzelnen sinnlichen Merkmalen zusammensetzen, sondern ihn nach
seinen Strukturverhältnissen erfassen, die sich nur dadurch wahrhaft ver-
stehen lassen, daß das Bewußtsein sie konstruktiv erzeugt. Ansätze zu
einer solchen höheren Form der Nachbildung bietet bereits die Gebärden-
sprache dar, sofern sie, in ihren entwickelten Bildungen, überall den
1 Cf. Aristoteles, Rhetor III, i, a 20: xd ydg dvöftaxa [u/urj/naxd soxiv, vjifjg^e de xal
f) (pcuvrj ndvxcov fitfirjxtxcbxaxov xcbv [xoqlcov fjfuv.
2 Vgl. jisqi sQjuqvetag cap. 2, 16 a 27: (pvosi xcöv ovofxdxcov ovöiv ioxiv dXX' oxav yevr^xai
ovfxßoXov sjieI örjXovot ys xi xal 01 dygd/njuaxot ipocpoi, oiov &r}Qicov, wv ovdsv soxtv
ovofia. Die bestimmte Unterscheidung zwischen ,, Nachahmung" und „Symbol" (d/uoioo/na
und ovfißoXov) findet sich z. B. auch bei Ammonius im Gommentar zu Aristotel. De
interpretat f. i5b (Scholia in Aristot. ed. Ac. reg. Boruss. p. 100).
9
129
Übergang von der bloß nachahmenden zur darstellenden Gebärde zeigt,
die nach Wundt dadurch charakterisiert ist, daß sich in ihr „das Bild
eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier gestaltet, wie es die
bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut1".
Aber in einer ganz neuen Freiheit und Tiefe, in einer neuen geistigen
Aktualität tritt nun diese Funktion der Darstellung heraus, indem sie statt
der Gebärde den Laut als Mittel und als sinnliches Substrat benutzt. In
der geschichtlichen Entwicklung der Sprache vollzieht sich dieser Prozeß
der Ablösung nicht unvermittelt. In den Sprachen der Naturvölker läßt
sich noch heute deutlich erkennen, wie in ihnen die Gebärdensprache
nicht nur neben der Lautsprache stehen bleibt, sondern wie sie diese
selbst, ihrer Formung nach, noch entscheidend bestimmt. Überall findet
sich hier jene charakteristische Durchdringung, dergemäß die „Wort-
begriffe'4 dieser Sprachen nur dann ganz erfaßt und verstanden werden
können, wenn man sie zugleich als mimische und als „Handbegriffe"
(manual concepts) versteht. Die Gebärde ist mit dem Wort, die Hände
sind mit dem Intellekt derart verknüpft, daß sie wahrhaft einen Teil von
ihm zu bilden scheinen2. Auch in der Entwicklung der Kindersprache
trennt sich der Laut nur ganz allmählich von der Gesamtheit der mimi-
schen Bewegungen ab: selbst relativ hohe Stufen derselben zeigen ihn die-
sem mimischen Ganzen noch völlig eingebettet3. Aber sobald nun die
Trennung vollzogen ist, hat die Sprache mit dem neuen Element, in dem
sie sich nunmehr bewegt, auch ein neues Grundprinzip ihres Aufbaues ge-
wonnen. In dem physischen Medium des Lautes erst entwickelt sich ihre
eigentliche geistige Spontaneität. Beides bedingt sich jetzt wechselweise:
die Gliederung der Laute wird zum Mittel für die Gliederung des Ge-
dankens, wie diese letztere sich in der Ausbildung und Formung der Laute
ein immer differenzierteres und empfindlicheres Organ erschafft. Allen
sonstigen mimischen Ausdrucksmitteln gegenüber besitzt der Laut den
Vorzug, daß er in weit höherem Maße als sie der „Artikulation" fähig
ist. Gerade seine Flüchtigkeit, die von der sinnlich-anschaulichen Be-
stimmtheit der Gebärde absticht, gibt ihm eine ganz neue Gestaltungs-
fähigkeit; macht ihn nicht nur dazu fähig, starre Bestimmtheiten der
1 Wundt, a.a .0., I, i56.
2 Über die „manual concepts" der Zuni-Indianer s. Cushing, Manual concepts (The
American Anthopologist V, 291 f.) zum Zusammenhang von Gebärden- und Wort-
sprache bei den Naturvölkern s. bes. das reichhaltige Material bei Levy-Bruhl, Les
fonctions mentales dans les societes inferieures, Paris 19 10 (deutsche Ausg., Wien 192 1,
S. i33ff.).
3 Vgl. Clara und William Stern, Die Kindersprache 2, Lpz. 1920, S. 1 44ff •
i3o
Vorstellungsinhalle, sondern die feinsten Schwebungen und Schwan-
kungen des Vorstellungsprozesses auszudrücken. Wenn die Gebärde in
ihrer plastisch-nachbildenden Art sich dem Charakter der „Dinge" besser
als das gleichsam körperlose Element des Lautes anzupassen scheint, so
gewinnt der Laut gerade dadurch, daß in ihm diese Beziehung abge-
brochen ist, daß er als ein bloßes Werden das Sein der Objekte nicht
mehr unmittelbar wiederzugeben vermag, seine innere Freiheit. Nach der
objektiven SeLe hin wird er jetzt fähig, nicht nur als Ausdruck inhalt-
licher Qualitäten, sondern vor allem als Ausdruck von Beziehungen und
formalen Verhäitnisbestimmungen zu dienen; nach der subjektiven Seite
hin prägt sich in ihm die Dynamik des Gefühls und die Dynamik des
Denkens aus. Für diese Dynamik besitzt die Gebärdensprache, die sich
rein im Medium des Raumes hält, und die daher auch die Bewegung
nur dadurch zu bezeichnen vermag, daß sie sie in einzelne diskrete Raum-
gestalien abteilt, noch kein zureichendes Organ. In der Lautsprache indes
tritt nun das einzelne diskrete Element zu dem Ganzen der Lauterzeugung
in ein ganz neues Verhältnis. Hier besteht das Element nur dadurch, daß
es stets aufs neue entsteht: sein Inhalt geht im Akt seiner Hervorbringung
auf. Aber dieser Akt der Lauterzeugung selbst gliedert sich nun immer
schärfer in besondere unterschiedliche Bestimmungen. Zu der qualita-
tiven Sonderung und Abstufung der Laute tritt insbesondere die dyna-
mische Abstufung durch den Akzent, sowie die rhythmische Abstufung
hinzu. Man hat versucht, in dieser rhythmischen Gliederung, wie sie sich
insbesondere in den primitiven Arbeitsgesängen darstellt, ein wesentliches
Moment der künstlerischen wie der sprachlichen Entwicklung nachzu-
weisen1. Hier wurzelt der Laut noch unmittelbar in der rein sinnlichen
Sphäre; aber da das, woraus er entspringt und dem er zum Ausdruck
dient, keine bloß leidende Empfindung, sondern ein einfaches sinnliches
Tun ist, so steht er andererseits bereits im Begriff, diese Sphäre zu über-
schreiten. Die bloße Interjektion, der einzelne, von einem übermächtigen
momentanen Eindruck abgedrungene Affekt- und Erregungslaut, geht
jetzt in eine in sich zusammenhängende geordnete Lautfolge über, in der
der Zusammenhang und die Ordnung des Tuns sich spiegelt. „Das ge-
ordnete Entfalten der Laute" — so heißt es in Jakob Grimms Aufsatz
über den Ursprung der Sprache — „heißt uns gliedern, artikulieren und
die Menschensprache erscheint eine gegliederte, womit das homerische
1 Vgl. Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus; zum Einfluß der Arbeit und der „Arbeits-
rhythmen" auf das Werden der Sprache vgl. die Schriften L. Noires, Der Ursprung
der Sprache, Mainz 1877; Logos-Ursprung und Wesen der Begriffe; Lpz. i885.
Beiwort der Menschen oljueQOJieg, juegojieg äv&QCOJioi oder ßQoxol zusammen-
trifft — von jueigojuai oder jufQi£co die ihre Stimme teilenden, gliedernden1."
Jetzt erst ist das Material der Sprache so beschaffen, daß sich an ihm
eine neue Form ausprägen kann. Der sinnlich affektive Zustand, geht,
indem er sich geradezu in den mimischen Ausdruck umsetzt, in diesem
letzteren auch gleichsam unter; er entlädt sich in ihm und findet darin
sein Ende. Indem bei der fortschreitenden Entwicklung diese Unmittel-
barkeit hintangehalten wird, wird damit zugleich der Inhalt erst in sich
selbst festgehalten und in sich gestaltet. Es bedarf nun einer höheren
Stufe der Bewußtheit, einer schärferen Auffassung seiner inneren Unter-
schiede, wenn er sich nach außen hin offenbaren, wenn er sich im Medium
der gegliederten Laute zu bestimmter und deutlicher Erscheinung bringen
soll. Durch die Hemmung des direkten Ausbruchs in die Gebärde und den
unartikulierten Erregungslaut wird ein inneres Maß, eine Bewegung inner-
halb des sinnlichen Begehrens und Vorstellens selbst erreicht. Vom bloßen
Reflex führt der Weg immer bestimmter zu den verschiedenen Stufen
der „Reflexion" hinauf. In der Entstehung des gegliederten Lautes, in der
Tatsache, daß — mit Goethe zu sprechen — der „Schall sich zum Tone
rundet", stellt sich uns so ein allgemeinstes Phänomen dar, das uns in den
verschiedensten Gebieten des Geistes in immer neuer Form begegnet. Hier
scheint durch die Besonderheit der sprachlichen Funktion wieder die uni-
verselle symbolische Funktion hindurch, wie sie sich in immanenter
Gesetzlichkeit in der Kunst und im mythisch-religiösen Bewußtsein, in
der Sprache und in der Erkenntnis entfaltet.
II
Gleich der Theorie der Kunst und gleich der Theorie der Erkenntnis
löst sich freilich auch die Sprachtheorie nur allmählich von dem Zwang
des Nachahmungsbegriffs und der Abbildtheorie los. Die Frage nach der
xvoiorrjs rcbv dvofjLOLxcov steht im Mittelpunkt der antiken Sprachphilosophie.
Auch das Problem, ob die Sprache als ein tpvoei oder als ein vojuco öv zu
gelten habe, betrifft nicht in erster Linie die Sprachentstehung, sondern
ihren Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt2. Bleibt die Sprache und das
1 Über den Ursprung der Sprache (i 85 i)s. Jakob Grimms Kleine Schriften, S. 2 55 ff . Der
etymologisch e Zusammenhang, den Grimm hier annimmt, ist übrigens fraglich und bestrit-
ten: näheres hierüber bei Georg Curtius, Grundz.der griech. Etymologie 5, S. nou. 33o.
2 Nähere Nachweisungen über diesen ursprünglichen Sinn des Gegensatzes von <pvoet
und vö/uco, der erst später in alexandrinischer Zeit, durch den Gegensatz von (pvosi und
fteoet ersetzt wird s. bei Steinthal, Gesch. der Sprachwissenschaft bei den Griechen
und Römern I, 7Öff., n4ff., 3io.ff.
l32
Wort ganz im Kreise des subjektiven Vorstellens und Meinens einge-
schlossen oder besteht zwischen dem Reich der Benennungen und dem
des wirklichen Seins ein tieferer Zusammenhang; gibt es eine innere „ob-
jektive" Wahrheit und Richtigkeit der Benennungen selbst? Die Sophi-
stik verneint, die Stoa behauptet eine derartige objektive Gültigkeit des
Wortes; aber in der negativen, wie in der positiven Entscheidung bleibt
die Form der Fragestellung selbst die gleiche. Daß die Erkenntnis
die Aufgabe habe, die Wesenheit der Dinge, — daß die Sprache die Auf-
gabe habe, die Wesenheit der Erkenntnis widerzuspiegeln und nachzu-
bilden : das ist die Grundannahme, von der in der Verteidigung wie in der
Bestreitung ihres Wertes überall ausgegangen wird. Die Sophistik sucht
zu zeigen, daß beide Aufgaben unlösbar sind: wenn es ein Sein gibt —
so heißt es bei Gorgias — , so ist es dem Menschen unfaßbar und uner-
kennbar, wenn erkennbar, so ist es nicht aussprechbar und mitteilbar.
Wie die Sinne des Gesichts und der des Gehörs ihrer Natur nach je in
einem bestimmten Qualitätenkreise eingeschlossen bleiben, — wie der eine
nur Helligkeiten und Farben, der andere nur Töne wahrzunehmen ver-
mag, so kann auch die Rede niemals sich selbst transzendieren, um das
ihr gegenüberstehende „Andere", um das „Sein" und die Wahrheit zu er-
greifen1. Vergeblich versucht die Stoa dieser Konsequenz dadurch zu ent-
gehen, daß sie, wie eine natürliche Verwandtschaft zwischen dem Sein
und der Erkenntnis, so auch einen natürlichen Zusammenhang, eine Über-
einstimmung xard juijurjotv, zwischen Wort und Sinn behauptet. Die
Ansicht, daß das Wort das Sein ganz oder zum Teil wiedergebe, daß es
das echte ervjuov zu ihm bilde, führt sich selbst dadurch ad absurdum,
daß sie in ihrer Fortentwicklung in ihr eigenes Gegenteil umschlägt.
Neben dem Verhältnis der „Ähnlichkeit" wird jetzt auch seine Umkeh-
rung als etymologischer Erklärungsgrund zugelassen : nicht nur die äva-
Xoyia und ö/uLoidxrjc;, sondern auch die evavriwoig und dvxl(pgaoig gilt als sprach-
bildendes Prinzip. Die „similitudo" wird zum contrarium; die „Analogie"
wird zur „Anomalie". Welche verheerende Wirkung diese berüchtigte
„Erklärung durch den Gegensatz" im Fortgang der Etymologie ge-
habt hat, ist bekannt2: im Ganzen aber drückt sich in ihr nur aufs be-
*Vgl. Sextus adv. Mathematicos VII, 83ff. (Diels, Fragm. der Vorsokr., 76 B, 554):
tot yag firjvvouev, eozi Aöyog, Xöyog de ovx sozi za vjcoxsifxeva xal övxa' ovx aqa za ovza
fujvvofiev zoTg TieXag dXXä Xoyov, og EZSQÖg iozi zwv vnoxsifxevcov .
2 Einzelne charakteristische Beispiele s. bei Georg Curtius, Grundz. der griech. Ety-
mologie 5, S. 5f.; Steinthal, a. a. 0. I, 353ff.; Lersch, Sprachphilosophie der
Alten, III, 47ff.
i33
stimmteste aus, daß jede Erklärung der Sprache, die auf dem Postulat
der Ähnlichkeit gegründet ist, notwendig zuletzt bei ihrem eigenen Gegen-
pol anlangen und damit sich selbst aufheben muß.
Auch dort, wo die Worte nicht als Nachahmungen der Dinge, sondern
der subjektiven Gefühlszustände gefaßt werden, wo sie, wie bei Epikur,
nicht sowohl die Beschaffenheit der Gegenstände, als vielmehr die idta
nddr] des Sprechenden wiedergeben sollen1, steht die Sprachbetrachtung,
wenngleich ihre Norm gewechselt hat, im wesentlichen noch unter dem
gleichen Prinzip. Wird die Forderung der Abbildung als solche aufrecht
erhalten, so gilt es zuletzt gleichviel, ob das Abgebildete selbst ein „In-
neres" oder ein „Äußeres", ob es ein Komplex von Dingen oder von Ge-
fühlen und Vorstellungen ist. Ja gerade unter dieser letzteren Voraus-
setzung muß die Skepsis gegen die Sprache nicht nur wiederkehren, son-
dern sie muß jetzt erst ihre schärfste Fassung annehmen. Denn noch
weit weniger als die Unmittelbarkeit der Dinge kann die Sprache bean-
spruchen, die Unmittelbarkeit des Lebens zu ergreifen. Jeder bloße Ver-
such, diese Unmittelbarkeit auszudrücken, hat sie vielmehr bereits aufge-
hoben: „spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr".
So bildet die Sprache wiederum schon ihrer reinen Form nach das Wi-
derspiel zu der Fülle und Konkretion der sinnlichen Empfindungs- und
Gefühlswelt. Der Einwand des Gorgias: „es redet der Redende, aber nicht
Farbe oder Ding2", gilt in verschärftem Maße, wenn wir die „objektive"
Wirklichkeit durch die „subjektive" ersetzen. In dieser letzteren herrscht
durchgängige Individualität und höchste Bestimmtheit; in der Welt der
Worte dagegen die Allgemeinheit, d. h. aber die Unbestimmtheit und Viel-
deutigkeit bloß schematischer Zeichen. Indem die „generelle" Wortbe-
deutung alle Differenzen, die das wirkliche psychische Geschehen cha-
rakterisieren, verwischt, scheint uns daher der Weg der Sprache, statt
uns ins geistig-Allgemeine hinaufzuheben, vielmehr ins Gemeine hinab-
zuführen: denn nur dieses, nur das, was einer individuellen Anschauung
oder Empfindung nicht schlechthin eigentümlich, sondern ihr mit an-
deren gemeinsam ist, ist der Sprache faßbar. So bleibt diese nur ein
Scheinwert — nur eine Spielregel, die um so zwingender wird, je mehr
Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber, sobald sie sich selbst kritisch
1 Vgl. ob. S. 90.
2 De Melisso, Xenophane et Gorgia, Cap. 6, 980 a 20: o yag slds, neos äv xig, (prjol, xovxo
sI'jioi Xoyco ; rj jicög äv sxstvq) drjXov dxovoavxi yi'yvoixo, fxi] idövxc ; coojisq yag ovde t] oy>ig
xovg (pfiöyyovg yiyvdtoxei, ovxcog ovde f) axor) xä xQcof.ia.xa dxovei, äXXä cp&oyyovg' xal
Xeyei 6 Xeycov dXX' ov ^ßw^o ovde jigayfia.
i34
versteht, jeden Anspruch aufgeben muß, irgendein Wirkliches, es mag
der „inneren" oder der „äußeren" Welt angehören, darzustellen oder gar
zu erkennen und zu begreifen1.
Im Grunde aber schließt freilich, in der Erkenntniskritik wie in der
Sprachkritik, eben diese radikalste Fassung der Skepsis bereits die Über-
windung der Skepsis in sich. Die Skepsis sucht die Nichtigkeit der Er-
kenntnis und der Sprache darzutun — aber was sie zuletzt beweist, ist
vielmehr die Nichtigkeit des Maßstabes, an dem beide hier gemessen
werden. Es ist die innere Auflösung, die Selbstzersetzung der Grund-
voraussetzungen der „Abbildtheorie", die sich in der Entwicklung der
Skepsis methodisch und folgerecht vollzieht. Je weiter daher die Negation
in diesem Punkte getrieben wird, um so deutlicher und bestimmter er-
gibt sich aus ihr eine neue positive Einsicht. Der letzte Schein irgendeiner
mittelbaren oder unmittelbaren Identität zwischen Wirklichkeit und
Symbol muß getilgt, — die Spannung zwischen beiden muß aufs
äußerste gesteigert werden, damit eben in dieser Spannung die eigen-
tümliche Leistung des symbolischen Ausdrucks und der Gehalt jeder ein-
zelnen symbolischen Form sichtbar werden kann. Denn dieser ist in der
Tat nicht aufweisbar, solange man an dem Glauben festhält, daß wir
die „Wirklichkeit" als ein gegebenes und selbstgenügsames Sein, als ein
Ganzes, sei es von Dingen, sei es von einfachen Empfindungen, vor aller
geistigen Formung besitzen. Träfe diese Voraussetzung zu — dann bliebe
freilich der Form als solcher keine andere Aufgabe, als die einer bloßen
Reproduktion, die aber hinter ihrem Original notwendig zurückbleiben
müßte. In Wahrheit aber kann der Sinn jeder Form nicht in dem ge-
sucht werden, was sie ausdrückt, sondern nur in der Art und Weise, in
dem Modus und der inneren Gesetzlichkeit des Ausdrucks selbst. In dieser
Gesetzlichkeit der Bildung, also nicht in der Nähe zum unmittelbar-Ge-
gebenen, sondern in der fortschreitenden Entfernung von ihm, liegt der
Wert und die Eigenart der sprachlichen Gestaltung, wie der Wert und
die Eigenart der künstlerischen Gestaltung, beschlossen. Diese Distanz
vom unmittelbaren Dasein und vom unmittelbaren Erleben ist die Bedin-
gung seiner Sichtbarkeit, seiner geistigen Bewußtheit. Auch die Sprache
beginnt daher erst dort, wo das unmittelbare Verhältnis zum sinn-
lichen Eindruck und zum sinnlichen Affekt aufhört. Der Laut ist noch
nicht Sprachlaut, solange er sich rein als Wiederholung gibt ; solange ihm
mit dem Willen zur „Bedeutung" auch das spezifische Bedeutungsmo-
1 Vgl. Fr. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, bes. I, 25ff., 70, 176,
198 u. ö.
i35
ment fehlt. Das Ziel der Wiederholung liegt in der Identität, — das Ziel
der sprachlichen Bezeichnung liegt in der Differenz. Die Synthese, die
sich in ihr vollzieht, kann sich nur als Synthesis des Verschiedenen,
nicht des in irgendeiner Hinsicht Gleichen oder Ähnlichen, vollziehen.
Je mehr der Laut dem, was er ausdrücken will, gleicht; je mehr er dieses
Andere noch selbst „ist", um so weniger vermag er es zu „bedeuten".
Nicht nur nach der Seite des geistigen Inhalts, sondern auch biologisch
und genetisch ist hier die Grenze scharf gezogen. Schon bei den niederen
Tieren begegnet uns eine Fülle ursprünglicher Gefühls- und Empfin-
dungslaute, die sich sodann im Fortgang zu den höheren Arten mehr und
mehr differenzieren, die zu bestimmt artikulierten und gegeneinander ab-
gegrenzten „Sprachäußerungen", zu Angst- oder Warnrufen, Lock- oder
Paarungsrufen, sich entfalten. Aber zwischen diesen Ruflauten und den
Bezeichnungs- und Bedeutungslauten der menschlichen Sprache bleibt
nach wie vor die Trennung, bleibt ein „Hiatus" bestehen, der gerade
durch die schärferen Beobachtungsmethoden der modernen Tierpsycho-
logie aufs neue bestätigt worden ist1. Der Schritt zur menschlichen
Sprache ist — wie zuerst Aristoteles betont hat — erst getan, wenn der
reine Bedeutungslaut vor den Affekt- und Erregungslauten den entschei-
denden Primat gewonnen hat: ein Vorrang, der sich sprachgeschichtlich
auch darin ausdrückt, daß viele Worte der entwickelten Sprachen, die auf
den ersten Blick als bloße Interjektionen erscheinen, sich bei genauer
Analyse als Rückbildungen aus komplexeren sprachlichen Gebilden, aus
Worten oder Sätzen mit einer bestimmten begrifflichen Bedeutung, er-
weisen2.
Allgemein läßt sich eine dreifache Stufenfolge aufweisen, in welcher
sich dieses Heranreifen der Sprache zu ihrer eigenen Form, diese ihre
1 Für die „Sprache" der höchstentwickelten Affen vgl. z. B. W. Köhler, Zur Psycho-
logie des Schimpansen; Psychologische Forschung, Bd. I (192 1) S. 27: „Auf welche
Art sich die Tiere verständigen, ist im einzelnen nicht leicht zu beschreiben. Daß ihre
phonetischen Äußerungen ohne jede Ausnahme „subjektive" Zustände und Strebungen
ausdrücken, also sogenannte Affektlaute sind und niemals Zeichnung oder Bezeichnung
von Gegenständlichem anstreben, ist schlechthin gesichert. Dabei kommen in der Schim-
pansenphonetik so viel „phonetische Elemente" der Menschensprache vor, daß sie gewiß
nicht aus peripheren Gründen ohne Sprache in unserem Sinn geblieben sind. Mit Mienen-
spiel und Gesten der Tiere steht es ähnlich: nichts davon bezeichnet Objektives oder
hat „Darstellungsfunktion"."
2 Beispiele hierfür s. bei Sayce, Introduction to the science of language, London 1880,
I, iogf.; für den Kreis der indogermanischen Sprachen s. bes. K. Brugmann, Ver-
schiedenheit der Satzgestaltung nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den
idg. Sprachen, Lpz. 19 18, S. 24ff .
i36
innere Selbstbefreiung vollzieht. Wenn wir diese Stufen als die des
mimischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Aus-
drucks bezeichnen, so enthält diese Dreiteilung zunächst nicht mehr
als ein abstraktes Schema — aber dieses Schema wird sich in dem Maße
mit konkretem Gehalt erfüllen, als sich zeigen wird, daß es nicht nur
als Prinzip der Klassifikation gegebener Spracherscheinungen dienen
kann, sondern daß sich in ihm eine funktionale Gesetzlichkeit des Auf-
baus der Sprache darstellt, die in anderen Gebieten, wie in dem der Kunst
oder der Erkenntnis, ihr ganz bestimmtes und charakteristisches Gegen-
bild hat. Je mehr wir uns den eigentlichen Anfängen der Lautsprache
nähern können, um so mehr scheinen wir noch ganz in jenem Kreis der
mimischen Darstellung und Bezeichnung festgehalten zu werden, in wel-
chem auch die Gebärdensprache wurzelt. Was der Laut sucht, ist die un-
mittelbare Nähe zum sinnlichen Eindruck und die möglichst getreue Wie-
dergabe der Vielfältigkeit dieses Eindrucks. Dieses Streben beherrscht
nicht nur die Entwicklung der Kindersprache auf weite Strecken hin,
sondern tritt auch in der Sprache der „Primitiven" überall aufs stärkste
hervor. Die Sprache lehnt sich hier noch so eng an den konkreten Ein-
zelvorgang und sein sinnliches Bild an, daß sie ihn mit dem Laut gleich-
sam auszuschöpfen versucht, daß sie sich nicht an einer allgemeinen Be-
zeichnung genügen läßt, sondern jede besondere Nuance des Vorgangs
auch mit einer besonderen, eigens für diesen Fall bestimmten Laut-
nuance begleitet. So gibt es z. B. im Ewe und in einigen verwandten
Sprachen Adverbien, die nur eine Tätigkeit, einen Zustand oder eine
Eigenschaft beschreiben und die demgemäß nur mit einem Verbum ver-
bunden werden können. Viele Verba besitzen eine Fülle derartiger, ihnen
allein zugehöriger qualifizierender Adverbia, von denen die meisten Laut-
bilder, lautliche Nachbildungen sinnlicher Eindrücke sind. Westermann
zählt in seiner Ewe-Grammatik für das einzige Verbum des Gehens nicht
weniger als 33 derartiger Lautbilder auf, deren jedes je eine besondere
Weise und Eigentümlichkeit des Gehens, wie schlotternd oder schlen-
dernd gehen, hinkend oder schleppend gehen, watschelnd oder wackelnd
gehen, kräftig und energisch oder lässig und wiegend gehen, beschreibt.
Aber hiermit ist, wie er hinzufügt, die Reihe der Adverbien, die das Gehen
beschreiben, nicht erschöpft; denn die meisten derselben können doppelt,
in der gewöhnlichen und in der Diminutivform vorkommen, je nachdem
das Subjekt groß oder klein ist1. Wenn im weiteren Fortgang der Sprach-
1 Westermann, Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin 1907, S. 83f., i3o; ganz ana-
loge Erscheinungen, wie die hier berichteten, finden sich in den amerikanischen Ein-
,37
entwicklung diese Art der unmittelbaren Lautmalerei zurücktritt, so gibt
es doch keine noch so hoch entwickelte Kultursprache, die nicht mannig-
fache Beispiele von ihr bewahrt hätte. In auffallender Gleichförmigkeit
finden sich bestimmte onomatopoetische Ausdrücke über alle Sprachen
des Erdkreises verbreitet. Sie beweisen ihre Kraft nicht nur darin, daß
sie, einmal gebildet, der Veränderung durch den Lautwandel und durch sonst
allgemeingültige Lautgesetze widerstehen, sondern sie treten auch als Neu-
schöpfungen hervor, die sich unmittelbar im hellen Licht der Sprachge-
schichte vollziehen1. Angesichts dieser Tatsachen ist es begreiflich, daß ge-
rade die empirischen Sprachforscher vielfach geneigt gewesen sind, sich des
in der Sprachphilo:ophie oft so hart gescholtenen Prinzips der Onomatopöie
anzunehmen und eine, wenigstens bedingte, Ehrenrettung desselben zu ver-
suchen2. Die Sprachphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts glaubte
noch vielfach in den onomatopoetischen Bildungen den Schlüssel zu der
Grund- und Ursprache der Menschheit, zu der „lingua adamica", un-
mittelbar in der Hand zu haben. Heute ist freilich durch die kritischen
Fortschritte sprachwissenschaftlicher Betrachtung der Traum dieser Ur-
sprache mehr und mehr zerronnen; aber noch immer finden sich ge-
legentlich Versuche, den Nachweis zu führen, wie in den frühesten Pe-
rioden der Sprachbildung die Bedeutungsklassen und Lautklassen ein-
ander entsprachen, — wie das Ganze der Urworte in bestimmte Gruppen
abgeteilt war, deren jede an bestimmte lautliche Materialien geknüpft und
aus ihnen aufgebaut war3. Und auch dort, wo man nicht mehr die Hoff-
nung hegt, auf diesem Wege zu einer wirklichen Rekonstruktion der Ur-
sprache zu gelangen, pflegt das Prinzip der Onomatopöie als ein Mittel
anerkannt zu werden, vermöge dessen sich am ehesten von den relativ
geborenensprachen; vgl. z.B. den Übergang von rein onomatopoetischen Lauten zu all-
gemeinen verbalen oder adverbialen Ausdrücken, den Boas aus dem Chinook anführt
(Handbook of American Indian Languages, P. I, Washington 191 1 (Smithson Jnst.
Bullet. 4o), S. 575, 655f.
1 Eine Liste solcher relativ später onomatopoetischer Bildungen gibt für das Deutsche
z.B. Hermann Paul, Prinz, der Sprachgeschichte3, S. i6of.; Beispiele aus dem Kreise
der romanischen Sprachen s. z. B. bei Meyer-Lübke, Einf. in das Stud. der romani-
schen Sprachwissenschaft2, S. 91 ff.
2 S. z. B. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. 38.
3 So unterscheidet Täuber, Die Ursprache u. ihre Entwicklung (Globus, Bd. 97 (1910),
S. 277 ff.), die sechs Hauptgruppen: flüssige Nahrung, feste Nahrung, atmosphärische
Flüssigkeiten, Holz und Wald, Futter- und Tränkeplatz, Tierwelt und sucht nachzu-
weisen, daß sie in den verschiedensten Sprachen der Erde, z. B. im Sanskrit und im
Hebräischen ursprünglich durch gleichartige Laute (m -f- Vocal; p-Laut H- Vocal, n +
Vocal, t-Laut + Vocal, 1 oder r, k-Laut 4" Vocal) bezeichnet wurden.
i38
ältesten Schichten der Sprachbildung eine mittelbare Vorstellung ge-
winnen läßt. „Trotz alles Wandels4 ' — so bemerkt z. B. G. Curtius für
das Gebiet der indogermanischen Sprachen — „ist in den Sprachen auch
ein Trieb des Beharrens erkennbar. Mit derselben Lautgruppe sta be-
zeichnen alle Völker unseres Stammes vom Ganges bis zum Atlantischen
Ozean die Vorstellung des Stehens; an die nur unwesentlich veränderte
Lautgruppe plu knüpft sich bei allen die Vorstellung des Fließens. Dies
kann nicht zufällig sein. Gewiß blieb dieselbe Vorstellung mit denselben
Lauten deshalb durch alle Jahrtausende verbunden, weil für das Gefühl
der Völker zwischen beiden ein inneres Band bestand, d. h. weil für
sie ein Trieb vorhanden war, diese Vorstellung gerade mit diesen Lauten
auszudrücken. Man hat die Behauptung, daß die ältesten Wörter irgend-
eine Beziehung der Laute zu der bezeichneten Vorstellung voraussetzen,
oft verlacht und verspottet. Dennoch ist es schwer, ohne diese Annahme
die Entstehung der Sprache zu erklären. Auf jeden Fall wohnt auch in
den Wörtern weit vorgeschrittener Perioden die Vorstellung wie eine
Seele1". Der Versuch, diese „Seele" der einzelnen Laute und Lautklassen
zu erfassen, hat Sprachphilosophen und Sprachforscher immer wieder
gereizt. Nicht nur die Stoa ist diesen Weg gegangen: auch Leibniz hat
noch versucht, diesem Ursinn der einzelnen Laute und Lautgruppen im
Einzelnen nachzuspüren2. Und nach ihm haben gerade die feinsten unel
tiefsten Sprachkenner den Symbolwert bestimmter Laute nicht nur in dem
materialen Ausdruck einzelner Begriffe, sondern auch in der formalen
Darstellung gewisser grammatischer Beziehungen deutlich aufweisen
zu können geglaubt. So findet Humboldt diesen Zusammenhang nicht
nur in der Wahl bestimmter Laute zum Ausdruck bestimmter Gefühls-
werte bestätigt — wie z. B. die Lautgruppe st regelmäßig den Eindruck
des Beständigen und Festen, der Laut l den des Schmelzenden und Flie-
ßenden, der Laut w den einer schwankenden und unstäten Bewegung be-
zeichne — , sondern er glaubte ihm auch überall in den Mitteln der sprach-
lichen Formbildung zu begegnen und wandte diesem „Symbolischen in
den grammatischen Lauten" seine besondere Aufmerksamkeit zu3. Auch
Jakob Grimm suchte zu zeigen, daß z. B. die Laute, die im Indogerma-
nischen für die Bildung der Antwort- und Frageworte gebraucht werden,
mit der geistigen Bedeutung der Frage und der Antwort in genauestem
1 G. Curtius, Grundz. der griech. Etymologie 5, S. 96.
2 S. Nouveaux Essais sur l'entendement humain III, 3.
3 Vgl. die Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 76 ff.), sowie dieses Werk selbst: Über
die Kawi-Sprache auf der Insel Java, Berlin i838, II, Iii, i53 u. ö.
i39
Zusammenhang stünden1. Daß bestimmte Vokaldifferenzen und Vokal-
abstufungen als Ausdruck bestimmter objektiver Gradabstufungen, ins-
besondere zur Bezeichnung der größeren oder geringeren Entfernung
eines Gegenstandes vom Sprechenden verwendet werden, ist eine Erschei-
nung, die sich in den verschiedensten Sprachen und Sprachgebieten
gleichartig wiederfindet. Fast durchweg bezeichnen hierbei a, o, u die
weitere, e und i die geringere Entfernung2. Auch die Verschiedenheit
des zeitlichen Abstands wird in dieser Weise durch die Verschiedenheit
der Vokale oder Vokalhöhen angedeutet3. In derselben Weise werden
gewisse Konsonanten und Konsonantengruppen als „natürliche Laut-
metaphern" verwendet, denen in fast allen Sprachgebieten eine gleich-
artige oder ähnliche Bedeutungsfunktion zukommt: — wie z. B. die
labialen Resonanzlaute mit auffallender Regelmäßigkeit die Richtung
zum Sprechenden hin, die explosiven Zungenlaute die Richtung vom
Sprechenden fort bezeichnen, so daß die ersteren als „natürlicher"
Ausdruck des „Ich", die letzteren als natürlicher Ausdruck des „Du"
erscheinen4.
Aber in diesen letzteren Erscheinungen ist nun, so sehr sie gleich-
sam noch die Farbe des unmittelbar-sinnlichen Ausdrucks an sich tragen,
der Kreis der bloß mimischen und imitativen Sprachmittel im Grunde
bereits überschritten. Denn jetzt handelt es sich nicht mehr darum,
einen einzelnen sinnlichen Gegenstand oder einen einzelnen sinnlichen
1 S. Deutsche Grammatik III, i: „Unter allen Lauten der Menschenstimme ist keiner
so fähig, das Wesen der Frage, die gleich im Beginn des Wortes gefühlt sein will,
auszudrücken, wie das K, der vollste Konsonant, den die Kehle vermag. Ein bloßer Vokal
würde zu unbestimmt erhallen und das Labialorgan kommt dem gutturalen an Stärke
nicht bei. Zwar das T kann mit gleicher Kraft hervorgebracht werden wie das K, allein
es wird weniger ausgestoßen als ausgesprochen und hat etwas Festeres; es eignet sich
daher zum Ausdruck der ruhigen, ständigen und vor sich hinweisenden Antwort. K
forscht, erkundigt, ruft; T zeigt, bedeutet und erwidert."
2 Belege hierfür aus verschiedenen Sprachkreisen s. z. B. in Fr. Müllers Grundriß der
Sprachwissenschaft, Wien i87Öff., I, 2, S. o,4f-, HI, i, ig4 u. ö.; Humboldt, Kawi-
Werk II, i53; s. übr. weiter unten Cap. 3.
3 S. z. B. Fr. Müller, a. a. O., I, 2, 0,4- Steinthal, Die Mande Neger Sprachen, Berlin
1867, S. 117.
4 In auffallender Übereinstimmung mit dem Indogermanischen dienen z. B. in den ural-
altaischen Sprachen die Lautelemente ma, mi, mo bzw. ta, lo, ti, si als Grundelemente
für die beiden persönlichen Fürwörter: vgl. H. Winkler, Das Ural-altaische und seine
Gruppen, Berlin i885, S. 26; für die anderen Sprachkreise s. die Zusammenstellung,
die Wundt (a. a. O. I, 345) auf Grund des Materials in Fr. Müllers Grundr. der
Sprachwiss. gegeben hat.
i4o
Eindruck in einem nachahmenden Laute festzuhalten, sondern die quali-
tative Abstufung in einer Gesamtreihe von Lauten dient dem Ausdruck
einer reinen Beziehung. Zwischen der Form und Eigenart dieser Be-
ziehung und den Lauten, in denen sie sich darstellt, besteht kein Ver-
hältnis der direkten materialen Ähnlichkeit mehr — wie denn überhaupt
die bloße Materie des Lautes als solche nicht fähig ist, reine Verhältnis-
bestimmungen wiederzugeben. Der Zusammenhang ist vielmehr dadurch
vermittelt, daß im Verhältnis der Laute einerseits und in dem der be-
zeichneten Inhalte andererseits eine Analogie der Form erfaßt wird,
kraft deren nun eine bestimmte Zuordnung der inhaltlich ganz ver-
schiedenen Reihen sich vollzieht. Damit ist jene zweite Stufe erreicht,
die wir, gegenüber dem bloß mimischen Ausdruck, als die Stufe des
analogischen Ausdrucks bezeichnen können. Der Übergang von der
einen zur anderen stellt sich vielleicht am deutlichsten in denjenigen
Sprachen dar, die den musikalischen Silbenton zur Unterscheidung von
Wortbedeutungen oder zum Ausdruck formal-grammatischer Bestim-
mungen verwenden. Der mimischen Sphäre scheinen wir hier insofern
noch ganz nahe zu stehen, als die reine Bedeutungsfunktion noch ganz
am sinnlichen Klang selbst haftet und von ihm nicht ablösbar ist. Von den
indochinesischen Sprachen sagt Humboldt, daß in ihnen durch die Diffe-
renzierung der Tonhöhen der einzelnen Silben und durch die Verschieden-
heit der Akzente die Rede zu einer Art Gesang oder Rezitativ werde und
daß z. B. die Tonstufen des Siamesischen völlig mit einer musikalischen
Tonleiter verglichen werden könnten1. Daneben sind es insbesondere die
Sudansprachen, die durch den verschiedenen Ton der Silben, durch Hoch-
ton, Mittel- oder Tief ton oder durch zusammengesetzte Tonschattierungen,
wie den tiefhohen-steigenden oder hochtief en-f allen den Ton, die mannig-
fachsten Bedeutungsnuancen zum Ausdruck bringen können. Teils sind es
etymologische Unterschiede, die auf diese Weise bezeichnet werden, d. h.
die gleiche Silbe dient, je nach ihrem Ton, zur Bezeichnung ganz ver-
schiedener Dinge oder Vorgänge; teils drücken sich bestimmte räum-
liche und quantitative Unterscheidungen in der Verschiedenheit des Sil-
bentons aus, indem z. B. hoch ton ige Wörter zum Ausdruck großer
Entfernungen, tieftonige zum Ausdruck der Nähe, jene zum Ausdruck der
Schnelligkeit, diese zum Ausdruck der Langsamkeit u. s. f. gebraucht
werden2. Daneben aber sind es rein formale Bestimmungen und Gegen-
1 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, S. 3oo).
2 Näheres hierüber bei Westermann, Die Sudansprachen, Hamb. 191 1, S. 76fr*.;
Die Gola-Sprache in Liberia, Hamb. 192 1, S. igff.
i4i
sätze, die auf diesem Wege ihre sprachliche Darstellung finden können.
So kann z. B., lediglich durch die Tonveränderung, die bejahende Form
des Verbums in die verneinende übergehen1 — oder aber die Bestimmung
der grammatischen Kategorie eines Wortes mittels dieses Prinzips er-
folgen, indem übrigens gleichlautende Silben durch die Art der Aus-
sprache als Nomina oder als Verba gekennzeichnet werden2. Wieder einen
Schritt weiter werden wir in die Erscheinung der Vokalharmonie ge-
führt, die, wie bekannt, den gesamten Aufbau bestimmter Sprachen und
Sprachgruppen — vor allem den Aufbau der ural-altaischen Sprachen
— beherrscht. Hier zerfällt die Gesamtheit der Vokale in zwei scharf
geschiedene Klassen, in die Klasse der harten und in die der weichen
Vokale, wobei durchgängig die Regel gilt, daß bei der Vermehrung eines
Stammes durch Suffixe dem Vokal der Stammsilbe stets ein der gleichen
Klasse angehöriger Vokal in den Suffixen entsprechen muß3. Hier dient
die klangliche Angleichung der einzelnen Bestandteile eines Wortes, also
ein rein sinnliches Mittel, dazu, diese Teile auch formal zusammenzu-
schließen und von ihrer relativ lockeren „Agglutination" zu einem sprach-
lichen Ganzen, zu einem in sich geschlossenen Wort- oder Satzgebilde
fortzuschreiten. Indem das Wort oder Satzwort sich kraft des Prinzips
der Vokalharmonie als Lauteinheit konstituiert, gewinnt es darin auch
erst seine wahrhafte Sinneinheit: ein Zusammenhang, der zunächst rein
die Qualität der einzelnen Laute und ihre physiologische Erzeugung be-
trifft, wird zum Vehikel, um sie zur Einheit eines geistigen Ganzen, zur
Einheit einer „Bedeutung" zu verknüpfen.
1 Vgl. Westermann, Gola-Sprache, S. 66f.
2 So haftet z. B. im Äthiopischen (nach Dillmann, Grammat. der äthiop. Sprache,
Lpz. 1857, S. n5f.) die gesamte Unterscheidung der Tat- und Nennwörter zunächst
lediglich an der Vokal ausspräche. Auch die Unterscheidung der intransitiven Verba, die
statt eines reinen Tuns eine zuständliche und leidende Handlung bezeichnen, von den im
engeren Sinne , .aktiven" Verbalausdrücken erfolgt hier durch das gleiche Mittel.
3 Näheres zum Prinzip der Vokalharmonie in den ural-altaischen Sprachen s. z. B. bei
Boethlingk, Die Sprache der Jakuten, Petersb. i85i, S. XXVI, io3, und bei II.
Winkler, Das Uralaltaische u. seine Gruppen, S. 77 ff- Grunzel betont, daß die An-
lage zur Vokalharmonie als solche allen Sprachen gemoinsam sei, wenngleich sie nur in
den ural-altaischen Sprachen zu so regelmäßiger Entfaltung gelangt sei. In der letz-
teren hat übrigens die Vokalharmonie im gewissen Sinne auch eine „Konsonantenhar-
monie" zur Folge gehabt. (Näheres bei Grunzel, Entw. ein. vergl. Gramm, der altaischen
Sprachen, Lpz. 1895, S. 2of., a8f.) Beispiele für die Vokalharmonie aus anderen
Sprachkreisen finden sich für die amerikanischen Sprachen bei Boas, Handbook of
Americ. Indian Languages I, 56g (Chinook); für die afrikan. Sprachen vgl. z.B. Mein-
hof, Lehrbuch der Nama-Sprache, Berl. 1909, S. n4f.
i4a
Noch deutlicher und ausgeprägter zeigt sich diese „analogische" Ent-
sprechung zwischen Laut und Bedeutung in der Funktion gewisser weit-
verbreiteter und typischer Grundmittel der Sprachbildung, wie z. B. in
dem Gebrauch, der von dem lautlichen Mittel der Reduplikation für
die Wort- und Formenbildung, sowie für die Syntax, gemacht wird. Die
Reduplikation scheint auf den ersten Blick noch ganz durch das Prinzip
der Nachahmung beherrscht zu werden: die Verdoppelung des Lautes
oder der Silbe scheint lediglich dazu bestimmt, gewisse objektive Beschaf-
fenheiten an dem bezeichneten Ding oder Vorgang in möglichster Treue
wiederzugeben. Die Wiederholung des Lautes schmiegt sich derjenigen,
die im sinnlichen Dasein oder Eindruck gegeben ist, unmittelbar an. Wo
ein Ding sich mehrfach in gleichartiger Beschaffenheit den Sinnen dar-
bietet, wo ein zeitlicher Vorgang sich in einer Folge gleichartiger oder
ähnlicher Phasen vollzieht, da hat die Lautwiederholung ihre eigentliche
Stelle. Aber auf dieser ganz elementaren Grundlage baut sich nun ein Sy-
stem von erstaunlicher Mannigfaltigkeit und von den feinsten Bedeutungs-
schattierungen auf. Der sinnliche Eindruck der „Mehrheit schlechthin"
zerlegt sich zunächst begrifflich in den Ausdruck der „kollektiven"
und der „distributiven" Mehrheit. Gewisse Sprachen, denen die Plu-
ralbezeichnung in unserem Sinne fehlt, haben statt ihrer die Idee der
distributiven Mehrheit zur höchsten Schärfe und Bestimmtheit ent-
wickelt, indem sie aufs sorgfältigst unterscheiden, ob ein bestimmter Akt
sich als ein unteilbares Ganze darstellt oder ob er in mehrere getrennte
Einzelhandlungen zerfällt. Gilt das letztere, sind also an dem Akt
gleichzeitig verschiedene Subjekte beteiligt, oder wird er von demselben
Subjekt in verschiedenen zeitlichen Ansätzen, in einzelnen „Stadien" aus-
geführt, so tritt als Ausdruck dieser distributiven Sonderung die Laut-
verdoppelung ein. Gatschet hat in seiner Darstellung der Klamath-
Sprache gezeigt, wie diese Grundunferscheidung hier geradezu zu der be-
herrschenden Kategorie der Sprache geworden ist, die alle ihre Teile
durchdringt und die gesamte „Form" der Sprache bestimmt1. Auch in
anderen Sprachkreisen läßt sich verfolgen, wie die Doppelung eines Wor-
tes, die in den Anfängen der Sprachgeschichte als einfaches Mittel zur Be-
zeichnung der Menge diente, allmählich als anschaulicher Ausdruck für
solche Mengen eintritt, die nicht als geschlossene Ganze gegeben sind, son-
1 Gatschet, Grammar of the klamath language (Contributions to North American Eth-
nology, Vol. II, P. i, Washington 1890, S. 25aff.). Zur Bedeutung der ,,idea of severally
or distibutrition" , wie Gatschet sie nennt, s. auch weit, unten, Cap. III.
i43
dem sich in einzelne Gruppen oder Individuen abteilen1. Aber die ge-
dankliche Leistung dieses sprachlichen Mittels ist damit bei weitem nicht
erschöpft. Wie für die Darstellung der Mehrheit und Wiederholung, so
kann die Reduplikation auch für die Darstellung mannigfacher anderer
Verhältnisse, insbesondere für Raum- und Größenverhältnisse, eintreten.
Scher er bezeichnet sie als eine grammatische Urform, die im wesent-
lichen dem Ausdruck dreier Grundanschauungen: der Anschauung der
Kraft, des Raumes und der Zeit diene2. Aus der iterativen Bedeutung
entwickelt sich in einem naheliegenden Übergang die rein intensive, wie
sie sich beim Adjektivum in der Bildung der Steigerungsform, beim Ver-
bum in der Bildung von Intensivformen darstellt, die dann wieder häu-
fig in Kausativform übergehen3. Auch sehr feine modale Unterschiede
einer Handlung oder eines Vorgangs können durch das einfache Mittel der
Lautwiederholung angedeutet werden: wie z.B. in verschiedenen ameri-
kanischen Eingeborenensprachen die reduplizierte Form des Verbums zur
Verwendung kommt, um eine Art „Un Wirklichkeit" der Handlung zu
bezeichnen, um auszudrücken, daß sie nur in der Absicht oder „Vor-
stellung" besteht, aber nicht zur realen Vollendung gelangt ist4. In alle-
dem hat offenbar die Reduplikation die Phase der bloß sinnlichen Schil-
derung oder Andeutung eines gegenständlichen Seins längst hinter sich
gelassen. Dies tritt unter anderem auch an einer eigentümlichen Po-
larität ihres Gebrauchs hervor, kraft deren sie nicht nur zum Aus^
druck und Träger verschiedener, sondern geradezu entgegengesetzter Be-
deutungsmodalitäten werden kann. Neben der verstärkenden Bedeutung
kommt ihr gelegentlich auch die genau umgekehrte, die abschwächende
Bedeutung zu, so daß sie beim Adjektivum zur Bildung der Diminutiv-
formen, beim Verbum zur Bildung von Limitativformen gebraucht wird5.
1 Vgl. hierzu bes. die Beispiele aus dem semitischen Sprachkreis bei Brockelmann,
Grundr. der vergl. Gramm, der semitischen Sprachen, Berlin igo8/i3, II, ff.
2 Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, S. 354 f.
3 Belege finden sich vor allem in der Schrift von F. A. Pott, Doppelung (Reduplika-
tion, Gemination) als eines der wichtigsten Bildungsmittel der Sprache (1862); s. auch
das reichhaltige Material bei Bra ndstetter, Die Reduplikation in den indianischen, in-
donesischen und indogermanischen Sprachen, Luzern 19 17.
4 ,,Reduplication is also used to express the diminutive of nouns, the idea of a playful
Performance of an activity, and the endeavor to perform an action. It would seem that in all
these forms we have the fundamental idea of an approach to a certain concept without its
realization." (Fr. Boas, Kwakiutl, Handb. of Amer. Ind. Lang. I, 444f.; vgl. bes. Ö26f.)
5 Belege hierfür aus dem Kreise der Südseesprachen bei Codrington, The Melanesian
languages, Oxford i885, S. 1^7; Ray, a. a. 0., S. 356, 446; für die amerikanischen
Eingeborenensprachen s. z.B. Boas, Handbook I, Ö2Ö u. ö.
I
Auch in der Bestimmung der Zeitstufe einer Handlung kann sie ebenso-
wohl als Ausdruck der Gegenwart oder Zukunft, wie als Ausdruck der
Vergangenheit dienen1. Darin zeigt sich am deutlichsten, daß sie nicht
sowohl die Wiedergabe eines fixen und eingeschränkten Vorstellungs-
inhalts ist, als sich vielmehr in ihr eine bestimmte Richtung der Auf-
fassung und Betrachtung und gleichsam eine gewisse Vorstellungsbewe-
gung ausprägt. Noch schärfer tritt die rein formale Leistung der Redu-
plikation dort heraus, wo sie aus der Sphäre des quantifizierenden
Ausdrucks in den Kreis der reinen Relationsbestimmung übertritt. Sie
bestimmt alsdann nicht sowohl die inhaltliche Bedeutung des Wortes, als
seine allgemeine grammatische Kategorie. In Sprachen, die in der bloßen
Wortform diese Kategorie nicht kenntlich machen, wird häufig durch
die Laut- oder Silbenverdoppelung ein Wort aus der einen grammatischen
Klasse in eine andere versetzt, also z. B. aus einem Nomen in ein Verbum
verwandelt2. In allen diesen Erscheinungen, denen sich andere gleich-
artige an die Seite stellen ließen, tritt klar hervor, wie die Sprache auch
dort, wo sie vom rein imitativen oder „analogischen" Ausdruck ausgeht,
den Kreis desselben ständig zu erweitern und schließlich zu durchbrechen
strebt. Sie macht aus der Not der Vieldeutigkeit des Lautzeichens seine
eigentliche Tugend. Denn gerade diese Vieldeutigkeit duldet nicht, daß
das Zeichen bloßes Individualzeichen bleibt; gerade sie ist es, die den Geist
zwingt, den entscheidenden Schritt von der konkreten Funktion des „Be-
zeichnens" zur allgemeinen und allgemeingültigen Funktion der „Bedeu-
tung" zu tun. In ihr tritt die Sprache gleichsam aus den sinnlichen Hüllen,
in denen sie sich bisher darstellte, heraus : der mimische oder analogische
Ausdruck weicht dem rein symbolischen, der gerade in seiner Andersheit
und kraft derselben zum Träger eines neuen und tieferen geistigen Ge-
halts wird.
1 So z. B. in der Tempusbildung des Verbums im Tagalis chen (Humboldt, Kawi-
Werk, II, i25ff.).
2 Beispiele aus dem Javanischen in Humboldts Kawi-Werk II, 86f.
xo i45
KAPITEL III
DIE SPRACHE IN DER PHASE DES
ANSCHAULICHEN AUSDRUCKS
I. Der Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen
So wenig wie in der Erkenntnislehre, so wenig läßt sich in der Sprach-
betrachtung ein scharfer Grenzstrich zwischen dem Gebiet des Sinnlichen
und dem Gebiet des Intellektuellen in der Weise ziehen, daß beide da-
durch als gegeneinander abgesonderte Bezirke bezeichnet würden, deren
jedem eine eigene und selbstgenügsame Art der „Wirklichkeit" zukommt.
Die Kritik der Erkenntnis zeigt, daß die bloße Empfindung, in der ledig-
lich eine sinnliche Qualitätsbestimmung gesetzt, von jeder Form der
Ordnung aber abgesehen wird, in keiner Weise ein „Faktum" der un-
mittelbaren Erfahrung, sondern vielmehr lediglich das Ergebnis einer
Abstraktion ist. Die Materie der Empfindung ist niemals rein an sich und
„vor" aller Formung gegeben, sondern sie schließt schon in ihrer ersten
Setzung eine Beziehung auf die Raum-Zeit-Form ein. Aber dieser erste
bloß unbestimmte Hinweis erhält im stetigen Fortgang der Erkenntnis
seine fortschreitende Bestimmung: die bloße „Möglichkeit des Beisam-
men" und die „Möglichkeit des Nacheinander" entfaltet sich zum Ganzen
des Raumes und der Zeit, als einer zugleich konkreten und allgemeinen
Stellenordnung. Man wird erwarten dürfen, daß die Sprache, als Spiegel-
bild des Geistes, auch diesen fundamentalen Prozeß in irgendeiner Weise
widerspiegelt. Und in der Tat gilt das Kantische Wort, daß Begriffe
ohne Anschauungen leer seien, nicht minder für die sprachliche Bezeich-
nung als für die logische Bestimmung der Begriffe. Auch die abstrakte-
sten Gestaltungen der Sprache weisen noch deutlich den Zusammenhang
mit der primären Anschauungsgrundlage auf, in der sie ursprünglich
wurzeln. Auch hier trennt sich die Sphäre des „Sinns" nicht schlechthin
von der der „Sinnlichkeit", sondern beide bleiben aufs engste ineinander
verwoben. Der Schritt von der Welt der Empfindung zu der der „reinen
i46
Anschauung", den die Erkenntniskritik als ein notwendiges Moment im
Aufbau der Erkenntnis, als eine Bedingung des reinen Ichbegriffs, wie
des reinen Gegenstandsbegriffs aufweist, hat daher in der Sprache sein
genaues Gegenbild. Es sind auch hier die „Formen der Anschauung", in
deren Aufbau sich die Art und Richtung der in der Sprache waltenden,
geistigen Synthesis zunächst bekundet, und nur durch das Medium dieser
Formen hindurch, nur durch die Vermittlung der Anschauungen von
Raum, Zeit und Zahl vermag die Sprache ihre wesentlich logische Lei-
stung: die Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen zu vollziehen.
Vor allem ist es die räumliche Anschauung, an der sich dieses Inein-
ander des sinnlichen und des geistigen Ausdrucks in der Sprache durch-
gehend beweist. Gerade in den allgemeinsten Ausdrücken, die die Sprache
zur Bezeichnung geistiger Prozesse erschafft, tritt die entscheidende Mit-
wirkung der räumlichen Vorstellung aufs deutlichste hervor. Noch in den
höchstentwickelten Sprachen begegnet diese „metaphorische" Wiedergabe
geistiger Bestimmungen durch räumliche. Wie sich im Deutschen dieser
Zusammenhang in den Ausdrücken des Vorstellens und Verstehens, des
Begreif ens, des Begründens und Erörterns u. s. f. wirksam erweist1, so
kehrt er fast gleichartig nicht nur in den verwandten Sprachen des indo-
germanischen Kreises, sondern auch in völlig unabhängigen und weit ent-
legenen Sprachgebieten wieder. Insbesondere die Sprachen der Naturvölker
sind überall durch die Genauigkeit ausgezeichnet, mit der sie alle räumlichen
Bestimmungen und Unterschiede von Vorgängen und Tätigkeiten gleichsam
unmittelbar malend und mimisch zum Ausdruck bringen. So kennen z. B.
die amerikanischen Eingeborenensprachen nur selten irgendeine allge-,
meine Bezeichnung des Gehens, sondern sie besitzen statt dessen spezielle
Ausdrücke für das aufwärts und abwärts gehen, sowie für die sonstigen
mannigfachen Nuancen der Bewegung — und ebenso wird im Ausdruck
der Ruhelage das Stehen unter- und oberhalb, innerhalb und außerhalb
eines bestimmten Bezirks, das Stehen um etwas herum, das Stehen im
Wasser, im Wald u. s. f. genau unterschieden und gesondert bezeichnet.
Während die Sprache hier eine große Anzahl von Unterschieden, die wir
am Verbum ausdrücken, ganz unbezeichnet läßt oder nur sehr geringes
Gewicht auf sie legt, werden alle Bestimmungen des Ortes, der Lage und
1 „Begreifen geht, wie das einfache greifen, ursprünglich bloß auf die Berührung mit
Händen und Füßen, Fingern und Zehen" (Grimm, Dtsch. Wörterbuch I, Sp. 1807). —
Über den räumlichen Grundsinn des Ausdrucks „erörtern" vgl. Leibniz, Unvorgreif-
liche Gedanken betr. die Ausübung u. Verbesserung der teutschen Sprache S 54; s. auch
Nouv. Essais III, Kap. 1.
10* i47
der Entfernung durch Partikeln von ursprünglich lokaler Bedeutung stets
aufs sorgfältigste bezeichnet. Die Strenge und Genauigkeit, mit der diese
Bezeichnung durchgeführt wird, wird von den Kennern dieser Sprachen
oft geradezu als ihr fundamentales Prinzip und als ihr eigentlicher
charakteristischer Grundzug angesehen1. Von den malayo-polynesischen
Sprachen sagt Grawfurd, daß in ihnen die verschiedenen Stellungen des
menschlichen Körpers so scharf unterschieden würden, daß ein Anatom,
ein Maler oder Bildhauer daraus unmittelbar Nutzen ziehen könnte —
im Javanischen z.B. werden 10 verschiedene Arten des Stehens und 20
des Sitzens durch je ein besonderes Wort wiedergegeben2. Ein Satz, wie
unser Satz ,der Mann ist krank* kann in verschiedenen amerikanischen
Sprachen nur so ausgedrückt werden, daß in ihm mitbezeichnet wird, ob
das Subjekt, auf das sich die Aussage bezieht, sich in größerer oder
geringerer Entfernung vom Sprechenden oder Angesprochenen befindet, ob
es für beide sichtbar oder nichtsichtbar ist; ebenso wird häufig der Ort,
die Lage, die Stellung des Kranken durch die Form des Satzwortes an-
gedeutet3. Hinter dieser Schärfe der räumlichen Charakteristik treten alle
anderen Bestimmungen zurück oder sie kommen nur durch die Ver-
mittlung von Ortsbestimmungen zur indirekten Darstellung. Dies gilt
ebenso wie für die zeitlichen, auch für qualitative und modale
Unterschiede. So steht z. B. der Zweck einer Handlung für die konkrete
Anschauung stets in nächster Beziehung zu dem räumlichen Ziel, das sie
sich setzt, und zu der Richtung, in der dies Ziel verfolgt wird: demgemäß
wird häufig der „Finalis" oder „Intentionalis" des Verbums durch Zu-
fügung einer Partikel gebildet, die eigentlich der Ortsbezeichnung dient4.
In alledem offenbart sich ein gemeinsamer, auch erkenntniskritisch
höchst bedeutsamer Zug des sprachlichen Denkens. Kant fordert, um
die Anwendung der reinen Vers tan dsbegriffe auf die sinnlichen Anschau-
ungen zu ermöglichen, ein Drittes, Mittleres, in welchem beide, obwohl
1 S.z.B. Boas über das Kwakiutl: „The rigidity with which location in relation to the
Speaker is expressed, both in nouns and verbs, is one of the fundamental features of
the language" (Handb. of Amer. Ind. Lang. I, 445); ganz ebenso urteilt Gatschet,
Gramm, of the Klamath language, s. bes. S. 3o6ff. 433f., 46o.
2 Crawf urd, History of the Indian Archipelago II, S. 9, vgl. Codrington , Melanesian
languages S. i64f.: Everything and everybody spoken of are viewed as coming or going
or in some relation of place, in a way which to the European is by no means accu-
stomed ore natural."
3 Vgl. hrz. Boas, Handbook, S. 43ff.; 446.
4 Beispiele hierfür bei Westermann, Die Sudansprachen, S. 72; Die Gola-Sprache in
Liberia, Hamburg 192 1, S. 62 u. a.
i48
sie an sich völlig ungleichartig sind, übereinkommen müssen — und er
findet diese Vermittlung in dem „transzendentalen Schema", das einer-
seits intellektuell, andererseits sinnlich ist. In dieser Hinsicht unterscheidet
sich nach ihm das Schema vom bloßen Bild: „das Bild ist ein Produkt
des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema
sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Räume) ein Produkt und gleich-
sam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und
wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe
nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft
werden müssen und an sich demselben nicht völlig kongruieren1." Ein
solches „Schema", auf das sie alle intellektuellen Vorstellungen beziehen
muß, um sie dadurch sinnlich faßbar und darstellbar zu machen, besitzt
die Sprache in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhält-
nisse. Es ist, als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem
Sprachbewußtsein erst dadurch faßbar, daß sie sie auf den Raum pro-
jiziert und in ihm analogisch „abbildet". An den Verhältnissen des Bei-
sammen, des Neben- und Auseinander gewinnt es erst das Mittel zur Dar-
stellung der verschiedenartigsten qualitativen Zusammenhänge, Abhängig-
keiten und Gegensätze.
Schon an der Bildung der ursprünglichsten Raumwörter, die die
Sprache kennt, läßt sich dies Verhältnis erkennen und beleuchten. Sie
wurzeln noch ganz in der Sphäre des unmittelbar-sinnlichen Eindrucks;
aber sie enthalten auf der anderen Seite den ersten Keim, aus dem die
reinen Beziehungsausdrücke hervorwachsen. So sind sie ebensowohl dem
„Sinnlichen" wie dem „Intellektuellen" zugekehrt: denn wenn sie in
ihrem Anfang noch ganz stofflich sind, so schließt sich in ihnen anderer-
seits die eigentümliche Formwelt der Sprache erst eigentlich auf. Was
das erste Moment betrifft, so tritt es schon in der lautlichen Gestaltung
der Raumworte zutage. Abgesehen von den bloßen Interjektionen, die
aber noch nichts „besagen", die noch keinen objektiven Bedeutungs-
inhalt in sich schließen, gibt es kaum irgendeine Klasse von Worten,
denen der Charakter von „Naturlauten" so stark aufgeprägt wäre, als
den Worten zur Bezeichnung des Hier und Dort, des Fernen und Nahen.
Die deiktischen Partikeln, die zur Bezeichnung dieser Unterschiede dienen,
lassen sich in der Gestaltung, die sie in den meisten Sprachen erfahren,
noch fast durchweg als Nachwirkungen direkter „Lautmetaphern" er-
kennen. Wie der Laut in den verschiedenen Arten des Zeigens und Hin-
weisens selbst nur als Verstärkung der Gebärde dient, so tritt er auch
1 Krit. d. r. Vera., 2. Aufl., S. I77ff.
iÄ9
seiner gesamten Beschaffenheit nach hier noch nicht aus dem Gebiet der
vokalen Geste heraus. So begreift es sich, daß es fast überall dieselben
Laule sind, die in den verschiedensten Sprachen zur Bezeichnung gewisser
örtlicher Bestimmungen verwendet werden. Abgesehen davon, daß Vokale
verschiedener Qualität und Helligkeit der Abstufung im Ausdruck der
räumlichen Entfernung dienen, sind es gewisse Konsonanten und Kon-
sonantengruppen, denen eine ganz bestimmte sinnliche Tendenz inne-
wohnt. Schon in den ersten Lallwörtern der Kindersprache scheiden sich
scharf die Lautgruppen mit wesentlich „zentripetaler" Tendenz von denen
mit „zentrifugaler" Tendenz. Das m und n trägt ebenso deutlich die Rich-
tung nach innen, wie die nach außen sich entladenden Explosivlaute, das
p und b, das t und d das entgegengesetzte Streben bekunden. In dem einen
Falle bezeichnet der Laut ein Streben, das auf das Subjekt zurückweist;
im anderen schließt er eine Beziehung auf die „Außenwelt", ein Hin-
weisen, Fortweisen, Zurückweisen in sich. Wenn er dort den Gebärden
des Greifen-, Umfassen-, Zu-sich-heranziehen-Wollens entspricht, so ent-
spricht er hier den Gebärden des Zeigens und Wegstoßens. Aus diesem
ursprünglichen Unterschied erklärt sich die merkwürdige Gleichartigkeit,
mit der die ersten „Worte" der Kindersprache über die ganze Erde ver-
breitet sind1. Und dieselben Lautgruppen finden sich in wesentlich über-
einstimmender oder ähnlicher Funktion, wenn man die demonstrativen
Partikeln und Pronomina verschiedener Sprachen bis zu ihrem Ursprung
und zu ihrer frühesten lautlichen Gestalt zurückzuverfolgen sucht. Für
die Anfänge des Indogermanischen unterscheidet Brugmann eine drei-
fache Form des Hinweisens. Der „Ich-Deixis" steht hier inhaltlich und
sprachlich die „Du-Deixis" gegenüber, welch letztere selbst wieder in die
allgemeine Form der „Der-Deixis" übergeht. Hierbei ist die Du-Deixis
durch ihre Richtung und durch den dieser Richtung entsprechenden cha-
rakteristischen Laut, der in der urindogermanischen Demonstrativwurzel
Ho sich darstellt, bezeichnet, während die Rücksicht auf Nähe und Ent-
fernung in ihr zunächst noch keine Rolle spielt. Nur das „Gegenüber"
zum Ich, nur die allgemeine Beziehung auf das Objekt als Gegenstand
wird in ihr festgehalten; nur der Kreis außerhalb des eigenen Körpers
wird in ihr erstmalig hervorgehoben und abgegrenzt. Die weitere Ent-
wicklung führt dann dazu, innerhalb dieses Gesamtkreises die einzelnen
Bezirke deutlicher gegeneinander abzuheben2. Es scheidet sich das Dies
1 Näheres bei Wundt, Völkerpsychologie 2 I, 333 ff. und bei Clara und William Stern,
Die Kindersprache, S. 3ooff.
2 S. Brugmann, Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen (Abh. der
i5o
und Jenes, das Hier und Dort, das Nähere und Entferntere. Damit ist
durch die denkbar einfachsten sprachlichen Mittel eine Gliederung der
räumlichen Anschauungswelt erreicht, die in ihren geistigen Folgen von
unabsehbarer Bedeutung ist. Der erste Rahmen, in den sich alle weiteren
Unterscheidungen einfügen werden, ist geschaffen. Daß eine solche Lei-
stung einer bloßen Gruppe von „Naturlauten" zufallen kann, — das wird
erst ganz verständlich, wenn man sich gegenwärtig hält, daß der Akt
des Zeigens selbst, der in diesen Lauten festgehalten wird, neben seiner
sinnlichen Seite eine rein geistige Seite besitzt — daß sich schon in ihm
eine neue selbständige Energie des Bewußtseins ausprägt, die über das
Gebiet der bloßen Empfindung, deren auch das Tier fähig ist, hinaus-
reicht1.
Man begreift es demgemäß, daß gerade die Gestaltung der Demonstra-
tivpronomina zu jenen ursprünglichen „Elementargedanken" der Sprach-
bildung gehört, die in den verschiedensten Sprachgebieten gleichartig wie-
derkehren. Überall findet sich der Gebrauch, daß bestimmte Unterschiede
in der Lage oder Entfernung des Objekts, auf welches hingedeutet wird,
durch den einfachen Wechsel des vokalischen oder konsonantischen Lau-
tes ausgedrückt werden. Der stumpfere Vokal drückt hierbei meist den
Ort der angeredeten Person, das „Dort" aus, während der Ort des Re-
denden durch den schärferen Vokal bezeichnet wird2. Was die Bildung
der Demonstrativa durch konsonantische Elemente betrifft, so ist es fast
durchweg die Gruppe des d und it oder auch die des k und g, des b und p,
der die Rolle des Hinweises in die Ferne zufällt. Die indogermanischen,
die semitischen und die ural-altaischen Sprachen zeigen in diesem Ge-
brauch eine unverkennbare Übereinstimmung3. In einzelnen Sprachen
dient ein Demonstrativum zur Bezeichnung dessen, was im Wahrneh-
mungsbereich des Sprechenden, ein anderes für das, was im Wahrneh-
Kgl. Sachs. Gesellsch. der Wissensch.; Philol.-histor. Klasse XXII). Lpz. ioo4; vgl. auch
Brugmanns Grundriß II, 2, S. 3o2ff. —
1 S. ob. S. 127.
2 So in der Sprache von Tahiti, s. Humboldt, Kawi-Werk II, i53; für die afrika-
nischen Sprachen vgl. z.B. die Nama-Sprache und die Mande-Negersprachen s. Mein-
hof, Lehrb. der Nama-Sprache, S. 61, Steinthal, Mande-Negersprachen, S. 82; für
die amerikanischen Eingeborenensprachen vgl. das Klamath (Gatschet, Klamath lan-
guage, S. 538).
3 Diese Übereinstimmung tritt besonders deutlich hervor, wenn man den Angaben Brug-
manns für das Indogermanische (s. ob. S. i5o Anm. 2) die Angaben Brockelmanns und
Dillmanns für den semitischen Sprachkreis gegenüberstellt (s. Brockelmann, Grund-
riß I, 3i6ff. und Dillmann, Äthiop. Grammat. S. §bif.); für die ural-altaischen
Sprachen vgl. bes. H. Winkler, Das Uralaltaische und seine Gruppen, S. 26ff.
i5i
mungsbereich des Angesprochenen liegt; oder es wird die eine Form für
ein dem Redenden nahestehendes, die andere für ein vom Redenden und
Angeredeten gleich weit entferntes, eine dritte für ein abwesendes Objekt
gebraucht1.
So bildet auch für die Sprache die genaue Unterscheidung der räum-
lichen Stellen und der räumlichen Entfernungen den ersten Ansatz-
punkt, von dem aus sie zum Aufbau der objektiven Wirklichkeit, zur Be-
stimmung der Gegenstände fortschreitet. Auf der Differenzierung der
Orte gründet sich die Differenzierung der Inhalte — des Ich, Du und Er
auf der einen, wie der physischen Objektkreise auf der anderen Seite.
Die allgemeine Erkenntniskritik lehrt, daß der Akt der räumlichen
Setzung und der räumlichen Sonderung für den Akt der Objektivierung
überhaupt, für die „Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand" die
unentbehrliche Vorbedingung ist. Das ist der Kerngedanke, aus dem heraus
Kant seine „Widerlegung des Idealismus", als eines empirisch-psycho-
logischen Idealismus, geschaffen hat. Schon die bloße Form der räum-
lichen Anschauung trägt in sich den notwendigen Hinweis auf ein objek-
tives Dasein, auf ein Wirkliches „im" Räume. Die Entgegensetzung
eines „Innen" und „Außen", auf welcher die Vorstellung vom empi-
rischen Ich beruht, ist selbst nur dadurch möglich, daß zugleich mit ihm
ein empirischer Gegenstand gesetzt wird: denn das Ich vermag sich des
Wechsels seiner eigenen Zustände nur dadurch bewußt zu werden, daß
es ihn auf ein Dauerndes, auf den Raum und auf ein Beharrliches im
Räume bezieht. „Nicht allein, daß wir alle Zeitbestimmung nur durch
den Wechsel in äußeren Verhältnissen (die Bewegung), in Beziehung auf
das Beharrliche im Räume (z. B. Sonnenbewegung in Ansehung der Ge-
genstände der Erde) vornehmen können, so haben wir sogar nichts Be-
harrliches, was wir dem Begriffe einer Substanz als Anschauung unter-
legen könnten, als bloß die Materie . . . Das Bewußtsein meiner selbst
in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß
1 Der Unterschied in der Bezeichnung eines sichtbaren und unsichtbaren Objekts
ist in besonderer Schärfe in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen ausgeprägt (vgl.
bes. die Angaben über das Kwakiutl, die Ponca- und die Eskimosprache bei Boas,
Handbook S. 4if-, 4^5 ff., 945ff. und Gatschet, Klamath language, S. 538). Die
Bantusprachen besitzen die Demonstrativa in drei verschiedenen Formen: die eine
gibt an, daß das Gezeigte dicht bei dem Redenden ist, die andere, daß es bereits be-
kannt, also in den Gesichts- und Gedankenkreis des Redenden schon eingetreten ist; die
dritte, daß es vom Redenden sehr weit entfernt oder gar nicht zu sehen ist (Meinhof,
Bantugrammat., S. 3gf.). Für die Südseesprachen vgl. z.B. Humboldts Angaben
über das Tagalische (W. VI, i, 3i2f.)
l52
intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts.
Daher hat dieses Ich auch nicht das mindeste Prädikat der Anschauung,
welches als beharrlich der Zeitbestimmung im innern Sinne zum Kor-
relat dienen könnte1." Das Grundprinzip dieses Kantischen Beweises be-
steht darin, daß hier die besondere Funktion des Raumes als ein notwen-
diges Mittel und Vehikel für die allgemeine Funktion der Substanz und
deren empirisch-gegenständliche Anwendung aufgewiesen werden soll.
Erst aus dem wechselseitigen Ineinandergreifen beider Funktionen ge-
staltet sich für uns die Anschauung einer „Natur", eines selbständigen
Inbegriffs von Objekten. Indem ein Inhalt räumlich bestimmt, indem er
durch feste Grenzsetzungen aus der unterschiedslosen Gesamtheit des
Raumes herausgehoben wird, gewinnt er damit erst eine eigene Seinsge-
stalt: der Akt des „Herausstellens" und Absonderns, des ex-sistere, gibt
ihm erst die Form selbständiger „Existenz". Im Aufbau der Sprache
prägt sich dieser logische Sachverhalt darin aus, daß auch hier die
Konkretion der Orts- und Raumbezeichnung es ist, die zum Mittel
dient, um die Kategorie des „Gegenstandes" sprachlich immer schär-
fer herauszuarbeiten. In verschiedenen Richtungen der Sprachentwick-
lung läßt sich dieser Prozeß verfolgen. Wenn die Annahme zutrifft,
daß die Endungen des Nominativs bei den Masculina und Neutra
der indogermanischen Sprachen aus bestimmten Demonstrativpartikeln
hervorgegangen sind2, so hat hier ein Mittel der Ortsbezeichnung dazu ge-
dient, um die charakteristische Funktion des Nominativs, um seine Stel-
lung als „Subjektskasus" zum Ausdruck zu bringen. Zum „Träger" der
Handlung vermochte er erst dadurch zu werden, daß ihm ein bestimmtes
örtliches Kennzeichen, eine räumliche Determination beigegeben wurde.
Noch wesentlich schärfer aber tritt sodann dieses Ineinander der beiden
Momente, diese geistige Wechselwirkung zwischen der Kategorie des Rau-
mes und der der Substanz an einem eigentümlichen sprachlichen Gebilde
hervor, das geradezu aus dieser Wechselbestimmung herausgewachsen zu
sein scheint. Überall dort, wo die Sprache den Gebrauch des bestimmten Ar-
tikels ausgebildet hat,zeigt sich, daß das Ziel dieses Artikels in der bestimm-
teren Herausbildung der Subslanzvorstellung besteht, während sein Ur-
sprung unverkennbar dem Gebiet der räumlichen Vorstellung angehört. Da
der bestimmte Artikel eine relativ späte sprachliche Bildung ist, so läßt sich
1 Kdt. d. rein. Vernunft, 2. Aufl., S. 277L
2 Vgl. Brugmann, Grundriß 2 II, 2, ^5, wonach das Nominativ-s mit dem Demon-
strativpronomen *so (ai: sa) identisch ist und das -m des Neutrums wahrscheinlich gleich-
falls auf , eine ferndeiktische Partikel zurückgeht.
i53
dieser Übergang vielfach an ihm noch unmittelbar deutlich machen. Im In-
dogermanischen läßt sich die Entstehung und Ausbreitung des Artikels ge-
schichtlich noch im einzelnen verfolgen. Er fehlt hier nicht nur dem Altindi-
schen, dem Altiranischen und Lateinischen, sondern auch der älteren
griechischen, insbesondere der Homerischen Sprache: erst die attische
Prosa wendet ihn regelmäßig an. Auch im Germanischen hat sich der
Gebrauch des bestimmten Artikels erst im Mittelhochdeutschen als Regel
festgesetzt. Die slawischen Sprachen haben einen abstrakten Artikel mit
durchaus konsequenter Anwendung überhaupt nicht entwickelt1. Ähn-
liche Verhältnisse zeigen sich im semitischen Sprachkreis, in welchem der
Artikel zwar im allgemeinen verwendet wird, in denen aber einzelne Spra-
chen, wie das Äthiopische, die hierin auf einer älteren Stufe stehen ge-
blieben sind, gleichfalls keinen Gebrauch von ihm machen2. Wo immer
aber dieser Gebrauch durchdringt, da ist er deutlich als eine einfache Ab-
spaltung aus dem Kreise der demonstrativen Pronomina zu erkennen.
Aus der Form der „Der-Deixis" geht der bestimmte Artikel hervor —
der Gegenstand, auf den er sich bezieht, wird durch ihn als das „Drau-
ßen" und „Dort" Befindliche, vom „Ich" und „Hier" örtlich Geschiedene
gekennzeichnet3.
Aus dieser Genesis des Artikels heraus wird es verständlich, daß er
seine allgemeinste sprachliche Funktion, als Ausdruck der Substanzvor-
stellung zu dienen, nicht unmittelbar, sondern nur durch eine Reihe von
Vermittlungen hindurch, erlangt. Die Kraft der „Substantivierung", die
ihm eignet, bildet sich erst allmählich heraus. In den Sprachen der Natur-
völker finden sich gewisse Demonstrativpronomina, die ganz im Sinne
des bestimmten Artikels gebraucht werden; aber dieser Gebrauch bleibt
nicht eindeutig auf die Klasse der „substantivischen" Wörter bezogen.
Im Ewe steht der Artikel, der hier dem Wort, auf das er hinweist, nach-
gestellt wird, nicht nur nach Substantiven, sondern auch nach dem abso-
luten Pronomen, nach Adverbien und nach Konjunktionen4. Und auch
dort, wo er sich im Kreise der Dingbezeichnung, der eigentlich-„ge-
genständlichen" Vorstellung hält, läßt sich noch deutlich verfolgen,
daß der allgemeine Ausdruck der „Objektivierung", den er in sich
1 Vgl. hrz. bes. den Abschnitt „vom Artikel" in Grimms Deutscher Grammatik (I,
366ff.); zum Slawischen s. Miklosich, Vgl. Grammat. der slawischen Sprachen, 2 IV,
I2Ö.
2 S. Dillmann, Grammatik der äthiop. Sprache, S. 333ff., Brockelmann, Grund-
riß I, 466.
3 Vgl. Brugmann, Grundriß 2 II, 2, 3i5.
4 Näheres bei Westermann, Grammat. der Ewe-Sprache, S. 6i.
i54
schließt, erst allmählich aus spezielleren Bedeutungen sich entfaltet. Je
weiter wir den Gebrauch des Artikels zurück verfolgen können, um
so „konkreter" scheint dieser Gebrauch zu werden: statt einer univer-
sellen Form des Artikels finden wir hier verschiedene Arten desselben,
die je nach der Qualität der besonderen Objekte und Objektkreise
wechseln. Die allgemeine Funktion, der er sprachlich und gedanklich
dient, hat sich hier von der Besonderheit der Inhalte, auf welche sie an-
gewandt wird, noch nicht gelöst. Die indonesischen Sprachen kennen
neben dem sachlichen Artikel einen eigenen persönlichen Artikel, der vor
die Namen von Individuen oder Stämmen oder auch vor Verwandtschafts-
namen tritt, nicht um sie in irgendeiner Weise näher zu qualifizieren,
sondern lediglich um sie als Personennamen, als Eigennamen zu kenn-
zeichnen1. Die Sprache der Ponca-Indianer unterscheidet scharf zwischen
den „Artikeln", die für unbelebte, und denen, die für belebte Gegenstände
gebraucht werden: unter den ersteren erhalten weiterhin z. B. horizontale
und runde Gegenstände, verstreute Objekte oder Kollektiva je einen be-
sonderen Artikel; während in der Anwendung des Artikels bei einem be-
lebten Wesen genau auseinandergehalten wird, ob es sitzt oder steht oder
sich bewegt2. In besonders merkwürdiger und lehrreicher Weise aber
zeigen gewisse Erscheinungen der Somali-Sprache die konkret-anschauliche
Grundbedeutung, die dem Artikel ursprünglich eignet. Das Somali be-
sitzt drei Formen des Artikels, die sich durch den auslautenden Vokal
( — a, — i und — o [resp. u]) von einander unterscheiden. Das Bestim-
mende für die Anwendung der einen oder anderen Form ist hierbei das
räumliche Verhältnis der Person oder Sache, von der die Rede ist, zum
redenden Subjekt. Der auf — a auslautende Artikel bezeichnet eine Per-
son oder Sache, die sich in unmittelbarer Nähe des Subjekts befindet*
für dasselbe sichtbar ist und auch tatsächlich von ihm gesehen wird; der
auf — o auslautende bezieht sich auf eine von ihm mehr oder weniger ent-
fernte Person oder Sache, die aber in den meisten Fällen ebenfalls in
Sicht des Redenden ist, während der mit — i endende Artikel einen In-
halt bezeichnet, der dem Subjekt irgendwie bekannt, aber ihm nicht sicht-
bar gegenwärtig ist3. Hier läßt es sich gleichsam mit Händen greifen,
daß die allgemeine Form der „Substanziierung", der Gestaltung zum
1 S. Codrington, Melanes. languages, S. io8ff.; vgl. bes. Brandstetter, Der Artikel
des Indonesischen verglichen mit dem des Indogermanischen, Lpz. 19 13.
2 Boas und Swanton, Siouan (Handb. of Americ. Ind. lang. I, o^ff.).
3 Näheres hierüber bei Maria v. Tiling, Die Vokale des bestimmten Artikels im So-
mali, Zeitschr. für Kolonialsprachen IX, i32ff.
i55
„Ding", die sich im Artikel ausdrückt, wie sie aus der Funktion des räum-
lichen Hinweises entspringt, so in ihr zunächst noch durchaus gebunden
bleibt: — daß sie sich den verschiedenen Demonstrationsarten und
ihren Modifikationen aufs nächste anschmiegt, bis endlich, in einem
relativ späten Stadium, die Ablösung der reinen Substanzkategorie
von den besonderen Formen der räumlichen Anschauung sich voll-
zieht. —
Versucht man weiterhin, den Wegen zu folgen, die die Sprache ein-
schlägt, um von den ersten scharf ausgebildeten örtlichen Unterschei-
dungen zu allgemeinen Raumbestimmungen und Raumbezeichnungen zu
gelangen, so scheint sich auch hier zu bewähren, daß die Richtung dieses
Prozesses von innen nach außen geht. Die „Unterscheidung der Gegen-
den im Räume" nimmt ihren Ausgang von dem Punkt, in welchem sich
der Sprechende selbst befindet, und sie dringt von hier aus in konzentrisch
sich ausbreitenden Kreisen zur Gliederung des objektiven Ganzen, des
Systems und Inbegriffs der Lagebestimmungen vor. Die Unterschiede des
Ortes sind anfangs aufs engste verknüpft mit bestimmten materiellen
Unterschieden — und von diesen ist es insbesondere die Unterscheidung
der Gliedmaßen des eigenen Leibes, die als Ausgangspunkt aller weiteren
Ortsbestimmungen dient. Nachdem sich für den Menschen das Rild des
eigenen Körpers einmal scharf ausgeprägt hat, nachdem er ihn als einen
in sich geschlossenen und in sich gegliederten Organismus erfaßt hat,
dient er ihm gleichsam zum Modell, nach welchem er sich das Ganze
der Welt aufbaut. Hier besitzt er eine ursprüngliche Koordinationsebene,
auf die er sich im weiteren Fortgang immer wieder zurückzieht und zu-
rückbezieht — und der er demgemäß auch die Renennungen entnimmt,
die dazu dienen, diesen Fortgang sprachlich zu bezeichnen.
In der Tat ist es eine fast durchgehend beobachtete Tatsache, daß der
Ausdruck räumlicher Reziehungen aufs engste an bestimmte Stoff-
worte gebunden ist, unter denen wieder die Worte zur Rezeichnung der
einzelnen Teile des menschlichen Körpers den ersten Platz einnehmen.
Das Innen und Außen, das Vorn und Hinten, das Oben und Unten erhält
seine Rezeichnung dadurch, daß sie je an ein bestimmtes sinnliches Sub-
strat im Ganzen des menschlichen Leibes angeknüpft werden. An der
Stelle, wo die höher entwickelten Sprachen Präpositionen oder Postposi-
tionen zum Ausdruck räumlicher Verhältnisse zu verwenden pflegen,
begegnen demgemäß in den Sprachen der Naturvölker fast durchweg
nominale Ausdrücke, die entweder selbst Namen von Körperteilen sind
oder deutlich auf solche zurückgehen. Die Mande-Negersprachen drücken
i56
nach Steinthal unsere präpositionalen Begriffe „sehr materiell" dadurch
aus, daß sie für „hinter" ein selbständiges Substantivum, das Rücken-
oder Hinterteil bedeutet, für „vor" ein Wort, das Auge bedeutet, ver-
wenden, während „auf" durch ein Wort wie Nacken, „in" durch Bauch
u. s. f. wiedergegeben wird1. In gleicher Funktion werden in anderen
afrikanischen Sprachen, sowie in den Südseesprachen, Worte wie Gesicht
und Rücken, wie Kopf und Mund, Lende und Hüfte gebraucht2. Und
wenn dies auf den ersten Blick vielleicht als eine besonders „primitive"
Bezeichnungsweise erscheinen mag, so zeigt sich doch, daß sie noch auf
weit fortgeschrittenen Stufen der Sprachbildung ihr genaues Ana-
logon und Gegenbild besitzt3. Andererseits pflegt freilich die Sprache
nicht dabei stehen zu bleiben, lediglich die Bezeichnungen für die
Glieder und Organe des menschlichen Leibes als solche „Raumsub-
stantiva" zu verwenden, sondern sie schreitet, indem sie das Prinzip
dieser Bezeichnung festhält, zu einer allgemeinen Anwendung des-
selben fort. Die Bezeichnung des „hinter" kann, statt durch ein Wort*
wie Rüchen, auch durch ein Wort wie: „Spur", die des „unter" auch
durch ein Wort wie Boden oder Erde, die des „über" auch durch ein
Wort wie Luft zum Ausdruck gebracht werden4. Jetzt wird also die
Bezeichnung nicht mehr ausschließlich dem Umkreis des eigenen Leibes
entnommen; aber das Verfahren, das die Sprache in ihrer Darstellung
der örtlichen Beziehungen befolgt, ist das gleiche geblieben. Die Vor-
stellung eines konkreten räumlichen Gegenstands beherrscht den Aus-
druck der räumlichen Relationen. Ganz besonders deutlich tritt dies in
der Gestaltung hervor, die die räumlichen Beziehungsworte in den meisten
ural-altaischen Sprachen erfahren: auch hier sind es durchweg nominale
Ausdrücke, wie Oberteil oder Gipfel, Unterteil, Spur, Mitte, Umkreis,
1 Steinthal, Mande-Negersprachen, S. aßöff.
2 S. Westermann, Sudansprachen, S. 53ff.; Gola-Sprache, S. 36f.; Reinisch, Die
Nuba-Sprache, Wien 1879, S. I23ff.; für die Südseesprachen vgl. H. C. v. d. Gabe-
lentz, Die melanes. Sprachen, S. i58, 23off., Sidney H. Ray, The Melanesian Pos-
sessives and a Study in Method (Americ. Anthropologist XXI, 35a ff.).
3 Im Ägyptischen, das eigentliche Präpositionen entwickelt hat, zeigt sich der oir-
sprünglich nominale Charakter derselben noch deutlich darin, daß sie mit Possessiv-
suffixen verbunden werden; die Analyse dieser „Präpositionen" führt auch hier viel-
fach unmittelbar auf die Namen von Körperteilen zurück. (Vgl. Erman, Ägypt.
Grammat.3, Berlin 1911, S. a3i, 238f.; Steindorff, Koptische Grammatik2, Berlin
1904, S. I73ff. Für den ursprünglich nominalen Charakter der semitischen Präpo-
silionen vgl. bes. Brockelmann, Grundriß I, /49/iff.
4 Eine große Fülle solcher teils spezieller, teils allgemeiner „Lokalsubstantiva" hat z.B.
das Ewe entwickelt; vgl. Westermanns Ewe-Grammatik, S. 52ff.
iÖ7
die für die Bezeichnung des Über und Unter, des Vor und Hinter, des
rings herum u. s. f. verwendet werden K
Und selbst dort, wo die Sprache im Ausdruck der rein gedanklichen
Beziehungen bereits zu großer Freiheit und zu abstrakter Klarheit ge-
langt ist, schimmert die alte räumliche und damit mittelbar die sinn-
lich-materielle Grundbedeutung, von der die Bezeichnung ursprünglich
ausging, meist noch sehr deutlich hindurch. Daß auch im Indogermani-
schen die „Präpositionen" anfangs selbständige Wörter gewesen sein
müssen, wird u. a. schon dadurch erwiesen, daß sie in ihrer Zusammen-
setzung mit Verbalstämmen diesen nur ganz locker verbunden erscheinen,
so daß z. B. Augment und Reduplikation bei derartigen Zusammensetzun-
gen zwischen die Präposition und die Verbalform tritt2. Auch zeigt die
Entwicklung einzelner indogermanischer Sprachen, z. B. der slawischen
Sprachen, wie hier noch fort und fort jüngere „unechte" Präpositionen
entstehen können, bei denen die materielle Bedeutung entweder im Sprach-
bewußtsein selbst lebendig bleibt oder durch die sprachgeschichtliche*
Betrachtung unmittelbar aufweisbar ist3. Allgemein zeigt sich, daß die
indogermanischen Kasus formen von jeher der Darstellung äußerer ört-
lich-zeitlicher oder sonstiger anschaulicher Bestimmungen gedient haben,
und daß sie von hier aus erst allmählich ihren späteren „abstrakten"
Sinn gewonnen haben. So ist der Instrumentalis ursprünglich der Mit-
Kasus, der sodann, indem die Anschauung der räumlichen Begleitung
in die des begleitenden und modifizierenden Umstands übergeht, zur
Angabe des Mittels oder des Grundes einer Handlung wird. Aus dem
räumlichen „Woher" entfaltet sich das kausale „Wodurch", aus dem
„Wohin" der allgemeine Gedanke des Ziels und des Zwecks4. Man hat
freilich die lokalistische Kasustheorie nicht nur aus sprachgeschicht-
lichen Gründen, sondern aus allgemein-erkenntnistheoretischen Er-
wägungen heraus ebenso oft bestritten, wie man sie durch Erwägungen
1 Beispiele aus dem Jakutischen bei Boethlingk, a. a. O. S.3()i; aus dem Japanischen
bei Hoffmann, Japanische Sprachlehre, Leiden 1877, S. i88ff., io^ff.; s. auch Hein-
rich Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, Berlin 1909, S. i47ff-
2 S. hrz. G. Curtius, Das Verbum in der griechischen Sprache2!, i36.
3 Näheres bei Miklosich, Vergl. Grammat. der slaw. Sprachen, 2 IV, 196. Auch in
anderen flektierenden Sprachen, z.B. in den semitischen Sprachen, sind solche Neubil-
dungen häufig; Ygl. z. B. die Liste der „neuen Präpositionen", die sich im Semitischen
aus den Namen von Körperteilen entwickelt haben, in Brockelmanns Grundriß II,
421 ff.
4 Näheres hierüber bei Brugmann, Grundriß 2 II, 464ff-, 473, 5i8 u. s. w., bei
Delbrück, Vergl. Syntax der indogerman. Spr. I, 188.
i58
dieser Art zu begründen und zu stützen versucht hat. Wenn im Sinne
der lokalistischen Auffassung darauf hingewiesen wurde, daß alle Ent-
wicklung der Sprache, wie die des Denkens überhaupt, vom Anschau-
lichen, vom „Konkret-Lebensvollen" zum Begrifflichen gehen müsse, und
daß dadurch der ursprünglich-örtliche Charakter aller Kasusbestimmun-
gen gewissermaßen a priori erwiesen sei1, so wurde diesem Argument
entgegengehalten, daß hier der Begriff der Anschauung zu Unrecht auf
ein bestimmtes Einzelgebiet, auf das Gebiet der räumlichen Anschauung,
eingeengt werde. Nicht nur die Bewegung im Räume, sondern auch man-
nigfache andere dynamische Verhältnisse, wie Sieg und Unterliegen,
Wirken und Gewirktes seien unmittelbar anschaulich gegeben, — seien
etwas, das mit Augen gesehen werde2. Dieser Einwand aber, der von
B. Delbrück erhoben worden ist, ist freilich — zum mindesten in der
Form, in welche er hier gefaßt wird — nicht haltbar. Denn seit Humes
Analyse des Kausalbegriffs leidet es keinen Zweifel, daß es keine sinn-
liche Impression und keine unmittelbare Anschauung dessen gibt, was wir
den Vorgang des „Wirkens" nennen. Alles was uns von der Beziehung
zwischen Ursache und Wirkung jeweils „gegeben" ist, geht in die Fest-
stellung bestimmter örtlicher und zeitlicher Verhältnisse, in Verhältnisse
des Neben- und Nacheinander auf. Auch Wundt, der gegen die lokali-
stische Ansicht einwendet, daß das Räumliche keineswegs alle sinnlich-
anschaulichen Eigenschaften der Gegenstände erschöpfe, bricht doch die-
sem Einwand dadurch wieder die Spitze ab, daß er unmittelbar darauf
anerkennt, daß den räumlichen Eigenschaften vor allen anderen ein cha-
rakteristischer Vorzug eigne: denn alle anderen Beziehungen seien im-
mer zugleich räumlicher Art, während nur die räumlichen Verhältnisse
auch für sich allein den Inhalt einer Anschauung bilden könnten3. Da-
mit wird von vornherein wahrscheinlich, daß auch die Sprache zum Aus-
druck der rein „intellektuellen" Beziehungen erst fortschreiten kann, in-
dem sie dieselben aus ihrer Verknüpfung mit räumlichen herauslöst und
sie aus diesen letzteren gleichsam „ersondert". Im fertigen Gliederbau
unserer Flexionssprachen läßt sich freilich in jeder der Hauptkasus-
formen stets auch eine bestimmte logisch-grammatische Funktion er-
kennen, der sie wesentlich dienen. Durch den Nominativ wird der Träger
der Handlung, durch den Akkusativ oder Genitiv wird ihr Objekt, so-
1 S. hrz. Whitney, General considerations on the European case-system, Transact. of
the Americ. Philol. Assoc. XIII (1888), S. 88ff .
2 Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, Straßb. 1901, S. i3off.
3 Wundt, a.a.O., II, 7aff.
i5g
fern es ganz oder teilweise von ihr betroffen wird, bezeichnet — und
selbst die im engeren Sinne lokalen Kasus lassen sich diesem Schema
einreihen, sofern sich in ihnen, neben ihrem spezifisch-örtlichen Sinn
zugleich ein allgemeines Verhältnis ausdrückt, in welchem der Substantiv-
begriff zum Verbalbegriff steht1. Aber wenn, von hier aus gesehen, der
logisch-grammalische Sinn gegenüber dem räumlich-anschaulichen leicht
als das tiqozeqov ty\ <pvoei erscheinen kann, so führen doch anderer-
seits erkenntniskritische wie sprachgeschichtliche Erwägungen notwendig
darauf, in diesen letzteren das eigentliche tiqoteqov jiqos fj/uäg zu erkennen.
Die Vorherrschaft der räumlichen Bedeutung gegenüber der gramma-
tisch-logischen macht sich in der Tat um so stärker geltend, je mehr
man die Sprachen berücksichtigt, die in der Bildung der „Kasusformen"
die größte Fruchtbarkeit entfaltet haben. Neben den amerikanischen Ein-
geborenensprachen2 sind es vor allem die Sprachen des ural-altaischen
Kreises, die in dieser Hinsicht allen anderen voranstehen. Aber gerade
sie haben es zur Bildung der drei „eigentlich-grammatischen" Kasus
nicht gebracht, so daß die Verhältnisse, die im Indogermanischen durch
den Nominativ, Genitiv und Akkusativ ausgedrückt sind, hier lediglich
durch den Zusammenhang angedeutet werden. Ein eigentlicher Nominativ
als Subjektskasus fehlt, auch der Genitiv findet entweder gar keinen
formellen Ausdruck oder er wird durch eine reine „Adessivform", die
nichts als die örtliche Anwesenheit bezeichnet, vertreten. Um so üppiger
aber wuchern hier die Ausdrücke für die rein räumlichen Bestimmungen.
Neben den Bezeichnungen des Orts als solchen findet sich die größte
Mannigfaltigkeit und Präzision in den besonderen Bezeichnungen für die
Stelle eines Dinges oder für die Richtung einer Bewegung. Es entstehen
auf diese Weise allative und adessive, inessive und illative, translative,
delative und sublative Kasus, durch welche die Ruhe im Innern des
Gegenstandes, das Sein bei ihm, das Hineinlangen in ihn, das Hervor-
gehen aus ihm u. s. f. zur Darstellung kommen3. „Diese Sprachen" —
1 Vergl. hrz. die Darstellung der indogerman. Kasuslehre bei Delbrück, Vergl. Syn-
tax I, i8iff.
2 Zur „Kasusbildung" der amerikanischen Sprachen s. z. B. die Zusammenstellung aus
der Eskimosprache, die Thalbitzer (in Boas' Handbook I, ioi7ff.) gibt: hier wird
u. and. ein Allativ, Lokativ, Ablativ, Prosekutiv unterschieden. Gatschets Grammatik
der Klamath-Sprache unterscheidet einen „Inessiv" und „Adessiv", einen „Direktiv" und
„Prosekutiv" sowie eine Fülle anderer Bestimmungen, deren jede durch eine besondere
örtliche Kasusendung zum Ausdruck kommt (a.a.O., S. 479ff-, 489).
3 S. hrz. bes. das sehr reichhaltige Material bei H. Winkler, Das Uralaltaische und
seine Gruppen (bes. S. ioff) und den Abschnitt „Indogermanische und uralaltaische
160
so beschreibt Fr. Müller das geistige Verfahren, das hier zugrunde
liegt — „bleiben beim Objekt einfach nicht stehen, sondern sie dringen,
möchte man sagen, in das Innere des Objekts ein und bringen das Innere
zum Äußeren, das Obere zum Unteren desselben in einen förmlichen
Gegensatz. Durch Kombinierung der drei Verhältnisse: Ruhe, Bewegung
gegen den Gegenstand und Bewegung vom Gegenstande weg mit den
Kategorien des Innen und Außen und in einigen Sprachen des Oben, ent-
steht eine Menge von Kasusformen, für die unseren Sprachen ganz das
Gefühl mangelt und die wir auch infolgedessen in adäquater Weise wie-
derzugeben nicht imstande sind1." Für die Nähe, in der dieser rein
anschauliche Ausdruck der Kasusverhältnisse sich noch zum bloß
sinnlichen Ausdruck hält, ist es hierbei bezeichnend, daß bei aller
Feinheit in der Differenzierung der räumlichen Verhältnisse diese
selbst noch durchweg durch substantivische Stoffworte wiedergegeben
werden.
Freilich schließt der Ausdruck der Richtung und der Richtungs-
unterschiede, so sinnlich er sich in der Sprache immer gestalten mag,
gegenüber dem bloßen Ausdruck des Seins, des Verharrens an einem
Orte, doch stets ein neues geistiges Moment in sich. Ähnlich wie die
Raumsubstantiva dienen in vielen Sprachen auch Raumverba zur Be-
zeichnung der Verhältnisse, die wir durch Präpositionen wiederzugeben
pflegen. Humboldt, der diesen Gebrauch im Kawi-Werk durch Bei-
spiele aus dem Javanischen verdeutlicht, fügt hinzu, daß sich darin,
gegenüber der Anwendung der Raumsubstantiva, ein feinerer Sprach-
sinn zu bekunden scheine, da der Ausdruck einer Handlung sich von aller
stofflichen Beimischung schon freier halte, als dies in der Bezeichnung
durch ein bloßes Dingwort der Fall sei2. In der Tat beginnen hier im
Gegensatz zu dem substantivis tischen Ausdruck, dem stets etwas Starres
eignet, die Raum Verhältnisse gleichsam flüssig zu werden. Der selbst noch
ganz anschauliche Ausdruck einer reinen Aktion bereitet den künftigen
gedanklichen Ausdruck der reinen Relationen vor. Wieder knüpft hier zu-
meist die Bestimmung an den eigenen Körper an, aber es sind jetzt
nicht mehr seine einzelnen Teile, sondern seine Bewegungen, es ist ge-
wissermaßen nicht mehr sein bloßes materielles Sein, sondern sein Tun,
worauf sich die Sprache stützt. Auch sprachgeschichtliche Gründe
Kasus" in Uralaltaische Völker und Sprachen, Berlin i884, S. 171 ff., vgl. auch Grun-
zel, Vergl. Grammat. der altaischen Sprachen, S.
1 Fr. Müller, Grundriß II, 2, 204.
2 Humboldt, Kawi-Werk II, i64ff., 34i u. ö.
1 1
l6l
sprechen dafür, daß in einzelnen Sprachen, in denen die Raumverba
neben den Raumsubstantiven auftreten, diese die frühere, jene die relativ
spätere Bildung darstellen1. Dabei wird zunächst der Unterschied des
„Sinnes" der Bewegung, der Unterschied der Bewegung von einem Orte
her und nach diesem Orte hin, durch die Wahl des Verbums und
durch seine inhaltliche Bedeutung wiedergegeben. In abgeschwächter
Form erscheinen dann diese Verba in der Art von Suffixen, durch die die
Art und Richtung der Bewegung gekennzeichnet wird. Die amerikanischen
Eingeborenensprachen bringen durch solche Suffixe zum Ausdruck, ob die
Bewegung innerhalb oder außerhalb eines bestimmten Raumes, insbeson-
dere innerhalb oder außerhalb des Hauses erfolgt, ob sie über die See
oder über einen Streifen festen Landes, ob sie durch die Luft oder durch
das Wasser geht, ob sie vom Landinnern auf das Ufer, oder vom Ufer
aus auf das Landinnere, vom Feuerplatz auf das Haus oder von diesem
zu jenem erfolgt2. Aus der Fülle all dieser Unterschiede, die durch den
Ausgangspunkt und Zielpunkt der Bewegung und durch die Art und
Mittel ihrer Ausführung gegeben sind, aber hebt sich vor allem ein
bestimmter Gegensatz heraus, der mehr und mehr in den Mittelpunkt
der Bezeichnung rückt. Das natürliche, das im gewissen Sinne „ab-
solute" Koordinatensystem für alle Darstellung von Bewegungen ist
für die Sprache offenbar in dem Ort des Redenden und in dem Ort
der angeredeten Person gegeben. So wird vielfach mit großer Ge-
nauigkeit und Schärfe unterschieden, ob eine besondere Bewegung
vom Redenden zum Angeredeten hin, oder ob sie von diesem zu
jenem oder endlich, ob sie vom Redenden zu einer dritten, nicht ange-
redeten Person oder Sache hin erfolgt3. Auf derartigen konkreten Un-
terscheidungen, wie sie durch die Anknüpfung an irgendein sinnliches
Ding oder durch die Anknüpfung an das „Ich" und „Du" gegeben sind,
fußt die Sprache, um aus ihnen sodann die allgemeineren und „abstrak-
teren" Bezeichnungen zu entwickeln. Es können jetzt bestimmte Klassen
und Schemata von Richtungssuffixen entstehen, die das Ganze der mög-
lichen Bewegungen nach gewissen Hauptpunkten des Raumes, insbeson-
1 Für die melanesischen Sprachen vgl. Codrington, Melanes. languages S. i58.
2 S. hrz. bes. die Beispiele aus dem Athapaskischen bei Goddard, aus dem Haida bei
Swanton, aus dem Tsimshian bei Boas (Handbook of Americ. Ind. lang. I, 112 ff.,
a44ff., 3ooff.).
3 Beispiele hierfür finden sich insbesondere bei Humboldt, der auf diesen Unterschied
der Ausdrucksformen zuerst hingewiesen hat (Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien
mit dem Pronomen W. VI, 1, 3nff.); vgl. auch Fr. Müller, Reise der österr. Fre-
gatte Novara III, 3 12.
162
dere nach den Haupthimmelsrichtungen, ein teilen1. Allgemein scheint es,
daß die verschiedenen Sprachen in der Art, wie sie den Ausdruck der Ruhe
und den der Richtung gegeneinander abgrenzen, sehr verschiedene Wege
einschlagen können. Die Akzente können zwischen beiden in der mannig-
fachsten Weise verteilt werden : wenn Sprach typen von rein „gegenständ-
lichem* ' Typus, von ausgesprochen nominaler Form, den Ortsbezeich-
nungen vor den Bewegungsbezeichnungen, dem Ausdruck der Ruhe vor
dem der Richtung den Vorrang geben werden, so wird in den verbalen
Sprachtypen im allgemeinen das umgekehrte Verhältnis obwalten. Eine
mittlere Stellung nehmen hier vielleicht diejenigen Sprachen ein, die
zwar an dem Primat des Ausdrucks der Ruhe vor dem der Richtung
festhalten, dagegen auch den ersteren verbal gestalten. So wenden z. B.
die Sudansprachen zum Ausdruck der Raumverhältnisse, wie des Oben
und Unten, des Innen und Außen, durchweg Raumsubstantiva an, die
aber selbst noch ein Verbum in sich schließen, das das Verweilen an einem
Ort bezeichnet. Dieses „Lokalverbum" wird stets gebraucht, um eine Tä-
tigkeit auszudrücken, die an einer bestimmten Stelle vor sich geht2. Es ist,
als könne sich die Anschauung der Tätigkeit selbst von der des bloß
örtlichen Daseins nicht losreißen, als bleibe sie in ihr noch gewisser-
maßen gefangen3, aber auf der anderen Seite erscheint auch dieses Da-
sein, erscheint auch die bloße Existenz an einem Orte noch wie eine Art
tätigen Verhaltens des Subjekts, das sich in ihm befindet. Auch hier zeigt
sich, wie sehr die ursprüngliche Anschauung der Sprache in der „Ge-
gebenheit" des Raumes verharrt, und wie sie nichtsdestoweniger notwen-
dig über sie hinausgetrieben wird, sobald sie zur Darstellung der Bewe-
gung und der reinen Tätigkeit übergeht. Je energischer sich die Betrach-
tung dieser letzteren zuwendet und je schärfer sie in ihrer Eigenart
erfaßt wird, um so mehr muß sich schließlich die rein gegenständliche,
1 S. z. B. eine Liste solcher Suffixe im Nikobar bei P. W. Schmidt, Die Mon-Khmer-
Völker ein Bindeglied zwischen Völkern Zentralasiens und Austronesiens, Braunschweig
1906, s. 57.
2 Ein Satz, wie „er arbeitet auf dem Felde" erhält also in diesen Sprachen durch An-
wendung des „Lokal- und Ruheverbums", das das „Sein an einem Orte" ausdrückt, etwa
die Form: „er arbeitet, ist des Feldes Innerem"; ein Satz, wie ,die Kinder spielen auf
der Straße' lautet, wörtlich übersetzt, ,die Kinder spielen, sind der Straße Fläche',
s. West ermann, Die Sudansprachen, S. 5iff,
3 In den Sudan- und B antusprachen, sowie im größten Teil der hamitischen Sprachen
wird eine Bewegung, die wir nach ihrem Ziel und Resultat bezeichnen, nach ihrem An-
fang und ihrem örtlichen Ausgangspunkt bezeichnet, s. die Beispiele bei Meinhof,
Die Sprachen der Hamiten, S. 20 Anm. Über analoge Erscheinungen in den Südsee-
sprachen s. Codrington, Melanes. languages, S. 109 f.
11*
i63
die substantielle Einheit des Raumes zur dynamisch-funktionalen Einheit
umgestalten, muß der Raum selbst gleichsam als das Ganze der Aktions-
richtungen, der Rieht- und Kraftlinien der Bewegung aufgebaut werden.
Hier geht somit in den Aufbau der Vorstellungswelt, den wir bisher
wesentlich nach der objektiven Seite hin verfolgt haben, ein neuer Faktor
ein. Es bewährt sich nun in diesem Einzelgebiet der Sprachbildung das
allgemeine Gesetz jeder geistigen Form, wonach ihr Gehalt und ihre Lei-
stung nicht in der einfachen Abbildung eines gegenständlich Vor-
handenen, sondern in der Schaffung einer neuen Beziehung, einer
eigentümlichen Korrelation zwischen „Ich" und „Wirklichkeit", zwischen
der „subjektiven" und der „objektiven" Sphäre besteht. Auch in der
Sprache wird kraft dieser Wechselbeziehung der „Weg nach außen" zu-
gleich zum „Weg nach innen". An der wachsenden Bestimmtheit, die in
ihr die äußere Anschauung gewinnt, gelangt auch die innere erst zur
wahrhaften Entfaltung: gerade die Gestaltung der Raumworte wird für
die Sprache zum Medium für die Bezeichnung des Ich und für seine Ab-
grenzung gegen andere Subjekte.
Schon die älteste Schicht der Raumbezeichnungen läßt diesen Zu-
sammenhang deutlich erkennen. In fast allen Sprachen sind es die Raum-
demonstrativa gewesen, die den Ausgangspunkt für die Bezeichnung
der persönlichen Fürwörter gebildet haben. Die Verknüpfung beider
Wortklassen ist rein sprachgeschichtlich so eng, daß es schwer ist, zu
entscheiden, welche von ihnen wir als die frühere oder spätere, welche
wir als die fundamentale und welche als die abgeleitete anzusehen haben.
Während Humboldt in seiner grundlegenden Abhandlung „über die
Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Spra-
chen" den Nachweis zu führen gesucht hat, daß die Bezeichnung der
persönlichen Pronomina allgemein auf Worte örtlichen Sinns und Ur-
sprungs zurückgehe, neigt die moderne Sprachforschung vielfach dazu,
das Verhältnis umzukehren, indem sie die charakteristische Dreiteilung
der Demonstrativa, die sich in den meisten Sprachen findet, auf die ur-
sprüngliche und natürliche Dreiteilung der Personen, des „Ich", des
„Du" und des „Er" zurückführt. Wie immer aber diese genetische Frage
zuletzt entschieden werden mag: in jedem Falle zeigt sich, daß die
persönlichen und die demonstrativen Fürworte, die ursprünglichen Per-
sonen- und die ursprünglichen Raumbezeichnungen, ihrer gesamten
Struktur nach aufs nächste verwandt sind, und daß sie gleichsam der-
selben Schicht des sprachlichen Denkens angehören. Es ist derselbe halb-
mimische, halb-sprachliche Akt des Hinweisens, es sind dieselben Grund-
i64
formen der „Deixis" überhaupt, aus welchen der Gegensatz des Hier, des
Da und Dort, wie der Gegensatz des Ich, des Du und Er hervorgeht.
„Hier" — so bemerkt G. v. d. Gabelen tz — „ist allemal, wo ich bin,
und was hier ist, nenne ich dieses, im Gegensatze zu dem und jenem,
was da oder dort ist. So erklärt sich der lateinische Gebrauch von hic,
iste, ille = meus, tuus, ejus; so auch im Chinesischen das Zusammentreffen
der Pronomina der zweiten Person mit Gonjunctionen für örtliche und
zeitliche Nähe und für Ähnlichkeit1". Das gleiche Verhältnis hat Hum-
boldt in der erwähnten Abhandlung an den malayischen Sprachen, am
japanischen und dem Armenischen aufgewiesen. In der gesamten Ent-
wicklung der indogermanischen Sprachen zeigt sich ferner, daß das Pro-
nomen der dritten Person von dem entsprechenden Demonstrativpro-
nomen seiner Form nach nicht zu trennen ist. Wie französisch il auf la-
teinisch „ille" zurückgeht, so entspricht got. is (= nhd. er) dem latei-
nischen is — und auch bei den Ich-Du-Pronomina der indogermanischen
Sprachen ist vielfach der etymologische Zusammenhang mit den hin-
weisenden Fürworten unverkennbar2. Genau entsprechende Beziehungen
finden sich im Kreise der semitischen und altaischen Sprachen3, so-
wie in den Eingeborenensprachen Nordamerikas und Australiens4. Die
letzteren aber weisen nun einen weiteren höchst bezeichnenden Zug auf.
Von einzelnen Eingeborenensprachen Süd-Australiens wird berichtet, daß
sie, wenn sie irgendeine Handlung in der dritten Person aussagen, so-
wohl dem Subjekt als dem Objekt dieser Handlung ein räumlich-quali-
fizierendes Kennzeichen anheften. Soll etwa gesagt werden, ein Mann
habe einen Hund mit einem Wurfholz geschlagen, so muß der Satz so
gefaßt werden, daß er vielmehr besagt, der Mann „da vorn" habe den
Hund „da hinten" mit dieser oder jener Waffe geschlagen5. Hier gibt es
mit anderen Worten noch keine allgemeine und abstrakte Bezeichnung
des „Er" oder „Dieser", sondern das Wort, das hierfür zum Ausdruck
dient, ist noch mit einer bestimmten deiktischen Lautgebärde ver-
1 G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 23of.
2 Näheres s. bei Brugmann, Demonstrativpronomen, S. 3off., 71 f., I20,f. und Grund-
riß 2 II, 2, S. 3o7ff., 38iff.
3 Für die semitischen Sprachen s. Brockelmann, Grundriß I, 296fr"., sowie Kurz-
gefaßte vergl. Grammat. der semit. Sprache, Berlin 1908, S. i/i2ff.; Dillmann, Äthiop.
Grammat., S. 98; für die altaischen Sprachen s. z. B. Grunzel, vergl. Grammat. der
altaischen Spr., S. 55 ff.
* Vgl. Gatschet, Klamath language, S. 536f., Matthews, a. a. 0., S. i5i.
6 S. Matthews, Languages of the Bungandity Tribe in South Australia (J. and Proc.
of the Roy. Soc. of N. S. Wales XXXVII (1903), S. 61).
i65
schmolzen, von der es sich nicht ablösen kann. Dasselbe Verhältnis liegt
zugrunde, wenn einige Sprachen Ausdrücke besitzen, die das Individuum,
von dem die Rede ist, in einer ganz bestimmten Lage, als sitzend, lie-
gend oder stehend, als gehend oder kommend bezeichnen, während ein
einheitlicher Ausdruck für das Pronomen der dritten Person fehlt. Die
Sprache der Tscherokesen, in der solche Unterscheidungen besonders aus-
gebildet sind, besitzt statt eines persönlichen Fürworts der dritten Per-
son deren neun1. Andere Sprachen unterscheiden sowohl an der ersten,
wie an der zweiten und dritten Person, ob sie sichtbar oder unsicht-
bar sind, und gebrauchen für jeden dieser Fälle ein besonderes Für-
wort2. Neben den räumlichen Unterschieden der Lage und Entfernung
wird oft auch die zeitliche Gegenwart oder Nicht-Gegenwart durch die be-
sondere Form des Pronomens zum Ausdruck gebracht; auch können zu
den örtlichen und zeitlichen Merkmalen noch andere qualifizierende Merk-
male hinzutreten3. In allen diesen Fällen kommt, wie man sieht, den
Ausdrücken, die die Sprache für den rein „geistigen" Unterschied der
drei Personen besitzt, zunächst noch eine unmittelbar-sinnliche, vor allem
aber eine räumliche Tönung zu. Das Japanische hat, nach Hoffmann,
aus einem Ortsadverbium, das eigentlich „Mittelpunkt" besagt, ein Wort
für das Ich, aus einem anderen, das „da" oder „dort" bedeutet, ein Wort
für „Er" geprägt4. In Erscheinungen dieser Art zeigt sich unmittelbar,
wie die Sprache gleichsam einen sinnlich-geistigen Kreis um den Spre-
chenden zieht und wie sie dem Zentrum desselben das „Ich", der Peri-
pherie das „Du" und „Er" zuweist. Der eigentümliche „Schematismus"
des Raumes, den wir zuvor im Aufbau der Objektwelt verfolgt haben,
bewährt sich hier in umgekehrter Richtung — und erst in dieser dop-
pelten Funktion erfährt auch die Raumvorstellung selber im Ganzen der
Sprache ihre vollkommene Durchbildung.
II. Die Zeitvorstellung
Eine wesentlich schwierigere und komplexere Aufgabe, als in der Aus-
bildung der Raumbestimmungen und Raumbezeichnungen hat die Sprache
zu erfüllen, um zu einer genauen Scheidung und Bezeichnung der zeit-
lichen Verhältnisse zu gelangen. Die einfache Koordination der Raum-
und Zeitform, die man in der erkenntnistheoretischen Betrachtung viel-
1 S. Humboldt, Über den Dualis (W. VI, i, 23); Fr. Müller, Grundriß II, i, 22$f.
2 Boas, Kwakiutl (Handbook I, 52 7 ff.).
3 Goddard, Hupa (Handb. I, 117); Boas, Chinook (Handb. I, 574, 6i7ff.).
4 S. Hoffmann, Japanische Sprachlehre, S. 85ff.
166
fach durchzuführen gesucht hat, findet vonseiten der Sprache keine Be-
stätigung. Hier zeigt sich vielmehr deutlich, daß es eine Bestimmung von
anderer Art und gleichsam von einer höheren Dimension ist, die das
Denken überhaupt, und das sprachliche Denken im besonderen, im Auf-
bau der Zeitvorstellung, in der Unterscheidung der Zeitrichtungen und
Zeitstufen, zu vollziehen hat. Denn das „Hier" und „Dort" kann in weit
einfacherer und weit unmittelbarerer Weise zu einer anschaulichen Ein-
heit zusammengefaßt werden, als es bei den einzelnen Momenten der
Zeit, bei dem Jetzt, bei den Früher und Später der Fall ist. Gerade
dies kennzeichnet ja diese Momente als Zeitmomente, daß sie nie-
mals gleich Dingen der objektiven Anschauung dem Bewußtsein zu-
gleich und „zumal4 ' gegeben sind. Die Einheiten, die Teile, die sich
in der räumlichen Anschauung wie von selbst zu einem Ganzen zu ver-
binden scheinen, schließen sich hier vielmehr aus: das Sein der einen
Bestimmung bedeutet das Nicht-Sein der anderen und vice versa. Der
Gehalt der Zeitvorstellung ist daher niemals in der unmittelbaren An-
schauung beschlossen; sondern hier macht sich in noch weit stärkerem
Maße, als es von der Raumvorstellung gilt, der entscheidende An-
teil des verknüpfenden und trennenden, des analytischen und synthe-
tischen Denkens geltend. Da die Elemente der Zeit als solche nur
dadurch sind, daß das Bewußtsein sie durchläuft und in diesem Durch-
laufen gegeneinander unterscheidet, so geht eben dieser Akt des Durch-
laufens, dieser „discursus" , in die charakteristische Form des Zeitbegriffs
selbst ein. Damit aber erscheint das „Sein", das wir als das Sein des Nach-
einander, als das Sein der Zeit bezeichnen, auf eine ganz andere Stufe
der Idealität gehoben, als das bloß örtlich bestimmte Dasein. Die Sprache
kann zu dieser Stufe nicht unmittelbar gelangen, sondern sie steht auch
hier unter dem gleichen inneren Gesetz, das ihre gesamte Bildung und
ihren Fortschritt beherrscht. Sie schafft nicht für jeden neuen Bedeutungs-
kreis, der sich ihr erschließt, neue Mittel des Ausdrucks, sondern ihre
Kraft besteht eben darin, daß sie ein bestimmtes gegebenes Material in
verschiedener Weise zu gestalten, daß sie es, ohne es zunächst inhaltlich zu
verändern, in den Dienst einer anderen Aufgabe zu stellen und ihm da-
mit eine neue geistige Form aufzuprägen vermag.
Die Betrachtung des Verfahrens, das die Sprache bei der Bildung der
ursprünglichen Raumworte anwendet, hat gezeigt, wie sie sich hierbei
durchweg der einfachsten Mittel bedient. Die Umsetzung vom Sinnlichen
ins Ideelle erfolgt hier überall so allmählich, daß sie als solche, als eine
entscheidende Wendung der geistigen Gesamthaltung, anfangs kaum be-
167
merkbar wird. Aus einer eng begrenzten sinnlichen Materie, aus dem Un-
terschied in der Färbung der Vokale und aus der besonderen lautlichen und
gefühlsmäßigen Beschaffenheit einzelner Konsonanten und Konsonanten-
gruppen werden die Bezeichnungen für die örtlichen Gegensätze und für
die Richtungsgegensätze im Räume geformt. Der gleiche Prozeß zeigt
sich in der Entwicklung der Sprache von einer neuen Seite her, wenn wir
die Art betrachten, in der sie zu ihren ursprünglichen Zeitpartikeln
gelangt. Wie die Grenze zwischen den sinnlichen Natur- und Gefühls-
lauten und den einfachsten Raumworten als eine durchaus fließende
Grenze erschien — so zeigt sich derselbe stetige und unmerkliche Über-
gang auch zwischen der sprachlichen Sphäre, die die örtlichen und der-
jenigen, die die zeitlichen Bestimmungen umfaßt. Noch in unseren mo-
dernen Kultursprachen bilden beide vielfach eine ungeschiedene Einheit:
noch hier ist es eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß ein und das-
selbe Wort für den Ausdruck räumlicher wie zeitlicher Verhältnisse ge-
braucht wird. Noch reichere Belege für diesen Zusammenhang bieten die
Sprachen der Naturvölker dar, die in sehr vielen Fällen überhaupt kein
anderes Bildungsmittel zum Ausdruck der Zeitvorstellung als dies zu be-
sitzen scheinen. Die einfachen Ortsadverbia werden unterschiedslos auch
im zeitlichen Sinne verwendet, so daß z.B. das Wort für „hier" mit dem
für „jetzt", das für „dort" mit dem für früher oder später zusammen-
fließt1. Man hat dies damit zu erklären gesucht, daß die räumliche und
die zeitliche Nähe oder Ferne objektiv einander bedingen; daß das, was
sich in räumlich entfernten Gegenden abgespielt hat, auch zeitlich in dem
Augenblick, in dem von ihm gesprochen wird, ein Vergangenes und weit
Zurückliegendes zu sein pflegt. -Aber offenbar handelt es sich hierbei
weniger um derartige reale und tatsächliche, als um rein ideelle Zusam-
menhänge — um eine Stufe des Bewußtseins, die noch relativ undif-
ferenziert und gegen die spezifischen Unterschiede der Raum- und Zeit-
form als solche noch nicht empfindlich ist. Auch verhältnismäßig kom-
plexe zeitliche Verhältnisse, für die die entwickelten Kultursprachen eigene
Ausdrücke geschaffen haben, werden in den Sprachen der Naturvölker
oft mit den primitivsten räumlichen Ausdrucksmitteln bezeichnet2.
1 Vgl. hierfür die Beispiele aus der Klamath-Sprache bei Gatschet (a. a. O. S. 582 f.)
u. aus den melanesischen Sprachen bei Codrington (a.a.O. S. 1 64 f f •)•
2 Die Sudansprachen drücken den Umstand, daß ein Subjekt in einer Handlung be-
griffen ist, im allg. durch eine Wortfügung aus, die eigentlich besagt, daß es sich im
Innern dieser Handlung befindet. Da aber auch dies Innere" meist ganz materiell be-
zeichnet wird, so ergeben sich Wendungen wie „ich bin Gehens Innerem, ich bin Gehens
168
Solange nun diese materielle Bindung besteht, — solange kann auch
die Eigentümlichkeit der Zeitform als solche in der Sprache nicht
rein heraustreten. Auch die Strukturverhältnisse der Zeit wandeln sich
jetzt unwillkürlich in solche des Raumes um. Für das „Hier" und „Dort"
im Räume besteht nur ein schlichtes Distanzverhältnis ; es gilt hier einfach
das Auseinander, die Trennung zweier Raumpunkte, während es bei dem
Übergang vom einen zum anderen im allgemeinen keine bevorzugte Rich-
tung gibt. Als Momente des Raumes besitzen beide Punkte die „Mög-
lichkeit des Beisammenseins" und halten einander gleichsam stand; das
„Dort" kann durch eine einfache Bewegung in ein „Hier" verwandelt
werden und das Hier kann, nachdem es aufgehört hat, ein solches zu sein,
durch die entgegengesetzte Bewegung wieder in seine frühere Form über-
geführt werden. Die Zeit aber zeigt im Gegensatz hierzu, neben dem Aus-
einander und der wechselseitigen Entfernung ihrer einzelnen Elemente,
einen bestimmten einzigartigen und nicht umkehrbaren „Sinn", in dem
sie verläuft. Die Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft oder die
von der Zukunft in die Vergangenheit ist je ein unverwechselbar Eigenes.
Wo indes das Bewußtsein noch vorzugsweise im Kreise der räumlichen
Anschauung verharrt und die zeitlichen Bestimmungen nur insoweit er-
greift, als es sie durch räumliche Analogien erfassen und bezeichnen
kann, — da muß notwendig auch diese Eigenheit der zeitlichen Richtun-
gen zunächst im Dunkel bleiben. Wie im Räume, so ist es auch hier der
einfache Unterschied von Ferne und Nähe, auf den alles andere zurück-
geführt wird. Die einzige wesentliche Differenz, die ergriffen und scharf
zum Ausdruck gebracht wird, ist die zwischen dem „Jetzt" und Nicht-
Jetzt — zwischen dem unmittelbaren Gegenwartspunkt und dem, was
sich „außerhalb" desselben befindet. Dabei ist freilich dieser Punkt nicht
als streng einfacher mathematischer Punkt zu denken, sondern es eignet
ihm eine bestimmte Ausdehnung. Das Jetzt, nicht als mathematische Ab-
straktion, sondern als psychisches Jetzt, umspannt die Gesamtheit von
Inhalten, die zu einer unmittelbaren zeitlichen Einheit zusammengeschaut,
die zum Ganzen eines Augenblicks, als einer elementaren Erlebniseinheit,
verdichtet werden können. Es ist kein bloß gedachter Grenzpunkt, der
das Frühere vom Späteren trennt, sondern es besitzt in sich selbst eine
gewisse Dauer, die so weit als die unmittelbare Erinnerung, als das kon-
krete Gedächtnis reicht. Für diese Form der primären Zeitanschauung
zerfällt die Gesamtheit des Bewußtseins und seiner Inhalte gleichsam in
Bauch" für „ich bin im Gehen begriffen". S. Westermann, Sudansprachen, S. 65,
Gola-Sprache, S. 37, 43, 61.
169
zwei Sphären: in einen hellen, vom Lichte der „Gegenwart" getroffenen
und erleuchteten, und in einen anderen dunklen Kreis; aber zwischen
diesen beiden Grundstufen fehlt es noch an jeder Vermittlung und an
jedem Übergang, an jeder Nuancierung und Abtönung.
Das voll entwickelte Bewußtsein, insbesondere das Bewußtsein der wis-
senschaftlichen Erkenntnis, ist dadurch ausgezeichnet, daß es nicht in
diesem einfachen Gegensatz des „Jetzt" und „Nicht- Jetzt" verharrt, son-
dern ihn zu reichster logischer Entfaltung bringt. Ihm ergeben sich eine
Fülle von Zeitstufen, die jedoch sämtlich durch eine einheitliche Ord-
nung umfaßt sind, in der jedem Moment seine ganz bestimmte Stelle
zukommt. Die erkenntniskritische Analyse zeigt, daß diese Ordnung weder
durch die Empfindung „gegeben" ist, noch aus der unmittelbaren An-
schauung geschöpft werden kann. Sie ist vielmehr erst ein Werk des Ver-
standes — und insbesondere ein Werk des kausalen Folgerns und Schlie-
ßens. Die Kategorie der Ursache und Wirkung ist es, die die bloße An-
schauung des Nacheinander zum Gedanken einer einheitlichen Zeitordnung
des Geschehens umprägt. Der einfache Unterschied der einzelnen Zeit-
stellen muß erst in den Begriff einer wechselseitigen dynamischen Ab-
hängigkeit zwischen ihnen umgebildet, die Zeit als reine Anschauungs-
form muß mit der Funktion des kausalen Urteilens durchsetzt werden,
bevor dieser Gedanke sich entwickeln und sich befestigen kann, bevor
das unmittelbare Zeitgefühl in den systematischen Begriff der Zeit, als
einer Bedingung und als eines Inhalts der Erkenntnis übergeht. Wie weit
der Weg von dem einen zum andern ist und durch welche Schwierigkeiten
und Paradoxien er hindurchführt, hat uns die Entwicklung der modernen
Physik aufs klarste vor Augen gestellt. Kant sieht in den „Analogien der
Erfahrung", in den drei synthetischen Grundsätzen der Substantialität,
der Kausalität und der Wechselwirkung die intellektuelle Bedingung und
Grundlage für die Setzung der drei verschiedenen möglichen Zeitverhält-
nisse, für die Konstituierung der Beharrlichkeit, der Folge und des Zu-
gleichseins. Der Fortgang der Physik zur allgemeinen Relativitätstheorie
und die Umbildung, die der Zeitbegriff in dieser letzteren erfahren hat,
hat gezeigt, daß dieses relativ einfache Schema, das der Grundform der
Newtonischen Mechanik nachgebildet ist, auch erkenntniskritisch durch
komplexere Bestimmungen ersetzt werden muß1. Ganz allgemein lassen
sich im Fortschritt vom Zeitgefühl zum Zeitbegriff drei verschiedene
Etappen unterscheiden, die auch für die Spiegelung, die das Zeitbewußt-
sein in der Sprache findet, von entscheidender Bedeutung sind. Auf der
1 Näheres s. in meiner Schrift „Zur Einstein'schen Relativitätstheorie", Berlin 1921.
170
ersten Stufe ist das Bewußtsein lediglich von dem Gegensatze des „Jetzt"
und „Nicht- Jetzt" beherrscht, der in sich selbst noch keinerlei weitere
Differenzierung erfahren hat — ■ auf der zweiten beginnen sich bestimmte
zeitliche „Formen" gegeneinander abzuheben, beginnt die vollendete
Handlung sich von der unvollendeten, die dauernde von der vorüber-
gehenden zu scheiden, so daß ein bestimmter Unterschied der zeitlichen
Aktionsarten sich herausbildet — bis zuletzt der reine Relationsbegriff
der Zeit als abstrakter Ordnungsbegriff gewonnen wird und die ver-
schiedenen Zeitstufen in ihrem Gegensatz und in ihrer wechselseitigen
Bedingtheit klar hervortreten. —
Denn wie von den Relationen des Raumes, so gilt noch mehr von denen
der Zeit, daß sie nicht sogleich als Beziehungen zum Bewußtsein kom-
men, sondern daß ihr reiner Beziehungscharakter immer nur in der Ver-
schmelzung und Verhüllung mit anderen Bestimmungen, insbesondere mit
Dingcharakteren und Eigenschaftscharakteren, hervortritt. Wenn die ört-
lichen Bestimmungen gegenüber den sonstigen sinnlichen Qualitäten,
durch welche sich die Dinge unterscheiden, gewisse auszeichnende Merk-
male besitzen, so stehen sie doch als Qualitäten mit ihnen auf ein und
derselben Stufe. Das „Hier" und „Dort" haftet dem Gegenstand, von dem
es ausgesagt wird, nicht anders an, als irgendein sonstiges „Dies" und
„Das". So müssen alle Bezeichnungen der Raumform von bestimmten
stofflichen Bezeichnungen ihren Anfang nehmen. Indem dieseAuf fassung
sich vom Raum auf die Zeit überträgt, erscheinen auch hier die zeitlichen
Bedeutungsunterschiede zunächst als reine Eigenschaftsunterschiede. Es
ist hierfür besonders charakteristisch, daß sie keineswegs allein am Ver-
bum, sondern auch am Nomen hervortreten. Für die Betrachtungsweise,
die sich in unseren entwickelten Kultursprachen durchgesetzt hat, haftet die
Zeitbestimmung wesentlich denjenigen Redeteilen an, die einen Vorgangs-
oder Tätigkeitsausdruck in sich schließen. Der Sinn der Zeit und die
Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die sie in sich faßt, kann nirgends
anders als am Phänomen der Veränderung ergriffen und fixiert werden.
Das Verbum, als Ausdruck eines bestimmten Zustandes, von dem die Ver-
änderung anhebt oder als Bezeichnung des Aktes des Übergangs selbst,
erscheint daher als der eigentliche und einzige Träger der zeitlichen Be-
stimmungen : es scheint das „Zeitwort" xar e^oxrjv zu sein. Noch Humboldt
hat diesen Zusammenhang aus der Natur und Eigenart der Zeitvorstellung
einerseits, der Verbalvorstellung andererseits als notwendig zu erweisen
gesucht. Das Verbum ist nach ihm das Zusammenfassen eines energischen
Attributivum (nicht eines bloß qualitativen) durch das Sein. Im energi-
sehen Attributivum liegen die Stadien der Handlung, im Sein die der
Zeit1. Aber neben dieser allgemeinen Betrachtung, die sich in dar Ein-
leitung zum Kawi-Werk findet, steht freilich in dem Werke selbst der
Hinweis, daß nicht alle Sprachen diese Beziehung in gleicher Deutlichkeit
ausprägen. Während wir gewohnt seien, die Beziehung der Zeit nur in
Verbindung mit dem Verbum als Teil der Konjugation zu denken, hätten
z. B. die malayischen Sprachen einen Gebrauch entwickelt, der sich nicht
anders als dadurch erklären lasse, daß sie diese Beziehung an das Nomen
anknüpfen2. In großer Klarheit tritt dieser Gebrauch dort hervor, wo
die Sprache dieselben Mittel, die sie zur Unterscheidung örtlicher Verhält-
nisse ausgebildet hat, unmittelbar auch für die Unterscheidung zeitlicher
Bestimmungen verwendet. Das Somali benutzt die früher erwähnte Diffe-
renzierung in den Vokalen des bestimmten Artikels nicht nur, um damit
Unterschiede der räumlichen Stellung und Lage, sondern auch um zeit-
liche Unterschiede zur Darstellung zu bringen. Die Entwicklung und Be-
zeichnung der Temporalvorstellungen geht hier der der Lokalvorstellun-
gen genau parallel. Mittels der drei Artikelvokale können reine Nomina,
die für unsere Vorstellung nicht das Geringste von einer zeitlichen Be-
stimmung in sich tragen, also z. B. Worte wie „Mann" oder „Krieg",
mit einem gewissen zeitlichen Index versehen werden. Der Vokal -a dient
zur Bezeichnung des zeitlich Gegenwärtigen, der Vokal -o bezeichnet das
zeitlich Abwesende, wobei zwischen der Zukunft und der noch wenig ent-
fernten Vergangenheit kein Unterschied gemacht wird. Auf Grund dieser
Trennung wird dann erst mittelbar auch am Ausdruck der Handlung
scharf unterschieden, ob sie abgeschlossen oder noch nicht abgeschlossen
ist, ob sie punktuell ist oder eine größere oder geringere Dauer in sich
schließt3. Eine solche Ausprägung reiner Temporalcharaktere am Nomen
könnte leicht als Beweis eines besonders geschärften und verfeinerten
Zeitsinnes aufgefaßt werden — wenn sich nicht auf der anderen Seite
zeigte, daß gerade hier Zeitsinn und Ortssinn insofern noch völlig inein-
anderfließen, als das Bewußtsein für das Spezifische der zeitlichen
Richtungen noch ganz unentwickelt ist. Wie der Inhalt des Hier
und Dort, so treten auch der Inhalt des Jetzt und Nicht- Jetzt deut-
lich auseinander, aber der Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft
1 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, 223).
2 Kawi-Werk II, 286.
3 Näheres bei M. v. Tiling, a. a. 0., S. 1 45 f. Solche zeitlichen Indices am Nomen
finden sich auch häufig in den amerikanischen Eingeborenensprachen, s. z. B. Boas,
Handbook of Americ. Ind. Lang. I, 39; Goddard, Athapascan (ibid. I, 110) u. s.
I72
tritt hinter dieser Unterscheidung durchaus zurück und damit wird
gerade dasjenige Moment, das für das Bewußtsein der reinen Zeit-
form und ihrer Eigenart entscheidend ist, in seiner Entwicklung hint-
angehalten.
Die Entwicklung der Kindersprache zeigt einerseits, daß die Bildung
der Zeitadverbien erst wesentlich später, als die der Raumadverbien er-
folgt, und daß andererseits Ausdrücke, wie „heute", „gestern" und „mor-
gen" anfangs keinerlei scharf abgegrenzten zeitlichen Sinn besitzen. Das
„Heute" ist der Ausdruck der Gegenwart überhaupt, das „Morgen" und
„Gestern" der Ausdruck für die Zukunft oder Vergangenheit über-
haupt: es werden also damit zwar bestimmte zeitliche Qualitäten unter-
schieden, aber ein quantitatives Maß, ein Maß zeitlicher Abstände, wird
nicht erreicht1. Noch einen Schritt weiter zurück scheint uns die Betrach-
tung einzelner Sprachen zu führen, in denen auch die qualitativen
Unterschiede der Vergangenheit und Zukunft sich häufig völlig ver-
wischen. Im Ewe dient ein und dasselbe Adverbium dazu, ebensowohl
das „Gestern", wie das „Morgen" zu bezeichnen2. In der Schambala-
sprache wird das gleiche Wort dazu verwandt, um sowohl auf die graue
Vorzeit zurück-, als auf die späte Zukunft hinauszuweisen. „Diese für
uns sehr auffallende Erscheinung" — so bemerkt einer der Erforscher
dieser Sprache sehr bezeichnend — „findet ihre natürliche Erklärung
darin, daß die Ntu-Neger die Zeit anschauen wie ein Ding, darum gibt
es für sie nur ein Heute und Nichtheute; ob das letztere gestern war oder
morgen sein wird, ist den Leuten ganz einerlei, darüber reflektieren sie
nicht, denn dazu gehört nicht nur ein Anschauen, sondern ein Denken
und eine begriffliche Vorstellung von dem Wesen der Zeit . . . Der Be-
griff „Zeit" ist den Schambala fremd, sie kennen eben nur die Anschau-
ung der Zeit. Wie schwer es uns Missionaren geworden ist, uns von
unserem Zeitbegriff zu emanzipieren und die Zeitanschauung der Scham-
bala zu verstehen, geht daraus hervor, daß wir jahrelang nach einer
Form gesucht haben, welche nur das Futurum bezeichnet; wie oft waren
wir glücklich, diese Form gefunden zu haben, um später, manchmal frei-
lich erst nach Monaten, zu erkennen, daß die Freude verfrüht war, denn es
ergab sich jedesmal, daß die gefundene Form auch für die Vergangenheit
1 Nähere Angaben bei Cl. und W. Stern, Die Kindersprache, S. 23iff.
2 Westermann, Ewe-Grammatik, S. 129; die gleiche Erscheinung in vielen amerika-
nischen Sprachen s. z. B. v. d. Steinen, Die Bakairi-Sprache, Lpz. 1892, S. 355. Im
Tlingit wird ein und dasselbe Präfix gu- oder ga- verwendet, um Zukunft und Ver-
gangenheit zu bezeichnen (Boas, Handb. I, 176), wie auch das lat. olim (von ille) die
graue Vorzeit und die ferne Zukunft (vgl. das deutsche: ,einst') bezeichnet.
i73
gebraucht wurde1." Diese Anschauung der Zeit als eines Dinges drückt
sich u.a. auch darin aus, daß die Verhältnisse der Zeit durch Nomina,
denen ursprünglich eine räumliche Bedeutung anhaftet, wiedergegeben
werden2. Und ebenso wie vom Ganzen der Zeit im Grunde immer nur
das jeweilige im Bewußtsein gegenwärtige Zeitstück erfaßt und den
anderen nicht-gegenwärtigen Teilen gegenübergestellt wird, so macht sich
die gleiche dingliche Zerstückung auch in der Auffassung der Handlung
und Tätigkeit geltend. Die Einheit der Handlung „zerfällt" buchstäblich
in derartige dingliche Einzelstücke. Eine Handlung kann, auf der Stufe,
auf der wir hier stehen, nur dadurch dargestellt werden, daß die Sprache
sie in alle ihre Einzelheiten zerlegt und jede derselben zur gesonderten
Darstellung bringt. Und bei dieser Zerlegung handelt es sich nicht um
eine gedankliche Analyse — denn diese geht mit der Synthese, mit der
Erfassung der Form des Ganzen, Hand in Hand und bildet zu ihr das
korrelative Moment — , sondern um ein sozusagen materielles Zerschlagen
der Handlung in ihre Bestandteile, deren jeder nun als ein für sich be-
stehendes objektives Dasein angeschaut wird. So wird es z. B. als eine
gemeinsame Eigentümlichkeit einer großen Anzahl afrikanischer Sprachen
bezeichnet, daß sie jeden Vorgang und jede Tätigkeit in ihre Teile zer-
legen und jeden Teil für sich in einem selbständigen Satz zur Darstel-
lung bringen. Das Tun wird in all seinen Einzelheiten beschrieben und
jede dieser Einzelhandlungen wird durch ein besonderes Verbum aus-
gedrückt. Ein Vorgang etwa, den wir durch den einzigen Satz: „er er-
trank" bezeichnen, muß hier durch die Sätze: „er trank Wasser, starb"
wiedergegeben werden; die Tätigkeit, die wir als „abschneiden" be-
zeichnen, wird durch „schneiden, fallen", die Tätigkeit des Bringens durch
„nehmen, dorthin gehen" wiedergegeben3. Steinthal hat diese Erschei-
nung, die er mit Beispielen aus den Mande-Negersprachen belegt, psy-
chologisch damit zu erklären gesucht, daß er sie auf eine „mangelhafte
Verdichtung der Vorstellungen" zurückführt4. Aber eben diese „mangel-
hafte Verdichtung" weist deutlich auf eine Grundeigentümlichkeit der
Zeitvorstellung jener Sprachen zurück. Weil hier nur die einfache Schei-
dung des Jetzt und Nicht-Jetzt besteht, so ist nur der relativ kleine Aus-
1 Roehl, Versuch einer systemat. Grammatik der Schambalasprache, Hamburg 191 1,
S. io8f.
2 Vgl. Codrington, Melanesian languages, S. i64f.
3 S. hierf. die Beispiele aus dem Ewe und anderen Sudansprachen bei Westermann,
Ewe-Grammat., S. 95, u. Sudansprachen, S. 48 ff., aus der Nubasprache bei Reinisch,
Die Nuba-Sprache, Wien 1879, S. 5a.
* S. Steinthal, Die Mande-Negersprache, S. 222.
174
schnitt des Bewußtseins, der unmittelbar von dem Licht des Jetzt ge-
troffen wird, für dasselbe im eigentlichen Sinne vorhanden. Das Ganze
einer Handlung kann daher nicht anders apperzipiert, nicht anders ge-
danklich und sprachlich erfaßt werden, als dadurch, daß das Bewußt-
sein es sich in all seinen Einzelstadien im buchstäblichen Sinne „ver-
gegenwärtigt*daß es diese Stadien, eins nach dem anderen, gleichsam in
die Helle des Jetzt hineinrückt. So entsteht hier eine Fülle von Bezeich-
nungen ; so wird ein Mosaikstift neben den anderen gesetzt : aber das Er-
gebnis ist nicht die Einheit, sondern nur die Buntheit des Bildes. Denn
jede Einzelheit ist für sich genommen, ist nur punktuell bestimmt: aus
einem solchen Aggregat von lauter einfachen Gegenwartspunkten aber
kann die Vorstellung des echten zeitlichen Kontinuums nicht erwachsen.
Für die Form, die diese Sprachen zum Ausdruck der Bewegung und
der Handlung besitzen, gilt daher in der Tat der Zenonische Einwand:
hier ruht im Grunde der fliegende Pfeil, weil er in jedem Moment
seiner Bewegung nur eine fixe Lage besitzt. Das entwickelte Zeitbewußt-
sein befreit sich aus dieser Schwierigkeit und Paradoxie, indem es ganz
neue Mittel zur Erfassung von zeitlichen „Ganzheiten" erschafft. Es setzt
das Ganze der Zeit nicht mehr als substantielles Ganze aus den einzelnen
Augenblicken zusammen, sondern erfaßt es als ein funktionales und als
ein dynamisches Ganze : als eine Einheit der Beziehung und als eine Ein-
heit der Wirkung. Die Anschauung der zeitlichen Einheit der Handlung
geht einerseits von dem Subjekt aus, das in ihr begriffen ist, anderer-
seits von dem Ziel, auf das sie gerichtet ist. Beide Momente liegen in ganz
verschiedenen Ebenen; aber die synthetische Kraft des Zeitbegriffs be-
währt sich eben darin, daß er ihre Gegensätzlichkeit in eine wechselseitige
Bezüglichkeit verwandelt. Der Prozeß des Tuns kann jetzt nicht mehr in
lauter einzelne Phasen auseinanderfallen, da hinter ihm von Anfang an
die einheitliche Energie des handelnden Subjekts und vor ihm der ein-
heitliche Zweck des Tuns steht. Indem in dieser Weise die Momente der
Handlung sich zu einer kausalen und teleologischen Gesamtreihe, zur
Einheit einer dynamischen Verknüpfung und einer teleologischen Be-
deutung zusammenschließen, wächst hieraus erst mittelbar die Einheit
der zeitlichen Vorstellung hervor. Im vollentwickelten sprachlichen Be-
wußtsein prägt sich diese neue Gesamtansicht darin aus, daß die Sprache
nunmehr, um das Ganze eines Vorgangs oder eines Tuns zu kennzeichnen,
nicht mehr der Anschauung aller Einzelheiten seines Verlaufs bedarf,
sondern sich damit begnügt, den Anfangs- und Endpunkt, das Subjekt,
von dem das Tun ausgeht, und das objektive Ziel, auf das es gerichtet ist,
175
zu fixieren. Ihre Kraft erweist sich jetzt darin, daß sie die ganze Weite
dieses Gegensatzes in einem einzigen Blick zu umfassen und ihn eben da-
mit zu überbrücken vermag: — die Spannung zwischen den beiden Ex-
tremen hat sich verschärft, aber zugleich springt jetzt gleichsam der
geistige Funke über, der zwischen ihnen den Ausgleich schafft.
Dieser Ansicht von dem relativ komplexen und vermittelten Charakter
des reinen Zeitbegriffs scheinen freilich auf den ersten Blick die An-
gaben zu widersprechen, die sich in der Grammatik „primitiver" Sprachen
über die „Zeitform des Verbum" finden. Gerade den Sprachen der „Pri-
mitiven" wird vielfach ein überraschender, für uns kaum faßbarer Reich-
tum an „Tempusformen" nachgerühmt. Im Sotho werden von Ende-
mann 38 affirmative Tempusformen, dazu 22 im Potential, 4 Formen
im Optativ bezw. Final, eine große Zahl partizipialer Bildungen, [\o kon-
ditionale Formen u. and. angeführt; im Schambala sind nach der Gram-
matik von Roehl allein im Indikativ des Aktiv etwa 1000 Verbalformen
zu unterscheiden1. Die Schwierigkeit, die hierin zu liegen scheint, löst
sich indes, wenn man erwägt, daß es sich in solchen Unterscheidungen»
nach den Angaben der Grammatiker selbst, um alles andere als um die
Bestimmung eigentlich zeitlicher Nuancen handelt. Daß im Schambala
gerade die zeitliche Grundnuance, der Gegensatz von Vergangenheit und
Zukunft in keiner Weise entwickelt ist, hat sich bereits gezeigt — und für
die sogen. „Tempora" des Verbums in den Bantusprachen wird aus-
drücklich hervorgehoben, daß sie nicht als strenge Zeitformen in dem
Sinne zu betrachten seien, daß für sie lediglich die Frage des Früher oder
Später in Betracht käme. Was die Fülle dieser Verbalformen ausdrückt,
sind demnach nicht reine Zeitcharaktere der Handlung, sondern gewisse
qualitative und modale Unterschiede, die an ihr gemacht werden. „Eine
Zeitdifferenz" — so betont z. B. Seier für das Verbum der Indianer-
sprachen — „kommt durch verschiedene Partikeln oder durch Verbin-
dung mit anderen Verben zustande, spielt aber bei weitem nicht die Rolle
in der Sprache, die man nach den ausgeführten Konjugationsschematen
der verschiedenen geistlichen Grammatiker vermuten sollte. Und weil
die Tempusdifferenz etwas Unwesentliches und Akzessorisches ist, darum
finden sich auch gerade in der Tempusbildung die größten Verschieden-
heiten zwischen sonst eng verwandten Sprachen2." Aber auch dort, wo
1 S. Roehl, Schambalagrammat., S. inff., u. Meinhof, Vgl. Grammat. der Bantu-
sprachen, S. 68, 75.
2 Seier, Das Konjugationssystem der Maya-Sprachen, Berlin 1887, S. 3o. — Ebenso
sagt K. v. d. Steinen yon der Bakairi-Sprache (a. a. 0. S. 371 f.), daß sie Tempora in
176
die Sprache damit beginnt, die zeitlichen Bestimmungen deutlicher aus-
zuprägen, geschieht dies nicht in dem Sinne, daß sie ein scharfes und
folgerechtes System der relativen Zeitstufen aufbaut. Die ersten Un-
terschiede, die sie macht, tragen nicht einen derartig relativen, sondern
gewissermaßen einen absoluten Charakter. Was zunächst erfaßt wird,
sind, psychologisch gesprochen, gewisse zeitliche „Gestaltqualitäten", die
sich an einem Vorgang oder an einer Handlung vorfinden. Es ist ein an-
deres, ob eine Handlung „plötzlich" einsetzt oder ob sie sich allmählich
entwickelt, ein anderes, ob sie sich sprunghaft vollzieht oder kontinuier-
lich abläuft, ein anderes, ob sie ein einziges unzerlegtes Ganzes ausmacht
oder sich etwa in gleichartige, rhythmisch sich wiederholende Phasen
gliedert. Aber all diese Unterschiede sind für die konkrete Auffassung,
der die Sprache folgt, nicht sowohl begriffliche, als anschauliche, nicht
sowohl quantitative, als qualitative Differenzen. Die Sprache bringt sie
zum Ausdruck, indem sie, früher als sie zur scharfen Unterscheidung der
„Tempora" als eigentlicher Relationsstufen übergeht, die Verschiedenheit
der „Aktionsarten" bestimmt ausprägt. Hier handelt es sich noch keines-
wegs um die Auffassung der Zeit als einer allgemeinen Beziehungs- und
Ordnungsform, die alles Geschehen umfaßt, als eines Inbegriffs von
Stellen, deren jede zur anderen ein bestimmtes eindeutiges Verhältnis des
,Vor' und ,Nach', des , Früher* oder , Später* besitzt. Vielmehr hat hier
noch jeder einzelne Vorgang, der durch eine bestimmte Aktionsart darge-
stellt wird, gleichsam seine eigene Zeit — eine „Zeit für sich", an der
gewisse Formeigentümlichkeiten, bestimmte Weisen ihrer Gestaltung und
ihres Ablaufs hervorgehoben werden. In dem Nachdruck, mit dem die
einzelnen Sprachen bald die Unterschiede der relativen Zeitstufe, bald die
Unterschiede der reinen Aktionsarten betonen, weichen sie bekanntlich
sehr erheblich voneinander ab. Die semitischen Sprachen gehen, statt von
der Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von einer ein-
fachen Zweiteilung aus, indem sie lediglich den Gegensatz der vollendeten
und der unvollendeten Handlung betrachten. Das Tempus der vollen-
deten Handlung, das „Perfektum", kann demnach ebensowohl als Aus-
druck der Vergangenheit wie als Ausdruck der Gegenwart benutzt wer-
unserem Sinne entschieden nicht besitze, dagegen modale Ausdrücke für ihre Verbal-
flexionen verwende, deren genauer Wert freilich aus dem vorliegenden Material nicht
bestimmt werden könne und einem Europäer vielleicht überhaupt unzugänglich bleibe.
Von der Fülle solcher modalen Abstufungen gewinnt man ein klares Bild aus der
Übersieh*, die Roehl (a. a. O. S. mff.) über die Verbalformen des Schambala ge-
geben hat.
12
177
den, wenn nämlich eine Handlung bezeichnet werden soll, die schon in
der Vergangenheit angefangen hat, sich aber in die Gegenwart fortsetzt
und sich unmittelbar in sie erstreckt — andererseits kann das „Imperfek-
tum", das eine schon im Werden begriffene, aber noch nicht vollendete
Handlung ausdrückt, in diesem Sinne für eine Handlung jeder Zeitstufe,
für eine künftige sowohl, wie für eine gegenwärtige oder vergangene ge-
braucht werden1. Aber auch dasjenige Sprachgebiet, in dem der reine Rela-
tionsbegriff der Zeit und der Ausdruck der reinen Zeitunterschiede der
Handlung zur relativ höchsten Durchbildung gelangt ist, hat diese Durchbil-
dung nicht ohne mannigfache Vermittlungen und Zwischenstufen erreicht.
Die Entwicklung der indogermanischen Sprachen zeigt, daß auch in ihnen
die Unterscheidung der Aktionsarten derjenigen der eigentlichen ,, Tempora"
vorausgegangen ist. In der indogermanischen Urzeit — so betont z. B.
Streitberg — hat es überhaupt keine ,Tempora', d.h. keine formalen
Kategorien gegeben, deren ursprüngliche Funktion es war, zur Bezeich-
nung der relativen Zeitstufen zu dienen. „Die Formenklassen, die wir
/Tempora' zu nennen gewohnt sind, haben an sich mit der relativen Zeit-
stufe nicht das geringste zu schaffen. Zeitlos sind vielmehr alle Prä-
sensklassen, alle Aoriste, alle Perfecta in allen ihren Modis, und sie un-
terschieden sich voneinander nur durch die Art der Handlung, die sie
charakterisierten. Gegenüber dieser Fülle von Formen, die zur Unter-
scheidung der Aktionsarten dienten, nehmen sich die Mittel, die das Indo-
germanische zur Bezeichnung der Zeitstufen in Anwendung brachte, be-
scheiden, ja ärmlich genug aus. Für die Gegenwart war eine besondere
Bezeichnung überhaupt nicht vorhanden, hier genügte die zeitlose Hand-
lung vollauf. Die Vergangenheit aber ward durch ein zur Verbalform
tretendes temporales Adverbium ausgedrückt: das Augment . . . Die Zu-
kunft endlich ward, wie es scheint, in indogermanischer Urzeit nicht auf
einheitliche Weise ausgedrückt. Eines dieser Mittel, vielleicht das ur-
sprünglichste, war eine modale Form von wahrscheinlich voluntati-
vischer Bedeutung2." Dieser Vorrang der Bezeichnung der Aktionsart vor
der Zeitstufe tritt auch in der Entwicklung der einzelnen indogerma-
1 Näheres über den Gebrauch der „Tempora" in den semitischen Sprachen s. bei
Brockelmann, Grundriß II, 1 44f f - Auch für die ural-altaischen Sprachen betont
H. Winkler (Das Uralaltaische, S. i5o,), daß in dem uralaltaischen „Verbalnomen"
gegenüber der Fülle determinierender und modaler Bestimmungen, die es enthält, das
„ureigentliche Verbalgebiet", die Zeitenbildung, absolut zurücktrete, daß sie als sekun-
där, fast nebensächlich erscheine.
2 Streitberg, Perfektive und imperfektive Aktionsart (Paul-Braune-Beiträge XV [ 1891 ] ,
S.n7f.).
178
nischen Sprachen, wenngleich in verschiedenem Maße, deutlich zutage1.
Für den Unterschied der momentanen und der dauernden Handlung haben
viele dieser Sprachen ein eigenes lautliches Mittel ausgebildet, sofern die
Formen, die zum Ausdruck der momentanen Handlung dienten, vom Ver-
balstamm mit einfachem Wurzelvokal, die Ausdrücke für die dauernde
Handlung dagegen vom Verbalstamm mit gesteigertem Wurzelvokal ge-
bildet wurden2. Allgemein pflegt man in der Grammatik der indogerma-
nischen Sprachen seit G. Gurtius die „punktuelle" Aktion von der „kur-
siven" zu unterscheiden, welcher Unterscheidung dann die weiteren Dif-
ferenzen der perfektischen, der iterativen, der intensiven, der terminativen
Aktion u. a. zur Seite treten3. Die einzelnen Sprachen des indogermani-
schen Kreises weichen hierbei in der Schärfe, mit der sie diese Diffe-
renzen ausprägen, sowie in dem Grad der Ausbildung, den ihnen gegen-
über die rein temporalen Bestimmungen erhalten, z. T. erheblich von-
einander ab4; aber immer ist deutlich, daß die scharfe Bezeichnung der
relativen Zeitstufe ein verhältnismäßig spätes Ergebnis ist, während die
Bezeichnung der allgemeinen „Zeitgestalt" eines Vorgangs oder einer
Handlung einer früheren Schicht des Denkens und Sprechens anzuge-
hören scheint.
Am weitesten entfernt von der primären Stufe der Zeitanschauung
1 Für das Griechische vgl. z.B. Brugmann, Griech. Grammat. 3, S. 469: »Zur Ak-
tionsart mußte seit urgriechischer Zeit jeder Verbalbegriff in irgendein Verhältnis tre-
ten, zu der Kategorie der Zeitstufe nicht. Es gab von uridg. Zeit her sehr viele zeit-
stufenlose Verbalformationen, aber keine ohne Aktionsart." Ein Vergleich der home-
rischen mit der altattischen Sprache zeigt, daß es erst ganz allmählich im Griechischen
mehr und mehr zur Regel wird, das Zeitverhältnis durch das Verbum selbst zu unzwei-
deutigem Ausdruck zu bringen (ibid.).
2 So werden im Griechischen Stämme wie Xaß, md-, q?vy in der ersteren Funktion, dagegen
Stämme wie Xafxß, jzetfi, <pevy in der zweiten verwendet: näheres bei G. Gurtius, Zur
Chronologie der indogerm. Sprachforschung, Abh. der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss.
Phil.-hist. Klasse V (1870), S. 2291L
3 S. G. Curtius, Die Bildung der Tempora und Modi im Griechischen u. Lateinischen.
Sprachvergl. Beiträge I (i846), S. iöoff.
4 Im Flexionssystem der germanischen Sprachen treten die Unterschiede der Aktions-
arten, obwohl sie auch hier in vielen sprachlichen Einzelerscheinungen deutlich erkennbar
bleiben (vgl. z. B. H. Paul, Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit
haben und sein, Abh. der k. bayer. Akad. d. Wiss., I. Cl., XXII, 161 ff.) schon früh
in ihrer Bedeutung zurück; dagegen erhalten sie sich sehr deutlich in den baltisch-
slawischen Sprachen, die insbesondere den Gegensatz der „perfektiven" und „imper-
fektiven" Aktion weiterbilden und ihm gemäß alle Verba in zwei Klassen scheiden.
Näheres bei Lesk ien, Grammatik der altbulgarischen (altkirchenslawischen) Sprache,
Heidelb. 1909, S. 2i5ff.
12*
119
sind schließlich diejenigen sprachlichen Ausdrücke, die zu ihrer Bildung
bereits eine Form der Zeitmessung voraussetzen, die also die Zeit als
einen scharf bestimmten Größenwert fassen. Hier stehen wir freilich,
streng genommen, bereits vor einer Aufgabe, die über den Kreis der
Sprache hinausweist und die erst in den aus bewußter Reflexion entstan-
denen „künstlichen" Zeichensyslemen, wie sie die Wissenschaft ausbildet,
ihre Lösung finden kann. Doch enthält die Sprache auch für diese neue
Leistung eine entscheidende Vorbereitung: denn die Entwicklung des Sy-
stems der Zahlzeichen, das den Grund für alle exakte mathematische und
astronomische Messung bildet, ist an die vorangehende Ausbildung der
Zahlworte gebunden. In drei verschiedenen, aber eng miteinander ver-
knüpften und wechselseitig aufeinander bezogenen Phasen entwickelt die
Sprache die drei Grundanschauungen von Raum, Zeit und Zahl und
schafft damit erst die Bedingung, an die jeder Versuch der intellek-
tuellen Beherrschung der Phänomene und jede Synthesis derselben zur
Einheit eines „Weltbegriffs" gebunden bleibt.
III. Die sprachliche Entwicklung des Zahlbegriffs
Wenn man von der Vorstellung des Raumes zu der der Zeit und von
beiden wieder zur Vorstellung der Zahl fortschreitet, so scheint sich
darin der Kreis der Anschauung erst zu vollenden — aber zugleich sieht
man sich mit jedem neuen Schritt mehr und mehr über diesen Kreis
hinausgewiesen. Denn immer weiter weicht in diesem Fortschritt die Welt
der faßbaren und greifbaren Formen zurück — und an ihrer Statt baut
sich allmählich eine neue Welt: eine Welt der intellektuellen Prinzipien
auf. In diesem Sinne wird das „Sein" der Zahl schon von ihren eigent-
lichen philosophischen und wissenschaftlichen Entdeckern, von den
Pythagoreern bestimmt. Proklos rühmt von Pythagoras, daß er zuerst die
Geometrie zur freien Wissenschaft erhoben habe, indem er deduktiv (ävco-
fiev) ihre Prinzipien erforscht und ihre Lehrsätze stofflos und rein ge-
danklich (ävXcog xal voegcog) dargestellt habe1. Die allgemeine Tendenz,
die damit der wissenschaftlichen Mathematik von ihrem ersten Begründer
eingeprägt war, hat sich seither immer weiter verstärkt und vertieft.
Durch die Vermittlung von Piaton, von Descartes und Leibniz teilt sie
sich der modernen Mathematik mit. Mehr noch als die antike Mathematik
sieht sich die moderne Auffassung, indem sie versucht, Geometrie und
Analysis aus einem Prinzip heraus zu gestalten, auf den Zahlbegriff als
1 Proclus in Euclid., S. 64, 18 Friedl. (Diels, Fragm. d. Vorsokr., S. 279).
l8o
auf ihr eigentliches Zentrum zurückgewiesen. Und immer bestimmter
wendet sich nun alle Arbeit der gedanklichen Begründung diesem Mittel-
punkt zu. In der Mathematik des 1 9. Jahrhunderts tritt immer allge-
meiner das Bestreben heraus, zu einer logisch-autonomen Gestaltung des
Zahlbegriffs durchzudringen. Auf verschiedenen Wegen wird dieses Ziel
von Dedekind und Russell, von Frege und Hilbert verfolgt. Russell
versucht alle Grundmomente, auf denen die Zahl beruht, auf rein „logi-
sche Konstanten" zurückzuführen; Frege sieht in ihr eine „Eigenschaft",
aber eine solche, die, wie sie selbst unsinnlich ist, auch einem unsinnlichen
Inhalt anhaftet, die nicht sowohl Eigenschaft eines „Dinges", als viel-
mehr Eigenschaft eines reinen Begriffes ist. Mit gleicher Schärfe und
Bestimmtheit wird von Dedekind in der Grundlegung und Ableitung des
Zahlbegriffs jede Anknüpfung an anschauliche Verhältnisse, jede Ein-
mischung meßbarer Größen verworfen. Nicht auf die Anschauung von
Raum und Zeit soll das Zahlenreich aufgebaut werden, sondern umge-
kehrt soll der Zahlbegriff als ein „unmittelbarer Ausfluß der reinen
Denkgesetze" uns erst in den Stand setzen, wahrhaft scharfe und genaue
Begriffe vom Räumlichen und Zeitlichen zu gewinnen. Indem der Geist
sich ohne jede Vorstellung von meßbaren Größen durch ein endliches
System einfacher Denkschritte zur Schöpfung des reinen stetigen Zahlen-
reiches aufschwingt, wird es ihm mit diesem Hilfsmittel erst möglich,
die Vorstellung vom stetigen Räume zu einer deutlichen auszubilden1. Die
krilische Logik zieht aus all diesen in der exakten Wissenschaft selbst
wurzelnden Bestrebungen nur die Summe, indem sie davon ausgeht, daß
die erste Vorbedingung für das Verständnis der Zahl in der Einsicht be-
stehe, daß man es bei ihr nicht mit irgend gegebenen Dingen zu tun habe,
sondern mit reinen Gesetzmäßigkeiten des Denkens. „Die Zahl von den
Dingen abzuleiten" — so be'ont sie — „ist, wenn unter Ableiten Begründen
verstanden wird, ein offenbarer Zirkel. Denn die Begriffe von Dingen
sind komplexe Begriffe, in die als einer der unerläßlichsten Bestandteile
die Zahl miteingeht ... Es kann ja für das Denken nichts geben, das
ursprünglicher wäre, als es selbst, das Denken, das heißt: das Setzen von
Beziehung. Was man auch sonst als Grund der Zahl in Anspruch
nehmen möchte, würde eben dies, das Beziehungsetzen, einschließen und
kann als Grund der Zahl nur darum erscheinen, weil es den wahren
Grund, das Beziehungsetzen, als Voraussetzung enthält2."
1 S. Dedekind, Was sind u. was wollen die Zahlen (1887); vgl. Frege, Die Grund-
lagen der Arithmetik (i884); Russell, The Principles of Malhematics I (1903).
2 Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910), S. g8f.
l8l
Aber je fester sich das „reine", das wissenschaftliche Denken hier auf
sich selbst stellt und je bewußter es auf alle Stützen und Hilfen der sinn-
lichen Empfindung oder der Anschauung verzichtet: — so scheint es doch
nach wie vor in den Kreis der Sprache und der sprachlichen Begriffs-
bildung gebannt zu werden. Die wechselseitige Bindung des Sprechens
und Denkens tritt an der logischen und der sprachlichen Entwicklung
der Zahlbegriffe aufs neue in die Erscheinung — und sie erhält hier
ihren vielleicht deutlichsten und bezeichnendsten Ausdruck. Nur durch
die Gestaltung der Zahl zum Wortzeichen wird der Weg zur Erfassung
ihrer reinen Begriffsnatur frei. So stellen die Zahlzeichen, die die Sprache
erschafft, auf der einen Seite für die Gebilde, die die reine Mathematik
als „Zahlen" bestimmt, die unentbehrliche Voraussetzung dar; auf der
anderen Seite aber besteht, freilich zwischen den sprachlichen und den
rein intellektuellen Symbolen eine unvermeidliche Spannung und ein
niemals völlig aufzuhebender Gegensatz. Wenn die Sprache den letzte-
ren erst den Weg bereitet, so vermag sie ihrerseits diesen Weg nicht
bis zu Ende zu durchmessen. Jene Form des „beziehentlichen Denkens",
auf welcher die Möglichkeit der Setzung der reinen Zahlbegriffe beruht,
bildet für sie ein letztes Ziel, dem sie sich in ihrer Entwicklung fort-
schreitend annähert, das sie aber innerhalb ihres eigenen Gebiets nicht
mehr vollständig zu erreichen vermag1. Denn eben jenen entscheidenden
Schritt, den das mathematische Denken von den Zahlbegriffen fordert,
eben jene eigentümliche Losreißung und Emanzipation von den Grund-
lagen der Anschauung und der anschaulichen Dingvorstellung, vermag
die Sprache nicht zu vollziehen. Sie haftet an der Bezeichnung konkreter
Gegenstände und konkreter Vorgänge und bleibt an sie auch dort ge-
bunden, wo sie sich mittelbar zum Ausdruck reiner Beziehungen zu
gestalten sucht. Aber wieder bewährt sich hierin das gleiche dialektische
Prinzip des Fortschritts: je tiefer die Sprache in ihrer Entfaltung in dem
Ausdruck des Sinnlichen versenkt scheint, um so mehr wird sie damit
zum Mittel des geistigen Befreiungsprozesses für das Sinnliche selbst.
An der Materie des Zählbaren entfaltet sich, so sinnlich, so konkret und
beschränkt sie zunächst genommen wird, dennoch die neue Form und
die neue gedankliche Kraft, die in der Zahl beschlossen liegt.
Aber diese Form tritt hier nicht sogleich als ein geschlossenes Ganze
heraus, sondern sie muß sich successiv aus ihren einzelnen Momenten
erst aufbauen. Eben darauf aber beruht nun der Dienst, den die Betrach-
tung der sprachlichen Entstehung und Herausbildung der Zahlbegriffe
1 Vgl. hrz. weiter unten: Kap. V.
l82
der logischen Analyse zu leisten vermag. Ihrem logischen Gehalt und
Ursprung nach geht die Zahl auf eine Durchdringung, auf ein Ineinander
ganz verschiedener Denkmethoden und Denkforderungen zurück. Das
Moment der Vielheit geht hier in das Moment der Einheit, das der Son-
derung in das der Verknüpfung, das der durchgängigen Unterscheidung
in das der reinen Gleichartigkeit über. Alle diese Gegensätze müssen sich
miteinander in ein reines geistiges Gleichgewicht gesetzt haben, damit der
„exakte" Begriff der Zahl sich bilden kann. Dieses Ziel bleibt für die
Sprache unerreichbar; aber nichtsdestoweniger läßt sich in ihr deutlich
verfolgen, wie die Fäden, die sich zuletzt zu dem kunstreichen Gewebe
der Zahl verschlingen, sich einzeln knüpfen und sich, ehe sie zu einem
logischen Ganzen zusammengehen, einzeln ausbilden. In dieser Ausbildung
verfahren die verschiedenen Sprachen verschieden. Bald ist es das eine,
bald das andere Motiv der Zahl- und Mehrheitsbildung, das sie heraus-
lösen und dem sie vor allen anderen eine bevorzugte und gesteigerte Be-
deutung geben — aber der Inbegriff all dieser besonderen und in irgend-
einer Hinsicht einseitigen Ansichten, die die Sprache vom Zahlbegriff ge-
winnt, macht doch zuletzt eine Totalität und eine relative Einheit aus.
So vermag die Sprache den geistig-intellektuellen Kreis, in welchem der
Zahlbegriff liegt, von sich aus zwar nicht völlig zu durchdringen und zu
erfüllen — aber sie vermag ihn seinem Umfang nach zu umschreiten und
damit mittelbar seine Inhalts- und Grenzbestimmung vorzubereiten. —
Dabei bewährt sich zunächst wieder der gleiche Zusammenhang, der
uns in der sprachlichen Erfassung der einfachsten Raumverhältnisse ent-
gegengetreten ist. Die Unterscheidung der Zahlverhältnisse geht, wie die
der Raumverhältnisse, vom menschlichen Körper und seinen Gliedmaßen
aus, um sich von hier aus fortschreitend über das Ganze der sinnlich-
anschaulichen Welt zu verbreiten. Der eigene Leib bildet überall das
Grundmodell der ersten primitiven Zählungen: „Zählen" heißt zunächst
gar nichts anderes, als bestimmte Unterschiede, die sich an irgendwelchen
äußeren Objekten finden, dadurch bezeichnen, daß sie gleichsam auf
den Körper des Zählenden übertragen und an ihm sichtbar gemacht
werden. Alle Zahlbegriffe sind demgemäß, ehe sie zu Wortbegriffen
werden, reine mimische Handbegriffe oder sonstige Körperbegriffe. Die
Zählgebärde dient nicht als bloße Begleitung des übrigens selbständigen
Zahlwortes, sondern ist in die Bedeutung und in die Substanz desselben
gleichsam eingeschmolzen. Die Eweer z. B. zählen an den ausgestreckten
Fingern; beginnend am kleinen Finger der linken Hand, indem sie mit
dem Zeigefinger der rechten Hand je den gezählten Finger einknicken:
i83
nach der linken Hand kommt in entsprechender Weise die rechte an die
Reihe; dann fängt man entweder wieder von vorne an oder man zählt,
an der Erde hockend, an den Zehen weiter1. Im Nuba besteht die das
Zählen beinahe immer begleitende Gebärde darin, daß man, bei eins be-
ginnend, mit der rechten Hand zuerst den kleinen, dann den Ring-, Mittel-
und Zeigefinger, endlich den Daumen der linken Hand in die Faust drückt
und sodann dieselbe Geste mit der linken an der rechten Hand vollzieht.
Bei der Zahl 20 werden die beiden Fäuste horizontal aneinander ge-
drückt2. Ebenso berichtet v. d. Steinen von den ßakairi, daß auch
der einfachste Zählversuch mißlang, wenn das gezählte Objekt, z. B. eine
Hand voll Maiskörner, der tastenden Hand nicht unmittelbar dargeboten
wurde. „Die rechte Hand tastete . . die linke Hand rechnete. Ohne die
Finger der rechten Hand zu gebrauchen, nur nach einer Betrachtung
der Körner an den Fingern der linken Hand zu zählen, war schon bei
3 Stück ganz unmöglich3." Wie man sieht, genügt es hier nicht, daß die
einzelnen gezählten Objekte auf die Teile des Körpers irgendwie bezogen
werden, sondern sie müssen gleichsam unmittelbar in körperliche Teile
und in Körpergefühle umgesetzt werden, damit der Akt der „Zählung"
an ihnen vonstatten gehen kann. Die Zahlworte bezeichnen daher nicht
sowohl irgendwelche objektive Bestimmungen oder Verhältnisse der
Gegenstände, als sie vielmehr gewisse Direktiven der körperlichen Bewe-
gung des Zählens in sich schließen. Sie sind Ausdrücke und Anzeigen für
die jeweilige Hand- oder Fingerstellung, die häufig in die Befehlsform
des Verbums gekleidet sind. So bedeutet z. B. im Sotho das Wort für fünf
eigentlich: „vollende die Hand", das für sechs eigentlich „springe", d. h.
springe zur andern Hand über4. Dieser aktive Charakter der sogen. „Zahl-
worte" tritt besonders deutlich in denjenigen Sprachen hervor, die ihre
Zahlausdrücke dadurch bilden, daß sie die Art und Weise des Gruppierens,
des Hinstellens und Aufstellens der Gegenstände, auf die sich die Zählung
erstreckt, besonders bezeichnen. So verfügt z. B. die Klamath-Sprache
über eine Fülle derartiger Bezeichnungen, die von Verben des Setzens, des
Legens und Stellens gebildet sind und die je eine besondere Art der
1 Westermann, Ewe-Grammalik, S. 80.
2 Reinisch, Nuba-Sprache, S. 36 f.
3v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, S. 84 ff.
4 Vgl. Meinhof, Bantugrammatik, S. 58; ähnliche Beispiele aus dem Gebiet der Pa-
puasprachen bei Ray, Torres-Expedition, S. u. ö. In der Sprache der Eskimo
wird das Zahlwort für 20 durch einen Satz „ein Mann ist vollendet" (d. h. alle seine
Finger und Zehen gezählt) wiedergegeben, s. W. Thalbitzer, Eskimo (in Boas Hand-
book I, S. 1047).
i84
„Reihung" gemäß der Besonderheit der zu zählenden Objekte zum Aus-
druck bringen. Eine bestimmte Gruppe von Gegenständen muß etwa, um
gezählt zu werden, auf den Boden ausgebreitet, eine andere muß in
Schichten übereinander gelegt werden, die eine muß in Haufen abgeteilt,
die andere in Reihen geordnet werden — und jeder solchen bestimmten
„Plazierung" der Gegenstände entspricht je nach ihrer Eigenart ein ver-
schiedenes verbales Zahlwort, ein anderer „numeral classifier"1. Kraft
dieses Verfahrens werden die Bewegungen in der Aufreihung der Gegen-
stände mit bestimmten körperlichen Bewegungen, die in einer gegebenen
Reihenfolge ablaufend gedacht werden, koordiniert. Dabei brauchen die
letzteren nicht auf die Hände und Füße, die Finger und Zehen beschränkt
zu bleiben, sondern können auf alle anderen Glieder des menschlichen
Leibes übergreifen. In Englisch-Neu-Guinea geht die Folge beim Zählen
von den Fingern der linken Hand auf die Handwurzel, den Ellbogen,
die Schulter, den Nacken, die linke Brust, den Brustkasten, die rechte
Brust, die rechte Seite des Nackens u. s. f. über; in anderen Gebieten wird
in derselben Weise die Achsel, die Schlüsselbeinhöhle, der Nabel, der Hals
oder die Nase, Auge und Ohr benutzt2.
Man hat diese primitiven Zählmethoden in ihrem geistigem Wert oft
tief herabgesetzt. „Das ist die Schuld, die auf dem Geiste der Neger
lastet" — so drückt sich z. B. Steinthal in seiner Darstellung des Zähl-
verfahrens der Mande-Neger aus — , „daß er, zur Zehe gelangt, nicht die
sinnliche Stütze verlassend, frei schöpferisch die Zehe mit sich selbst
vervielfältigte, die kurze Reihe aus ihr selbst zur langen ausdehnte, son-
dern an seinem Leibe haftend von der Hand, dem edeln Werkzeug aller
Werkzeuge, dem Diener des Geistes herabsank zum staubwühlenden Fuß,
dem Sklaven des Leibes. Dadurch blieb überhaupt die Zahl am Leibe
kleben und ward nicht zur abstrakten Zahl-Vorstellung. Der Neger hat
keine Zahl, sondern nur eine; Anzahl von Fingern, Fingern der Hand und
des Fußes ; nicht sein Geist ist es, welcher, vom Drange nach dem Unend-
lichen getrieben, zu jeder bestimmten Anzahl immer noch darüber hin-
ausginge und aus sich selbst Eins hinzufügte; sondern die existierenden
Einzelnen, die Dinge der Natur führten ihn von Eins zu Eins, vom kleinen
Finger zum Daumen, von der linken zur rechten Hand, von der Hand zum
Fuß, von einem Menschen zum andern; nirgends griff er frei gestaltend
ein, sondern kroch an der Natur umher . . . Das ist nicht die Tat, die
1 Powell, Evolution of language a. a. 0. I, 2 1 ; Gatschet, Klamalh languago, S. 532 ff .
2 S. Ray, Torres-Straits-Expedit., S. 364; vgl. bes. das reichhaltige Material bei Levy-
Bruhl, Das Denken der Naturvölker, dtsch. Ausg., Wien 1921, S. i5o,ff.
i85
unser Geist übt, wenn er zählt1." Aber das halb poetische, halb theolo-
gische Pathos dieser Scheltrede vergißt, daß es, statt das primitive Ver-
fahren an unserem vollentwickelten Zahlbegriff zu messen, auch hier
richtiger und fruchtbarer ist, den wie immer geringen intellektuellen Ge-
halt, den es trotz allem in sich birgt, aufzusuchen und anzuerkennen.
Von irgendeiner Systematik der Zahlbegriffe, von ihrer Einreihung in
einen allgemeinen Zusammenhang kann hier freilich noch nicht die Rede
sein. Aber das Eine ist erreicht, daß im Durchlaufen einer Mannigfaltig-
keit, wenngleich dieselbe ihrem Inhalt nach rein sinnlich bestimmt ist,
eine ganz bestimmte Ordnung, eine Reihenfolge des Übergangs vom
einen zum anderen Glied innegehalten wird. Nicht willkürlich wird im Akt
des Zählens von einem Teil des Körpers zum anderen fortgegangen, son-
dern die rechte Hand folgt der linken, der Fuß folgt der Hand, der
Nacken, die Brust, die Schulter folgt den Händen und Füßen nach einem
zwar konventionell gewählten, aber gemäß dieser Wahl festgehaltenen
Schema der Succession. Die Aufstellung eines solchen Schemas, so weit
sie davon entfernt ist, den Gehalt dessen, was das entwickelte Denken
unter „Zahl" versteht, zu erschöpfen, bildet nichtsdestoweniger für ihn
die unentbehrliche Vorbedingung. Denn auch die reine mathematische
Zahl löst sich zuletzt in den Begriff eines Stellensystems, in den Begriff
einer „Ordnung in der Folge" — order in progression, wie William
Hamilton es genannt hat — auf. Nun scheint freilich der entscheidende
Mangel des primitiven Zählverfahrens darin zu liegen, daß es diese Ord-'
nung nicht frei nach einem geistigen Prinzip erzeugt, sondern, daß es sie
lediglich den gegebenen Dingen, insbesondere der gegebenen Gliederung
des eigenen Leibes des Zählenden, entnimmt. Aber selbst in der unleug-
baren Passivität dieses Verhaltens regt sich noch eine eigentümliche Spon-
taneität, die hier freilich nur erst im Keime sichtbar wird. Der Geist be-
ginnt, indem er die sinnlichen Objekte nicht lediglich nach dem, was sie
einzeln und unmittelbar sind, sondern nach der Art, wie sie sich ord-
nen, erfaßt, von der Bestimmtheit der Gegenstände zur Bestimmtheit
der Akte fortzuschreiten: — und an diesen letzteren, an den Akten der
Verknüpfung und Sonderung, die er in sich selbst ausübt, wird ihm zu-
letzt das eigentliche und neue, das „intellektuelle" Prinzip der Zahlbil-
dung aufgehen.
Zunächst indes bleibt die Fähigkeit, beim Übergang von einem Ob-
jekt zum anderen die Ordnung in der Folge des Übergangs festzuhalten,
nur ein vereinzeltes Moment, das sich mit den anderen zur Bildung des
1 Steinthal, Mande-Negersprachen, S. 75f.
186
reinen Zahlbegriffs erforderlichen Momenten noch nicht verknüpft und
in Einklang gesetzt hat. Zwischen den gezählten Objekten und den Teilen
des menschlichen Körpers, die als Zahlausdrücke fungieren, findet zwar
eine bestimmte Zuordnung statt: aber diese behält so lange einen ganz
vagen Charakter, sie bleibt sozusagen eine Zuordnung in Bausch und
Bogen, als es nicht gelungen ist, die verglichenen Reihen in sich selbst
zu gliedern und in scharf bestimmte „Einheiten" abzuteilen. Die wesent-
liche Voraussetzung für eine derartige Einheitsbildung aber würde darin
bestehen, daß die gezählten Elemente als streng gleichartig angesehen
würden — so daß jedes Element sich vom anderen durch nichts anderes,
als durch die Stellung, die ihm in der Zählung zukommt, aber durch
keine sonstige sinnlich-dingliche Eigenheit oder Eigenschaft unter-
schiede. Von der Abstraktion einer derartigen „Homogeneität" aber sind
wir einstweilen noch weit entfernt. Nicht nur müssen die gezählten Dinge
in ihrer vollen handgreiflichen Bestimmtheit gegenwärtig sein, so daß
sie unmittelbar berührt und getastet werden können, sondern auch die
Einheiten selbst, an denen die Zählung fortschreitet, weisen durchweg
konkret-sinnliche Unterschiede auf und grenzen sich nur durch sie von-
einander ab. An Stelle rein gedanklich konzipierter gleichförmiger
Setzungseinheiten gibt es hier nur jene natürlichen Dingeinheiten, wie
die natürliche Gliederung des menschlichen Körpers sie darbietet. Die
primitive „Arithmetik" kennt als ihre Elemente nur derartige natürliche
Gruppen. Ihre Systeme unterscheiden sich je nach diesen dinglich-ge-
gebenen Maßstäben. Aus der Benutzung der Hand als Modell der Zäh-
lung geht das Quinarsystem, aus der der beiden Hände das Dezimal-
system, aus der Vereinigung von Händen und Füßen das Vigesimalsystem
hervor1. Daneben gibt es Zählmethoden, die auch hinter diesen ein-
fachsten Ansätzen zur Gruppen- und Systembildung zurückbleiben. In-
dessen dürfen solche Grenzen der „Zählung" nicht zugleich als Grenzen
in der Auffassung konkreter Vielheiten und ihrer Unterschiede gedeutet
werden. Auch dort vielmehr, wo die eigentliche Zählung nicht über erste
kümmerliche Anfänge hinausgelangt ist, kann die Unterscheidung solcher
Vielheiten aufs schärfste durchgebildet sein — denn für sie bedarf es
nur, daß jeder besonderen Vielheit ein qualitatives Gesamtmerkmal an-
haftet, an welchem sie erkannt und in ihrer besonderen Eigenart erfaßt
wird, nicht aber, daß sie in sich gegliedert und dadurch quantitativ als
eine „Menge von Einheiten" bestimmt wird. Von den Abiponen, bei denen
1 Eine reiche Sammlung von Beispielen hierfür findet sich bei Pott, Die quinare und
die vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Weltteile, Halle 1874.
187
die Fähigkeit des „Zählens" nur ganz unvollkommen entwickelt ist, wird
berichtet, daß nichtsdestoweniger das Vermögen der Unterscheidung kon-
kreter Gesamtheiten bei ihnen aufs feinste ausgebildet ist. Wenn aus dem
Trupp der zahlreichen Hunde, die sie bei der Jagd mit sich führen, beim
Aufbruch auch nur einer fehlt, so wird dies sofort erkannt, und ebenso
erkennt der Besitzer einer Herde von 4 — 5oo Rindern, wenn diese nach
Hause getrieben wird, schon von fern her, ob einige von ihnen, ja auch
welche von ihnen fehlen1. Hier sind es individuelle Vielheiten, die je an
einem besonderen individuellen Merkmal erkannt und unterschieden wer-
den: — die „Zahl" der Menge tritt, sofern von ihr überhaupt gesprochen
werden kann, nicht in der Form der bestimmten und gemessenen Zahl-
größe, sondern als eine Art konkreter „Zahlgestalt", als eine anschau-
liche Qualität hervor, die an dem zunächst noch völlig ungegliederten
Gesamteindruck der Menge haftet2.
In der Sprache spiegelt sich diese Grundauffassung am deutlichsten
darin wider, daß sie ursprünglich keine schlechthin allgemeinen
Zahlausdrücke kennt, die auf jeden beliebigen zählbaren Gegenstand an-
wendbar sind, sondern, daß sie für besondere Klassen von Objekten je
eine besondere, ihnen entsprechende Zahlbezeichnung verwendet. So-
lange die Zahl noch ausschließlich als Dingzahl genommen wird, so-
lange muß es im Grunde ebensoviele verschiedene Zahlen und Zahl-
gruppen geben, als es verschiedene Klassen von Dingen gibt. Ist die Zahl
einer Menge von Gegenständen nur als ein qualitatives Attribut gedacht,
das den Dingen in ganz der gleichen Weise, wie eine bestimmte räum-
liche Gestaltung oder wie irgendeine sinnliche Eigenschaft zukommt —
so entfällt auch für die Sprache die Möglichkeit, sie von sonstigen Eigen-
schaften abzusondern und für sie eine allgemeingültige Ausdrucksform
zu erschaffen. Wirklich zeigt sich auf primitiven Stufen der Sprach-
bildung noch überall, daß die Zahlbezeichnung mit der Ding- und Eigen-
schaftsbezeichnung unmittelbar verschmilzt. Dieselbe inhaltliche Bezeich-
nung dient hier zugleich als Ausdruck der Beschaffenheit des Gegen-
standes, wie als Ausdruck seiner Zahlbestimmung und seines Zahlcharak-
ters. Es gibt Worte, die gleichzeitig je eine besondere Art von Objekten
und eine besondere Gruppeneigenschaft dieser Objekte zum Ausdruck
1 Dobritzhof f er, Historia de Abiponibus; vgl. Pott, a. a. O., S. 5, 17 u. s. w.
2 Zu diesem qualitativen Charakter der primitiven „Zahlen" und Zählungen vgl. bes. die
ausgezeichneten, auf ein reiches Beispielmaterial gestützten Darlegungen Wert-
heimers, Das Denken der Naturvölker, Zeitschr. für Psychologie, Bd. 60 (1912),
S. 321 ff.
188
bringen. So ist z. B. in der Sprache der Fidschi-Inseln je ein eigenes Wort
im Gebrauch, das , Gruppen von zwei, von zehn, von hundert, von tau-
send Kokosnüssen, oder auch eine Gruppe von zehn Kanus, von zehn
Fischen u. s. f . bezeichnet1. Und auch nachdem die Scheidung einge-
treten, nachdem die Zahlbezeichnung gegenüber der Ding- und Eigen-
schaftsbezeichnung selbständig geworden ist, sucht sie sich noch immer
der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge und Eigenschaften
nach Möglichkeit anzuschmiegen. Nicht jede Zahl gilt für jedes Ding:
denn der Sinn der Zahl liegt hier noch nicht darin, die abstrakte Vielheit
schlechthin, sondern den Modus dieser Vielheit, ihre Art und Form, aus-
zudrücken. So sind z. B. in den Indianersprachen verschiedene Reihen von
Zahlworten im Gebrauch, je nachdem Personen oder Sachen, belebte
oder imbelebte Dinge gezählt werden. Auch kann je eine besondere Reihe
von Zahlausdrücken eintreten, wenn es sich darum handelt, Fische oder
Bälge zu zählen, oder wenn das Verfahren der Zählung auf stehende,
liegende oder sitzende Gegenstände angewandt wird. Die Moanuinsulaner
haben verschiedene Zahlen von eins bis neun, je nachdem entweder Ko-
kosnüsse oder Menschen, Geister und Tiere oder Bäume, Kanus und
Dörfer oder Häuser oder Stangen und Pflanzungen gezählt werden2.
In der Tsimshiensprache von Britisch-Kolumbien gibt es je eine beson-
dere Zahlenreihe zur Zählung von platten Gegenständen und Tieren, zur
Zählung von runden Objekten und Zeiteinteilungen, von Menschen, von
Booten, von langen Gegenständen und von Maßen3; — und in anderen be-
nachbarten Sprachen kann die Differenzierung der verschiedenen Zahl-
reihen noch weiter gehen und praktisch fast unbegrenzt sein4. Wie man
sieht, ist hier das Bestreben der Zählung auf alles andere, als auf „Homo-
geneität" gerichtet. Die Tendenz der Sprache geht vielmehr dahin, den
quantitativen Unterschied dem generischen Unterschied, der sich in ihren
1 H. G. v. d. Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, S. 23; vgl. Codrington,
Melanesian Languages, S. 2^1. Ähnliche Kollektivworte finden sich in den melanesischen
Sprachen auf Neu-Guinea, die z. B. je ein eigenes, in sich selbst ungeschiedenes Wort
zur Bezeichnung von 4 Bananen oder 4 Kokosnüssen, von 10 Ferkeln, von 10 länglichen
Dingen u. s. f . verwenden. Vgl. Ray, Torres-Expedit. III, 475.
2 Vgl. P. Jos. Meyer im Anthropos I, 228 (cit. von Wertheimer a. a. 0., S. 342).
3 S. Powell, Introduction to the Study of Indian languages, S. 25, und die Zusammen-
stellung der verschiedenen Klassen von Zahlwörtern (Zahlworte für flache Gegenstände,
für runde Gegenstände, für lange Gegenstände, für menschliche Wesen, für Maße) bei
Boas, Tsimshian (Handbook I, 3a6f.). *
4 Vgl. hrz. bes. die von Levy-Bruhl aus der sprachwissenschaftlichen u. ethnologi-
schen Literatur gesammelten Beispiele (a. a. 0. S. 169 ff.).
189
Klasseneinteilungen ausdrückt, unterzuordnen und ihn gemäß dem letz-
teren zu modifizieren. Deutlich tritt diese Tendenz auch dort hervor, wo
die Sprache zwar bereits zur Anwendung allgemeiner Zahlausdrücke fort-
geschritten ist, wo sie aber nichtsdestoweniger daran festhält, jedem der-
artigen Ausdruck ein bestimmtes Determinativ folgen zu lassen, das
als ein spezifischer Mengenausdruck die besondere Art der kollektiven Zu-
sammenfassung kennzeichnet. Es ist, anschaulich und konkret betrachtet,
offenbar etwas völlig anderes, ob Menschen zu einer „Gruppe" oder
Steine zu einem „Haufen" vereinigt werden, ob sich uns eine „Reihe"
ruhender oder ein „Schwärm" bewegter Gegenstände darstellt u. s.f . Alle
solche Besonderungen und Nuancierungen sucht die Sprache in der Wahl
ihrer Kollektivworte und in der Regelmäßigkeit, mit der sie solche Worte
mit den eigentlichen Zahlausdrücken verbindet, festzuhalten. So werden
z. B. in den malayo-polynesischen Sprachen die Zahlausdrücke mit den
zugehörigen Substantiven nicht unmittelbar zusammengefügt, sondern es
müssen zu den letzteren immer gewisse determinierende Worte hinzu-
treten, deren jedes gleichsam eine Besonderung der „Kollektivierung"
selber zum Ausdruck bringt. Der Ausdruck für „5 Pferde" lautet wört-
lich „Pferde, fünf Schwänze", der für vier Steine lautet wörtlich „Steine,
vier runde Körper" u. s. f.1. Ebenso folgt in den mexikanischen Sprachen
dem Ausdruck der Zahl und des gezählten Gegenstandes noch eine Be-
zeichnung, die die Art und Form der Reihung oder Anhäufung kenntlich
macht und die z. B. eine andere ist, wenn es sich um die Zusammenfas-
sung runder und zylinderförmiger Gegenstände, wie Eier oder Bohnen,
oder wenn es sich um die Aufstellung langer Reihen von Personen oder
Dingen, von Mauern und Furchen, handelt2. Auch das Japanische und
Chinesische hat die Anwendung derartiger „Numerative", die sich je nach
der Klasse der gezählten Gegenstände voneinander unterscheiden, zu be-
sonderer Feinheit entwickelt. In diesen Sprachen, denen der allgemeine
grammatische Unterschied von Singular und Plural fehlt, wird nichts-
destoweniger mit großer Strenge darauf geachtet, daß die kollektive Zu-
sammenfassung als solche in ihrer spezifischen Richtung und Eigenart
scharf gekennzeichnet wird. Wenn im abstrakten Zählverfahren die Ein-
heiten, ehe sie miteinander verknüpft werden können, zuvor jedes eigenen
Inhalts entleert werden müssen, so bleibt hier ein solcher Inhalt be-
stehen, bedingt dann aber auch je eine besondere Art der Zusammenfas-
1 Näheres hierüber z.B. bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 275, 3o3; Codrington,
Melanes. Languages, S. i48; v. d. Gabelentz, Melanes. Sprachen, S. 23, 255.
2 Näheres bei Buschmann in seinen Noten zu Humboldts Kawi-Werk II, 26o,ff.
I90
sung zu kollektiven Verbänden, zu Mengen und Vielheiten1. Die sprach-
lich-gedankliche Bestimmung ist hier weit mehr darauf gerichtet, ge-
wisse Gruppenformen herauszuheben und gegeneinander scharf ab-
zugrenzen, als diese Gruppen selbst wieder in Einheiten und Einzel-
heiten zu zerbrechen: die Charakteristik der Vielheit als solcher erfolgt
dadurch, daß sie ihrem anschaulichen Gesamtgehalt nach erfaßt und
von anderen unterschieden, nicht dadurch, daß sie logisch und ma-
thematisch aus ihren einzelnen konstitutiven Elementen aufgebaut
wird. —
Die gleiche Grundauffassung tritt uns entgegen, wenn wir statt des
Verfahrens, das die Sprache in der Bildung der Zahlworte befolgt, die
Mittel betrachten, mit denen sie die formale und allgemeine Unterschei-
dung des „Singulars" und „Plurals" durchführt. Denkt man in der Idee
des Plurals die logische und mathematische Kategorie der „Mehrheit"
beschlossen, also die Kategorie einer Vielheit, die sich aus klar geschie-
denen gleichartigen Einheiten aufbaut, so zeigt es sich, daß der
Plural, in diesem Sinne genommen, vielen Sprachen ganz abgeht.
Eine große Zahl von Sprachen läßt den Gegensatz von Singular
und Plural völlig unbezeichnet. Das Substantivum kann hier seiner
Grundform nach ebensowohl als Bezeichnung der Gattung gebraucht
werden, die als solche eine unbestimmte Vielheit von Exemplaren unter
sich befaßt, wie es als Ausdruck eines einzelnen Exemplars der Gat-
tung dient. Es steht somit zwischen Singular- und Pluralbedeutung noch
mitten inne und hat sich gleichsam zwischen beiden noch nicht entschie-
den. Nur in einzelnen Fällen, in denen diese Unterscheidung wesentlich
erscheint, wird sie durch besondere sprachliche Mittel bezeichnet, wobei
jedoch häufig nicht sowohl die Pluralbedeutung, als vielmehr die singu-
larische Bedeutung eine derartige besondere Auszeichnung erfährt. So
haben sich z.B. die malayo-polynesischen Sprachen, nach Fr. Müller,
„zum Begriffe der Zahl als einer Mehrfaches in eine lebendige Einheit
fassenden Kategorie nie erhoben", so daß ihre Substanzwörter weder
eigentlich konkret, noch eigentlich abstrakt, sondern ein Mittelding zwi-
schen beiden sind. , „Mensch* gilt dem Malayen weder für einen Men-
schen in concreto, noch für Mensch = Menschheit in abstracto, sondern
als Bezeichnung für Menschen, die man eben gesehen hat und kennt.
Das Wort (dran) entspricht aber dennoch mehr unserem Plural als Sin-
gular und letzterer muß überall durch ein Wort, das ,eins' bedeutet,
1 Vgl, das System der japanischen und chinesischen „Numerative" bei Hoffmann,
Japan. Sprachlehre, S. i49ff-
I91
näher angedeutet werden1." Hier ist also nicht zunächst die bloße Einzel-
heit konzipiert, die dann durch ein sprachliches Formans in die Mehr-
heitsbedeutung umgesetzt wird, sondern aus der undifferenzierten Viel-
heit kann sich auf der einen Seite durch Hinzufügung bestimmter No-
mina mit allgemein-kollektivem Sinn die Pluralbedeutung, auf der anderen
Seite durch Anwendung bestimmter individualisierender Partikeln die
Singularbedeutung entwickeln2. Die gleiche Anschauung des Einheit-
Mehrheits-Verhältnisses liegt auch vielen altaischen Sprachen zugrunde,
in denen gleichfalls ein und dasselbe, grammatisch nicht näher dif-
ferenzierte Wort für den Ausdruck der Einheit und für den der Mehr-
heit gebraucht werden kann. Dasselbe Appellativum kann daher hier einer-
seits das einzelne Individuum und das ganze Genus, andererseits eine un-
bestimmte Anzahl von Individuen bezeichnen3. Aber auch diejenigen
Sprachkreise, die den Unterschied zwischen Singular und Plural formell
klar ausgebildet haben, zeigen noch mancherlei Erscheinungen, die
deutlich darauf hinweisen, daß dieser strengen Scheidung ein Stadium
relativer Indifferenz vorausgegangen ist. Häufig findet es sich hier, daß
ein Wort, das bereits die äußere Prägung des Plurals trägt, seiner gram-
matischen Konstruktion nach im entgegengesetzten Sinne gebraucht, also
mit dem Singular des Verbums verbunden wird, weil es seiner Grund-
bedeutung nach nicht sowohl als diskrete Mehrheit, als vielmehr als
kollektive Gesamtheit und somit als kollektive Einfachheit empfunden
wird4. Im Indogermanischen erklärt sich die Tatsache, daß im Arischen
und im Griechischen der Plural der Neutra mit der Einzahl des Verbums
verbunden wird, bekanntlich auf diese Weise : die Endung -ä dieser Neutra
1 S. Fr. Müller, Novara-Reise, S. 274 f.; vgl. für die australischen Sprachen, S. 2 46 f.;
s. auch Fr. Müller, Grundriß II, 2, n/iff.
2 Näheres hierüber bei Codrington, Melanesian Languages, S. i48f.; H. G. v. d.
Gabelen tz, Die melanes. Sprachen, S. 23, 255.
3 Vgl. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 3/Jof.; H. Winkler, Der ural-altaische
Sprachstamm, S. 187; zur „Pluralbildung" in den altaischen Sprachen s. auch Grunzel,
Vergl. Grammat. der altaischen Sprachen, S. t\"ii.
4 Im Ägyptischen werden, nach Erman (Ägypt. Grammat., S. io8f.), viele Begriffe,
die ihrem Sinne nach rein pluralisch sind, durch kollektive Abstrakta im Singular um-
schrieben und die Form des verbalen Prädikats gemäß dieser Auffassung umgestaltet.
Ebenso sind in den südsemitischen Sprachen nach Brockelmann (Grundriß I, [\%-jfi.,
vgl. II, 77 ff.) die Grenzen zwischen Singular, Kollektiv und Plural noch in ständigem
Flusse begriffen, so daß Kollektiva bei leichter Verschiebung wieder zum Singular
werden und dann einen neuen Plural bilden können. Für den indogermanischen
Sprachkreis s. die Beispiele, die Meyer-Lübke, Grammat. der roman. Sprachen II,
69 ff., III, 26ff. aus den romanischen Sprachen gibt.
192
hat ursprünglich keinen pluralen Sinn besessen, sondern geht auf die singu-
lare Femininendung -a zurück, die als Bezeichnung kollektiver Abstrakta
verwendet wurde. Die Formen auf -a waren also von Haus aus weder plura-
lisch noch singularisch, sondern Kollektiva schlechthin, die je nach Bedürf-
nis bald in der einen, bald in der anderen Weise gefaßt werden konnten1.
Auf der anderen Seite zeigt sich, daß die Sprache — analog dem, was
beim Zählverfahren zu beobachten war — auch in der Form der Plural-
bildung, nicht unvermittelt der abstrakten Kategorie der Einheit eine ab-
strakte Mehrheitskategorie gegenüberstellt, sondern daß zwischen beiden
mannigfache Abstufungen und Übergänge bestehen. Die ersten Viel-
heiten, die von ihr unterschieden werden, sind nicht Vielheiten schlecht-
hin, sondern spezifische Vielheiten, die einen besonderen und auszeich-
nenden qualitativen Charakter an sich tragen. Abgesehen von dem
Gebrauch des Dual und Trial, unterscheiden viele Sprachen einen
doppelten Plural: einen engeren für zwei und mehrere, aber immer
wenige und einen weiteren für viele Gegenstände. Dieser Gebrauch,
den Dobritzhoff er von der Sprache der Abiponen berichtet2, hat in
den semitischen Sprachen z. B. im Arabischen sein genaues Gegen-
bild3. Humboldt bemerkt in der Darstellung der Mehrheitsformen des
Arabischen, das neben einem Dual den beschränkten Plural von 3 — 9
und den Vielheits-Plural für 10 und mehr oder eine unbestimmte An-
zahl von Gegenständen kennt, daß die hier zugrunde liegende Ansicht,
den Gattungsbegriff gewissermaßen als außer der Kategorie des Nume-
rus liegend zu betrachten und von ihm durch Beugung Singularis und Plu-
ralis zu unterscheiden, „unleugbar eine sehr philosophische" genannt wer-
den müsse4. In Wahrheit scheint jedoch hier der Gattungsbegriff nicht so-
wohl seiner generischen Bestimmtheit nach konzipiert und, kraft eben
dieser Bestimmtheit aus der Unterscheidung des Numerus herausgehoben
zu werden, als er vielmehr in diese Form der Unterscheidung noch gar nicht
1 In den Singular setzte man, nach Brugraann, seit urindogermanischer Zeit ein No-
men, wenn man seinen Begriffsinhalt als etwas Einheitliches vorstellte und tatsächlich
etwa vorhandene Gliederung der Einheit nicht berücksichtigte; andererseits wurde der
Plural nicht nur da gebraucht, wo man mehrere Exemplare einer Gattung, mehrere
getrennte Vorgänge und Handlungen unterschied, sondern auch, wo bei einem Begriff
seine irgendwie mehrheitliche Wesenheit ausgedrückt werden sollte (Brugmann, Kurze
vgl. Grammat., S. 4i3; vgl. Griechische Grammat. », S. 36of.).
2 Dobritzhof f er, Historia de Abiponibus II, i66ff. (cit. bei Humboldt, Über den
Dualis, W. VI, 1, i9f.).
3 Näheres bei Brockelmann, Grundriß I, 436f.
4 Über den Dualis, a. a. 0. VI, 1, 20.
13 193
eingetreten ist. Der Unterschied, den dieSprache durch den Singular und Plu-
ral ausdrückt, ist an der Gattung nicht aufgehoben, sondern er hat sich an
ihr noch nicht in voller Schärfe vollzogen; der quantitative Gegensatz von
Einheit und Vielheit ist nicht durch eine übergreifende qualitative Ein-
heit überwunden, weil er zunächst noch gar nicht bestimmt gesetzt ist.
Die Einheit der Gattung bedeutet ein distinktes Eins gegenüber der nicht
minder distinkten Vielheit der Arten — in der unbestimmten Kollektiv-
bedeutung, aus der sich in einer großen Zahl von Sprachen die Singular-
wie die Pluralbedeutung erst herausschält, bildet aber gerade die In-
distinktheit das entscheidende Moment. Die Vielheit wird als bloßer
Haufe, als Menge oder Masse, also als ein sinnliches, nicht als ein logisches
Ganze erfaßt. Ihre Allgemeinheit ist die eines Eindrucks, der sich noch
nicht in seine einzelnen Elemente und Komponenten auseinandergelegt hat,
nicht die eines übergeordneten Begriffs, der das Besondere, als ein Ge-
sondertes und „Ersondertes", in sich faßt.
Eben dieses Grundmoment der Sonderung aber ist es, kraft dessen
erst aus dem bloßen Begriff der Menge und der Vielheit der strenge Be-
griff der Zahl erwächst. Die bisherige Betrachtung hat uns zwei Wege
und Richtungen kennen gelehrt, in denen sich die Sprache diesem Begriff
nähert, den sie gemäß ihrer Eigenart freilich nicht anders als in sinn-
licher Hülle erfassen kann. Auf der einen Seite hielt das sprachliche Den-
ken schon in den primitivsten, an den Gliedmaßen des menschlichen
Körpers orientierten Zählungen das Moment der „Ordnung in der Folge"
fest. Wenn diese Zählungen zu irgendeinem Ergebnis führen sollten, so
mußte im Durchlaufen der einzelnen Glieder nicht willkürlich von
dem einen zum andern übergegangen, sondern irgendeine Regel der Ab-
folge innegehalten werden. Auf der anderen Seite war es der Eindruck
der Vielfachheit schlechthin, das Bewußtsein eines zunächst noch unbe-
stimmten Ganzen, das sich in irgendeiner Weise in „Teile" zerlegt, wo-
durch sich die Sprache in der Bildung ihrer allgemeinen Kollektivbe-
zeichnungen geleitet zeigte. In beiden Fällen erscheint das Denken der
Zahl und ihr sprachlicher Ausdruck an die Grundformen der Anschau-
ung, an die Erfassung des räumlichen und des zeitlichen Seins gebunden.
Die erkenntniskritische Analyse zeigt, wie beide Formen zusammenwirken
müssen, um den wesentlichen Gehalt des Zahlbegriffs ans Licht zu för-
dern. Wenn die Zahl sich für die Erfassung des kollektiven „Beisammen"
auf die Anschauung des Raumes stützt, so bedarf sie der Anschauung der
Zeit, um das charakteristische Gegenmoment zu dieser Bestimmung, um
den Begriff der distributiven Einheit und Einzelheit auszubilden.
194
Denn eben dies ist die gedankliche Aufgabe, die sie zu bewältigen hat,
daß sie beide Forderungen nicht nur für sich erfüllt, sondern daß sie sie
als eine einzige begreift. Jede wahrhaft zahlenmäßig bestimmte Vielheit
ist eben damit zugleich als Einheit, jede Einheit zugleich als Vielheit
gedacht und erfaßt. Nun findet sich freilich diese korrelative Einigung
gegensätzlicher Momente in jedem geistigen Grundakt des Bewußtseins
wieder. Immer handelt es sich darum, die Elemente, die in die Synthesis
des Bewußtseins eingehen, in dieser nicht einfach nebeneinander stehen
zu lassen, sondern als Ausdruck und Ergebnis ein und desselben Grund-
akles zu begreifen, — die Verknüpfung als Sonderung, die Sonderung
als Verknüpfung erscheinen zu lassen. Aber so notwendig diese doppelte
Bestimmung ist, so kann doch, je nach der besonderen Eigenart des Pro-
blems, in der Gesamtsynthese bald der eine, bald der andere der beiden
Faktoren sein Übergewicht behaupten. Wenn in dem exakten mathema-
tischen Zahlbegriff das reine Gleichgewicht zwischen der Funktion der
Verknüpfung und Sonderung erreicht scheint, wenn sich hier das Gebot
der einheitlichen Zusammenfassung zu einem Ganzen und das Gebot der
durchgängigen Diskretion der Elemente in idealer Strenge erfüllen — so
überwiegt im Bewußtsein des Baumes und der Zeit je eines dieser Motive
und behauptet gegenüber dem anderen den Vorrang. Denn im Baum stellt
sich vorzugsweise das Moment des Bei- und Ineinanderseins der Elemente,
in der Zeit das Moment ihres Nach- und Auseinanderseins dar. Keine
einzelne räumliche Gestalt kann angeschaut oder gedacht werden, ohne
zugleich den Baum als Ganzes, „in" welchem sie enthalten sein soll,
mitzudenken: die Besonderheit der Gestalt ist hier immer nur als Ein-
schränkung des allbefassenden „einigen" Baumes möglich. Auf der an-
deren Seite ist der zeitliche Augenblick das, was er ist, zwar gleichfalls
nur dadurch, daß er als Moment in einer Folge, als Glied in einer Suk-
zession erscheint: aber eben diese Folge kann nur dadurch konstituiert
werden, daß jedes einzelne Moment alle anderen von sich ausschließt,
daß ein einfaches unteilbares „Jetzt", ein reiner Gegenwartspunkt gesetzt
wird, der sich von aller Vergangenheit und aller Zukunft schlechthin un-
terscheidet. Das konkrete Denken der Zahl, wie es in der Sprache seinen
Ausdruck findet, nimmt beide Leistungen : die des Baumbewußtseins und
die des Zeitbewußtseins, in seinen Dienst — und es benutzt sie, um kraft
ihrer zwei verschiedene Momente an der Zahl zur Ausbildung zu bringen.
Von der Unterscheidung der räumlichen Objekte her gelangt die Sprache
zu ihrem Begriff und ihrem Ausdruck der kollektiven Vielheit — von der
Unterscheidung der zeitlichen Akte gelangt sie zu ihrem Ausdruck der Be-
i3*
ig5
sonderung und Vereinzelung. In der Form der Pluralbildung scheint die-
ser doppelte Typus der geistigen Auffassung der Mehrheit sich deutlich
auszuprägen. Die Bildung der Mehrheitsform erscheint in dem einen Fall
durch die Anschauung dinglicher Komplexe, in dem anderen durch die
Anschauung der rhythmisch-periodischen Wiederkehr der Phasen eines
bestimmten zeitlichen Prozesses geleitet; in dem einen richtet sie sich vor-
wiegend auf gegenständliche Ganzheiten, die aus einer Mehrheit von Teilen
bestehen, in dem anderen auf die Wiederholung von Ereignissen oder
Tätigkeiten, die sich miteinander zu einer stetigen Folge verknüpfen. —
So haben in der Tat diejenigen Sprachen, die in ihrem ganzen Bau eine
vorwiegend verbale Struktur aufweisen, auch eine eigentümliche rein
„distributive" Auffassung der Mehrheit entwickelt, die sich von der kol-
lektiven scharf abhebt. Die scharfe Herausarbeitung und Charakteristik
der verbalen Akte wird hier zum eigentlichen Vehikel der Mehrheitsauf-
fassung. Die Sprache der Klamath-Indianer z. B. hat kein eigenes Mit-
tel ausgebildet, um zwischen der Bezeichnung einzelner Objekte und
der einer Mehrheit von Objekten zu unterscheiden. Aber in größter
Genauigkeit und Folgerichtigkeit wird statt dessen der Unterschied be-
achtet und festgehalten, der zwischen einem Tun besteht, das sich in
einem einmaligen zeitlichen Akt erschöpft, und einem solchen, das eine
Mehrheit zeitlich verschiedener, aber inhaltlich gleichartiger Phasen in
sich faßt. „Für den Geist des Klamath-Indianers" — sagt Gatschet — ■
„erschien die Tatsache, daß Verschiedenes zu verschiedenen Zeiten wieder-
holt getan wird, oder daß dasselbe mehrmals durch verschiedene Per-
sonen getan wurde, weit bedeutungsvoller, als die reine Idee der Mehr-
heit, wie wir sie in unseren Sprachen besitzen. Diese Kategorie der Ge-
sondertheit machte auf ihn einen so starken Eindruck, daß die Sprache
sie überall durch ein besonderes symbolisch-lautliches Mittel, durch die
Verdoppelung zum Ausdruck bringt." Alle Ausdrücke des „Plurals" in
unserem Sinne sind daher im Klamath erweislich jüngeren Ursprungs,
während der Gedanke der Sonderung eines Aktes in eine Mehrheit gleich-
artiger Prozesse, durch das angegebene Mittel der Reduplikation, das die
gesamte Sprache bis herab zu den Postpositionen und gewissen adver-
bialen Partikeln durchdringt, stets scharf und eindeutig bezeichnet wird1.
Das Hupa, eine Sprache des athapaskischen Sprachkreises, verwendet in
vielen Fällen den Singular, wo wir den Plural erwarten würden: näm-
lich immer dann, wenn an einer Handlung zwar eine Mehrheit von Indivi-
duen beteiligt ist, die Handlung selbst aber als eine Einheit erscheint.
1 S. Gatschet, Klamath-Language, S. £19, 464, 611.
196
Dagegen wird auch hier das distributive Verhältnis durch die Wahl eines
besonderen Präfixes stets aufs genaueste bezeichnet1. In der gleichen
Funktion wird insbesondere die Reduplikation auch außerhalb des Krei-
ses der amerikanischen Eingeborenensprachen gebraucht2. Wieder hat
sich hier eine an sich gedankliche Form der Auffassung in der Sprache
ihren unmittelbar-sinnlichen Ausdruck geschaffen. Die einfache Wieder-
holung des Lautes ist das zugleich primitivste und wirksamste Mittel, um
die rhythmische Wiederkehr und die rhythmische Gliederung eines Aktes,
insbesondere einer menschlichen Tätigkeit zu bezeichnen. Vielleicht stehen
wir hier an einer Stelle, an der wir, wenn irgendwo, noch einen Blick in
die ersten Motive der Sprachbildung und in die Art des Zusammenhangs
zwischen Sprache und Kunst tun können. Man hat versucht, die Anfänge
der Dichtung bis zu jenen ersten primitiven Arbeitsgesängen der
Menschheit zurückzuverfolgen, in denen sich die empfundene Rhythmik
der eigenen körperlichen Bewegungen gleichsam zum erstenmal nach
außen wendet. Wie diese Arbeitsgesänge noch heute über die ganze Erde
verbreitet sind und wie ähnlich sie sich allenthalben in ihrer Grundform
bleiben, hat Büchers umfassende Untersuchung über Arbeit und Rhyth-
mus gezeigt. Jede Form der physischen Arbeit bedingt schon beim Ein-
zelnen, noch mehr aber, wenn sie in Gemeinschaft vollzogen wird, eine
zweckmäßige Koordination von Bewegungen, die ihrerseits unmittelbar
zur rhythmischen Zusammenfassung und zur rhythmischen Abteilung der
einzelnen Arbeitsphasen hindrängt. Für das Bewußtsein stellt sich die-
ser Rhythmus in doppelter Art dar, indem er sich einmal in der reinen
Bewegungsempfindung, in dem Wechsel des Anspannens und Erschlaf-
fens der Muskel, andererseits in objektiver Form in den Wahrneh-
mungen des Gehörsinnes, in dem Gleichmaß der Laute und Geräusche, die
die Arbeit begleiten, ausprägt. Das Bewußtsein des Tuns und seiner Dif-
ferenzierung knüpft an diese sinnlichen Differenzen an: das Mahlen und
Reiben, das Stoßen und Ziehen, das Pressen und Treten unterscheidet sich
eben darin, daß es, wie seinen besonderen Zweck, so auch je seinen
eigenen Takt und Ton besitzt. In der Fülle und Mannigfaltigkeit der Ar-
beitslieder, in den Spinn- und Webeliedern, den Dresch- und Ruderlie-
1 S. Goddard, Athapascan (Hupa), (in Boas' Handbook I, io/i); vgl. Boas, Kwakiutl
(a. a. 0. I, l\kk)'- „The idea of plurality is not clearly developed. Reduplication of a noun
expresses rather the occurence of an object here and there, or of different kinds of a
particular object, than plurality. It is therefore rather a distributive than a true plural.
It seems that this form is gradually assuming a purely plural singnificance".
2 Vgl. die Anwendung der Reduplikation zur Bezeichnung des „distributiven" Plurals in
den Hamitensprachen s. Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, S. 2 5, 171.
J97
dem, in den Liedern, die beim Mahlen und Backen u. s. f. gesungen wer-
den, kann man gleichsam noch unmittelbar heraushören, wie hier eine
spezifische rhythmische Empfindung, die durch die besondere Richtung
der Arbeit bestimmt wird, nur dadurch bestehen und sich in das Werk
umsetzen kann, daß sie sich gleichzeitig im Laut objektiviert1. Vielleicht
entstammen auch einige Formen der Reduplikation beim Verbum, als
Ausdrücke eines Aktes, der eine Mehrheit rhythmisch wiederkehrender Pha-
sen in sich schließt, einer solchen Verlautbarung, die ursprünglich von dem
eigenen Tun des Menschen seinen Ausgang nahm. In jedem Fall konnte die
Sprache das Bewußtsein der reinen Zeitform und der reinen Zahlform nicht
anders gewinnen, als dadurch, daß sie es an bestimmte Inhalte, an gewisse
rhythmische Grunderlebnisse anknüpfte, in welchen beide Formen wie in
unmittelbarer Konkretion und Verschmelzung gegeben waren. Daß es hier-
bei die Differenzierung nicht sowohl der Dinge, als vielmehr der Akte
war, von der die Sonderung und „Distribuierung", also eines der Grund-
momente der Zählung, ihren Ausgang nahm, scheint auch dadurch be-
stätigt zu werden, daß in vielen Sprachen der Mehrheitsausdruck beim
Verbum nicht nur dort gebraucht wird, wo eine tatsächliche Mehrheit von
Tätern vorhanden ist, sondern wo ein einzelnes Subjekt ein und dasselbe
Tun auf verschiedene Objekte richtet2. Für eine Anschauung der Mehr-
1 Näheres s. bei Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus (4- Aufl. Lpz. 1909).
2 Dies ist also der umgekehrte, aber genau entsprechende Fall, der soeben (S. 196) am
Beispiel des Hupa betrachtet wurde. Während dort der Singular des Verbums auch bei
einer Mehrheit der Subjekte gebraucht wird, wenn die Handlung selbst (wie etwa die
Ausführung eines Tanzes) als eine unteilbare Einheit angesehen wird, so tritt anderer-
seits in den meisten amerikanischen Eingeborenensprachen ein transitives Verbum in den
Plural, wenn sein direktes Objekt in der Mehrzahl steht, die Handlung also auf ver-
schiedene Gegenstände gerichtet und dadurch in sich selbst gespalten erscheint. Auch in
anderen Sprachen ist der Ausdruck der Mehrheit am Verbum nicht sowohl von der Viel-
heit der Subjekte, als vielmehr von der der Objekte des Wirkens, oder von beiden zu-
gleich, abhängig. (Beispiele aus dem Kiwai, einer Papuasprache, gibt Ray, Torres-
Expedit. III, 3nf.; von den afrikanischen Sprachen unterscheidet z. B. die Nuba-
Sprache, ob das Objekt, auf das sich die Tätigkeit bezieht, ein einzelnes ist oder aus
einer Mehrheit besteht. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 56f., 69L Die Tagalische
Sprache, die von Humboldt im Kawi-Werk eingehend beschrieben wird, wendet
beim Verbum oft ein bestimmtes Pluralpräfix an, um dadurch ebensowohl die Mehr-
heit der Handelnden wie insbesondere eine in der Handlung selbst liegende Vielfältigkeit
oder Mehrfachheit zu bezeichnen. Der Begriff der Mehrheit wird in diesem Falle bald
auf die Handelnden, bald auf die Handlung oder auch auf die mehr oder weniger häufige
Beschäftigung mit ihr bezogen. So bedeutet: mag-sülat (von sulat schreiben') sowohl:
,viele schreiben als gewöhnlicher Plural, wie ein Frequentativum ,er schreibt viel' , oder
es drückt einen „habituellen Modus" aus (,es ist sein Geschäft zu schreiben). Näheres
bei Humboldt, a. a. 0. II, 317, 376ff.).
198
heit, die sich wesentlich auf die reine Form des Akts selbst richtet, ist es
in der Tat von untergeordneter Bedeutung, ob an ihm nur ein Individuum
oder mehrere beteiligt sind, während die Zerlegung in einzelne Aktphasen
stets von entscheidender Wichtigkeit ist.
Wenn wir bis hierher die Grundformen der reinen Anschauung, die
Formen des Raumes und der Zeit, als den Ausgangspunkt der Zahl- und
Mehrheitsbildung betrachtet haben, so ist indessen damit die vielleicht
ursprünglichste und tiefste Schicht, in der der Zählakt wurzelt, noch nicht
berührt. Denn auch hier kann die Betrachtung nicht vom Objekt allein
und von den Unterschieden innerhalb der objektiven, der räumlich-zeit-
lichen Sphäre ausgehen, sondern sie muß zu den Grundgegensätzen zu-
rücklenken, die aus der reinen Subjektivität herstammen. Eine ganze
Reihe von Anzeichen spricht dafür, daß auch die Sprache die ersten zah-
lenmäßigen Sonderungen, die sie vollzieht, aus diesem Gebiet geschöpft
hat, — daß es nicht sowohl das dingliche Neben- und Auseinander der
Gegenstände oder Vorgänge als vielmehr die Trennung des „Ich" und
„Du" gewesen ist, an der sich das Bewußtsein der Zahl zuerst entfaltet
hat. Es ist, als wenn auf diesem Gebiet eine weit größere Feinheit der
Unterscheidung, eine stärkere Empfindlichkeit auch für den Gegensatz
des „Einen" und „Vielen", als im Kreise der bloßen Sachvorstellungen
herrschte. Viele Sprachen, die eine eigentliche Pluralform beim Nomen
nicht entwickelt haben, prägen diese nichtsdestoweniger an den persön-
lichen Fürwörtern aus1; andere wenden zwei verschiedene Pluralzeichen
an, von denen das eine ausschließlich für die Pronomina gebraucht wird2.
Oft wird die Mehrheit beim Nomen nur dann besonders ausgedrückt,
wenn es sich um vernünftige und belebte Wesen, nicht dagegen, wenn es
sich um leblose Gegenstände handelt3. Im Jakutischen stehen Teile des
1 Für die amerikanischen Sprachen vgl. z.B. die Darstellung des Maidu durch Roland
B. Dixon (in Boas' Handbook I, 683 ff.): „Ideas of number are unequally developed in
Maidu. In nouns, the exact expression of number seems to have been feit as a minor need;
whereas, in the case of pronominal forms, number is clearly and accurately expressed"
(S. 708). Auch in den melanesischen, sowie in den polynesischen und indonesischen
Sprachen ist es nur beim Pronomen zur Ausbildung einer scharfen Zahlunterscheidung
gekommen; näheres bei Codrington, Melanes. languages, S. 110, und bei H. G. v. d.
Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 37. Die Bakairi-Sprache, die weder den Unter-
schied des Singulars und Duals noch eine allgemeine Pluralbezeichnung kennt, hat An-
sätze für eine solche für die erste und zweite Person des Pronomens ausgebildet; vgl.
v. d. Steinen, Bakairi-Sprache, S. 324, 34af.
2 Dies ist z.B. im Tibetanischen der Fall; vgl. J. J. Schmidt, Grammat. der tibet.
Sprache, Petersburg 1839, S. 63 f.
3 Vielfältige Beispiele für diesen Gebrauch bei Fr. Müller, Grundriß II, 1, 261; II, 1,
199
Körpers, sowie Kleidungsstücke gewöhnlich im Singular, auch wenn sie
zweifach oder mehrfach an einem Individuum vorhanden sind, pflegen
dagegen in den Plural zu treten, wenn sie mehreren Personen zuge-
hören1: die Unterscheidung der Zahl ist somit auch hier in größerer
Schärfe für die Anschauung der Individuen, als innerhalb der bloßen
Sachanschauung durchgebildet. —
Und auch hier drückt sich nun in den Zahlbezeichnungen, die dieser
personalen Sphäre entstammen, jene Wechselbeziehung aus, die über-
haupt zwischen der Zahl und dem Gezählten besteht. Es hat sich bereits
allgemein gezeigt, daß die ersten Zahlbezeichnungen, die die Sprache er-
schafft, von ganz bestimmten konkreten Zählungen herrühren und gleich-
sam noch die Farbe derselben an sich tragen. Diese eigentümliche und
spezifische Färbung wird am deutlichsten dort erkennbar, wo die Zahl-
bestimmung nicht von der Unterscheidung der Dinge, sondern von der der
Personen ihren Ausgang nimmt. Denn hier tritt die Zahl zunächst nicht
als ein allgemeingültiges gedankliches Prinzip, nicht als ein unbeschränkt
fortsetzbares Verfahren auf, sondern hier schränkt sie sich von Anfang
an innerhalb eines bestimmten Kreises ein, dessen Grenzen nicht nur
durch die objektive Anschauung, sondern noch schärfer und klarer durch
die reine Subjektivität des Gefühls bezeichnet sind. Kraft der letzteren
wird das „Ich" vom „Du", das „Du" vom „Er" geschieden; aber es be-
steht zunächst kein Anlaß und keine Notwendigkeit, über diese scharf
bestimmte Dreiheit, die im Unterschied der „drei Personen" gegeben ist,
zur Anschauung einer weiteren Vielheit fortzugehen. Soweit eine solche
Vielheit konzipiert und sprachlich bezeichnet wird, trägt sie doch nicht
den gleichen Charakter der „Distinktheit" an sich, der sich in der wech-
selseitigen Sonderung der personalen Sphären ausprägt. Jenseit der Drei
beginnt vielmehr sozusagen das Reich der unbestimmten Mehrheit — der
bloßen Kollektivität, die in sich nicht weiter gegliedert wird. In der Tat
sehen wir überall in der Entwicklung der Sprache die ersten Zahlbil-
dungen an derartige Schranken gebunden. Die Sprachen vieler Naturvölker
zeigen, daß die Tätigkeit der Sonderung, wie sie sich am Gegensatz
3 1 4 f., HI, 2, 5o; — für die melanesischen Sprachen s. v. d. Gabelentz, a.a.O.,
S. 87. — Im Hupa haben nur wenige Nomina eine Pluralform: es sind solche, die das
Alter oder den Stand eines Menschen bezeichnen oder die eine Verwandtschaftsbezie-
hung ausdrücken. (Goddard, Athapascan in Boas' Handbook I, io4.) Im Aleütischen
gibt es zwei verschiedene Ausdrücke der Mehrheit, deren einer für lebende Wesen,
deren anderer für leblose Gegenstände gebraucht wird; s. Victor Henry, Esquisse
d'une grammaire raisonnee de la langue aleoute, Paris 1879, S. i3.
1 S. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 34o.
200
des Ich und Du entfaltet, von der „Eins" zur „Zwei" fortgeht — daß
es ein weiterer bedeutsamer Schritt ist, wenn die „Drei" in diesen Kreis
einbezogen wird, daß aber, darüber hinaus, die Kraft der Auseinander-
haltung, die Leistung der „Diskretion", die zur Zahlbildung hinführt,
gleichsam erlahmt. Bei den Buschmännern reichen die Zahlausdrücke
eigentlich nur bis Zwei: schon der Ausdruck für Drei besagt nichts an-
deres als ,vier und wird in Verbindung mit der Fingersprache für alle
Zahlen bis 10 hinauf gebraucht1. Auch die Ureinwohner von Viktoria
haben keine Zahlworte über 2 hinaus entwickelt. In der Binandele-
Sprache auf Neu-Guinea sind nur drei Zahlworte für 1, 2, 3 vorhanden,
während Zahlen über 3 durch Umschreibung gebildet werden müssen2. In
allen diesen Beispielen, denen sich viele andere an die Seite stellen las-
sen3, tritt deutlich hervor, wie eng der Zählakt ursprünglich an der An-
schauung des Ich, Du und Er haftet und wie er sich von ihr nur ganz
allmählich loslöst. Die besondere Rolle, die der Dreizahl in der Sprache
und im Denken aller Völker zukommt4, scheint hierin ihre letzte Erklä-
rung zu finden. Wenn man von der Zahlauffassung der Naturvölker all-
gemein gesagt hat, daß jede Zahl hier noch ihre eigene individuelle Phy-
siognomie habe, daß sie eine Art mystisches Sein und eine mystische Be-
sonderheit besitze, so gilt dies vor allem von der Zwei und der Drei. Beide
sind Gebilde besonderer Art, sie besitzen gleichsam je eine spezifische
geistige Tönung, kraft deren sie sich aus der gleichförmigen und homo-
genen Zahlenreihe herausheben. Auch in denjenigen Sprachen, die ein
reich entwickeltes und durchgebildetes „homogenes" Zahlsystem besitzen,
ist diese Sonderstellung der Zahlen 1 und 2, unter Umständen auch der
Zahlen von 1 bis 3 oder von 1 bis 4, an gewissen formalen Bestimmungen
noch deutlich kenntlich. Im Semitischen sind die Zahlworte für 1 und 2
Adjektiva, die übrigen dagegen abstrakte Nomina, die sich das Gezählte im
1 Vgl. Fr. Müller, Grundriß I, 2, 26 f.
2 Vgl. Sayce, Introduction to the science of language I 4i2.
3 Solche Beispiele ihsbes. aus dem Gebiet der Papuasprachen finden sich bei Ray,
Torres-Expedit. III, 46, 288, 33i, 345, 373; s. auch Fr. Müller, Die Papuasprachen,
Globus, Bd. 72 (1897) S. i4o. Im Kiwai wird dasselbe Wort (potoro), das zur Be-
zeichnung des Trials dient, auch für 4 angewandt: seine Bedeutung ist daher wahrschein-
lich .wenige', während jede Zahl über 3 durch sirio /viele' wiedergegeben wird (Ray,
a. a. 0., S. 3o6). Für die melanesischen Sprachen s. H. C. v. d. Gabelentz, a.a.O.,
S. 258. Bei den Bakairi bestehen nach K. v. d. Steinen deutliche Anzeichen dafür,
daß die 2 die „Grenze der alten Arithmetik", der Ausdruck der Vielheit schlechthin ge-
wesen ist; das Wort, das hier für sie im Gebrauch ist, wird von ihm auf eine Wortver-
bindung zurückgeführt, die eigentlich „mit dir" besagt. (Die Bakairi-Sprache, S. 352 f .).
4 S. hrz. das Material bei Usener, Dreizahl, Rheinisches Museum, N. F., Bd. 58.
201
Genitiv pluralis unterordnen und dabei das dem Gezählten entgegen-
gesetzte Geschlecht besitzen1. In der indogermanischen Ursprache waren
nach dem übereinstimmenden Zeugnis des Indo-Iranischen, des Baltisch-
Slawischen und des Griechischen die Zahlworte von i bis 4 flektiert,
während die Zahlworte von 5 bis 19 durch unflektierte Eigenschaftsworte,
die darüber hinausgehenden Zahlen durch Substantiva mit dem Genitiv
des Gezählten gebildet wurden2. Auch eine grammatische Form, wie die
des Duals haftet weit länger an den persönlichen Fürwörtern, als sie sich
bei anderen Wortklassen erhält. Am deutschen Pronomen der ersten und
zweiten Person erhält sich der Dual, der sonst in der ganzen Deklination
untergeht, noch geraume Zeit3; ebenso ist in der Entwicklung der sla-
wischen Sprachen der „objektive" Dual weit früher als der „subjektive"
verloren gegangen4. Auch der etymologische Ursprung der ersten Zahl-
wörter scheint in vielen Sprachen noch auf diesen Zusammenhang mit
den Grundworten, die für die Unterscheidung der drei Personen ausge-
bildet waren, hinzudeuten : insbesondere scheint für das Indogermanische
eine gemeinsame etymologische Wurzel des Ausdrucks für „Du" und des
Ausdrucks für „Zwei" erwiesen5. Scherer beruft sich auf diesen Zusam-
menhang, um daraus zu folgern, daß wir hier an einem gemeinsamen
sprachlichen Ursprungsort der Psychologie, der Grammatik und der
Mathematik stünden; daß hier die Wurzel der Zweiheit bis zu jenem Ur-
dualismus zurückführe, der aller Möglichkeit des Sprechens und des Den-
kens zugrunde liegt6. Denn die Möglichkeit des Sprechens werde nach
Humboldt durch Anrede und Erwiderung bedingt, beruhe also auf einer
Spannung und einer Spaltung, die sich zwischen dem Ich und Du her-
stellt, um sich sodann in eben dem Akt des Sprechens wieder auszu-
gleichen, so daß dieser Akt als die eigentliche und wahrhafte „Vermitt-
lung zwischen Denkkraft und Denkkraft" erscheine.
1 Vgl. Brockelmann, Grundriß I, 484ff., II, 273ff.
2 Vgl. Meillet, Einf. in die vgl. Grammat. der indogerm. Sprachen, S. 2Ö2ff; Brug-
mann, Kurze vgl. Grammat., S. 36gff.
3 Von den deutschen Dialekten haben das Westfälische und das Bayerisch-Österreichische
bekanntlich noch heute diesen Gebrauch des Duals in Resten bewahrt; näheres z. B. bei
Jakob Grimm, Deutsche Grammatik I, 33o,ff.
4 Miklosich, Vergl. Grammat. der slaw. Sprachen IV, 4o; über ganz analoge Erschei-
nungen im Gebiet der finnisch-ugrischen Sprachen s. z. B. Szinnyei, Finnisch-
ugrische Sprachwissenschaft, Lpz. 1910, S. 60.
5 Vgl. über diese Frage Benfey, Das indogermanische Thema des Zahlworts ,zwei' ist
du, Göttingen 1876; daß das urindg. *duuö „letztlich wohl auf personale Anschauung
zurückgehe" nimmt auch Brugmann, Grundriß II, 2, 8ff ., an.
6 Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, S. 3o8ff., 355.
202
Gestützt auf diese spekulative Grundauffassung der Sprache, hat
W. v. Humboldt in seiner Abhandlung über den Dualis den Ge-
brauch dieser Form, die bis dahin von der Grammatik oft als ein bloßer
Ballast, als ein unnützes Raffiniment der Sprache bezeichnet worden war,
erst von innen her zu erhellen vermocht. Er weist dem Dual einen einer-
seits subjektiven, andererseits objektiven Ursprung und demgemäß eine
teils sinnliche, teils geistige Urbedeutung zu. Der ersteren Richtung, die
die Zweiheit als eine in der Natur gegebene, sinnlich faßbare Tatsache
nimmt, folgt die Sprache, nach Humboldt, überall dort, wo sie den Dual
vorwiegend als Ausdruck einer reinen Sachanschauung verwendet. Dieser
Gebrauch ist über fast alle Sprachgebiete verbreitet. Die doppelt vor-
handenen Dinge stellen sich für das Sprachgefühl als eine besondere,
generisch zusammengehörige Gesamtheit dar. In den Bantusprachen z. B.
bilden solche doppelt vorhandenen Dinge, wie die Augen und Ohren, die
Schultern und Brüste, die Knie und Füße, eine eigene Klasse, die durch
ein besonderes Nominalpräfix gekennzeichnet ist1. Neben diese natür-
lichen Zweiheiten treten sodann die künstlichen: wie die Paarigkeit der
körperlichen Gliedmaßen, so wird auch die bestimmter Geräte und Werk-
zeuge von der Sprache besonders herausgehoben. Aber dieser Gebrauch
des Duals innerhalb der Sphäre der reinen Nominalbegriffe zeigt sich in
der Entwicklung der meisten Sprachen in stetem Rückgang begriffen.
Im Semitischen gehört er der Grundsprache an, beginnt aber in den Ein-
zelsprachen mehr und mehr zu schwinden2. Im Griechischen ist der Dual
in einzelnen Dialekten schon in vorhistorischer Zeit geschwunden, und
auch bei Homer befindet er sich bereits im Zustand der Auflösung. Nur
im attischen Dialekt behauptet er sich längere Zeit, um jedoch auch hier
im 4- Jahrhundert vor Chr. allmählich zu verschwinden 3. In diesem nicht
an ein besonderes Gebiet und an besondere Bedingungen geknüpften Ver-
hältnis4 drückt sich offenbar ein allgemeiner sprachlogischer Zusammen-
hang aus. Der Rückgang des Duals fällt mit dem allmählichen, stetig fort-
schreitenden Übergang von der individuellen undkonkreten Zahl zur Reihen-
zahl zusammen. Je stärker der Gedanke der Zahlen reihe alseinesnach einem
1 S. Meinhof, Bantugrammatik, S. 8f.
2 Vgl. Brockelmann, Kurzgef. vgl. Grammat., S. 222.
3 Brugmann, Griechische Grammatik3, S. 371; Meillet, a. a. 0., S. 6; vgl. auch
Fr. Müller, Der Dual im indogermanischen und semitischen Sprachgebiet, Silzungsbe-
richte der Wiener Akad., Philos.-hist. Kl., Bd. XXXV.
4 Im Altägyptischen ist der Dual noch in weiterem Umfange vorhanden, während er im
Koptischen bis auf geringe Reste ausgestorben ist (s. Erman, Ägypt. Grammat., S.106,
Steindorf, Kopt. Grammat., S. 69, 73).
ao3
streng einheitlichen Prinzip aufgebauten Ganzen sich durchsetzt, um so
mehr wird jede Einzelzahl, statt einen besonderen Inhalt zu repräsentie-
ren, zur bloßen Stelle, die jeder anderen gleichwertig ist. Die Heterogenei-
tät beginnt der reinen Homogeneität zu weichen. Aber es ist begreiflich,
daß dieser neue Gesichtspunkt sich weit langsamer innerhalb der per-
sönlichen Sphäre, als innerhalb der bloßen Dingsphäre durchsetzt: denn
die erstere ist ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach auf die Form der
Heterogeneität gestellt. Das „Du" ist dem „Ich" nicht gleichartig, son-
dern es tritt ihm als sein Gegensatz, als Nicht-Ich gegenüber: der
„Zweite" entsteht hier also nicht aus der einfachen Wiederholung der
Einheit, sondern verhält sich zu ihr als der qualitativ „Andere". Zwar
kann auch das „Ich" und „Du" zur Gemeinschaft des „Wir" zusammen-
gehen — aber in dieser Form der Vereinigung zum „Wir" handelt es
sich um etwas völlig anderes, als um eine kollektiv-dingliche Zusammen-
fassung. Schon Jakob Grimm hat gelegentlich den Unterschied zwischen
den dinglichen und den persönlichen Pluralbegriffen, die die Sprache
ausbildet, betont; schon er weist darauf hin, daß, während man einen
dinglichen Plural als eine Summe gleichartiger Elemente ansehen, die
Männer also z. B. als Mann und Mann definieren könne, das „Wir"
keineswegs als eine derartige Summe darzustellen sei, da es nicht so-
wohl als ,Ich und Ich', als vielmehr als ,Ich und Du', oder als ,Ich und
Er' gefaßt werden muß1. Das rein „distrubutive" Motiv der Zahlbildung, das
Motiv der reinen Sonderung der Einheiten tritt daher hier noch schärfer,
als in jener Form der Zählung hervor, die von der Anschauung der Zeit
und der zeitlichen Vorgänge ihren Ausgang nahm2.
Das gleiche Bestreben, die Elemente, die in die Einheit des „Wir" zu-
sammengefaßt werden, in dieser nicht einfach aufgehen zu lassen, son-
dern sie in ihrer Besonderheit und spezifischen Bestimmtheit zu bewah-
ren, bekundet sich in dem Gebrauch, den die Sprache von dem Trial
1 Vgl. Jak. Grimm, Kleinere Schriften III, 23o,ff.
2 Vgl. Fr. Müller, Grundriß II, i, 761". — S. auch die Bemerkung von G. v. d. Gabe-
len tz, Die Sprachwissenschaft, S. 2 96 f.: „Das Familienleben verkörpert, um . . gram-
matisch zu reden, die sämtlichen Personalpronomina, Singularis, Dualis und Pluralis;
die Familie oder Sippe fühlt sich als dauernde Einheit anderen Familien gegenüber,
„Wir" treten in Gegensatz zu „Euch" und „Ihnen". Ich glaube, das ist nicht bloße
Wortspielerei. Wo konnte das persönliche Fürwort besser wurzeln, als in der Gewohn-
heit eines fortgesetzten Familienlebens? Manchmal ist es sogar, als enthielten die Spra-
chen Erinnerungen an den Zusammenhang zwischen den Vorstellungen des Weibes und
des Du. Das Chinesische bezeichnet beide mit einem Worte . . Ähnlich ist es, wenn in
Sprachen der Thai-Familie die Silbe me die Bedeutung „Du" und „Mutter" in sich ver-
einigt."
204
und von dem inklusiven und exklusiven Plural macht. Beides sind
nahe verwandte Erscheinungen. Besonders streng ist der Gebrauch des
Duals und Trials in den melanesischen Sprachen geregelt, die in jedem
Falle, wo von zwei oder drei Personen die Rede ist, sorgfältig darauf
achten, daß eine entsprechende Zahlbestimmung verwendet wird ; — und
hier erhält auch die Form der ersten Person des Pronomens eine andere
Gestalt, je nachdem der Redende sich in die Bezeichnung des „Wir" ein-
schließt oder von ihr ausschließt1. Auch die australischen Eingeborenen-
sprachen pflegen zwischen dem Singular und Plural die Formen des Dual
und Trial einzuschieben, wobei letztere je eine Form besitzt, die den An-
geredeten einschließt und eine andere, die ihn ausschließt. Das „wir beide"
kann also bald ,du und ich', bald kann es „er und ich'; das „wir drei"
kann ,ich und du und er', bald kann es ,ich und er und er' u. s. f. be-
deuten2. In manchen Sprachen drückt sich diese Unterscheidung schon in
der lautlichen Form der Mehrheitsbezeichnung aus — wie z. B. in der
Delaware-Sprache nach Humboldt der inklusive Plural aus einer Zusam-
menfügung der Pronominallaute für „ich" und „du", der exklusive da-
gegen aus einer Wiederholung des Pronominallauts für „ich" gebildet
wird3. Die Ausbildung der homogenen Zahlenreihe und der homogenen
Zahlanschauung setzt schließlich dieser im strengen Sinne individualisie-
renden Auffassung eine bestimmte Grenze. An die Stelle der besonderen
Individuen tritt die Gattung, die sie insgesamt und in gleicher Weise
umfaßt, an die Stelle der qualifizierenden Besonderung der Elemente tritt
die Gleichartigkeit des Verfahrens und der Regel, nach denen sie zu
quantitativen Ganzen zusammengefaßt werden.
Überblickt man jetzt das Ganze des Verfahrens, das die Sprache in der
Bildung der Zahlvorstellung und der Zahlworte befolgt, so lassen sich die
einzelnen Momente desselben geradezu per aniiphrasin aus der exakten Me-
thodik der Zahlbildung ableiten, die in der reinen Mathematik in Gel tung ist.
Es zeigt sich hierin mit besonderer Schärfe, wie der logisch-mathematische
Begriff der Zahl, ehe er zu dem wird, was er ist, sich erst aus seinem
1 Vgl. Codrington, Melanesian languages, S. 1 1 if Ray, Torres-Exped. III, S. £28 u. ö.
2 Näheres bei Matthews, Aboriginal languages of Victoria (J. and Proceed. of the
R. Soc. of N. S. Wales XXXVI, 72) und Languages of some native tribes of Queens-
land etc., ibid. S. i55f., 162. Eine Mehrheit der Pluralformen des Personalpronomens
findet sich auch in den Munda-Sprachen und im Nikobar (vgl. P. W. Schmidt, Die
Mon-Khmer- Völker, S. 5of.). Für die amerikanischen Eingeborenensprachen s. die ver-
schiedenen Beispiele des Gebrauchs des „Inklusivs" und „Exklusivs" in Boas' Hand-
book, S. Ö73f., 76if., 8i5 u. ö., sowie v. d. Steinen, Bakairi-Sprache, S. 34o,f.
3 S. Humboldt, Kawi-Werk II, 39.
205
Gegensatz und Gegenteil heraus gestalten muß. Als die wesentlichen logi-
schen Eigenschaften der mathematischen Zahlenreihe hat man ihre Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit, ihre Einzigkeit, ihre unendliche Fort-
setzbarkeit und die völlige Äquivalenz und Gleichwertigkeit ihrer ein-
zelnen Glieder bezeichnet1. Aber keines dieser Merkmale trifft auf jenes
Verfahren der Zahlbildung zu, das in der Sprache seinen ersten Ausdruck
und Niederschlag findet. Hier gibt es kein notwendiges und allgemein-
gültiges Prinzip, das alle zahlenmäßigen Setzungen mit einem geistigen
Blicke zu umfassen und durch eine einheitliche Regel zu beherrschen er-
laubt. Hier gibt es keine Einzigkeit „der" Zahlreihe schlechthin, — son-
dern jede neue Klasse von zählbaren Objekten erfordert, wie wir gesehen
haben, im Grunde einen neuen Ansatz und neue Mittel der Zählung. Auch
von der Unendlichkeit der Zahl kann noch keine Rede sein : das Bedürfnis
wie die Möglichkeit des Zählens reicht nicht weiter, als die Fähigkeit der
anschaulichen und vorstellungsmäßigen Verknüpfung von Gegenständen
zu Gruppen mit ganz bestimmten anschaulichen Gruppen-Charakteren
reicht2. Ebensowenig geht das Gezählte in den Zählakt als ein mit keiner
qualitativen Eigenschaft mehr Behaftetes, als bestimmungslose Einheit
ein, sondern es bewahrt seinen besonderen Ding- oder Eigenschafts-
charakter. Bei den Eigenschaftsbegriffen äußert sich dies darin, daß sich
auch bei ihnen die Form der Abstufung und der reihenmäßigen Zusam-
menfassung nur ganz allmählich entwickelt. Betrachtet man die Form der
Steigerung des Adjektivs, die Formen des Positiv, Komparativ und
Superlativ, die unsere Kultursprachen ausgebildet haben, so liegt in ihnen
jedesmal ein allgemeiner Begriff, ein bestimmtes generisches Merkmal zu-
grunde, das in der Steigerung nur seiner Größe nach variiert wird. Aber
diesem Unterschied der reinen Größenbestimmungen steht in den meisten
dieser Sprachen noch deutlich erkennbar ein anderes Verfahren gegen-
über, das den Größenunterschied selbst als einen inhaltlichen Artunter-
schied auffaßt. Die Suppletiverscheinungen, die im Semitischen und im
Indogermanischen in der Steigerung der Adjektiva auftreten, sind die
sprachlichen Zeugen dieser Auffassung. Wenn z. B. im indogermanischen
Kreise bestimmte Eigenschaftsbegriffe — wie gut und schlecht, übel und
schlimm, groß und viel, klein und wenig — nicht von einem einzigen
Grundstamm, sondern von ganz verschiedenen Wortstämmen gebildet
werden (wie dies z. B. in unserem ,,gut" und „besser", im lat. bonus,
1 S. z. B. G. F. Lipps, Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik. Wundts
Philos. Studien, Bd. IX— XI, XIV.
2 Vgl. hrz. die treffenden Bemerkungen Wertheimers, a. a. O., bes. S. 365ff.
206
melior, optimus, im griech. äya'&og, ä/uelvcov ägiorog, ßefaicov und ßefaiorog,
xgeirrcov und KgärioTog der Fall ist) — so hat man dies darauf zurückge-
führt, daß hier eine ältere „individualisierende" Auffassung durch die
spätere „gruppierende" Ansicht noch deutlich hindurchscheine, — daß die
ursprüngliche „qualitative Sprachformung" sich gegenüber der mehr und
mehr um sich greifenden Tendenz zur „quantitativen Sprachformung"
behaupte1. Statt der Abstraktion eines einheitlich-konzipierten und laut-
lich einheitlich-bezeichneten Eigenschaftsbegriffs, der sich nur in seiner
Gradabstufung unterscheidet, begegnet uns hier eine Grundanschauung,
die jedem „Grad" einer Eigenschaft noch sein eigenes unvertauschbares
Sein beläßt, die in ihm also nicht ein bloßes „Mehr" oder „Weniger",
sondern ein Abgesondertes und „Anderes" sieht. Klarer noch tritt diese
Ansicht in solchen Sprachen heraus, die eine eigene Form der Steigerung
des Adjektivums überhaupt nicht entwickelt haben. In der großen Mehr-
zahl der Sprachen fehlt das, was wir als „Komparativ" und „Superlativ"
zu bezeichnen pflegen, völlig. Das Verhältnis der Gradunterscheidung
kann hier immer nur mittelbar durch Umschreibungen wiedergegeben
werden, indem hierfür entweder verbale Ausdrücke, wie „übertreffen",
„überwinden", „hinausgehen" gebraucht werden2 oder die beiden Bestim-
mungen, zwischen denen der Vergleich vollzogen werden soll, in einfacher
Parataxe nebeneinander treten3. Auch adverbiale Partikel, die ausdrücken,
daß ein Ding im Vergleich mit einem andern oder „gegenüber" einem
andern groß oder schön u. s. w. ist, können in diesem Sinne verwendet
werden4. Vielen dieser Partikeln haftet ursprünglich ein räumlicher Sinn
an, so daß sich hier die qualitative Gradabslufung auf die örtlichen Ver-
hältnisse des Hoch und Tief, des Oben und Unten zu stützen und aus ihr
hervorzugehen scheint5. Auch hier setzt somit das sprachliche Denken
1 S. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Heidelberg 1899, S. /igff.
2 Beispiele hierfür insbesondere aus afrikanischen Sprachen bei Meinhof, Bantugramnia-
tik, S. 84; bei Westermann, Ewe-Grammat., S. 102, Golasprache, S. 39, A7, Roehl,
Schambala-Grammatik, S. 25.
3 Beispiele bei Roehl, a. a. 0., S. 25; Codrington, Melanes. Languages, S. 274;
Gatschet, Klamath-Language, S. 5 20 f.
4 S. z. B. Migeod, The Mende Language, London, 1908, S. 65 u. s. — Von den semi-
tischen Sprachen hat nur das Arabische eine besondere Form für die Steigerung der
Adjektiva, einen sogen. „Elativ", entwickelt; nach Brockelmann (Grundriß I, 372,
II, 2ioff.) handelt es sich dabei um ganz junge, speziell arabische Bildungen.
6 In der Nuba-Sprache (vgl. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 3i) wird der Komparativ
durch eine Postposition umschrieben, die eigentlich „über" bedeutet; im Fidschi ist in
gleicher Funktion ein Adverb, das „aufwärts" besagt, im Gebrauch (vgl. H. C. v. d. Gabe-
lentz, Melanes. Spr., S. 6of.). Auch die Komparationssuffixe des Indogermanischen
2O7
eine räumliche Anschauung ein, wo das abstrakt-logische Denken einen
reinen Beziehungsbegriff zu fordern scheint. Und damit schließt sich
wieder der Kreis unserer Betrachtung. Von neuem zeigt sich, daß die Be-
griffe von Raum, Zeit und Zahl das eigentliche Grundgerüst der objek-
tiven Anschauung ausmachen, wie sie sich in der Sprache aufbaut. Aber
sie können ihre Aufgabe nur vollziehen, weil sie sich, ihrer Gesamt-
struktur nach, in einer eigentümlichen ideellen Mitte halten — weil sie
eben dadurch, daß sie durchaus an der Form des sinnlichen Ausdrucks
festhalten, das Sinnliche selbst fortschreitend mit geistigem Gehalt er-
füllen und es zum Symbol des Geistigen gestalten.
IV. Die Sprache und das Gebiet der „inneren Anschauung". —
Die Phasen des Ichbegriffs
i*
Die Analyse der Sprache war bisher wesentlich darauf gerichtet, die
Kategorien aufzuweisen, nach denen sie im Aufbau der objektiven
Anschauungswelt verfährt. Aber schon hier zeigte es sich, daß diese me-
thodisch gesetzte Grenze sachlich nicht in wirklicher Strenge festzu-
halten war. Überall sahen wir uns vielmehr schon bei der Darstellung
jener „objektiven" Kategorien auf die subjektive Sphäre zurückgewiesen;
überall ergab sich, daß jede neue Bestimmung, die die Welt der Gegen-
stände innerhalb der Sprache empfing, auch auf die Bestimmung der
Ich weit zurückwirkte. Denn in Wahrheit handelt es sich hier um korre-
lative Anschauungskreise, die sich wechselseitig ihre Grenzen bestimmen.
Jede neue Gestalt des Objektiven, wie z. B. seine räumliche, seine zeit-
liche, seine zahlenmäßige Erfassung und Sonderung ergab daher zugleich
ein verändertes Bild der subjektiven Wirklichkeit und schloß auch an
dieser rein „inneren" Welt neue Züge auf.
Aber daneben verfügt nun die Sprache über eigene und selbständige
Mittel, die rein der Erschließung und Gestaltung dieses anderen, „subjek-
tiven" Daseins dienen: — und sie sind in ihr nicht minder festgewurzelt
und nicht minder ursprünglich, als die Formen, in denen sie die
Dingwelt erfaßt und darstellt. Noch heute begegnet freilich vielfach die
Anschauung, daß die Ausdrücke, mit denen die Sprache das persönliche
Sein und die Verhältnisse in ihm wiedergibt, gegenüber den anderen, die
der Sach- und Dingbestimmung angehören, nur von abgeleiteter und sekun-
-ero-, -lero- rühren nach Brugmann (Kurze vgl. Grammat., S. 32iff.) von Adverbien
lokaler Bedeutung her.
208
därer Bedeutung seien. In Versuchen zu einer logisch-systematischen Ein-
teilung der verschiedenen Wortklassen findet sich häufig die Ansicht
durchgeführt, daß das Pronomen keine selbständige Wortklasse mit
eigenem geistigen Gehalt, sondern nur eine einfache lautliche Vertretung
des Dingworts, des Substantivums sei; daß es somit nicht zu den eigent-
lich autonomen Ideen der Sprachbildung gehöre, sondern nur den Ersatz
für ein anderes darstelle1. Aber schon Humboldt hat gegen diese „eng-
grammatische Auffassung" mit entscheidenden Gründen Einspruch er-
hoben. Er betont, daß es eine ganz unrichtige Vorstellung sei, das Pro-
nomen als den spätesten Redeteil in der Sprache anzusehen: denn das
Erste im Akte der Sprache sei die Persönlichkeit des Sprechenden selbst,
der in beständiger unmittelbarer Berührung mit der Natur stünde und
unmöglich unterlassen könne, ihr auch in der Sprache den Ausdruck
seines Ich gegenüberzustellen. „Im Ich aber ist von selbst auch das Du
gegeben, und durch einen neuen Gegensatz entsteht die dritte Person, die
sich aber, da nun der Kreis der Fühlenden und Sprechenden verlassen
wird, auch zur toten Sache erweitert2." Gestützt auf diese spekulative
Grundansicht hat sodann auch die empirische Sprachforschung vielfach
den Versuch unternommen, die persönlichen Pronomina gleichsam als
einen „Urfelsen der Sprachschöpfung", als den altertümlichsten und dun-
kelsten, aber auch festesten und beharrlichsten Bestand aller Sprachen
zu erweisen3. Wenn jedoch Humboldt in diesem Zusammenhang betont,
daß das ursprünglichste Gefühl, das Ich, kein nachher erst erfundener,
allgemeiner, diskursiver Begriff sein könne, so ist freilich andererseits
zu erwägen, daß dieses ursprüngliche Gefühl nicht ausschließlich in der
expliziten Bezeichnung des Ich als Pronomen der ersten Person ge-
sucht werden darf. Die Sprachphilosophie würde vielmehr selbst in der
von ihm bekämpften engen, logisch-grammatischen Ansicht stehen blei-
ben, wenn sie die F.orm und die Gestaltung des Ichbewußtseins ledig-
lich an der Entwicklung dieser Bezeichnung messen wollte. In der psy-
1 Diese Auffassung des Pronomens als einer bloßen „idee suppleante" wird z. B. ver-
treten von Raoul de la Grasserie, Du Verbe comme g6nerateur des autres parties
du discours, Paris io,i4- — Der Name des „Pronomens" oder der dvrcovvfica bei
den antiken Grammatikern geht auf diese, Auffassung zurück: vgl. z. B. Apollonius de
Syntaxi, L. II, cap. 5.
2 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, io3f.); vgl. bes. die Abhandl.
über den Dualis (W. VI, i, 26 ff.) und über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit
dem Pronomen (W. VI, 1, 3o4ff.).
3 Jak. Grimm, Deutsche Grammatik I, 335ff.; W. Scherer, Zur Gesch. der deutschen
Sprache, S. 21 5.
209
chologischen Analyse und Beurteilung der Kindersprache ist man oft dem
Irrtum verfallen, in dem ersten Auftreten des Ichlautes auch die pri-
märe und früheste Stufe des Ichgefühls zu sehen. Aber darin ist über-
sehen, daß der innere seelisch-geistige Gehalt und seine sprachliche Aus-
drucksform sich niemals schlechthin decken, und daß insbesondere die
Einheit dieses Gehalts sich keineswegs in der Einfachheit des Aus-
drucks zu spiegeln braucht. Die Sprache verfügt vielmehr, um eine be-
stimmte Grundanschauung zu vermitteln und darzustellen, über eine Fülle
verschiedenartiger Ausdrucksmittel, und erst aus der Gesamtheit und dem
Zusammenwirken derselben wird die Richtung der Bestimmung, die sie
innehält, deutlich erkennbar. Die Gestaltung des Ichbegriffs ist daher
nicht an das Pronomen gebunden, sondern sie erfolgt ebenso sehr durch
andere sprachliche Sphären, wie z. B. durch das Medium des Nomen und
durch das Medium des Verbum hindurch. Insbesondere an diesem letz-
teren können die feinsten Besonderungen und Nuancierungen des Ich-
gefühls sich ausprägen, da im Verbum die objektive Vorgangsauffassung
sich mit der subjektiven Auffassung des Tuns am eigentümlichsten durch-
dringt, und da in diesem Sinne die Verba sich, nach dem Ausdruck der
chinesischen Grammatiker, als die eigentlich „lebenden Wörter" von den
Nomina als „toten Wörtern" charakteristisch unterscheiden1.
Zunächst freilich scheint auch der Ausdruck des Ich und des Selbst
der Anlehnung an die nominale Sphäre, an das Gebiet der substantiell-
gegenständlichen Anschauung zu bedürfen und sich von ihr nur schwer
losreißen zu können. In den verschiedensten Sprachkreisen begegnen uns
Ichbezeichnungen, die von gegenständlichen Bezeichnungen hergenommen
sind. Insbesondere zeigt die Sprache, wie das konkrete Selbstgefühl an-
fangs noch völlig an die konkrete Anschauung des eigenen Leibes und
seiner einzelnen Gliedmaßen gebunden bleibt. Es ergibt sich hier dasselbe
Verhältnis, das uns im Ausdruck der räumlichen, der zeitlichen und der
zahlenmäßigen Bestimmungen entgegentrat, die gleichfalls diese durch-
gehende Orientierung am physischen Dasein und insbesondere am mensch-
lichen Körper zeigen. Vor allem sind es die altaischen Sprachen, in
denen sich dieses System der Ichbezeichnung sehr deutlich ausprägt. Alle
Zweige dieses Sprachstammes zeigen eine Neigung, das, was wir durch
die persönlichen Fürwörter ausdrücken, durch Nomina, die mit Kasus-
endungen oder auch mit Possessivsuffixen versehen sind, zu bezeichnen.
Die Ausdrücke für ,ich' oder ,mich' werden daher durch andere, die etwa
mein Sein, mein Wesen oder auch in „drastisch-materieller Weise", ,mein
1 Vgl. hrz. G. v. d . Gabelentz, Chines. Grammatik, S. 112L
2IO
Körper' oder ,mein Busen' besagen, ersetzt. Auch ein rein räumlicher
Ausdruck, z. B. ein Wort, das seiner Grundbedeutung nach etwa mit
JMiüelpunkt' wiederzugeben wäre, kann in diesem Sinne verwendet wer-
den1. In ähnlicher Weise wird z. B. im Hebräischen das Reflexivpro-
nomen nicht nur durch Worte wie Seele oder Person, sondern auch durch
solche wie Antlitz, wie Fleisch oder Herz wiedergegeben2 — wie ja auch
das lateinische persona ursprünglich das Antlitz oder die Maske des Schau-
spielers bedeutet und in seiner Verwendung im Deutschen noch lange ge-
braucht wird, um das äußere Ansehen, die Figur und Statur eines Einzel-
wesens zu bezeichnen3. Im Koptischen bedient man sich zur Wiedergabe
des Ausdrucks „ Selbst" des Nomens ,Leib', dem die Possessivsuffixe an-
gehängt werden*. Auch in den indonesischen Idiomen wird das Reflexiv-
objekt durch ein Wort bezeichnet, das ebenso wohl Person und Geist, wie
Leib besagt5. Schließlich reicht dieser Gebrauch auch bis in die indoger-
manischen Sprachen, wo z. B. im vedischen und klassischen Sanskrit das
Selbst und das Ich bald durch das Wort für ,Seele' (atmän), bald durch
das für ,Leib' (lanu) wiedergegeben wird6. In alledem zeigt sich, daß die
Anschauung des Selbst, der Seele, der Person dort, wo sie in der Sprache
aufzuleuchten beginnt, zunächst noch verhaftet an den Körpern klebt —
wie ja auch in der mythischen Anschauung die Seele und das Selbst
des Menschen anfangs als bloße Wiederholung, als „Doppelgänger"
des Leibes gedacht wird. Auch in der formellen Behandlung bleiben die
pronominalen und die nominalen Ausdrücke in vielen Sprachen auf lange
Zeit hin ungeschieden, indem sie mittels der gleichen Formelemente
flektiert und in Numerus, Genus und Kasus einander angeglichen werden7.
1 Näheres hierüber hei II. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 5gff., iGof.,
bei Hoff mann, Japan. Sprachlehre, S. 91 ff. u. bei J. J. Schmidt, Grammat. der
xnongol. Sprache, Pelersb. i83i, S. tibi.
2 Über das allgemeine Verfahren, das die semitischen Sprachen zum Ausdruck des Re-
flexivpronomens anwenden, s. Brockelmann, Grundriß II, 228 u. 327; in den mei-
sten Fällen muß das Reflexivum mit dem Wort für , Seele* oder seinen Synonymen
(Mann, Kopf, Wesen) umschrieben werden.
3 Näheres in Grimms Deutsch. Wörterb. VII, Sp. 1 56 1/62.
4 Steindorff, Kopt. Grammatik $ 88; ähnlich im Altägyptischen vgl. Erman, a.a.O.,
S. 85.
6 Vgl. Brandstetler, Indonesisch u. Indogermanisch im Satzbau, Luzern 1 g 1 4, S. 18.
6 Whitney, Indische Grammatik, S. 190; Delbrück, Vergl. Syntax I, ^77-
7 Vgl. Wundt, Die Sprache II, /^f. u. die dort aus Fr. Müller 's Grundriß ange-
führten Beispiele. — Nicht auf der gleichen Stufe, wie die hier betrachteten Erschei-
nungen, stehen solche substantivischen oder adjektivischen Umschreibungen der persön-
lichen Fürwörter, die durch Rücksichten der Etikette und des Zeremoniells bedingt
211
Fragt man freilich nicht sowohl nach der Form, in welche die Sprache
die Ichvorstellung kleidet, als vielmehr nach dem geistigen Gehalt dieser
Vorstellung selbst, so zeigt sich, daß der letztere auch innerhalb des Ge-
biets des rein nominalen oder verbalen Ausdrucks zu scharfer Bezeich-
nung und zu deutlicher Bestimmung gelangen kann. In fast allen Spra-
chen, die eine Unterscheidung der Nomina nach bestimmten Klassen
durchführen, findet sich der Gegensatz einer Personen- und einer Sachen-
klasse bestimmt entwickelt. Und es handelt sich hierbei nicht um eine ein-
fache, gleichsam biologische Abgrenzung zwischen dem Gebiet des Be-
lebten und des Unbelebten, die als solche noch ganz der Anschauung der
Natur angehören würde, sondern um oft überraschende Feinheiten in der
Auffassung und Nuancierung persönlichen Daseins. In den Bantusprachen
bezeichnet eine eigene, durch ein besonderes Präfix herausgehobene
Klasse den Menschen als selbständig handelnde Persönlichkeit, während
eine andere Klasse die belebten, aber nicht persönlichen Wesen umfaßt.
In diese letztere wird der Mensch immer dann eingereiht, wenn er nicht
als selbständig Handelnder, sondern als Organ und als Vertreter eines
anderen, z. B. als sein Bote, sein Gesandter oder Geschäftsträger auftritt.
Die Sprache trennt also hier die Arten und die Grade der Persönlichkeit
je nach der Funktion, die sie ausübt und je nach der selbständigen oder
unselbständigen Form und Richtung des Willens, die sich darin aus-
prägt1. Einen Keim zu dieser Grundanschauung kann man auch in den-
jenigen Sprachen finden, die die Benennung persönlicher Wesen dadurch
von bloßen Sachbezeichnungen unterscheiden, daß sie ihr einen beson-
deren „persönlichen Artikel" vorangehen lassen. In den melanesischen
Sprachen wird ein solcher Artikel regelmäßig den Namen von Individuen
sind, und nach Humboldt (W. VI, i, 307 f. u. Kawi-Werk II, 335) einem „Zustande
halber Zivilisation" angehören. Hier werden für die zweite, angeredete Person Ausdrücke
der Erhabenheit (wie Herrscher, Herrlichkeit), für das eigene Ich Ausdrücke der Er-
niedrigung (wie Diener, Sklave u. s. f.) gebraucht. Am weitesten hierin ist das Japa-
nische gegangen, in welchem durch solche Höflichkeitsumschreibungen, die nach dem
Range des Sprechenden und des Angeredeten aufs genaueste abgestuft werden, der Ge-
brauch der persönlichen Pronomina völlig verdrängt worden ist. ,,Die Unterscheidung
dreier grammatischer Personen (ich, du, er)" — sagt Hoffmann (Japan. Sprachlehre,
S. 75) hierüber — „ist der japanischen Sprache fremd geblieben. Alle Personen, so-
wohl die des Sprechenden, als die, zu der oder von der man spricht, werden als In-
halt der Vorstellung, also, nach unserem Idiom, in der dritten Person aufgefaßt und
die Etikette hat, die Bedeutung der Eigenschaftswörter betrachtend, zu entscheiden,
welche Person mit diesem oder jenem Worte gemeint sei. Die Etikette unterscheidet
allein zwischen dem Ich und Nicht-Ich, erniedrigt das eine, erhöht das andere."
1 Vgl. hrz. Meinhof, Bantugrammatik, S. 6f.
212
und Stämmen vorangesetzt; er findet sich aber auch vor unbelebten
Dingen, wie Bäumen oder Booten, Schiffen oder Waffen, wenn sie nicht
als bloße Vertreter ihrer Gattung, sondern als Individuen gefaßt und mit
einem bestimmten Eigennamen versehen werden. Einzelne Sprachen ha-
ben zwei verschiedene persönliche Artikel ausgebildet, die verschiedenen
Klassen belebter Wesen beigelegt werden, wobei offenbar eine Art Wert-
abstufung innerhalb des Persönlichkeitsbegriffs selbst zugrunde liegt1.
Ein Gefühl für derartige, dem Kreise der reinen Subjektivität angehörige
Unterschiede bekunden auch einige australische Eingeborenensprachen,
die eine verschiedene Form des Nominativ, des Subjektsausdrucks, wäh-
len, wenn es sich darum handelt, ein Wesen einfach als daseiend und
wenn es sich darum handelt, es als tätig, als selbständig handelnd zu be-
zeichnen2. Analoge Unterschiede vermag die Sprache am Verbum zu be-
zeichnen, indem z. B. durch ein besonderes Präfix an ihm zum Ausdruck
gebracht wird, ob es sich in dem Vorgang, der durch das Verbalwort aus-
gesagt wird, um ein einfaches „natürliches" Geschehen oder um die Ein-
wirkung eines tätigen Subjekts oder eine gemeinschaftliche Aktion
mehrerer solcher Subjekte handelt3. In alledem haben wir es äußerlich
nicht mit Unterscheidungen zu tun, die von der Sprache am Pronomen
1 Näheres hierüber s. bei Codrington, Melanes. Languages, S. io8ff. u. bei Brand-
stelter, Der Artikel des Indonesischen, S. 6, 36, 46. Von den amerikanischen Einge-
borenensprachen besitzt z.B. das Hupa ein besonderes Fürwort der dritten Person, das
für die erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes, ein anderes, das für Kinder
und Greise, für Mitglieder anderer Stämme und für Tiere in Gebrauch ist, s. Goddard,
Alhapascan in Boas' Handbook I, 117.
2 Der einfache, lediglich der Benennung einer Person oder eines Gegenstandes dienende
Nominativ unterscheidet sich hier von dem „Nominativus agenlis" , der dort zur Verwen-
dung kommt, wo ein transitives Verbum an das Subjekt herantritt. „Wenn man z. B. in
der Ferne eine Person wahrnimmt und frägt: Wer ist dies?, so bekommt man die Ant-
wort: kore (ein Mann); will man aber sagen: der Mann hat das Känguruh getötet, so
bedient man sich einer anderen Form, der subjektiven Nominativform, welche überall
dort eintreten muß, wo das Nomen als wirkend, handelnd hingestellt werden soll." S.
Fr. Müller, Novara-Reise, S. 247; vgl. bes. Matthews, Aboriginal Languages of
Victoria, S. 78, 86, 94.
3 Vgl. Godrington, Melanes. Languages, S. i83ff. — Das Bugische, ein indonesi-
sches Idiom, kennt beim Verbum zwei verschiedene „Passivpräfixe", von denen das eine
die Nuance des „Unbeabsichtigten" enthält, also ein Ereignis bezeichnet, das ohne die
Mitwirkung eines tätigen Subjekts „von selbst" eingetreten ist. S. B randstetter,
Sprachvergleich. Charakteristik eines indones. Idioms, Luzern 191 1, S. 37 f. Die Nuba-
Sprache macht nach Reinisch (Nuba-Sprache, S. 63ff.) einen scharfen Unterschied
zwischen der Passiv- und der Inchoativform beim Verbum: die erstere wird gebraucht,
wenn ein Zustand durch tätiges Eingreifen eines Subjekts, die letztere, wenn er durch
bloße Naturbedingungen infolge des regelrechten Laufes der Ereignisse herbeigeführt wird.
2l3
getroffen werden, aber es ist ersichtlich, daß nichtsdestoweniger der reine
Begriff des persönlichen Seins und Wirkens scharf erfaßt und in man-
nigfachen geistigen Abstufungen durchgeführt wird. —
Die außerordentliche Fülle dieser Abstufungen tritt besonders in den
reichen Möglichkeiten zulage, die die Sprache zur Unterscheidung der
sogen. „Genusunterschiede" am Yerbum besitzt. Vom Standpunkt der
rein logischen Analyse des Tuns scheint an ihm auf den ersten Blick nur
ein einziger, scharf ausgeprägter Unterschied erfaßbar zu sein: das selb-
ständige Tun steht dem bloßen Erleiden, die aktive Form steht der pas-
siven gegenüber. Schon die Aristotelische Kategorientafel hat daher den
grammalischen Unterschied, den wir durch den Gegensatz des „Aktiv"
und „Passiv" auszudrücken pflegen, zu allgemein logischer und meta-
physischer Bedeutung zu erheben gesucht. Aber es ist keineswegs zu-
treffend, wenn man behauptet hat, daß Aristoteles, indem er in dieser
Weise den Grundgegensatz des Wirkens und Leidens, des jzoietv und ndoxeiv
in den Mittelpunkt stellt, sich hierbei lediglich von Tendenzen leiten ließ,
die ihm durch die Form und Eigenart der griechischen Sprache unmit-
telbar gegeben und gewissermaßen aufgedrängt waren. Die Sprache, für
sich allein, hätte hier eher einen andern Weg gewiesen : denn gerade im
Griechischen ist der Unterschied des „Passivums" gegen die übrigen
Genera des Verbums weder morphologisch noch semasiologisch scharf
durchgeführt. Das Passivum hat sich hier auch funktionell erst allmäh-
lich teils aus dem Aktiv, teils aus dem Medium entwickelt1. Blickt man
vollends auf andere Sprachkreise hinüber, so zeigt sich deutlich, daß der
einfache Gegensatz des Tuns und Erleidens in der Ausbildung des verbalen
Ausdrucks keineswegs allein bestimmend oder ausschlaggebend ist, son-
dern daß er hier durch eine Fülle anderer Gegensatzmotive beständig
gekreuzt wird. Auch dort, wo die Sprachen ihn als solchen klar entwickelt
haben, wo sie zwischen „aktiven" und „passiven" Formen scharf unter-
scheiden, ist dieser Unterschied doch nur einer unter vielen: er gehört
einer Gesamtheit begrifflicher Stufenfolgen des verbalen Ausdrucks an
und wird durch sie vermittelt. In anderen Sprachen wieder kann dieser
Gegensatz ganz fehlen, so daß hier, wenigstens formell, kein besonderer
passiver Gebrauch des Verbums vorhanden ist. Bestimmungen, für die wir
gewohnt sind einen passiven Ausdruck einzusetzen, werden hier durch
aktive Verbalformen, insbesondere durch die dritte Person Pluralis des
aktiven Verbums umschrieben und ersetzt2. In den malayischen Sprachen
1 Psähercs bei Brugmann, Griech. Grammat.3, S. 458 ff.
2 Beispiele hierfür aus den melanesischen Sprachen bei Godrington, a. a. 0. S. i()if-;
2l4
ist, nach Humboldt, die sogen. „Passivbildung" eigentlich die Umsetzung
in eine Nominalform: ein eigentliches Passiv gibt es nicht, weil das Ver-
bum selbst nicht als Aktivum gedacht ist, sondern mehr nominalen Cha-
rakter hat. Der Bezeichnung des Vorgangs haftet hier zunächst weder
die Beziehung auf einen Tätigen, noch die auf einen Leidenden an: das
Yerbum konstatiert einfach den Eintritt des Vorgangs selbst, ohne ihn
ausdrücklich an die Energie eines Subjekts zu knüpfen oder die Bezie-
hung zu dem Objekt, das von ihm betroffen wird, in der Verbalform selbst
kenntlich zu machen1.
Aber daß diese mangelnde Entwicklung des abstrakten Gegensatzes
von Tun und Leiden nicht etwa darin ihren Grund hat, daß hier die kon-
krete Anschauung des Tuns selber und seiner Nuancierungen noch fehlt:
das zeigt sich auf der anderen Seite darin, daß eben diese Anschauung
oft in überraschender Vielseitigkeit in den gleichen Sprachen, denen die
formelle Unterscheidung des Aktivum und Passivum fehlt, ausgebildet sein
kann. Die „Genera" des Verbs sind hier häufig nicht nur einzeln aufs
schärfste bestimmt, sondern sie können einander auch in der mannig-
faltigsten Weise überdecken und sich zu immer komplexeren Ausdrücken
zusammenschließen. An der Spitze stehen hier zunächst jene Formen, die
einen Zeitcharakter an der Handlung bezeichnen — wobei es sich je-
doch, nach dem Früheren, nicht sowohl um den Ausdruck ihrer relati-
ven Zeitstufe, als vielmehr um den Ausdruck der Aktionsart handelt.
Es tritt eine scharfe Trennung der „perfektiven" und „imperfektiven",
der „momentanen" oder „kursiven", der einmaligen oder iterativen Aktions-
art ein: es wird unterschieden, ob die Handlung in dem Moment des
Sprechens als eine vollendete und abgeschlossene vorliegt oder ob sie noch
in der Entwicklung begriffen ist, ob sie auf einen bestimmten Augenblick
aus afrikanischen Sprachen bei Westermann, Sudansprachen, S. 70, Migeod, Mende
Language, S. 82. Zum Ersatz des fehlenden Passivum dienen oft auch impersonale Wen-
dungen oder Formen aktiver Prägung, denen aber eine passive Bedeutungsnuance
innewohnt. Ein Satz wie ,,er wird geschlagen" kann etwa durch Ausdrücke wie ,er
empfängt oder erträgt das Schlagen' oder, ganz materiell, durch ,er ißt Schläge' wie-
dergegeben werden. (Beispiele bei Fr. Müller, Novara-Reise, S. 98.) Das Japanische
bildet mittels eines Hilfsverbums, dessen Grundbedeutung ,bekommen, sich zueignen'
ist, abgeleitete Verba, die das Sich-Zueignen einer von außen kommenden Wirkung be-
zeichnen und in diesem Sinne als Verba passiva gebraucht werden können (Iloff-
mann, Japan. Sprachlehre, S. 242). Auch im Chinesischen ist die Bildung des „Pas-
sivs" durch solche Hilfszeitwörter wie »sehen, finden, empfangen' (z. B. Haß sehen
für »gehaßt werden') häufig, vgl. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. n3, 428f.
1 Humboldt, Kawi-Werk II, 80, 85, vgl. die Parallelen aus australischen Sprachen bei
Fr. Müller, Novara-Reise, S. 2Ö4f. S. auch Codrington, a. a. O., S. 192.
2l5
beschränkt ist oder sich über eine größere Zeitdauer erstreckt, ob sie in
einem einzigen Akt oder in mehrfach wiederholten Akten sich vollzieht.
Zur Bezeichnung derartiger Bestimmungen kann — neben den früher
erwähnten Mitteln zum Ausdruck der „Aktionsart"1 — je eine eigene Ge-
nusform des Verbums gebraucht werden. Um den einfachen Zustand als
solchen zu bezeichnen, kann ein „Stativ" , um ein allmähliches Werden
auszudrücken, kann ein Inchoativ, um den Abschluß, den eine Handlung
gefunden hat, auszudrücken, kann ein „Cessativ" oder „Konklusiv" ge-
braucht werden, Soll die Handlung als eine anhaltende und regelmäßige,
als eine Gewohnheit oder dauernde Gepflogenheit gekennzeichnet werden,
so tritt dafür die Form des „Habitualis" ein2. Andere Sprachen haben in
besonders reichem Maße die Unterscheidung der momentanen Zeitwörter
von den frequentativen Zeitwörtern durchgebildet3. Neben diesen Unter-
schieden, die im wesentlichen die Handlung nach ihrem objektiven Charak-
ter betreffen, kann sodann in der Verbalform vor allem die eigene innere
Stellungnahme, die das Ich ihr gegenüber einnimmt, zum Ausdruck ge-
langen. Diese selbst kann hierbei entweder rein theoretischer oder prakti-
scher Art sein, kann der reinen Willenssphäre oder auch der Urteilssphäre
entstammen. In ersterer Hinsicht kann die Handlung als erwünscht, als
verlangt oder gefordert, in letzterer kann sie als assertorisch oder als pro-
blematisch gewiß bezeichnet werden. Nach dieser Richtung bilden sich
jetzt, wie zuvor die Unterschiede in der Benennung der Aktionsarten, die
eigentlich „modalen" Unterschiede aus. Es entwickelt sich der Konjunk-
tiv, der zugleich „volitive", „deliberative" und „prospektive" Bedeutung
hat; — der Optativ, der teils im Sinne des Wunsches, teils als Ausdruck
einer Vorschrift oder einer einfachen Möglichkeit gebraucht wird4. Auch
ist die Form des Verlangens, vom einfachen Wunsch bis zum Befehl hin,
in sich wieder verschiedenartiger Abstufungen fähig, die sich etwa in der
Unterscheidung eines einfachen „Prekativ" vom „Imperativ" aussprechen
können5. Viele Indianersprachen kennen neben einem imperativen, implora-
1 Vgl. ob. S. i77ff.
2 Für diesen Gebrauch des „Stativs" und „Inchoativs" sowie des „Habitualis" vgl. z. B.
die Beispiele bei Reinisch, Nuba-Sprache, S. 53 f., 58 ff . u. Hanoteau , Grammaire Ka-
byle, S. 122 ff.
3 So besonders die finnisch-ugrischen Sprachen, s. Szinnyei, Finnisch-ugrische Sprach-
wissenschaft, S. i2off. Das Ungarische hat allein acht verschiedene Frequentativsuffixe,
cf. Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 284ff.
4 So im Indogermanischen, vgl. Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 578 ff.
5 Eine solche Unterscheidung kennt z. B. das Mongolische, vgl. J. J. Schmidt, Gram-
mat. der mongol. Sprache, S. 7^- Über den „Prekativ" des Altindischen vgl. Thumb,
Handb. des Sanskrit, Heidelb. 1905, S. 385 f.
2l6
tiven, desiderativen und obligativen Modus, der ausdrückt, daß die Hand-
lung getan werden soll, die rein theoretischen Modi, die von den Gramma-
tikern als „Dubilaliv" oder „Quotativ" bezeichnet werden, und die besagen,
daß die Handlung zweifelhaft ist oder nur auf das Zeugnis eines andern
hin berichtet wird1. Oft wird hier auch durch ein eigenes Suffix am
Verbum kenntlich gemacht, ob das Subjekt den Vorgang, von dem es
berichtet, selbst gesehen oder ob es ihn gehört hat oder ob es ihn, statt aus
unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung, nur durch Vermutung und
Schlußfolgerung kennt; auch wird gelegentlich die Kenntnis eines Vor-
gangs, die man durch einen Traum erlangt hat, von der im Wachen er-
langten in dieser Weise unterschieden2.
Stellt schon hierin sich das Ich der objektiven Wirklichkeit wollend
oder fordernd, zweifelnd oder fragend, gegenüber : so gewinnt diese Ge-
genüberstellung ihre höchste Schärfe, wenn von der Einwirkung des
Ich auf den Gegenstand und von ihren verschiedenen möglichen Formen
die Rede ist. Viele Sprachen, die gegen den Unterschied des Aktiv und
Passiv relativ gleichgültig sind, unterscheiden statt dessen aufs genaueste
die Stufen dieser Einwirkung und ihre größere oder geringere Mittelbar-
keit. Durch ein einfaches lautliches Mittel (wie etwa durch die Verdoppe-
lung des mittleren Radikals in den semitischen Sprachen) kann z. B. aus
dem Grundstamm des Verbums ein zweiter Stamm abgeleitet werden, der
zunächst intensive, dann aber weiterhin allgemein-kausative Bedeutung be-
sitzt; neben beide tritt noch ein dritter Stamm, dem speziell diese letztere
Funktion zukommt. An die Kausative ersten Grades können sich dann
solche zweiten und dritten Grades anschließen, durch die ein ursprüng-
lich intransitiver Verbalstamm zu einer doppelt oder dreifach transitiven
Bedeutung umgestaltet wird3. Es ist ersichtlich, wie sich in derartigen
sprachlichen Erscheinungen die immer weitergehende Potenzierung
widerspiegelt, die die Anschauung des persönlichen Wirkens selbst er-
fährt: statt der einfachen Auseinanderhaltung des Subjekts und des Ob-
jekts des Tuns, des Wirkenden und des Gewirkten schieben sich hier
1 S. Powell, The evolution of language (Rep. of the Smithson. Inst, of Washington, I),
S. 12.
2 Beispiele bei Goddard, Athapascan, bei Swanton, Haida und bei Boas, Kwakiutl in
Boas' Handbook I, io5, 124, 247 ff., 443.
3 Vgl. z. B. Aug. Müller, Türk. Grammatik, S. 7iff.; für die semitischen Sprachen
8. Brockelmann, Grundriß I, 5o4ff. Das Äthiopische besitzt nach Dillmann (Äthiop.
Grammat., S. nöff.) neben dem Grundstamm einen ,, Steigerungsstamm" (Intensiv-
stamm) und einen „Einwirkungsstamm"; von allen dreien werden durch ein und dasselbe
Bildungsmittel, aber unter Belassung ihrer übrigen Eigentümlichkeiten, wieder drei Kau-
sativstämme abgeleitet.
217
immer mehr Mittelglieder ein, die, selbst persönlicher Natur, dazu dienen,
die Handlung von ihrem ersten Ursprung in einem wollenden Ich
gleichsam weiterzuleben und sie ins Gebiet des objektiven Seins hinüber-
zuführen1). Diese Anschauung der Mehrheit der Subjekte, die bei einer
Handlung zusammenwirken, kann dann weiterhin einen verschiedenen
Ausdruck finden, je nachdem einfach die Tatsache dieser Mitwirkung
bezeichnet oder aber auf die Unterschiede ihrer Form reflektiert wird.
In ersterer Hinsicht braucht die Sprache die „Kooperativform" des Ver-
bums oder sie bildet einen eigenen „Mitwirkungs- oder Sozialstamm",
der besagt, daß eine Person an der Tätigkeit oder dem Zustand eines
andern in irgendeiner Weise mitbeteiligt ist2. Einzelne Sprachen ver-
wenden besondere Kollektiv-Infixe, um damit anzudeuten, daß irgend-
eine Handlung nicht von einem einzelnen, sondern in Gemeinschaft vor-
genommen wird3. Was die Form des Zusammenwirkens mehrerer Indivi-
duen angeht, so ist es vor allem bedeutsam, ob dieses Zusammenwirken
sich lediglich nach außen oder ob es sich nach innen wendet, d. h. ob einer
Mehrheit von Subjekten ein einfaches dinglichesObjektgegenübersteht oder
ob die einzelnen in ihrem Tun einander selbst wechselseitig Subjekt und
Objekt sind. Aus der letzteren Anschauung erwächst die Ausdrucksform,
die die Sprache für die reziproke Handlung erschafft. Auch primitive
Sprachen unterscheiden gelegentlich scharf, ob die Tätigkeit der Subjekte
sich gegen eine äußere Sache richtet, oder ob sie sie gegeneinander rich-
ten4. Und hier ist offenbar bereits die Vorbereitung zu einem weiteren
folgenschweren Schritt gegeben. Schon in der reziproken Handlung fallen
das Wirkende und das, worauf gewirkt wird, in einem gewissen Sinne in
eins zusammen: beide gehören hier der personalen Sphäre an, und es
hängt lediglich von der Richtung der Betrachtung ab, ob wir sie als Sub-
jekt oder als Objekt des Tuns ansehen wollen. Dies Verhältnis vertieft
sich noch, wenn an die Stelle der Mehrheit der Subjekte ein einziges
1 So bedient sich z. B. die Tagalische Sprache zur Bildung der Kausalverba eines dop-
pelten Präfixes: das eine drückt das einfache Hervorbringen einer Sache, das bloße
eigene Bewirken aus, während das andere die Veranlassung einer Handlung durch einen
anderen bezeichnet, so daß jetzt zwei handelnde Subjekte eintreten. Vgl. Humboldt,
Kawi-Werk 1J, i43.
2 Vgl. hrz. etwa die Beispiele aus der Bedauye-Sprache bei Reinisch, Bedauye II,
i3off.; — eine Kooperalivform des Verbs kennt z. B. auch das Jakutische (Boeth-
lingk, Sprache der Jakuten, S. 364ff-)-
3 So die Sprache von Taoripi, s. Ray, Torres-Slrait-Exped. III, 34o.
4 So z. B. die Bungandity-Sprache in Süd-Australien, die von Matthews, J. and Proc.
of the Royal Soc. of N.S.Wales, Bd. XXXVII (io,o3) beschrieben worden ist, s.d.
S. 69.
218
tritt, und wenn damit der Ausgangspunkt der Handlung und ihr Ziel-
punkt, nachdem sie sich getrennt haben, inhaltlich wieder in einen Punkt
zusammenfallen. Dies ist der Charakter der reflexiven Handlung, in wel-
cher das Ich nicht sowohl ein anderes oder einen anderen, als vielmehr
sich selbst bestimmt, — in der es sein Tun auf sich selber zurücklenkt.
In vielen Sprachen ist es eben diese Reflexivbildung, die das mangelnde
Passivum ersetzt1. Am reinsten tritt diese Hinweisung und Rücklenkung
der Handlung auf das Ich und das energische Bewußtsein der Subjekti-
vität, das sich darin bekundet, in dem Gebrauch hervor, den die griechi-
sche Sprache von den medialen Verbalformen macht. Nicht mit Unrecht
hat man in dem Besitz und in der Verwendung des Mediums einen wesent-
lichen und auszeichnenden Charakter der griechischen Sprache gesehen —
einen solchen, der sie zur echt „philosophischen' 4 Sprache stempelt2.
Die indischen Grammatiker haben für den Unterschied der aktiven und
der medialen Verbalform einen bezeichnenden Ausdruck geschaffen, in-
dem sie die erstere „ein Wort für einen andern", die letztere ,ein Wort
für sich selbst* nennen3. In der Tat ist es die Grundbedeutung des Me-
diums, daß es den Vorgang als in der eigenen Sphäre des Subjekts liegend
betrachtet und die innere Beteiligung des Subjekts an ihm betont. „Bei
jedem einfachen Aktivum" — ■ sagt Jakob Grimm — „bleibt es an sich
zweifelhaft, ob der intransitive oder transitive Begriff in ihm herrsche,
z. B. ,ich sehe' kann beides heißen sollen : ich sehe mit meinen Augen, oder
ich sehe irgend etwas an; xXauo beides, entweder das innere Weinen selbst,
oder das Beweinen eines anderen. Das Medium hebt diesen Zweifel
und bezieht den Sinn notwendig auf das Subjekt des Satzes, z. B. tdalojum
(ich weine um mich, für mich) . . . Das wahre und eigentliche Me-
dium ist überhaupt zur Bezeichnung dessen, was lebendig in der inneren
Seele und an dem Leib vorgeht, geschaffen, daher ihm in allen Spra-
chen, nach ihrer wundervollen Einstimmung, Begriffe wie: freuen,
trauern, wundern, fürchten, hoffen, weilen, ruhen, sprechen, kleiden,
waschen und ähnliche zustehen4." Überblickt man jetzt die Mannigfal-
1 So im semitischen Sprachkreis im Äthiop isclien (Dillmann, S. n5, 123) u. im
Syrischen (Nöldeke, Syr. Grammat., S. 96 ff.); auch im Türkischen tritt (nach
Aug. Müller, Türk. Grammat., S. 7C) für das Passiv häufig das Reflexiv ein.
2 Vgl. J.Stenzel, Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische
Begrifi'sbildung, Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum (1921), S. IÖ2 ff.
3 Das Medium als Atmanepadam bei Panini I, 3, 72 — 74; als ein besonderes „Genus
verbi" erscheint bei den europäischen Grammatikern das Medium erst bei Dionysius
Thrax, vgl. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, S. 73 u. 1 44-
4 J. Grimm, Deutsche Grammat., I, 5o,8f.
219
tigkeit der verbalen Genusunterscheidungen und erwägt man, daß die
meisten dieser Genera sich miteinander wieder zu neuen komplexen Ein-
heiten zusammenknüpfen lassen — indem z. B. vom Passiv und Kausativ
ein Kausativ-Passiv, vom Kausativ und Reflexiv ein Reflexiv-Kausativ,
weiterhin ein Reziprokum des Kausativs u. s. f . gebildet werden kann1 —
so erkennt man, daß die Kraft, die die Sprache in solchen Bildungen be-
weist, eben darin liegt, daß sie den Gegensatz des subjektiven und des
objektiven Seins nicht als den abstrakten und starren Gegensatz zweier
einander ausschließender Gebiete faßt, sondern daß sie ihn in der viel-
fältigsten Weise dynamisch vermittelt denkt. Sie stellt nicht die beiden
Sphären an sich, sondern ihr Ineinandergreifen und ihre wechselseitige
Bestimmung dar — sie erschafft gleichsam ein Mittelreich, durch wel-
ches die Formen des Daseins auf die des Tuns, die Formen des Tuns
auf die des Daseins bezogen und beide miteinander zu einer geistigen
Ausdruckseinheit verschmolzen werden.
2.
Blickt man weiterhin von der impliziten Gestaltung, die die Ichvorstel-
lung im Kreise des nominalen und verbalen Ausdrucks erfährt, auf ihre
explizit-sprachliche Durchbildung, auf die allmähliche Entwicklung der
eigentlichen Pronomina, hin — so hat schon Humboldt hervorgehoben,
daß zwar das Ichgefühl als ein ursprünglicher und nicht weiter ableit-
barer Bestand aller Sprachbildung angesehen werden müsse, daß aber
nichtsdestoweniger der Eintritt des Pronomen in die wirkliche Sprache
von großen Schwierigkeiten begleitet sei. Denn das Wesen des Ich be-
stünde darin, Subjekt zu sein, während andererseits im Denken und
Sprechen jeder Begriff vor dem wirklich denkenden Subjekt zum Ob-
jekt werden müsse2. Dieser Gegensatz kann nur dadurch vermittelt und
gelöst werden, daß dasselbe Verhältnis, das wir zuvor innerhalb des nomi-
nalen und verbalen Ausdrucks beobachtet haben, sich nunmehr auf einer
höheren Stufe wiederholt. Auch im Kreis des pronominalen Ausdrucks
wird eine scharfe Bezeichnung des Ich nur dadurch gefunden werden
können, daß sie sich der des Objektiven zwar einerseits gegenüberstellt,
andererseits aber durch sie hindurchgeht. Auch dort, wo die Sprache den
Gedanken des Ich bereits bestimmt ausprägt, wird sie ihm daher zunächst
1 Belege hierfür finden sich, außer in den semitischen Sprachen, z.B. im Jakutischen
(Boethlingk, S. 291), im Türkischen (Aug. Müller, S. 7iff.), in der Nuba-
Sprache (Reinisch, S. Ö2ff.) u. s.
2 S. Humboldt, Ortsadverbien (W. VI 1, 3o6f .).
220
noch eine gegenständliche Fassung und Formung geben müssen: —
wird sie an der Bezeichnung des Objektiven die des Ich gleichsam erst
finden müssen.
Diese Voraussetzung findet ihre Bestätigung, wenn man die Art be-
trachtet, in der die Sprache zum Ausdruck persönlicher Verhältnisse
nicht sogleich die eigentlichen persönlichen Fürwörter, sondern die
possessiven Pronomina benutzt. In der Tat nimmt die Idee des Be-
sitzes, die in diesen letzteren dargestellt ist, zwischen dem Gebiet
des Objektiven und des Subjektiven eine eigentümliche Mittelstellung
ein. Was besessen wird, ist ein Ding oder Gegenstand: ein Etwas, das
sich schon durch die Tatsache, daß es zum Besitzinhalt wird, als bloße
Sache zu erkennen gibt. Aber indem nun eben diese Sache als Eigentum
erklärt wird, erhält sie damit selbst eine neue Eigenheit, rückt sie aus
der Sphäre des bloß natürlichen in die des persönlich-geistigen Daseins.
Es ist gleichsam eine erste Belebung, eine Verwandlung der Seinsform
in die Ichform, die sich hierin ankündigt. Auf der anderen Seite erfaßt
sich das Selbst hier noch nicht in einem freien und ursprünglichen Akt
der Selbsttätigkeit, der geistigen und willensmäßigen Spontaneität, son-
dern schaut sich sozusagen im Bilde des Gegenstandes an, den es sich als
den „seinigen" zueignet. Diese Vermittlung des rein „personalen" durch
den „possessiven" Ausdruck zeigt sich nach der psychologischen Seite hin
in der Entwicklung der Kindersprache, in welcher die Bezeichnung des
eigenen Ich weit früher durch possessive als durch personale Pronomina
zu erfolgen scheint. Aber deutlicher als derartige nicht ganz sichere und
eindeutige Beobachtungen1 sprechen auch hier bestimmte Erscheinungen
der allgemeinen Sprachgeschichte. Sie zeigen, daß der eigentlichen schar-
fen Ausbildung des Ichbegriffs in der Sprache ein Zustand der Indiffe-
renz vorauszugehen pflegt, in der der Ausdruck des „Ich" und der des
„Mein", der des „Du" und des „Dein" u. s. f . sich noch nicht geschie-
den haben. Der Unterschied beider Fälle — so bemerkt Humboldt — wird
wohl empfunden, aber nicht mit der formalen Schärfe und Bestimmtheit,
welche der Übergang in der Lautbezeichnung erfordert2. Wie die mei-
sten amerikanischen Eingeborenensprachen, so gestalten auch die Spra-
chen des ural-altaischen Kreises die Konjugation des Verbums fast durch-
1 Vgl. über diese Frage G. und W. Stern, a. a. 0., S. 4i u. 2 45 ff.
2 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 23i). Die „noch vorhandene Iden-
tität des Possessiv und Personalpronomens" wird auch von K. v. d. Steinen für die Ba-
kairi-Sprache betont. Ein und dasselbe Wort (ura) heiße nicht nur ,ich', sondern auch
,meines', ,das ist mein', ,das gehört mir', wie ein anderes ,du* und , deines', ein drittes
,er' und ,seines' besage (Bakairi-Sprache, S. 348f ., 38o).
221
gehend derart, daß an die unbestimmte Infinitivform ein possessives Affix
herantritt, — so daß also z. B. der Ausdruck für ,ich gehe' eigentlich
,mein Gehen' besagt, oder daß etwa die Ausdrücke für ,ich baue, du
baust, er baut* sprachlich genau die gleiche Struktur wie die für ,mein
Haus, dein Haus, sein Haus' aufweisen1. Daß diese Eigentümlichkeit
des Ausdrucks eine eigentümliche Anschauung des Verhältnisses von „Ich"
und „Wirklichkeit" zugrunde liegt, ist unverkennbar. Wundt sieht die
psychische Ursache für dieses Verharren der Nominalformen im Gebiet
transitiver Verbalbegriffe darin, daß im transitiven Verbum das Objekt,
auf das sich die Handlung beziehe, stets unmittelbar im Bewußtsein ge-
geben sei, also vor allem anderen zur Bezeichnung dränge, so daß hier der
Nominalbegriff stellvertretend für den ganzen, die Handlung aus-
drückenden Satz eintreten könne2. Aber damit ist der Tatbestand, um
den es sich hier handelt, nicht sowohl psychologisch erklärt, als vielmehr
nur psychologisch umschrieben. Es ist eine geistig-verschiedene Ansicht
des Tuns, die sich in seiner Bezeichnung als reiner Akt, als actus purus
und die sich in der Bezeichnung seines objektiven Zieles und seines ob-
jektiven Ergebnisses ausspricht. In dem einen Fall geht der Ausdruck
des Tuns in das Innere der Subjektivität, als seinen Ursprung und seine
Quelle, zurück; im anderen konzentriert er sich auf seinen Ertrag, um
erst diesen wieder, durch das besitzanzeigende Pronomen, gleichsam in
die Sphäre des Ich zurückzunehmen. Die Beziehung des Ich auf den
gegenständlichen Inhalt ist in beiden Fällen vorhanden, aber sie trägt in
dem einen sozusagen ein entgegengesetztes Vorzeichen, als im anderen:
die Richtung der Bewegung geht das eine Mal vom Zentrum zur Peri-
pherie, das andere Mal von der Peripherie zum Zentrum.
Ganz besonders eng gestaltet sich diese im possessiven Fürwort aus-
gedrückte und also durch die Idee des Besitzes vermittelte Verknüpfung
von Ich und Nicht-Ich, wenn das Nicht-Ich nicht schlechthin ein belie-
biger Gegenstand der ,Außenwelt' ist, sondern dem Gebiet angehört, in
dem das „Innere" und das „Äußere" sich zu berühren und unmittel-
bar ineinander überzugehen scheinen. Selbst spekulative Philosophen haben
den menschlichen Leib als diejenige Wirklichkeit bezeichnet, in wel-
cher dieser Übergang sich für uns in unverkennbarer Deutlichkeit voll-
ziehe. So sind nach Schopenhauer das Ich und der Leib nicht zwei ob-
1 S. H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. 7Öf., 171; Beispiele aus anderen
Sprachkreisen finden sich in Fr. Müllers Grundriß, z. B. I, 2, 12, I, 2, Ii6f., 1^2, i53.
II, 1, i88,III, 2, 278 u.ö.
2 Wundt, a. a. O., II, i/tf.
222
jektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität ver-
knüpft; sie stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; son-
dern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene
Weisen gegeben. Die Aktion des Leibes ist nichts anderes, als der objek-
tivierte, d. h. in die Anschauung getretene Akt des Willens — der Leib
ist nichts, als die Objektität des Willens selbst1. Von hier aus
wird es verständlich, daß auch die Sprache in den Bezeichnungen, die
sie für den menschlichen Leib und seine einzelnen Teile schafft, den ob-
jektiven und den subjektiven Ausdruck sich unmittelbar durchdringen
läßt: — daß mit der rein gegenständlichen Benennung hier der Ausdruck
der persönlichen Beziehung oft zu einem untrennbaren Ganzen ver-
schmilzt. Namentlich die Sprachen von Naturvölkern zeigen diese Eigen-
tümlichkeit häufig in scharfer Ausprägung. In den meisten Indianer-
sprachen kann ein Körperteil niemals mit einem allgemeinen Ausdruck
bezeichnet, sondern er muß stets durch ein besitzanzeigendes Fürwort
näher determiniert werden: es gibt also keinen abstrakten und losgelösten
Ausdruck für den Arm oder die Hand schlechthin, sondern immer nur
einen Ausdruck für die Hand oder den Arm, sofern sie einem bestimmten
Menschen angehören2. K. v. d. Steinen berichtet von der Bakairi-Sprache,
daß bei der Feststellung der Namen für die einzelnen Körperteile sorg-
fältig darauf zu achten war, ob man den Körperteil, nach dessen Benen-
nung man fragte, an sich selbst oder an dem Gefragten oder an einem
Dritten zeigte, da in allen drei Fällen die Antwort verschieden lautete.
Das Wort für , Zunge* z. B. konnte nur in der Form: meine Zunge, deine
Zunge, seine Zunge oder etwa unserer aller, die wir hier sind, Zunge wie-
dergegeben werden3. Die gleiche Erscheinung wird von Humboldt aus
der mexikanischen, von Boethlingk aus der jakutischen Sprache be-
richtet4. In den melanesischen Sprachen wird bei der Bezeichnung von
Körperteilen ein verschiedener Ausdruck gewählt, wenn es sich um die
allgemeine Benennung, und wenn es sich um die Benennung eines be-
sonderen, einem bestimmten Individuum zugehörigen Körperteils han-
delt: im ersteren Fall muß zu dem gewöhnlichen Ausdruck, der die
1 Schopenhauer, Welt als Wille u. Vorstell. I, i5if., II, 2891". (Grisebach).
2 Vgl. Buschmann, der athapaskische Sprachslamm (Abb. der Berl. Akad. d. Wiss.
i854), S. i65, 23i; Powell, Introduction to the Study of Indian languages, S. 18.
Goddard, Athapascan in Boas' Handbook I, io3.
3 K. v. d. Steinen> Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, S. 22.
4 Vgl. Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 347; selüst im Ungarischen werden nach
Simönyi, a. a. 0., S. 260, Verwandtschaftsnamen und Namen für Körperteile verhält-
nismäßig selten ohne possessive Personalsuffixe gebraucht.
223
individualisierende Bedeutung hat, also meine Hand, deine Hand, u. s. f.
bedeutet, ein generalisierendes Suffix hinzutreten1. Diese Verschmel-
zung des Nominalausdrucks mit dem Possessivpronomen greift dann
weiter von der Bezeichnung der menschlichen Gliedmaßen auch auf
andere Inhalte über, sofern sie in besonders naher Zugehörigkeit zum
Ich und gleichsam als ein Teil seines geistig-natürlichen Seins gedacht
werden. Häufig sind es insbesondere die Ausdrücke für natürliche Ver-
wandtschaftsgrade, die Ausdrücke für Vater und Mutter u. s. f., die nur
in fesler Verbindung mit dem possessiven Pronomen auftreten2. Es ergibt
sich hier das gleiche Verhältnis, das uns zuvor in der Gestaltung des ver-
balen Ausdrucks entgegentrat: daß nämlich für die Anschauung der
Sprache die objektive Wirklichkeit nicht eine einzige homogene Masse
bildet, die der Welt des Ich einfach als Ganzes gegenübersteht, sondern
daß hier verschiedene Schichten dieser Wirklichkeit bestehen, daß nicht
eine allgemeine und abstrakte Beziehung zwischen Objekt und Subjekt
schlechthin vorhanden ist, sondern daß sich verschiedene Stufengrade
des Objektiven, je nach seiner größeren ,Nähe' oder , Ferne' zum Ich,
noch deutlich gegeneinander absondern.
Und aus dieser Konkretion, in welcher hier die Subjekt-Objekt-Be-
ziehung gegeben ist, folgt nun noch ein weiterer Zug. Der Grund-
charakter des reinen Ich besteht darin, daß es, im Gegensatz zu allem
Objektiven und Dinghaften, absolute Einheit ist. Das Ich, als reine
Form des Bewußtseins gefaßt, enthält keinerlei Möglichkeit innerer Un-
terschiede mehr: denn solche Unterschiede gehören nur der Welt der
Inhalte an. Wo immer daher das Ich als Ausdruck des Nicht-Dinglichen
in strengem Sinne genommen wird, da muß es als „reine Identität mit
sich selbst" gefaßt werden. Schelling hat in seiner Schrift „Vom Ich
als Prinzip der Philosophie" diese Folgerung aufs schärfste gezogen. Ist
das Ich nicht sich selbst gleich, ist seine Urform nicht die Form reiner
Identität — so betont er — ■, so verwischt sich alsbald wieder die strenge
Grenze, die es von aller inhaltlich-gegenständlichen Wirklichkeit scheidet
und die es erst zu einem unverkennbar Selbständigen und Eigenen macht.
Das Ich ist daher entweder gar nicht oder nur in dieser Urform der
reinen Identität zu denken3. Aber zu dieser Anschauung des reinen, des
„transzendentalen" Ich und seiner Einheit vermag die Sprache nicht un-
1 Codrington, a. a. O., S. i^of.
2 Vgl. z. B. Reinisch, Nuba-Sprache, S. 45; für die amerikan. Sprachen s. Boas' Hand-
book, z.B. I, io3.
3 S. Schelling, Vom Ich, S 7; S. W. I, 177.
224
vermittelt überzugehen. Denn wie für sie die personale Sphäre erst all-
mählich aus der possessiven herauswächst, wie sie die Anschauung der
Person an die des objektiven Besitzes anheftet, so muß die Mannigfaltig-
keit, die im bloßen Besitzverhältnis liegt, auch auf den Ausdruck der Ich-
beziehung zurückwirken. In der Tat gehört mein Arm, der mit dem
Ganzen meines Leibes organisch verbunden ist, mir auf ganz andere Art
an, als mir meine Waffe oder mein Werkzeug angehört — meine Eltern,
mein Kind sind mir auf ganz andere, natürlichere und unmittelbarere
Art verbunden, als mein Pferd oder mein Hund — und auch im Gebiet
des bloßen Sachbesitzes besteht noch ein deutlich fühlbarer Unterschied
zwischen der beweglichen und der unbeweglichen Habe des Individuums.
Das Haus, in dem es wohnt, „gehört" zu ihm in einem anderen und
festeren Sinne, als etwa der Rock, den es trägt. Allen diesen Diffe-
renzen wird sich die Sprache zunächst anschmiegen: statt eines ein-
heitlichen und allgemeinen Ausdrucks des Besitzverhältnisses wird sie
daher so viel verschiedene Ausdrücke für dasselbe zu entwickeln suchen,
als es deutlich geschiedene Klassen konkreter Zugehörigkeit gibt. Es
ergibt sich hier dieselbe Erscheinung, die wir in der Entstehung und der
allmählichen Ausbildung der Zahlworte verfolgen konnten. Wie die ver-
schiedenen Objekte und Objektgruppen ursprünglich verschiedene „Zah-
len" haben — so haben sie auch ein verschiedenes „Mein und Dein". Den
„Numeralsubstantiven" mancher Sprachen, die bei der Zählung verschie-
dener Gegenstände zur Verwendung kommen, steht daher eine ganz ana-
loge Mannigfaltigkeit der „Possessiv-Substantiva" zur Seite. In den mela-
nesischen und in vielen polynesischen Sprachen wird, um das Besitzver-
hältnis wiederzugeben, der Bezeichnung des besessenen Gegenstandes ein
Possessivsuffix angefügt, das aber je nach der Klasse, zu der der Gegen-
stand gehört, wechselt. Ursprünglich sind alle diese mannigfachen Aus-
drücke des Besitzverhältnisses Nomina, was sich formell noch darin deut-
lich bekundet, daß ihnen Präpositionen vorangehen können. Diese No-
mina sind derart abgestuft, daß sie verschiedene Arten der Habe, des
Besitzes, der Zugehörigkeit u.s.f. unterscheiden. Ein derartiges Possessiv-
Nomen wird z. B. den Verwandtschaftsnamen, den Gliedmaßen des mensch-
lichen Körpers, den Teilen eines Dinges, ein anderes den Dingen, die man
besitzt, oder den Werkzeugen, von denen man Gebrauch macht, hinzu-
gefügt — eines gilt für alle Dinge, die zum Essen, ein anderes für solche,
die zum Trinken bestimmt sind1. Häufig wird ein verschiedener Ausdruck
1 Vgl. hrz. Ray, The Melanesian Possessives, American Anthropologist, XXI (1919),
S. 34gff.
IÖ 2 2Ö
angewendet, je nachdem es sich um einen von außen kommenden Be-
sitz oder um ein Objekt handelt, das sein Dasein der persönlichen Tätig-
keit des Besitzers verdankt1. In ähnlicher Weise unterscheiden die In-
dianersprachen meist zwischen zwei Hauptarten des Besitzes: zwischen
natürlichem und unübertragbarem und künstlichem und übertragbarem
Besitz2. Auch rein zahlenmäßige Bestimmungen können eineMannigfaltig-
keit im Ausdruck des Besitzverhältnisses bedingen, indem bei der Wahl
des Possessivpronomens unterschieden wird, ob es sich um einen, um zwei
oder um mehrere Besitzer handelt und ob der besessene Gegenstand einzig
oder doppelt oder mehrfach vorhanden ist. In der aleütischen Sprache
z. B. ergeben sich aus der Berücksichtigung und aus der Kombination
all dieser Umstände neun verschiedene Ausdrücke des possessiven Pro-
nomens3. Aus alledem geht hervor, daß der homogene Besitzausdruck
ebenso wie der homogene Zahlausdruck erst ein relativ spätes Produkt
der Sprachbildung ist und daß auch er sich erst aus der Anschauung des
Heterogenen herauslösen muß. Wie die Zahl den Charakter der „Gleich-
artigkeit" erst dadurch erlangt, daß sie sich fortschreitend aus einem
Dingausdruck in einen reinen Beziehungsausdruck wandelt — so gewinnt
allmählich auch die Einfachheit und Einerleiheit der Ichbeziehung
den Vorrang vor der Vielfältigkeit der Inhalte, die in diese Beziehung
eingehen können. Auf dem Wege zu dieser rein formalen Bezeichnung
des Besitzverhältnisses und somit auf dem Wege zur mittelbaren Erfas-
sung der formalen Einheit des Ich scheint sich die Sprache überall dort
zu befinden, wo sie statt der possessiven Fürwörter den Genitiv als Be-
sitzausdruck verwendet. Denn dieser wird, obwohl auch er in konkreten,
insbesondere in räumlichen Anschauungen wurzelt, in seiner Fortbil-
dung mehr und mehr zu einem rein „grammatischen" Kasus, zum Aus-
druck der „Zugehörigkeit überhaupt", die sich auf keine Sonderform des
Besitzes beschränkt. Eine Vermittlung und ein Übergang zwischen beiden
1 S. Codringion, Melanes. lang., S. I20,f.
2 Solche Unterschiede der Possessivsuffixe für übertragbaren und unübertragbaren Be-
sitz finden sich z.B. im Haida, im Tsimshian, wo weiterhin zwischen dem übertrag-
baren Besitz belebter Wesen (mein Hund) und unbelebter Dinge (mein Haus) unter-
schieden wird, und in den Sprachen der Sioux-Indianer, vgl. Boas' Handbook I, 2 58,
3q3, o/,6f.
3 Vgl. Victor Henry, Langue aleoutique, S. 22; ähnliches gilt für die Eskimosprache,
vgl. Thalbitzer in Boas' Handbook I, 102 1 ff. Von den finnisch-ugrischen Sprachen
bemerkt Szinnyei (a. a. O., S. 1 15), daß es hier ursprünglich zwei Paradigmen mit
possessiven Suffixen gegeben habe: das eine für singularischen, das andere für plura-
lischen Besitz. In den meisten Einzelsprachen habe sich aber dieser Unterschied ver-
dunkelt; am besten sei er im Wogulischen erhallen.
226
Anschauungen läßt sich vielleicht darin erkennen, daß bisweilen in der
Sprache der genitivische Ausdruck selbst noch mit einem besonderen
Possessiv-Charakter behaftet erscheint, indem ein eigenes possessives Suf-
fix zu einer ständigen und in keinem Falle zu vernachlässigenden Vervoll-
ständigung des Genetivverhältnisses gehört1.
Auf einem anderen Wege nähert sich die Sprache dem Ausdruck der
rein formalen Einheit des Ich, wenn sie, statt die Tätigkeit wesentlich
nach ihrem objektiven Ziel und Ertrag zu kennzeichnen, auf den Ur-
sprung des Tuns, auf das handelnde Subjekt zurückgeht. Dies ist die
Richtung, die alle diejenigen Sprachen nehmen, die das Verbum als reines
Tatwort betrachten und die Personenbezeichnung und -bestimmung an
das persönliche Fürwort anknüpfen. Das Ich, Du, Er löst sich in ganz
anderer Schärfe als das bloße Mein, Dein und Sein aus der Sphäre des
Objektiven heraus. Das Subjekt des Tuns kann nicht mehr als bloßes
Ding unter Dingen, oder als Inhalt unter Inhalten, erscheinen, sondern es
ist der lebendige Kraftmittelpunkt, von dem die Handlung beginnt und
von dem sie ihre Richtung empfängt. Man hat versucht, die Typen der
Sprachbildung danach zu unterscheiden, ob sie die Bezeichnung des ver-
balen Vorgangs wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Empfindung
oder unter dem Gesichtspunkt der Tat vollziehen. Dort, wo der erstere
Gesichtspunkt vorwalte, werde auch der Ausdruck des Tuns zu einem
bloßen ,,es erscheint mir" — während unter der Vorherrschaft des zwei-
ten die umgekehrte Tendenz walte, auch noch das bloße Erscheinen in ein
Tun umzudeuten2. In einer solchen Steigerung des Tätigkeitsausdrucks
aber gewinnt nun auch der Ausdruck des Ich eine neue Fassung. Der
dynamische Ausdruck der Ichvorstellung steht der Auffassung des-
selben als reine Formeinheit weit näher, als ein nominaler und gegen-
ständlicher Ausdruck. Jetzt bildet sich das Ich in der Tat immer deut-
licher zum reinen Beziehungsausdruck um. Wenn nicht nur alles Tun,
sondern auch alles Erleiden, wenn nicht nur jede Handlung, sondern
auch jede Zustandsbestimmung durch die personale Form des verbalen
Ausdrucks an das Ich geknüpft und in demselben geeint erscheint —
so ist dieses Ich selbst zuletzt nichts anderes mehr, als eben diese ideelle
Mitte. Es ist kein eigener vorstellbarer oder anschaulicher Inhalt, son-
1 So im Türkischen, wo ein Ausdruck wie ,das Haus des Vaters' so gestaltet ist, daß er
eigentlich ,des Vaters sein Haus' besagt, vgl. Aug. Müller, Türk. Grammat., S. 64;
ähnlich in den finnisch-ugrischen Sprachen, vgl. H. Winkler, Das Ural-altaische u.
seine Gruppen, S. 7 ff.
2 Näheres bei F. N. Finck, Die Haupttypen des Sprachbaus, S. i3f.
227
dern, mit Kant zu reden, lediglich dasjenige, „worauf in bezug Vor-
stellungen synthetische Einheit haben". In diesem Sinne ist die Vorstel-
lung Ich „die ärmste unter allen", weil sie alles konkreten Gehalts ent-
leert scheint — aber in dieser Leere an Gehalt schließt sie freilich zu-
gleich eine ganz neue Funktion und eine ganz neue Bedeutung in sich.
Für diese Bedeutung besitzt freilich die Sprache keinen adäquaten Aus-
druck mehr; denn sie bleibt auch in ihrer höchsten Geistigkeit auf die
Sphäre der sinnlichen Anschauung bezogen und kann daher jene „reine
intellektuelle Vorstellung" des Ich, jenes Ich der „transzendentalen Apper-
zeption" nicht mehr erreichen. Aber nichtsdestoweniger vermag sie ihr
wenigstens mittelbar den Boden zu bereiten, indem sie den Gegensatz
des dinglich-objektiven und des subjektiv-persönlichen Seins in ihrem
Fortgang immer feiner und schärfer ausprägt und das Verhältnis beider
auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Mitteln bestimmt.
3.
Der Streit, ob die Urworte, von denen die Sprache ihren Ausgang nahm,
verbale oder nominale Natur besaßen, ob sie Dingbezeichnungen oder
Tätigkeitsbezeichnungen gewesen seien, hat die Sprachwissenschaft und
Sprachphilosophie lange Zeit lebhaft bewegt. Schroff und unvermittelt
standen sich hier die Meinungen gegenüber — und für jede der beiden
Alternativen wurden nicht nur sprachgeschichtliche, sondern allgemein-
spekulative Gründe ins Feld geführt. Es schien freilich eine Zeitlang,
als sei dieser Streit verstummt, seitdem der Begriff, um den er sich be-
wegte, selbst problematisch geworden war. Die moderne Sprachwissen-
schaft hat den Versuch, in die Urzeit zurückzudringen und hier das Ge-
heimnis der Sprachschöpfung unmittelbar zu belauschen, mehr und mehr
aufgegeben. Für sie war der Begriff der „Sprach wurzel" nicht mehr der
Begriff von einer realen geschichtlichen Existenz, sondern sie sah in ihm
— wie es übrigens schon Humboldt mit seiner gewohnten kritischen
Vorsicht getan hatte — nur das Ergebnis der grammatischen Analyse.
So verblaßten die angeblichen „Urformen" der Sprache zu bloßen Ge-
dankenformen, zu Gebilden der Abstraktion. So lange man an eine
eigentliche „Wurzelperiode" der Sprache glaubte, konnte man den Ver-
such wagen, die Gesamtheit der sprachlichen Bildungen auf eine „be-
schränkte Anzahl von Matrizen oder Typen" zurückzuführen — und in-
dem man diese Ansicht mit der Anschauung verband, daß alles Sprechen
seinen Ursprung in gemeinschaftlich-verrichteten menschlichen Tätig-
keiten habe, ging man weiterhin dazu über, in der sprachlichen Grund-
228
gestalt dieser Typen die Spuren dieses Tuns aufzuweisen. In diesem
Sinne hat es z. B. Max Müller, nach dem Vorgang Ludwig Noires, unter-
nommen, die Wurzeln des Sanskrit auf eine bestimmte Zahl von sprach-
lichen Urbegriffen, auf die Ausdrücke für die einfachsten menschlichen
Tätigkeiten, für das Flechten und Weben, für das Nähen und Binden, für
das Schneiden und Teilen, das Graben und Stechen, das Brechen und
Schlagen zurückzuführen1. Versuche dieser Art schienen jedoch ihren
Sinn verloren zu haben, seit man den Begriff der Wurzel nicht mehr
inhaltlich, sondern formell faßte, — seit man in ihm nicht sowohl das sach-
liche Element aller Sprachbildung, als vielmehr ein methodisches Element der
Sprachwissenschaft erblickte. Und auch dann, wenn man nicht bis
zu dieser völligen methodischen Auflösung des Wurzelbegriffs fortschritt
— wenn man ein Recht zu der Annahme zu haben glaubte, daß z. B. im
Indogermanischen die Wurzeln in einer vor der Flexion liegenden Zeit
reale Existenz hatten — , schien man sich jetzt doch jeder Behauptung
über ihre wirkliche Form enthalten zu müssen2. Nichtsdestoweniger fin-
den sich auch heute in der empirischen Sprachforschung selbst wieder
mannigfache Anzeichen dafür, daß das Problem der Beschaffenheit und
Struktur der Urwurzeln sich von neuem zu regen beginnt. Und wieder ist es
hier die These des verbalen Ursprungs und des verbalen Charakters dieser
Wurzeln, die mit besonderem Nachdruck auftritt. Ein französischer
Sprachforscher, der diese alte, schon von Panini verteidigte These kürz-
lich zu erneuern versucht hat, stützt sich für ihre Durchführung, außer
auf sprachgeschichtliche Beobachtungen, ausdrücklich auf Erwägungen,
die einer anderen Sphäre, die der allgemeinen Metaphysik angehören. Die
Sprache muß nach ihm von der Bezeichnung der Verbalbegriffe ihren
Ausgang genommen und von hier erst allmählich zu der der Dingbegriffe
fortgeschritten sein, weil nur die Tätigkeiten und Veränderungen sinn-
fällig wahrgenommen werden, weil nur sie als Erscheinungen gegeben
sind, während das Ding, das diesen Veränderungen und Tätigkeiten zu-
grunde liegt, immer nur mittelbar erfaßt, immer nur als ihr Träger
erschlossen werden könne. Wie der Weg des Denkens, so müsse der Weg
der Sprache vom Bekannten zum Unbekannten, vom Sinnlich-Wahr-
genommenen zum bloß Gedachten, vom „Phänomenon" zum „Noumenon"
gehen: die Bezeichnung des Verbums und der verbalen Eigenschaf ts-
1 Vgl. Ludwig Noire, Der Ursprung der Sprache, S. 3i i ff ., 34i ff ., u. Max Müller,
Das Denken im Lichte der Sprache, Lpz. 1888, S. 37iff., Ö7iff.
2 Dies ist z. B. der Standpunkt, den B. Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung,
Straßb. 1901, S. n3ff.) einnimmt.
229
begriffe müsse daher den Substanzbezeichnungen, den sprachlichen „Sub-
stantiven" notwendig vorangegangen sein1.
Aber gerade diese jueidßaotg elg ällo yevog, diese überraschende Wen-
dung ins Metaphysische, läßt die methodische Schwäche der Problem-
stellung, die hier zugrunde liegt, klar erkennen. Auf der einen Seite
ruht die gesamte Beweisführung auf einer unverkennbaren qualernio ler-
minorum: der Begriff der Substanz, der hier als Mittelbegriff des Schlus-
ses gebraucht wird, tritt in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen auf,
indem er das eine Mal im metaphysischen, das andere Mal im empirischen
Sinne genommen wird. Der Vordersatz des Schlusses spricht von der
Substanz als dem metaphysischen Subjekt der Veränderungen und Eigen-
schaften, als dem „Ding an sich", das „hinter" allen Qualitäten und Ak-
zidenzen liegt — der Schlußsatz spricht von den Nominalbegriffen der
Sprache, die, sofern sie zum Ausdruck von Gegenständen dienen, diese
natürlich nicht anders denn als „Gegenstände in der Erscheinung" nehmen
können. Die Substanz im ersteren Sinne ist der Ausdruck einer absoluten
Wesenheit, die im zweiten Sinne dagegen stets nur der Ausdruck einer
relativen, einer empirischen Beharrlichkeit. Wird aber das Problem in
diesem letzleren Sinne gefaßt, so verliert der Schluß, der hier gezogen
ist, soweit er sich auf erkenntniskritische Gründe stützt, alle Beweis-
kraft. Denn die Erkenntniskritik lehrt keineswegs, daß der Gedanke der
veränderlichen Eigenschaft oder des veränderlichen Zustandes notwendig
früher als der des „Dinges", als einer relativ beharrlichen Einheit, sei:
sie zeigt vielmehr, daß sowohl der Begriff des Dinges, wie der der Eigen-
schaft oder des Zustandes gleich berechtigte und gleich notwendige Bedin-
gungen im Aufbau der Erfahrungswelt sind. Sie unterscheiden sich nicht
als Ausdrücke gegebener Wirklichkeiten und gemäß der Ordnung, in der
diese Wirklichkeiten, sei es an sich, sei es mit Bezug auf unsere Er-
kenntnis, aufeinander folgen — sondern als Formen der Auffassung, als
Kalegorien, die einander wechselseitig bedingen. Der Gesichtspunkt der
Beharrung, der Gesichtspunkt des „Dinges" ist in diesem Sinne weder
vor dem der Veränderung noch nach ihm, sondern schlechterdings nur
mit ihm, als sein korrelatives Moment, gegeben. Und diese Betrachtungs-
weise gilt nun auch in umgekehrter Richtung: sie wendet sich nicht
minder als gegen die behauptete notwendige Ursprünglichkeit des Verbums
und der Verbalbegriffe, auch gegen die psychologischen Beweisgründe, mit
denen man statt dessen vielmehr den Primat der rein gegenständlichen
1 S. Raoul de la Grasserie, Du Verbe corarae generateur des autres parties du discours
(du Phenomene au Noumene), Paris 19 1 4-
a3o
Anschauung und der bloßen Nominalbegriffe zu erhärten versucht hat.
„Man kann sich unmöglich denken", — so bemerkt z. B. Wundt —
„der Mensch habe irgend einmal bloß in Verbalbegriffen gedacht. Das
Umgekehrte, daß er bloß in gegenständlichen Vorstellungen gedacht habe,
könnte man nach den psychologischen Eigenschaften viel eher verstehen;
und in der Tat finden sich sehr deutliche Spuren eines solchen Zustandes
nicht nur in der Sprechweise des Kindes, sondern auch in zahlreichen
wirklich existierenden Sprachen, die einen ursprünglicheren Zustand be-
grifflicher Entwicklung bewahrt haben1." Auch hier gilt indes, daß die
Annahme, der Mensch habe jemals in „bloßen" Nominalbegriffen ge-
dacht, den gleichen prinzipiellen Mangel in sich birgt, wie die ent-
gegengesetzte These, die die Verbalbegriffe als das zeitliche und sachliche
Prius ansieht. Wir stehen hier vor einem jener Probleme, die nicht durch
ein einfaches Entweder - Oder beantwortet, sondern die nur durch eine
grundsätzliche kritische Berichtigung der Fragestellung selbst ent-
schieden werden können. Das Dilemma, das lange Zeit die Sprach-
forscher in zwei verschiedene Gruppen und Lager schied, ist letztlich ein
Dilemma der Methode. Bleibt man auf dem Boden der Abbildtheorie
stehen — nimmt man somit an, daß der Zweck der Sprache in nichts ande-
rem liegen könne, als darin, bestimmte in der Vorstellung gegebene
Unterschiede äußerlich zu bezeichnen — , so hat die Frage einen guten
Sinn, ob es Dinge oder Tätigkeiten, Zustände oder Eigenschaften gewesen
seien, die von ihr zuerst hervorgehoben worden seien. Im Grunde aber
verbirgt sich in dieser Art der Fragestellung nur der alte Fehler einer
unmittelbaren Verdinglichung der geistig-sprachlichen Grundkategorien.
Eine Scheidung, die erst „im" Geiste, d. h. durch die Gesamtheit seiner
Funktionen erfolgt, wird als eine substantiell vorhandene und bestehende
dem Ganzen dieser Funktionen vorangestellt. Dagegen gewinnt das Pro-
blem sofort einen anderen Sinn, wenn man darauf reflektiert, daß „Dinge"
und „Zustände", „Eigenschaften" und „Tätigkeiten" nicht gegebene In-
halte des Bewußtseins, sondern Weisen und Richtungen seiner Formung
sind. Dann zeigt sich, daß weder die einen, noch die anderen unmittelbar
wahrgenommen und, gemäß dieser Wahrnehmung, sprachlich bezeichnet
werden können, sondern daß nur die zunächst undifferenzierte Mannig-
faltigkeit der sinnlichen Eindrücke in der Richtung auf die eine oder die
andere Denk- und Sprachform bestimmt werden kann. Diese Bestim-
mung zum Gegenstand oder zur Tätigkeit, nicht die bloße Benennung
des Gegenstandes und der Tätigkeit, ist es, die sich, wie in der logischen
1 Wundt, Die Sprache 2 I, 594.
20I
Arbeit der Erkenntnis, so auch in der geistigen Arbeit der Sprache aus-
drückt. Nicht darum handelt es sich daher, ob der Akt der Benennung
zuerst Dinge oder Tätigkeiten als an sich seiende Bestimmtheiten der
Wirklichkeit ergreift, sondern darum, ob er im Zeichen der einen oder
der anderen sprachlich-gedanklichen Kategorie steht, — ob er gleich-
sam sub specie nominis oder sub specie verbi erfolgt.
Und es läßt sich von Anfang an erwarten, daß dieser Frage gegenüber
eine schlechthin einfache apriorische Entscheidung nichtmöglich sein wird.
Wird die Sprache nicht mehr als das eindeutige Abbild einer eindeutig-ge-
gebenen Wirklichkeit, sondern wird sie als ein Vehikel in jenem großen Pro-
zeß der „Auseinandersetzung" zwischen Ich und Welt gefaßt, in dem die
Grenzen beider sich erst bestimmt abscheiden, so ist ersichtlich, daß diese
Aufgabe eine Fülle verschiedenartiger möglicher Lösungen in sich birgt.
Denn das Medium, in dem die Vermittlung vor sich geht, besteht ja nicht
von Anfang an in fertiger Bestimmtheit, sondern es ist und wirkt nur da-
durch, daß es sich selbst gestaltet. Von einem Kategoriensystem der
Sprache und von einer Ordnung und Abfolge der sprachlichen Kate-
gorien in zeitlicher oder logischer Hinsicht kann daher nicht in dem Sinne
gesprochen werden, daß darunter die Aufstellung einer Anzahl fester For-
men verstanden wird, in denen, wie in einem vorgeschriebenen Geleise,
alle Sprachentwicklung ein für allemal verläuft. Wie in der erkenntnis-
kritischen Betrachtung, so kann vielmehr auch hier jede einzelne Kate-
gorie, die wir aussondern und gegen die anderen abheben, immer nur als
ein einzelnes Motiv gefaßt und beurteilt werden, das sich, je nach den
Beziehungen, in die es zu anderen Motiven tritt, zu sehr verschiedenen
konkreten Einzelgestaltungen entfalten kann. Aus dem Ineinander dieser
Motive und aus dem verschiedenen Verhältnis, in das sie zueinander treten,
ergibt sich die „Form" der Sprache, die jedoch nicht sowohl als Seins-
form, als vielmehr als Bewegungsform, nicht als statische, sondern als
dynamische Form zu fassen ist. Es gibt hier demnach keine absoluten, son-
dern immer nur relative Gegensätze — Gegensätze des Sinnes und der
Richtung der Auffassung. Der Nachdruck kann bald auf das eine, bald
auf das andere Moment fallen, die dynamischen Akzente zwischen Ding-
und Eigenschafts-, Zustands- und Tätigkeitsbegriffen können in der man-
nigfachsten Weise verteilt werden und erst in diesem Hin und Wieder,
in dieser gewissermaßen oszillierenden Bewegung besteht der besondere
Charakter jeder sprachlichen Form als schöpferischer Form. Je schärfer
man diesen Prozeß in der Besonderung aufzufassen versucht, die er in
den Einzelsprachen erfährt, um so deutlicher wird, daß hier die einzelnen
232
Wortklassen, die unsere grammatische Analyse zu unterscheiden pflegt,
daß das Substantiv, das Adjektiv, das Pronomen, das Verbum, nicht
von Anfang an vorhanden sind und gleich festen substantiellen Einheiten
gegeneinander wirken, sondern daß sie sich gleichsam gegenseitig hervor-
treiben und gegeneinander abgrenzen. Die Bezeichnung entwickelt sich
nicht am fertigen Gegenstand, sondern der Fortschritt des Zeichens und
die dadurch erreichte immer schärfere „Distinktion" der Bewußtseins-
inhalte ist es, wodurch sich für uns immer klarere Umrisse der Welt,
als eines Inbegriffs von „Gegenständen" und „Eigenschaften", von „Ver-
änderungen" und „Tätigkeiten", von „Personen" und „Sachen", von ört-
lichen und zeitlichen Beziehungen ergibt.
Ist somit der Weg, den die Sprache geht, der Weg zur Bestimmung,
so ist zu erwarten, daß diese sich allmählich und stetig aus einem Stadium
relativer Unbestimmtheit herausarbeiten und gestalten wird. Die Sprach-
geschichte bestätigt diese Vermutung durchaus : denn sie zeigt, daß wir, je
weiter wir in der Entwicklung der Sprache zurückgehen können, mehr und
mehr zu einer Phase hingeführt werden, in der die Bedeteile, die wir in
den ausgebildeten Sprachen unterscheiden, sich weder formell noch in-
haltlich voneinander abgesondert haben. Ein und dasselbe Wort kann
hier grammatisch sehr verschiedene Funktionen erfüllen, kann je nach
den besonderen Bedingungen, unter denen es auftritt, als Präposition oder
als selbständiges Nomen, als Verbum oder als Substantivum gebraucht
werden. Insbesondere bildet die Indifferenz von Nomen und Verbum
die durchgehende Begel, die den Bau der Mehrzahl der Sprachen be-
stimmt. Man hat gelegentlich gesagt, daß zwar die ganze Sprache in den
beiden Kategorien des Nomens und des Verbums aufgehe, daß aber ande-
rerseits die wenigsten Sprachen ein Verbum in unserem Sinne kennen. Zu
einer wirklich scharfen Scheidung beider Formklassen scheinen fast aus-
schließlich die Sprachen des indogermanischen und des semitischen Krei-
ses gelangt zu sein — und selbst in ihnen finden sich in der Satzgestaltung
noch fließende Übergänge zwischen der Form der Nominal- und der Ver-
balsätze1. Humboldt bezeichnet es als ein Charakteristikum des ma-
layischen Sprachstammes, daß in ihm die Grenzen zwischen dem nomi-
1 Vgl. z. B. Nöldeke, Syrische Grammat., S. 2i5: „Der Nominalsatz, d. h. der Satz,
welcher ein Subst. Adj. oder eine adverbiale Bestimmung zum Prädikat hat, unter-
scheidet sich im Syrischen vom Verbalsatz nicht allzu scharf. Das sehr viel als Prädikat
verwandte, zur reinen Verbalform werdende Partizipium, das doch seine nominale Her-
kunft nicht verleugnet . . ., bezeichnet Übergänge vom Nominalsatz zum Verbalsatz.
Auch der innere Bau der Nominal- und Verbalsätze ist im Syrischen nicht sehr ver-
schieden."
233
nalen und verbalen Ausdruck so weit verwischt würden, daß man hier
gleichsam ein Gefühl der Abwesenheit des Verbums habe. Ebenso betont
er z. B. für eine Sprache, wie das Barmanische, daß sie aller formalen
Bezeichnungen für die Verbalfunklion völlig ermangele, so daß in den
Sprechenden selbst offenbar keinerlei lebendiges Durchdringen des Ge-
fühls der wahren Kraft des Verbums vorhanden sei1. Was hier noch als
eine Art Anomalie der Sprachbildung betrachtet zu werden scheint, —
das hat sodann die weitere Ausdehnung der Sprachvergleichung als eine
allgemein verbreitete Erscheinung aufgewiesen. Immer wieder begegnet
statt der scharfen Trennung des Verbums vom Nomen eine mittlere, eine
gleichsam amorphe Form2. Dies tritt auch darin deutlich zutage, daß die
Grenzen der grammatisch-formellen Behandlung der Ding- und Tätig-
keitsausdrücke sich erst ganz allmählich gegeneinander abscheiden. „Kon-
jugation" und ,, Deklination" fließen in ihrer sprachlichen Gestaltung
zunächst noch vielfach ineinander über. Überall dort, wo die Sprache den
Typus der „possessiven Konjugation" befolgt, ist schon dadurch ein völ-
liger Parallelismus zwischen dem nominalen und dem verbalen Ausdruck
gegeben3. Ähnliche Beziehungen finden sich zwischen den Tätigkeits- und
den Eigenschaftsbezeichnungen: ein und dasselbe System der Abwandlung
kann ebenso wie die Verba auch die Adjektiva umfassen4. Selbst komplexe
1 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk VII, i, 222, 28off., 3o5; Ygl. bes. das Kawi-
Wcrk selbst II, 81, 129 ff., 287.
2 Beispiele s. etwa in Fr. Müller's Grundriß: aus dem Hottentottischen I, 2, I2ff., den
Mande-Sprachen I, 2, ili2, dem Samojedischen II, 2, 17/i, dem Jenissei-Ostjakischen II,
1, n5.
3 S. oben S. 222.
L Vielfältige Beispiele dieser „adjektivischen Konjugation" s. bei de la Grasserie, a.
a. O. S. 32 ff. — Die malayische Sprache erlaubt jedes Wort ohne Ausnahme durch einen
Zusatz in ein Verbum zu verwandeln; umgekehrt kann hier jeder Verbalausdruck durch
bloße Vorsetzung des bestimmten Artikels als ein Nomen behandelt werden (Humboldt,
Kawi-Werk, II, 81, 3^8 ff.). Im Koptischen trägt das Verbum in seiner Infinitivform
sogar den Geschlechtscharakter der substantivischen Hauptwörter an sich: der Infinitiv
ist ein Nomen und kann seiner Form nach männlich oder weiblich sein. Diesem seinem
nominalen Charakter entsprechend regiert er ursprünglich auch kein Objekt, sondern
einen Genitiv, der wie beim Substantivum unmittelbar an das Nomen regens herantritt.
(S. Steindorff, Koptische Grammatik, S. 91 f.) Im Jenissei-Ostjakischen, sowie in
den Dravida-Sprachen lassen die Verbalformen eine Bekleidung mit Kasus-Suffixen zu
und werden demgemäß „dekliniert" — wie andererseits in manchen Sprachen das No-
men miL einem bestimmten Temporalzeichen versehen und somit „konjugiert" werden
kann. (Vgl. Fr. Müllers Grundriß II, 1, n5, i8of., III, 1, 198.) In der Sprache von
Annalom wird — nach G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissensch., S. 160 f. — nicht
das Verbum, sondern das Pronomen personale konjugiert. Dies eröffnet den Satz, zeigt
234
sprachliche Gebilde, selbst ganze Sätze können bisweilen in dieser Art
„konjugiert" werden1. Wenn wir geneigt sind, derartige Erscheinungen
als Beweise der „Formlosigkeit" einer Sprache aufzufassen, so sollten wir
sie vielmehr als Belege des charakteristischen „Werdens zur Form" be-
trachten. Denn gerade in der Unbestimmtheit, die der Sprache hier noch
anhaftet, in der mangelnden Ausbildung und Trennung ihrer einzelnen
Kategorien, liegt vielmehr ein Moment ihrer eigenen Bildsamkeit und ihrer
wesentlichen inneren Bildungskraft. Der bestimmungslose Ausdruck ent-
hält noch alle Möglichkeiten der Bestimmung in sich und überläßt es
gleichsam der weiteren Entwicklung der besonderen Sprachen, für welche
dieser Möglichkeiten sich jede von ihnen entscheiden will.
Ein allgemeines Schema dieser Entwicklung aufstellen zuwollen, scheint
freilich ein vergebliches Bemühen, denn gerade darin, daß jede Sprache
im Aufbau ihres Kategoriensystems verschieden verfährt, liegt der kon-
krete Reichtum dieser Entwicklung beschlossen. Nichtsdestoweniger läßt
sich diese konkrete Fülle der Ausdrucksformen, ohne ihr Gewalt anzutun,
auf gewisse Grundtypen beziehen und um sie gruppieren. Einzelnen Spra-
chen und Sprachgruppen, die den nominalen Typus in voller Reinheit und
Strenge ausgebildet haben, in denen somit der gesamte Aufbau der An-
schauungswelt durch die gegenständliche Anschauung beherrscht und
geleitet erscheint, stehen andere gegenüber, in denen der grammatische
und syntaktische Bau durch das Verb um bestimmt und dirigiert wird.
Und auch im letzteren Falle ergeben sich wieder zwei verschiedene For-
men sprachlicher Gestaltung, je nachdem der verbale Ausdruck als bloßer
Vorgangsausdruck oder als reiner Tätigkeitsausdruck gefaßt wird,
je nachdem er sich in den Verlauf des objektiven Geschehens versenkt
oder das handelnde Subjekt und seine Energie heraushebt und in den
Mittelpunkt rückt. Was den ersten, streng nominalen Typus betrifft, so
hat er eine scharfe und deutliche Ausprägung vor allem in den Sprachen
des altaischen Kreises erfahren. Hier ist der gesamte Satzbau derart ge-
gliedert, daß sich ein gegenständlicher Ausdruck einfach an den anderen
reiht und sich attributiv mit ihm verknüpft, wobei jedoch dieses einfache
Prinzip der Gliederung, indem es streng und allseitig durchgeführt wird,
eine Fülle höchst komplexer Bestimmungen zur klaren und in sich ge-
schlossenen Darstellung bringen kann. „Ich stehe nicht an" — so urteilt
an, ob von der ersten, der zweiten oder einer dritten Person Singularis, Dualis, Trialis
oder Pluralis die Rede ist, ob es sich um ein Gegenwärtiges, Vergangenes oder Zukünf-
tiges, Gewolltes usw. handele.
1 So im Aleutischen, vgl. V. Henry, a. a. 0., S. 6off.
235
z. B. H. Winkler über dieses Prinzip, das er an der Struktur des japa-
nischen Verbums veranschaulicht — , „es einen ganz wunderbaren Bau zu
nennen. Die Mannigfaltigkeit der Beziehungen aller Art, der feinsten und
minutiösesten Schattierungen, die hierbei in kürzester Form zum sprechen-
den Ausdruck gelangen, ist unerschöpflich: was wir in unseren Sprachen
durch zahlreiche Umschreibungen, durch Nebensätze aller Art, relative
wie konjunktionale, ausdrücken, wird hier durch einen einzigen Aus-
druck oder durch ein einziges regierendes Vollnomen mit einem davon
abhängigen anderen Verbalnomen klar wiedergegeben ; ein solches Verbal-
nomen stellt in voller Klarheit nach unserer Auffassung einen Hauptsatz
mit zwei, drei Nebensätzen dar, wobei überdies jedes der drei, vier Glieder
die mannigfachsten Beziehungen und feinsten Unterschiede der Zeit, des
Aktiven oder Passiven, Kausativen, Kontinuativen, kurz der allerverschie-
densten Modifikationen der Handlung in sich fassen kann . . . Und das
alles vollzieht sich großenteils unter Verzicht auf die meisten uns ge-
läufigen und unentbehrlich scheinenden Formelemente. Es ist somit das
Japanische in unserem Sinne eine formlose Sprache par excellence,
womit also in keiner Weise ein Präjudiz bezüglich der Wertung dieser
Sprache gegeben werden soll, wohl aber die gewaltige Divergenz des Baues
angedeutet1." Diese Divergenz liegt wesentlich darin, daß hier das Gefühl
für die begriffliche Nuancierung der Handlung zwar keineswegs fehlt,
daß es sich aber sprachlich nur soweit ausdrücken kann, als der Ausdruck
der Handlung sich gleichsam um den Gegenstandsausdruck herumrankt
und in ihn als nähere Bestimmung eingeht. Den Mittelpunkt der Bezeich-
nung bildet die Existenz des Dinges — und an sie bleibt aller Ausdruck
von Eigenschaften, von Beziehungen und Tätigkeiten angelehnt. Es ist
daher eine im eigentlichen Sinne „substantielle" Auffassung, die wir in
dieser Bildung der Sprache vor uns haben. Im japanischen Verbum findet
sich sehr häufig eine reine Existenzaussage, wo wir nach unseren Denk-
gewohnheiten eine prädikative Aussage erwarten würden. Statt eine Ver-
knüpfung zwischen Subjekt und Prädikat auszusagen, wird das Vor-
handensein oder Nicht-Vorhandensein des Subjekts oder Prädikats, seine
Tatsächlichkeit oder Nicht-Tatsächlichkeit, betont und herausgestellt. Von
dieser ersten Festsetzung des Seins oder Nicht-Seins nehmen alle weiteren
Bestimmungen des „Was", des Wirkens und Leidens u. s. f. ihren Aus-
gang2. Am prägnantesten tritt dies in der negativen Wendung heraus, in
1 H. Winkler, Der ural-altaische Sprachstamm, S. i66f.
2 Ein Satz wie „es schneit" lautet daher im Japanischen so, daß er eigentlich besagt
„Schnees Herabfallen (ist)", ein Satz wie „der Tag hat sich geneigt, es ist dunkel ge-
a36
der selbst das Nichtsein noch gleichsam substantiell gefaßt wird. Die Ver-
neinung einer Handlung lautet derart, daß vielmehr das Nicht-Sein der-
selben positiv festgestellt wird : es gibt nicht in unserem Sinne ein „nicht
Kommen", sondern nur ein Nichtsein, Nichtvorhandensein des Kommens.
Dabei ist der Ausdruck dieses Nichtseins selbst so gefügt, daß er eigent-
lich „das Sein des Nicht" besagt. Und wie hier die Relation der Ver-
neinung sich in einen substantiellen Ausdruck wandelt, so gilt das gleiche
für die anderen Beziehungsausdrücke. Im Jakutischen wird das Besitz-
verhältnis derart wiedergegeben, daß von dem besessenen Gegenstand
die Existenz oder Nicht-Existenz ausgesagt wird: eine Wendung wie
„mein Haus vorhanden" oder „mein Haus nicht vorhanden", drückt aus,
daß ich ein Haus besitze oder nicht besitze1. Auch die Zahlausdrücke
sind vielfach so gestaltet, daß die Zahlbestimmung gleich einem
selbständigen gegenständlichen Sein erscheint — daß also statt viele
oder alle Menschen ,Mensch der Vielheit* oder der Allheit, statt fünf
Menschen eigentlich Mensch der Fünfheit, der 5 Stück, der Fünferlei-
heit u. s. f. gesagt wird2. Die modalen oder temporalen Bestimmungen
des Verbalnomens werden in der gleichen Weise zum Ausdruck ge-
bracht. Ein substantivischer Ausdruck, wie das Bevorstehen, bezeichnet,
indem er attributiv mit dem Verbalnomen verknüpft wird, daß die
in ihm bezeichnete Handlung als zukünftig betrachtet wird, das Ver-
bum also im futurischen Sinne zu nehmen ist3 — ein substantivischer
Ausdruck wie Verlangen dient dazu, die sogen. Desiderativform des Verbs
zu bilden u. s. f. Auch sonstige modale Nuancen, wie die des Konditio-
nalen, des Konzessiven werden nach dem gleichen Prinzip bezeichnet4.
Es sind lauter einzelne Seinsbestimmungen, es sind selbständige gegen-
worden" lautet so, daß er besagt „des Tages Dunkelgeworden-sein (ist)". Vgl. Hoff-
mann, Japan. Sprachlehre, S. 66 f.
1 S. Winkler, a. a. O., S. iggff.; Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. 348.
2 Winkler, a.a.O., S. IÖ2, i57ff.
3 S. im Jakutischen (Boethlingk, S. 2991".): mein bevorstehendes Schneiden = der
meinem künftigen Schneiden unterliegende Gegenstand, aber auch = ,,ich werde schnei-
den" u. s. f. Vgl. die Tempusbestimmung beim japanischen Verbum, wo die Formen, die
zum Ausdruck der Zukunft oder Vergangenheit, der Vollendung oder Dauer dienen,
sämtlich Verbindungen eines abhängigen Verbalnomens, das den Inhalt der Handlung
bezeichnet, mit einem zweiten regierenden Verbalnomen sind, das die zeitliche Eigen-
art derselben kennzeichnet. Also Sehens — Streben, Wollen, Werden (für Sehenwerden);
Sehens — Fortgehen (für Gesehen haben) usw. Vgl. H. Winkler, a. a. O., S. i7Öff.
und Hoff mann, Japan. Sprachlehre, S. 2i4, 227.
4 Näheres bei Winkler, a. a. O., S. i25ff., 208 ff., und Uralaltaische Völker u. Spra-
chen, bes. S. 9off.
237
stäridliche Fügungen, die die Sprache hier ausprägt, um durch ihr
einfaches Nebeneinander die Fülle der möglichen gedanklichen Ver-
knüpfungen und Yerknüpfungsformen zur mittelbaren Darstellung zu
bringen.
Eine ganz andere geistige Grundauffassung tritt uns dort entgegen, wo
die Sprache zwar gleichfalls noch in der ursprünglichen Indifferenz des
Nomen-Verbums verharrt, wo sie aber die indifferente Grundform im ent-
gegengesetzten Sinne verwendet und akzentuiert. Wenn in den eben be-
trachteten Fällen alle sprachliche Bestimmung vom Gegenstand ihren
Ausgang nahm, so gibt es andere Sprachen, die ebenso scharf und präg-
nant die Bezeichnung und Bestimmung desVorgangs zum Ausgangspunkt
nehmen. Wie dort das Nomen, so erscheint hier das Verbum, sofern es
reiner Vorgangsausdruck ist, als der eigentliche Mittelpunkt der Sprache:
wie dort alle Verhältnisse, auch die des Geschehens und Tuns, sich in
Seinsverhältnisse umsetzen, so setzen sich hier umgekehrt auch diese letzte-
ren in Geschehensverhältnisse und Geschehensausdrücke um. In dem
einen Falle wird die Form des dynamischen Werdens gleichsam in die
des ruhenden statischen Daseins hineingezogen — im anderen wird auch
das Dasein nur insofern erfaßt, als es zum Werden in Beziehung steht.
Aber diese Form des Werdens hat sich mit der reinen Ichform noch nicht
durchdrungen, und sie besitzt daher, bei all ihrer Lebendigkeit selbst
noch eine überwiegend objektive, eine unpersönliche Gestalt. Insofern
stehen wir auch hier noch in der dinglichen Sphäre — aber das Zentrum
derselben hat sich verschoben. Der Nachdruck der sprachlichen Bezeich-
nung liegt nicht sowohl auf der Existenz, als auf der Veränderung. Zeigte
es sich in den früher betrachteten Fällen, daß das Substantivum als Ge-
genstandsausdruck den Gesamtbau der Sprache beherrschte — so werden
wir jetzt erwarten dürfen, das Verbum als Veränderungsausdruck als den
eigentlichen Kraftmittelpunkt zu finden. Wie die Sprache dort be-
müht war, alle noch so komplexen Beziehungen in die substantivische
Form umzuprägen — ■ so wird sie hier alle diese Beziehungen in die Form
des verbalen Geschehensausdrucks zusammenzufassen und gleichsam ein-
zufangen versuchen. Eine derartige Gesamtauffassung scheint den meisten
Indianersprachen zugrunde zu liegen — und man hat versucht, sie aus
den Strukturelementen des indianischen Geistes psychologisch zu erklären1.
Wie immer man sich indes zu diesem Erklärungsversuch stellen mag, so
zeigt jedenfalls schon der reine Bestand dieser Sprachen eine ganz eigene
Methodik der Sprachgestaltung. Die allgemeinen Umrisse derselben sind
1 S. die Bemerkungen von G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. ^oaf.
238
am schärfsten von Humboldt in seiner Darstellung des Einverleibungs-
verfahrens der mexikanischen Sprache gezeichnet worden. Der Kern die-
ses Verfahrens besteht bekanntlich darin, daß die Beziehungen, die andere
Sprachen im Salz und in der analytischen Gliederung des Satzes zum
Ausdruck bringen, hier synthetisch in ein einziges Sprachgefüge, in ein
komplexes „Satzwort" zusammengezogen werden. Den Mittelpunkt dieses
Satzwortes bildet der Ausdruck der verbalen Handlung, dem sich aber die
mannigfachsten modifizierenden Bestimmungen in reicher Fülle anschlie-
ßen. Die regierenden und regierten Teile des Verbs, insbesondere die Be-
zeichnungen für sein näheres oder entfernteres Objekt werden dem Ver-
balausdruck selbst als notwendiges Komplement eingefügt. „Der Satz" — ■
so bemerkt Humboldt — „soll, seiner Form nach, schon im Verbum
abgeschlossen erscheinen und wird nur nachher, gleichsam durch Appo-
sition näher bestimmt. Das Verbum läßt sich gar nicht ohne diese vervoll-
ständigenden Nebenbestimmungen nach Mexikanischer Vorstellungsweise
denken. Wenn daher kein bestimmtes Objekt dasteht, so verbindet die
Sprache mit dem Verbum ein eigenes, in doppelter Form für Personen.
12 3 1 3
und Sachen gebrauchtes unbestimmtes Pronomen: ni-lla-qua, ich esse
2 1 2 3 4 1 4 2 3
etwas, ni-le-tla-maca, ich gebe jemandem etwas..." Die Einverlei-
bungsmethode drängt somit entweder den Gesamtinhalt der Aussage in
einen einzigen Verbalausdruck zusammen, oder sie läßt, wenn dies, bei
allzu komplexen Aussagen, nicht möglich ist, aus dem verbalen Mittel-
punkte des Satzes „Kennzeichen gleichsam wie Spitzen ausgehen, um die
Richtungen anzuzeigen, in welchen die einzelnen Teile, ihrem Verhältnis
zum Satze gemäß, gesucht werden müssen". Auch dort, wo das Verbum
nicht den vollständigen Inhalt der Aussage in sich faßt, enthält es daher
doch stets das allgemeine Schema der Salzkonstruktion: der Satz soll
nicht konstruiert, nicht aus seinen verschiedenartigen Elementen allmäh-
lich aufgebaut, sondern als zur Einheit geprägte Form, auf einmal hin-
gegeben werden. Die Sprache stellt zuerst ein verbundenes Ganze hin, das
formal vollständig und genügend ist: sie bezeichnet ausdrücklich das noch
nicht individuell Bestimmte als ein unbestimmtes Etwas durch ein Pro-
nomen, malt aber nachher dies unbestimmt Gebliebene einzeln aus1.
Spätere Untersuchungen amerikanischer Sprachen haben das Gesamt-
bild, das Humboldt hier von dem Einverleibungsverfahren entwirft, in
manchen Zügen modifiziert; sie haben gezeigt, daß dieses Verfahren sich
in den Einzelsprachen, was die Art, den Grad und die Ausdehnung der
l Vgl. Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, iUf).
239
Einverleibung betrifft, sehr verschieden gestalten kann1 — aber die all-
gemeine Charakteristik der eigentümlichen Denkart, die ihm zugrunde
liegt, wird durch solche Feststellungen nicht wesentlich geändert. Man
könnte, mit einem mathematischen Bilde, die Methode, die die Sprache
hier einschlägt, der Aufstellung einer Formel vergleichen, in der die all-
gemeinen Verhältnisse von Größen bezeichnet, die besonderen Größen-
werte aber unbestimmt gelassen werden. Die Formel gibt zunächst ledig-
lich die allgemeine Verknüpfungsweise, die funktionale Beziehung, die
zwischen gewissen Größenarten besteht, in einem einheitlichen zusammen-
fassenden Ausdruck wieder: zu ihrer Anwendung im einzelnen Falle ist
aber erforderlich, daß die in ihr auftretenden unbestimmten Größen
x, y, z durch bestimmte Größen ersetzt werden. So wird auch hier
im verbalen Satzwort die Form der Aussage gleich anfangs vollständig
entworfen und vorweggenommen — und sie erfährt nur dadurch eine ma-
teriale Ergänzung, daß die unbestimmten Pronomina, die in das Satz-
wort eingehen, durch nachträglich hinzugefügte sprachliche Bestim-
mungen in ihrer Bedeutung näher determiniert werden. Das Verbum als
Vorgangsbezeichnung strebt danach, das lebendige Ganze des im Satz aus-
gedrückten Sinnes in sich zu vereinen und zu konzentrieren; aber je
weiter es in dieser Leistung fortschreitet, umsomehr besteht freilich die
Gefahr, daß es von der Fülle des immer neu hinzudrängenden Stoffes,
den es zu meistern hat, selbst überwältigt wird und in diesem Stoff gleich-
sam versinkt. Um den verbalen Kern der Aussage spinnt sich jetzt ein
so dichtes Netz modifizierender Bestimmungen, die die Art und Weise der
Handlung, ihre örtlichen und zeitlichen Neben umstände, ihr näheres oder
entfernteres Objekt angeben, daß es schwer fällt, den Gehalt der Aussage
selbst aus dieser Verschlingung herauszulösen und ihn als selbständigen
Bedeutungsgehalt zu erfassen. Der Ausdruck der Handlung erscheint
hier niemals als generischer, sondern als individuell-determinierter, durch
besondere Partikel gekennzeichneter und mit ihnen untrennbar behafteter
Ausdruck2. Wenn durch die Fülle dieser Partikel die Handlung oder der
1 Vgl. bes. die Untersuchungen von Lucien Adam über den „Polysynthetismus" in der
Nahuatl- und Kechua-, der Quiche- und May a- Sprache (Etudes sur six langues ameri-
caines, Paris 1878). S. ferner Brinton, On polysynthesis and incorporation as cha-
racteristics of American languages. Transact. of the Americ. Philos. Soc. of Philadel-
phia XXIII (i885), sowie Boas' Handbook I, 573, 646 ff. (Chinook), ioo2ff. (Eski-
mo) u. ö.
2 Vgl. hierfür z. B. die charakteristischen Bemerkungen, die K. v. d. Steinen über die
Bakairisprache macht. Unter den Naturvölkern Zentral-Brasil., S. 78 ff ., Bakalri-
Sprache, S. IX f.
2 40
Vorgang einerseits zwar als konkret-anschauliches Ganze erfaßt wird —
so gelangt doch andererseits darin die Einheit des Geschehens und insbe-
sondere die Einheit des Subjekts des Tuns nicht zur scharfen sprach-
lichen Auszeichnung und Abhebung1. Das volle Licht der Sprache trifft
gleichsam nur den Inhalt des Geschehens selbst — nicht das Ich, das an
ihm tälig beteiligt ist. Dies zeigt sich auch darin, daß z. B. in den meisten
Indianersprachen die Flexion des Verbums nicht durch das Subjekt, son-
dern durch das Objekt der Handlung beherrscht wird. Das transitive Ver-
bum wird seinem Numerus nach nicht durch das Subjekt, sondern durch
das direkte Objekt bestimmt: es muß in der Pluralform stehen, wenn
es sich auf eine Mehrheit von Gegenständen, auf die gewirkt wird, be-
zieht. So wird hier das grammatische Objekt des Satzes zu seinem logi-
schen Subjekt, welches das Verbum regiert2. Die Gestaltung des Satzes
und die gesamte Gestaltung der Sprache nimmt vom Verbum ihren Aus-
gang, aber dieses selbst verharrt in der Sphäre der objektiven Anschau-
ung: der Eintritt und der Ablauf des Ereignisses, nicht die Energie des
Subjekts, die sich in der Handlung bekundet, ist das, was die Sprache als
das wesentliche Moment heraushebt und zur Darstellung bringt.
Eine Änderung dieser Grundanschauung stellt sich uns erst in den-
jenigen Sprachen dar, die zu einer rein personalen Gestaltung der ver-
balen Handlung übergegangen sind, bei denen also die Konjugation ihrem
Grundtypus nach nicht in einer Verbindung des Verbalnomens mit pos-
sessiven Suffixen, sondern in einer synthetischen Verknüpfung des ver-
balen Ausdrucks mit dem Ausdruck für die persönlichen Fürwörter
1 Für das Verbum der Klamath-Sprache betont Gatschet (a. a. O., S. 572-f.), daß es den
verbalen Akt oder Zustand immer nur in der impersonalen und indefiniten Form — ver-
gleichbar unserem Infinitiv — zum Ausdruck bringe. In einer Satzfügung wie Du-bre-
chen-Stock bezeichne daher der verbale Ausdruck nur das Brechen schlechthin ohne
Rücksicht auf sein Subjekt. Ebenso besitzen die Maya-Sprachen keine transitiven aktiven
Verben in unserem Sinne: sie kennen nur Nomina und absolute Verba, die einen Zustand
des Seins, eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit bezeichnen, welche als Prädikate zu einem
Personalpronomen oder einer dritten Person als Subjekt konstruiert werden, die aber
kein direktes Objekt zu sich nehmen können. Die Worte, die zur Darstellung einer
transitiven Handlung dienen, sind wurzelhafte oder abgeleitete Nomina, die als solche
mit dem Possessivpräfix verbunden werden. Ein Mayasatz wie „du hast meinen Vater
getötet", „du hast das Buch geschrieben" besagt daher eigentlich: „dein Gelöteter ist
mein Vater, dein Geschriebenes ist das Buch". (Näheres bei Ed. Sei er, Das Konjuga-
tionssystem der Maya-Sprache, Berlin 1887, S. 9, 17 ff.) Auch im Verbalausdruck der
malayischen Sprachen sind solche „impersonale" Wendungen häufig; man sagt hier:
mein Sehen (war) der Stern für: ,ich sah den Stern' u. s. f ., vgl. Humboldt, Kawi-
Werk II, 80, 35of., 397.
2 Vgl. Gatschet, a. a. O., S. 434 u. bes. Ed. Seier, a. a. 0.
»6 24l
besteht. Was diese Synthese von dem Verfahren der sogen, „polysynthe-
tischen" Sprachen unterscheidet, ist dies, daß sie sich auf eine vorange-
gangene Analyse stützt. Die Verknüpfung, die sich hier vollzieht, ist keine
bloße Verschmelzung, kein Ineinanderlaufen der Gegensätze — sondern
sie setzt eben diese Gegensätze selbst und deren scharfe Auseinander-
haltung und Sonderung voraus. Mit der Entwicklung der persönlichen
Fürwörter hat sich das Gebiet des subjektiven Seins von dem des objek-
tiven im sprachlichen Ausdruck klar geschieden — und doch fassen sich
eben die Ausdrücke für das subjektive Sein mit denen für das objektive
Geschehen in der Flexion des Verbums wieder zu einer neuen Einheit zu-
sammen. Wo immer man in dieser Zusammenfassung die wesentliche und
spezifische Natur des Verbums ausgedrückt findet — da muß man daher
folgerecht schließen, daß diese Natur sich erst in der Verknüpfung des
verbalen Elements mit den Ausdrücken für das persönliche Sein vollende.
„Denn das aktuale Sein, welches in der grammatischen Vorstellung das
Verbum charakterisiert," — sagt Humboldt — „läßt sich nicht leicht an
sich ausdrücken, sondern verkündigt sich nur dadurch, daß es ein Sein
auf eine bestimmte Weise in einer bestimmten Zeit und Person ist und
daß der Ausdruck dieser Beschaffenheit unzertrennlich in das Grundwort
verwebt ist, zum sicheren Zeichen, daß dasselbe nur mit ihnen gedacht und
gleichsam in sie versetzt werden soll. Seine (des Verbums) Natur ist gerade
diese Beweglichkeit, liegt in der Unmöglichkeit anders, als in einem einzelnen
Fall fixiert zu werden." Dennoch gehört sowohl die zeitliche wie die per-
sönliche Bestimmung, die temporale wie die personale Fixierung des Ver-
balausdrucks, nicht zu seinem anfänglichen Grundbestand, sondern beide
bezeichnen ein Ziel, das in der sprachlichen Entwicklung erst relativ spät
erreicht wird. Für die Zeitbestimmung hat sich dies bereits ergeben2 —
für die Beziehung auf das Ich kann man sich die allmählichen Übergänge,
die hier stattfinden, verdeutlichen, wenn man die Art betrachtet, in der
einzelne Sprachen die Sphäre des „transitiven" Verbalausdrucks von der
des „intransitiven" Ausdrucks, auch durch rein lautliche Mittel, unter-
scheiden. So wird z. B. in verschiedenen semitischen Sprachen das intran-
sitive oder halbpassive Verbum, welches nicht eine rein tätige Handlung,
sondern einen Zustand und ein Leiden ausdrückt, durch eine andere
Vokalaussprache bezeichnet. Im Äthiopischen ist, nach Dillmann, diese
Unterscheidung der intransitiven Verba durch die Aussprache ganz leben-
dig geblieben: alle Verba, welche Eigenschaften, leibliche oder geistige
1 Humboldt, Kawi-Werk, II, 79L
2 Vgl. ob. S. 171 f.
242
Bestimmtheiten, Leidenschaften oder unfreie Tätigkeiten bezeichnen, wer-
den anders ausgesprochen, als diejenigen, in denen eine reine und selb-
ständige Aktivität des Ich bezeichnet werden soll1. Die lautliche Sym-
bolik dient hier dem Ausdruck jenes grundlegenden geistigen Prozesses,
der in der Sprachbildung immer deutlicher heraustritt — sie zeigt, wie
das Ich sich im Gegenbild der verbalen Handlung erfaßt und wie es in
der immer schärferen Herausarbeitung und Differenzierung derselben
auch sich selbst erst wahrhaft findet und sich in seiner Sonderstellung
begreift.
1 Dillmann, Äthiop. Grammat., S. u6f.
16*
243
KAPITEL IV
DIE SPRACHE ALS AUSDRUCK
DES BEGRIFFLICHEN DENKENS. — DIE FORM
DER SPRACHLICHEN BEGRIFFS- UND KLASSEN-
BILDUNG
I. Die qualifizierende Begriffsbildung
Das Problem der Begriffsbildung bezeichnet den Punkt, an dem Logik
und Sprachphilosophie sich aufs nächste berühren, ja an dem sie zu einer
untrennbaren Einheit zu verschmelzen scheinen. Alle logische Analyse des
Begriffs scheint zuletzt an einen Punkt zu führen, an dem die Betrach-
tung der Begriffe in die der Worte und Namen übergeht. Der konsequente
Nominalismus zieht beide Probleme in ein einziges zusammen: der Ge-
halt des Begriffs geht ihm in dem Gehalt und der Leistung des Wortes
auf. So wird ihm die Wahrheit selbst zu einer nicht sowohl logischen,
als vielmehr sprachlichen Bestimmung: „veritas in diclo, non in re con-
sistit". Sie betrifft eine Übereinstimmung, die nicht in den Dingen selbst,
noch in den Ideen zu finden ist, sondern die sich ausschließlich auf die
Verknüpfung der Zeichen, insbesondere der Lautzeichen, bezieht. Ein
schlechthin „reines", ein sprachloses Denken würde den Gegensatz von
Wahr und Falsch, der erst im Sprechen und durch dasselbe erzeugt wird,
nicht kennen. So führt die Frage nach der Geltung und dem Ursprung
des Begriffs hier notwendig auf die Frage nach dem Ursprung des Wor-
tes zurück: die Erforschung der Genesis der Wortbedeutungen und der
Wortklassen erscheint als das einzige Mittel, um uns den immanenten
Sinn des Begriffs und seine Funktion im Aufbau der Erkenntnis ver-
ständlich zu machen1.
Die schärfere Betrachtung zeigt freilich, daß diese Lösung, die der
Nominalismus für das Problem des Begriffs darbietet, insofern eine
Scheinlösung bleibt, als sie in einen Zirkel ausläuft. Denn wenn die Sprache
i Vgl.ob.S.78ff.
244
hier die letzte, die im gewissen Sinne einzige „Erklärung" der Begriffs-
funktion abgeben soll, so kann sie doch andererseits in ihrem eigenen
Aufbau eben dieser Funktion nirgends entbehren. Und der Zirkel, der
hier im Ganzen begangen wird, kehrt nun auch im Einzelnen wieder.
Die traditionelle logische Lehre läßt den Begriff „durch Abstraktion"
entstehen: sie weist uns an, ihn dadurch zu bilden, daß wir übereinstim-
mende Dinge oder Vorstellungen miteinander vergleichen und die „ge-
meinsamen Merkmale" aus ihnen herauslösen. Daß die von uns ver-
glichenen Inhalte schon bestimmte „Merkmale" haben, daß sie qualitative
Bestimmungen an sich tragen, nach denen wir sie in Ähnlichkeitsklassen
und Ähnlichkeitskreise, in Arten und Gattungen abteilen können, wird
hierbei meist als eine selbstverständliche, keiner besonderen Erwähnung
bedürftige Voraussetzung hingenommen. Und doch liegt gerade in dieser
scheinbaren Selbstverständlichkeit eines der schwierigsten Probleme be-
schlossen, das die Begriffsbildung uns bietet. Hier vor allem erneuert sich
die Frage, ob die „Merkmale", nach denen wir die Dinge in Klassen teilen,
uns schon vor der Sprachbildung gegeben sind oder ob sie uns vielleicht
erst durch dieselbe geliefert werden. „Die Abstraktionstheorie" — so
bemerkt Sigwart mit Recht — „vergißt, daß, um ein vorgestelltes Ob-
jekt in seine einzelnen Merkmale aufzulösen, schon Urteile notwendig sind,
deren Prädikate allgemeine Vorstellungen (nach gewöhnlicher Redeweise
Begriffe) sein müssen; und daß diese Begriffe zuletzt irgendwie anders
als durch solche Abstraktion gewonnen sein müssen, da sie den Prozeß
dieser Abstraktion erst möglich machen. Sie vergißt ferner, daß bei
diesem Prozeß vorausgesetzt wird, daß der Kreis der zu vergleichenden
Objekte irgendwie bestimmt sei, und sie setzt stillschweigend ein Motiv
voraus, gerade diesen Kreis zusammenzufassen und das Gemeinschaftliche
zu suchen. Dieses Moliv kann, wenn nicht absolute Willkür herrschen soll,
zuletzt nur das sein, daß jene Objekte zum Voraus als ähnlich erkannt
werden, weil sie alle einen bestimmten Inhalt gemeinsam haben, d. h.
daß bereits eine allgemeine Vorstellung da ist, mit Hilfe welcher diese
Objekie aus der Gesamtheit aller ausgeschieden werden. Die ganze Lehre
von der Begriffsbildung durch Vergleichung und Abstraktion hat nur
dann einen Sinn, wenn, wie es häufig geschieht, die Aufgabe vorliegt, das
Gemeinschaftliche der tatsächlich durch den allgemeinen Sprach-
gebrauch mit demselben Worte bezeichneten Dinge anzugeben und dar-
aus die faktische Bedeutung des Wortes sich deutlich zu machen. Wenn
verlangt wird, den Begriff des Tieres, des Gases, des Diebstahls usw.
anzugeben, da kann man versucht sein, so zu verfahren, daß man die ge-
245
meinschaftlichen Merkmale aller der Dinge, welche übereinstimmend
Tiere, aller der Körper, welche Gase, aller der Handlungen, welche Dieb-
stahl genannt werden, aufsucht. Ob es gelingt; ob diese Anweisung zur
Begriffsbildung ausführbar ist, das ist eine andere Frage; sie ließe sich
hören, wenn man voraussetzen könnte, daß es nirgends zweifelhaft ist,
was man Tier, Gas, Diebstahl zu nennen habe, — d. h. wenn man den Be-
griff, den man sucht, in Wahrheit schon hat. Einen Begriff so durch
Abstraktion bilden wollen, heißt also die Brille suchen, die man auf der
Na^e trägt, mit Hilfe eben dieser Brille1." In der Tat bringt die Abstrak-
tionstheorie die Frage nach der Begriffsform nur dadurch zur Lö-
sung, daß sie, bewußt oder stillschweigend, auf die Sprachform rekur-
riert, womit indes das Problem nicht sowohl bewältigt, als vielmehr nur
in ein anderes Gebiet zurückgeschoben ist. Der Prozeß der Abstraktion
kann sich nur an solchen Inhalten vollziehen, die in sich schon irgend-
wie bestimmt und bezeichnet, die sprachlich und gedanklich gegliedert
sind. Wie aber — so muß jetzt gefragt werden — kommt es zu dieser
Gliederung selbst? Welches sind die Bedingungen jener primären For-
mung, die sich in der Sprache vollzieht und die für alle weiteren und
komplexeren Synthesen des logischen Denkens die Grundlage bildet? Auf
welchem Wege gelingt es der Sprache, dem Heraklitischen Fluß des Wer-
dens, in dem kein Inhalt wahrhaft gleichartig wiederkehrt, zu entrinnen
— sich ihm gleichsam gegenüberzustellen und aus ihm feste Bestimmt-
heilen herauszulösen? Hier liegt das eigentliche Geheimnis der „Prädi-
kation" als eines zugleich logischen und sprachlichen Problems. Nicht
dies ist der Anfang des Denkens und Sprechens, daß irgendwelche in der
Empfindung oder Anschauung gegebene Unterschiede einfach erfaßt und
benannt, sondern daß bestimmte Grenzlinien selbständig gezogen, be-
stimmte Trennungen und Verknüpfungen vorgenommen werden, kraft
deren sich nun aus der fließend immer gleichen Reihe des Bewußtseins
klar geschiedene Einzelgestalten herausheben. Die Logik pflegt die eigent-
liche Geburtsslätte des Begriffs erst dort zu finden, wo durch bestimmte
intellektuelle Operationen, insbesondere durch das Verfahren der „Defini-
tion" nach genus proximum und differentia specifica, eine scharfe Ab-
grenzung des Bedeutungsgehalts des Wortes und eine eindeutige Fixie-
rung desselben erreicht wird. Aber um zum letzten Ursprung des Be-
griffs zu gelangen, muß das Denken in eine noch tiefere Schicht zurück-
dringen, muß es die Motive der Verknüpfung und Trennung aufsuchen,
die sich im Prozeß der Wortbildung selbst wirksam erweisen, und die
1 Sigwart, Logik2, I, 32off.
2/16
für die Unterordnung des gesamten Vorstellungsmaterials unter be-
stimmte sprachliche Klassenbegriffe entscheidend sind.
Denn die primäre Aufgabe der Begriffsbildung ist es nicht, wie die
Logik unter dem Zwange einer jahrhundertealten Tradition zumeist an-
genommen hat, die Vorstellung zu immer größerer Allgemeinheit,
sondern sie zu wachsender Bestimmtheit zu erheben. Sofern vom Begriff
„Allgemeinheit" verlangt wird, so ist sie doch nicht Selbstzweck, sondern
sie dient nur als Vehikel, um zum eigentlichen Ziel des Begriffs, zum
Ziel der Bestimmtheit zu gelangen. Bevor irgendwelche Inhalte mitein-
ander verglichen und gemäß dem Grad ihrer Ähnlichkeit in Klassen ge-
ordnet werden können, deren eine die andere umfaßt, müssen sie selbst
als Inhalte bestimmt sein. Hierzu aber wird ein logischer Akt der Set-
zung und Unterscheidung gefordert, durch den in dem stetigen Fluß
des Bewußtseins erst irgendwelche Einschnitte entstehen, durch den das
rastlose Kommen und Gehen der Sinneseindrücke gleichsam angehalten
wird und gewisse Ruhepunkte gewinnt. Nicht die Vergleichung der Vor-
stellungen und ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen, son-
dern die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen ist daher die ursprüng-
liche und die entscheidende Leistung des Begriffs. Unter den modernen
Logikern ist es vor allem Lotze, der dies Verhältnis am schärfsten er-
faßt hat, wenngleich er sich in der Deutung und Darstellung, die er ihm
gegeben hat, von den Fesseln, die ihm die logische Tradition auferlegte,
nicht völlig zu befreien vermochte. Seine Lehre vom Begriff geht davon
aus, daß die ursprünglichste Denkhandlung nicht in der Verknüpfung
zweier gegebener Vorstellungen bestehen könne, sondern daß die logische
Theorie hier noch einen Schritt weiter zurückzugehen habe. Damit Vor-
stellungen in der Form eines Gedankens verbindbar werden, bedürfen
sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche sie überhaupt erst
zu logischen Bausteinen werden. Über diese erste Leistung des Denkens
pflege man nur deshalb hinwegzusehen, weil sie in der Bildung der uns
überkommenen Sprache beständig schon vollzogen sei und weil sie dem-
nach zu den selbstverständlichen Voraussetzungen, nicht mehr zu der eige-
nen Arbeit des Denkens zu gehören scheine. In Wahrheit aber enthalt©
gerade die Schöpfung der Sprachworte, wenn man von bloßen formlosen
Interjektionen und Erregungslauten absehe, die Grundform des Denkens,
die Form der Objektivierung in sich. Diese kann hier noch nicht darauf
gerichtet sein, Verknüpfungen des Mannigfaltigen herzustellen, die einer
allgemeingültigen Regel unterstehen; sondern sie löst vor allem die Vor-
aufgabe, jedem einzelnen Eindruck die Bedeutung eines an sich Gültigen
247
zu geben. Von der Heraussetzung des Inhalts in eine von der Erkenntnis
ganz unabhängige Wirklichkeit weiß also diese Art der Objektivierung
noch nichts — sondern ihr handelt es sich nur darum, den Inhalt, an
dem sie sich vollzieht, für die Erkenntnis zu fixieren und ihn im Wech-
sel und Wandel der Eindrücke für das Bewußtsein als ein sich selbst
Gleiches und Wiederkehrendes zu kennzeichnen. „Durch die logische Ob-
jektivierung, die sich in der Schöpfung des Namens verrät, wird daher
der benannte Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeit hinausgerückt; die
gemeinsame Welt, in welcher andere ihn, auf den wir hinweisen, wieder-
finden sollen, ist im allgemeinen nur die Welt des Denkbaren; ihr wird
hier die erste Spur eines eigenen Bestehens und einer inneren Gesetzlich-
keit zugeschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbe und von ihnen
unabhängig ist."
Und jetzt knüpfen sich an diese erste Fixierung irgendwelcher, durch
das Denken und die Sprache erfaßbarer Qualitäten weitere Bestimmungen
an, in denen sie miteinander zu gewissen Verhältnissen zusammentreten,
in denen sie sich zu Ordnungen und Reihen zusammenfügen. Die ein-
zelne Qualität besitzt nicht nur an sich selbst ein identisches,, Was", einen
eigentümlichen Bestand, sondern sie ist kraft desselben auf andere be-
zogen — und auch diese Beziehung ist nicht willkürlich, sondern weist
eine eigentümliche objektive Form auf. Aber auch diese letztere können
wir, obwohl wir sie als solche erkennen und anerkennen, dennoch den
Einzelinhalten nicht als ein Selbständiges und Ablösbares gegenüberstel-
len, sondern sie nur an ihnen und in ihnen aufweisen. Fassen wir mehrere
Inhalte, nachdem wir sie als solche fixiert und benannt haben, zur Form
einer Reihe zusammen, so scheint damit zugleich ein Gemeinsames ge-
setzt, das sich in den Einzelgliedern der Reihe spezifiziert, das sich in ihnen
allen, jedoch in jedem von ihnen mit einem eigentümlichen Unterschied
behaftet, darstellt. Dieses erste Allgemeine ist jedoch, wie Lotze betont,
von wesentlich anderer Art, als es die gewöhnlichen Gattungsbegriffe der
Logik sind. „Den Allgemeinbegriff eines Tieres oder einer geometrischen
Figur teilen wir einem anderen dadurch mit, daß wir ihm vorschreiben,
eine genau angebbare Reihe von Denkhandlungen der Verknüpfung,
Trennung oder Beziehung an einer Anzahl als bekannt vorausgesetzter
Einzelvorstellungen auszuführen; am Ende dieser logischen Arbeit werde
vor seinem Bewußtsein derselbe Inhalt stehen, den wir ihm mitzuteilen
wünschten. Worin dagegen das allgemeine Blau bestehe, das wir im Hell-
blau und Dunkelblau, oder worin die allgemeine Farbe, die wir in Rot
und Gelb mitdachten, läßt sich nicht auf demselben Wege verdeutlichen . . .
2 48
Das, worin Rot oder Gelb übereinstimmen, und wodurch sie beide Farben
sind, läßt sich von dem nicht abtrennen, wodurch Rot rot und Gelb gelb
ist; nicht so abtrennen nämlich, daß dies Gemeinsame den Inhalt einer
dritten Vorstellung bildete, welche von gleicher Art und Ordnung mit
den beiden verglichenen wäre. Empfunden wird, wie wir wissen, stets
nur eine bestimmte Einzelschattierung einer Farbe, nur ein Ton von be-
stimmter Höhe, Stärke und Eigenart . . .Wer das Allgemeine der Farbe oder
des Tones zu fassen sucht, wird sich stets dabei antreffen, daß er entweder
eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Ton wirklich vor seiner An-
schauung hat, nur begleitet von dem Nebengedanken, jeder andere Ton
und jede andere Farbe habe das gleiche Recht, als anschauliches Beispiel
des selbst unanschaulich bleibenden Allgemeinen zu dienen ; oder seine Er-
innerung wird viele Farben und Töne nacheinander ihm mit demselben
Nebengedanken vorführen, daß nicht diese einzelnen selbst gemeint sind,
sondern das ihnen Gemeinsame, das in keiner Anschauung für sich zu
fassen ist . . . Worte, wie Farbe und Ton sind in Wahrheit nur kurze Be-
zeichnungen logischer Aufgaben, die sich in der Form einer geschlossenen
Vorstellung nicht lösen lassen. Wir befehlen durch sie unserem Bewußt-
sein, die einzelnen vorstellbaren Töne und Farben vorzustellen und zu ver-
gleichen, in dieser Vergleichung aber das Gemeinsame zu ergreifen, das
nach dem Zeugnis unserer Empfindung in ihnen enthalten ist, das jedoch
durch keine Anstrengung des Denkens von dem, wodurch sie verschieden
sind, sich wirklich ablösen und zu dem Inhalt einer gleich anschaulichen
neuen Vorstellung gestalten läßt1."
Wir haben diese Lehre Lotzes vom „ersten Allgemeinen" hier ausführ-
lich wiedergegeben, weil sie, richtig verstanden und interpretiert, zum
Schlüssel für das Verständnis der ursprünglichen Form der Begriffsbil-
dung werden kann, die in der Sprache waltet. Die logische Tradition be-
findet sich diesem Problem gegenüber, wie gerade die Darlegungen Lotzes
deutlich zeigen, in einem eigentümlichen Dilemma. Daß das Streben des
Begriffs schlechthin auf Allgemeinheit gerichtet sein und daß seine Lei-
stung zuletzt in der Gewinnung von Allgemeinvorstellungen bestehen
müsse, steht ihr fest; aber es erweist sich nun, daß dies an sich überall
gleichartige Streben nicht auch überall in der gleichen Weise erfüllbar
ist. Eine doppelte Form des Allgemeinen muß demnach unterschieden
werden: die eine, in der es gleichsam nur implizit, in der Form einer
Beziehung, die die Einzelinhalte aufweisen, gegeben ist; die andere, in
der es auch explizit, in der Art einer selbständigen anschaulichen Vor-
i Lotze, Logik2, Lpz. 1880, S. i4ff.; 2gff.
2^9
Stellung heraustritt. Aber von hier aus bedarf es nun nur noch eines
weiteren Schrittes, um das Verhältnis umzukehren: um den Bestand der
Beziehung als den eigentlichen Inhalt und das eigentliche logische Fun-
dament des Begriffs, die , »Allgemeinvorstellung' ' dagegen nur als ein
keineswegs immer erforderliches und erreichbares psychologisches Acci-
dens desselben anzusehen. Lotze hat diesen Schritt nicht getan; statt die
Forderung der Bestimmung, die der Begriff stellt, scharf und prinzipiell
von der Forderung der Allgemeinheit abzutrennen, werden ihm die pri-
mären Bestimmtheiten, zu denen der Begriff hinführt, selbst wieder zu
primären Allgemeinheiten, so daß es nun für ihn, statt zwei charakteri-
stische Leistungen des Begriffs, vielmehr zwei Formen des Allgemeinen:
ein „erstes'* und ein „zweites" Allgemeine gibt. Aber aus seiner eigenen
Darstellung geht hervor, daß diese beiden Arten kaum mehr als den
Namen miteinander gemein haben, dagegen in ihrer eigentümlichen
logischen Struktur aufs schärfste geschieden sind. Denn das Verhältnis
der Subsumtion, das die traditionelle Logik als die konstitutive Beziehung
ansieht, durch die das Allgemeine mit dem Besonderen, die Gattung mit
den Arten und Individuen zusammenhängt, ist auf die Begriffe, die Lotze
als das „erste Allgemeine" bezeichnet, nicht anwendbar. Das Blau und das
Gelb stehen nicht als Besonderungen unter der Gattung der „Farbe über-
haupt", sondern „die" Farbe ist nirgends anders als in ihnen, sowie in
der Gesamtheit der sonstigen möglichen Farbennuancen, enthalten und
nur als eben diese reihenmäßig geordnete Gesamtheit selbst denkbar.
Damit aber sind wir, von Seiten der allgemeinen Logik selbst, auf eine
Unterscheidung hingewiesen, die auch durch die Bildung der sprachlichen
Begriffe überall hindurchgeht. Bevor die Sprache zur generalisierenden
und subsumierenden Form des Begriffs übergehen kann, bedarf sie einer
anderen rein qualifizierenden Art der Begriffsbildung. In ihr erfolgt
die Benennung nicht von der Gattung aus, der irgendein Ding angehört,
sondern sie knüpft an irgendeine einzelne Beschaffenheit an, die an
einem anschaulichen Gesamtinhalt erfaßt wird. Die Arbeit des Geistes
besteht nicht darin, daß der Inhalt unter einen anderen gestellt wird,
sondern daß er als ein konkretes, aber undifferenziertes Ganze insofern
eine weitere Besonderung erfährt, als an ihm ein bestimmtes charakte-
ristisches Moment herausgehoben und in den Blickpunkt der Betrachtung
gerückt wird. Auf dieser Konzentration des geistigen Blicks beruht die
Möglichkeit der „Benennung": die neue gedankliche Prägung, die der In-
halt erfährt, ist die notwendige Bedingung für seine sprachliche Be-
zeichnung.
2ÖO
Die Sprachphilosophie hat für die Gesamtheit dieser Fragen einen
charakteristischen Begriff geschaffen, der freilich in seinem Gebrauch
so vieldeutig und zwiespältig ist, daß er, statt eine bestimmte Lösung
darzubieten, vielmehr zu ihren schwierigsten und meistumstrittenen Pro-
blemen zu gehören scheint. Man pflegt seit Humboldt, um das spezifische
Gesetz zu bezeichnen, durch das sich jede Sprache in ihrer Begriffsbildung
von anderen unterscheidet, von der „inneren Form" der einzelnen Sprachen
zu reden. Humboldt versteht unter diesem Begriff das Beständige und
Gleichförmige in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ge-
dankenausdruck zu erheben, — sofern es so vollständig als möglich in
seinem Zusammenhange aufgefaßt und systematisch dargestellt wird.
Aber schon bei ihm selbst ist diese Bestimmung nicht eindeutig: denn bald
soll sich die Form in den Gesetzen der sprachlichen Verknüpfung, bald
soll sie sich in der Bildung der Grundwörter selbst darstellen und aus-
drücken. Sie wird demnach, wie man gelegentlich mit Recht gegen Hum-
boldt eingewandt hat, bald im morphologischen, bald im semasiologischen
Sinne genommen; sie betrifft auf der einen Seite das Verhältnis, in dem
bestimmte grammatische Grundkategorien, wie z. B. die Kategorien des
Nomens und des Verbums, in der Bildung der Sprache zueinander stehen,
auf der anderen Seite geht sie auf den Ursprung der Wortbedeutungen selbst
zurück1. Überblickt man freilich das Ganze von Humboldts Begriffs-
bestimmungen, so tritt unverkennbar hervor, daß der letztere Gesichts-
punkt der überwiegende und entscheidende für ihn ist. Daß jede beson-
dere Sprache eine besondere innere Form hat, bedeutet ihm vor allem,
daß sie in der Wahl ihrer Bezeichnungen niemals einfach die an sich wahr-
genommenen Gegenstände ausdrückt, sondern daß diese Wahl vornehm-
lich durch die geistige Gesamthaltung, durch die Richtung der subjektiven
Auffassung der Gegenstände bestimmt wird. Denn das Wort ist nicht ein
Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele
erzeugten Bildes2. In diesem Sinne können die Wörter verschiedener
Sprachen niemals Synonyma sein, kann ihr Sinn, genau und streng ge-
nommen, niemals durch eine einfache Definition, die schlechthin die ob-
jektiven Kennzeichen des durch sie bezeichneten Gegenstandes aufzählt,
mit umschlossen werden. Es ist immer eine eigene Weise der Sinnge-
bung selbst, die sich in den Synthesen und Zuordnungen ausdrückt, auf
1 Humboldt, Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, ^7 ff-), vgl- hrz. die Bemerkungen
von B. Delbrück, Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen, Straßb.
i8a3ff.,1, 1x2.
2 Vgl. Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, i, 5gf., 891"., igof. u. ö.) ob. S, ioiff,
2ÖI
denen die Bildung der sprachlichen Begriffe beruht. Wenn der Mond im
Griechischen a!s der „Messende" (jurjv), im Lateinischen als der „Leuch-
tende" (luna, luc-na) bezeichnet wird, so ist hier ein und dieselbe sinn-
liche Anschauung unter ganz verschiedene Bedeutungsbegriffe gerückt
und durch sie bestimmt. Die Art, in der diese Bestimmung in den ein-
zelnen Sprachen erfolgt, scheint freilich, eben weil es sich hier um einen
höchst komplexen, von Fall zu Fall wechselnden geistigen Prozeß han-
delt, keiner allgemeinen Darstellung mehr fähig zu sein. Hier scheint
nur übrig zu bleiben, sich mitten in die unmittelbare Anschauung
der Einzelsprachen selbst zu versetzen, und das Verfahren, dem sie folgen,
statt es in einer abstrakten Formel zu beschreiben, unmittelbar an und in
den besonderen Phänomenen nachzufühlen1. Aber wenn die philosophi-
sche Analyse niemals den Anspruch erheben darf, die besondere Subjek-
tivität, die sich in den Sprachen ausdrückt, zu erfassen, so bleibt doch
gleichsam die allgemeine Subjektivität der Sprache für sie ein Problem.
Denn wie die Sprachen sich untereinander durch je einen besonderen
„Standpunkt der Weltansicht" unterscheiden, so gibt es andererseits eine
Weltansicht der Sprache selbst, kraft deren sie sich aus dem Ganzen der
geistigen Formen heraushebt und in der sie sich mit der Weltansicht der
wissenschaftlichen Erkenntnis, der Kunst, des Mythos teils berührt, teils
sich gegen sie abgrenzt.
Von der im engeren Sinne logischen Form der Begriffsbildung unter-
scheidet sich die sprachliche Begriffsbildung vor allem dadurch, daß in
ihr niemals ausschließlich die ruhende Betrachtung und Vergleichung
der Inhalte entscheidend ist, sondern daß die bloße Form der „Reflexion"
hier überall mit bestimmten dynamischen Motiven durchsetzt ist, —
daß sie ihre wesentlichen Antriebe niemals allein aus der Welt des Seins,
sondern immer zugleich aus der des Tuns empfängt. Die Sprachbegriffe
stehen noch überall auf der Grenze zwischen Aktion und Reflexion, zwi-
schen Tun und Betrachten. Hier gibt es kein bloßes Klassifizieren und
Ordnen der Anschauungen nach bestimmten gegenständlichen Kenn-
zeichen, sondern hier äußert sich, eben in dieser gegenständlichen Er-
fassung selbst, immer zugleich ein tätiges Interesse an der Welt und ihrer
Gestaltung. Herder hat gesagt, daß dem Menschen die Sprache ur-
sprünglich dasselbe gewesen sei, was ihm die Natur war: ein Pantheon,
1 Ein höchst interessanter und lehrreicher Versuch, diese Aufgabe zur Durchführung
zu bringen, ist auf Grund eines außerordentlich reichen empirischen Materials von
Byrne unternommen worden, s. General Principles of the structure of language, 2 vol.,
London i885.
2Ö2
ein Reich belebter handelnder Wesen. Die Spiegelung nicht einer objek-
tiven Umwelt, sondern die des eigenen Lebens und des eigenen Tuns ist
es in der Tat, wodurch das Weltbild der Sprache, wie das primitive
mythische Bild der Natur, in seinen eigentlichen Grund- und Wesens-
zügen bestimmt wird. Indem der Wille und das Tun des Menschen sich
auf einen Punkt richten, indem das Bewußtsein sich auf ihn spannt und
konzentriert, wird er damit für den Prozeß der Bezeichnung gleichsam
erst reif. Im Strom des Bewußtseins, der sonst gleichförmig abzulaufen
schien, entstehen nunmehr Wellenberge und Wellentäler: es bilden sich
einzelne dynamisch-betonte Inhalte, um die sich die übrigen gruppieren.
Und damit ist erst der Boden für jene Zuordnungen bereitet, auf denen
die Gewinnung irgendwelcher sprachlich-logischer „Merkmale" und auf
denen die Zusammenfassung zu bestimmten Merkmalsgruppen beruht,
ist erst die Grundlage gegeben, auf welcher die qualifizierende sprach-
liche Begriffsbildung sich aufbauen kann.
Schon in dem Übergang von den bloßen sinnlichen Erregungslauten
zum Ruf bekundet sich diese allgemeine Richtung der Sprachbildung.
Der Ruf kann, z. B. als Angst- oder Schmerzruf, noch ganz dem Kreise
der bloßen Interjektion angehören; aber er bedeutet bereits mehr als dies,
sobald sich in ihm nicht nur ein eben empfangener sinnlicher Eindruck im
unmittelbaren Reflex nach außen wendet, sondern sobald er der Aus-
druck einer bestimmten und bewußten Zielrichtung des Willens ist. Denn
das Bewußtsein steht alsdann nicht mehr im Zeichen der bloßen Repro-
duktion, sondern im Zeichen der Antizipation: es verharrt nicht im Ge-
gebenen und Gegenwärtigen, sondern greift auf die Vorstellung eines
Künftigen über. Demgemäß begleitet jetzt der Laut nicht nur einen
vorhandenen inneren Gefühls- und Erregungszustand, sondern er wirkt
selbst als ein Motiv, das in das Geschehen eingreift. Die Veränderungen
dieses Geschehens werden nicht lediglich bezeichnet, sondern im eigent-
lichen Sinne „hervorgerufen". Indem der Laut in dieser Weise als Or-
gan des Willens wirkt, ist er aus dem Stadium der bloßen „Nach-
ahmung" ein für allemal herausgetreten. In der Entwicklung des Kindes
läßt sich schon in der Epoche, die der eigentlichen Sprachbildung voran-
geht, beobachten, wie der Charakter des kindlichen Schreies allmählich
mehr und mehr in den des Rufes übergeht. Indem der Schrei sich in sich
selbst differenziert, indem besondere, wenngleich noch unartikulierte laut-
liche Äußerungen für verschiedene Äff ekteund für verschiedene Richtungen
des Verlangens eintreten, wird dadurch der Laut auf bestimmte Inhalte,
im Unterschied von anderen, gleichsam hingelenkt und damit die erste
2 53
Form seiner „Objektivierung" vorbereitet. Auf wesentlich dem gleichen
Wege wäre auch die Menschheit als Ganzes in ihrer Entwicklung zur
Sprache fortgeschritten, wenn die von Lazarus Geiger aufgestellte und
von Ludwig Noire weitergeführte Theorie zuträfe, daß alle ursprüng-
lichen Sprachlaute nicht von der objektiven Anschauung des Seins, son-
dern von der subjektiven des Tuns ihren Ausgang genommen haben.
Der Sprachlaut wurde, gemäß dieser Theorie, zur Darstellung der Ding-
welt erst in dem Maße fähig und tauglich, als diese selbst sich allmählich
aus der Sphäre des Wirkens und Schaffens herausgestaltete. Für Noire
ist es insbesondere die soziale Form des Wirkens, die die soziale Funk-
tion der Sprache als Verständigungsmittel erst ermöglicht hat. Wäre der
Sprachlaut nichts anderes als der Ausdruck einer individuellen, im ein-
zelnen Bewußtsein erzeugten Vorstellung, so bliebe er innerhalb der Gren-
zen dieses Bewußtseins auch gleichsam gefangen und besäße keine über
sie hinausreichende Kraft. Von der Vorstellungs- und Lautwelt des einen
Subjekts zu der des anderen ließe sich dann niemals eine Brücke schla-
gen. Aber indem der Laut nicht im isolierten, sondern im gemeinschaft-
lichen Tun der Menschen entsteht, besitzt er damit von Anfang an einen
wahrhaft gemeinschaftlichen, einen „allgemeinen" Sinn. Die Sprache als
sensorium commune konnte nur aus der Sympathie der Tätigkeit her-
vorgehen. „Es war die auf einen gemeinsamen Zweck gerichtete gemein-
same Tätigkeit, es war die urälteste Arbeit unserer Stammeltern, aus
welcher Sprache und Vernunftleben hervorquoll . . . Der Sprachlaut ist
in seiner Entstehung der die gemeinsame Tätigkeit begleitende Ausdruck
des erhöhten Gemeingefühls . . . Für alles übrige, für Sonne, Mond,
Baum und Tier, Mensch und Kind, Schmerz und Lust, Speise und Trank,
fehlte absolut jede Möglichkeit gemeinsamer Auffassung, also auch ge-
meinsamer Bezeichnung; nur jenes Eine, die gemeinsame, nicht aber die
individuelle Tätigkeit war der feste unwandelbare Boden, aus welchem
das Gemeinverständnis hervorgehen konnte . . . Alle Dinge treten in den
menschlichen Gesichtskreis, d. h. sie werden erst zu Dingen, in dem Maße,
als sie menschliche Tätigkeit erleiden und darnach erhalten sie ihre Be-
zeichnungen, ihre Namen1."
Der empirische Beweis, auf den Noire diese seine spekulative These
zu stützen versuchte, darf freilich als endgültig gescheitert gelten: was
1 Vgl. Lazarus Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und
Vernunft, 2 Bände, Frkf. a. M. i868ff.; Ludwig Noir6, Der Ursprung der Sprache,
Mainz 1877 (bes. S. 323ff.); Logos — Ursprung und Wesen der Begriffe, Lpz. i885,
bes. S. 20,6ff.
254
er über die anfängliche Form der Sprachwurzeln und der menschlichen
Urworte vorbringt, bleibt ebenso hypothetisch und zweifelhaft, wie es
die gesamte Annahme einer ursprünglichen „Wurzelperiode" der Sprache
ist. Aber auch wenn man nicht die Hoffnung hegt, von diesem Punkte
aus in das letzte metaphysische Geheimnis des Sprachursprungs hinein-
blicken zu können, so zeigt doch schon die Betrachtung der empiri-
schen Form der Sprachen, wie tief sie im Gebiet des Wirkens und Tuns,
als ihrem eigentlichen Nähr- und Mutterboden, verwurzelt sind. Insbeson-
dere in den Sprachen von Naturvölkern tritt dieser Zusammenhang überall
deutlich hervor1 — und die Kultursprachen zeigen ihn um so klarer, je
mehr man, über den Kreis ihrer allgemeinen Begriffsworte hinaus, auf
die Entwicklung hinblickt, die sie als besondere „Berufssprachen" in ver-
schiedenen Gebieten menschlicher Tätigkeit erfahren. Usener hat dar-
auf hingewiesen, daß sich in der eigentümlichen Struktur dieser Be-
rufssprachen ein gemeinsames Moment ausprägt, das ebensowohl für die
Richtung der sprachlichen, wie für die Richtung der mythisch-religiösen
Begriffsbildung kennzeichnend sei. Der Kreis der mythischen „Sonder-
götter", wie der Kreis der individuellen und partikularen „Sondernamen"
werde erst allmählich überschritten, indem der Mensch von besonderen
Täligkeiten zu allgemeineren fortschreite und zugleich mit dieser wach-
senden Allgemeinheit seines Tuns auch ein immer allgemeineres Bewußt-
sein desselben gewinne: — aus der Erweiterung des Tuns stamme erst
die Erhebung zu wahrhaft universellen sprachlichen und religiösen Be-
griffen2.
Der Inhalt dieser Begriffe und das Prinzip, das ihren Aufbau be-
stimmt, wird daher erst ganz durchsichtig, wenn man neben und hinter
ihrem abstrakt logischen Sinn ihren teleologischen Sinn erfaßt. Die
Wörter der Sprache sind nicht sowohl die Wiedergabe feststehender Be-
stimmtheiten der Natur und der Vorstellungswelt, als sie vielmehr Rich-
tungen und Richtlinien des Bestimmens selbst bezeichnen. Hier steht das
Bewußtsein der Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke nicht passiv gegen-
über, sondern es durchdringt sie und erfüllt sie mit seinem eigenen
inneren Leben. Nur was die innere Aktivität in irgendeiner Weise be-
rührt, was für sie „bedeutsam" erscheint, empfängt auch sprachlich den
Stempel der Bedeutung. Wenn man daher von den Begriffen überhaupt
gesagt hat, daß das Prinzip ihrer Bildung statt als ein Prinzip der „Ab-
1 Vgl. hrz. bes. einen Aufsatz Meinhofs, Über die Einwirkung der Beschäftigung auf
die Sprache bei den Bantustämmen Afrikas (Globus, Bd. 75 [1899], S. 36iff.).
2 Usener, Götternamen, Bonn 1896, bes. S. 3 17 ff.
255
straktion" vielmehr als ein Prinzip der Selektion zu bezeichnen sei, —
so gilt dies vor allem für die Form der sprachlichen Begriffsbildung. Hier
werden nicht irgendwelche vorhandene, in der Empfindung oder Vorstel-
lung gegebene Unterschiede des Bewußtseins einfach fixiert und mit einem
bestimmten Lautzeichen, gleichsam als Marke, versehen, sondern es werden
die Grenzlinien innerhalb des Ganzen des Bewußtseins erst selbst gezogen.
Kraft der Determination, die das Tun in sich selbst erfährt,entstehen dieDe-
terminanlen und die Dominanten des sprachlichen Ausdrucks. Das Licht
dringt nicht einfach von den Gegenständen her in die Sphäre des Geistes ein,
sondern es breitet sich, vom Zentrum des Tuns selbst, fortschreitend aus1,
und macht dadurch erst die Welt der unmittelbar-sinnlichen Empfindung
zur von innen her erhellten, zur anschaulich und sprachlich gestalteten
Welt. In diesem Prozeß erweist sich die Sprachbildung dem mythischen Den-
ken und Vorstellen verwandt und bewahrt doch andererseits ihnen gegen-
über eine selbständige Richtung, eine ihr eigentümliche geistige Tendenz.
Wie der Mythos, so geht auch die Sprache von der Grunderfahrung und
der Grundform des persönlichen Wirkens aus; aber sie schlingt nun die
Welt nicht, wie dieser, wieder unendlich vielfältig in diesen einen
Mittelpunkt zurück, sondern gibt ihr eine neue Form, in welcher sie der
bloßen Subjektivität des Empfindens und Fühlens gegenübertritt. So
gehen in ihr der Prozeß der Belebung und der Prozeß der Bestimmung
stetig ineinander über und wachsen zu einer geistigen Einheit zusammen2.
1 Als ein Beispiel für diesen Prozeß nehme man etwa, was Brugsch, Religion und My-
thologie der alten Ägypter, S. 53, aus dem Allägypt. anführt: „Im Altägypt. bezeichnet
das Wort kod der Reihe nach die verschiedenartigsten Begriffe: Töpfe machen, ein
Töpfer sein, bilden, schaffen, bauen, arbeiten, zeichnen, schiffen, reisen, schlafen, außer-
dem substantivisch: Ebenbild, Bild, Gleichnis, Ähnlichkeit, Kreis, Ring. Allen diesen
und ähnlichen Ableitungen liegt die Urvorstellung: „umdrehen, im Kreise herumdrehen"
zugrunde. Das Herumdrehen der Töpferscheibe rief die Vorstellung der bildnerischen
Tätigkeit des Töpfers hervor, woraus allgemein der Sinn von „bilden, schaffen, bauen,
arbeilen" entstand."
2 Am deutlichsten läßt sich dieser doppelte Weg vielleicht an der Gestaltung verfolgen,
die der sprachliche Ausdruck der Tätigkeit selbst, die das Verb um in den flektierenden
Sprachen erhält. Hier vereinen und durchdringen sich zwei scheinbar ganz verschiedene
Funktionen, indem sich im Verbum auf der einen Seite die Kraft der Objektivierung,
auf der anderen Seite die Kraft der Personifizierung am klarsten ausprägt. Auf das
erslere Moment weist schon Humboldt hin, der im Verbum den unmittelbaren sprach-
lichen Ausdruck für den geistigen „Akt des synthetischen Setzens" sieht. „Durch einen
und denselben synthetischen Akt knüpft es durch das Sein das Prädikat mit dem Sub-
jekt zusammen, allein so, daß das Sein, welches mit einem energischen Prädikate in ein
Handeln übergeht, dem Subjekte selbst beigelegt, also das bloß als verknüpfbar Ge-
dachte zum Vorhandenen oder Vorgange in der Wirklichkeit wird. Man denkt nicht bloß
a56
In dieser Doppelrichtung vom Inneren zum Äußeren hin und von diesem
wieder zu jenem zurück, in diesem Fluten und Rückfluten des Geistes
stellt sich für ihn erst die Gestalt sowie die Begrenzung der inneren und
äußeren Wirklichkeit her.
Mit alledem ist freilich zunächst nur ein abstraktes Schema der sprach-
lichen Begriffsbildung aufgestellt, ist gleichsam nur der Rahmen für sie
bezeichnet, ohne daß bisher die Einzelzüge des Bildes selbst herausge-
treten sind. Um zu einer genaueren Erfassung dieser Einzelzüge vorzu-
dringen, muß man die Art verfolgen, in der die Sprache allmählich von
einer rein „qualifizierenden" Auffassung zur „generalisierenden", in der
sie vom Sinnlich-Konkreten zum Generisch-Allgemeinen fortschreitet.
Vergleicht man die sprachliche Gestaltung der Begriffe in unseren ent-
wickelten Kultursprachen mit derjenigen in den Sprachen der Natur-
völker, so tritt der Gegensatz der Grundanschauung alsbald klar hervor.
Die letzteren sind überall dadurch ausgezeichnet, daß sie jedes Ding,
jeden Vorgang, jede Tätigkeit, die sie bezeichnen, in höchster anschau-
licher Bestimmtheit hinstellen, daß sie alle differenzierenden Eigenschaf-
ten des Dinges, alle konkreten Besonderungen des Vorganges, alle Modifi-
kationen und Nuancierungen des Tuns aufs deutlichste zum Ausdruck zu
bringen streben. In dieser Hinsicht besitzen sie eine Ausdrucksfülle, die
von unseren Kultursprachen niemals auch nur annähernd erreicht wird.
Insbesondere sind es die räumlichen Bestimmungen und Verhältnisse,
die hier, wie sich bereits gezeigt hat, ihre sorgsamste Ausprägung fhv
den1. Aber neben die räumliche Besonderung der Verbalausdrücke tritt
weiterhin ihre Besonderung nach den verschiedenartigsten anderen Ge-
sichtspunkten. Jeder modifizierende Umstand einer Handlung, mag er
ihr Subjekt oder ihr Objekt, mag er ihr Ziel oder das Werkzeug, mit
dem sie ausgeführt wird, betreffen, wirkt unmittelbar auf die Wahl des
Ausdrucks ein. In einigen nordamerikanischen Sprachen wird die Tätig-
keit des Waschens durch dreizehn verschiedene Verba bezeichnet, je nach-
dem es sich um das Waschen der Hände oder des Gesichts, um das Wa-
den einschlagenden Blitz, sondern der Blitz ist es selbst, der herniederfährt . . ,. Der
Gedanke, wenn man sich so sinnlich ausdrücken könnte, verläßt durch das Verbum
seine innere Wohnstätte und tritt in die Wirklichkeit über." (Einleit. zum Kawi-Werk,
W. VII, i, 21^.) Auf der anderen Seite betont z. B. Hermann Paul, daß schon die
sprachliche Form des Verbums als solche ein Moment der Naturbelebung in sich schließe,
das der mythischen „Beseelung" des Universums verwandt sei: in der Verwendung des
Verbums überhaupt liege schon „ein gewisser Grad von Personifikation des Subjekts"
(Prinzipien der Sprachgeschichte 3, S. 89).
l Vgl. ob.S. i/i7ff.
*7
sehen von Schüsseln, von Kleidern, von Fleisch u. s. f. handelt1. Ein
Äquivalent für unseren allgemeinen Ausdruck des „Essens" findet sich
— nach den Angaben Trumbulls — in keiner amerikanischen Einge-
borenensprache; dagegen gibt es eine Fülle verschiedener Verba, deren
eines z. B. bei animalischer, deren anderes bei vegetabilischer Nahrung
gebraucht wird, deren eines das Mahl eines Einzelnen, deren anderes ein
gemeinsames Mahl ausdrückt u. s. w. Bei dem Verbum des Schlagens
kommt es darauf an, ob es sich um einen Schlag mit der Faust oder mit
der flachen Hand, mit einer Rute oder mit einer Peitsche handelt; bei
dem Verbum des Brechens werden je nach der Art des Zerbrechens und
nach dem Instrument, mit dem es erfolgt, verschiedene Bezeichnungen
angewandt2. Und die gleiche, fast schrankenlose Differenzierung gilt,
wie für die Tätigkeitsbegriffe, auch für die Dingbegriffe. Auch hier ist
das Bestreben der Sprache, ehe sie zur Schaffung bestimmter Klassen-
bezeichnungen und „Gattungsbegriffe" gelangt, vor allem auf die Be-
zeichnung der „Varietäten" gerichtet. Die Ureinwohner von Tasmanien
hatlen kein Wort, um den Begriff des Baumes auszudrücken, dagegen
je einen besonderen Namen für jede einzelne Spielart der Akazie, des
blauen Gummibaumes u.s. f.3. Von den Bakairi berichtet K. v. d. Steinen,
daß jede Papageien- und jede Palmenart von ihnen aufs genaueste unter-
schieden und benannt werde, während die Artbegriffe des Papageien und
der Palme als solche kein sprachliches Äquivalent besitzen4. Die gleiche
Erscheinung findet sich auch in übrigens hoch entwickelten Sprachen
wieder. Das Arabische z. B. hat für einzelne Tier- oder Pflanzenvarietäten
eine so erstaunliche Fülle von Bezeichnungen entwickelt, daß man es
als Beleg dafür anführen konnte, wie durch die bloße Philologie und
Wörterkunde das Studium der Naturgeschichte und der Physiologie un-
mittelbar gefördert werden könne. Hammer hat in einer eigenen Ab-
handlung nicht weniger als 5744 Namen für das Kamel im Arabischen
zusammengestellt, die je nach dem Geschlecht, nach dem Alter oder nach
irgendwelchen individuellen Kennzeichen des Tieres variieren. Es gibt be-
sondere Bezeichnungen nicht nur für das männliche und weibliche Kamel,
für das junge Kamelfohlen und das erwachsene Kamel, sondern auch
1 Sayce, Introduction to the science of language I, 120.
2 Trumbull, Transactions of the Americ. Philol. Assoc. 1869/70; vgl. Powell, In-
troduction to tlve study of Indian languages, Washington 1880, S. 61. — Für Einzel-
heilen s. die Beispiele aus den Algonkin-Sprachen u. aus den Sprachen der Sioux-In-
dianer in Boas' Handbook I, 807 ff., 902 ff. u. ö.
» Vgl. Sayce, a.a.O., II, S. 5.
4 K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, Berl. 1897, S. 84.
258
innerhalb dieser Klassen bestehen die feinsten Abstufungen. Das Fohlen,
das noch keine Seitenzähne hat, das Fohlen, welches zu gehen anfängt,
weiterhin das Kamel vom ersten bis zum zehnten Jahre tragen je einen
eigenen Namen. Andere Unterschiede werden von der Begattung, der
Schwangerschaft, der Geburt, wieder andere von besonderen körperlichen
Eigentümlichkeiten hergenommen: ein eigener Name dient etwa dazu, ein
Kamel mit großen oder kleinen Ohren, mit geschnittenem Ohr oder
mit herunterhängenden Ohrlappen, mit großer Kinnlade oder mit starkem
herabhängenden Kinn u. s. f. zu bezeichnen x. —
In alledem handelt es sich offenbar nicht um das zufällige üppige Wu-
chern eines einzelnen Sprachtriebes, sondern es prägt sich darin eine ur-
sprüngliche Form und eine Grundtendenz der sprachlichen Begriffsbil-
dung aus, die, auch nachdem die Sprache im allgemeinen über sie hin-
weggeschritten ist, in einzelnen charakteristischen Nachwirkungen häufig
noch deutlich erkennbar ist. Als solche Nachwirkungen hat man insbe-
sondere diejenigen Phänomene der Sprachgeschichte gedeutet, die man
seit Herrn. Osthoff als Suppletiverscheinungen zu bezeichnen pflegt. Es
ist, insbesondere im Flexions- und Wortbildungssystem der indogerma-
nischen Sprachen, eine bekannte Erscheinung, daß bestimmte Wörter
und Wortformen, die sich miteinander zu einem Flexionssystem verbin-
den, wie z. B. die einzelnen Kasus eines Substantivs, die verschiedenen
Zeitformen eines Verbs und die Steigerungsformen eines Adjektivs,
nicht von ein und demselben sprachlichen Stamm, sondern von zwei
oder mehreren solcher Stämme gebildet werden. Neben der „regelrech-
ten" Bildung der Verbalflexion und der adjektivischen Steigerung
stehen Fälle, wie wir sie in fero, tuli, latum, cpegco, oioco, rjveyxov
vor uns haben, die auf den ersten Blick als bloße „Ausnahmen",
als willkürliche Durchbrechungen des Prinzips erscheinen, das formal
und bedeutungsmäßig Verknüpfte auch durch wurzelverwandte WTorte zu
bezeichnen. Das Gesetz, das diese Ausnahmen beherrscht, hat Osthoff
dadurch aufzuzeigen vermocht, daß er sie im allgemeinen einer älteren
Schicht der Sprachbildung zuweist, in der die „individualisierende"
Auffassung vor der „gruppierenden" noch das Übergewicht besessen
habe. Dieses Übergewicht mußte sich nach ihm um so länger be-
haupten, je näher die einzelnen in der Sprache festgehaltenen Begriffs-
und Bedeutungskreise dem natürlichen Vorstellungskreise des Menschen
und seiner unmittelbaren Tätigkeits- und Interessensphäre lagen. „Wie
1 S. Hammer-Purgstall, Das Kamel. Denkschriften der Kais. Akad. d. Wiss. zu
Wien. Philos.-histor. KL, Bd. VI u. VII (i855£.).
i7*
2ÖQ
der Mensch mit seinem leiblichen Auge allemal das räumlich Zunächst-
liegende in schärferer Besonderung erschaut, so werden auch mit dem see-
lischen Auge, dessen Spiegel die Sprache ist, die Dinge der Vorstellungs-
welt desto schärfer und individueller erfaßt, je näher sie dem Empfinden
und Denken des Sprechenden treten, je intensiver und lebhafter sie in-
folgedessen das Gemüt zu ergreifen, das psychische Interesse des Ein-
zelnen, d. i. des Menschen- und des Yölkerindividuums zu erregen pflegen."
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es in der Tat bedeutsam, daß eben
jene Begriffskreise, für die die Sprachen der Naturvölker die größte Man-
nigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Benennung zeigen, auch diejenigen
sind, bei denen, innerhalb der indogermanischen Sprachen, die Suppletiv-
erscheinungen am reichhaltigsten entwickelt sind und bei denen sie sich
am längsten behaupten. Von den Tätigkeitsworten sind es insbesondere
die Verba der Bewegung: das ,, Gehen" und „Kommen", das „Laufen"
und „Rennen", dann die Verba des Essens, des Schlagens, des Sehens, des
Sprechens u. s. f., an denen die vielfältigste Besonderung sich findet. Daß
in der indogermanischen Grundsprache z. B. die Varietäten des „Gehens"
früher unterschieden waren, als dessen allgemein sprachlicher Begriff
gefunden war, hat G. Gurtius im einzelnen erwiesen — und er hat wei-
terhin dargelegt, daß die Vorstellungen des Schauens und Spähens, des
Blickens, Achtens und Wahrens im Indogermanischen früher geschieden
gewesen sein müssen, als die Bezeichnungen der verschiedenen Sinnes-
tätigkeiten als solcher, des Sehens, Hörens und Fühlens, sich heraus-
bildeten. Und erst der spätesten Entwicklung gehören Verba an, die wie
das nachhomerische aio&dveo&m, sentire, empfinden die sinnliche Wahr-
nehmung überhaupt bezeichnen1. Erwägt man, daß den Erscheinungen
des Suppletivwesens im Indogermanischen ganz analoge Bildungen in
anderen Sprachkreisen, z. B. in den semitischen Sprachen entsprechen,
so ergibt sich, daß hier die Form der Wortbildung in der Tat eine all-
gemeine Richtung der sprachlichen Begriffsbildung widerspiegelt. Von
einer ursprünglichen „individualisierenden" Tendenz der Sprache wird
man freilich in strengem Sinne kaum reden können: denn jede noch so
konkret gefaßte Benennung einer einzelnen Anschauung geht über ihre
rein individuelle Erfassung bereits hinaus und ist ihr in gewissem Sinne
entgegengerichtet. Aber es ist allerdings eine Allgemeinheit verschiedener
Dimensionen, die sich in den Sprachbegriffen ausdrücken kann. Stellt
man sich die Gesamtheit der Anschauungswelt als eine gleichförmige
1 Curtius, Grundz. der griech. Etymologie5, S. 98f.; zum Ganzen s. Osthoff, Vom
Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Akad. Rede, Heidelberg 1899.
260
Ebene vor, aus der durch den Akt der Benennung fort und fort bestimmte
Einzelgestalten herausgehoben und gegen ihre Umgebung abgesondert
werden, so betrifft dieser Prozeß der Bestimmung zunächst immer nur
einen einzelnen, eng begrenzten Teil dieser Ebene. Nichtsdestoweniger
kann auf diesem Wege, indem sich alle diese Einzelkreise aneinander-
legen, allmählich das Ganze der Ebene fortschreitend ergriffen und mit
einem immer dichter werdenden Netzwerk von Benennungen gleichsam
übersponnen werden. So fein jedoch die einzelnen Maschen dieses Netzes
auch sein mögen, so ist es doch in sich selbst einstweilen nur locker
gefügt. Denn noch hat jedes Wort nur seinen eigenen, relativ beschränkten
Aktionsradius, jenseits dessen seine Kraft erlischt. Es fehlt an der Mög-
lichkeit, eine Mehrheit und Verschiedenheit von Bedeutungskreisen selbst
wieder zu einem neuen, durch eine einheitliche Form bezeichneten sprach-
lichen Ganzen zusammenzufassen. Die Kraft der Gestaltung und Absonde-
rung, die in jedem einzelnen Wort beschlossen ist, setzt ein, aber sie gelangt
frühzeitig an ihr Ende, und nun muß in einem neuen und selbständigen An-
satz ein neuer Umkreis der Anschauung erschlossen werden. Durch die Sum-
mierung all dieser verschiedenen Einzelimpulse, deren jeder sich für sich
allein und unabhängig auswirkt, kommt es allenfalls zu kollektiven, nicht
aber zu wahrhaft generischen Einheiten. Die Totalität des sprachlichen
Ausdrucks bildet hier, sofern sie erreicht wird, selbst nur ein Aggregat,
nicht aber ein in sich gegliedertes System; die Kraft der Gliederung hat
sich in der einzelnen Benennung erschöpft und reicht zur Bildung über-
greifender Einheiten nicht aus.
Ein weiterer Schritt auf dem Wege zur generischen Allgemeinheit ist
dagegen getan, wenn die Sprache, statt sich damit zu begnügen, für be-
stimmte Anschauungskreise bestimmte Benennungen zu schaffen, nun
dazu übergeht, diese letzteren selbst derart zu verknüpfen, daß die sach-
liche Zusammengehörigkeit von Inhalten sich auch in der Sprachform
klar ausprägt. Dieses Bestreben, Laut und Bedeutung dadurch in ein
strengeres Verhältnis zueinander zu setzen, daß bestimmten begriff-
lichen Bedeutungsreihen bestimmte Lautreihen als ihre Entsprechung
zugeordnet werden, kennzeichnet den Fortgang von der rein qualifizie-
renden zur klassifizierenden sprachlichen Begriffsbildung. Sie ist in der
einfachsten Form dort gegeben, wo Gruppen verschiedener Worte dadurch
als eine Einheit gekennzeichnet sind, daß sie durch ein gemeinsames Suf-
fix oder Präfix eine übereinstimmende sprachliche Markierung erhalten.
Die besondere Bedeutung, die jedem Wort als solchem zukommt, wird
jetzt dadurch ergänzt, daß zu ihm ein allgemeines Determinationselement
261
hinzutritt, welches seine Beziehung zu anderen sprachlichen Gebilden
kenntlich macht. Eine derartige, durch ein bestimmtes klassifikatorisches
Suffix zusammengehaltene Gruppe liegt z. B. in den indogermanischen
Verwandtschaf Isnamen : in den Namen für Vater und Mutter, Bruder,
Schwester und Tochter vor. Die gemeinsame Endung -tar (ter), die in
ihnen auftritt (pitär, mätär, bhrätar, sväsar, duhitär TictTrjQ, ixy\ty\q} ygä-
ro)g, $vyaxY\Q u.s.f.), verbindet diese Namen zu einer in sich geschlossenen
Reihe und stempelt sie damit zu Ausprägungen ein und desselben „Be-
griffs" — der jedoch nicht als eine selbständige und ablösbare Einheit
außerhalb der Reihe selbst besteht, sondern dessen Bedeutung eben
in dieser Funktion der Zusammenfassung der Einzelglieder der Pieihe
aufgeht. Aber es wäre irrig, wenn man aus diesem Grunde die Leistung,
die die Sprache hier vollzogen hat, nicht als eine gedankliche, als eine,
im strengen Sinne logische Leistung gelten lassen wollte. Denn die lo-
gische Theorie des Begriffs weist deutlich darauf hin, daß der „Reihen-
begriff" dem „Gattungsbegriff" an Kraft und Bedeutsamkeit nicht
nachsteht, ja daß er ein wesentliches Moment und einen integrierenden Be-
stand des Gattungsbegriffs selbst ausmacht1. Hält man sich dies gegen-
wärtig, so tritt das Prinzip, das in diesen Bildungen der Sprache waltet,
alsbald in seiner ganzen Bedeutung und Fruchtbarkeit hervor. Man wird
dem geistigen Gehalt dieses Prinzips nicht völlig gerecht, wenn man diese
Bildungen damit erklärt zu haben glaubt, daß man sie auf das psycho-
logische Gesetz der bloßen Ähnlichkeitsassozialion zurückleitet. Der zu-
fällige Verlauf der Assoziationen, der von Fall zu Fall, von Individuum zu
Individuum verschieden ist, genügt so wenig, den Grund und Ursprung
der sprachlichen, wie den der rein logischen, der Erkenntnisbegriffe, ver-
ständlich zu machen. „Die psychologisch einzig mögliche Weise, sich den
Vorgang der Bildung der indogermanischen Verwandtschaftsnamen zu
denken," — so bemerkt Wundt — „besteht darin, daß von der Bildung
eines Verwandtschaftsnamens zu der eines anderen eine Assoziation der
beiden Vorstellungen und der sie begleitenden Gefühle herüberreichte,
welche eine Angieichung derjenigen Lautelemente des Wortes bewirkte,
die nicht dem Ausdruck des besonderen Inhaltes der Vorstellung dienten.
Auf dem Wege der successiven assoziativen Angieichung also, nicht auf
dem der simultanen Bildung übereinstimmender Begriffszeichen kann
allein ein solches einer Klasse von Vorstellungen gemeinsames deter-
minierendes Lautzeichen entstanden sein, und der Begriff der Zusammen-
1 Näheres hierüber in m. Schrift „Substanzbegriff und Funktionsbegriff", bes. Kap. i
und 4-
262
gehörigkeit der Objekte ist darum auch nicht der Bildung dieser deter-
minativen Elemente vorausgegangen, sondern er hat sich vollkommen
gleichzeitig mit ihnen entwickelt. Denn er ist offenbar der beim Über-
gang von einem Gegenstande zum anderen unmittelbar sich einstellende
Ausdruck der Zusammengehörigkeit, wobei diese letztere vielmehr auf
gewissen begleitenden Gefühlen von übereinstimmender Färbung als auf
einer eigentlichen Vergleichung beruhte1." Dagegen ist jedoch zu sagen,
daß, welches auch immer das ursprüngliche psychologische Motiv zur
Zusammenfassung einer bestimmten Gruppe von Namen gewesen sein
mag, die Zusammenfassung selbst einen selbständigen logischen Akt mit
einer ihm eigentümlichen logischen Form darstellt. Eine Determination,
die ausschließlich in der Sphäre des Gefühls verbliebe, vermöchte für
sich allein keine neue objektive Bestimmung zu schaffen. Denn irgend-
welche gefühlsmäßige Assoziationen können schließlich zwischen allen,
auch den heterogensten Inhalten des Bewußtseins bestehen, so daß sich
von hier aus kein Weg zu jener Art der „Homogeneität" finden läßt, die
im logischen und sprachlichen Begriff hergestellt oder zum mindesten
gefordert wird. Das Gefühl kann noch alles mit allem verbinden; es
enthält daher keine ausreichende Erklärung dafür, daß bestimmte In-
halte sich zu bestimmten Einheiten verknüpfen. Hierzu wird vielmehr
ein gedanklicher Gesichtspunkt der Vergleichung gefordert, der in den
Reihenbildungen der Sprache auch dort deutlich erkennbar ist, wo er
nur in der Form eines klassifikatorischen Suffixes, nicht in der eines
selbständigen Begriffs- und Stoff wortes seinen Ausdruck findet2. Wenn
die Sprache den Umstand, daß bestimmte Inhalte generisch zusammen-
gehören, zur Darstellung bringt, so dient sie schon damit als ein Vehikel
des intellektuellen Fortschritts, — gleichviel, ob es ihr zu erfassen und zu
bezeichnen gelingt, worin dieser Zusammenhang besteht. Auch hierin
bewährt sie sich als Vorwegnahme einer Aufgabe, die ihre eigentliche
Lösung freilich erst in der wissenschaftlichen Erkenntnis finden kann:
sie wird gleichsam zur Präsumtion des logischen Begriffs. Dieser letztere
begnügt sich nicht damit, eine Zuordnung und eine Zusammengehörigkeit
von Inhalten einfach zu behaupten, sondern er fragt nach dem „Warum"
dieser Zuordnung: er will ihr Gesetz und ihren „Grund" erfassen. Die
1 Wundt Völkerpsychologie2, 11, i5f.
2 Daß übrigens viele dieser „klassifikatorischen Suffixe", gleich anderen Suffixen, auf
konkrete Begriffs- und Stoff worte zurückgehen, ist unverkennbar (Vgl. hrz. Kap. 5).
Im Gebiet der indogermanischen Sprachen scheint ein derartiger Zusammenhang im ein-
zelnen allerdings meist nicht mehr etymologisch nachweisbar zu sein; s. hrz. die Be-
merk, in Brugmanns Grundriß2, II, i84, 582ff. u. ö.
263
Analyse der Begriffszusammenhänge führt hier zuletzt auf ihre „gene-
tische Definition" zurück: auf die Angabe eines Prinzips, aus dem sie
entspringen und aus welchem sie, als dessen Besonderungen, abgeleitet
werden können. Zu dieser Betrachtung vermag sich die Sprache so wenig
in ihren qualifizierenden und „klassifizierenden", wie in ihren im engeren
Sinne „generischen" Begriffen zu erheben. Aber sie bereitet ihr überall
den Boden, indem sie das erste Schema der Zuordnung überhaupt schafft.
Dieses Schema mag noch so wenig von der objektiven Zusammengehörig-
keit der Inhalte selbst enthalten, so fixiert sich in ihm doch gleichsam
die subjektive Seite des Begriffs, so stellt sich in ihm das dar, was er als
Frage bedeutet. In der Tat hat auch geschichtlich die Entdeckung des
Problems des Begriffs darin bestanden, daß man die sprachlichen Aus-
drücke der Begriffe, statt sie als endgültig hinzunehmen, vielmehr als
logische Fragen würdigen und verstehen lernte. Der Sokratische Aus-
druck des Begriffs: das rl eou hat hier seinen Ursprung: die Induk-
tion, kraft welcher Sokrates zum Begriff „hinführt", besteht darin, daß
von der vorläufigen und präsumtiven Einheit der Wortform ausge-
gangen wird, um aus ihr die bestimmte und definitive Gestalt der lo-
gischen Begriffe zu gewinnen1. In diesem Sinne schließen auch die Zu-
ordnungen und Klassifikationen der Sprache eben in der Subjektivität,
die ihnen unvermeidlich anhaftet, zugleich eine gewisse Idealität, eine
Richtung auf die objektive Einheit der „Idee" in sich.
II. Grundrichtungen der sprachlichen Klassenbildung
Die Aufgabe, die verschiedenen Formen der Begriffs- und Klassen-
bildung, die in den Einzelsprachen wirksam sind, zu beschreiben, und
sie in ihren letzten geistigen Motiven zu verstehen, liegt jenseits des Ge-
biets und der methodischen Möglichkeiten der Sprachphilosophie. Sie
kann, soweit sie überhaupt lösbar ist, nur von der allgemeinen Linguistik
und von den besonderen Sprachwissenschaften in Angriff genommen wer-
den. Die Wege, die dieSprache hier einschlägt, sind so vielfältig verschlungen
und so dunkel, daß es nur durch die genaueste Versenkung und durch
die feinste Einfühlung in das Detail der Einzelsprachen gelingen kann,
sie allmählich zu erhellen. Denn gerade die Art der Klassenbildung macht
ein wesentliches Moment jener „inneren Form" aus, durch welche sich
die Sprachen spezifisch voneinander unterscheiden. Aber so wenig die
reiche und vielseitige geistige Formung, die die Sprache hier vollzieht,
i S. ob. S. 6if.
a64
sich ein für allemal in ein fertiges abstraktes Schema einfangen und
durch dasselbe bezeichnen läßt — so heben sich doch auch hier in der
Vergleichung der besonderen Phänomene gewisse allgemeine Gesichts-
punkte heraus, nach denen die Sprache in ihren Klassifikationen und
Zuordnungen verfährt. Man kann versuchen, diese Gesichtspunkte derart
zu ordnen, daß man dabei jenen ständigen Fortgang vom ,, Konkreten"
zum „Abstrakten", der die Richtung der Sprachentwicklung überhaupt
bestimmt, als leitendes Prinzip benutzt: wobei man sich freilich gegen-
wärtig halten muß, daß es sich hier nicht um eine zeitliche, sondern um
eine methodische Schichtung handelt und daß demnach in einer ge-
gebenen historischen Gestalt der Sprache die Schichten, die wir hier
gedanklich zu sondern versuchen, neben- und miteinander bestehen und
sich in der mannigfachsten Weise übereinander lagern können.
Auf der untersten Stufe der geistigen Skala scheinen wir uns dort zu
befinden, wo die Vergleichung und Zuordnung der Objekte lediglich von
irgendeiner Ähnlichkeit des sinnlichen Eindrucks, den sie hervorrufen,
ausgeht. Die Sprachen der Naturvölker bieten mannigfache Beispiele für
dies Verfahren einer Zusammenfassung, die ganz von sinnlichen Mo-
tiven beherrscht ist. Das inhaltlich Verschiedenartigste kann hier zu einer
„Klasse" zusammengefaßt werden, sobald es nur irgendeine Analogie der
sinnlich-wahrnehmbaren Form aufweist. In den melanesischen Sprachen,
sowie in vielen amerikanischen Eingeborenensprachen besteht die Ten-
denz, besondere Präfixe für diejenigen Gegenstände zu gebrauchen, die
durch ihre längliche oder runde Form gekennzeichnet sind. Durch diese
Tendenz werden z. B. die Ausdrücke für Sonne und Mond mit denen für
das menschliche Ohr, für Fische von bestimmter Form, für Kanus u. s. f.
zu ein und derselben sprachlichen Gruppe zusammengeschlossen, wäh-
rend auf der anderen Seite etwa die Namen für Nase und Zunge, als Be-
zeichnungen länglicher Gegenstände, stehen1. Schon einer ganz anderen
Schicht der Betrachtung scheinen solche Klassenunterscheidungen anzuge-
hören, die, statt von einer bloßen Ähnlichkeit im Inhalt der einzelnen Wahr-
nehmungsdinge auszugehen, auf irgendeiner Verhältnisbestimmung gegrün-
det sind, die also die Objekte je nach ihrer Größe, ihrer Zahl, ihrer Stellung
und Lage voneinander unterscheiden. In ersterer Hinsicht verwenden z. B. die
1 Codrington, Melanesian languages, S. 1 46 f. — Was die amerikanischen Sprachen
betrifft, so zerlegt z. B. die Haida-Sprache alle Nomina in verschiedene, durch sinnlich-
räumliche Merkmale gekennzeichnete Gruppen, unterscheidet also scharf die Gruppe der
„langen", der „dünnen", der „runden", der „flachen", der „eckigen", der „faden-
förmigen" Gegenstände. S. Swanton, Haida in Boas' Handbook I, 216, 227 ff.
265
Bantu-Sprachen ein besonderes Präfix, um damit besonders große Dinge
zu bezeichnen, während andere Präfixe als Verkleinerungsprälixe dienen;
auch werden hier Gegenstände, die regelmäßig als Elemente einer kollek-
tiven Vielheit, als ,, einer von vielen" vorkommen, von solchen geschieden,
die, gleich den Augen, den Ohren, den Händen des Menschen in paar-
weiser Gliederung als „doppelt vorhandene Dinge" auftreten1. Was die
Stellung und Lage betrifft, so ist es z. B. in vielen amerikanischen Ein-
geborenensprachen für die Klassenzugehörigkeit eines Wortes bestimmend,
ob der Gegenstand, den es bezeichnet, als stehend, als sitzend oder liegend
gedacht wird2. Wenn hier eine Gliederung der Objekte nach direkten, an-
schaulich-faßbaren Merkmalen stattfindet, so begegnet daneben auch eine
Klassifikation, die ein merkwürdiges mittelbares Prinzip der Einteilung
benutzt, indem sie die Gesamtheit der Dinge den Gliedern des mensch-
lichen Leibes zuordnet und sie kraft der Zugehörigkeit zum einen oder
anderen Glied zu verschiedenen sprachlichen Gruppen zusammenfaßt. Man
erkennt hierin das gleiche Motiv, das uns bereits im Aufbau der Raum-
anschauung durch die Sprache und in der Bildung gewisser primärer
Raumworte entgegengetreten ist: der menschliche Körper und die Unter-
scheidung seiner einzelnen Gliedmaßen dient als eine der ersten und
notwendigen Grundlagen der sprachlichen „Orientierung" überhaupt3.
So wird in manchen Sprachen die Einteilung der Körperteile geradezu
als das durchgehende Schema benutzt, nach dem sich die Auffassung des
Weltganzen und seiner Gliederung richtet, insofern hier jedes einzelne
Ding, das die Sprache benennt, zunächst mit irgendeinem Körperteil, etwa
mit dem Mund, mit den Beinen, mit dem Kopf, dem Herzen, der
Brust u. s. f. verknüpft wird und gemäß dieser Grundbeziehung die Ein-
zelobjekte in bestimmte Klassen, in feste „Genera" abgeteilt werden*. In
1 S. die Darstellung der Klassenpräfixe in Meinhofs vergl. Grammat. der Bantu-
sprachen, S. 8 ff., 16 ff.
2 Vgl. Powell, Introd. to Ihe study of Indian Languages, S. 48. — In der Ponca-
Sprache, die zwischen belebten und unbelebten Gegenständen unterscheidet, dient in der
ersleren Klasse ein besonderes Präfix dazu, um einen ruhenden, ein anderes, um einen
bewegten Gegenstand zu bezeichnen, ein Präfix wird für ein einzelnes belebtes Wesen,
wenn es steht, ein anderes für ein solches Wesen, wenn es sitzt, gebraucht u. s. f.
cf. Boas und Swanton, Siouan in Boas' Handbook I, q4o.
3 S. ob. S. i56ff.
4 Bezeichnend hierfür ist insbesondere die sehr merkwürdige Klasseneinteilung der süd-
andamanischen Sprachen, die von E. H. Man (On the aborginal inhabitants of the
Andaman Islands, with report of researches into the language of the South Andaman
Island by A. J. Ellis, London i883) eingehend beschrieben worden ist; Ergänzungen zu
der Darstellung Mans sind von M. V. Portman, Notes on the Languages of South
266
solchen Einteilungen wird sehr deutlich, daß die ersten Begriffsunter-
scheidungen der Sprache noch durchweg an materielle Substrate ge-
bunden sind; daß die Beziehung zwischen den Gliedern derselben Klasse,
wenn sie gedacht werden soll, sich immer zugleich auch in irgendeiner
Weise biidmäß'ig verkörpern muß. In den am reichsten entwickelten
und am feinsten durchgebildeten Klassensystemen, wie sie uns in den
Bantusprachen begegnen, scheint dann freilich eine Gesamtanschauung
gewonnen, die über diesen ersten Kreis bloß sinnlicher Unterscheidungen
entschieden hinausreicht. Hier bewährt die Sprache bereits die Kraft,
das Ganze des Seins, sofern es als räumliches Ganze genommen wird,
als einen Komplex von Beziehungen zu erfassen und es aus ihnen ge-
wissermaßen herauswachsen zu lassen. Wenn in dem genau abgestuften
Inbegriff von „Lokativpräfixen", dessen sich die Bantusprachen be-
dienen, einerseits die verschiedene Entfernung der Objekte vom Re-
denden, dann aber auch ihre mannigfachen räumlichen Verhältnisse, ihr
„Ineinander", ihr „Aneinander" und ihr „Außereinander" scharf be-
zeichnet werden, — so beginnt hier die unmittelbare Form der räum-
lichen Anschauung gleichsam eine systematische Gestalt anzunehmen.
Es ist, als würde der Raum hier, als eine mehrfach bestimmte Mannig-
faltigkeit, von der Sprache förmlich aufgebaut, als werde er aus den
einzelnen Orts- und Richtungsunterscheidungen zu einer in sich ge-
schlossenen und doch zugleich in sich differenzierten Einheit gestaltet1.
In solchen Klasseneinteilungen scheint sich daher bereits ein Trieb und
eine Kraft zur Organisation zu bewähren, die auch dort, wo der Gegen-
stand selbst noch ganz im Kreis des anschaulichen Seins verharrt, doch
ihrem Prinzip nach über diesen bereits hinausdrängt und auf neue und
eigentümliche Formen der „Synthesis des Mannigfaltigen" hinweist, über
die die Sprache verfügt.
Hierbei liegt es freilich im Wesen der Sprache selbst begründet, daß
Andaman Group of Tribes, Calcutta 1898, gegeben worden. Im Klassensystem des
Andamanischen bilden zunächst die menschlichen Wesen eine besondere Klasse, die von
den sonsligen Nomina unterschieden wird; dann aber werden die einzelnen Körperteile,
sowie die Verwandtschaftsnamen in Gruppen abgeteilt, die sprachlich scharf voneinander
getrennt werden, so daß z. B. für jede besondere Gruppe besondere possessive Für-
wörter, besondere Ausdrücke des mein, dein, sein u. s. f. im Gebrauch sind. Zwischen
den einzelnen Körperteilen selbst und den Verwandtschaftsgruppen besteht dann wei-
terhin wieder eine Reihe analogischer Zuordnungen und „Identitäten". (Cf. Man. a. a.
O., S. 5iff. und Portman, a. a. 0., S. 37ff.).
1 Vgl. hrz. die Darstellung des Systems der „Lokativpräfixe" der Bantu-Sprachen in
Meinhofs Bantugrammalik, S. igff .
267
jede derartige Synthese nicht ausschließlich durch theoretische, sondern
durch imaginative Gesichtspunkte beherrscht wird und. daß daher auch
die sprachliche „Begriffsbildung" auf weite Strecken hin nicht sowohl
als eine Leistung der logischen Vergleichung und Verknüpfung der
Wahrnehmungsinhalte, als vielmehr als eine Leistung' der Sprach-
phantasie erscheint. Die Form der Reihenbildung wird niemals ledig-
lich durch die objektive „Ähnlichkeit" der Einzelinhalte bestimmt, son-
dern sie folgt dem Zuge der subjektiven Einbildungskraft. Die Motive,
durch welche die Sprache in ihren Klassenbildungen geleitet wird,
scheinen daher durchweg, soweit uns überhaupt ein Einblick in sie ver-
stattet ist, den primitiven mythischen Begriffsformen und Klassen-
einteilungen noch nahe verwandt zu sein1. Auch hier bewährt sich, daß
die Sprache als geistige Gesamtform auf der Grenze zwischen Mythos
und Logos steht, und daß sie andererseits die Mitte und Vermittlung
zwischen der theoretischen und der ästhetischen Weltbetrachtung dar-
stellt. Daß auch die uns nächstliegende und geläufigste Form der sprach-
lichen Klassenbildung, daß auch die Scheidung der Nomina in die drei
„Geschlechter" des Maskulinum, Femininum und Neutrum von solchen
halb mythischen, halb ästhetischen Motiven durchsetzt ist, tritt in den
Einzelanwendungen, die dieses Prinzip erfährt, oft noch unverkennbar
hervor. Gerade solche Sprachforscher, die mit der Kraft und Schärfe der
grammatisch-logischen Analyse die größte Tiefe und Feinheit der künst-
lerischen Intuition vereinten, haben daher geglaubt, hier das Prinzip der
sprachlichen Begriff sbildung an seiner eigentlichen Quelle zu erfassen und
es gleichsam unmittelbar belauschen zu können. Jakob Grimm leitet den
Geschlechtsunterschied der indogermanischen Sprachen aus einer Übertra-
gung des natürlichen Geschlechts ab, die sich schon im frühesten Zustand
der Sprache vollzogen habe. Nicht nur dem Masculinum und Femininum,
sondern auch dem Neutrum wird von ihm ein derartiger „natürlicher
Anfang" zugeschrieben, sofern sein eigentlicher Ursprung in dem „Be-
griff von foetus oder proles lebendiger Geschöpfe" gesucht wird. Wenn
Grimm weiterhin zu zeigen versucht, daß das Masculinum durchgehend
das Frühere, Größere, Festere, Sprödere, Raschere, das Tätige, Beweg-
liche, Zeugende — das Femininum dagegen das Spätere, Kleinere, Wei-
chere, Stillere, das Leidende und Empfangende — das Neutrum das Er-
zeugte und Gewirkte, das Stoffartige, Generelle, Kollektive, Unent-
wickelte bezeichne, so ist ihm freilich hierin die moderne Sprachf or-
1 Näheres hierüber in m. Aufs. „Die Begriffsform im mythischen Denken" (Studien
der Bibliothek Warburg I), Leipzig 1922.
268
schung nur zum kleinen Teil gefolgt. Schon im Kreise der indogerma-
nischen Sprachwissenschaft trat der ästhetischen Theorie Grimms die
nüchternere Theorie Brugmanns entgegen, die die Ausdehnung des Ge-
schlechtsunterschiedes über die Gesamtheit der Nomina nicht in irgend-
einer allgemeinen Wesensrichtung der Sprachphantasie, sondern in be-
stimmten formellen und in gewissem Sinne zufälligen Analogien be-
gründet sein läßt. Statt von einer Anschauung der Belebung und Be-
seelung der Dinge, sei die Sprache in der Ausbildung und Fixierung dieses
Unterschieds vielmehr durch an sich bedeutungslose Ähnlichkeiten der
Lautform geleitet worden: — so habe z. B. der Umstand, daß gewisse
, natürliche Feminina", gewisse Bezeichnungen für weibliche Wesen, auf
die Endung -a (-rj) ausgingen, dahin geführt, daß allmählich auf rein
assoziativem Wege alle mit dieser Endung versehenen Worte derselben
Klasse der „Feminina" zugewiesen wurden1. Auch vermittelnde Theorien,
die die Ausbildung des grammatischen Geschlechts teils auf anschaulich-
inhaltliche, teils auf formale Motive zurückzuführen und die Wirksamkeit
beider gegeneinander abzugrenzen versuchten, sind vielfach versucht wor-
den2. In seiner ganzen Bedeutung und Weite konnte freilich das Problem,
das hier zugrunde liegt, erst erfaßt werden, seit sich durch Ausdehnung der
Sprachforschung über den indogermanischen und semitischen Kreis mehr
und mehr zeigte, daß der Geschlechtsunterschied, wie er im Indogerma-
nischen und Semitischen besteht, nur ein Sonderfall und vielleicht ein
Überrest weit reicherer und weit schärfer durchgebildeter Klasseneintei-
lungen ist. Geht man von solchen Einteilungen, wie sie insbesondere die
Bantusprachen darbieten, aus, so ergibt sich unzweifelhaft, daß die Un-
terscheidung des Geschlechts im Sinne des „Sexus" im Ganzen der Mit-
tel, deren sich die Sprache zur Ausprägung „generischer" Unterschei-
dungen überhaupt bedient, nur einen relativ geringen Raum einnimmt, —
daß hierin also nur eine einzelne Richtung der Sprachphantasie, nicht
aber deren allgemeines und durchgehendes Prinzip erfaßt werden kann.
In der Tat kennt eine große Reihe von Sprachen die Trennung der
Nomina nach dem natürlichen Geschlecht oder nach irgendeiner Analogie
desselben überhaupt nicht. Das männliche und weibliche Geschlecht
wird hier an unbelebten Wesen überhaupt nicht unterschieden, während
es an Tieren entweder durch besondere Worte ausgedrückt oder derart
1 S. Brugmann, Das grammatische Geschlecht in den indogermanischen Sprachen,
Techmers Zeitschr. für allgem. Sprachwissensch. IV, iooff.; vgl. auch Kurze vgl.
Grammat., S. 36iff.
2 Vgl. z. B. Wilmans, Deutsche Grammatik, III, 725ff.
269
bezeichnet wird, daß dem allgemeinen Namen der Tierart ein Wort hin-
zugefügt wird, das die besondere Geschlechtsbezeichnung enthält. Auch
im menschlichen Kreise tritt diese Bezeichnung ein, indem z. B. ein
allgemeiner Ausdruck wie Kind oder Diener durch Zusätze dieser Art
zum Ausdruck für Sohn und Tochter, Knecht und Magd u. s. f. gestaltet
wird1.
Humboldt, der gleich Jakob Grimm den Ursprung der sprachlichen
Klasseneinteilungen in einer Grundfunktion des sprachlichen ,, Einbil-
dungsvermögens" findet, faßt daher dieses Vermögen von Anfang an in
einem weiteren Sinne, indem er statt von dem Unterschiede des natür-
lichen Geschlechts von dem allgemeinen Unterschied des Belebten und
Unbelebten ausgeht. Er stützt sich hierbei im wesentlichen auf seine
Beobachtungen an amerikanischen Eingeborenensprachen, von denen die
meisten den Unterschied des natürlichen Geschlechts entweder gar nicht
oder nur gelegentlich und unvollkommen bezeichnen, die aber statt dessen
für den Gegensatz zwischen leblosen und lebendigen Gegenständen überall
das feinste Gefühl bekunden. In den Algonkin-Sprachen ist es dieser
Gegensatz, der die gesamte Struktur der Sprache beherrscht. Ein beson-
deres Suffix (-a) bezeichnet hier ein Objekt, das in sich die Eigenschaften
des Lebens und der selbständigen Bewegung vereint; ein anderes (-i) be-
zeichnet die Gegenstände, die dieser Attribute ermangeln. Jedes Verbum
oder Nomen muß unter die eine oder die andere dieser beiden Klassen fal-
len: wobei freilich die Unterordnung sich keineswegs allein nach den
Merkmalen richtet, die die rein empirische Beobachtung darbietet, son-
dern durch die Richtung der mythischen Phantasie und der mythischen
Naturbelebung entscheidend mitbestimmt wird. So werden z. B. in
diesen Sprachen eine große Zahl von Pflanzen — unter ihnen die
wichtigsten Pflanzenarten, wie das Korn und der Tabak — der Klasse der
belebten Gegenstände zugerechnet2. Wenn anderwärts auch die Gestirne
mit den Menschen und Tieren grammatisch in dieselbe Klasse versetzt
werden, so sieht Humboldt hierin den deutlichsten Beleg dafür, daß
1 Dieses Verfahren, das vor allem in den finnisch-ugrischen u. den altaischen Sprachen
gilt, deren keine eine Genusbezeichnung im Sinne des Indogermanischen kennt, ist auch
sonst weit verbreitet. Für die letzteren s. z. B. Boethlingk, Die Sprache der Jakuten,
S. 3/13 und J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 22 ff .; für andere Sprach-
kreise s. H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen, S. 88; Westermann, DieSudan-
sprachen, S. 3g ff.; Matthews, Languages of some native tribes of Queensland, J. and
Proc. of the Royal Soc. of N. S. Wales XXXVI (1902), S. i48, 168.
2 Zur Klassenbildung der Algonkin-Sprachen s. W. Jones, Algonquian (Fox) in Boas'
Handbook I, 760 f.
27O
sie im Denken der Völker, die diese Gleichsetzung vollziehen, als sich
durch eigene Kraft bewegende und wahrscheinlich auch als die mensch-
lichen Schicksale von oben herab leitende mit Persönlichkeit begabte
Wesen betrachtet werden1. Besteht diese Folgerung zu Recht, so würde
sich damit erweisen, daß die Sprache in derartigen Klasseneinteilungen
zwar noch unmittelbar mit dem mythischen Denken und Vorstellen ver-
woben ist, aber daß sie sich andererseits über die erste primitive Grund-
schicht dieses Denkens bereits zu erheben beginnt. Denn während in dieser
Schicht noch eine Form der „Allbeseelung" herrscht, die das Ganze der
Weit und jedes besondere Dasein in ihm gleichmäßig umfaßt und durch-
dringt, so hebt sich in der Anwendung, die die Sprache von dem Gegen-
satz der Personen- und Sachklasse zu machen pflegt, aus der allgemeinen
Sphäre des „Lebens" allmählich immer bestimmter das persönliche selbst-
bewußte Dasein, als ein Sein von eigentümlicher Bedeutung und von
eigentümlichem Wert, heraus. So zerfallen z. B. in den Drawida-Sprachen
alle Nomina in zwei Klassen, deren eine die „vernünftigen", deren andere
die „unvernünftigen" Wesen umfaßt — der ersteren gehören außer den
Menschen die Götter und Halbgötter, der zweiten außer den unbelebten
Dingen auch die Tiere an2. Der Schnitt, der hier durch das Ganze der
Welt gelegt wird, erfolgt also nach einem wesentlich anderen Prinzip,
als nach dem der schlichten und gleichsam differenzlosen mythischen Be-
lebung des Alls. Auch die Bantusprachen scheiden in ihrem Klassen-
system scharf zwischen dem Menschen als selbständig handelnder Per-
sönlichkeit und jeder Art des belebten, aber nicht persönlichen Seins.
Sie gebrauchen demnach ein besonderes Präfix für Geister, sofern diese
nicht als selbständige Persönlichkeiten gedacht werden, sondern als das
Belebende oder als das, was einen Menschen befällt, so daß mit diesem
Präfix insbesondere Krankheiten, ferner Rauch, Feuer, Ströme, der Mond
als Naturkräfte versehen werden3. Die Auffassung des im engeren
Sinne persönlich-geistigen Seins und Wirkens hat sich damit in der
Sprache einen eigenen Ausdruck geschaffen, kraft dessen sie sich von der
Lebens- und Seelenvorstellung des bloßen Animismus, von der Ansicht
der Seele als einer allgemeinen, aber eben in dieser Allgemeinheit zu-
nächst völlig unbestimmten mythischen Potenz, zu sondern vermag.
Dabei bewährt sich freilich auch an diesem Punkte wieder, daß die
* Humboldt, Einl. zum Kawi-Werk, W. VII, i, 172 f.
2 Fr. Müller, Grundr. der Sprachwissensch. III, 1, 173; Reise der Fregatte Novara,
S.83.
3 S. hierf . die Beispiele bei Meinhof, Bantugrammatik, S. 6f.
271
Scheidung in eine besondere Personen- und Sachenklasse und die Zuord-
nung der einzelnen Gegenstände zu je einer dieser beiden Klassen nicht
lediglich nach „objektiven" Kriterien erfolgt, sondern daß hier das be-
grifflich-logische Gefüge der Wirklichkeit, wie es sich in der Sprache
darstellt, mit rein subjektiven, nur im unmittelbaren Gefühl zu erfas-
senden Unterschieden noch ganz durchsetzt und erfüllt ist. Niemals wird
diese Zuordnung durch bloße Wahrnehmungs- oder Urteilsakte, sondern
immer zugleich durch Affekt- und Willensakte, durch Akte der inneren
Stellungnahme bestimmt. Es ist demgemäß eine häufige Erscheinung,
daß der Name eines Dinges, das an sich der Sachenklasse angehört, in die
Personenklasse übertritt, um damit den Gegenstand, von dem die Rede
ist, nach seinem Wert und seiner Wichtigkeit herauszuheben und ihn als
besonders bedeutsam zu kennzeichnen1. Selbst in Sprachen, die in ihrer
uns bekannten gegenwärtigen Struktur den Unterschied der Nomina nach
dem natürlichen Geschlecht durchgeführt haben, schimmert in dem Ge-
brauch, den sie von ihm machen, oft noch deutlich durch, daß er auf
eine ältere Unterscheidung der Personen- und Sachenklasse, die zugleich
als eine Wertunterscheidung empfunden wurde, zurückgeht2. So eigen-
tümlich solche Phänomene auf den ersten Blick erscheinen mögen, so
bekundet sich doch in ihnen nur das Grundprinzip der sprachlichen Be-
1 In der Gola-Sprache in Liberia erhält (nach Westermann, Die Gola-Sprache, S . 27)
ein Hauptwort, dem eigentlich ein anderes Präfix zukommt, häufig das o-Präfix der Men-
schen- und Tierklasse, wenn es als ein besonders großer, hervorragender, wertvoller
Gegenstand hervorgehoben werden soll, der um dieser Eigenschaften willen in die
Klasse der lebenden Wesen versetzt wird: „so sagt man neben kesie ölpalme auch
osie, dadurch diese Palme als einen der wichtigsten Bäume auszeichnend, kekul Baum,
aber okul ein besonders großer schöner Baum; ebu Feld, aber obuo das große, üppig
stehende Feld. Die gleiche Versetzung in die o-Klasse findet auch bei Bäumen oder
anderen Gegenständen statt, die im Märchen redend oder handelnd auftreten." In den
Algonkin-Sprachen werden häufig kleine Tiere der Klasse der „unbelebten" Gegen-
stände, dagegen bestimmte besonders wichtige Pflanzenarten der Klasse der „belebten"
Gegenstände zugerechnet, s. ob. S. 270 und Boas' Handbook I, 36.
2 Charakteristische Beispiele hierfür werden von Meinhof und Reinisch aus dem
Bedauye angeführt, wo z.B. sa die Kuh, als Hauptstütze des gesamten Hauswesens,
masculini generis, dagegen sa das Fleisch ein Femininum ist, da es von minderem
Belang ist (S. Meinhof, Die Sprachen der Hamiten, S. i3g). Auch in den Semiten-
sprachen hat — nach Brockelmann, Grundriß I, 4o4ff. — die Unterscheidung der
Nomina in die Genera des Masculinum und Femininum mit dem natürlichen Sexus wahr-
scheinlich von Hause aus nichts zu tun; vielmehr liegt auch hier eine ursprüngliche
Rang- und Wertunterscheidung zugrunde, die im Gebrauch des Femininums als Dete-
riorativ- und Deminutivform noch in Resten erkennbar ist. Vgl. bes. Brockelmann,
Grundr. II, 4*8ff. und Kurzgef. vergl. Grammat., S. ig8ff.
2r;2
griffsbildung überhaupt. Die Sprache folgt niemals einfach dem Zuge
der Eindrücke und Vorstellungen, sondern tritt ihm mit selbständiger
Aktion gegenüber: sie unterscheidet, wählt und richtet und schafft ver-
möge solcher Stellungnahme erst bestimmte Zentren, bestimmte Mittel-
punkte der objektiven Anschauung selbst. Diese Durchdringung der Welt
der sinnlichen Eindrücke mit den inneren Maßen des Urteils und der Be-
urteilung hat zur Folge, daß die theoretischen Bedeutungsnuancen und die
affektiven Wertnuancen in ihr zunächst noch ständig ineinander über-
gehen. Aber die innere Logik der Sprache bekundet sich nichtsdestowe-
niger darin, daß die Unterscheidungen, die sie schafft, nicht alsbald wie-
der vergehen und sich verflüchtigen, sondern daß sie eine Art von Behar-
rungstendenz, eine eigentümliche logische Konsequenz und Notwendig-
keit besitzen, vermöge deren sie sich nicht nur selbst behaupten, sondern
sich auch mehr und mehr von einzelnen Teilen der Sprachbildung über
das Ganze derselben ausdehnen. Durch die Regeln der Kongruenz, die
den grammatischen Bau der Sprache beherrschen und die namentlich in
den Präfix- und Klassensprachen in schärfster Durchbildung vorhanden
sind, übertragen sich die begrifflichen Unterschiede, die am Nomen ge-
troffen werden, von hier auf die Gesamtheit aller sprachlichen Formen.
Im Bantu muß jedes Wort, das zu einem Substantivum in attributive
oder prädikative Beziehung tritt, jede Zahlbestimmung, jedes Adjektiv
oder Pronomen, durch das es näher bezeichnet wird, das charakteristische
Klassenpräfix des Wortes annehmen. Ebenso bezieht sich hier das Ver-
bum durch je ein besonderes Präfix auf seinen Subjektsnominativ und
auf das Wort, das zu ihm im Verhältnis des Objektsakkusativ steht1. So
beherrscht das Prinzip der Klasseneinteilung, einmal gefunden, nicht
nur die Gestaltung der Nomina, sondern greift von hier aus auf die ge-
samte syntaktische Fügung der Sprache über und wird zum eigentlichen
Ausdruck ihres Zusammenhangs, ihrer geistigen „Artikulation". So er-
scheint hier die Leistung der Sprachphantasie überall aufs engste ver-
knüpft mit einer bestimmten Methodik des sprachlichen Denkens. Wie-
der zeigt hier die Sprache bei all ihrer Gebundenheit und Verflochtenheit
in die Welt des Sinnlichen und Imaginativen die Tendenz und die Kraft
zum Logisch-Allgemeinen, durch die sie sich fortschreitend zu einer
immer reineren und selbständigen Geistigkeit ihrer Form befreit.
1 Vgl. hrz. die Darstellung der Syntax der Bantusprachen bei Meinhof, S. 83f 6.
Ähnliches gilt für die Syntax der meisten Indianersprachen, vgl. hrz. Powell, In-
troduct. to the study of Indian languages, S. 48 f.
18
273
KAPITEL V
DIE SPRACHE UND DER AUSDRUCK DER REINEN
BEZIEHUNGSFORMEN. — DIE URTEILSSPHÄRE
UND DIE RELATIONSBEGRIFFE
Von der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschauung,
von der Anschauung zum begrifflichen Denken und von diesem wieder
zum logischen Urteil führt für die erkenntniskritische Betrachtung ein
stetiger Weg. Die Erkenntniskritik ist sich, indem sie diesen Weg durch-
mißt, bewußt, daß die einzelnen Phasen desselben, so scharf sie in der
Reflexion voneinander geschieden werden müssen, doch niemals als von-
einander unabhängige, losgelöst existierende Gegebenheiten des Bewußt-
seins anzusehen sind. Vielmehr schließt hier nicht nur jedes komplexere
Moment das einfachere, nicht nur jedes „spätere" Moment das „frühere"
ein — sondern umgekehrt ist auch jenes in diesem vorbereitet und ange-
legt. Alle Bestandteile, die den Begriff der Erkenntnis konstituieren, sind
wechselseitig aufeinander und auf das gemeinsame Ziel der Erkenntnis,
auf den „Gegenstand" bezogen: die genauere Analyse vermag daher in
jedem einzelnen von ihnen schon den Hinweis auf alle übrigen zu ent-
decken. Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung
„verbindet" sich hier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen
des Begreif ens, des Urteilens und Schließens, sondern sie ist selbst schon
eine solche Grundfunktion — sie enthält implizit, was dort in bewußter
Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt. Es ist zu erwarten,
daß auch in der Sprache sich dieselbe unlösliche Korrelation der geistigen
Mittel, mit denen sie ihre Welt aufbaut, bewähren wird, daß auch hier
jedes ihrer besonderen Motive schon die Allgemeinheit ihrer Form und
das spezifische Ganze dieser Form in sich schließen wird. Und dies be-
währt sich in der Tat darin, daß nicht das einfache Wort, sondern erst
der Satz das eigentliche und ursprüngliche Element aller Sprachbildung
ist. Auch diese Erkenntnis gehört zu den fundamentalen Einsichten, die
274
Humboldt ein für allemal für die philosophische Betrachtung der
Sprache festgestellt hat. „Man kann sich unmöglich'' — so betont er —
„die Entstehung der Sprache als von der Bezeichnung der Gegenstände durch
Wörter beginnend und von da zur Zusammenfügung übergehend denken. In
der Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern zu-
sammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der
Rede hervor1." Die Folgerung, die Humboldt hier aus einem spekulativen
Grundbegriff seines sprachphilosophischen Systems — aus dem Begriff
der „Synthesis" als Ursprung alles Denkens und Sprechens — gewinnt2,
ist sodann durch die empirisch-psychologische Analyse in allen Teilen be-
stätigt worden. Auch sie betrachtet den „Primat des Satzes vor dem Wort"
als eines ihrer wichtigsten und sichersten Ergebnisse3. Zu dem gleichen
Resultat führt die Sprachgeschichte, die überall zu lehren scheint, daß
sich die Heraussonderung des Einzelwortes aus dem Satzganzen und die
Abgrenzung der einzelnen Redeteile gegeneinander nur ganz allmählich
vollzogen hat und daß sie frühen und primitiven Sprachgestaltungen noch
so gut wie völlig fehlt4. Die Sprache beweist sich auch hierin als ein Or-
ganismus, in welchem, gemäß der bekannten Aristotelischen Definition,
das Ganze früher als die Teile ist. Sie beginnt mit einem komplexen Ge-
samtausdruck, der sich erst nach und nach in Elemente, in relativ selb-
ständige Untereinheiten zerlegt. So tritt sie uns, so weit wir sie auch zu-
rückverfolgen mögen, immer schon als geformte Einheit entgegen. Keine
ihrer Äußerungen kann als ein bloßes Beisammen einzelner materialer
Bedeutungslaute verstanden werden, sondern in jeder treffen wir zugleich
1 Einleit. zum Kawi-Werk, W. VII, i, 72f.; vgl. bes. S. 1 43.
2 Vgl. hrz. ob. S. io4.
3 Dieser Primat wird außer von Wundt insbesondere auch von Ottmar Dittrich,
Grundzüge der Sprachpsychologie I (iqo3) und Die Probleme der Sprachpsychologie-
(iqi3) verfochten.
4 Vgl. hierzu z. B. die Bemerkungen von Sayce, Introduction to the science of lan-
guage I, inff., sowie B. Delbrück, Vergl. Syntax der indogerman. Sprachen III,
S. 5. Daß in den sögen, „polysynthetischen" Sprachen eine scharfe Grenze zwischen dem
einzelnen Wort und dem Ganzen des Satzes überhaupt nicht zu ziehen ist, ist bekannt;
vgl. bes. die Darstellung der amerikanischen Eingeborenensprachen in Boas' Hand-
book of the Americ. Ind. Languages I, 27 ff., 762 ff., 1002 ff. u. ö. Auch für die
altaischen Sprachen betont H. Wink ler, daß es in ihnen zur eigentlichen Worteinheit
nur mangelhaft gekommen sei, vielmehr das Wort meist nur in seiner Satzzusammen-
gehörigkeit zum Worte werde. (Das Uralaltaische und seine Gruppen, S. 9, 43 u. ö.)
Und selbst in Flexionssprachen begegnen überall Reste eines altertümlichen Sprach-
zustandes, in dem die Grenzen zwischen Satz und Wort noch durchaus fließend waren,
vgl. z. B. für die semitischen Sprachen die Bemerk, in Brockelmanns Grundriß II,
iff.
18*
275
Bestimmungen, die rein dem Ausdruck der Beziehung zwischen den
Einzeielementen dienen und diese Beziehung selbst in mannigfacher Weise
gliedern und abstufen.
Diese Erwartung scheint freilich nicht erfüllt zu werden, wenn man
die Struktur der sogen. isolierenden Sprachen" ins Auge faßt, in denen
man in der Tat oft den unmittelbaren Beweis für die Möglichkeit und die
Wirklichkeit schlechthin „formloser" Sprachen erbracht sah. Denn hier
scheint sich das eben angenommene Verhältnis zwischen Satz und Wort
nicht nur nicht zu bestätigen, sondern unmittelbar in sein Gegenteil zu
verkehren. Das Wort scheint jene Selbständigkeit, jene echte „Substan-
tialität" zu besitzen, kraft deren es in sich selbst „ist" und aus sich
allein begriffen werden muß. Die einzelnen Wörter stehen im Satze
als materiale Bedeutungsträger einfach nebeneinander, ohne daß ihre
grammatische Beziehung zu irgendeiner gesonderten expliziten Heraus-
hebung gelangt. Im Chinesischen, das den Hauptbeleg für den Typus
der isolierenden Sprachen bildet, kann ein und dasselbe Wort bald als
Substantivum, bald als Adjektivum, bald als Adverbium, bald als Verbuni
gebraucht werden, ohne daß diese Verschiedenheit der grammatischen
Kategorie an ihm selbst in irgendeiner Weise kenntlich wäre. Auch die
Tatsache, daß ein Substantivum in diesem oder jenem Numerus oder Ka-
sus, ein Verbum in diesem oder jenem Genus, Tempus oder Modus ge-
braucht wird, drückt sich in der Lautgestalt des Wortes in keiner Weise
aus. Die Sprachphilosophie hat lange Zeit geglaubt, vermöge dieser Ge-
staltung des Chinesischen einen Blick in jene Urperiode der Sprachbil-
dung tun zu können, in der alle menschliche Rede noch in der Anein-
anderreihung einfacher und einsilbiger „Wurzeln" bestand: ein Glaube,
der dann freilich durch die historische Forschung schon dadurch mehr
und mehr zerstört wurde, daß sie zeigte, daß die strenge Isolierung, wie
sie heute im Chinesischen herrscht, kein schlechthin ursprünglicher Be-
stand, sondern erst ein vermitteltes und abgeleitetes Ergebnis ist. Die An-
nahme, daß die Wörter des Chinesischen nie einen Wandel erfahren hät-
ten, und daß die Sprache niemals irgend eine Art von Wort- oder Form-
bildung besessen habe, wird — wie G. v. d. Gabelen tz betont — unhalt-
bar, sobald man das Chinesische den nächstverwandten Sprachen ver-
gleicht und es im Gesamtkreis dieser letzteren betrachtet. Hier trete so-
gleich hervor, daß es noch mannigfache Spuren älterer agglutinierender,
ja auch echt flexivischer Bildung an sich trage. In dieser Hinsicht glaubt
man heute vielfach die Entwicklung des Chinesischen mit der des mo-
dernen Englisch vergleichen zu können, in dem sich gleichfalls der Über-
276
gang von einem Zustand der Flexion zu einem Stadium relativer Flexions-
losigkeit vor unseren Augen zu vollziehen scheint1. Noch bedeutsamer
aber als solche geschichtliche Übergänge ist der Umstand, daß auch dort,
wo die reine Isolierung sich endgültig durchgesetzt hat, dies keineswegs
den Fortgang zur „Formlosigkeit" schlechthin besagt, sondern daß sich
gerade hier, in einem scheinbar widerstrebenden Material, die Gewalt
der Form noch aufs deutlichste und kräftigste ausprägen kann. Denn die
Isolierung der Worte gegeneinander hebt den Gehalt und den ideellen
Sinn der Satzform keineswegs auf — sofern die verschiedenen logisch-
grammatischen Verhältnisse der Einzelworte, auch ohne daß besondere
Laute zu ihrem Ausdruck verwendet werden, in der Wortstellung aufs
prägnanteste bezeichnet werden. Man könnte in diesem Mittel der Wort-
stellung, das das Chinesische zu höchster Konsequenz und Schärfe ent-
wickelt hat, rein logisch betrachtet, sogar das eigentlich adäquate Mittel
des Ausdrucks grammatischer Verhältnisse sehen. Denn eben als Ver-
hältnisse, die selbst sozusagen kein eigenes Vorstellungssubstrat mehr be-
sitzen, sondern in reinen Beziehungen aufgehen, scheinen sie bestimmter
und deutlicher, als durch eigene Wort- und Lautfügungen, durch die
bloße Relation derselben, die sich in der Stellung ausdrückt, bezeichnet
werden zu können. In diesem Sinne hat schon Humboldt, dem im üb-
rigen die Flexionssprachen als die Ausprägung der vollendeten, der „rein
gesetzmäßigen Form" der Sprache galten, vom Chinesischen gesagt, daß
sein wesentlicher Vorzug eben in der Folgerichtigkeit bestehe, mit der
hier das Prinzip der Flexionslosigkeit durchgeführt werde. Gerade die
scheinbare Abwesenheit aller Grammatik habe hier die Schärfe des Sinnes,
den formalen Zusammenhang der Rede zu erkennen, im Geiste der Na-
tion erhöht — je weniger äußere Grammatik die chinesische Sprache
besitze, um so mehr innere wohne ihr bei2. Die Strenge des Baus geht
hier in der Tat so weit, daß man von der chinesischen Syntax gesagt hat,
daß sie in allen wesentlichen Stücken nichts anderes, als die logisch folge-
richtige Entwicklung einiger weniger Grundgesetze sei, aus denen man,
rein auf dem Wege der logischen Deduktion, alle besonderen Anwen-
dungen ableiten könne3. Stellt man dieser Feinheit der Gliederung an-
dere isolierende Sprachen von primitiver Prägung gegenüber — wie
z. B. unter den Negersprachen das Ewe das Beispiel einer rein isolie-
1 G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 2Ö2f.; Chines. Grammatik, S. QOff'.;
vgl. auch B. Delbrück, Grundfragen, S. n8f.
2 Humboldt, Einleit. zum Kawiwerk (W. VII, i, S. 271 ff., S. 3o4f.).
3 v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. 19.
277
renden Sprache darbietet1 — so wird alsbald fühlbar, wie innerhalb ein
und desselben „Sprachtypus" die mannigfachsten Abstufungen und die
weitesten Gegensätze der Formbildung möglich sind. Schleichers Ver-
such, das Wesen der Sprache nach dem Verhältnis zu bestimmen, in wel-
chem in ihr Bedeutung und Beziehung zu einander stehen und danach
eine einfach fortschreitende dialektische Reihe zu konstruieren, in der
sich die isolierenden, die agglutinierenden und die flektierenden Spra-
chen wie Thesis, Antithesis und Synthesis zu einander verhalten sollten2,
litt daher unter anderem auch daran, daß hier das eigentliche Eintei-
lungsprinzip verschoben wurde, sofern die sehr verschiedenartige Gestal-
tung, die das Verhältnis von , Beziehung' und , Bedeutung* innerhalb
desselben Typus annehmen kann, keine Berücksichtigung fand. Im üb-
rigen ist auch die starre Abgrenzung des flektierenden und des agglu-
tinierenden Typus der empirisch-historischen Forschung mehr und mehr
unter den Händen zerronnen3. In alledem bestätigt sich auch für die
Sprache jenes Verhältnis des „Wesens" zur „Form", das sich in dem alten
scholastischen Satze: forma dat esse rei ausspricht. Wie es der Erkennt-
niskritik nicht gelingt, den Stoff der Erkenntnis von ihrer Form derart
abzuscheiden, daß beide als selbständige Inhalte erscheinen, die sich
nur äußerlich miteinander verbinden, sondern wie hier beide Momente
immer nur in Beziehung aufeinander gedacht und definiert werden
können, so ist auch im Sprachlichen der bloße und nackte Stoff nichts
als eine Abstraktion — als ein Grenzbegriff der Methode, dem keine un-
mittelbare „Wirklichkeit", kein realer und faktischer Bestand entspricht.
Selbst in den flektierenden Sprachen, die den Gegensatz des stofflichen
Bedeutungs- und des formalen Beziehungsausdrucks am schärfsten aus-
prägen, zeigt sich, daß das Gleichgewicht, das hier zwischen den bei-
den verschiedenen Ausdrucksmomenten erreicht wird, ein gewissermaßen
labiles Gleichgewicht ist. Denn so klar sich hier im allgemeinen die
kategorialen Begriffe von den Stoff- und Sachbegriffen abheben, so
findet doch andererseits zwischen beiden Gebieten insofern ein ständiger
Übergang statt, als es eben die Sachbegriffe selbst sind, die der Darstel-
lung der Beziehungen als Unterlage dienen. Am deutlichsten tritt dieser
Sachverhalt hervor, wenn man die Suffixe, die in den flektierenden
Sprachen zum Ausdruck der Qualität und Eigenschaft, der Art und Be-
1 Näheres in Westermanns Ewe-Grammat., S. 4ff-> 3off.
2 Sprachvergleichende Untersuchungen I ( 18/48), S. 6ff., II, S. 5ff. vgl. ob. S. 108 ff.).
3 S. hierüber schon Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. XXIV (i85i), vgl. unt. S. 281
Anm. 2.
278
schaffenheit u. s. f. gebraucht werden, auf ihren etymologischen Ur-
sprung zurückverfolgt. Bei einer großen Anzahl dieser Suffixe wird die
materiale Bedeutung, der sie entstammen, durch die sprachgeschichtliche
Betrachtung unmittelbar aufgewiesen und sichergestellt. Immer zeigt sich
hier als Grundlage ein konkreter, ein sinnlich-gegenständlicher Ausdruck,
der aber diesen anfänglichen Charakter mehr und mehr abstreift und sich
zu einem allgemeinen Verhältnisausdruck umgestaltet1. Erst durch diese
Verwendung der Suffixe wird für die sprachliche Bezeichnung der reinen
Relationsbegriffe der Boden bereitet. Was zunächst als spezielle Ding-
bezeichnung diente, das geht jetzt in den Ausdruck einer kategorialen
Bestimmungsform, z. B. in den Ausdruck des Eigenschaftsbegriffs
schlechthin, über2. Aber wenn dieser Übergang, psychologisch gesehen,
1 Im Deutschen bildet hierfür z.B. die Entwicklung der Suffixe -heil, -schaft, -tum,
-bar, -lieh, -sam, -haft einen bekannten Beleg. Das Suffix -lieh, das eins der Haupt-
mittel für die Bildung adjektivischer Begriffe geworden ist, weist unmittelbar auf ein
Substantivum lika (= Leib, Körper) zurück. ,,Der Typus eines Wortes, wie weiblich —
sagt H. Paul, Prinzipien der Sprachgesch. 3, S. 322 — geht zurück auf ein altes Bahu-
vrihi-Kompositum, urgermanisch *wibolikis, eigentlich Weibesgestalt, dann durch Me-
tapher 'Weibesgestalt habend'. Zwischen einem derartigen Kompositum und dem Sim-
plex mhd. lieh, nhd. Leiche ist eine derartige Diskrepanz anfänglich der Bedeutungen,
später auch der Lautformen herausgebildet, daß jeder Zusammenhang aufgehoben ist.
Vor allem aber hat sich aus der sinnlichen Bedeutung des Simplex ,Gestalt, äußeres An-
sehen' die abstraktere .Beschaffenheit' entwickelt." Bei dem Suffix -heit ist das substan-
tivische Grundwort, dem es entstammt, im Gotischen und Althochdeutschen, sowie im
Altsächsischen und Altnordischen noch als selbständiges Wort im Gebrauch. Seine Grund-
bedeutung scheint hier die der Person, oder die des Standes und der Würde zu sein,
aber daneben hat sich aus ihr schon früh die allgemeine Bedeutung der Beschaffenheit,
der Art und Weise (got. haidus) entwickelt, die nun, in der Umprägung zum Suffix, für
jede abstrakte Eigenschaftsbezeichnung verwendet werden konnte. (Näheres z. B. in
Grimms Deutschem Wörterbuch IV, 2, Sp. 91 off.) Von einer anderen Grundanschau-
ung aus, aber in der gleichen Richtung und nach demselben Prinzip fortschreitend, ha-
ben die romanischen Sprachen ihre adverbialen Ausdrücke der Art und Weise geformt,
indem sie hierfür zwar nicht den Begriff von einem körperlichen Sein und einer kör-
perlichen Gestalt, wohl aber den zunächst noch ganz konkret gefaßten Ausdruck des
Geistigen verwenden, der allmählich den reinen Suffix- und Beziehungscharakter ge-
winnt (fierement == fera mente u. s. f .).
2 So geht z.B. im Sanskrit das Suffix -maya ursprünglich auf ein Substantivum (maya
= Stoff, Material) zurück und wird gemäß der Bedeutung desselben zunächst zur Bil-
dung solcher Adjectiva verwendet, die eine Stoff bezeichnung in sich schließen — erst
im weiteren Gebrauch entwickelt sich sodann, kraft der Umformung des Nomens zum
Suffix, aus dem speziellen Begriff der stofflichen Eigenschaft die allgemeine Eigen-
schafts- und „Qualitäts"-Bedeutung (mrn-maya aus Lehm gemacht, aber möha-maya
,auf Verblendung beruhend' etc.). Näheres bei Brugmann, Grundriß II, i3 u. bei
Thumb, Handbuch des Sanskrit, S. 44 I.
279
sozusagen ein negatives Vorzeichen trägt, so drückt sich doch eben in die-
ser Negation selbst ein eminent positiver Akt der Sprachbildung aus.
Es könnte auf den ersten Blick freilich scheinen, als ob die Entwick-
lung der Suffixe wesentlich darauf beruhte, daß die substantielle Grund-
bedeutung des Wortes, von dem sie sich herleiten, mehr und mehr in den
Hintergrund gedrängt und schließlich ganz vergessen wird. Dieses Ver-
gessen geht oft so weit, daß neue Suffixbildungen entstehen können, die
ihren Ursprung keinerlei konkreter Anschauung mehr, sondern gleich-
sam einem mißleiteten Trieb der sprachlichen Form- und Analogiebil-
dung verdanken. So geht bekanntlich im Deutschen die Bildung des Suf-
fixes -keit auf ein derartiges sprachliches „Mißverständnis" zurück: in-
dem in Bildungen wie ewic-heit das auslautende c des Wortstammes
mit dem anlautenden h des Suffixes verschmolz, entstand auf diesem
Wege ein neues Suffix, das sich durch Analogiewirkungen immer weiter
verbreitete1. Aber auch in solchen Prozessen, die man, rein formell und
grammatisch, als „Entgleisungen" des Sprachsinnes anzusehen pflegt,
liegt kein bloßer Irrweg der Sprache vor, sondern es stellt sich darin
vielmehr die Erhebung zu einer neuen Formansicht, der Übergang vom
substantialen Ausdruck zum reinen Beziehungsausdruck, dar. Die psy-
chologische Verdunklung des ersteren wird zum logischen Mittel und zum
Vehikel für die fortschreitende Ausbildung, die der letztere gewinnt.
Freilich darf man, um sich diesen Fortgang zum Bewußtsein zu bringen,
nicht bei den einfachen Phänomenen der Wortbildung stehen bleiben.
Seine Grundrichtung und sein Gesetz kann vielmehr erst an den Verhält-
nissen der Satzbildung erfaßt werden — denn wenn der Satz als Ganzes
der eigentliche Träger des sprachlichen „Sinnes" ist, so werden auch an
ihm erst die logischen Nuancierungen dieses Sinnes deutlich hervortreten
können. Jeder Satz, auch der sogen, eingliedrige, stellt schon in seiner
Form wenigstens die Möglichkeit einer inneren Gliederung dar und ent-
hält die Forderung einer solchen Gliederung. Aber diese kann sich nun
in sehr verschiedenen Graden und Stufen vollziehen. Bald kann die Kraft
zur Synthese die der Analyse überwiegen — bald kann umgekehrt die
analytische Kraft der Sonderung zu einer relativ hohen Ausbildung ge-
langt sein, ohne daß ihr eine gleich starke Kraft zur Zusammenfassung
entspricht. In der dynamischen Wechselwirkung und in dem Wettstreit
1 Das Material hierfür ist in Grimms Deutschem Wörterbuch V, Sp. 5ooff. (s. v.
„keit") zusammengestellt. Ganz ähnliche Prozesse einer „mißverständlichen" Bildung
von Suffixen finden sich auch in andern Sprachkreisen, vgl. z.B. Simonyi, Die unga-
rische Sprache, S. 276t.
280
beider Kräfte entsteht das, was man die „Form" jeder bestimmten
Sprache nennt. Betrachtet man etwa die Form der sogen, „polysynthe-
tischen" Sprachen, so scheint hier der Trieb zur Verknüpfung bei weitem
vorzuherrschen — ein Trieb, der sich vor allem in dem Bestreben aus-
drückt, die funktionale Einheit des sprachlichen Sinnes auch material
und äußerlich in einer zwar sehr komplexen, aber in sich geschlossenen
Lautfügung darzustellen. Das Ganze des Sinnes wird in ein einziges
Satz-Wort zusammengedrängt, in dem es nun gleichsam eingekapselt und
wie von einer festen Schale umschlossen erscheint. Aber eben diese Ein-
heit des Sprachausdrucks ist insofern noch nicht echte gedankliche Ein-
heit, als sie nur auf Kosten der logischen Allgemeinheit eben dieses
Ausdrucks gewonnen werden kann. Je mehr modifizierende Bestim-
mungen das Satzwort durch Einverleibung von ganzen Worten oder von
einzelnen Partikeln in sich aufnimmt, um so mehr dient es der Bezeich-
nung einer besonderen konkreten Situation, die es in all ihren Einzelheiten
auszuschöpfen sucht, die es aber mit anderen gleichartigen nicht zu einem
umfassenden generellen Zusammenhang verknüpft1. Demgegenüber stellt
sich z. B. in den flektierenden Sprachen ein ganz anderes Verhältnis der
beiden Grundkräfte der Analysis und Synthesis, der Sonderung und Ver-
einigung dar. Hier enthält schon die Worteinheit selbst gleichsam eine
innere Spannung und die Ausgleichung und Überwindung derselben. Das
Wort baut sich aus zwei deutlich getrennten, zugleich aber unlöslich mit-
einander verknüpften und auf einander bezogenen Momenten auf. Einem
Bestandteil, der rein der objektiven Bezeichnung des Begriffs dient, steht
hier ein anderer gegenüber, der lediglich die Funktion erfüllt, das Wort in
eine bestimmte Kategorie des Denkens zu versetzen, es als „Substan-
tivum", „Adjektivum" oder „Verbum" oder als „Subjekt" oder näheres
oder entfernteres Objekt zu kennzeichnen. Jetzt tritt der Beziehungsindex,
kraft dessen das einzelne Wort mit der Gesamtheit des Satzes verknüpft
wird, nicht mehr äußerlich an das Wort heran, sondern er verschmilzt
mit ihm und wird zu einem seiner konstitutiven Elemente2. Die Diffe-
1 Vgl. hrz. was oben (S. 257 f.) über die Form der „Begriffsbildung" in den amerikan.
Sprachen ausgeführt wurde, s. auch S. 23o,ff.
2 Daß übrigens dieser Prozeß selbst wieder sehr verschiedene Grade und Stufen zu-i
läßt, und daß in dieser Hinsicht eine scharfe und absolute Grenzscheide zwischen den
flektierenden und den sogen, agglutinierenden Sprachen nicht besteht, ist schon von
Boethlingk in seiner Darstellung des Jakutischen (i85i) betont worden. Boethlingk
hebt hervor, daß zwar in den indogermanischen Sprachen im allgemeinen „Stoff" und
„Form" weit inniger als in den sogen, agglutinierenden verbunden seien, daß aber in
einigen Gliedern der ural-altaischen Sprachen, namentlich im Finnischen und Jaku-
28l
rentiation zum Wort und die Integration zum Satz bilden korrelative Me-
thoden, die sich zu einer einzigen streng einheitlichen Leistung zusam-
menschließen. Humboldt und die ältere Sprachphilosophie haben in die-
sem Sachverhalt den Beweis dafür gesehen, daß die echten Flexions-
sprachen den Gipfel der Sprachbildung überhaupt darstellen und daß sich
in ihnen, und nur in ihnen, die „rein gesetzmäßige Form" der Sprache
in idealer Vollkommenheit auspräge. Aber auch wenn man sich gegen die
Aufstellung derartiger ahsoluter Wertmaßstäbe zurückhaltender und
skeptischer verhält, so ist doch unverkennbar, daß für die Ausbildung des
rein bezieh entlichen Denkens in den Flexionssprachen in der Tat ein
außerordentlich wichtiges und wirksames Organ geschaffen ist. Je mehr
dieses Denken fortschreitet, um so bestimmter muß es auch die Gliede-
rung der Rede nach sich gestalten, — wie andererseits eben diese Gliede-
rung selbst wieder auf die Form des Denkens entscheidend zurückwirkt. —
Und der gleiche Fortschritt zur immer schärferen Gliederung, der gleiche
Fortgang von der Einheit eines bloßen Aggregats zur Einheit einer systema-
tischen „Form" zeigt sich, wenn man statt des Verhältnisses des Wortes zum
Satz die sprachliche Verknüpfung der Einzelsätze selbst ins Auge faßt. Inden
ersten Etappen der Sprachbildung, zu denen wir psychologisch zurückgehen
können, bildet die einfache Parataxe die Grundregel für den Bau des
Satzes. Die Kindersprache zeigt sich durchgehend von diesem Prinzip
beherrscht1. Ein Satzglied reiht sich an das andere in bloßer Nebenord-
nung, und auch wo mehrere Sätze zusammentreten, weisen sie nur eine
lockere, meist asyndetische Verbindung auf. Die einzelnen Sätze können,
wie an einer Schnur aufgereiht, einander folgen, aber sie sind noch
nicht, innerlich miteinander verkettet und ineinander „gefügt", so-
fern zunächst keinerlei sprachliches Mittel besteht, um ihre Über- und
Unterordnung in scharfer Differenzierung zu bezeichnen. Wenn daher
die griechischen Grammatiker und Rhetoren das Kennzeichen des Stils
der Rede in der Entwicklung der Periode sahen, in welcher die Sätze nicht
in unbestimmter Folge nacheinander hinlaufen, sondern in der sie sich
gleich Steinen eines Gewölbes gegenseitig tragen und stützen2, so ist dieser
tischen, beide keineswegs so äußerlich aneinanderkleben, wie vielfach angenommen wor-
den sei. Auch hier finde vielmehr eine stetige Entwicklung zur „Formbildung" statt,
die sich in verschiedenen Sprachen, z.B. im Mongolischen, im Türkisch-Tatarischen und
im Finnischen in ganz verschiedenen Phasen darstelle. (Die Sprache der Jakuten, Einl.,
S. XXIV; vgl. bes. Heinr. Winkler, Das Uraltaische und seine Gruppen, S. 44ff->
über die „Morphologie" der ural-altaischen Sprachen.)
1 Vgl. Gl. und W. Stern, Die Kindersprache, S. 182 ff.
2 Demetrius, De elocutione, § 11 — 13 (cit. bei Humboldt, W. VII, 223).
282
„Stil" der Sprache erst ihr letztes und höchstes Produkt. Er fehlt nicht
nur den Sprachen der Naturvölker1, sondern scheint auch in den höchst
entwickelten Kultursprachen nur ganz allmählich gewonnen zu werden.
Auch hier muß sehr häufig ein komplexes gedankliches Verhältnis kau-
saler oder teleologischer Art — ein Verhältnis von Grund und Folge, von
Bedingung und Bedingtem, von Zweck und Mittel u. s. f. — durch ein-
fache Koordination wiedergegeben werden. Oft dient eine absolute Satz-
fügung, vergleichbar dem lateinischen Ablativus absolutus oder dem grie-
chischen Genetivus absolutus, dazu, solche komplexen Beziehungen des
„indem" und „nachdem", des „weil" und „daher", des „obgleich" und„da-
mit" anzudeuten. Die einzelnen Gedanken, die die Rede konstituieren, liegen
hier sprachlich gleichsam noch in einer Ebene: es gibt noch keine per-
spektivische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund in der
Rede selbst2. Die Sprache beweist die Kraft der Unterscheidung und Glie-
1 Belege für die Vorherrschaft der Parataxe in den Sprachen der Naturvölker lassen sich
den Darstellungen der meisten Negersprachen und der amerikanischen Eingeborenen-
sprachen entnehmen. Für die ersteren s. z.B. Steinthal, Die Mande-Negersprachen,
S. i2off., 2^7ff. und Roehl, Schambalasprache, S. 27; für die letzteren s. Gatschet,
Klamath language, S. 656ff. Im Ewe werden — nach Westermann, Ewe-Grammat.
S. 106 — alle abhängigen Nebensätze, wenn sie vor dem Hauptsatze stehen, mit dem
Artikel lä abgeschlossen; sie werden also eigentlich als Satzteile, nicht als Sätze ange-
sehen. In der Nubasprache werden die Nebensätze wie Nomina behandelt und er-
scheinen daher mit denselben Kasusbezeichnungen wie die Nennwörter (Reinisch,
Nuba-Sprache, S. 1/42).
2 Besonders charakteristische Belege hierfür scheinen sich im Kreise der finnisch-
ugrischen und der altaischen Sprachen zu finden. Vom Satzbau dieser Sprachen sagt
H. Winkler, daß in ihm ursprünglich für Nebensätze aller Art überhaupt kein Raum
sei, weil das ganze Satzgefüge ein adnominalartiger, geschlossener, einheitliche?, wort-
artiger Komplex sei oder lediglich die lückenlose Verbindung eines subjektartigen Teils
mit einem prädikatartigen darstelle. In beiden Fällen trete alles nach unserer Auffas-
sung Nebensächliche, wie die zeitlichen und örtlichen, die begründenden und konditionalen
Bestimmungen zwischen die beiden einzig wesentlichen Teile des Satzes oder Satzwortes.
„Das ist keine Fiktion, sondern das ist noch fast unverkennbar das eigentliche Wesen
des Satzes in den meisten uralaltaischen Zweigen, so im Mongolischen, Tungusischen,
Türkischen und Japanischen . . . Das Tungusische . . . macht den Eindruck, als ob in
diesem eigentümlich herausgebildeten Idiom für alles, was an relative oder relativ-
artige Bindung erinnert, überhaupt kein Raum sei. Im Wotjakischen erscheint unser
indogermanischer konjunktionaler Nebensatz gleichmäßig und regelmäßig in der Ge-
stalt einer dem Satzgefüge eingereihten Nebenbestimmung nach Art der indogerma-
nischen sogen, absoluten Genitive, Ablative, Akkusative." (Der ural-altaische Sprach-
stamm, S. 85f., i07ff.) Auch im Chinesischen ist es — nach G. v. d. Gabelentz,
Chines. Grammatik S. 168 f. — eine häufige Erscheinung, daß ganze Sätze einfach an-
einandergereiht werden und daß lediglich dem Zusammenhange zu entnehmen ist, ob man
ein zeitliches oder ursächliches, ein relatives oder konzessives Verhältnis zu denken habe.
283
derung im „Beisammen" der Teile des Satzes; aber sie gelangt nicht dazu,
dieses rein statische Verhältnis auf ein dynamisches, auf ein Verhältnis
der wechselseitigen gedanklichen Abhängigkeit zurückzuführen und es als
solches zur expliziten Darstellung zu bringen. Statt der Schichtung und
der genauen Abstufung in Nebensätze dient etwa eine einzige Gerundial-
konstruktion dazu, eine Fülle der verschiedenartigsten Bestimmungen und
Modifikationen der Handlung ohne das allgemeine Gesetz der Beiord-
nung zu verlassen, mit einander zusammenschließen und sie in einem
festen, aber auch eigentümlich starren Gefüge zu umfassen1.
Ihren negativen, aber nicht minder charakteristischen Ausdruck findet
die Gedanken- und Sprachform, die sich hierin ausprägt, in dem Fehlen
derjenigen Wortklasse, die — wie schon die Bezeichnung besagt, die die
Grammatiker für sie geschaffen haben — als eines der Grundmittel des
beziehentlichen Denkens und des sprachlichen Beziehungsausdrucks anzu-
sehen ist. Das Pronomen relativum scheint in der Entwicklung der
Sprache überall eine späte, und wenn man die Gesamtheit der Sprachen
überblickt, eine verhältnismäßig seltene Bildung darzustellen. Bevor die
Sprache zu dieser Bildung fortgeschritten ist, müssen die Verhältnisse,
die wir durch Relativsätze zum Ausdruck bringen, durch mehr oder min-
der komplexe Satzfügungen ersetzt und umschrieben werden. Verschiedene
Methoden dieser Umschreibung hat Humboldt am Beispiel der ameri-
kanischen Eingeborenensprachen, insbesondere am Beispiel des Peru-
anischen und Mexikanischen, erläutert2. Auch die melanesischen Spra-
chen lassen an Stelle der Unterordnung durch Relativsätze und relative
1 Höchst markante Beispiele für derartige Satzfügungen werden z. B. von J. J. Schmidt
in seiner „Grammatik der mongolischen Sprache" (bes. S. 62 ff., i2 4ff.) angeführt.
Ein Satz wie unser deutscher Satz: „Nachdem ich das Pferd von meinem älteren Bru-
der erbeten und es meinem jüngeren Bruder übergeben hatte, nahm dieser dasselbe von
mir in Empfang, bestieg es, während ich ins Haus ging, um einen Strick zu holen, und
entfernte sich, ohne Jemandem etwas zu sagen" lautet im Mongol. so, daß er, wörtlich
übersetzt besagt: „Ich das Pferd von meinem älteren Bruder erbittend nehmend, meinem
jüngeren Bruder gegeben habend, dieser dasselbe von mir empfangend, einen Strick zu
holen in das Haus (während) ich ging, der jüngere Bruder, Jemandem ohne etwas zu
sagen, es besteigend sich entfernte." (Hierbei ist noch — wie H. Winkler a.a.O.,
S. 112 bemerkt — durch das Wort ,während' in der Übersetzung ein konjunktionales
Verhältnis eingeflochten, wo die entsprechende Stelle des Textes keinerlei Konjunktion
aufweist.) Ähnliche, ebenfalls sehr bezeichnende Beispiele der Satzkonstruktion durch
Anwendung der Gerundia, Supina und partizipialähnlicher Bildungen werden von J.
J. Schmidt z.B. aus dem Tibetanischen angeführt (Tibet. Grammat., S. 197).
2 S. Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 2Ö3f.). Auch die Klamath-Sprache gebraucht
dort, wo wir eingeschobene Relativsätze anwenden, einen Partizipial- oder Verbalaus-
druck, s. Gatschet, Klamath language, S. 657.
284
Pronomina eine einfache Nebenordnung von Bestimmungen treten1. Was
das Ural-Altaische betrifft, so betont H. Winkler, daß es gemäß seinem
Grundcharakter, der selbständige Nebeneinheiten nicht duldet, in all
seinen Zweigen relativartige satzbindende Konjunktionen ursprünglich
überhaupt nicht oder nur in schwachen Ansätzen kenne — wo später
solche Konjunktionen gebraucht würden, da gingen sie regelmäßig, wenn
nicht immer, auf reine Interrogativa zurück. Insbesondere die westliche
Gruppe des Ural-Altaischen, die Gruppe der finnisch-ugrischen Sprachen,
ist zu dieser Entwicklung der relativen Pronomina aus dem Interrogativum
fortgeschritten, bei der jedoch vielfach indogermanische Einflüsse als mit-
wirkend angesehen werden2. In anderen Sprachen wieder werden zwar
durch besondere Partikel selbständige Relativsätze gebildet, dabei werden
sie aber so gänzlich als substantivische Nomina empfunden, daß ihnen der
bestimmte Artikel vorangestellt wird, oder daß sie als Subjekt oder Objekt
eines Satzes, als Genitiv, nach einer Präposition u. s. f. gebraucht werden
können3. In all diesen Erscheinungen scheint deutlich hervorzutreten,
wie die Sprache die reine Kategorie der Relation gleichsam nur zögernd
ergreift und wie sie ihr nur auf dem Umweg über andere Kategorien,
insbesondere über die der Substanz und der Eigenschaft4, gedanklich faß-
bar wird. Und dies gilt selbst für diejenigen Sprachen, die in ihrer Ge-
samtstruktur den eigentlichen „Stil" der Rede, die Kunst der hypotak-
tischen Gliederung schließlich bis zur höchsten Feinheit durchgebildet
haben. Auch die indogermanischen Sprachen, von denen man ge-
sagt hat, daß sie, dank ihrer erstaunlichen Fähigkeit zur Differenzie-
rung des Beziehungsausdrucks, die eigentlichen Sprachen des philo-
sophischen Idealismus seien, haben diese Fähigkeit nur allmählich und
schrittweise erlangt5. Auch in ihnen zeigt z. B. ein Vergleich zwischen
1 Beispiele bes. bei H. G. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen I, 202f., 232f.,
II, 28; Codrington, Melanes. languages, S. i36.
2 S. Winkler, Der Uralaltaische Sprachstamm, S. 86ff., o,8f., noff.; vgl. auch
Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 257, 423.
3 Vgl. Steindorff, Koptische Grammatik, S. 227ff; — auch in den semitischen Spra-
chen ist die „Substantivierung asyndetischer Relativsätze" häufig, s. hierüber Brockel-
mann, Grundriß II, 56iff.
4 So besitzt z. B. das Japanische (nach Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 99)
keine Relativsätze, sondern muß sie in adjektivische Sätze verwandeln; ähnliches gilt
für das Mongolische, vgl. J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 47f-,
I27f .
5 „Les langues de cette famille semblent creees pour l'abstraction et la metaphisique.
Elles ont une souplesse merveilleusse pour exprimer les relations les plus intimes des
choses par les flexions de leurs noms, par les temps et les modes si varies de leurg
285
dem Bau des Griechischen und dem des Sanskrit, wie die einzelnen Glie-
der dieser Gruppe in Hinsicht auf die Kraft und Freiheit des beziehent-
lichen Denkens und des rein beziehentlichen Ausdrucks, auf ganz ver-
schiedenen Stufen stehen. In der Urzeit scheint auch hier die Hauptsatz-
form gegenüber der Nebensatzform, die parataktische gegenüber der hy-
potaktischen Verbindung deutlich den Vorrang zu behaupten. Wenn diese
Urzeit bereits Relativsätze besaß, so hat ihr doch, nach dem Zeugnis der
Sprachvergleichung, ein fester Bestand scharf gegeneinander abgegrenzter
Konjunktionen zum Ausdruck des Grundes, der Folge, der Anreihung,
des Gegensatzes u. s. f. noch gemangelt1. Im Altindischen fehlen die Kon-
junktionen als eine fest ausgeprägte Wortklasse fast gänzlich: was an-
dere Sprachen, vor allem das Lateinische und Griechische durch subordi-
nierende Konjunktionen zum Ausdruck bringen, wird hier durch das in
seinem Gebrauch fast unumschränkte Prinzip der Nominalkomposition
und durch Erweiterungen des Hauptsatzes durch Partizipien und Ge-
rundien ersetzt2. Aber auch im Griechischen selbst hat sich der Fortgang
von dem parataktischen Bau der Homerischen Sprache zu dem hypotak-
tischen der attischen Kunstprosa nur allmählich vollzogen3. In alledem
bewährt sich, daß dasjenige, was Humboldt den Akt des selbsttätigen,
des synthetischen Setzens in den Sprachen genannt hat, und was er,
außer im Verbum, besonders im Gebrauch der Konjunktionen und des
Relativpronomens ausgeprägt sah, eines der letzten ideellen Ziele der
Sprachbildung ist, zu dem sie nur durch mannigfaltige Vermittlungen
gelangt.
In besonderer Schärfe und Deutlichkeit stellt sich dies schließlich in
verbes, par leurs mots composes, par la delicatesse de leurs particules. Possedant seules
l'admirable secret de la periode elles savent relier dans un tout les membres divers de
la phrase . . . Tout devient pour elles abstraction et categorie. Elles sont les langues de
l'idealisme." Renan, De l'origine du langage 8, S. ip,4-
1 „Die Relativsätze" — sagt Meillet, Introduct. ä l'etude comparative des langues indo-
europeennes, dtsch. Ausg. von Printz, S. 23i — „sind die einzigen subordinierten
Sätze, die man füglich als idg. ansehen darf. Die anderen Typen, namentlich die Kon-
ditionalsätze, haben in jedem idg. Dialekt eine andere Form." Etwas anders wird das
Verhältnis von Brugmann gefaßt, der die mangelnde Übereinstimmung daraus er-
klärt, daß konjunktionale Partikel in der Urzeit zwar vorhanden gewesen seien, daß sie
aber in ihr noch einen weiteren Gebrauchsbereich gehabt hätten und noch nicht als
Ausdruck für ein bestimmtes einzelnes Gedankenverhältnis fixiert gewesen seien (Kurze
vgl. Grammat. S. 653).
2 Beispiele s. bei Whitney, Ind. Grammatik, S. 3g4f - und bei Thumb, Handbuch
des Sanskrit, S. 434, 47&ff.
3 Näheres bei Brugmann, Griech. Grammat.3, S. 555f.
286
der Ausgestaltung derjenigen Sprachform dar, die sich ihrer Grundbe-
deutung nach von allem dinglich-substantiellen Ausdruck prinzipiell schei-
det, um lediglich dem Ausdruck der Synthesis als solcher, dem Aus-
druck der reinen Verknüpfung zu dienen. Im Gebrauch der Kopula erst
gewinnt die logische Synthesis, die sich im Urteil vollzieht, ihre adäquate
sprachliche Bezeichnung und Bestimmung. Schon die „Kritik der reinen
Vernunft" hat sich in ihrer Analyse der reinen Urteilsfunktion auf die-
sen Zusammenhang hingewiesen gesehen. Das Urteil bedeutet für sie die
„Einheit der Handlung", durch welche das Prädikat auf das Subjekt be-
zogen und mit ihm zu einem Sinnganzen, zur Einheit eines objektiv be-
stehenden und objektiv gegründeten Zusammenhangs verknüpft wird. Und
diese intellektuelle Einheit der Handlung ist es nun, die in der sprach-
lichen Verwendung der Kopula ihre Darstellung und ihr Gegenbild findet.
„Wenn ich die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile ge-
nauer untersuche — so heißt es in dem Abschnitt über die transzendentale
Deduktion der reinen Verstandsbegriffe — und sie, als dem Verstände
angehörige, von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Ein-
bildungskraft (welches nur subjektive Gültigkeit hat) unterscheide, so
finde ich, daß ein Urteil nichts andres sei als die Art gegebene Erkennt-
nisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen. Darauf zielt
das Verhältniswörtchen „ist" in denselben, um die objektive Einheit ge-
gebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden. Denn dieses
bezeichnet die Beziehung derselben auf die ursprüngliche Apperzeption
und die notwendige Einheit derselben." Sage ich: ,der Körper ist
schwer', so will dies soviel sagen, als daß Körperlichkeit und Schwere im
Objekt miteinander verbunden seien und nicht etwa bloß in der subjek-
tiven Wahrnehmung jederzeit beisammenstehen1. So eng stellt sich selbst
für den reinen Logiker Kant die Beziehung dar, die zwischen dem objek-
tiven Sinn des Urteils und der sprachlichen Form der prädikativen Aus-
sage besteht. Für die Entwicklung der Sprache aber ist freilich klar, daß
sie zu der Abstraktion jenes reinen Seins, das sich in der Kopula aus-
drückt, nur ganz allmählich vordringen kann. Der Ausdruck des „Seins"
als einer reinen transzendentalen Beziehungsform ist für sie, die ur-
sprünglich ganz in der Anschauung des substantiellen, des gegenständ-
lichen Daseins steht und an sie gebunden bleibt, immer erst ein spätes
und mannigfach-vermitteltes Ergebnis. So zeigt sich in einer großen Zahl
von Sprachen, daß sie eine Kopula, in unserem logisch-grammatischen
Sinne, überhaupt nicht kennen und daß sie ihrer nicht bedürfen. Ein ein-
1 S. Krit. d. rein. Vern., zweite Aufl., S. i/jiff.
287
heitlicher und allgemeiner Ausdruck dessen, was in unserm „Verhältnis-
wörtchen ist" bezeichnet wird, fehlt nicht nur den Sprachen der Natur-
völker — wie den meisten Negersprachen, den Sprachen der amerika-
nischen Eingeborenen u. s. f. — sondern er ist auch in anderen hochent-
wickelten Sprachen nicht zu finden. Selbst dort, wo eine Unterscheidung
des prädikativen Verhältnisses vom rein attributiven vorhanden ist, braucht
das erstere keine besondere sprachliche Auszeichnung zu erfahren. So
wird z. B. im ural-altaischen Kreis die Verbindung des Subjektsausdrucks
mit dem Prädikatsausdruck fast durchweg durch einfache Nebenein-
anderfügung beider vollzogen, so daß ein Ausdruck wie ,die Stadt groß',
„die Stadt ist groß*', ein Ausdruck wie ,ich Mann' „ich bin ein Mann"
besagt u.s. f.1. In andern Sprachen begegnen zwar vielfach Wendungen,
die auf den ersten Blick ganz dem Gebrauch unserer Kopula zu ent-
sprechen scheinen, die aber in Wahrheit hinter der Allgemeinheit ihrer
Funktion weit zurückbleiben. Das „Ist" der Kopula hat hier, wie sich
bei näherer Analyse ergibt, nicht den Sinn eines universellen, der Ver-
knüpfung schlechthin dienenden Ausdrucks, sondern es haftet ihm eine
besondere und konkrete, meist eine örtliche oder zeitliche Nebenbedeutung
an. Statt des rein beziehentlichen Seins findet sich ein Ausdruck, der die
Existenz an diesem oder jenem Ort ein Da- oder Dort-sein oder auch
die Existenz in diesem oder jenem Moment bezeichnet. Demgemäß tritt
hier eine Differenzierung im Gebrauch der scheinbaren Kopula je nach
der verschiedenen räumlichen Lage des Subjekts oder nach sonstigen an-
schaulichen Modifikationen, mit denen es gegeben ist, ein — so daß also
eine andere „Kopula" verwendet wird, wenn das Subjekt, von dem die
Rede ist, steht, als wenn es sitzt oder liegt, eine andere, wenn es wacht, als
wenn es schläft u.s. f.2. An die Stelle des formalen Seins und des for-
1 Vgl. H. Winkler, Der uralaltaische Sprachstamm, S. 68 f.; für die finnisch-ugrischen
Sprachen s. z.B. Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 4o3f.
2 Beispiele hierfür finden sich insbesondere in den amerikanischen Sprachen: so fehlt
z.B. den Algonkinsprachen ein allgemeines Verbum des „Seins", während sie eine große
Zahl von Worten besitzen, die das Sein an diesem oder jenem Ort, zu dieser oder jener Zeit
oder unter dieser oder jener besonderen Bedingung bezeichnen. In der Klamath-Sprache ist
das Verbum (gi), das als Ausdruck des kopulativen Seins verwendet wird, in Wahrheit eine
demonstrative Partikel, die ein Da- oder Dort-sein ausdrückt. (Näheres bei Gatschet,
Klamath language, S. A3off., 67/if. und bei Trumbull, Transactions of the Americ.
Philol.-Assoc. 1869/70). Auch die Indianersprachen der Maya-Familie verwenden in
der prädikativen Aussage bestimmte Demonstrativpartikel, die z. B. mit Tempuszeichen
verbunden werden können und dann ganz den Anschein eines echten Verbum substan-
tivum gewinnen. Doch entspricht keine dieser Partikel dem allgemeinen und rein
beziehentlichen Ausdruck des Seins: vielmehr fallen die einen unter den Nominal-
288
malen Sinns der Verknüpfung treten hier also immer mehr oder weniger
material gefaßte Ausdrücke, die noch gleichsam die Farbe einer ein-
zelnen sinnlich-gegebenen Wirklichkeit an sich tragen1.
Und auch dort, wo die Sprache bereits dazu fortgeschritten ist, alle
diese Sonderbestimmungen der Existenz in einen allgemeinen Seinsaus-
druck zusammenzufassen, bleibt noch immer der Abstand fühlbar, der
zwischen jedem noch so umfassenden Ausdruck des bloßen Daseins
und dem „Sein" als Ausdruck der reinen prädikativen „Synthesis" be-
steht. Hier spiegelt die Sprachentwicklung ein Problem wieder, das weit
über ihren eigenen Umkreis hinausreicht, und das noch in der Geschichte
des logischen und philosophischen Denkens eine entscheidende Rolle ge-
spielt hat. Deutlicher als an irgend einem andern Punkte läßt sich hier
erkennen, wie dieses Denken sich zwar mit der Sprache, aber zugleich
immer auch gegen sie entwickelt. Von den Eleaten an läßt sich das große
Ringen verfolgen, das der philosophische Idealismus mit der Sprache und
mit der Vieldeutigkeit ihres Seinsbegriffs zu führen hat. Mit der reinen
Vernunft den Streit um das wahre Sein zu entscheiden — das war die
scharf bestimmte Aufgabe, die Parmenides sich stellte. Aber ist dieses
wahrhafte Sein der Eleatik rein im Sinn des logischen Urteils gegründet,
entspricht es lediglich dem eozi der Kopula, als der Grundform jeder
gültigen Aussage, — oder haftet auch ihm noch eine andere, eine kon-
kretere Urbedeutung an, durch die es der Anschauung einer „wohlgerun-
deten Kugel" vergleichbar wird? Parmenides unternimmt den Versuch,
sich ebenso wie aus den Fesseln der gewöhnlichen sinnlichen Weltansicht
auch aus den Fesseln der Sprache zu lösen. „Darum — so verkündet er —
begriff: „gegeben, gesetzt, vorhanden", während andere die Lage an einem bestimmten
Ort oder das Geschehen zu einer bestimmten Zeit andeuten. (Vgl. Seier, Das Konju-
gationssystem der Maya-Sprachen, S. 8 und i4-) Eine analoge Besonderung findet sich
in den melanesischen Sprachen und in vielen afrikanischen Sprachen. „Ein eigentliches
Verbum substantivum — so sagt z.B. H. C. v. d. Gabelentz — fehlt im Fidschi;
zuweilen kann es durch yaco geschehen, werden, tu da sein, vorhanden sein, tiko da sein,
dauern usw. gegeben werden, doch immer mit einer dem eigentlichen Begriff dieser
Verba entsprechenden Nebenbedeutung." (Die melanes. Sprachen, S. l\o; vgl. bes.
S. 106.) Für die afrik. Sprachen vgl. z.B. die verschiedenen Ausdrücke für das Ver-
bum substantivum die Migeod (Mende Language, S. 7Öff.) aus den Mande-Neger-
sprachen und die Westermann (Ewegrammat., S. 70) aus dem Ewe anführt.
1 So bleibt z. B. im Nikobarischen das Sein der bloß kopulativen Verknüpfung
stets unausgedrückt: das „Verbum substantivum" hat hier stets den Sinn des Daseins,
des Existierens und Vorhandenseins, insbesondere des Daseins an einem bestimmten
Orte, s. Roepstorff, A Dictionary of the Nancowry Dialect of the Nicobarese lan-
guage, Calcutta i884, S. XVII, XXIVf.
19
289
ist all das bloßer Name, was die Sterblichen in der Überzeugung, es sei
wahr, festgelegt haben: nämlich Werden und Vergehen, Sein- und zu-
gleich Nicht-Sein, wie Veränderung des Orts und Wechsel der leuch-
tenden Farbe." Und doch ist auch er im Ausdruck seines höchsten Prin-
zips noch einmal der Gewalt der Sprache und der schillernden Vielfältig-
keit ihres Seinsbegriffs erlegen. In der Eleatischen Grundformel, in dem
Satz : sott xö elvai gehen die verbale und die substantivische, die prädi-
kative und die absolute Bedeutung des Seins unmittelbar in einander über.
Auch Pia ton ist hier erst nach langen gedanklichen Kämpfen, die sich
am deutlichsten in dem nach Parmenides benannten Dialog widerspiegeln,
zu einer schärferen Scheidung gelangt. Im „Sophistes", der diese Kämpfe
abschließt, wird zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie die lo-
gische Natur der reinen Relationsbegriffe klar herausgearbeitet und das
eigentümliche, das spezifische „Sein", das ihnen zukommt, bestimmt.
Von dieser neu gewonnenen Einsicht aus kann Piaton der gesamten
früheren Philosophie entgegenhalten, daß sie das Prinzip des Seins ge-
sucht habe, aber statt den wahren und radikalen Ursprung des Seins
immer nur einzelne seiner Arten, immer nur bestimmte Formen des
Seienden aufgewiesen und zur Grundlage gemacht habe. Aber selbst mit
dieser prägnanten Formulierung ist der Gegensatz, der sich im Begriff
des Seins birgt, nicht aufgehoben, sondern erst scharf bezeichnet. Durch
die Geschichte des gesamten mittelalterlichen Denkens geht fortan dieser
Gegensatz hindurch. Die Frage, wie die beiden Grundarten des Seins,
wie „Essenz" und „Existenz" gegeneinander abzugrenzen und wie sie
trotz dieser Abgrenzung miteinander zu vereinen sind, wird zu einem Zen-
tralproblem der mittelalterlichen Philosophie. Im ontologischen Gottesbe-
weis, als dem spekulativen Mittelpunkt der mittelalterlichen Theologie
und Metaphysik, erfährt diese Frage ihre schärfste Zuspitzung. Aber auch
die moderne kritische Form des Idealismus, die auf den „stolzen Namen
einer Ontologie" verzichtet, um sich mit dem bescheidenen einer „Ana-
lytik des reinen Verstandes" zu begnügen, sieht sich immer wieder in die
Mehrdeutigkeit des Seinsbegriffs verstrickt. Noch nach der Kantischen
Kritik des ontologischen Beweises hält es Fichte für erforderlich, aus-
drücklich auf den Unterschied des prädikativen und des absoluten Seins
hinzuweisen. Indem er in der „Grundlage der gesamten Wissenschafts-
lehre" den Satz A ist A als den ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz
aller Philosophie aufstellt, fügt er hinzu, daß in diesem Satz, in welchem
das „Ist" lediglich die Bedeutung der logischen Kopula habe, über die Exi-
stenz oder Nicht-Existenz des A nicht das Geringste ausgesagt werde. Das
290
Sein ohne Prädikat gesetzt drücke ganz etwas anderes aus als sein mit einem
Prädikate : der Satz „A ist A" behaupte nur, wenn A sei, so sei A; dagegen
sei in ihm davon, ob überhaupt A sei oder nicht, gar nicht die Frage1. —
Wenn in dieser Weise selbst das philosophische Denken beständig mit
der Unterscheidung zweier Seinsbegriffe zu ringen hat, — so ist es be-
greiflich, daß im sprachlichen Denken beide von Anfang an nur in eng-
ster Verflechtung miteinander auftreten, und daß es nur ganz allmäh-
lich gelingt, den reinen Sinn der Kopula aus dieser Verflechtung heraus-
zulösen. Daß die Sprache ein und dasselbe Wort benutzt, um den Be-
griff der Existenz und um den der prädikativen Verbindung zu bezeichnen,
ist eine weit verbreitete, nicht auf einzelne Sprachstämme beschränkte Er-
scheinung. Um hier nur das Indogermanische zu betrachten, so zeigt sich
in ihm überall, daß die mannigfachen Bezeichnungen, die es zur Darstel-
lung des prädikativen Seins verwendet, sämtlich auf die Urbedeutung des
„Daseins" zurückgehen: sei es, daß dieses letztere in ganz allgemeinem
Sinne, als bloßes Vorhandensein, sei es, daß es in einem besonderen und
konkreten Sinne, als Leben und Atmen, als Wachsen und Werden, als
Dauern und Verweilen gefaßt wird. ,,Die Kopula" — so sagt Brug-
mann hierüber — „war ursprünglich ein Verbum mit anschaulicher Be-
deutung (die Grundbedeutung von *es-mi 'ich bin' ist unbekannt, die
älteste belegbare ist 'ich existire') und das Substantiv oder Adjektiv war
Apposition zum Subjekt, die mit dem Prädikatsverbum in innere Be-
ziehung gesetzt war (die Erde ist eine Kugel = die Erde existiert als
Kugel). Das sogen. Herabsinken des Verbums zur Kopula geschah da-
durch, daß der Nachdruck auf das Prädikatsnomen rückte, so daß es auf
den Vorstellungsinhalt des Verbums nicht mehr ankam und dieser sich
verflüchtigte. Das Verbum wurde so bloßes Formwort . . . Als Kopula
fungierte in uridg. Zeit sicher es- 'sein', daneben vielleicht auch schon
Formen von bheu- 'wachsen, werden', das sich damals mit es- suppletiv
verband1." Näher scheint die Differenzierung im Gebrauch beider Wur-
zeln so erfolgt zu sein, daß es (as) als Ausdruck der gleichmäßig fortge-
setzten Existenz gefaßt und demgemäß für die Bildung der durativen
Formen des Präsensstammes verwendet wurde, während die Wurzel bheu,
als Ausdruck des Werdens, vorzugsweise in den Zeitformen zur Anwendung
kam, welche wie der Aorist und das Perfekt ein eintretendes oder vollen-
detes Geschehen bezeichnen (vgl. z-cpV-v, jie-(pv-xa, fui)2. Die sinnliche
1 Gf. Fichte, S. W. I, Q2f.
2 S. Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 627; Curtius, Grundz. der griech. Etymo-
logie 5, S. 3o4, 375.
Grund- und Urbedeutung der letzteren Wurzel ist — im Gebrauch von
cpvco 'ich zeuge', von (pvojuac 'ich wachse* u. s. f. — im Griechischen noch
deutlich spürbar. Im Germanischen tritt neben die Wurzel bheu, die in
die Bildung des Präsensstammes (ich bin, du bist etc.) eindringt, die
Hilfswurzel ues (got. wisan, ich war etc.), die ursprünglich den Sinn des
Wohnens und Verweilens, des Dauerns und „Währens" (ahd. weren) be-
sitzt. Wieder anders hat sich die Entwicklung im Romanischen gestaltet,
in welchem der Ausdruck des Seinsbegriffs an die anschauliche Bedeu-
tung des Stehens geknüpft erscheint1. Und wie sich hier der Ausdruck
des Seins an die Vorstellung der örtlichen Beharrung und der Ruhe an-
lehnt, so lehnt sich umgekehrt der Ausdruck des Werdens an die Vorstel-
lung der Bewegung an: die Anschauung des Werdens wird aus der des
Drehens, sich Wendens entwickelt2. Auch aus der konkreten Bedeutung
des Kommens und Gehens kann sich die allgemeine des Werdens ent-
falten3. In alledem zeigt sich, daß auch diejenigen Sprachen, in denen
der Sinn für die logische Eigenart der Kopula scharf entwickelt ist, sich
in der Bezeichnung derselben zunächst nur wenig von anderen unter-
scheiden, denen dieser Sinn entweder ganz abgeht, oder die es zum min-
desten zu einem umfassenden und allgemeingültigen Ausdruck des Ver-
bum substantivum nicht gebracht haben. Auch hier kann die geistige
Form des Beziehungsausdrucks sich immer nur in einer bestimmten mate-
rialen Umhüllung darstellen, die aber schließlich so weit durchdrungen
und bewältigt wird, daß sie nicht mehr als bloße Schranke, sondern als
der sinnliche Träger eines rein ideellen Bedeutungsgehalts erscheint. —
So bewährt sich an dem allgemeinen Beziehungsausdruck, der sich
in der Kopula darstellt, die gleiche Grundrichtung der Sprache, die wir
in aller sprachlichen Gestaltung der besonderen Beziehungsbegriffe ver-
folgen konnten. Es ist dieselbe Wechselbestimmung des Sinnlichen durch
das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche, die wir auch hier wie-
derfinden — wie wir sie zuvor in der sprachlichen Darstellung der Raum-
und Zeitbeziehung, der Zahlbeziehung und der Ich-Beziehung gefunden
1 Vgl. italien. stato, franz. ete von lat. stare als Partizipialformen zu essere und etre.
Eben dieser Hilfsgebrauch des sta — ,stehen* war nach Osthoff, Vom Suppletivwesen
der idg. Sprachen, S. i5 auch der altkeltischen Sprache bekannt.
2 So hängt got. wairpan (werden) mit lat. vertere etymologisch zusammen und ebenso
geht z. B. das griechische tibIco auf eine Wurzel zurück, die im Altindischen ,sich regen,
bewegen, umherstreichen, fahren, wandern' besagt. Näheres bei Brugmann, Kurze vgl.
Grammat., S. 628 und bei Delbrück, Vgl. Syntax III, 12 ff.
3 Vgl. z. B. in den neueren Sprachen: diventare, divenire, devenir, engl, to become,
vgl. auch Humboldt, Einl. zum Kawi-Werk, W. VII, 2 18 f.
292
haben. Es liegt nahe, die innige Verflechtung, die beide Momente in der
Sprache eingehen, im sensualistischen Sinne zu deuten — und schon
Locke hat, auf Grund einer derartigen Deutung, die Sprache als einen
Hauptzeugen für seine empiristische Grundansicht der Erkenntnis in An-
spruch genommen1. Aber auch für das sprachliche Denken darf man sich,
solchen Deutungen gegenüber, auf den scharfen Unterschied berufen, den
Kant, innerhalb der Kritik der Erkenntnis, zwischen „Anheben" und „Ent-
springen" macht. Wenn in der Entstehung der Sprache Sinnliches und
Gedankliches unlöslich ineinander verflochten scheinen, so begründet
doch diese Korrelation, eben als solche, zwischen beiden kein Verhältnis
einer bloß einseitigen Abhängigkeit. Denn der intellektuelle Ausdruck
vermöchte sich nicht am sinnlichen und aus dem sinnlichen zu entwickeln,
wenn er in diesem nicht schon ursprünglich beschlossen läge; — wenn
nicht, mit Herder zu sprechen, schon die sinnliche Bezeichnung einen
Akt der „Reflexion", einen Grundakt der „Besinnung" in sich faßte. Das
Wort: jidvra fteia xal äv&Qcomva ndvxa findet daher vielleicht nirgends
eine so deutliche Bestätigung, als in der Bedeutungs- und Formenlehre
hochentwickelter Sprachen : der Gegensatz zwischen den beiden Extremen
des Sinnlichen und des Intellektuellen faßt den eigentümlichen Gehalt
der Sprache nicht, weil diese in all ihren Leistungen und in jeder Einzel-
phase ihres Fortschritts sich als eine zugleich sinnliche und intellek-
tuelle Ausdrucksform erweist.
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