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Full text of "Philosophie und Theologie im Mittelalter : die historischen Voraussetzungen des Antimodernismus"

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University  of  Toronto 


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Philosophie  und  Theologie 
im  Mittelalter 


Die  historischen  Voraussetzungen  des 
Anti-Modernismus 


von 


Dr.  Johannes  Maria  Verweyen 

Privatdozenten  für  Philosophie  an  der  Universität  Bonn 


BONN 

Verlag  von  Friedrich  Cohen 

1911. 


THE  INSTITUTE  OF  «EDIAIVAL  STUOlES 
10  ELMSLEV   PLACE 
TORONTO  6.   CAN40A. 

007131931 

^'3 


Aachener  Verlags-  und  Druckerei-Qes.,  Aachen. 


THE  »NSTIIUTE  OF  MEDIAEVAL  STUOJii 

^         10  ELMSLEy  PLACE 
TORONTt)  6,  CANADA. 


Dem  Andenken  meines  Vaters 


MOTTO:  Et  drj  Tig  e$  dgxrj?  rd  Jigayfiara  (pvöjueva 
ßXeymev,  cootieq  sv  roTg  äXXoiq  xal  iv 
jovTOig  xdXhoz   äv  övrco  d^ecoQ^oscev. 

Wenn  nun  jemand  zusehen  würde,  wie  die  Dinge  von 
Anfang  an  wachsen,  so  würde  er  auf  diese  Weise  hier 
wie  auch  sonst  die  beste  Einsicht  gewinnen. 

Aristoteles,  Po!itil<a,  1,2,  1252^24. 


In  den  leidenschaftlichen  Streit  der  Parteien  das  Licht 
der  Besonnenheit  und  des  gegenseitigen  Verständnisses 
hineinzutragen,  ist  eine  der  vornehmsten  und  praktisch 
wichtigsten  Aufgaben  der  Wissenschaft,  nicht  zum  wenigsten 
der  Philosophie. 

Diesem  Ziele  soll  auch  die  vorliegende  Arbeit  dienen, 
die  sich  auf  die  historischen  Voraussetzungen  des  so- 
genannten Antimodernismus  bezieht  und  demnach  in 
engster  Fühlung  zu  einer  vielerörterten  Tagesfrage  steht. 

BONN,  April  1911. 

Der  Verfasser. 


•V5 


Der  Erörterung  unseres  Themas  mögen  ein  paar  allgemeine 
historische  Notizen  vorangehen. 

Unter  mittelalterlicher  Weltanschauung  verstehen  wir  die 
Weltanschauung  des  christlichen  Mittelalters  in  der  Geschichte 
des  christlichen  Abendlandes.  Denn  das  christliche  Morgenland 
hat  bisher  noch  keine  mittelalterliche  Epoche  erlebt,  weil  dem 
1453  beginnenden  zweiten  Abschnitte  in  seiner  Geschichte  noch 
kein  dritter,  neuzeitlicher,  gefolgt  ist. 

Das  christliche  Mittelalter  löst  das  christliche  Altertum  ab, 
das  drei  Perioden  umfaßt:  die  apostolische  und  nachapostolische 
Zeit  (l.Jahrh.),  ferner  die  Zeit  der  Christenverfolgungen  und 
Ausbildung  einer  christlichen  Universalkirche  im  Kampfe  mit 
römischer  Kultur  und  römischem  Staat  (2.  u.  3.  Jahrh.);  end- 
lich die  Zeit  der  Entwicklung  des  kirchlichen  Lebens  unter 
römischem  Schutz  (seit  Constantin  — 325). 

Vier  Ereignisse  begründen  die  Ablösung  des  christlichen 
Altertums  durch  eine  neue  geschichtliche  Zeitperiode,  die  von 
der  vorausgehenden  nach  Schauplatz  und  Inhalt  verschieden 
ist:  die  Völkerwanderung,  insbesondere  das  Auftreten  der 
Germanen;  das  durch  letztere  herbeigeführte  Ende  des  west- 
römischen Reiches,  der  Eintritt  der  germanischen  Völkerstämme 
in  die  Kirche,  endlich  die  Tatsache,  daß  diese  aus  allen  Stürmen 
siegreich  hervorgeht  und  in  ihrer  altchristlich-lateinischen  Ge- 
stalt fortbesteht.! 

Da  nun  die  Kirche,  bereits  im  Besitze  einer  Kultur,  dem 
germanischen   Naturvolk  wenigstens  äußerlich  überlegen  war, 

^  Vgl.  die  gedrängte,  aber  inhaltreiche  Darstellung,  die  Albert 
Ehrhardt  in  seinem  Buche  „Das  Mittelalter  und  seine  kirchliche  Ent- 
wicklung" (Mainz  1908)  gibt.  (Bd.  VIII  der  von  Martin  Spahn  heraus- 
gegebenen Sammlung  „Kultur  und  Katholizismus".) 


8  Einleitung 

mußte  sie  die  Führerrolle  in  der  neuen  Periode  übernehmen. 
So  erklärt  sich  die  „Vorherrschaft  des  Klerikalismus",  durch 
die  das  Mittelalter  charakterisiert  ist:  die  Durchdringung  des 
ganzen  national-profanen  Lebens  durch  kirchlich-religiöse  Ideen; 
die  enge  Verbindung  von  Philosophie  (d.  h.  Wissenschaft 
überhaupt)  und  Theologie,  von  Staat  und  Kirche,  Papsttum 
und  Kaisertum. 

Wie  es  unmöglich  ist,  irgendein  bestimmtes  Jahr  als 
Beginn  der  mittelalterlichen  Geschichtsperiode  anzugeben  — 
jene  genannten  vier  Ereignisse,  deren  jedes  einzelne  zwar  durch 
eine  Jahreszahl  bestimmt  werden  kann,  führen  doch  erst  durch 
ein  allmähliches  Zusammenwirken  eine  neue  Epoche  herauf  — 
ebenso  unmöglich  ist  es,  den  Beginn  der  mittelalterlichen  Welt- 
anschauung bezw.  Philosophie  durch  ein  Datum  festzulegen: 
auch  hier  ist  die  neue  Periode  des  Geisteslebens  durch  all- 
mähliche Uebergänge  mit  der  vorausgegangenen  verknüpft. 

Augustin  ist  der  letzte,  der  vor  dem  Zusammenbruch  des 
Römerreiches  ein  System  der  christlichen  Weltanschauung  ent- 
wickelt. Die  nachaugustinische  Zeit  ist  infolge  der  sich  voll- 
ziehenden staatlichen  Umwälzungen  einer  Fortbildung  alter 
oder  Entdeckung  neuer  Probleme  nicht  günstig.  Die  den 
Ausgang  der  patristischen  Periode  bildenden  römischen  und 
lateinischen  Schriftsteller  erblicken  ihre  Aufgabe  hauptsächlich 
in  didaktischen  Zielen,  d.  h.  in  der  schulmäßigen  Ueberlieferung 
der  kompilatorisch  zusammengestellten  Gedanken  der  Väter  in 
Verbindung  mit  platonischen,  neuplatonischen  und  zum  Teil 
aristotelischen  Elementen.  Auch  Alkuin  ist  im  wesentlichen  nicht 
über  die  Enzyklopädie  hinausgekommen,  wenn  er  auch  in 
psychologischen  Untersuchungen  bereits  eine  gewisse  Selb- 
ständigkeit verrät  und  insofern  eine  Uebergangserscheinung 
darstellt. 

Die  in  den  Schulen  besonders  gepflegte  Dialektik  behauptet 
in  dem  Systeme  Eriugenas  eine  so  selbständige  und  eigenartige 
Stellung    gegenüber    der  Theologie,    daß    dieser   Denker   sich 


Einleitung  9 

deutlich  von  den  Männern  abhebt,  die  man  der  dritten  Periode 
der  Patristik  zurechnet. 

Johannes  Scotus  Eriugena  gilt  demnach  zumeist  als  der 
Denker,  mit  dem  die  eigentliche  scholastische  Periode  anhebt. 
Wenn  wir  im  folgenden  von  der  Bedeutung  des  Problems 
„Glauben  und  Wissen"  innerhalb  der  mittelalterlichen  Welt- 
anschauung reden,  so  verstehen  wir  dabei  unter  letzterer  lediglich 
die  philosophische  bezw.  philosophisch-theologische  Spekulation 
der  führenden  Denker  des  Mittelalters,  ohne  auf  die  praktische 
Weltanschauung  näher  einzugehen,  wie  sie  sich  im  mittelalter- 
lichen Volksleben  und  nicht  zum  wenigsten  in  den  Dichtungen 
dieser  Zeit  widerspiegelt. 

Bei  der  Gesamtdarstellung  der  mittelalterlichen  Weltan- 
schauung verfährt  man  am  besten,  indem  man  der  zeitlichen 
Reihenfolge  nach  die  Stellung  ihrer  Vertreter  zu  gewissen 
Kardinalproblemen  zu  ermitteln  sucht,  welche  die  ganze  Epoche 
bewegt  haben.  Diese  Kardinalprobleme  betreffen:  Gott  und 
Erlösung,  das  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche,  Willensfreiheit. 

Bei  einer  solchen  Untersuchung,  in  der  die  Methodik 
der  mittelalterlichen  Philosophie  durch  die  Behandlung  eines 
speziellen  Problems  beleuchtet  wird,  ^  gewinnt  man  den  Ein- 
druck, daß  alle  einzelnen  Probleme  mittelalterlicher  Weltan- 
schauung schließlich  die  Richtung  ihrer  Lösung  von  einem 
einzigen  Hauptprobleme  gewinnen,  nämlich  dem  Probleme  von 
Philosophie  und  Theologie  oder  —  was  dasselbe  ist  —  von 
Glauben  und  Wissen.  Die  mittelalterliche  Entwicklung  dieses 
Problems  in  den  wichtigsten  Grundlinien  zu  zeichnen,  soll 
der  Zweck  der  folgenden  Ausführungen  sein. 


^  Vergleiche  mein  Buch  über  „Das  Problem  der  Willensfreiheit  in 
der  Scholastik"  (Heidelberg  1909). 


10  Patristik 


I.  Die  Patristik. 

Schon  in  der  Väterzeit  treffen  wir  eine  ganz  bestimmte, 
für  die  Folgezeit  maßgebende  Lösung  unserer  Frage  an.  Nur 
einige  wichtige  Punkte  seien  hervorgehoben. 

Wenden  wir  den  BHck  zu  den  griechischen  Apologeten, 
so  begegnen  wir  zunächst  Justin,  dem  Märtyrer  (100—166). 
Bekannt  ist  der  Satz  seiner  Apologie  (I,  c46):  «Die  nach  dem 
Logos  lebten,  waren  Christen,  mochten  sie  auch  für  Atheisten 
gehalten  werden,  wie  bei  den  Griechen  Heraclit  und  Sokrates 
und  die  ihnen  Aehnlichen«.  Ein  Ausspruch,  der  das  Bestreben 
dieses  mit  griechischer  Bildung  ausgestatteten  christlichen  Apo- 
logeten zeigt,  den  Kreis  der  Zugehörigkeit  zum  Christentum 
ganz  erheblich  —  um  nicht  zu  sagen  mit  historischer  Ver- 
gewaltigung -  zu  erweitern.  Definiert  er  doch  geradezu  den 
späteren  vielgerühmten  Ausspruch  TertuUians:  anima  humana 
naturaliter  christiana  vorwegnehmend,  das  Christliche  als  das 
Allgemeinmenschliche  (Apolog.  II,  c  13).  Stoische  Einflüsse 
führen  ihn  dazu.  An  dem  Logos  spermatikos  hat  das  ganze 
Menschengeschlecht  teil.  Wie  ein  Samen  ist  die  göttliche 
Vernunft  durch  das  ganze  Weltall  verstreut,  in  allen  Menschen 
wirksam,  in  einigen  aber  ganz  besonders.  Zu  diesen  Auser- 
wählten zählen  Moses  und  die  Propheten  —  aber  auch  die 
griechischen  Denker  und  Dichter.  Freilich  haben  diese  das 
Beste  ihrer  Gedanken  dem  alten  Testamente  entlehnt,  wie 
Justin  (Apol.  I,  c44)  ausführt:  «Die  Lehre  von  der  sittlichen 
Wahlfreiheit  hat  Plato  Moses  entnommen,  wie  denn  jener  über- 
haupt das  ganze  Testament  gekannt  hat;  ferner  stammt  alles, 
was  Philosophen  und  Dichter  über  die  Unsterblichkeit  der 
Seele,  über  die  Strafen  nach  dem  Tode,  über  die  Betrachtung 


Justin  11 

der  himmlischen  Dinge  und  ähnliches  gesagt  haben,  ursprüng- 
lich von  den  jüdischen  Propheten  her;  von  hier  aus  sind 
nach  allen  Richtungen  »Samenkörner  der  Wahrheit'  {oTteg/uara 
rfjg  dh]&Eiag)  gedrungen,  wenn  auch  durch  ungenaue  Auf- 
fassung derselben  Widerstreit  unter  den  Ansichten  entstanden 
ist.«  So  besteht  nach  Justin  nicht  nur  ein  innerer,  sondern 
sogar  ein  äußerer,  freilich  von  ihm  mehr  behaupteter  als  be- 
wiesener Zusammenhang  zwischen  dem  Logos  und  den  grie- 
chischen Lehren.  Daß  er  ihnen  gegenüber  sich  freundlich 
verhält,  verdient  besondere  Beachtung.  Das  wahre  Wissen 
aber  leitet  er  dennoch  aus  einer  anderen  Quelle  ab.  Christus  — 
der  von  der  Jungfrau  Maria  geborene  Sohn  Gottes,  wie  der 
bedeutsame  Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  ausführt  —  ist 
der  Fleisch  gewordene  Logos.  Seine  Mission  war  es,  die 
„volle  Wahrheit"  zu  bringen,  und  zwar  allen  Menschen,  nicht 
bloß  wenigen  Auserwählten,  auf  die  sich  die  Denker  und  Dichter 
beschränkten.  Das  Christentum  darum  die  wahre,  die  allein 
»sichere  und  heilsame  Philosophie". 

So  läßt  bereits  Justin  Töne  erklingen,  die  in  der  Folge- 
zeit immer  wieder  angeschlagen  werden.  Einerseits  eine  keines- 
wegs feindliche  Haltung  gegenüber  dem  menschlichen  Wissen, 
aber  dennoch  ein  stärkeres  Vertrauen  auf  die  göttliche,  durch 
Christus  verkündete  Wahrheit,  deren  wir  im  Glauben  gewiß 
werden. 

Nicht  alle  Apologeten  jener  Zeit  standen  in  solchem 
freundlichen  Verhältnis  zu  der  griechischen  Wissenschaft.  Schon 
gleich  Justins  Schüler,  Tatian,  ergeht  sich  in  Verachtung  aller 
Kunst  und  Philosophie,  um  desto  lebhafter  die  Segnungen  der 
christlichen  Lehre  zu  preisen  —  auch  dies  ein  durchaus  typisches 
Verfahren,  das  uns  bei  extrem  asketisch  gerichteten  Geistern 
begegnet. 

Nicht  ganz  so  verächtlich  spricht  der  Bischof  von  Lyon, 
Irenäus  (etwa  125-202)  von  dem  menschlichen  Wissen, 
aber  auch  er  wertet  es  gering  gegenüber  der  wahren  Gnosis, 


12  Clemens  von  Alexandrien 

wie  sie  nur  durch  die  göttliche  Offenbarung  unter  Vermittlung 
der  Kirche  zu  erlangen  ist.  So  kommt  schon  er  bei  seiner 
»Enthüllung  und  Widerlegung  der  falschen  Gnosis"  zu  der 
Gleichung:  die  wahre  Erkenntnis  ist  die  Kirchenlehre! 

Einen  Schritt  weiter  führt  uns  Clemens  von  Alexandrien 
(t  um  215),  der  einflußreiche  Lehrer  an  der  dortigen  Kate- 
chetenschule. Er  prägt  das  berühmte  Wort  von  der  erziehenden 
Bedeutung  der  griechischen  Philosophie.  Hatte  Paulus  bereits 
(Gal.  3,  24)  das  hebräische  Gesetz  einen  naidaymyög  eig  Xqiozöv 
einen  Erzieher  auf  Christus  hin  genannt,  so  wendet  Clemens 
nunmehr  die  gleiche  Bezeichnung  auf  die  Philosophie  an,  die 
nicht  minder,  vor  allem  in  Piaton,  ihrem  bei  weitem  besten 
Vertreter,  die  Mission  gehabt  habe,  Hellas  auf  Christus  vor- 
zubereiten. Und  selbst  nachdem  dieser  erschienen,  bleibt  die 
Bedeutung  der  Philosophie  bestehen.  Denn  gerade  mit  ihrer 
Hilfe,  fordert  Clemens,  soll  man  von  dem  Glauben  zum 
Wissen  fortschreiten,  die  Pistis  in  Gnosis  verwandeln,  dabei 
aber  stets  als  Kriterium  des  wahren  Wissens  die  Ueberein- 
stimmung  mit  dem  Glauben,  d.  h.  mit  der  Kirchenlehre,  gegen- 
wärtig halten. 

Damit  ist,  wohl  zum  ersten  Male  mit  voller  Deutlichkeit, 
die  Idee  einer  „christlichen  Philosophie"  ausgesprochen! 
Dem  Idealbilde  des  stoischen  Weisen  entnimmt  Clemens  Züge, 
um  das  Bild  eines  wahren  Gnostikers,  d.  i.  eines  „christlichen 
Philosophen",  zu  entwerfen;  ihn  kennzeichnen  innere  Freiheit, 
Erhabenheit  über  alles  Aeußere  und  ein  Leben  in  Gott,  so 
daß  er  selbst  gleichsam  Gott,  ein  {}eov/Lievog  wird. 

Von  den  übrigen  griechischen  Apologeten,  einem  Origines, 
der  das  erste,  freilich  in  vielen  Punkten  nicht  von  der  Kirche 
anerkannte  System  einer  christlichen  Weltanschauung  entwirft, 
und  seinen  Schülern,  den  sog.  drei  Lichtern  der  Kirche  von 
Kappadozien  (Basilius,  Gregor  von  Nazianz  und  Gregor  von 
Nyssa)  sowie  endlich  von  dem  für  das  Konzil  von  Nycäa 
hoch  bedeutsamen  vierten  griechischen  Kirchenvater,  Athanasius 


Tertullian  13 

dem  Großen,  können  wir  für  unsere  Zwecke  gleich  zu  den 
lateinischen  Apologeten  übergehen.  Da  ist  zunächst  Tertullian 
(geb.  160  zu  Carthago)  erwähnenswert.  Ist  er  es  doch,  der 
mit  besonderer  Schärfe  und  afrikanischem  Advokatenfeuer  so- 
wohl den  Gegensatz  zwischen  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit  als 
auch  zwischen  göttlicher  Offenbarung  und  menschlicher  Ver- 
nunft betont,  um  sich  in  beiden  Punkten  mit  der  ganzen 
Leidenschaft  seiner  Beredsamkeit  gegen  das  Heidentum  zu 
richten.  Wie  er  überhaupt  von  der  Leistungsfähigkeit  des 
Menschen  außerordentlich  gering  denkt,  so  insbesondere  auch 
von  der  menschlichen  Vernunft.  Der  griechischen  Philosophie 
bringt  er  darum  keine  Sympathie  entgegen.  Weit  erhaben 
über  die  natürliche  Gotteserkenntnis  der  Philosophen  dünkt 
ihm  die  übernatürliche,  wie  sie  uns  durch  Offenbarung  zuteil 
wird;  weit  erhaben  über  das  menschliche  Wissen  der  gött- 
liche Glaube.  Nicht  die  schwache  und  irrtumsfähige  Vernunft 
eines  sterblichen  Weisen  kann  uns  Führer  in  den  höchsten 
Fragen  des  Daseins  sein.  Wir  sind  göttlicher  Führerschaft 
in  diesen  Dingen  gewürdigt  worden.  Christus,  der  Sohn 
Gottes,  ist  der  wahre  Philosoph;  er  allein  antwortet  auf 
alle  Fragen  über  Gott,  ohne  zu  irren.  Das  Wenige,  was  die 
heidnischen  Philosophen  über  göttliche  Dinge  wußten,  haben 
sie  dem  alten  Testament  entlehnt  und  ruhmsüchtig,  wie  sie 
waren,  sich  selbst  zugeschrieben  —  eine  Anschuldigung,  die 
uns  in  jener  Zeit  häufig  begegnet  (und  bis  heute  sind  ja 
„Verdächtigungen"  im  Uebereifer  apologetischer  Streitlust  keine 
Seltenheit). 

So  lautet  die  Parole  Tertullians:  Glauben,  nicht  Grübeln! 
Was  unserem  Verstände  eine  Torheit  erscheint,  sollen  wir 
gerade  deshalb  um  so  fester  im  Glauben  für  wahr  halten. 
Wie  es  in  jenem  vielgenannten  Ausspruch  Tertullians  zum 
Ausdruck  kommt:  Mortuus  est  dei  filius;  prorsus  credibile  est, 
quia  ineptum  est.  Et  sepultus  resurexit;  certum,  quia  im- 
possibile  est.     (De  carne  Christi  V.)     Tod  und  Auferstehung 


14  Augustinus 

des  Gottmenschen  erscheinen  vor  dem  Forum  unseres  Wissens 
als  eine  Unmöglichkeit,  aber  der  Glaube  erhebt  selbst  diese 
zu  der  Gewißheit  einer  unbezweifelbaren  Wirklichkeit.  Es  ist 
der  Standpunkt  des  «Credo,  quia  absurdum  est«,  der  später 
unter  der  Flagge  der  sog.  doppelten  Wahrheit  wieder  auftaucht 
und  in  dieser  Fassung  niemals  offizielle  Anerkennung  in  der 
Kirche  gefunden  hat;  ebensowenig  wie  die  prinzipielle  Ge- 
ringschätzung des  menschlichen  Wissens,  der  wir  auch  bei 
Tertullians  Zeitgenossen  wie  Arnobius  und  Lactantius  be- 
gegnen. Auch  sie  stimmen  wieder  das  Klagelied  von  der  Eitelkeit 
menschlicher  Wissenschaft  an,  die  vor  Gott  nichts  als  arm- 
selige Torheit  sei;  ohne  die  Hilfe  göttlicher  Offenbarung 
gehe  unsere  Vernunft  beständig  in  die  Irre. 

Die  lateinischen  Kirchenväter  Hilarius,  den  Gegner  des 
Arius  im  Abendlande,  -  Ambrosius,  den  Bischof  von  Mailand 
und  den  für  die  Exegese  und  Geschichte  der  Askese  bedeut- 
samen Einsiedler  Hieronymus  (f  420)  können  wir  für  unsern 
Zweck  übergehen.  Um  so  mehr  ist  ein  Wort  über  Augustinus 
geboten,  in  dem  die  Patristik  ihren  Höhepunkt  erreicht.  Zwei 
Punkte  verdienen  hier  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 
Erstens  jene  charakteristische  Fassung  des  Verhältnisses  zwischen 
Wissen  und  Glauben,  die  Augustinus  in  einem  Satz  wie  diesem  zu 
formulieren  pflegt:  credimus  ut  cognoscamus,  non  cognos- 
cimus  ut  credamus.  (In  Joh.  Ev.  tract.  40,  9.)  Damit  will  er, 
wie  der  Zusammenhang  seiner  Lehre  ergibt,  sagen:  wir  müssen 
zuerst  glauben,  um  dann  allmählich  durch  fortgesetzte  Ver- 
tiefung in  die  Glaubensinhalte  mit  Hilfe  göttlicher  Gnade  nach 
Möglichkeit,  d.  h.  nach  Maßgabe  der  individuellen  Kräfte  den 
Glauben  in  Wissen,  in  Erkenntnis,  umzuwandeln.  „Crede  ut 
intelligas"  (Sermo;  43,  4)  lautet  deshalb  seine  häufig  wieder- 
kehrende Mahnung,  bei  der  er  sich  gerne  auf  eine  Stelle  des 
Isaias  beruft:  „Wenn  ihr  nicht  glaubet,  werdet  ihr  nicht  ein- 
sehen." (Is.  7,  9.)  In  einer  besonderen  Schrift  „über  den 
Nutzen  des  Glaubens"  nennt  er  in  gleichem  Sinne  den  Glauben 


Augustinus  15 

„die  Leiter  zur  Erkenntnis"  und  letztere  „den  Lohn  des 
Glaubens",  der  uns  voll  und  ganz  freilich  erst  in  der  zu- 
künftigen ewigen  Seligkeit  zuteil  werde. 

Aber  mit  Paulus  will  auch  Augustinus,  daß  der  Glaube 
ein  „vernünftiger",  der.  in  ihm  liegende  Gehorsam  gegen  die 
göttliche  Wahrheit  ein  rationabile  obsequium  sei.  Das  aber 
ist  nur  möglich,  wenn  irgend  eine  Erkenntnis  dem  Glauben 
vorangeht.  Man  muß  wissen,  daß  in  der  Kirchenlehre  und 
der  christlichen  Offenbarung  überhaupt  die  göttliche  Wahrheit 
enthalten  ist.  In  diesem  Sinne  spricht  Augustinus  dann  die 
Ergänzung  zu  dem  soeben  angeführten  Grundsatz  in  Worten 
wie  diesen  aus:  Si  igitur  rationabile  est,  ut  ad  magna  quaedam, 
quae  capi  nondum  possunt,  fides  praecedat  rationem,  procul 
dubio  quantulacumque  ratio,  quae  hoc  per  suadet,  etiam  ipsa 
autecedit  fidem  (Epist.  1 20,  3).  Diese  „Glaubensgründe" 
können  nach  Augustinusteils  persönlich-subjektive,  teils  historisch- 
objektive sein,  wie  sie  etwa  in  Wunder  und  Weissagungen 
sowie  der  siegreichen  Ausbreitung  und  inneren  Einheit  der 
Kirche  als  Zeugen  göttlicher  Offenbarung  enthalten  sind.  (De 
utilitate  credendi  34,  35).  Eine  besonders  wichtige  Bedeutung 
mißt  aber  Augustinus  unter  diesen  Gründen  der  „Autorität"  zu. 
Nichts  ist  bezeichnender  für  die  innere  Verfassung  dieses 
Mannes,  der  nach  vielen  Irrfahrten  endlich  die  ersehnte  Ruhe 
und  den  gewünschten  Frieden  im  Schöße  der  Kirche  gefunden 
hatte  und  darum  allen  Suchenden  denselben  Rettungsanker  zu- 
werfen wollte,  als  sein  Bekenntnis:  „Ich  würde  dem  Evange- 
lium nicht  glauben,  wenn  mich  nicht  die  Autorität  der 
katholischen  Kirche  dazu  bewöge"  (In  Joh.  Ev.  tract.  40,  9). 
In  immer  neuen  Tonarten  preist  er  die  Bedeutung  der  Autorität 
für  die  sittliche  und  religiöse  Erkenntnis  -  worüber  man  das 
Nähere  in  J.  Mausbachs  Darstellung  der  Ethik  Augustins  (Bd.  I, 
S.  1 68  ff.)  oder  in  Fr.  Loofs  Grundriß  der  Dogmengeschichte  (4  A, 
S.  369 ff.)  finden  kann.  Hier  sei  vor  allem  erwähnt,  wie  energisch 
Augustinus  geradegegenüber  den  selbstherrlichen  philosophischen 


16  Augustinus 

Spekulationen  das  Recht  und  die  Bedeutung  der  kirchlichen  Auto- 
rität verficht.  Ihr  müßten  sich  um  der  Schwachen  willen  auch  die 
geistig  Starken  in  Ehrfurcht  nahen,  zumal  sie  ja  ohnehin  leicht 
ihre  Selbständigkeit  überschätzten  —  Gedanken,  die  bis  auf 
unsere  Tage  immer  wieder  zur  Verteidigung  der  kirchlichen 
Autorität  angeführt  werden  mit  dem  beliebten  Zitat:  C'est  la 
mediocrite  qui  fait  l'autorite  —  und  in  jedem  Menschen  stecke 
nun  einmal  ein  gutes  Stück  Durchschnitts-Menschentum,  wie 
auch  beispielsweise  Hermann  Schell  zu  sagen  pflegte.  Man 
begreift,  daß  Augustinus  von  seinen  Voraussetzungen  aus  in 
erster  Linie  die  göttliche  Offenbarung  als  autoritative  Erkenntnis- 
quelle würdigt.  Freilich  hat  er  auch  manches  Wort  der  An- 
erkennung für  die  Leistungen  der  heidnischen  Vernunft,  die 
„gleichsam  aus  den  Bergwerken  der  göttlichen  Vorsehung,  die 
überallhin  sich  ergossen  hat,  ausgegraben"  habe.  Wie  er  alle 
irdische  Tätigkeit,  wofern  sie  nur  auf  Gott,  den  einen  End- 
zweck, bezogen  wird,  als  sittlich  wertvoll  betrachtet  und  damit 
wohl  zum  ersten  Male  die  Idee  einer  christlichen  Kultur 
ausspricht,  so  billigt  er  auch  an  sich  alles  menschliche  Wissen 
von  den  Kräften  der  Natur,  sofern  deren  Erforschung  wenigstens 
zugleich  Aufklärung  über  Gott,  die  letzte  Ursache  alles  Ge- 
schaffenen, gibt.  Aber  er  beeilt  sich  doch  sogleich  hinzuzu- 
fügen, daß  über  alles  menschliche  Wissen  der  Glaube  an 
die  göttliche  Offenbarunggeht.  Der  Christ  kennt  auch  ohne 
Philosophie  aus  der  heiligen  Schrift  Gott  als  den  Schöpfer  der 
Welt  und  Spender  der  Gnade.  Also  schon  hier  bei  Augustinus 
zum  wenigsten  doch  Ansätze  zu  einer  „weltfremden"  Abkehr 
von  der  menschlichen  Wissenschaft.  Eine  kulturfeindliche 
Unterströmung,  die  sich  durch  das  ganze  Mittelalter  hin- 
durchzieht —  übrigens  bis  in  die  Neuzeit  hinein.  Dabei  mutet 
es  uns  seltsam  an,  wenn  wir  Augustinus  gelegentlich  begeistert 
fragen  hören,  welche  Erörterungen  und  Schriften  der  Philo- 
sophen, welche  „Gesetze  irgendwelcher  Staaten"  auch  nur 
annähernd  den  beiden  Gesetzen  der  Liebe  zu  Gott  und  zum 


Augustinus  17 

Nächsten  zu  vergleichen  seien.  Enthielten  doch  diese  Gesetze 
nicht  nur  die  wahre  Moral,  sondern  auch  die  Grundwahrheit 
der  „Physik"  -  ein  heutiger  „Physiker"  wird  dies  nicht  ohne 
einige  Ueberraschung  vernehmen  — ,  daß  nämlich  Gott  die  letzte 
Ursache  aller  Naturerscheinungen  sei.  (Es  befremdet  nicht, 
wenn  bei  solcher  ,, Physik"  keine  großen  Entdeckungen  gemacht 
wurden.) 

Die  Grundtöne,  die  schon  in  dem  christlichen  Altertum 
zur  prinzipiellen  Lösung  des  Problems  von  Glauben  und 
Wissen  angeschlagen  werden,  klingen  im  christlichen  Mittelalter 
fort,  wie  ja  überhaupt  der  Unterschied  zwischen  Pa- 
tristik  und  Scholastik  ein  lediglich  gradueller  ist. 
Natürlich  wurde  dieses  Problem  um  so  wichtiger,  die  An- 
wendung des  Prinzips  um  so  schwieriger  und  gefahrvoller,  je 
mehr  die  Kirchenlehre  feste  Gestalt  annahm,  während'  die  Väter 
vielfach  erst  durch  ihre  philosophische  Spekulation  die  For- 
mulierung des  Dogmas  bestimmten. 


Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter. 


18  Scholastik 


II.  Die  Scholastik. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  dem  Hauptteile  unserer  Unter- 
suchung zu,  1  so  müssen  wir  mit 

1.  Johannes  Scotus  Eriugena 

beginnen,  der  am  Hofe  Karls  des  Kahlen  lehrte  und  etwa 
877  starb. 

Folgende  Punkte  sind  für  seine  Stellung  zu  unserem 
Gegenstande  charakteristisch. 

1.  Eriugena  unterwirft  sich  nicht  bloß  dem  alten  und 
neuen  Testamente  —  wie  die  Kirchenväter,  die  sich  überdies 
gegenseitig  als  gleichberechtigt  ansehen,  sondern  prinzipiell 
bereits,  wie  die  Scholastik  überhaupt,  auch  der  Autorität  der 
Väter.  Freilich  nur  solange,  als  letztere  nicht  mit  Offenbarung 
und  Vernunft  in  Widerspruch  stehen.    (De  div.  nat.  II,  16.) 

Denn  2.  betont  er,  das  Verhältnis  zwischen  Vernunft  und 
Autorität  sei  ein  derartiges,  daß  die  „richtige"  Vernunft  (die  recta 
ratio)  nicht  der  „wahren"  Autorität  (der  vera  autoritas)  wider- 
sprechen kann,  da  beide  aus  derselben  Quelle,  nämlich  der 
göttlichen  Weisheit,  stammen.  ^ 

So  begegnet  uns  gleich  hier  an  seiner  Schwelle  eine  für 
die  ganze  mittelalterliche  Philosophie  typische  Begründung 
für  die  Behauptung,  daß  ein  wirklicher  Konflikt  zwischen 
Glauben  und  Wissen,  also  eine  doppelte  Wahrheit,  ausgeschlossen 

^  Vergl.  zum  folgenden  die  einschlägigen  Abschnitte  in  Albert 
Stöckis  Geschichte  d.  Philos.  d.  Mittelalters,  3  Bde.  Mainz  1864—66. 

^  Vera  enim  auctoritas  rectae  rationi  non  obsistit  neque  recta 
ratio  verae  auctoritati.  Ambo  siquidem  ex  uno  fönte,  divina  videlicet 
sapientia,  manare  dubium  non  est.  De  div.  nat.  I,  66. 


Eriugena  19 

sei.  Sogar  das  beliebte  Bild  der  gemeinsamen  „Quelle",  aus 
der  letzten  Endes  die  Inhalte  des  Wissens  wie  des  Glaubens 
fließen,  treffen  wir  bereits  hier  an.  Dieses  Bild  ist  nicht  nur 
der  Ausdrucksweise  des  alten  wie  neuen  Testamentes  geläufig, 
sondern  es  findet  sich  in  etwas  anderem  Sinne  ebenfalls 
innerhalb  des  Neuplatonismus,  zu  dem  Eriugena  enge  Fühlung 
hatte.  Uebersetzte  er  doch  u.  a.  das  Werk  des  einflußreichen 
Neuplatonikers  Dionysius  Areopagite  „De  divinis  nominibus" 
ins  Lateinische. 

3.  Die  „wahre"  Autorität  aber  ist  keine  andere  als  die 
göttliche  Offenbarung.  Von  ihr  muß  deshalb  alle  Vernunft- 
forschung ausgehen.  Menschliches  Wissen  kann  fehl  gehen; 
allein  die  Autorität  der  „göttlichen  Schrift"  ist  eine  unerschütter- 
liche. Die  Theologen  sind  die  heiligen  Organe,  durch  die 
Gott,  dessen  Natur  unaussprechlich  ist,  sich  offenbart.  Es 
wäre  darum  Anmaßung,  von  Gott  in  anderen  Ausdrücken  zu 
reden  als  in  den  in  der  hl.  Schrift  niedergelegten. 

Nicht  beim  Wissen,  sondern  beim  Glauben  beginnt  unser 
Heil.i 

4.  Aber  die  Vernunft  ist  darum  nicht  zu  völliger  Trägheit 
verurteilt.  Ihre  Aufgabe  ist  es,  den  Sinn  der  biblischen  Lehren, 
und  zwar  aller,  aufzudecken.  Das  der  Vernunft  zugewiesene 
Arbeitsfeld  sind  die  Offenbarungen  Gottes.  Philosophie  und 
Religion  bezw.  Theologie  decken  sich  somit  nach  Umfang 
wie  Inhalt.  Daraus  folgt  die  Identität  der  „wahren"  Phi- 
losophie mit  der  „wahren"  Religion.  Ein  Gedanke,  der 
nichts  Geringeres  bedeutet  und  fordert  als  die  Auflösung  aller 
Glaubenslehren  in  Vernunftpostulate.  Ja,  Eriugena  ist  Ratio- 
nalist genug,  um  in  einem  Kollisionsfalle,  wenn  die  Autorität 


*  Ratiocinationis  exordium  ex  divinis  eloguiis  assumendum  esse 
existimo.  De  div.  nat.  II,  15. 

Inconcussa  auctoritas  divinae  scripturae.  1.  c.  III,  17. 

Salus  nostra  ex  fide  inchoat.  De  praed.  I. 

2* 


20  Eriugena 

mit  der  Vernunft  in  Widerstreit  gerät,  der  letzteren  den  Vorzug 


einzuräumen 


1 


Anderseits  soll  aber  doch  die  Autorität  der  hl,  Schrift 
eine  unbedingte,  „unerschütterlich"  feststehende  sein.  Die  gleich- 
zeitige Betonung  der  Rechte  der  Vernunft  und  damit  die 
Vermeidung  einer  Kollision  weiß  Eriugena  durch  eine  weit- 
gehende allegorische  Interpretation  der  Offenbarungslehren  zu 
ermöglichen.  Diese  wenden  sich,  wie  er  hervorhebt,  in  Bildern 
an  das  Auffassungsvermögen  aller  Menschen,  wenn  sie  auch 
ihrem  tieferen  Gehalte  nach  nur  von  den  „Philosophen"  erfaßt 
werden.  ^ 

Auch  dieses  Hilfsmittel  allegorischer  Betrachtungsweise 
hat  durchaus  typischen  Charakter.  Erfreute  es  sich  doch  zu 
allen  Zeiten,  bei  den  griechischen  Philosophen  nicht  weniger 
als  bei  den  christlichen  Theologen  bis  auf  den  heutigen  Tag 
mit  seinen  „Modernismus"- Streitigkeiten,  nicht  geringer  Be- 
liebtheit, wenn  es  galt,  die  Resultate  des  Wissens  mit  den 
überlieferten  Lehren  des  Glaubens  auszusöhnen. 

Mit  erfreulicher  Charakterfestigkeit  hat  sich  gerade  die 
katholische  Kirche  stets  gegen  eine  derartige,  die  Grenzsteine 
verrückende  Versöhnungs-Politik  gerichtet.     Bereits  Eriugenas 


^  Quid  est  aliud  de  philosophia  tractare  nisi  verae  religionis, 
qua  summa  et  principalis  omnium  rerum  causa,  Deus,  et  humiliter 
colitur  et  rationabiliter  investigatur,  regulas  exponere?  Conficitur 
inde,  veram  esse  philosophiam  veram  religionem  conversimque 
veram  religionem  esse  veram  philosophiam.  De  praed.  I,  1. 

Omnis  autoritas,  quae  vera  ratione  non  approbatur,  infirma 
esse  videtur  ...  Nil  enim  aliud  mihi  videtur  esse  vera  auctoritas 
nisi  rationis  virtute  reperta  veritas.        De  div.  nat.  I,  71;  I,  63. 

^  Sacrae  siquidem  scripturae  in  omnibus  sequenda  est  auctori- 
tas .  .  .  Non  tamen  ita  credendum  ist,  ut  ipsa  semper  propriis 
verborum  seu  nominum  signis  fruatur,  divinam  nobis  naturam  insinuans, 
sed  quibusdam  similitudinibus  variisque  translatorum  verborum  seu 
nominum  modis  utitur,  infirmitati  nostrae  condescendens  nostrosque 
adhuc  rüdes  infantilesque  sensus  simplici  doctrina  erigens. 

De  div.  nat.  I,  64. 


Petrus  Damiani  21 

Standpunkt,  der  den  „übernatürlichen'",  Geheimnis-Charakter 
der  biblischen  Lehren  nicht  genügend  wahrte,  wurde  von  der 
Kirche  nicht  anerkannt;  sein  Hauptwerk  „De  divisione  naturae" 
wurde  von  dem  Pariser  Provinzial-Konzil  1210  und  von 
Honorius  111.  1225  verworfen. 

Das  zehnte  Jahrhundert  ist  beherrscht  von  dem  durch 
Eriugena  angeregten  Streite  um  Nominalismus  und  Realismus, 
d.  h.  um  die  Frage,  ob  das  Allgemeine  sich  bloß  in  unserem 
Geiste  als  Produkt  der  Abstraktion  vorfinde  oder  ob  -  und 
wie  -  es  etwa  in  der  transsubjektiven  Wirklichkeit  existiere. 
Diese  sog.  dialektischen  Streitigkeiten  wurden  auch  für  theo- 
logische Fragen  bedeutsam  -  vor  allem  durch  den  Nomina- 
listen Roscelli n,  der  aus  seiner  nominalistischen  Voraus- 
setzung, nur  das  Individuelle  existiere,  das  Allgemeine  dagegen 
sei  lediglich  ein  flatum  vocis  (wie  seine  Gegner  sagten),  den 
dem  kirchlichen  Dogma  der  Trinität  widerstreitenden  Schluß 
zog:  also  kann  sich  in  der  Gottheit  nicht  eine  (allgemeine) 
Wesenheit  in  drei  (besonderen)  Personen  finden,  sondern  man 
muß  von  „drei  Göttern"  (Tritheismus)  reden,  d.  h.  von  drei 
göttlichen  Wesen,  die  zwar  alle  an  Macht  gleich  sind. 

Gegen  solche  Dialektik,  also  gegen  die  Ansprüche  eines 
kühnen  Wissens,  erhoben  im  10.  und  11.  Jahrhundert  manche 
Männer  ihre  warnende  Stimme  und  forderten  im  Namen  des 
Glaubens,  man  solle  nicht  die  Pfade  der  hl.  Väter  und  der 
Offenbarung  verlassen.  Zu  ihnen  zählte  u.  a.  Gerberts, 
des  späteren  Papstes  Sylvester  11.  Schüler,  der  Bischof  Fulbert; 
ferner  ein  berühmter  Bußprediger,  dessen  Erwähnung  gerade 
für  unsern  Zweck  nicht  unterbleiben  darf.  Gemeint  ist  Petrus 
Damiani,  der  in  seiner  Geringschätzung  des  menschlichen 
Erkennens  bis  zu  der  Behauptung  ging,  auf  Gott  finde  das 
Prinzip  des  Widerspruches  keine  Anwendung,  weshalb  Gott 
—  man  beachte  diese  erkenntnistheoretisch  interessante  Kon- 
sequenz ~  sogar  Geschehenes  ungeschehen  machen  könne. 
Außerdem    aber    gehört    gerade    Petrus    Damiani    in    unseren 


22  Berengar  von  Tours 

Zusammenhang,  weil  er,  wie  es  scheint,  zum  ersten  Male 
die  heute  uns  geläufige  Wendung  gebraucht,  die  Vernunft 
stehe  zur  Offenbarung  in  einem  „Magdverhältnisse",  die 
Philosophie  sei  die  Dienerin  der  Theologie,  Philosophia 
ancilla  Theologiae!^ 

Wie  sehr  in  jener  Zeit  das  dialektisch  gestimmte  Wissen 
in  das  Gebiet  des  Glaubens  einzudringen  suchte,  mag  auch 
noch  durch  die  folgenden  Angaben  beleuchtet  werden.  Ein 
bedeutender  Schüler  des  genannten  antidialektischen  Fulbert 
war  der  Dialektiker  Berengar  von  Tours  (999 — 1088). 
Er  wandte  die  Dialektik  gegen  das  Dogma  der  Transsub- 
stantiation,  indem  er,  ausgehend  von  seinem  nominalistischen 
Substanzbegriff  —  man  sieht  auch  hierbei  wiederum  den  Ein- 
fluss  der  Erkenntnistheorie  auf  die  kritische  Zersetzung  theo- 
logischer Lehren  -  die  Aenderung  der  Substanz  ohne 
Aenderung  der  Accidentien,  d.  h.  der  sinnlich  wahrnehmbaren 
Eigenschaften  des  Brotes  und  Weines,  für  vernunftwidrig  hielt. 
Da  sich  gerade  Berengar  an  das  Eriugena  zugeschriebene 
Buch  „De  eucharistia"  angelehnt  hatte,  kam  der  Name  Eriugenas 
noch  mehr  in  Verruf  bei  den  Vertretern  der  Kirchenlehre. 
Die  Synode  zu  Vercelli  (1050)  verurteilte  das  genannte  Werk 
und  verbot  die  Lektüre  der  Schriften  Eriugenas  überhaupt  — 
ein  „Index"-Bekämpfungsmittel,  das  ja  in  der  Geschichte  der 
Kirche  bis  heute  zur  Ausrottung  der  Ansprüche  des  Wissens 
immer  wieder  zur  Anwendung  kam. 


^  Vgl.  J.  A.  Endres,  Petrus  Damiani  und  die  weltliche  Wissen- 
schaft (Beiträge  z.  Gesch.  d.  Philos.  d.  Mittelalters  Bd.  VIII,  3).  Quae 
tarnen  artis  humanae  peritia  siquando  tractandis  sacris  eloguiis  adhibetur, 
non  debet  ius  magisterii  sibimet  arroganter  accipere,  sed  velut  an- 
cilla dominae  quodam  famulatus  obsequio  subservire,  ne  si  praecedit, 
aberret.  Opera,  ed.  Cajetan,  Par.  1743,  III  S.  312. 

-  Berengar  ist  der  erste  offene  Leugner  der  Transsubstantiation. 
Vgl.  Gerhard  Rauschen,  Eucharistie  und  Bußsakrament  in  den  ersten 
sechs  Jahrhunderten  der  Kirche,  Freiburg  1908,  S.  23. 


Anseimus  23 

Endlich  sei  noch  Berengars  Gegner  erwähnt,  der  spätere 
Erzbischof  von  Canterbury  Lanfranc  (1005  —  1089),  der  das 
Dogma  als  göttliche  Offenbarung  verteidigt.  Lanfrancs  Schüler 
ist  nun  der  berühmte  Gegner  des  Roscellin  und  Erzbischof 
von  Canterbury  Anselm,  der  gerade  in  der  Geschichte  unseres 
Problems  eine  hervorragende  Stelle  einnimmt. 


2.  Anseimus.  (1033-1109).i 

Dasberühmte  Wort:  Credo  ut  intelligam  geht  in  dieser 
Fassung  —  wenn  wir  es  auch  in  ganz  ähnlicher  bereits  bei 
Augustinus  fanden  —  auf  Anselm  zurück  und  lautet  vollständig: 
Neque  enim  quaero  intelligere,  ut  credam;  sed  credo,  ut  in- 
telligam.   (Proslogium  c  I.)- 

In  diesem  Grundsatze  der  norma  coelitus  hausta,  wie 
ihn  die  kirchliche  Lektion  am  Festtage  des  hl.  Anselm  nennt, 
scheinen  dem  Wissen  alle  Rechte  zugunsten  des  Glaubens 
genommen.  Aber  eben  nur  scheinbar.  In  Wahrheit  weist  Anselm 
der  Vernunft  eine  doppelte  Aufgabe  zu. 

Doch  fragen  wir  zunächst,  in  welcher  Hinsicht  er  das 
Wissen  und  Erkennen  nicht  als  Bedingung  des  Glaubens  be- 
trachtet, so  ist  zu  erwidern:  Bevor  der  Christ  die  Inhalte 
der  göttlichen  Offenbarung  gläubig  annimmt,  braucht  er  sie 
nicht  mit  seiner  Vernunft  begriffen  zu  haben.  Es  ist  keine 
Einsicht  in  die  innere  Wahrheit,  in  das  „Wie"  der  Geheimnisse, 


^  Vgl.  Philos.  Jhrb.,  Bd.  19,  2.  u.  3.  Heft. 

-  Rectus  ordo  exigit,  ut  profunda  Christianae  fidei  credamus, 
priusquam  ea  praesumamus  ratione  discutere.    Cur  deus  homo  I,  C.  1. 

Christianus  per  fidem  debet  ad  intellectum  proficere,  non  per 
intellectum  ad  fidem  accedere  aut  si  intelligere  non  valet,  a  fide 
recedere.  Ep.  II  ep.  41. 

Man  sieht  sogleich  die  Uebereinstimmung  mit  dem  Augustinus- 
wort: credimus  ut  cognoscamus,  non  cognoscimus,  ut  credamus.  (Vgl. 
oben  S.  14.)  In  Job.  Ev.  tract.  40,  9. 


24  Anseimus 

erforderlich  als  conditio  sine  qua  non  des  Glaubens.  ^  Man 
braucht  nicht  (modern  geredet,  ohne  dem  Gedankengange 
Anselms  Gewalt  anzutun)  zu  wissen  und  einzusehen,  wie  etwa 
die  Trinität  oder  die  Verwandlung  des  Brotes  und  Weines 
möglich  ist,  um  an  ihre  Tatsächlichkeit  zu  glauben.  Gerade 
in  diesem  Sinne,  d.  h.  in  bezug  auf  die  Einsicht  in  die  innere 
Möglichkeit  der  Dogmen  ist  jener  oft  mißverstandene  Satz  zu 
interpretieren:  Non  quaero  intelligere,  ut  credam. 

Aber  dieser  Satz  selbst  gibt  die  gesamte  Auffassung  An- 
selms nur  halb  wieder;  denn  er  setzt  bereits  die  Ueberzeugung 
von  der  Wirklichkeit  einer  göttlichen  Offenbarung  voraus. 

Wie  aber  wird  man  dieser  Wirklichkeit  nach  Anselm 
gewiß?  Etwa  wiederum  durch  bloßen  Glauben?  Keineswegs; 
sondern  eben  durch  Wissen!  Die  schon  vorhin  angedeutete 
Aufgabe  der  Vernunft  ist  nämlich  eine  doppelte. 

Erstens  besteht  sie  darin,  die  Tatsache  der  Offenbarung 
festzustellen  —  daß  also,  konkret  gesprochen,  Christus,  als  Sohn 
des  wahrhaftigen  Gottes,  der  weder  lügen  noch  betrügen  kann, 
eine  Fülle  von  Lehren  verkündet  und  an  sie  zu  glauben  be- 
fohlen hat.  So  gilt  also  vor  dem  Glauben  geradezu  der  um- 
gekehrte Satz:  intellige,  ut  credas!  Suche  die  Tatsache  der 
Offenbarung  zu  erkennen,  um  durch  dieses  Wissen  zu  dem 
Glauben  an  deren  Inhalte  zu  gelangen ! 

Und  selbst  nach  gläubiger  Annahme  der  Offenbarungs- 
lehren wird  die  Vernunft  von  Anselm  noch  zur  Betätigung 
aufgerufen.  Sie  soll  nämlich  zweitens  die  Dogmen  spekulativ 
zu  erfassen  suchen.  Schon  zu  dem  Zwecke,  um  die  Vernunft- 
einwände der  Gegner  zu  widerlegen;  aber  auch  deshalb,  weil  die 
Erkenntnis  über  dem  bloßen  Glauben  steht.  Von  diesem 
Rechte   der   Vernunft    keinen    Gebrauch    zu    machen,    scheint 

^  Sufficere  namque  debere  existimo  rem  incomprehensibilem  inda- 
ganti,  si  ad  hoc  ratiocinando  pervenerit,  ut  eam  certissime  esse 
cognoscat;   etiamsi  penetrare  nequeat  intellectus,   quo  modo  ita  sit. 

Monol.  c  64. 


Anseimus  25 

Anselm  geradezu  ein  Zeichen  von  Pflichtvergessenheit  zu  sein.i 
Er  selbst  hat,  seinem  Prinzip  getreu,  vor  das  in  den  beiden 
inhaltsschweren  Worten  enthaltene  Dogma  Deus-homo  ein  cur 
gesetzt  und  in  der  gleichlautenden  berühmten  Schrift  aus  „bloßer 
Vernunft"  die  Notwendigkeit  zu  begründen  versucht,  daß  Gott 
selbst  Mensch  wurde,  um  die  sündige  Menschheit  zu  erlösen. 
Ein  Versuch  übrigens,  dessen  Scheindialektik  leicht  aufzudecken 
ist.  Denn  warum  sollte  -  um  nur  dies  hervorzuheben  -  der 
endliche  Mensch  zwar  unendliche,  nur  durch  die  Mensch- 
werdung des  unendlichen  Gottes  tilgbare  Schuld  auf  sich  zu 
laden,  nicht  aber  auch  aus  eigener  Kraft  entsprechende  Sühne  zu 
leisten  vermögen?  Von  einer  Denknotwendigkeit  ist  hierbei 
wahrlich  nichts  zu  entdecken.  Der  Mystiker  Bernhard  von 
Clairvaux  erkannte  dies  mit  schärferem  Blick,  wenn  er  die 
'rationalistischen  Bemühungen  Anselms  abweisend  sich  in  de- 
mütigem Glauben  vor  der  Tatsache  der  Menschwerdung  Gottes 
beugte  und  so  ein  angebliches  Wissen  und  Begreifen  entlarvte, 
um  dem  einfältigen  Glauben  sein  Recht  zu  lassen.' 

Freilich  beeilt  sich  Anselm  nun  sogleich  hinzuzufügen, 
daß  jener  Versuch  einer  innerlichen  Begründung  nicht  bei  allen 
Dogmen  möglich  sei.  So  widerstrebe  z.  B.  das  Geheimnis  der 
Trinität  einer  apriorischen  Vernunftkonstruktion,  wie  er  in  einer 
besonderen  Schrift  über  die  Trinität  ausführt.  Demnach  schützt 
er  das  Glaubensgebiet  vor  einer  restlosen  rationalistischen  Auf- 
lösung und  sichert  in  diesem  Sinne  dem  Glauben  den  Primat 
gegenüber  dem  Wissen.  Die  Vernunft  bleibt,  anders  gewendet, 
dem  Dogma,  die  Philosophie  der  Theologie  untergeordnet. 
Wo  immer  eine  angebliche  Erkenntnis  mit  der  hl.  Schrift  und 


*  Negligentiae  mihi  esse  videtur,  si  postquam  confirmati 
sumus  in  fide,  non  studemus,  quod  credimus  intelLigere. 

cur  deus  homo  I,  c  2. 

■^  Vgl.  R.  Seeberg,  Die  Versöhnungslehre  des  Anseimus  und  die 
Bekämpfung  derselben  durch  den  hl.  Bernhard.  (Mitteilungen  u. 
Nachrichten  f.  d.  evang.  Kirche  in  Rußland,  1888.) 


26  Anseimus 

der  inhaltlich  mit  ihr  identischen  Kirchenlehre  in  Widerspruch 
gerät,  ist  sie  dadurch  ohne  weiteres  als  eine  nur  scheinbare 
Erkenntnis  erwiesen.  Ein  Grundsatz,  der  seitdem  bis  in  die 
Kämpfe  der  Gegenwart  hinein  von  der  katholischen  Theologie 
festgehalten  wurde.  ^ 

Es  sei  zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  Anselms  mitgeteilt, 
das  seinen  Glauben  an  die  kirchliche  Autorität  zu  energischem 
Ausdruck  bringt.  «Kein  katholischer  Christ  —  verkündet  er 
mit  fühlbarer  innerer  Wärme  —  darf  etwas,  was  die  katho- 
lische Kirche  im  Herzen  glaubt  und  mit  dem  Munde  bekennt, 
in  Frage  stellen,  sondern  an  diesem  Glauben  unzweifelhaft 
festhaltend,  diesen  Glauben  liebend  und  nach  demselben  lebend, 
forsche  er  in  Demut,  soweit  er  es  vermag,  nach  den  Gründen 
für  seinen  Glauben.  Kann  er  es  zur  Einsicht  in  demselben 
bringen,  so  sei  er  Gott  dankbar,  kann  er  es  nicht,  so  renne 
er  nicht  dagegen  an,  sondern  beuge  sein  Haupt  und  bete  an. 
Denn  eher  wird  die  menschliche  Weisheit  an  diesen  Felsen  selbst 
anrennen,  als  ihn  umrennen.«   (Vgl.  De  fide  Trin.  c.  I  u.  II.)- 

Werfen  wir  einen  Rückblick  auf  die  Stellung  Anselms  zu 
unserem  Problem,  so  kann  uns  leicht  die  Ahnung  beschleichen, 
ob  nicht  die  von  ihm  so  nachdrücklich  angefeuerte  Vernunft 
mit  ihrer  kühnen  Frage  Cur  deus  homo  —  die  gleich  bis 
ins  Herz  der  christlichen  Weltanschauung  drang  —  leicht  die 
ihr  von  Anselm  gesteckten  Grenzen  zu  überschreiten  versucht 
sein  konnte.  Wie,  wenn  sie  trotzig  ein  Nein  dem  Dogma 
entgegenschleuderte,  wenn  es  in  ihre  Formen  sich  nicht  fügen 
wollte?  Noch  stand  für  Anselm  —  und  die  kommenden 
Denker  des  Mittelalters  teilten  seine  Ueberzeugung  —  die 
Tatsache    der    Offenbarung    mit   unerschütterlicher    Gewißheit 


^  Certus  enim  sum,  si  quid  dico,  quod  sacrae  scripturae  absque 
dubio  contradicat,  quia  falsum  est,  nee  illud  teuere  volo,  si  cognovero. 

Cur  deus  homo  1,  c  38. 

^  Cum  ad  intellectum  valet  (sc.  christianus)  pertingere,  delectatur  ; 
cum  vero  nequit,  quod  capere  non  potest,  veneratur.     Ep.  C.  2,  ep.  41. 


Abaelard  27 

fest.  Ein  vor  allem  durch  Wunder  und  Weissagungen  ge- 
stütztes Wissen  schien  dem  Glauben  eine  unantastbare  Grund- 
lage zu  bieten.  Aber  die  von  Anselm  so  energisch  zur 
Betätigung  aufgerufene  Vernunft  mußte  sich  mit  innerer  Logik 
schließlich  auch  den  historischen  und  philosophischen  Voraus- 
setzungen des  Dogmas,  d.  h.  den  angeblichen  Offenbarungs- 
Tatsachen  immer  kritischer  gegenüberstellen.  So  kam  es  all- 
mählich zu  der  religionsgeschichtlich  orientierten  kritischen 
Theologie  unserer  Tage,  d.  h.  zu  der  Leugnung  der  Beweis- 
kraft der  von  den  mittelalterlichen  Theologen  und  ihren  bis 
heute  fortlebenden  Nachfolgern  für  die  Tatsache  einer  sog. 
übernatürlichen  Offenbarung  angeführten  Argumente. 

Schon  ein  Zeitgenosse  Anselms  gibt  dessen  semirationa- 
listischem Grundprinzip  ein  extrem  rationalistisches  Gepräge, 
das  wir  nunmehr  ins  Auge  fassen  wollen. 

3.  Abaelard  (1079—1142). 

Dieser  in  mancher  Hinsicht,  vor  allem  in  seiner  Ethik, 
modern  anmutende  Denker  setzt  die  Methode  Anselms,  durch 
Anwendung  der  Dialektik  auf  die  Glaubenslehren  vom  Glauben 
zum  Wissen  aufzusteigen,  fort  und  ergänzt  sie  zu  der  für  den 
späteren  scholastischen  Lehrbetrieb  charakteristischen  Methode 
des  Sic  et  Non:  die  für  und  wider  eine  These  sprechenden 
Autoritäten  werden  zunächst  aufgeführt,  um  in  der  Solutio 
die  wirklichen  oder  scheinbaren  Widersprüche  aufzulösen  und 
dabei  etwa  zu  einer  vermittelnden  Ansicht  zu  gelangen.  «Diese 
Abaelardsche  Methode  wurde  die  Grundlage  für  die  Art  und 
Weise  der  Quaestionen  und  Disputationen  der  späteren  Epoche 
auf  theologischem,  philosophischem,  kanonistischem  und  zivil- 
rechtlichem Gebiete",  um  mit  H.  Denifle,  dem  um  die  mittel- 
alterliche Philosophie  hochverdienten  Forscher,  zu  reden.  ^ 

1  Vgl.  Archiv  für  Literatur-  und  Kirchengeschichte  des  Mittel- 
alters.    Bd.  I,  S.  620. 


28  Abaelard 

Während  Anselm  die  spekulative  Erfassung  der  Dogmen 
nicht  als  Bedingung  des  Glaubens,  sondern  nur  als  dessen 
wünschenswerten  und  nach  Kräften  zu  erstrebenden  Abschluß 
betrachtet  hatte,  erkennt  Abaelard  —  wenigstens  an  manchen 
Stellen  —  überhaupt  keine  schlechthin  übervernünftigen  Ge- 
heimnisse an.  Solche,  unserem  Verständnis  völlig  entzogene 
Offenbarungen  zu  geben,  würde,  wie  er  meint,  ein  völlig 
zweckloses  Tun  von  selten  Gottes  bedeuten.  (Wie  wenig 
solcher  Meinung  etwa  Thomas  und  Scotus  beistimmen,  werden  wir 
später  erfahren.)  Stellenweise  bezeichnet  er  es  allerdings  -  ob 
nicht  vielleicht  im  Gegensatze  zu  früheren  oder  späteren 
Aeußerungen,  bleibe  hier  dahingestellt  —  als  Anmaßung,  alle 
Geheimnisse  begreifen  zu  wollen. 

Im  allgemeinen  aber  redet  er  von  der  Verpflichtung  der 
Vernunft,  den  Inhalt  der  angeblichen  göttlichen  Offenbarung 
auf  seine  Glaubwürdigkeit  zu  prüfen,  die  erst  dann  gesichert 
ist,  wenn  die  betreffenden  Lehren  mit  der  Vernunft  begriffen 
sind.  ^  Nur  so  entgeht  man  der  Gefahr  der  Leichtgläubigkeit, 
vor  der  die  Bibel  warnt:  Wer  schnell  glaubt,  ist  leichtsinnigen 
Herzens!     (Introd.  ad  theolog.  II,  c  3). 

Auch  auf  die  Trinität  wendet  Abaelard  sein  rationalistisches 
Prinzip  an  und  glaubt  dazu  um  so  eher  berechtigt,  als  schon 
Piaton  dieses  Dogma  erkannt  habe:  die  eine  Idee  des  Guten, 
die  übrigen  Ideen  und  die  Weltseele  entsprechen  den  drei 
göttlichen  Personen.  Eine  Konstruktion,  bezüglich  derer  Abae- 
lard mit  Recht  von  Bernhard  von  Clairvaux  angegriffen  wurde. 

Die  Selbständigkeit  ferner,  mit  der  Abaelard  das  Urteil 
der  Vernunft  nicht  nur  über  die  Autorität  der  Väter  stellte  — 
die  man  doch  nicht  mit  den  Aposteln  verwechseln  dürfe  — , 
sondern  auch  ganz  und  gar  rationalistisch  über  die  Glaub- 
würdigkeit des  Offenbarungsinhaltes  entscheiden  ließ,  hatte 
schließlich    zur  Folge,    daß    sein    Hauptwerk  Theologia   —    es 

^  Nee  quia  Deus  id  dixerat,  creditur,  sed  quia  hoc  sie  esse  con- 
vincitur  (se.  resurrectionem  futuram),  aecipitur.  Introd.ad.theol.II,e3. 


Alanus  ab  insulis  29 

handelt  de  fide,  de  sacramente  und  de  caritate  -  von  dem 
Konzil  zu  Sens  1141   verurteilt  wurde. 

In  der  Tat  bedeutet  der  Versuch,  alle  Dogmen  in  Ver- 
nunftspostulate  aufzulösen,  die  Leugnung  des  übernatürlichen 
Charakters  der  Kirchenlehre.  Die  Verurteilung  Abaelards  war 
deshalb  eine  einfache  Konsequenz  aus  der  kirchlichen  Voraus- 
setzung des  übernatürlichen  und  teilweise  übervernünftigen 
Offenbarungscharakters  der  christlichen  Religion. 

Unter  dem  Einfluß  der  Schrift  Abaelards  Sic  et  non 
schrieb  Petrus  Lombardus  (tll64  als  Bischof  von  Paris) 
seine  quattuor  libri  sententiarum,  die  im  Mittelalter  eine  Haupt- 
autorität in  theologisch-philosophischen  Fragen  bildeten  und 
vielfach  in  den  sog.  Sentenzen-Kommentaren  erläutert  wurden. 

In  ähnlicher  Weise  stellte  Alanus  ab  insulis  die  Re- 
sultate der  christlichen  Tradition  in  einem  Sammelwerke  de 
arte  fidei  catholicae  zusammen,  zum  Zwecke  der  Verteidigung 
der  Kirchenlehre  durch  Vernunftgründe,  und  zwar  mit  Hilfe 
einer  an  Spinoza  erinnernden  deduktiven  Methode.  Bemerkt 
sei  auch,  daß  für  Alanus  im  12.  Jahrhundert  Piaton  noch 
,;der  Philosoph"  ist. ^ 

Diese  Versuche  der  Dialektik,  im  Namen  des  Wissens  das 
Recht  des  Glaubens  zu  schützen,  gewannen  nun  erhöhte  Be- 
deutung, seitdem  gegen  Ende  des  12.  Jahrhunderts  durch 
Vermittlung  der  Araber  dem  Abendlande  auch  die  metaphy- 
sischen, physischen  und  ethischen  Schriften  des  Aristoteles 
bekannt  wurden,  während  es  bis  dahin  nur  dessen  logische 
Schriften  sowie  die  eloaycoyr]  elg  rag  ^ ÄQioroxekovg  Karrjyogiag 
des  Porphyrius  in  der  lateinischen  Uebersetzung  des  Boethius 
gekannt  hatte. 

Als  Physiker  und  Metaphysiker  wurde  Aristoteles  von  der 
kirchlichen     Behörde     nicht     mit     derselben     Freundlichkeit 


^  Vgl.  M.  Baumgartner:    Die  Philosophie  des  Alanus  de  Insulis 
im  Zusammenhang  mit  den  Anschauungen  des  12.  Jahrh.  dargestellt. 

(Beiträge  z.  Gesch.  d.  Mitt.,  B.  II,  4.) 


30  Alexander  von  Haies 

empfangen,  mit  der  er  als  Logiker  bis  dahin  behandelt 
war.  Die  Pariser  Synode  (1210)  und  der  päpstliche  Legat 
Robert  de  Courcon  (1215)  verboten  die  Aufnahme  der  aristo- 
telischen Metaphysik  und  Naturphilosophie  in  den  Lehrplan 
der  inzwischen  gegründeten  Pariser  Universität;  —  während 
die  aristotelische  Ethik  nicht  verboten  wurde,  obschon  sie  es 
ihres  rein  diesseitigen,  „naturalistischen"  Charakters  wegen  vom 
kirchlichen  Standpunkte  aus  nicht  minder  verdient  hätte. 

Aber  bereits  1254  zählte  die  aristotelische  Metaphysik 
und  Physik  zu  den  offiziellen  Unterrichtsgegenständen 
der  facultas  artium.  Albertus  Magnus  durfte  kurze  Zeit 
darauf  schreiben,  die  Natur  habe  in  Aristoteles  die  höchste 
Vollendung  des  menschlichen  Geistes,  mithin  gleichsam  eine 
Regel  der  Wahrheit  aufgestellt.  Und  der  dem  gleichen  Jahr- 
hundert angehörige  Roger  Bacon  (1214-1294),  den  man 
den  größten  Naturforscher  des  Mittelalters  genannt  hat,  schloß 
sich  diesem  Urteile  durchaus  an,  wenn  er  „dem  Philosophen"  — 
wie  Aristoteles  seit  jener  Zeit  schlechtweg  genannt  wird  — 
für  das  Gebiet  des  Wissens  denselben  Ehrenplatz  anweist, 
den  Paulus  für  den  Glauben  beanspruche.  ^ 

Zu  den  aristotelischen  Schriften  gesellten  sich  ferner  die 
arabischen  Kommentare  eines  Alkendi,  Alfarabi,  Avicenna, 
Averroes,  ferner  die  Schriften  der  jüdischen  Scholastiker 
Avencebrol,  Ibn  Gebirol  und  vor  allem  Maimonides,  der  be- 
sonders auf  Thomas  von  Aquino  wirkte. 

Alexander  von  Haies  (f  1245)  ist  der  erste  mittel- 
alterliche Kenner  des  ganzen  Aristoteles  und  benuzte  als  solcher 


^  Roger  Bacon  schreibt:  Hunc  {sc.  Aristotelem)  natura  formavit, 
ut  dicit  Averroes  in  III  de  anima,  ut  ultimam  perfectionem  hominis 
inveniret.  Hie  omnium  philosophorum  magnorum  testimonio  praefertur 
philosophis  et  philosophiae  adscribendum  est  id,  quod  ipse  affirmavlt, 
unde  nunc  temporis  autonomatice  philosophus  nominatur  in  auctoritate 
philosophiae  sicut  Paulus  in  doctrina  sapientiae  sacrae. 

Op.  malus  II,  c  8. 


Dominikaner  und  Franciskaner  31 

zum  ersten  Male  das  gesamte  Rüstzeug  des  griechischen 
Denkers  zur  Verteidigung  des  Glaubens,  indem  er  unter 
diesem  Einflüsse  die  erste  große  Summa  Theologiae  ver- 
faiSte.  Sie  bedeutet  den  Versuch  einer  logischen  Begründung  der 
Kirchenlehre  mit  Hilfe  der  syllogistischen  Methode.  Indes  bietet 
Alexander  von  Haies  keine  neuen  prinzipiellen  Gesichtspunkte 
für  unser  Problem,  so  wenig  wie  etwa  Vincenz  von  Beauvais. 

Bevor  wir  indes  zu  dem  für  unsern  Zweck  wichtigen 
Albertus  Magnus  übergehen,  müssen  wir  noch  ein  drittes 
Ereignis  erwähnen,  das  neben  der  Rezeption  des  Aristotelis- 
mus  und  dem  Bekanntwerden  des  Abendlandes  mit  den  arabi- 
schen Kommentatoren  für  das  geistige  Leben  des  Mittelalters 
bedeutsam  wurde.  Es  ist  die  Gründung  des  Dominikaner- 
und  Franciskanerordens.  Die  verschiedene  psycho- 
logische Struktur  ihrer  Stifter  hat  beiden  Orden  von  vorne- 
herein ein  verschiedenes  Gepräge  gegeben,  das  auch  für  die 
Geschichte  unseres  Problems  keineswegs  nebensächlich  ist. 
Ist  auch  das  Ziel  beider  dasselbe,  ein  Leben  im  Geiste  des 
Evangeliums,  so  doch  die  Methode  verschieden.  Kurz  und 
treffend  hat  man  gesagt:  »Dominikus  wählte  den  Weg  durch 
den  Verstand,  Franziskus  durch  das  Herz."  Die  Devise  der 
Dominikaner  sei  zu  wirken :  verbo  et  exemplo,  die  der 
Franciskaner  dagegen:  plus  exemplo  quam  verbo. 

Mit  der  Vorsicht,  mit  der  man  in  solchem  Falle  all- 
gemeine Bezeichungen  verwenden  darf,  könnte  man  sagen :  der 
Dominikanerorden  trage  von  Hause  aus  einen  mehr  intellektua- 
listischen  Charakter,  während  der  Franciskanerorden  mehr 
voluntaristisch  gerichtet  sei.  Aber  auch  unter  den  Söhnen 
des  Dominikus  fanden  sich  allen  Vernunft-Grübeleien  ab- 
geneigte Mystiker,  wie  unter  den  Nachfolgern  des  armen 
Franz  von  Assisi  sich  viele  fanden  und  noch  immer  finden, 
die  das  Wissen  zu  fördern  trachten. 

Immerhin  ist  es  kein  Zufall,  daß  gerade  aus  den  Reihen 
der    Franciskaner    Männer   erstanden,    die   dem    menschlichen 


32  Albertus  Magnus 

Wissen  ein  weit  geringeres  Vertrauen  schenkten  und  darum 
von  dem  Glauben  weit  mehr  Aufschlüsse  erwarteten  als  etwa 
die  Dominikaner  Albertus  und  Thomas.  Man  spricht  deshalb 
wohl  von  einer  „skeptischen  Tendenz"  des  Franciskanerordens. 
Mit  welcher  Berechtigung,  wird  im  folgenden  deutlich  werden. 
Nunmehr  zu  jenem  Doctor  universalis,  wie  man  ihn  ge- 
nannt hat,  der  die  erste  systematische  Bearbeitung  der  aristo- 
telischen Schriften  im  Anschluß  an  die  arabischen  Kommen- 
tatoren gibt. 

4.  Albertus  Magnus  (1193-1280). 

In  der  Bestimmung  des  Verhältnisses  zwischen  Theologie 
und  Philosophie  läßt  Albertus  das  rationalistische  Prinzip 
Abaelards  nicht  gelten ;  vielmehr  stimmt  er  dem  anseimischen 
Grundsatze:  Credo  ut  intelligam  zu,  und  zwar  in  jener  uns 
bereits  durch  Anseimus  geläufigen  Interpretation,  daß  nicht 
alle  Offenbarungslehren  nachträglich  durch  die  Vernunft  be- 
gründet werden  können,  wie  z.  B.  nicht  das  Dogma  der 
Trinität  und  der  Auferstehung  des  Fleisches.  Und  vollends 
der  durch  Eriugena  im  Anschlüsse  an  Augustinus  voll- 
zogenen Identifizierung  der  wahren  Religion  mit  der  wahren 
Philosophie  hält  Albertus  die  Auffassung  entgegen,  es  gebe 
Gegenstände  des  Glaubens,  die  der  Vernunft  durchaus  un- 
zugänglich seien,  d.  h.  schlechthin  nur  durch  göttliche  Offen- 
barung mit  Hilfe  des  aus  ihr  stammenden  „übernatürlichen 
Lichtes"  gefunden  werden  könnten. 

Die  Offenbarung  bildet  nun  die  Erkenntnisquelle  der 
Theologie,  während  die  Vernunft  und  die  Erfahrung,  wie  gerade 
Albertus  betont,  das  ausschließliche  Erkenntnisprinzip  der  Phi- 
losophie darstellt.  Theologie  und  Philosophie  sind  darum 
getrennte  Gebiete,  zwischen  denen  kein  ,,Uebergriff" 
—  wie  der  moderne  Ausdruck  lautet  —  stattfinden  soll. 

Sind  demnach  theologische  Sätze  Gegenstände  des 
Glaubens,    so  heißt  das:    sie  können   erstens  nicht,  wie  die 


Albertus  Magnus  33 

philosophischen,  aus  bloßer  Vernunft  bewiesen  werden.  Oleich- 
wohl versucht  freilich  auch  die  Theologie  Vernunftgründe  für 
die  Glaubenssätze  beizubringen,  damit  diese  „besser  erkannt" 
werden,  zugleich  glaubwürdiger  erscheinen  und  endlich  den 
Ungläubigen  gegenüber  besser  verteidigt  werden  können.  ^ 

Der  Zweck  der  Theologie  ist  dabei  stets  ein  ethisch- 
praktischer, die  Beförderung  des  ewigen  Heiles  der  Menschen, 
die  Hebung  der  Frömmigkeit,  und  unterscheidet  sich  auch 
dadurch  zweitens  wesentlich  von  der  Philosophie,  deren 
Ziel  die  Vermehrung  des  Wissens,  nicht  die  religiöse  Er- 
bauung und  sittliche  Hebung  des  Menschen  ist,  ' 

Was  aber  drittens  den  Gewißheitsgrad  betrifft,  so  ist 
dieser  bei  der  unmittelbar  auf  göttlicher  Offenbarung,  auf 
„Inspiration",  auf  dem  „übernatürlichen  Lichte  des  Glaubens" 
beruhenden  Theologie  ungleich  größer  als  bei  der  „bloß 
menschlichen"  Wissenschaft,  die  sich  lediglich  des  natürlichen 
Lichtes  der  Vernunft  bedient.  ^ 

^  Licet  fidei  innitatur  (sc.  theologia)  ut  principio,  tarnen  fides  ipsa 
ex  posterioribus  credit!  quaerit  intellectum  et  rationem. 

S.  theol.  I  tr.  19,  5  m.  3. 

Bene  tres  rationes  assignaverunt  (sc.  antiqui)  propter  quas  bonum 
est  quaerere  rationes  credendorum.  Una  est,  ut  melius  cognoscatur 
creditum.  .  .  .  Melius  eniin  cognoscitur,  quod  duabus  viis  cognoscitur 
quam  quod  cognoscitur  fide  sola.  Secunda  est  propter  inductionem 
simplicium  ad  fidem :  qui  facilius  inducuntur  per  rationem  persuasivam. 
Tertia  est  propter  contradictionem  infidelium  convincendam. 

S.  th.  I  tr.  3,  15  m.  3  art.  2. 

-  Theologia  scientia  est  secundum  pietatem:  hoc  est  non  est  de 
scibili  simplicitur  ut  scibile  est,  nee  de  omni  scibili,  sed  secundum 
quod  est  inclinans  ad  pietatem.  ...  Et  hoc  modo  theologia  scientia 
est  de  his,  quae  at  salutem  pertinent;  pietas  enim  conducit  ad  salutem. 

S.  theol.  I  tr.  1,  2. 

^  lUud  quod  scitur  ex  primo  verius  scitur  quam  id  quod  scitur 
ex  aliquo  secundorum,  sed  quod  scitur  per  inspirationem,  scitur 
ex  primo:  ergo  verius  scitur  quam  ex  aliqua  alia  causa. 

Comm.  in  Math.  p.  V. 

Noster  intellectus  perficitur  luminibus  et  elevatur:  et  ex  lumine 

Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  3 


34  Albertus  Magnus 

Aber  auch  das  letztere  stammt  aus  göttlicher  Quelle  und 
vermittelt  deshalb  eine  „natürliche  Offenbarung".  Es  kann 
also  viertens  prinzipiell  kein  Widerspruch  zwischen  Philo- 
sophie und  Theologie  bestehen,  da  beide  ihren  Ursprung  in 
Gott  haben,  der  als  unendliche  Wahrheit  und  Wahrhaftigkeit 
sich  nicht  selbst  widersprechen  kann.  — 

Eine  Konstruktion,  so  können  wir  schon  jetzt  zu  dieser 
Zwei-Quellen-Theorie  kritisch  bemerken,  die  formal-logisch 
durchaus  unanfechtbar  ist,  die  aber  hinsichtlich  ihres  realen 
Erkenntniswertes  steht  und  fällt  mit  der  Voraussetzung,  daß 
im  Laufe  der  Geschichte  einmal  eine  unmittelbare,  „über- 
natürliche" Offenbarung  auf  Grund  einer  „Inspiration"  bezw. 
in  Christus,  dem  „Sohne  Gottes",  stattgefunden  hat. 

Außerdem  aber  ist  die  prinzipielle  Leugnung  eines  Gegen- 
satzes zwischen  theologischer  und  philosophischer  Wahrheit 
auch  insofern  zunächst  nur  von  formeller  Bedeutung,  als 
es  in  concreto  einmal  sehr  umstritten  sein  kann,  wo  eine 
solche  „Inspiration"  vorliegt  —  das  Mittelalter  löst  diese 
Kanon-Frage  letzten  Endes  durch  die  schon  damals  faktisch 
anerkannte,  wenn  auch  noch  nicht  prinzipiell  dogmatisch  for- 
mulierte Unfehlbarkeit  der  kirchlichen  Lehrentscheidung  —  und 
weil  es  anderseits  in  concreto  nicht  minder  umstritten  sein 
kann,  ob  irgend  ein  Satz  wirklich  eine  philosophische  Wahr- 
heit, d.  h.  ein  allgemein  gültiges  Urteil  darstellt. 

In  jedem  Falle  verdient  Albertus  besondere  Beachtung 
durch  die  nachdrückliche  Betonung,  Philosophie  und  Theologie 
seien  verschiedene  Gebiete  mit  verschiedenen  Erkenntnisprinzi- 
pien. Woraus  er  die  wichtige  Konsequenz  zieht,  theologische 
Sätze  müßten  theologisch,   d.  h.  unter  Berufung  auf  die  gött- 


quidem  connaturali  non  elevatur  ad  scientiam  Trinitatis  et  incarnationis 
et  resurrectionis.  Ex  lumine  autem  fluente  a  superiori  natura  ad  super- 
mundana  elevatur,  quae  potentia  sola  divina  et  voluntate  sunt.  Et  bis 
lumine  desuper  fluente  assentit  et  certius  ea  seit  quam  ea,  quae  ex 
lumine  sibi  connaturali  accipit.  S.  theol.  I  tr.  1,  1. 


Thomas  v.  Aquino  35 

liehe  Offenbarung,  philosophische  Sätze  dagegen  philosophisch, 
d.  h.  durch  Vernunft  und  Erfahrung,  begründet  werden,  deren 
Wert  gerade  er,  der  für  seine  Zeit  bedeutende  und  eifrige 
Naturforscher,  hervorhebt. 

Das  Erbe  Albertus'  tritt  wie  überhaupt,  so  auch  speziell 
für  unser  Problem,  dessen  großer  Schüler  an,  der  „Fürst  der 
Scholastiker",  der  „Meister  aller  Wissenden",  wie  Dante  ihn 
nennt: 

5.  Thomas  v.  Aquino  (f  1274). 
Die  uns  beschäftigende  Frage  erörtert  Thomas  unter 
Hinzuziehung  eines  aus  der  arabischen  Scholastik  stammenden 
Prinzips  der  sog.  doppelten  Wahrheit.  ^  Wenn  auch  neuere 
Untersuchungen  ergeben,  daß  Averroes  keineswegs  in  dem 
ihm  von  Thomas  unterlegten  und  später  etwa  durch  Petrus 
Pomponatius  berüchtigt  gewordenen  Sinne,  vielmehr  dem 
Grundgedanken  nach  genau  wie  die  christliche  Scholastik 
dieses  Prinzip  vertreten  hat,  so  liegt  letzteres  doch  in  seiner 
angeblich  averroistischen  Fassung  gleichsam  als  Gegenstand 
der  thomistischen  Lösung  unserer  Frage  zugrunde. 

In  folgenden  Punkten  bringt  Thomas  seine  Stellung  zu 
jenem  Prinzip  zum  Ausdruck. 

1.  Absolut  genommen,  gibt  es  keine  doppelte  Wahr- 
heit. Gott  ist  die  Eine  Wahrheit.  Folglich  ist  prin- 
zipiell kein  Widerspruch  zwischen  Philosophie  und 
Theologie  möglich,  da  sie  eben  beide  von  Gott, 
dem  Wahrhaftigen,  stammen.'- 

^  Vgl.  Max  Maywald:  Die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit, 
ein  Versuch  der  Trennung  von  Theologie  und  Philosophie  im 
Mittelalter,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  scholastischen  Philosophie. 
Berlin  1871.  L.  Gauthier,  la  Theorie  d'Ibn  Rochd  (Averroes)  sur  les 
rapports  de  la  Religion  et  de  la  Philosophie,  Paris  1909. 

-  Illud  quod  inducitur  in  animam  discipuli  a  docente,  doctoris 
scientia  continet  nisi  doceat  ficte;  quod  de  Deo  nefas  est  dicere. 
Principiorumautem  naturaliternotorumcognitionobisdivinitusestindita, 
cum  ipse  Deus  sit,  auctor  nostrae  naturae.     Haec  ergo    principia 

3* 


36  Thomas  v.  Aquino 

2,  Wohl  aber  gibt  es  in  relativem  Sinne  eine  doppelte 
Wahrheit,  nämlich  insofern  eben  die  Eine  Wahrheit 
objektiv  in  doppelter  Weise  dem  erkennenden  Subjekte 
vermittelt  sein  kann,  nämlich 

a)  durch  Offenbarung,  und  zwar  entweder  als  »ver- 
nünftige", d.  h.  an  sich  auch  der  menschlichen 
Vernunft  zugängliche,  oder  als  «übervernünftige« 
Wahrheit,  d.  h.  als  Geheimnis, 

b)  durch  die  Vernunft. 

Demnach  sind  die  auf  Offenbarung  beruhende  Theologie 
und  die  der  natürlichen  Vernunftbetätigung  entspringende 
Philosophie  die  beiden  objektiv  verschiedenen  Wege,  auf 
denen  die  Eine  Wahrheit  zu  uns  kommt.  ^ 

Man  könnte  die  naheliegende  Frage  erheben,  warum  nicht 
der  eine  Weg  genügt.  Thomas  ist  bereits  eifrig  bemüht, 
diese  Schwierigkeit  zu  lösen.  Er  sucht  den  Zweck  einer 
solchen,  im  relativen  Sinne,  doppelten  Wahrheit  zu  ergründen, 
d.  h.  die  Frage  zu  beantworten,  ob  und  warum  überhaupt 
eine  Offenbarung  notwendig  war. 

etiam  divinaSapientia  continet.  Quidquid  igitur  principiis hujus- 
modi  contrarium  est,  est  divinae  sapientiae  contrarium ;  non  igitur  a  Deo 
esse  potest.  Ea  igitur,  quae  ex  revelatione  divina  per  fidem 
tenentur,  non  possunt  naturali  cognitioni  esse  contraria. 

De  Trin.  2.  art.  3. 

^  Dico  autem  Duplicem  veritatem  divinorum  non  ex  parte 
ipsius  Dei  qui  est  una  et  simplexVeritas,  sed  ex  parte  cognitionis 
nostrae,  quae  ad  divina  cognoscenda  diversimode  se  habet. 

Contra  Gent.  I,  c  9. 

Est  autem  in  his,  quae  de  Deo  confitemur  duplex  veritatis 
modus.  Quaedam  namque  vero  sunt  de  Deo,  quae  omnem  facultatem 
humanae  rationis  excedunt,  ut  Deum  trinum  esse  et  unum.  Quaedam 
vero  sunt,  ad  quae  etiam  ratio  naturalis  pertingere  potest,  sicut  est 
Deum  esse,  Deum  esse  unum  et  alia  hujusmodi,  quae  etiam  phi- 
losophi  demonstrative  de  Deo  probaverunt,  ducti  naturalis 
lumine  rationis.  c.  Gent.  I,  c  3. 

Ferner:  de  ver.  14.  Sent.  lib.  III,  dist.  24,  1.  art.  3. 


Thomas  v.  Aquino  37 

Als  allgemeinsten  Qrund  für  die  (moralische)  Notwendig- 
keit —  man  beachte,  nicht  für  die  bloße  Nützlichkeit  —  der 
Offenbarung  vernehmen  wir:  Nur  wenige  Menschen  sind  im- 
stande, über  die  höchsten  Probleme  des  Daseins  nachzu- 
denken, geschweige  sie  zu  lösen.  Mangel  an  Zeit,  Begabung 
und  Lust  verhindern  es.  Und  selbst  die  Wenigen,  die  sich 
damit  zu  beschäftigen  vermögen,  sind  nicht  vor  Irrtum  ge- 
schützt, beginnen  immer  wieder  an  ihren  Resultaten  zu  zweifeln 
und  sind  überdies  untereinander  so  uneinig,  daß  sie  den 
übrigen  nur  schlechte  Führerdienste  leisten  können.  ^ 

Und  doch  ist  die  absolute  subjektive  Gewißheit  und  ob- 
jektive Wahrheit  in  den  höchsten  Fragen  ein  dringendes  Be- 
dürfnis. Nur  die  göttliche  Offenbarung  ist  ein  zuverlässiger 
Retter  in  dieser  intellektuellen  Not.  — 

Man  beachte,  wie  rasch  dieses  Argument,  den  Wunsch 
zum  Vater  des  Gedankens  machend,  über  die  Frage  hinweg- 
springt, ob  es  nicht  vielleicht  das  Los  des  Menschengeistes 
ist,  sich  in  den  »höchsten  Fragen"  mit  einigem  Stammeln 
oder  doch,  wie  auch  sonst,  mit  vorläufigen,  immer  der  Ent- 
wicklung fähigen  und  bedürftigen  Annahmen  bescheiden  zu 
müssen.  Thomas  hat  zu  viel  von  dem  Blute  des  Dogma- 
tikers  in  sich,  um  dem  Gedanken  einer  solchen  Resignation, 
wie  sie  dem  erkenntnis-theoretisch  Besonnenen  ziemt,  auch  nur 
als  einem  zum  wenigsten  doch  diskutablen  näher  zu  treten. 
Deshalb  ist  das  soeben  angeführte  Argument  für  die  Not- 
wendigkeit einer  Offenbarung  von  vornherein  hinfällig,  weil 
es  auf  einer  zweifelhaften  Voraussetzung  beruht. 

Aehnlich  steht  es  mit  dem  weiteren  Argumente,  das  den 
Zweck  der  Offenbarung  »übervernünftiger"  Wahrheiten  dartun 
soll,  den  wir  früher  z.  B.  Abaelard  leugnen  hörten.  Der 
Mensch  ist  nach  mittelalterlich-dogmatischer  Vorstellung  zu 
einem  «übernatürlichen"  Endziele,  zu  der  „Anschauung  Gottes" 
in  dem  zukünftigen,  ewigen  Leben  berufen    —    einem  Ziele, 

'■  c.  Gent.  I,  4. 


38  Thomas  v.  Aquino 

das  er  mit  den  Mitteln  seiner  bloßen  Natur  nicht  erreichen 
könnte.  Ueber  die  ,; übernatürlichen«  Mittel  aber  vermag 
nur  die  Offenbarung  Aufschluß  zu  geben.  ^ 

Die  petitio  principii  ist  offensichtlich.  Das  „übernatür- 
liche" Ziel  wird  dem  Menschen  ja  allererst  durch  „Offen- 
barung" bekannt,  die  Thomas  demnach  als  Tatsache  bereits 
voraussetzt,  wenn  er  ihre  nachträgliche  Rechtfertigung  unter- 
nimmt. Aber  eben  die  Notwendigkeit  dieser  „Tatsache"  ist 
ja  gerade  das  Problem! 

Ein  weiteres  Moment  zugunsten  der  Offenbarung  sucht 
Thomas  durch  den  Hinweis  auf  die  „Verdienstlichkeit"  des 
Glaubens  an  unbegreifbare  Geheimnisse  geltend  zu  machen. 
Der  Glaube  sei  zwar  ein  Akt  des  Verstandes  —  man  beachte 
gleich  hier  diesen  intellektualistisch  gefärbten  thomistischen 
Glaubensbegriff  im  Gegensatze  zu  dem  Luthers  — ,  der  jedoch 
„auf  Befehl  des  von  Gott  durch  die  Gnade  bewegten  freien 
Willens"  zustande  komme  und  darum  als  sittlich-freier  Glaubens- 
akt „verdienstlich"  sei.  In  den  Geheimnissen  trete  dem  Menschen 
das  jenseitige  Ziel  als  ein  besonders  erhabenes  entgegen.  Der 
Glaube  an  jene  Geheimnisse  sei  darum  ein  besonderer  Aus- 
druck des  Verlangens  nach  jenem  Endziel  und  mithin  be- 
sonders „verdienstlich  für  den  Himmel",  wie  gewöhnlich  hinzu- 
gesetzt wird. ' 

^  Quia  enim  homini  Deus  providit  finem  qui  est  supra  na- 
tu ram  hominis  scilicet  plenam  participationem  suae  beatitudinis  — 
oportet  autem  eum  qui  in  finem  tendit,  si  libero  arbitrio  agat,  cognos- 
cere  finem,  ex  cujus  consideratione  dirigitur  in  his  quae  sunt  ad  finem: 
ideo  oportuit,  ut  homo  alicujus  rei  cognitionem  haberet  quae  natura- 
lem cognitionem  ejus  excedit,  quae  quidem  cognitio  homini  datur  per 
gratiam  fidei.  Sent.  lib.  III,  dist.  24,  1.  art.  3. 

c.  G.  I,  5.  S.  th.  I,  1.  art.  1. 

^  Dicendum  quod  actus  nostri  sunt  meritorii,  in  quantum  proce- 
dunt  ex  libero  arbitrio  moto  a  Deo  per  gratiam.  Unde  omnis  actus 
humanus  qui  subjicitur  libero  arbitrio,  si  sit  relatus  ad  Deum,  potest 
meritorius  esse.  Ipsum  autem  credere  est  actus  intellectus 
assentientis  veritati   divinae  ex  imperio  voluntatis  a  Deo 


Thomas  v.  Aquino  3Q 

Endlich  solle  der  Mensch  durch  den  Glauben  an  die  unbe- 
greifbaren Offenbarungswahrheiten  zur„Demut"  erzogen  werden. 

Auch  zu  diesen  Argumenten  sei  ein  kurzes  Wort  andeu- 
tender Kritik  hinzugefügt.  Man  kann  sehr  wohl  die  Ehr- 
furcht vor  dem  Unbegreifbaren,  die  demütige  Hingabe  an 
die  dunklen  und  geheimnisvollen  Seiten  und  Mächte  des 
Daseins  als  sittlich  wertvoll  bezeichnen  und  erleben,  ohne 
darum  doch  mit  Thomas  das  „sacrificium  intellectus"  in  dem 
Sinne  zu  fordern  und  zu  bringen,  daß  man  sein  eigenes 
Denken  festbannt  auf  einen  historisch  ein  für  alle  Mal  festge- 
legten Vorstellungskreis  und  es  in  diesen  gefangen  gibt.  Man 
kann,  anders  gewendet,  die  erzieherische  Bedeutung  des 
Glaubens  an  ein  Unbegreifliches  als  sittlich  wertvolle  Grund- 
form zugeben,  ohne  deshalb  gerade,  wie  Thomas  und  das 
Mittelalter,  ja  die  christliche  Orthodoxie  überhaupt,  die  „Ge- 
heimnisse" in  bestimmten,  historisch  aufgetretenen  Lehren,  die 
sich  als  göttliche  Offenbarung  ausgaben,  zu  erblicken  und  zu 
verehren.  (Vergl.  unten  Kap.  V). 

3.  Zu  der  Einen  Wahrheit  kann  sich  das  erkennende 
Subjekt  in  dreifacher  Weise  verhalten,  nämlich  je  nach  der 
Art  und  Stärke,  mit  der  es  jener  „zustimmt"  (assentire). 
Meinen,  Glauben  und  Wissen  heißen  diese  drei  Zustände, 
die  sich  folgendermaJäen  unterscheiden.  Hat  das  Sub- 
jekt   keine    innere    Einsicht    in    den    Gegenstand    gewonnen, 

motae    per   gratiam    et   sie   subjacet   libero  arbitrio  in  ordine  ad 
Daum;  unde  actus  fidei  potest  esse  meritorius. 

S.  th.  II,  II  2.  art.  9. 
Nullus  enim  desiderio  et  studio  in  aliquid  tendit  nisi  sit  ei 
praecognitum.  Quia  ergo  ad  altius  bonum  quam  experiri  in  praesenti 
vita  possit  humana  fragilitas  homines  per  divinam  providentiam  or- 
dinantur  .  .  .  oportuit  mentem  evocari  in  aliquid  altius  quam  ratio 
nostra  in  praesenti  possit  pertingere,  ut  sie  disceret  aliquid  desiderare 
et  studio  tendere  in  aliquid,  quod  totum  statum  praesentis  vitae  exeedit. 
Et  hoe  praecipue  christianae  religioni  eompetit,  quae  singulariter  bona 
spiritualia  et  aeterna  promittit.  c.  Gent.  I,  5. 


40  Thomas  v.  Aquino 

kommt  es  mit  seinem  Verstände  über  verschiedene  Annahmen, 
es  verhalte  sich  möglicherweise  so  oder  anders,  nicht  hinaus, 
so  kann  es  doch  auf  Grund  eines  voluntaristischen  Ein- 
schlages, wie  man  das  „voluntarie"  modern  übersetzen  würde, 
mehr  zu  der  einen  Annahme  neigen.  So  entsteht  die 
„Meinung",  wenn  dabei  noch  ein  Zweifel  zurückbleibt,  die 
entgegengesetzte  Annahme  könnte  vielleicht  auch  richtig  sein; 
der  Glaube  dagegen,  wenn  ein  Zweifel  ganz  ausgeschlossen 
ist.  Von  beiden  Arten  der  Zustimmung,  des  assensus,  zur  Wahr- 
heit ist  das  Wissen  unterschieden:  es  schließt  jeden  Zweifel 
aus  und  zugleich  die  innere  Einsicht  in   die  Wahrheit  ein.  ^ 

'  Assentit  autem  intellectus  alicui  dupliciter:  uno  modo  quia  ad 
hoc  movetur  ab  ipso  objecto,  quod  est  per  seipsum  cognitum,  sicut 
patet  in  primis  principiis,  quorum  est  intellectus;  ve!  per  aliud  cognitum, 
sicut  patet  in  conclusionibus,  quarum  est  scientia.  Alio  modo  in- 
tellectus assentit  alicui  non  quia  sufficienter  moveatur  ab  objecto 
proprio,  sed  per  quandam  electionem  voluntarie  declinans  in  unam 
partem  magis  quam  in  aliam;  et  siquidem  hoc  sit  cum  dubitatione  et 
formidine  alterius  partis,  erit  opinio;  si  autem  sit  cum  certitudine 
absque  tali  formidine,  erit  fides.  S.  theol.II,  II  l.art.4.  dever.  14. 

credere  est  .  .  .  actus  intellectus  secundum  quod  a  voluntate 
determinatur  ad  unum.  S.  theo).  II,  II  2  art.  1. 

in  cognitione  fidei  principalitatem  habet  voluntas,  intellectus  autem 
assentit  per  fidem  bis,  quae  sibi  proponuntur,  quia  vult,  non  autem 
ex  ipsa  veritatis  evidentia  necessario  tractus.  c.  Gent.  III,  40. 

Dieser  Zusatz  «quia  vult"  ist  überaus  bedeutsam. 

Die  „natürliche  Vernunft"  kann  also  gleichsam  nur  bis  an  die 
Schwelle  des  Heiligtums  führen.  Ob  der  Mensch  es  betritt,  d.  h.  ob 
er  die  geoffenbarten  Wahrheiten  innerlich  anerkennt  —  ohne  sie  be- 
greifen zu  können  —  darüber  entscheidet  zuletzt  sein  Wille.  Gerade 
darin  besteht  nach  Thomas  das  „Verdienst"  des  Glaubens.  (Vgl.  oben 
S.  38.)  In  Uebereinstimmung  mit  dieser  thomistischen  Lehre  definierte 
das  Vatikanische  Konzil,  der  Glaube  sei  eine  zum  Heile  gehörige  Tat, 
durch  welche  der  Mensch  Gott  selbst  einen  freien  Gehorsam 
leistet,  indem  er  seiner  Gnade  zustimmt  und  mit  ihr  mitwirkt,  ob- 
wohl er  ihr  widerstehen  könnte. 

Conc.  Vatic.  sess.  3,  c  3.  Vgl.  V.  Cathrein,  Glauben  und  Wissen 
Freiburg  1903,  S.  162. 


Thomas  v.  Aquino  41 

Man  sieht,  der  Verfasser  des  Buches  wde  veritate«  hat 
auch  seinen  Ausführungen  über  Glauben  und  Wissen  eine 
Art  erkenntnistheoretische  Grundlage  zu  geben  versucht,  wie 
denn  überhaupt  bekanntlich  die  Scholastik  nicht  ohne  Erkennt- 
nistheorie war,  mochte  letztere  auch  noch  nicht  als  so  selbst- 
ständige Disziplin  behandelt  werden,  wie  es  in  der  modernen 
Philosophie  seit  Locke  bezw.  Bacon  üblich  ist.  Ein  moderner 
Erkenntnistheoretiker  wäre  geneigt,  die  zuletzt  erwähnte  tho- 
mistische  Formel,  es  sei  ein  dreifacher  Assensus  zu  der 
Einen  Wahrheit  möglich,  in  die  andere,  sachlich  sich  mit  jener 
deckende  zu  übersetzen:  es  gebe  drei  Grade  der  Gewißheit 
oder  ein  Wissen  erster,  zweiter  und  dritter  Ordnung,  wie  man 
auch  wohl  zu  sagen  pflegt. 

4.  Glauben  und  Wissen  sind  nicht  nur  subjektiv  in  der 
zuletzt  geschilderten  Weise  —  mit  Rücksicht  auf  das  verschiedene 
Verhalten  des  zustimmenden  Subjekts  —  sondern  auch  objektiv 
verschieden,  zunächst  hinsichtlich  ihres  -Ursprungs.  Der 
Glaube  beruht  auf  Autorität,  der  christliche  auf  der  höchsten; 
denn  der  Grund,  warum  der  Christ  glaubt,  ist  die  göttliche 
Wahrhaftigkeit.  Der  Gegenstand  seines  Glaubens  daher  die 
«erste  Wahrheit"  selbst,  die  «veritas  prima«.  Das  Wissen 
dagegen  entspringt  der  Vernunft.  ^ 

^  Dicendum  quod  cujuslibet  cognoscitivi  Habitus  objectum  duo 
habet,  scilicet  id  quod  materialiter  cognoscitur,  quod  est  sicut  ma- 
teriale  objectum;  et  id  per  quod  cognoscitur,  quod  est  for- 
malis  ratio  objecti;  sicut  in  scientia  geometriae  materialiter  scita 
sunt  conclusiones,  formalis  vero  ratio  sciendi  sunt  media  demonstra- 
tionis,  per  quae  condusiones  cognoscuntur.  Sic  igitur  in  fide  si  con- 
sideremus  formalem  rationem  objecti,  nihil  est  aliud  quam  veritas 
prima.  Non  enim  fides,  de  qua  loquimur,  assentit  alicui  nisi  quia 
aDeo  est  revelatum.  Unde  ipsi  veritati  divinae  fides  innititur 
tamquam  medio.  Si  vero  consideremus  materialiter  ea,  quibus  fides 
assentit,  non  solum  est  ipse  Deus,  sed  etiam  multa  alia,  quae  tarnen 
sub  assensu  fidei  non  cadunt,  nisi  secundum  quod  habent  aliquem 
ordinem  ad  Deum  prout  scilicet  per  aliquos  Divinitatis  effectus  homo 
adjuvatur  ad  tendendum   in  divinam  fruitionem.     Et  ideo   etiam  ex 


42  Thomas  v.  Aquino 

Glauben  und  Wissen  beziehen  sich  ferner  auf  verschiedene 
Objekte  oder  auf  dasselbe  Objekt,  aber  in  verschiedener  Hin- 
sicht. Der  erste  Fall  liegt  bei  den  Geheimnissen  vor,  die  in 
keiner  Weise  Gegenstand  unseres  Wissens  sind;  der  zweite 
Fall  entsteht  folgenderweise.  Ist  es  auch  an  sich  nicht  ohne 
Widerspruch  denkbar,  daß  derselbe  Gegenstand  in  derselben 
Hinsicht  zugleich  Objekt  des  Meinens,  Glaubens  und  Wissens 
ist  —  denn  diese  drei  «assensus«  sind  einander  diametral 
entgegengesetzt  —  so  können  doch  dieselben  Gegenstände 
verschieden  behandelt  werden;  nämlich  einmal,  sofern  sie  in 
der  Philosophie  durch  das  «Licht  der  natürlichen  Vernunft« 
oder  sofern  sie  in  der  Theologie  durch  das  «Licht  der  gött- 
lichen Offenbarung"  erkannt  werden.  Denn  manche  Vernunft- 
wahrheiten, wie  das  Dasein  Gottes,  die  Unsterblichkeit  der 
Seele,  sind  zugleich  auch  geoffenbart.  Als  Grund  hierfür 
vernahmen  wir  bereits  die  Irrtumsfähigkeit  der  Vernunft.  ^  (S.37.) 


hac  parte  objectum   fidei  est  quodammodo  veritas  prima,   in 
quantum  nihil  cadit  sub  fide  nisi  in  ordine  ad  Deum. 

S.  theol.  II,  II  1,  art.  1. 
de  ver.  14;  S.  theol.  I,  99,  art.  1. 

^  De  eodem  secundum  idem  non  potest  esse  simul  in  uno  homine 
scientia  nee  cum  opinione  nee  cum  fide. 

S.  theol.  II,  II  1,  art.  5  ad  4. 

Dicendum,  quod  diversa  ratio  cognoscibilis  diversitatem  scien- 
ciarum  inducit.  Eandem  enim  conclusionem  demonstrat  astro- 
logus  et  naturalis,  puta  quod  terra  est  rotunda;  sed  astrologus  per 
medium  mathemadcum,  id  est  a  materia  abstractum;  naturalis  autem 
per  medium  circa  materiam  consideratum.  Unde  nihil  prohibet  de 
eisdem  de  quibus  philosophicae  disciplinae  tractant,  secundum  quod 
sunt  cognoscibilia  lumine  naturalis  rationis,  etiam  aliam 
scientiam  tractare,  secundum  quod  cognoscuntur  lumine  divin ae 
revelationis.  S.  theol.  I  1,  art.  1  ad  2. 

Man  beachte  bei  Thomas  die  häufige  Gegenüberstellung  des 
lumen  naturale  (bzw.  lumen  naturalis  rationis)  und  des  lumen  supra- 
naturale (bzw.  lumen  divinae  revelationis).    Wendungen,  die  wir  bis 


Thomas  v.  Aquino  43 

Als  Charakteristikum  der  beiden  zuletzt  erörterten  Punkte 
können  wir  dies  bezeichnen,  daß  auch  Thomas  reinliche  Ge- 
bietsteilung zwischen  Glauben  und  Wissen  herzustellen 
sucht,  um  alle  Konfusion  und  Grenzüberschreitung  im  Prinzip 
von  vorneherein  abzuwehren. 

5.  Stellen  wir  nunmehr,  das  Bisherige  teils  neu  beleuchtend, 
teils  ergänzend,  die  abschließende  Frage  nach  der  Stellung 
von  Glauben  und  Wissen  im  Systeme  der  thomistischen 
Theologie,  so  haben  wir  folgendes  festzuhalten. 

Prinzipiell  ist  ein  Wissen  möglich  von  den  Grundlagen 
des  Glaubens  und  folglich  auch  der  Theologie,  ein  historisch- 
philosophisches Wissen  von  der  Tatsache  der  göttlichen 
Offenbarung. 

Thomas  bezeichnet  dieses  Wissen  als  ein  solches,  das 
sich  auf  die  praeambula  fidei  d.  h.  eben  auf  das  bezieht,  was 
dem  Glauben  vorangeht.  Ist  es  auch  nicht  Sache  der  »natür- 
lichen Vernunft",  die  Inhalte  des  natürlichen  Glaubens  restlos 
zu  begreifen,  so  doch  diesen  schließlich  auf  einem  Willensakte 
beruhenden  Glauben  vorzubereiten  durch  den  Nachweis,  daß 


in  die  neuere  Philosophie  hinein  antreffen,  z.  B.  bei  Descartes, 
Tschirnhaus,  Leibniz  u.a.  Vgl.  J.  Verweyen,  E.  W.  v.  Tschimhaus 
als  Philosoph.    Bonn  1905. 

Investigationi  rationis  humanae  plerumque  falsitas  admiscetur 
propter  debilitatem  intellectus  nostri  judicando  et  phantasmatum  per- 
mixtionem.  Etideoapud  multos  in  dubitatione  remanent  ea, 
quae  sunt  verissime  etiam  demonstrata,  dum  vim  demonstrationis 
Ignorant  et  praecipue  cum  videant  a  diversis  qui  sapientes  dicuntur, 
diversa  doceri.  Inter  multa  etiam  vera,  quae  demonstrantur,  immiscetur 
aliquando  aliquid  falsum,  quod  non  demonstratur,  sed  aliqua 
probabili  vel  sophistica  ratione  asseritur,  quae  interdum  demonstratio 
reputatur.  Et  ideo  oportuit  per  viam  fidei,  fixa  certitudine,  ipsam 
veritatem  de  rebus  divinis  hominibus  exhiberi.  Salubriter  ergo  divina 
providet  dementia,  ut  ea  etiam,  quae  ratio  investigare  potest, 
fide  tenenda  praeciperet;  ut  sie  omnes  de  facili  possent  divinae 
cognitionis  participes  esse  et  absque  dubitatione  et  errore. 

c.  Gent.  I,  4. 


44  Thomas  v.  Aquino 

es  der  wahrhaftige  Gott  selbst  ist,   dessen  Worten  der  Christ 
glaubt.  1 

Es  handelt  sich  also  hierbei  um  nichts  Geringeres,  als 
um  Beweise  für  die  Offenbarungs-Tatsache.  Und  wie  be- 
weist Thomas  sie? 

Die  göttliche  Weisheit  hat  sich,  wie  er  ausführt,  durch 
überzeugende  Argumente  geoffenbart,  durch  sichtbare  Werke, 
wdie  das  Vermögen  der  ganzen  Natur  übersteigen",  d.  h.  durch 
Wunder.  Welcher  Art  aber  sind  diese?  Wunderbar  sind 
die  Krankenheilungen,  von  denen  die  hl.  Schrift  erzählt,  die 
Toten-Erweckungen,  die  Verwandlung  von  Himmelskörpern, 
wie  die  plötzlichen  Verfinsterungen  der  Sonne  oder  deren 
Stillestehen  auf  Befehl  eines  Menschen.  Wunderbarer  aber 
ist  noch  die  Wirkung  der  Inspiration-,  daß  infolge  Erleuch- 
tung durch  den  heiligen  Geist  ganz  unbegabte  und  einfältige 
Menschen  (idiotae  et  simplices),  wie  die  Jünger  Jesu,  die 
höchste  Weisheit  verkündigten,  die  sogar  die  „weisesten" 
Menschen  zu  Anhängern  des  Christentums  machten.  Das 
Wunderbarste  jedoch  ist,  daß  eine  ungeheure  Schar  von 
Menschen  (innumerabilis  turba)  nicht  durch  Waffengewalt, 
nicht  durch  Aussicht  auf  irdischen  Lohn,  sondern  unter  völliger 
Verachtung  aller  weltlichen  und  „fleischlichen"  Genüsse  nur  die 
unsichtbaren  zukünftigen  Güter  ersehnt  hat.  Fürwahr  das 
„größte    Wunder    und    ein     offenkundiges    Werk    göttlicher 

^  Rationes  demonstrativae  inductae  ad  ea  quae  sunt  fidei 
praeambula,  non  tarnen  ad  articulos,  etsi  diminuant  rationem  fidei, 
quia  faciunt  esse  apparens  id  quod  proponitur;  non  tarnen  diminuunt 
rationem  caritatis,  per  quam  voluntas  est  prompta  ad  ea  credendum, 
etiamsi  non  apparerent;  et  ideo  non  diminuitur  ratio  meriti. 

S.  theol.  II,  II  2  art.  10. 

Cognitio  fidei  praesupponit  cognitionem  naturalem 
sicut  et  gratia  naturam.  de  ver.  14  art.  9. 

Dicendum  quod  fides  non  habet  inquisitionem  rationis  naturalis 
demonstrantis  id  quod  creditur,  habet  tarnen  inquisitionemquandam 
eorum,  per  quae  inducitur  horao  ad  credendum,  puta,  quia 
sunt  dicta  a  Deo  et  miraculis  confirmata.  S.  th.  II,  II  2  art.  1. 


Thomas  v-  Aquino  45 

Inspiration",  wie  Thomas  schließt!  Um  so  wunderbarer  aber 
ist  dies  alles,  weil  es  bereits  lange  vorher  durch  die  Weis- 
sagungen der  Propheten  verkündigt  war. 

Wunder  und  Weissagungen,  nicht  zum  wenigsten  die 
wunderbare  Ausbreitung  des  Christentums  trotz  aller  Ver- 
folgungen und  trotz  seiner  Anforderungen  an  die  mensch- 
lichen Leidenschaften,  sind  also  nach  Thomas  von  Aquino  ein 
hinreichender  Beweis,  sie  bieten,  wie  er  sagt,  „rationes  de- 
monstrativae"  oder  „convenientia  argumenta"  für  die  „göttliche 
Wahrheit  des  Christentums",  d.  h.  für  die  Tatsache  einer  über- 
natürlichen Offenbarung,  deren  Inhalt  nicht  auf  dem  sonst 
üblichen  Wege  einer  sogen,  immanenten  und  «natürlichen" 
Entwicklung  entstanden;  m.  a.  W.  für  die  Tatsache,  daß  »Gott 
selbst  gesprochen  hat",  wie  die  häufig  bei  Thomas  wieder- 
kehrende Wendung  lautet.^ 

^  Hace  enim  divinae  sapientiae  secreta  ipsa  divina  Sapientia, 
quae  omnia  plenissime  novit,  dignata  est  hominibus  revelare,  quae  sui 
praesentiam  et  doctrinae  et  inspirationis  veritatem  convenientibus 
argumentis  ostendit,  dum  ad  confirmandum  ea,  quae  naturalem 
cognitionem  excedunt,  opera  visibiliter  ostendit,  quae  totius  naturae 
superant  facultatem;  videlicet  in  mirabili  curatione  languorum, 
mortuorum  suscitatione,  coelestium  mirabili  immutatione  et  quod  est 
mirabilius  humanarum  mentium  inspiratione,  ut  idiotae  et  sim- 
plices,  dono  Spiritus  sancti  repleti,  summam  sapientiam  et  facundiam 
in  instanti  consequerentur  .  .  .  praedictae  probationis  efficacia  non  ar- 
morum  violentia,  non  voluptatum  promissione  et  quod  est  mira- 
bili ssim  um  inter  persecutorum  tyrannidem,  innumerabilis  turba  non 
solum  simplicium,  sed  etiam  sapientissimorum  hominum  ad  fidem, 
christianorum  convocavit;  in  qua  omnem  humanum  intellectum  excedentia 
praedicantur,  voluptates  carnis  cohibentur  et  omnia  quae  in  mundo 
sunt,  haberi  contemptui  docentur.  Quibus  animos  mortalium  assentire 
et  maximum  miraculum  est  et  manifestum  divinae  inspira- 
tionis opus,  ut  contemptis  visibilibus  sola  invisibilia  cupiantur. 
Hoc  autem  non  subito  neque  casu,  sed  divina  dispositione  factum  esse 
manifestum  est  ex  hoc  quod  hoc  se  facturum  Deus  multis  ante  Pro- 
phetarum  praedixit  oraculis,  quorum  libri  penes  nos  in  veneratione 
habentur,  utpote  fidei  testimonium  adhibentes.  c.  Gent.  I,  6. 


46  Thomas  v.  Aquino 

Man  würde  dem  mittelalterlichen  Denker  nicht  gerecht 
werden,  wollte  man  folgendes  übersehen.  Wenn  alle  die 
Tatsachen  einwandfrei  festständen,  die  wir  Thomas  soeben  an- 
führen hörten;  wenn  m.  a.  W.  in  der  Geschichte  der  Religion 
im  allgemeinen  und  der  christlichen  im  besonderen  Ereignisse 
nachweisbar  wären,  die  schlechthin  die  Grenzen  möglicher 
»natürlicher"  Leistung  überschritten,  dann  wäre  selbstverständlich 
die  Annahme  eines  »übernatürlichen«  Prinzips  zu  ihrer  Er- 
klärung erfordert.  Die  Göttlichkeit  des  Christentums  wäre 
dann  gleichsam  analytisch  in  seinem  übernatürlichen  Ursprung 
enthalten  und  der  thomistische  Beweisgang  müßte  von  jedem 
Denkenden  angetreten  werden. 

Aber  es  fragt  sich,  ob  nicht  jene  Voraussetzung  im 
höchsten  Maße  anfechtbar  ist.  Wie  ein  Axiom  stand  sie 
freilich  im  ganzen  Mittelalter  unerschütterlich  fest.  Nicht  als 
ob  man  sie  immer  in  der  christlichen  Theologie  unbeachtet 
und  ungeprüft  gelassen  hätte.  Man  bemühte  sich  vielmehr 
eifrig  um  ihre  Rechtfertigung,  wie  wir  u.  a.  schon  bei  Augusti- 
nus sahen.  Aber  man  setzte  dabei  immer  die  Zuverlässig- 
keit der  neutestamentlichen  Ueberlieferung,  namentlich  sofern 
es  sich  um  „wunderbare  Krankenheilungen''  und  ähnliches 
handelt,  voraus.  Die  moderne  kritische  Theologie  aber  war 
und  ist  bemüht,  die  früher  als  unbezweifelbar  angesehene 
Glaubwürdigkeit  der  Evangelien  zu  erschüttern  und  damit 
zugleich  die  Grundlagen  zu  zersetzen,  auf  denen  Thomas  die 
Lösung  unseres  Problems  aufbaut. 

In  eine  sachliche  Erörterung  dieses  Punktes  einzutreten, 
muß  einer  besonderen  Darstellung  vorbehalten  bleiben.  Hier 
handelt  es  sich  in  erster  Linie  darum,  den  Werdegang  des 
Verhältnisses  von  Glauben  und  Wissen  zu  begreifen  und  die 
Stellen  zu  markieren,  an  denen  die  spätere  bezw.  heutige 
Kritik  früherer  Lösungsversuche  einsetzt.  — 

Nehmen  wir  den  früheren  Faden  wieder  auf,  um  uns 
nochmals    zu    vergegenwärtigen,     daß     an    der    Pforte    des 


Thomas  v.  Aquino  47 

thomistischen  Lehrgebäudes  das  Wissen  um  die  praeambula  fidel 
steht.     Aber  es  dringt  auch  in  das  Heiligtum  selbst  hinein. 

Ein  prinzipielles  Wissen  ist  nämlich  auch  bezüglich  der 
sogenannten  „vernünftigen*  —  nicht  „ übervernünftigen «  — 
Glaubenswahrheiten  möglich.  Zu  ihnen  zählt  z.  B.  die 
Existenz  eines  einzigen  und  unkörperlichen  Gottes.  Um  der 
geistig  Schwachen  willen  sind  aber  auch  derartige  Wahrheiten 
geoffenbart,  die  darum  für  jene  die  prima  credibilia,  die  ersten 
Gegenstände  des  Glaubens  bilden,  während  sie  für  die  größere 
geistige  Fassungskraft  anderer  zu  den  praeambula  fidei  gehören. 

Folglich  verflüchtigen  sich  die  an  und  für  sich  Gegen- 
stand des  Wissens  sein  sollenden  praeambula  fidei  je  nach 
der  geistigen  Stufe  des  betreffenden  Menschen  zu  den  ersten 
Gegenständen  des  Glaubens.  Die  geistig  Schwachen  sind 
darum  in  weit  geringerem  Maße  imstande,  ihrem  Glauben 
eine  vernünftige  Wissens-Grundlage  zu  geben,  sie  sind  um  so 
mehr  an  die  Autorität  gewiesen.  ^ 

(Man  ist  geneigt,  im  Sinne  des  Thomas  hinzuzufügen,  daß  dies 
sich  auch  in  anderen  Dingen  so  verhält,  nicht  nur  in  religiösen.) 

'  Sciendum  autem,  quod  aliquid  est  credibile  dupliciter.  Uno 
modo  simpliciter  quod  scilicet  excedit  facultatem  omnium  hominum 
in  statu  viae  existentium  sicut  Deum  esse  trinum  et  hujusmodi.  Et 
de  bis  impossibile  est  ab  aliquo  homine  scientiam  haberi:  sed  quilibet 
fidelis  assentit  hujusmodi  propter  testimonium  Dei,  cui  haec  sunt 
praesto  et  cognita.  Aliquid  vero  est  credibile  non  simpliciter,  sed 
respectu  alicujus,  quod  quidem  non  excedit  facultatem  omnium,  sed 
aliquorum  tantum  sicut  illa,  quae  de  Deo  demonstrative  sciri  possunt, 
ut  Deum  esse  unum  aut  incorporeum  et  hujusmodi.  Et  de  his  nihil 
prohibet,  quin  sint  ab  aliquibus  scita,  qui  horum  habent  demon- 
strationes  et  ab  aliquibus  credita,  qui  horum  demonstrationes  non 
perceperunt;  sed  impossibile  est,  quod  sint  ab  eodem  scita  et  credita. 

de  ver.  14  art.  9. 

Ueber  die  mittelalterlichen  Versuche,  das  Dasein  Gottes  im  Sinne 
der  praeambula  fidei  zu  beweisen  vgl.  M.  Grunwald,  Geschichte  der 
Gottesbeweise  im  Mittelalter. 

(Beitr.  z.  Gesch.  d.  Philos.  d.  Mittelalters,  Bd.  VI,  3.) 


48  Thomas  v.  Aquino 

Unmöglich  aber  können  die  eigentlichen  Geheimnisse 
Gegenstand  des  Wissens  sein.  Wer  es  etwa  unternehmen 
wollte,  sagt  Thomas  gegen  den  Rationalismus  etwa  eines 
Abaelard,  die  Dreiheit  der  göttlichen  Personen,  das  Dogma 
der  Trinität,  zu  »beweisen«,  würde  dem  Glauben  zuwider- 
handeln. Derselbe  Grundsatz:  sola  fide  tenetur  gilt  z.  B.  auch 
von  der  Lehre  der  zeitlichen  Weltschöpfung;  kann  auch  die 
Schöpfung  der  Welt  mit  Hilfe  der  Vernunft  erkannt  werden, 
so  doch  nicht  der  zeitliche  Anfang  der  Welt.  Es  bliebe  eine 
ewige  Weltschöpfung  denkbar.  Nur  die  Offenbarung  belehrt 
uns,  wie  Thomas  im  Anschluß  an  die  Lehren  des  jüdischen 
Scholastikers  Maimonides  ausführt,  über  die  zeitliche  Welt- 
schöpfung. Ebenso  verhält  es  sich  beispielsweise  mit  dem 
Dogma  der  Erbsünde,  der  Menschwerdung  des  Logos,  dem 
Fegefeuer,  der  Auferstehung  des  Fleisches  etc.  ^ 

Es  zeugt  von  dem  lebhaften  Wissensdrange,  von  dem 
intellektualistischen  Charakter  des  mittelalterlichen  Denkers,  wenn 
er  sogar  derartigen  Geheimnissen  gegenüber  die  Ver- 
nunft nicht  zu  völliger  Untätigkeit  verurteilt  sehen  will,  ihr 
vielmehr  eine  doppelte  Aufgabe  zuweist.  Erstens  vermag  und 
soll  die  Vernunft  die  Einwände  der  Gegner  widerlegen  und 
wenigstens  die  Möglichkeit,  d.  h.  innere  Widerspruchslosigkeit 
der  betr.  Dogmen  dartun,  um  so  durch  Abweisung  des  falschen 
Wissens    der   Gegner    gleichsam    die    Bahn    frei    zu    machen 

*  Impossibile  est  per  rationem  naturalem  ad  cognitionem  divinarum 
personarum  pervenire;  per  rationem  naturalem  cognosci  possunt  de 
Deo  ea,  quae  pertinent  ad  unitatem  essentiae,  non  ea  quae  pertinent 
ad  distinctionem  personarum;  qui  autem  probarenititur  trinitatem 
personarum  naturali  ratione,  fidei  derogat. 

S.  theol.  I,  32  a.  L 

Mundum  incepisse  est  credibile,  non  autem  demonstrabile  vel 
scibile.  Et  hoc  utile  est  ut  consideretur,  nisi  forte  aliquis  quod  fidei  est 
demonstrare  praesumens  rationes  non  necessarias  inducat,  quae  praebeat 
materiam  irridendi  infidelibus  existimantibus  nos  propter  hujusmodi 
rationes  credere,  quae  fidei  sunt.  S.  theol.  I,  46  art.  2. 


Thomas  v.  Aquino  49 

für  den  Glauben.  ^  Dieses  Ziel  erreicht  die  Vernunft  noch 
mehr,  wenn  sie  zweitens  auch  Analogien  zu  den  dogma- 
tischen Wahrheiten  in  der  Natur  aufzufinden  sucht;  überdies 
ist  es  schon  eine  Freude,  meint  Thomas,  über  die  höchsten 
Dinge  in  schwachen  Lauten  einiges  stammeln  zu  können. 
Nur  soll  man  sich  hüten,  derartige  Analogien,  die  dem 
Gläubigen  zur  Uebung  und  zum  Tröste  gereichen,  als  Be- 
weise auszugeben;  die  Gegner  würden  dann  ja  erst  recht  nicht 
für  den  Glauben  gewonnen  werden,  wenn  sie  ihn  durch  so 
schwache  Gründe  gestützt  fänden.  ^ 

Aber  so  sehr  sich  auch  der  wissensdurstige  Mensch  be- 
müht, das  Dunkel  der  Geheimnisse  aufzuhellen,  über  schwache 

'  Dicendum  quod  rationes,  quae  inducuntur  ad  auctoritatem  fidei 
non  sunt  demonstrationes,  quae  in  visionem  intelligibilem  intellectum 
humanuni  reducere  possunt;  et  ideo  non  desinunt  esse  non  apparentia; 
sed  removentimpedimenta  fidei  ostendendo  non  esse  impossibile, 
quod  in  fide  proponitur.         S.  theol.  II,  II  2  art.  10.  c  Gent.  I  9. 

-  Considerandum  etiam  videtur,  quod  res  quidem  sensibiles,  ex 
quibus  humana  ratio  cognitionis  principium  sumit,  aliquale  vestigium 
divinae  imitationis  retinent  (videlicet  quod  sunt  et  bonae  sunt),  ita 
tamen  imperfectum,  quod  ad  declarandam  ipsius  Dei  substantiam 
omnino  insufficiens  invenitur  .  .  .  Humana  igitur  ratio  ad  cogno- 
scendum  fidei  veritatem,  quae  solum  videntibus  divinam  substantiam 
potest  esse  notissima,  ita  se  habet,  quod  ad  eam  potest  aliquis  veras 
similitudines  colligere;  quae  tarnen  non  sufficiunt  ad  hoc  quod 
praedicla  veritas  quasi  demonstrative  vel  per  se  intellecta  comprehen- 
datur.  Utile  tarnen  est,  ut  in  hujusmodi  rationibus  quantumcumque 
debilibus  se  raems  humana  exerceat,  dummodo  desit  comprehendi  vel 
demonstrandi  praesumptio,  quia  de  rebus  altissimis  etiam  parva 
et  debili  consideratione  aliquid  posse  inspicere  jucun- 
dissimum  est.  c.  Gent.  I,  8. 

Sunt  tarnen  ad  hujusmodi  veritatem  (quae  supra  rationem  humanam 
est)  manifestandam  rationes  aliquae  verisimiles  inducendae  ad  fidelium 
quidem  exercitium  et  solatium,  non  autem  ad  adversarios  convincendos; 
quia  ipsa  rationum  insufficientia  eos  magis  in  suo  errore  confirmaret, 
dum  aestimarent  nos  propter  tarn  debiles  rationes  veritati  fidei  consentire. 

c.  Gent.  I,  9. 

Ueber  die  visio  beatifica  vgl.  Sent.  lib.  III,  dist.  31,  2,  art.  1. 

Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  4 


50  Thomas  v.  Aquino 

Versuche  kommt  er  dabei  in  Anbetracht  der  Tiefe  götth'cher 
Lehren  doch  nicht  hinaus.  Wenigstens  nicht  in  diesem 
irdischen  Leben.  Erst  im  zukünftigen  ewigen  Leben,  im 
,, Vaterlande",  in  patria,  wie  es  bezeichnenderweise  heißt, 
wird  es  den  Guten  vergönnt  sein,  in  der  „beseligenden  An- 
schauung Gottes",  der  visio  beatifica,  nach  dem  diesseitigen 
Glauben,  den  schon  Paulus  mit  dem  Sehen  in  einem  Spiegel 
vergleicht,  eines  erfüllten,  „von  Angesicht  zu  Angesicht" 
gehenden  „Schauens",  nach  dem  credere  eines  höheren  con- 
templari,  gewürdigt  zu  werden,  soweit  dies  die  endliche 
Kreatur  überhaupt  zuläßt. 

Als  allgemeinster  Grundsatz  aber  ist  immer  festzuhalten: 
Der  Glaube  ist  die  Norm  des  Wissens,  die  Theologie  die 
„Herrin"  der  Philosophie.  Die  wahre  Philosophie  befindet  sich 
immer  in  Uebereinstimmung  mit  den  richtig  verstandenen 
Glaubensiehren  —  aus  Gründen,  die  bereits  erörtert  wurden,  ^ 

Die  Grundsätze,  die  Thomas  von  Aquino  über 
unser  Problem  entwickelt,  leben  bis  heute  in  der  ka- 
tholischen Theologie  fort.  Darüber  später  genaueres 
(Kap.  III  u.  IV). 

Bevor  wir  zu  dem  größten  mittelalterlichen  Theologen 
des  Franciskanerordens  übergehen,  möge  hier  noch  eine 
Zwischenbemerkung  Platz  finden,  nämlich  ein  Hinweis  dar- 
auf, wie  sehr  z.  B.  Nietzsche  auch  den  uns  beschäftigenden 
historischen  Tatbestand  vergewaltigt,  wenn  er  in  dem  89.  Apho- 
rismus der  „Morgenröte"  über  den  «Zweifel  als  Sünde" 
schreibt:  „Das  Christentum  hat  das  Aeußerste  getan,  um  den 
Zirkel  zu  schließen,  und  schon  den  Zweifel  für  Sünde  erklärt. 


^  Unde  et  theologia  maxima  sapientia  dici  debet,  utpote 
semper  altissimam  causam  considerans;  et  propter  hoc  ipsi  quasi 
principali  philosophia  humana  deservit.         c.  Gent.  11,4. 

S.  theo).  II,  II  2  art.  10. 

Man  erkennt  hierin  sogleich  des  Petrus  Damiani  Wort  wieder: 
philosophia  ancilla  theologiae. 


Duns  Scotus  51 

Man  soll  ohne  Vernunft,  durch  ein  Wunder,  in  den  Glauben 
hineingeworfen  werden  und  nun  in  ihm  wie  im  hellsten  und 
■  unzweideutigsten  Elemente  schwimmen;  schon  der  Blick  nach 
einem  Festlande,  schon  der  Gedanke,  man  sei  vielleicht  nicht 
zum  Schwimmen  allein  da,  schon  die  leise  Regung  unserer 
amphibischen  Natur  —  ist  Sünde!  Man  merke  doch,  daß 
damit  die  Begründung  des  Glaubens  und  alles  Nach- 
denken über  seine  Herkunft  ebenfalls  schon  als  sündhaft 
ausgeschlossen  sind.  Man  will  Blindheit  und  Taumel  und 
einen  ewigen  Gesang  über  den  Wellen,  in  denen  die  Vernunft 
ertrunken  ist!"  Wie  wenig  dies  auf  Thomas  von  Aquino,  den 
Hauptrepräsentanten  des  mittelalterlichen,  katholischen  Christen- 
tums zutrifft,  geht  aus  unserer  Darstellung  deutlich  hervor. 
Zeigte  sie  doch,  welchen  breiten  Raum  «die  Begründung  des 
Glaubens  und  alles  Nachdenken  über  seine  Herkunft"  inner- 
halb der  thomistischen  Theologie  einnimmt,  die  keinen  ./blinden", 
sondern  —  in  der  geschilderten  Weise  —  einen  durch  „Wissen« 
begründeten  und  erleuchteten  Glauben  verficht.  Ganz  in 
Uebereinstimmung  mit  dem  Christentum  eines  Paulus,  der  ja 
gerade  die  Forderung  eines  »vernünftigen  Glaubens"  —  eines 
rationabile  obsequium  —    erhebt. 

6.  Duns  Scotus  (f  1308  zu  Cöln). 
Unter  den  Scholastikern  ist  wohl  keiner  so  vielen  Miß- 
verständnissen begegnet  wie  Scotus.  Haben  doch  jüngste 
Forschungen  von  P.  Minges  ergeben,  daß  die  landläufigen 
Darstellungen  dieses  Denkers,  wie  sie  zahlreich  in  den  letzten 
Jahrzehnten  von  Theologen  und  Historikern  gegeben  wurden, 
in  wesentlichen  Punkten  einer  Korrektur  bedürfen.  Da  findet 
man  z.  B.  durchweg  die  Ansicht  verbreitet,  Scotus  verteidige 
die  sog.  Willensfreiheit  in  einem  von  Thomas,  dem  «princips 
scholasticorum",  wesentlich  abweichenden  „ extrem-indetermi- 
nistischen«  Sinne!  Wie  wenig  dies  zutrifft,  wie  sehr  vielmehr 
die    beiden    großen  Scholastiker    in    diesem    Punkte    überein- 

4* 


52  Duns  Scotus 

stimmen,  habe  ich  in  meinem  bereits  erwähnten  Buche  quellen- 
mäßig nachgewiesen  und  dadurch  die  Einheit  der  scholastischen 
Lehrentwicklung  an  einem  Zentral-Punkte  dargetan.  Ebenso 
hat  der  Franziskanerpater  Minges  in  mühsamen  Untersuchungen 
die  scotistische  Freiheitslehre  in  zwei  Arbeiten  dargestellt,  deren 
Titel  lauten:  „Ist  Duns  Scotus  Indeterminist?"  (Münster  1905) 
und  »Der  Gottesbegriff  des  Duns  Scotus  auf  seinen  angeblich 
exzessiven  Indeterminismus  geprüft«  (Wien  1907).  Aehnlich 
hat  derselbe  Verfasser  die  üblichen  Auffassungen  von  der 
Gnadenlehre  des  Scotus  einer  kritischen,  auf  eingehenden 
Quellenstudien  beruhenden  Revision  unterzogen  in  der 
Schrift:  »Die  Gnadenlehre  des  Duns  Scotus  auf  ihren  angeb- 
lichen Pelagianismus  und  Semipelagianismus  geprüft  (Münster 
1906).  Für  die  Geschichte  der  Erkenntnistheorie  sei  noch 
die  spätere  Abhandlung  des  genannten  Autors  erwähnt:  »Der 
angebliche  exzessive  Realismus  des  Duns  Scotus"  (Beiträge  z. 
Gesch.  d.  Philos.  d.  M.-A.  Bd.  Vll). 

Es  ist  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  auch  über  die 
Stellung  des  Duns  Scotus  zu  unserem  Problem  die  verschie- 
densten Entstellungen  im  Umlauf  sind.  Schon  Max  Maywald 
schrieb  in  einer  1868  erschienenen  Schrift  über  »Die  Lehre 
von  der  zweifachen  Wahrheit«,  diese  Lehre  sei  zwar  nicht 
innerhalb  der  Franziskanerschule  entstanden,  aber  doch  von 
ihr  begünstigt  worden.  Eine  Auffassung,  über  die  spätere 
Historiker  —  bis  in  die  Gegenwart  —  erheblich  hinausgingen, 
wenn  sie  gerade  als  die  Lehre  des  Scotus  ausgaben,  Religion  und 
Philosophie  seien  in  dem  Sinne  getrennte  Gebiete,  daß  in  jener 
wahr  sein  könne,  was  in  dieser  falsch  sei  und  umgekehrt.  Die 
»antirationalistische"  Richtung  dieses  Scholastikers  gebe  dann 
natürlich  der  Philosophie  den  Vorrang  in  einem  solchen  Konflikt. 

Was  nun  die  sogenannte  „skeptische  Tendenz«  bei  Duns 
Scotus  anbetrifft,  so  ist  folgendes  zu  beachten.  Schon  der 
Ehrentitel  doctor  subtilis  deutet  seine  Geistesrichtung  an,  die 
sich    in    scharfsinnigen,    manchmal    spitzfindigen    Unterschei- 


Duns  Scotus  53 

düngen  offenbart.  Dabei  kommt  er  zugleich  zu  einer  kriti- 
schen Stellung  zu  den  üblichen  Traditionsbeweisen  für  gewisse 
Lehren.  Als  ein  mathematisch  geschulter  Kopf  stellt  er  scharfe 
Anforderungen  an  einen  «Beweis"  -  schärfere  vielfach  als  sein 
großer  Vorgänger  Thomas  von  Aquino,  dessen  Argumente  ihm 
nicht  selten  zu  wenig  stringent  erscheinen  und  zur  Polemik 
herausfordern.  Nicht  in  dem  Zweifel  an  der  Wahrheit  theo- 
logisch-philosophischer Lehren,  sondern  in  der  vorsichtigeren 
Prüfung  der  für  sie  vorgebrachten  traditionellen  Begründungen 
besteht  die  vielgenannte  „skeptische  Tendenz"  des  Duns 
Scotus, 

Ein  paar  Beispiele.  Aus  den  bekannten  Worten  des 
neuen  Testaments  könne  man  einen  Beweis  für  das  Gebot  der 
Beichte  nicht  ableiten.  Nur  die  kirchliche  Autorität  sei  ein 
zureichender  Grund  für  diese  Forderung;  zumal  auch  das 
Naturgesetz  nur  Gott,  nicht  dem  Priester,  die  Sünden  zu  be- 
kennen gebiete.  Auch  sei  der  Schluß  aus  den  Abendmahls- 
worten Christi  auf  die  Transsubstantiation  nicht  zwingend; 
bliebe  die  Möglichkeit  einer  symbolischen  Interpretation,  hätte 
nicht  die  vom  hl.  Geiste  erleuchtete  Kirche  unter  Innocenz  III. 
auf  dem  Laterankonzil  diese  Lehre  der  Wesensverwandlung 
des  Brotes  und  Weines  in  das  Fleisch  und  Blut  Christi  als 
Wahrheit  verkündet,  weshalb  es  nunmehr  ebenfalls  ein  sünd- 
hafter Irrtum  wäre,  anzunehmen,  daß  Brot  und  Leib  Christi 
gleichzeitig  nebeneinander  existierten.  Ja  selbst  den  sogen. 
Gottesbeweisen  steht  Scotus  sehr  kritisch  gegenüber.  Zwar 
bemüht  er  sich  um  Vernunftbeweise  für  das  Dasein  Gottes, 
wie  aus  seinem  Gebete  im  3.  Kap.  der  Schrift  de  primo 
principio  hervorgeht:  «Herr,  unser  Gott,  der  du  verkündet 
hast,  du  seiest  der  erste  und  der  letzte,  lehre  deinem  Diener 
dasjenige  aus  der  Vernunft  zu  zeigen  (ostendere  ratione), 
was  er  mit  gewissestem  Glauben  festhält,  daß  du  bist  die 
erste  bewirkende  Ursache,  das  erste  eminente  Wesen  und  das 
letzte  Endziel".     So  schließt  Scotus    von  dem  Endlichen  und 


54  Duns  Scotus 

Zeitlichen  auf  ein  Ewiges  und  Unendliches,  indem  er  im 
Anschluß  an  die  aristotelischen  Gottesbeweise  ein  erstes  Wesen 
zu  beweisen  unternimmt,  dessen  Persönlichkeit  ihm  jedoch 
im  Gegensätze  zu  Thomas  und  Aristoteles  erst  auf  Grund 
moralischer  Argumente  gesichert  erscheint.  Aber  auch  diese 
führen  nicht  zu  der  Erkenntnis  aller  Eigenschaften  Gottes:  seine 
Allmacht,  Unermeßlichkeit,  Allgegenwart,  Wahrheit,  Gerechtig- 
keit, Barmherzigkeit  und  Vorsehung  sind  dem  Lichte  der 
natürlichen  Vernunft  nicht  zugänglich.  Aehnlich  verhält  es 
sich  mit  der  Unsterblichkeit  der  Menschenseele.  Auch  für 
diese  von  Scotus  keineswegs  weder  philosophisch  noch  theo- 
logisch angezweifelte  Lehre  genügen  ihm  die  Beweise  des 
Aristoteles  und  Thomas  nicht.  Wenn  man  z.  B.  argumen- 
tiere, den  Bösen  gehe  es  oft  viel  besser  in  der  Welt  als  den 
Guten,  weshalb  die  ausgleichende  Gerechtigkeit  eine  jenseitige 
Verwaltung  verlange,  so  sei  das  keine  stichhaltige  Begrün- 
dung. Denn  die  natürliche  Vernunft  könne  nicht  das  Dasein 
eines  vergeltenden  Lenkers  der  Welt  beweisen.  Und  selbst 
einen  solchen  voraussetzend,  könne  man  noch  immer  auf  die 
immanente  Belohnung  und  Bestrafung  hinweisen,  die  in  der 
guten  wie  bösen  Tat  selbst  liege.  Vollends  aber  sei  es  un- 
möglich, die  übernatürliche  Seligkeit  des  Himmels  sowie  die 
Ewigkeit  der  Höllenstrafen  der  natürlichen  Vernunft  zu  be- 
weisen. Während  Scotus  die  Unsterblichkeit  der  Seele  in 
einigen  Werken  wie  dem  Sentenzen-Kommentar,  nicht  mit 
metaphysischer  Strenge,  wenn  auch  als  moralisch  wahrschein- 
lich, gegen  die  Einwände  der  heidnischen  Philosophen  ver- 
leidigen zu  können  glaubt,  hat  er  in  anderen  Schriften  die 
natürliche  d.  h.  philosophische  Erkennbarkeit  der  Unsterblichkeit 
gelehrt. 

Alle  diese  Punkte  hat  P.  Minges  auf  Grund  eingehender 
und  quellenmäßiger  Untersuchungen  in  der  besonderen  Abhand- 
lung erörtert:  Das  Verhältnis  zwischen  Glauben  und  Wissen, 
Theologie  und  Philosophie    nach   Duns    Scotus    (Forsch,  zur 


Duns  Scotus  55 

Christi.  Lit.  u.  Dogmeng.  Bd.  VII,  Paderborn  1908).  Das 
Resultat  dieser  jüngsten  Forschungen  faßt  der  Autor  in 
folgenden  Thesen  zusammen:  I.  »Es  ist  falsch,  daß  nach  Scotus 
Glaube  und  Wissen  einander  widersprechen  können  oder  daß 
etwas  philosophisch  wahr  sein  könne,  was  theologisch  falsch 
ist  oder  umgekehrt.  IL  Es  ist  falsch,  daß  Scotus  auf  den 
Nachweis  der  Harmonie  zwischen  Wissen  und  Glauben  kein 
großes  Gewicht  legt.  III.  Es  ist  falsch,  daß,  wie  Schwane 
meint,  Scotus  auf  eine  spekulative  Theologie  gar  kein  großes 
Gewicht  legt.  IV.  Diejenigen  Stellen,  die  einen  scheinbaren 
Gegensatz  zwischen  Theologie  und  Philosophie  enthalten, 
einer  Trennung  beider  das  Wort  zu  reden  scheinen  oder  eine 
gewisse  Vernachlässigung  der  Philosophie  und  spekulativen 
Theologie  bekunden,  lehren  in  Wirklichkeit  etwas  ganz 
anderes.  Sie  sagen  speziell  nur,  daß  die  katholische  Lehre 
nicht  übereinstimmt  mit  so  manchen  Behauptungen  der  heid- 
nisch-arabischen Philosophen.  V.  Es  ist  falsch,  daß  es  Scotus 
vornehmlich  auf  die  demütige  Unterwerfung  unter  die  Autori- 
tät Gottes  und  der  Kirche  ankomme  oder  daß  er  von  vorn- 
herein die  Tendenz  habe,  die  natürliche  Erkenntnis  zugunsten 
der  übernatürlichen  zu  schmälern  und  die  spekulative  Theo- 
logie in  Zweifel  aufzulösen.  Scotus  glaubt  nur,  daß  manche 
philosophische  oder  theologische  Beweise  anderer  Gelehrten 
nicht  genügend  oder  stringent  sind;  an  deren  Stelle  bringt 
er  andere  Beweise  vor  und  sieht  auf  philosophischem  wie 
auf  theologischem  Gebiete  manche  Sätze  als  beweisbar  an,  die 
von  anderen  Philosophen  und  Theologen  als  unbeweisbar 
gelten." 

Zum  Schlüsse  sei  die  Stellung  des  Duns  Scotus  zu 
unserem  Problem  noch  durch  folgendes  Schema  kurz  er- 
läutert.    Er  betont 

L  Die  Verschiedenheit  von  Glauben  und  Wissen,  Theologie 

und  Philosophie,  und  zwar 

a)  hinsichtlich  ihres  Ursprunges  oder  Erkenntnisprinzips, 


56  Duns  Scotus 

das   dort   übernatürliche   Offenbarung,   hier  natürliche 
Vernunft  lautet.^     Folglich 

b)  nach  ihrem  Objekt:  die  Theologie  handelt  von  Offen- 
barungswahrheiten, die  Philosophie  von  Vernunftwahr- 
heiten, 

c)  nach  Gewißheit:  diese  ist  bei  der  Theologie  am  höch- 
sten, weil  sie  unmittelbar  auf  der  göttlichen  Wahr- 
haftigkeit beruht.  2 

d)  nach  ihrem  Zweck:  die  Theologie  ist  zwar  eine  Wissen- 
schaft, wenn  man  darunter  ein  System  von  wirklichen 
Erkenntnissen  versteht;  freilich  keine  Wissenschaft  Am 
allerstrengsten  Sinne",  weil  sie  als  »Glaubenswissen- 
schaft«  —  ein  Ausdruck,  den  wir  später  noch  in  der 
Theologie  unserer  Tage  antreffen  werden  -  sich  nicht 
lediglich  auf  natürlichen  und  in  sich  evidenten  Prin- 
zipien aufbaut  und  keine  volle  innere  Einsicht  in  die 
Offenbahrungslehren  gewährt.  Endlich  -  eben  ihrem 
Zwecke  nach  -  eine  praktische,  von  der  rein  theore- 
tisch gerichteten  Philosophie  verschiedene  Wissenschaft, 
die  zugleich  die  religiös-sittliche  Erziehung  des  Menschen, 
sein  Seelenheil   im   Auge  hat.^     Gerade  dieser  Zweck 


^  Haec  scientia  (theologia)  nulli  subalternatur.  Quia  licet  sub- 
jectum  eius  possit  aliquo  modo  contineri  sub  subjecto  Metaphysicae, 
nulla  tarnen  principia  accipit  a  Metaphysica,  quia  nuUa  passio  theo- 
logica  demonstrabilis  est  in  ea  per  principia  entis  vel  per  rationem 
sumptam  ex  ratione  entis.  Nee  ipsa  aliam  (scientiam)  sibi  subalternat: 
quia  nulla  alia  scientia  accipit  principia  ab  ipsa.  Nam  qraelibet  alia 
in  genere  cognitionis  naturalis  habet  resolutionem  suam  ultimo  ad 
aliqua  principia  immediata  naturaliter  nota.  Sent.  prol.  3. 

*  Cum  Sit  duplex  prioritas  in  scientia  scilicet  ex  nobilitate  objecti 
et  ex  certitudine  notitiae,  haec  (sc.  theologia)  est  utroque  modo  cer- 
tissima,  quia  habet  objectum  nobilissimum  et  principia  secundum  se 
certissima  sunt.  Rep.  prol.  3. 

^  Fides  non  est  habitus  speculativus  nee  credere  est  actus  specu- 
lations   nee  visio   sequens  credere  est  visio  speculativa,   sed  practica. 

Vgl.  Minges  1.  c.  S.  79,  104,  106,  111  u.  118.  ^^"^-  P''^^'  ^- 


Duns  Scotus  57 

war  ohne  Offenbarung  nicht  erreichbar.  Darum  be- 
tont Scotus 
IL  DieNotwendigkeit  der  Offenbarung  und  Theologie.  Jedes 
erkennende  Wesen  —  darin  gipfelt  sein  Gedankengang  - 
muß  den  Zweck  seines  Handelns  erkennen,  wenn  es  ihn 
überhaupt  anstreben  soll.  Nun  hat  aber  der  Mensch 
objektiv  ein  übernatürliches  Ziel,  die  „Anschauung  Gottes* 
ist  also  mit  den  Mitteln  seiner  bloßen  Natur  nicht  fähig, 
jenes  zu  erkennen.  Also  ist  eine  übernatürliche  Hilfe 
notwendig,  eine  Offenbarung  als  eine  doctrina  super- 
naturaliter  addita,  und  zwar 

a)  hinsichtlich  des  übernatürlichen  Zieles  selbst  (-  das 
aber  doch  seinerseits  erst  aus  der  Offenbarung  erkannt 
ist,  weshalb  auch  Scotus  —  wie  Thomas  —  bei  dieser 
Argumentation  in  den  Fehler  der  petitio  principii  fällt!), 

b)  hinsichtlich  der  Mittel,  die  mit  Rücksicht  auf  das  Ziel 
ebenfalls  übernatürlich  und  deshalb  auch  geoffenbart 
sein  müssen. 

III.  Als  Beweise  der  Tatsache  der  Offenbarung  führt  Scotus  an: 

a)  die  Erfüllung  der  Weissagungen  sowie  die  zahlreichen 
Wunder,  von  denen  das  alte  und  neue  Testament 
berichtet, 

b)  dieUebereinstimmung  der  biblischen  Schriftsteller,  welche 
die  Wahrheit  sagen  „konnten"  und   «wollten", 

c)  die  Uebereinstimmung  der  christlichen  Lehre  mit  der 
„gesunden  Vernunft",  die  alle  Einwände  der  Gegner 
als  nichtig  erkennt, 

d)  die  Fortdauer  der  Kirche  trotz  aller  Anfeindung. 

Es  erübrigt  sich  für  unseren  Zweck,  hier  in  eine  nähere 
Kritik  dieser  „Beweise«  einzutreten.  Nur  bleibe  nicht  uner- 
wähnt, daß  letztere  —  die  wir  im  Prinzip  ja  bereits  bei  den 
früheren  Denkern  antrafen  -  ihrem  Kerne  nach  durch  das 
Vatikanische  Konzil  approbiert  wurden,  (sess.  3,  c.  2.) 


58  Bonaventura 

7.  Bonaventura  (tl274). 
Auch  Bonaventura  stellt  fest,  daß  es  Wahrheiten  gibt,  die 
sowohl  durch  die  Vernunft  als  auch  durch  die  Offenbarung  gelehrt 
werden,  wie  z.  B.  das  Dasein  Gottes.  Aber  weil  die  Philosophie 
doch  nie  absolut  klare  und  irrtumsfreie  Erkenntnis  über  Gott 
und  göttliche  Dinge  gibt  —  wir  würden  heute  sagen:  weil  die 
Metaphysik  nie  zu  apodiktischen  Urteilen  gelangt  — ,  so  ge- 
währt die  übernatürliche  «Erleuchtung  des  Glaubens"  größere 
Gewißheit  als  das  natürliche  Wissen.  Wenn  auch  einige  Philo- 
sophen ,; viele  Wahrheiten«  über  Gott  erkannten,  so  irrten  sie 
doch  auch  in  vielen  Punkten,  weil  sie  «den  Glauben  entbehrten«.^ 
Aber  wie,  wenn  es  sich  um  Wahrheiten  handelt,  die  aus- 
schließlich Gegenstand  der  Philosophie,  des  natürlichen  Er- 
kennens  sind?  Dann,  antwortet  Bonaventura,  ist  eine  doppelte 
Gewißheit  zu  unterscheiden.  Fragt  man  nach  dem  Grade 
der  inneren  Anhänglichkeit  an  die  betreffenden  Wahrheiten, 
so  ist  die  certitudo  adhaesionis  bei  dem  Wissenden  geringer  als 
bei  dem  Gläubigen.  Denn  der  Gläubige  läßt  sich  nicht  einmal 
durch  die  größten  Folterqualen  von  seinem  Glauben  abbringen. 
Der  Wissende  dagegen  geht  nicht  in  den  Tod  für  die  Ver- 
nunftwahrheiten. (An  den  Martertod  des  Sokrates  denkt 
Bonaventura  nicht,  und  Giordano  Bruno  hatte  der  Welt  noch 

^  Ratio  autem,  quare  talis  scientia  simul  potest  esse  de  eodem 
cum  ipsa  fide  et  quod  una  cognitio  alteram  non  expellit,  est,  quia 
scientia  manuductione  ratiocinationis  licet  aliquam  certitudinem  et 
evidentiam  faciat  circa  divina;  illa  tarnen  certitudo  et  evidentia  non 
est  omnino  clara,  quamdiu  sumus  in  via.  Quamvis  enim  aliquis 
possit  rationibus  necessariis  probare  Deum  esse  et  esse  Deum  unum, 
tarnen  cernere  ipsum  divinum  esse  et  ipsam  Dei  unitatem  et  qualiter 
illa  unitas  non  excludit  pluralitatem  personarum,  non  potest  nisi  per 
iustitiam  fidei  emundetur.  Unde  illuminatio  et  certitudo  talis  scientiae 
non  est  tanta,  quod  habita  illa  superfluat  illuminatio  fidei,  imo  valde 
est  cum  illa  per  necessaria.  Et  hujus  Signum  est,  quia  licet  aliqui 
philosophi  de  Deo  sciverunt  multa  vera,  tamen  quia  fide 
caruerunt,  in  multis  erraverunt  vel  etiam  defecerunt. 

Sent.  lib.  III  dist.  24,  art.  2,  3. 


Bonaventura  59 

nicht  das  Schauspiel  seiner  Charakterfestigkeit  gegeben.)  Ander- 
seits sei  die  certitudo  speculationis  vielfach  in  der  Wissenschaft 
größer  wegen  der  inneren  Einsicht  in  die  natürlichen  Wahr- 
heiten. ^ 

Gleich  den  anderen  großen  Theologen  des  Mittelalters 
hat  auch  Bonaventura  sich  um  die  spekulative  Durchdringung 
der  christlichen  Lehren  bemüht.  Schrieb  doch  auch  er  einen 
Kommentar  zu  den  Sentenzen  des  Petrus  Lombardus;  war  doch 
auch  er  neben  Thomas  ein  berühmter  Lehrer  und  Nachfolger 
seines  Ordensgenossen  Alexander  von  Haies  auf  dem  Lehr- 
stuhl zu  Paris!  Dennoch  liegt  der  Schwerpunkt  dieses  Doctor 
seraphicus  —  so  lautet  Bonaventuras  Ehrentitel  -  nicht  in 
der  begrifflichen  Zergliederung  und  Begründung  der  Glaubens- 
wahrheiten, nicht  im  diskursiven  Denken  über  sie,  sondern  in 
ihrer  unmittelbaren  Erfassung,  nicht  in  der  verstandesmäßigen 
Spekulation,  sondern  in  der  gemütstiefen  Intuition. 

Ihm  gilt  es  als  die  tiefste  Weisheit,  sich  anbetend  in  die 
Geheimnisse  des  Glaubens  zu  versenken,  insbesondere  in  das 
Leben  und  Sterben  Christi,  um  schon  hienieden  in  inniger 
Gemeinschaft  mit  diesem  „Bräutigam  der  Seele"  zu  leben  — 
wie  das  beliebte  Bild  lautet  —  und  darin  bereits  einen 
„Vorgeschmack"  der  künftigen  himmlischen  Seligkeit  zu 
besitzen.  Den  Höhepunkt  aber  erreicht  dieses  Schauen  in 
jenem  begnadeten  Zustande  der  Ekstase,  wenn  die  Seele 
gleichsam  alle  Bande  des  irdisch-leiblichen  Lebens  abgestreift 
hat,  ganz  in  die  Tiefe  der  göttlichen  Geheimnisse  untertaucht 
und  in  unbeschreiblichem  Jubel  die  Gottheit  selbst  zu  „um- 
armen" fühlt.  Solche  hehren  Augenblicke  kann  man  nicht 
mit  dem  Verstände  begreifen,  sondern  nur  mit  tiefstem 
Gefühle  erleben.  So  bekennt  Bonaventura  in  seinem  Itine- 
rarium  mentis  ad  Dominum:  „Möchtest  du  diesen  Vorgang 
kennen,  so  frage  die  Gnade,  nicht  die  Lehre;  das  Verlangen, 
nicht    das   Erkennen;    die    Seufzer    des    Gebetes,    nicht    das 

*  Sent.  IIb.  III  dist.  23,  art.  1,  4. 


60  Bonaventura 

Studium;  den  Bräutigam,  nicht  den  Leiirer;  Gott,  nicht  den 
Menschen;  nicht  das  Licht,  sondern  jenes  hoch  lodernde 
Feuer,  das  in  überströmender  Salbung  und  glühenden  Affekten 
zu  Gott  hinreißt,  dessen  Glutherd  zu  Jerusalem  ist,  wo  der 
Gottmensch  es  durch  die  Glut  seines  brennenden  Leidens 
angezündet  hat."  So  gewährt  die  contemplatio,  das  Schauen, 
in  glaubensvoller  Hingabe  an  die  göttlichen  Wahrheiten  ein 
höheres  Wissen,  als  die  irdische,  auf  sich  gestellte  Vernunft 
zu  erreichen  vermag.  Alle  menschliche  Weisheit  ist  nicht 
nur  Stückwerk,  sondern  zugleich  Torheit  im  Vergleich  zu 
jener  mystischen  Erleuchtung.  Denn  „Mystik"  heißt  die  ge- 
schilderte Richtung,  in  der  Bonaventura  sich  bewegt,  an- 
knüpfend an  Augustinus,  der  bereits  unter  dem  Einfluß  neu 
platonischer  Gedankengänge,  in  denen  die  Ekstasis  eine 
zentrale  Stellung  einnimmt,  von  jenem  ekstatischen  Erlebnisse 
des  amplexus  Dei  und  raptus  in  Deum  begeistert  redet 
(de  mor.  eccl.  cath.  I,  22.  de  gen.  ad  lit.  XII,  26),  und  in  Bern- 
hard von  Clairvaux  sowie    den  Victorinern   Nachahmer  fand. 

Es  wäre  irrig,  zwischen  mittelalterlicher  Scholastik  und 
Mystik  einen  feindlichen  Gegensatz  anzunehmen.  Beide  be- 
zeichnen vielmehr  lediglich  verschiedene  Wege,  die  Offen- 
barungslehren dem  menschlichen  Geiste  innerlich  nahezu- 
bringen. Dort  unternimmt  man  es  vorwiegend  mit  Hilfe 
des  spekulierenden  Intellekts,  hier  in  erster  Linie  mit  der  Glut 
eines  von  Liebe  zum  Göttlichen  entbrannten  Gemütes,  das 
weniger  ein  begrifflich  -  spekulatives  als  ein  kontemplatives 
Geistesleben  liebt.  Beide  Wege  ergänzten  sich.  So  konnte 
auch  der  „Intellektualismus"  eines  Thomas  von  Aquino  in 
derselben  Persönlichkeit  neben  mystischen  Elementen  bestehen. 

Indes  das  harmonische  Band  zwischen  diesen  beiden 
verschiedenen  Geistesrichtungen  blieb  in  der  Folgezeit  nicht 
immer  bestehen.  Nicht  zum  wenigsten  in  diesem  Umstände 
liegt  der  Einfluß,  den  die  mittelalterliche  Mystik  ungewollt  auf 
die  spätere  Entwicklung  unseres  Problems  ausgeübt  hat.  Waren 


Roger  Bacon  61 

es  doch  gerade  die  späteren  Mystiker,  die  immer  mehr  die 
von  den  bisherigen  mittelalterlichen  Theologen  anerkannten 
Rechte  der  Vernunft  zugunsten  des  Glaubens  beschnitten  — 
ein  Verfahren,  das  dann  für  die  einflußreiche  Gedankenwelt 
Luthers  vorbildlich  wurde. 

Doch  bevor  wir  hierauf  eingehen,  müssen  wir  uns  von 
dem  großen  Mystiker  Bonaventura  einem  der  größten  Natur- 
forscher des  Mittelalters  zuwenden,  der  ebenfalls  dem  Francis- 
kanerorden  angehörte  und  in  Oxford  lehrte. 

8.   Roger  Bacon  (f  1294). 

In  ihm  begegnen  wir  einem  begeisterten  Verehrer  der 
Naturwissenschaft,  speziell  der  Astronomie.  ^  Auch  er  faßt 
den  Begriff  der  „Philosophie"  in  einem  sehr  weiten  Sinne  und 
versteht  darunter  den  Inbegriff  aller  Vernunftwahrheiten. 
Letztere  aber  werden,  wie  er  nachdrücklich  hervorhebt,  nicht 
etwa  allein  durch  logische  Beweise  ermittelt,  sondern  wesent- 
lich unter  Hinzuziehung  einer  zweiten  natürlichen  Erkenntnis- 
quelle, nämlich  der  Erfahrung.  Bloße  Vernunft-Spekulation 
führt  nicht  zu  einem  „sicheren  Schauen  der  Wahrheit";  ohne 
Erfahrung,  sagt  schon  dieser  mittelalterliche  Bacon,  wie  sein 
späterer  Landsmann  Bacon  von  Verulam  (1561-1626),  kann 
nichts  Bestimmtes  gewußt  werden.  Sine  experientia  nihil 
sufficienter  sciri  potest.  ^ 

Was  den  Zweck  der  Philosophie  betrifft,  so  soll  sie  nicht 
als  Selbstzweck  das  Wissen  um  des  bloßen  Wissens  willen 
zu  erweitern  trachten,  sondern  alle  ihre  Bemühungen  sollen 
letzten  Endes  der  sittlichen  Bestimmung  des  Menschen  dienen. 

^  Vgl.  Franz  Strunz,  Geschichte  der  Naturwissenschaften 
im  Mittelalter,  Stuttgart  1910,  S.  93  ff. 

-  Duo  sunt  modi  cognoscendi,  scilicet  per  argumentum  et  per 
experientiam.  Argumentum  concludit  et  facit  nos  concludere  quaestionem, 
sed  non  certificat  neque  removet  dubitationem,  ut  quiescat  animus 
in  intuitu  veritatis  nisi  eam  inveniat  via  experientiae  ...  Sine  ex- 
perientia nihil  sufficienter  sciri  potest.       Op.  mains  VI  c  1. 


62  Roger  Bacon 

Gott  gilt  es  aus  seiner  Schöpfung  zu  erkennen  und  zugleich 
das  Verhältnis,  in  dem  der  Mensch  zu  Gott  steht.  Nur  eine 
solche  ethisch-religiös  orientierte  Philosophie  hat  Wert.  Die 
Philosophie  der  „Ungläubigen"  ist  durchaus  schädlich  und 
darum  völlig  wertlos;  sie  stammt  aus  der  Finsternis  und  ver- 
dunkelt den  Geist.  „Ungläubig"  aber  und  darum  verderblich 
ist  jede  Philosophie  „an  sich"  —  secundum  se  - ,  die  ihre  eigenen, 
selbständigen  Wege  geht,  ohne  Rücksicht  auf  die  Lehren  der 
göttlichen  Offenbarung.  Nur  diese  schützt  das  endliche 
menschliche  Denken  vor  Irrtum.  Die  „wahre"  Philosophie 
bleibt  darum  in  engstem  Zusammenhange  mit  der  Theo- 
logie. Sie  beweist  die  Wahrheit  des  christlichen  Glaubens, 
vorab  die  Tatsache  der  Offenbarung,  und  arbeitet  der  Theologie 
durch  Ermittelung  der  auf  Gott  bezogenen  Vernunftwahr- 
heiten vor,  indem  sie  vor  allem  zu  der  Erkenntnis  Gottes 
aus  dem  sichtbaren  Werke  seiner  Schöpfung  gelangt  und 
daraus  zugleich  die  Pflicht  der  Gottesverehrung  für  den 
Menschen  ableitet.  ^ 

Aufgabe  der  Theologie  aber  ist  es  alsdann,  unter 
Berufung  auf  die  göttliche  Offenbarung  die  Vernunftwahr- 
heiten zu  vertiefen  und  zu  ergänzen.  Die  Theologie  ist  dem- 
nach infolge  ihrer  göttlichen  Grundlage  hoch  erhaben  über  der 

^  Philosophia  habet  dare  probationes  fidei  Christianae. 

Op.  malus  II,  c  8. 

Totius  philosophiae  decursus  consistit  in  eo,  ut  per  Cognitionen! 
suae  creaturae  cognoscatur  creator,  cui  propter  reverentiam  majestatis 
et  beneficium  creationis  et  futurae  felicitatis  serviatur  in  cultu  honorifico 
et  morum  pulchritudine  et  legum  utilium  honestate,  ut  jin  pace  et 
honestate,  vivant  homines  in  hac  vita.  Philosophia  enim  specu- 
lativa  decurrit  usque  ad  cognitionem  creatoris  per  crea- 
turas.  Et  moralis  philosophia  morum  honestatem,  leges  justas  et 
cultum  Dei  statuit  et  persuadet  de  futura  felicitate  utiliter  et  magnifice, 
secundum  quod  possibile  est  philosophiae.  Op.  maius  II,  c  7. 

Philosophia  infidelium  est  penitus  nociva.         II,  c8. 

Philosophia  secundum  se  ducit  ad  caecitatem  infernalem  et 
ideo  oportet,  quod  secundum  se  sit  tenebra  et  caligo.  I.e. 


Roger  Bacon  63 

Philosophie  als  einer  rein  menschlichen  Wissenschaft.  Von 
solchen  Voraussetzungen  aus  kommt  dann  auch  Roger 
Bacon  zu  der  eigenartigen  Konsequenz,  die  wir  bereits  in 
dieser  Formulierung  früher  bei  den  alten  Kirchenschriftstellern 
antrafen:  die  „wahre"  Philosophie  ist  allein  in  der  hl.  Schrift 
enthalten;  die  vom  „hl.  Geiste  erleuchteten",  gottgesandten 
Patriarchen  und  Propheten  sind  die  „wahren  Philosophen,  die 
alles  wußten"  -  wie  Bacon  wörtlich  sagt  -,  und  zwar 
kannten  sie  eben  „nicht  nur  das  Gesetz  Gottes,  sondern  auch 
alle  Teile  der  Philosophie";  ja,  sie  hatten  sogar  die  „volle 
Herrschaft  über  die  Natur".  ^  (Man  wird  hierbei  an  eine 
ähnliche  optimistische  Bibel-Auslegung  Richards  von  St.  Victor 
[t   1173]  erinnert.*) 

Wenn  auch  Roger  Bacons  Ausführungen  uns  sachlich 
nichts  „Neues"  brachten,  so  waren  sie  doch  um  einiger 
interessanter  Formulierungen  willen  erwähnenswert.  Ist  doch 
„die  Philosophie  der  Ungläubigen"  —  philosophia  in- 
fidelium  est  penitus  nociva,  hörten  wir  Bacon  verkünden  — 
bis  auf   den   heutigen  Tag   ein    stark  gefühlsbetonter  Begriff 

1  Dico  igitur,  quod  eisdem  personis  a  Deo  data  est  potestas  philoso- 
phiae,  quibus  et  Sacra  scriptura,  scilicet  sanctis  ab  initio,  ut  sie  appareat 
una  esse  sapientia  completa  hominibus  necessaria.  Soli  enim  patri- 
archae  et  prophetae  fuerunt  veri  philosophi  qui  omnia 
sciverunt,  scilicet  non  solum  legem  Dei,  sed  omnes  partes  philosophiae. 
Hoc  enim  ipsa  sacra  scriptura  satis  evidenter  ostendit,  quae  dicit 
Joseph  erudivisse  principes  Pharaonis  et  senes  Aegypti  prudentiara  do- 
cuisse  et  Moysem  fuisse  peritum  in  omni  sapientia  Aegyptiorum.  Et 
Bezaleel  et  Aholiab  hoc  demonstrant,  qui  omni  intellectu  et  sapientia 
rerum  naturalium  fuerunt  illustrati;  uno  enim  f  latu  SpiritusSanctus 
eos  illuminavit  et  docuit  totam  potestatem  naturae  in  rebus 
metallicis  et  caeteris  mineralibus.  Sed  et  Salomon  sapientior 
omnibus  praecedentibus  et  subsequentibus  secundum  testimonium 
scripturae  plenam  obtinuit  philosophiae  potestatem. 

Philosophiae  cum  theologia  affinitas  c  IX. 

^  Vgl.J.  Verweyen,  Das  Problem  der  Willensfreiheit. 

Freiheit  in  der  Scholastik,  Heidelberg  1909,  S.  74. 


64  Raymundus  Lullus 

geblieben,    der  vom  Standpunkte  der  Offenbarungs-Theologie 
notwendig  abgelehnt  werden  muß. 

Sachlich  bedeutsamer  ist  für  die  Geschichte  unseres 
Problems  der  Verfasser  der  bekannten  „Ars  magna". 

9.  Raymundus  Lullus  (f  1315). 

In  Rede  und  Gegenrede  läßt  Lullus  die  w  Zwölf  Prinzipien 
der  Philosophie"  zu  Worte  kommen.  Die  Vernunft  bezw. 
die  Philosophie  beklagt  sich,  daß  die  Averroisten  ihr  vorge- 
worfen hätten,  sie  sei  eine  Feindin  des  Glaubens  und  der 
Theologie,  bis  sie  schließlich  Lullus  bittet,  nötigenfalls  mit 
Gewalt  diese  Verleumder  zu  bekämpfen. 

Auch  Lullus  definiert  den  Glauben  als  eine  über  die 
natürlichen  Verstandeskräfte  hinausweisende  Erkenntnisquelle.  ^ 
Aus  eigener  Kraft  könnte  die  Vernunft  die  Wahrheiten  des 
Glaubens  nicht  ermitteln.  Dennoch  aber  ist  der  Glaube  nur 
eine,  obzwar  notwendige  Vorstufe  aller  höheren  Erkenntnis; 
mithin  keine  absolut  übernatürliche  Erkenntnisquelle,  aus  der 
dem  Menschen  etwa  schlechthin  übervernünftige  Geheimnisse 
zufließen.  Denn  nicht  der  Glaube,  sondern  die  Einsicht,  nicht 
das  credere,  sondern  das  intelligere  bildet  das  Ziel  des  Intellekts. 
Aber  gleichwohl  ist  der  Glaube  eine  nützliche  vorläufige  Er- 
kenntnisstufe, gleichsam  ein  Instrument,  dessen  sich  der  Ver- 
stand vorübergehend  auf  dem  Wege  zu  den  höchsten  Wahr- 
heiten bedient.*  Aber  das  Endziel  des  Verstandes  besteht 
darin,  apodiktische  Beweise  für  alle  Glaubenswahrheiten  zu 
finden.     Das  ist  möglich;  denn  —  so  meint  Lullus  mit  vielen 

^  Fides  est  Habitus  a  Deo  datus  per  quem  intellectus  intelligit 
super  vires  suas  ea,  quae  per  suam  naturam  attingere  non  potest,  ut 
puta  articulos  fidel  et  hujusmodi.  Philos.  princ.  c  IIL 

^Credere  non  est  finis  intellectus,  sed  intelligere;  verumtamen 
fides  est  suum  instrumentum  ad  elevandum  suum  intelligere  cum  credere; 
et  ideo  sicut  instrumentum  consistit  inter  causam  et  effectum;  sie  fides 
consistit  inter  intellectum  et  Deum,  influxa  fide  a  Deo  in  subjectum  ut 
per  ipsum  quiescat  in  objecto  primo.  Ars  magna  IX,  c  63. 


Raymundus  Lullus  65 

extremen  Rationalisten  unter  seinen  Vorgängern  —  alle  Dogmen 
sind  Vernunftpostulate.  Aber  eben  darum  ist  auch  ein  Wider- 
spruch zwischen  Glauben  und  Wissen  unmöglich. 

So  kommt  auch  Lullus  zu  der  Harmonie  zwischen  Philo- 
sophie und  Theologie,  aber  eben  -  mit  wesentlicher  Ab- 
weichung von  der  kirchlich  approbierten  Lösung  des  Problems  — 
nur  so,  daß  er  die  Glaubensinhalte  restlos  auf  rationalem  Wege 
in  Gegenstände  des  natürlichen  Denkens  verwandelt.  Er  hebt 
insofern  —  in  einem  umgekehrten  Verfahren  wie  demjenigen 
Kants  —  den  Glauben  auf,  um  für  ein  höheres,  durch  den 
Glauben  vorher  angeregtes  Wissen  Platz  zu  bekommen.  Ein 
Verfahren,  das  er  durch  einen  interessanten  Vergleich  zu  ver- 
deutlichen sucht:  Wie  das  Oel  in  einem  mit  Wasser  gefüllten 
Gefäße  um  so  höher  steigt,  je  höher  das  Wasser  dringt,  ebenso 
steigt  der  Glaube  mit  zunehmender  rationaler  Einsicht  in  seine 
Wahrheit.  Genauer  gesprochen,  löst  sich  dabei  aber  der  Glaube 
offensichtlich  in  Wissen  auf. 

Diesen  Standpunkt  erneuert  später  im  wesentlichen  der 
spanische  Arzt  Raymundus  von  Sabunde,  derum  1430  Lehrer 
der  Philosophie  und  Medizin  in  Toulouse  war.  In  seiner 
»natürlichen  Theologie«  (Theologia  naturalis)  spricht  er  von 
zwei  Büchern,  in  denen  der  Mensch  die  Wahrheit  lesen  kann. 
«Natur  und  Offenbarung"  lautet  der  Titel.  Beide  Bücher 
sind  ihrem  Inhalte  nach  durchaus  gleich;  die  Methode  der 
Lektüre  dagegen  ist  verschieden.  Hier  läßt  sich  der  Leser 
von  der  Autorität,  dort  von  der  Vernunft  leiten.  Das  Buch 
der  Natur  aber  ist  die  Pforte  zum  Buche  der  Offenbarung, 
weil  jenes  die  Beweise  für  das  Dasein  Gottes,  seine  Wahr- 
haftigkeit sowie  vor  allem  für  die  Tatsache  der  Offenbarung 
enthält.  Die  Glaubwürdigkeit  der  Offenbarung  ist  freilich  erst 
durch  den  rationalen  Nachweis  bezeugt,  daß  es  sich  bei  den 
Dogmen  lediglich  um  Vernunftpostulale  handelt.  Anderseits 
sollen  doch  wieder  einige  Dogmen,  wie  die  Trinität,  Eucharistie, 
Inkarnation    u.   a.    keine    Vernunftpostulate    sein.      Aber    dies 

Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  5 


66  Wilhelm  Occam 

meint  Raymundus  offenbar  nur  in  dem  Sinne,  daß  die  Ver- 
nunft nicht  aus  sich  zu  derartigen  Wahrheiten  gelangt,  diese 
vielmehr  durch  die  Offenbarung  als  eine  äußere  Anregung 
zuvor  kennen  lernen  muß,  um  sie  darauf  ihrerseits  rationa- 
listisch zu  begründen.! 

Hatten  wir  es  soeben  mit  Denkern  zu  tun,  die  ein  starkes 
Vertrauen  in  die  Kraft  der  menschlichen  Vernunft  gegenüber 
den  geoffenbarten  Lehren  setzen,  so  kommen  wir  nunmehr 
zu  einer  wesentlich  anders  gerichteten  Gruppe  von  Theologen. 

10.  Wilhelm  Occam  (tl347). 

Occam,  ein  Schüler  und  Ordensgenosse  des  Duns  Scotus, 
der  Hauptvertreter  des  damaligen  Nominalismus  und  Lehrer 
in  Paris,  hat  sich  den  Beinamen  eines  doctor  singularis 
und  venerabilis  inceptor  erobert.  Für  seine  Haltung  gegen- 
über den  geistigen  Kämpfen  seiner  Zeit  ist  charakteristisch, 
daß  er  dem  Papste  jede  direkte  und  indirekte  Herrschaft  über 
die  wehlichen  Fürsten  abspricht.  Im  Kampfe  Bonifaz  VIIL 
gegen  Philipp  den  Schönen  stellte  er  sich  auf  die  Seite  des 
letzteren.  Ebenso  ergriff  er  später  gegen  Johann  XII.  die 
Partei  Ludwigs  des  Bayern,  dem  er  das  kühne  Wort  entgegen- 
rief: Tu  me  defendas  gladio,  ego  te  defendam  calamo. 

Dieser  kirchenpolitischen  Selbständigkeit  entspricht  es, 
wenn  Occam  auch  als  Denker  eigene,  von  der  Tradition  ab- 
weichende Wege  geht.  Schon  sein  nominalistischer  Stand- 
punkt, der  das  Allgemeine  nur  in  den  sprachlichen  Fassungen 
des  erkennenden  Geistes,  nicht  irgendwie  in  den  Dingen 
selbst  erblickt  und  damit  den  naiv-objektiven  Gegenstand  der 
Erkenntnis  preisgibt,  befindet  sich  im  Gegensatze  zu  dem 
Realismus  —  nicht  nur  in  dessen  extremer,  sondern  auch  in 
der  gemäßigten  Form,  etwa  eines  Thomas  von  Aquino. 

Mit  dieser  Versubjektivierung  des  Erkenntnisprozesses 
verbindet  Occam  zugleich  eine  skeptische  Beurteilung  der 

'  Stöckl,  1.  c.  II  S.  1057. 


Wilhelm  Occam  67 

menschlichen  Vernunft.  Die  natürhche  Erkenntnis  scheint 
ihm  hinsichtlich  der  höchsten  Fragen  des  Daseins  zu  versagen. 
Zwingende  Gottesbeweise  gibt  es  nicht,  weder  bezüglich  des 
Daseins  noch  der  Eigenschaften  Gottes.  Auch  ist  ein  Beweis 
für  die  Nicht-Ewigkeit  der  Welt  nicht  zu  erbringen:  eine 
ewige  Weltschöpfung  wäre  ein  widerspruchsloser  Begriff. 
Ebenso  verfehlt  sind  nach  Occam  die  üblichen  Beweise  für 
die  Existenz  einer  immateriellen  Seelensubstanz.  Endlich  ist 
auch  kein  stichhaltiger  Beweis  dafür  zu  erbringen,  daß  nur 
Gott  den  menschlichen  Willen  und  seine  Sehnsucht  befriedigt; 
denn  ein  übernatürliches  Ziel  läßt  sich  nicht  durch  natürliche 
Vernunft  begründen. 

Wie  Occam  mit  den  extremen  sog.  Spiritualen  den 
«natürlichen«  Privatbesitz  in  irgendeiner  Form  als  dem 
Geiste  Christi  zuwider  bezeichnete,  so  sucht  er  auch  die 
Kraft  der  natürlichen  Erkenntnis  zugunsten  des  übernatürlichen 
Glaubens  herabzusetzen.  Für  den  »Weisen  dieser  Welt,  der 
sich  nur  auf  die  natürliche  Vernunft  stützt"  —  pro  sapientibus 
mundi  et  praecipue  innitentibus  rationi  naturaH  —  sind  die 
Glaubenssätze  nicht  einmal  wahrscheinlich,  geschweige  denn 
rational  auflösbar.  Aber  gerade  ihr  irrationaler  Charakter  be- 
gründet die  Verdienstlichkeit  des  Glaubens  —  ein  Gedanke, 
der  an  Tertullians  Wort  credo  quia  absurdum  est  anklingt. 

Occams  Standpunkt  deckte  sich  nicht  mit  dem  kirchlichen. 
Seine  Lehrbücher  wurden  bereits  1339  verworfen.  In  dem 
betreffenden  Dekret  für  die  Lehrer  an  der  Pariser  Universität 
finden  sich  die  für  die  mittelalterliche  Methode  der  Be- 
kämpfung charakteristischen  Sätze:  »Gegen  die  von  unseren 
Vorfahren  gemachte  Vorschrift,  daß  nur  die  von  den  Obern 
vorgeschriebenen  oder  sonst  gewohnten  Schriften  gelesen 
werden  dürfen,  haben  sich  einige  erdreistet,  die  Lehre  des 
Occam  vorzutragen,  ob  sie  gleich  von  den  Ordinarien  nicht 
erlaubt  noch  sonst  von  uns  und  anderen  geprüft  worden  ist. 
Darum  wird  dieselbe  vorzutragen,   wie  zum  Gegenstände  der 


68  Gerson 

Disputationen   zu    machen    oder    auch    nur    den    Occam    zu 
zitieren,  bei  Strafe  verboten."  ^ 

Eine  systematische  Bearbeitung  erfuhren  Occams  Werke 
später  durch  den  Tübinger  Theologieprofessor  Gabriel  Biel 
(t  1495),  den  sog.  letzten  Scholastiker,  der  auf  Luther  und 
Melanchton  großen  Einfluß  gewann. 

11.  Spätere  Mystiker. 

Hinsichtlich  seiner  Wirkung  auf  Luther  verdient  unter 
Occams  Nachfolgern  auch  vor  allem  der  Mystiker  Gerson 
(1363  —  1429)2  Erwähnung.  Er  wirft  den  Scholastikern  eine 
falsche  Wißbegierde  (curiositas)  vor.  Wichtiger  als  philo- 
sophische und  dialektische  Streitigkeiten  ist  ihm  die  bußfertige 
Gesinnung.  Wichtiger  als  die  spekulative  ist  ihm  die  mystische 
Theologie,  die  den  Weg  zur  Vereinigung  des  Gemütes  mit 
Gott  weist;  nämlich  dadurch,  daß  sie  sich  nicht  auf  den 
Verstand  und  seine  «rationalen«  Beweise,  sondern  auf  die 
innere  Erfahrung  und  ihre  »irrationale"  Gewißheit  stützt. 
Sie  allein  gewährt  Weisheit,  nicht  bloße  Wissenschaft. 

So  dringt  Gerson  weniger  auf  das  rational  auflösbare 
Wissen  als  auf  das  irrationale,  nicht  weiter  beweisbare,  viel- 
mehr nur  erlebbare  unmittelbare  Innewerden  Gottes  und  gött- 
licher Wahrheiten.  So  legt  er  gegenüber  allem  Grübeln  den 
Nachdruck  auf  die  mystische  Vereinigung  der  Seele  mit  Gott. 
Nicht  begriffliche  Erkenntnis,  sondern  das  Schauen  gewährt 
die  höchste  Einsicht  und  Seligkeit.  Solches  Schauen  aber 
entstammt  einer  Erleuchtung,  wie  sie  nur  eine  in  glühender 
Liebe  zu  Gott  entbrannte  Seele  erfährt,  die  sich  von  allen 
äußeren  Zerstreuungen  in  ihre  eigene  Tiefe  zu  einem  stillen 
Beisichselbstsein  zurückgezogen  hat. 

Freilich  fehlt  das  spekulative  Moment  auch  bei  Gerson 
nicht  ganz.     Auch  er  bemüht  sich,  die  innere  Erfahrung  der 

M.  C.S.  1037;  1011,  1018,  1020  ff. 
^  1.  c.  S.  1080  ff. 


Meister  Eckhardt  69 

Seele  in  ihrem  Verkehre  mit  Gott  auf  eine  begriffliche, 
psychologische  Formel  zu  bringen.  Er  rühmt  die  Verbindung 
des  Spekulativen  und  Mystischen  vor  allem  an  Augustinus 
und  Bonaventura.  Aber  er  legt  den  Nachdruck  doch  eben 
auf  die  Erlebnisse  selbst  und  betont  um  so  stärker  die  gläubige 
Versenkung  in  das  Göttliche  als  seine  verstandesmäßige  Be- 
gründung. Anderseits  spricht  er  doch  auch  dem  Nachweis 
der  Uebereinstimmung  zwischen  Glauben  und  Wissen  keines- 
wegs alle  Bedeutung  ab.  Ebenso  fordert  er  mit  allen  Vor- 
gängern, daß  die  auf  die  trügerische  menschliche  Vernunft 
aufgebaute  Philosophie  ihre  Resultate  beständig  prüfe  an  der 
aus  göttlicher  Offenbarung  schöpfenden  Theologie. 

Während  Gerson  sich  wie  die  früher  erwähnten  Mystiker 
des  Mittelalters  strenge  in  den  Bahnen  der  Kirchenlehre 
hält,  ist  der  Begründer  der  sog.  deutschen  Mystik,  Meister 
Eckhardt  (f  1329)  mit  ihr  in  Konflikt  geraten.  Auch  er 
sucht  mit  seinen  Vorläufern  die  mystische,  nicht  durch  gelehrtes 
Wissen  zu  gewinnende  Vereinigung  der  Seele  mit  Gott.  Während 
aber  jene  die  Wesens  Verschiedenheit  zwischen  Gottheit  und 
Mensch  bei  aller  Innigkeit  ihrer  geistigen  Verbindung  aufrecht 
hielten,  bedient  sich  Eckhardt  Wendungen,  die  darüber  hinaus- 
gehen und  pantheistischen  Charakters  sind.  Die  Frucht  des 
mystischen  Schauens,  als  dessen  Organ  er  das  ungeschaffene 
„Seelenfünklein"  bezeichnet,  bedeutet  nach  ihm  nichts  Geringeres 
als  die  Geburt  des  Sohnes  Gottes  in  uns.  Diese  kommt 
nur  dadurch  zustande,  daß  die  Seele  sich  ganz  von  allem 
Aeußeren  loslöst  und  in  stiller  „Gelassenheit"  nur  den  gött- 
lichen Willen  in  sich  walten  läßt.  „Wenn  wir  alle  Dinge  und 
auch  uns  selbst  sehen  als  ein  Nichts,  dann  sehen  wir  Gott.'' 
„Gott  allein  muß  wirken;  der  Mensch  folge  nur  und  widerstehe 
nicht."  So  wird  der  Mensch  erst  eins  mit  Gott,  ja  geradezu 
Gott  selbst.  Es  beginnt  die  „Vergottung"  des  Menschen, 
der  in  der  mystischen  Ekstase  nicht  nur  filius  adoptivus  wird, 
sondern    sogar    filius    naturalis    Dei    wird.     Der    historische 


70  Johannes  Tauler 

Christus  ist  lediglich  ein  Ideal.     Jeder  Mensch  soll  und  kann 
dieselbe  Stufe  der  Qottessohnschaft  erlangen  wie  er. 

Kein  Wunder,  daß  die  Schriften  und  Predigten  Eckhardts 
wegen  solcher  Lehren  Anstoß  erregten.  Er  wurde  als  Domini- 
kanermönch zunächst  vor  das  Ordenskapitel  in  Venedig,  dann 
1327  vor  das  Inquisitionstribunal  geladen,  von  dem  er  an  den 
Papst  appellierte,  ohne  dadurch  die  Verurteilung  vieler  seiner 
Lehren  verhüten  zu  können. 

Aber  die  von  ihm  verkündigten  Ideen  gewannen  bald 
einen  neuen  Vertreter  in  Johannes  Tauler  (f  1361).  Ihm  gilt 
das  »Gemüt"  als  der  vornehmste  Teil  der  Seele,  als  ihr  tiefster 
Grund,  der  zugleich  mit  dem  Urgründe  des  göttlichen  Wesens 
identisch  ist.  Wie  sich  nun  in  den  dunklen  Tiefen  der  gött- 
lichen Natur  durch  deren  Selbsterfassung  die  Geburt  des  Sohnes 
vollzieht,  so  lehrt  Tauler  mit  Eckhardt  Analoges  von  der  mensch- 
lichen Seele.  Auch  in  ihrem  Grunde  wird  Gott  geboren. 
Darin  gipfelt  alles  mystische  Leben,  das  nicht  durch  begriff- 
liches Wissen,  sondern  nur  durch  »gelassenes«  Aufnehmen 
göttlicher  Einwirkungen  erlangt  wird.  »Das  natürliche  Licht 
der  Vernunft  muß  ganz  zu  nichte  werden,  soll  Gott  eingehen 
mit  seinem  Lichte."  Ja,  ein  völliges  Nichtwissen  ist  die  Be- 
dingung jener  Gottesgeburt  in  uns.  «Der  Mensch  soll  ent- 
weichen allen  Sinnen  und  einkehren  alle  seine  Kräfte  und 
kommen  in  ein  Vergessen  aller  Dinge  und  seiner  selbst."  „Und 
nicht  etwa  bildlich  ist  die  Geburt  des  Sohnes  Gottes  in  uns 
zu  verstehen,  sondern  ganz  real."  „Gott  der  Vater  gebäret 
seinen  Sohn  in  der  Seele,  nicht  als  die  Kreaturen  tun  im 
Bilde  und  im  Gleichnis,  sondern  vielmehr  in  aller  Weise,  als 
er  ihn  gebärt  in  der  Ewigkeit,  noch  minder  noch  mehr."  „Und 
wie  der  Sohn  wird  geboren  aus  dem  Vater  und  fließt  wieder 
in  den  Vater,  also  wird  der  Mensch  in  dem  Sohn  von  dem 
Vater  geboren,  und  fließt  wieder  in  den  Vater  mit  dem  Sohn 
und  wird  Eins  mit  ihm." 


Heinrich  Suso.    Johannes  Ruysbroek  71 

Aehnlich  die  übrigen  „deutschen  Mystiker",  wie  Heinrich 
Suso  (tl365),  Johannes  Ruysbroek  (f  1381)  —  der  indes 
die  Wesens  Verschiedenheit  zwischen  Gott  und  dem  mystisch 
sich  mit  ihm  vereinigenden  Menschengeiste  festhält  —  und 
nicht  zuletzt  der  unbekannte  Verfasser  der  wieder  stark  pan- 
theistisch,  aber  auch  zugleich  ethisch-dualistisch  gefärbten  sog. 
„deutschen  Theologie",  deren  erste  gedruckte  Ausgabe  aus 
dem  Jahre  1516  von  Luther  stammt.  „Wer  Gott  leiden  will  und 
soll  —  heißt  es  darin  - ,  der  muß  und  soll  alle  Dinge  leiden, 
das  ist:  Gott,  sich  selber  und  alle  Kreatur,  nichts  ausge- 
nommen; und  wer  Gott  gehorsam,  gelassen  und  Untertan 
sein  soll  und  will,  der  muß  und  soll  auch  allen  Dingen  ge- 
lassen, gehorsam  und  unteran  sein  in  leidender  Weise  und 
nicht  in  tätiger  Weise,  und  dies  Alles  in  einem  schweigenden 
Innebleiben  in  dem  inwendigen  Grund  seiner  Seele  und  in 
einer  heimlichen,  verborgenen  Geduldigkeit,  alle  Dinge  oder 
Widerwärtigkeit  williglich  zu  tragen  und  zu  leiden  und  in 
allen  diesen  Dingen  keinen  Behelf  noch  Entschuldigung  noch 
Widerrede  oder  Rache  zu  tun  oder  zu  begehren,  sondern 
allezeit  in  einer  lieblichen  wahren  Demütigkeit  zu  sprechen: 
Vater,  vergib  ihnen,  denn  sie  wissen  nicht,  was  sie  tun." 
Solche  demütige  Gelassenheit  allem  Geschehen  gegenüber  be- 
zeichnet auch  die  „deutsche  Theologie"  als  die  notwendige 
Bedingung  jener  uneigennützigen  Liebe,  durch  die  sich  die 
Seele  mystisch  mit  Gott  verbindet.  Diese  Vereinigung 
kommt  darin  zum  Ausdruck,  ,,daß  man  lauterlich  und  ein- 
fältiglich  und  gänzlich  in  der  Wahrheit  einfältig  sei  mit  dem 
einfältigen  ewigen  Willen  Gottes  oder  zumal  ohne  Willen  sei, 
und  daß  der  geschaffene  Wille  geflossen  sei  in  den  ewigen 
Willen  und  darin  verschmolzen  sei  und  zu  nichte  geworden 
sei  also,  daß  der  ewige  Wille  allein  daselbst  wolle,  tue  und 
lasse".  Darin  besteht  das  Wesen  der  „Vergottung  des  Menschen". 

So  spinnen  sich  die  historischen  Fäden  von  der  deutschen 
Mystik  hinüber  zu  Luther   und   gewinnen   einen   wesentlichen 


72  Zusammenfassung 

Anteil  an  der  reformatorischen  Lösung  unseres  Problems.  Sind 
es  doch  gerade  die  deutschen  Mystiker,  welche  das  in  der 
Scholastik  weit  höher  geschätzte  Wissen  immer  mehr  hintan- 
setzen zugunsten  der  gemütvollen  Hingabe  an  das  Göttliche. 
Und  wenn  wir  in  der  protestantischen  Theologie  des  19.  Jahr- 
hunderts -  bis  hinein  in  unsere  Tage  -  die  „innere  Erfah- 
rung", das  „religiöse  Erlebnis"  als  besondere  Erkenntnis- 
quelle preisen  hören,  so  erkennen  wir  darin  sogleich  den  Geist 
jener  Mystiker  wieder,  die  wir  soeben  an  unserem  Auge  vor- 
überziehen sahen.  Doch  bevor  wir  hierauf  näher  eingehen, 
wollen  wir  einen  zuzammenfassenden  Rückblick  auf  die  bis- 
herigen Ausführungen  werfen. 

12.  Zusammenfassung. 

Unter  den  Stellungen,  die  mittelalterliche  Denker  zu  dem 
Probleme  von  Glauben  und  Wissen,  d.  h.  zu  dem  Verhältnis 
von  Vernunft  und  Offenbarung,  Philosophie  und  Theologie 
einnehmen,  trafen  wir  drei  verschiedene  Gruppen  an. 

Wir  begegneten  erstens  dem  Bestreben,  alle  Dogmen 
in  Vernunftpostulate  aufzulösen;  so  bei  Eriugena,  Abaelard, 
Lullus,  Raymund  von  Sabunde.  Es  ist  der  Standpunkt  eines 
Rationalismus,  der  mit  derVernunft  alle  Offenbarungslehren  glaubt 
einsehen  zu  können  und  folglich  dem  von  der  Kirche  gelehrten 
„übervernünftigen"  Charakter  vieler  Dogmen  nicht  gerecht  wird. 

Nicht  so  radikal  war  zweitens  der  Versuch,  nur  einige 
Dogmen  durch  das  Licht  der  natürlichen  Vernunft  aufzuhellen, 
ohne  den  absoluten  Geheimnis-Charakter  anderer  anzutasten. 
Anseimus,  Albertus  Magnus  und  vor  allem  Thomas  von  Aquino 
waren  Vertreter  dieser  -  prinzipiell  von  der  Kirche  aner- 
kannten —  Richtung.  Auch  Scotus  gehörte  zu  ihnen,  obschon 
sich  zu  den  üblichen  „Beweisen"  seiner  Vorgänger,  wie  wir 
sahen,  sehr  kritisch  stellte. 

In  dieser  Richtung  gingen  dann  drittens  Spätere  derart 
weiter,    daß    sie    schlechthin    den    irrationalen  Charakter   aller 


Petrus  Pomponatius  73 

Glaubenslehren  festhielten,  ohne  irgendein  Dogma  als  Vernunft- 
postulat begreifen  zu  wollen.  So  Occam,  Biel  und  spätere  Mystiker. 

Demnach  befindet  sich  der  thomistische  Lösungs- 
versuch in  der  Mitte  zweier  Extreme,  von  denen  das 
erste  extrem-rationalistisch  dem  Wissen,  das  zweite  extrem- 
antirationalistisch  oder  irrationalistisch  dem  Glauben  eine  ein- 
seitig dominierende  Stellung  anweisen. 

Diese  mittlere  Richtung  -  man  hat  sie  wohl  als  einen 
Sem  i  rati  0  na  lism  US  bezeichnet-  ist  von  der  katholischen  Kirche 
offiziell  anerkannt  worden.  Anders  ausgedrückt:  Die  Stellung 
des  „Fürsten  der  Scholastiker"  Thomas  von  Aquino  zu  unserem 
Problem  bedeutet  prinzipiell  zugleich  dessen  katholische  Lösung. 

Gegenüber  irrigen  Vorstellungen  —  die  noch  immer 
nicht  ganz  ausgestorben  sind  —  zunächst  der  Hinweis  darauf, 
daß  die  katholische  Kirche  niemals  das  Prinzip  der 
sog.  »doppelten  Wahrheit«  anerkannt  hat.  Wenn 
Thomas  von  duplex  veritas  redet,  so  versteht  er  darunter,  wie 
wir  uns  überzeugten,  etwas  wesentlich  anderes  als  Averroes 
(wenigstens  so  wie  Thomas  diesen  arabischen  Denker  inter- 
pretiert). Das  «averoistische"  Prinzip  der  doppelten  Wahrheit 
aber  wurde  bereits  1270  durch  Bischof  Templer  von  Paris  und 
1275  durch  Papst  Johann  XXI.  verworfen.  Als  dann  später 
der  berühmte  Lehrer  zu  Padua  und  eifrige  Verfechter  des 
Aristotelismus  Petrus  Pomponatius  (1462  — 1525)  aus- 
drücklich die  Lehre  vertrat,  es  könne  in  der  Philosophie  falsch 
sein  (wie  die  Annahme  der  persönlichen  Unsterblichkeit,  der 
Wunder  und  der  Willensfreiheit),  was  in  der  Theologie  wahr 
sei  —  und  umgekehrt  —  da  wandte  sich  1512  das  Lateran- 
Konzil  abermals  gegen  einen  solchen  Dualismus:  eine  Wahrheit 
könne  der  anderen  nicht  widersprechen;  daher  müsse  jede  dem 
Glauben  entgegengesetzte  Behauptung  notwendig  falsch  sein.  ^ 

^  Quumque  verum  vero  minime  contradicat,  omnem  assertionem 
veritati  illuminatae  fidei  contrariam  omnino  falsam  esse  defendimus. 

Con,c.  Lat.  1512,  V,  sessio  VIII. 


74  Petrus  Pomponatius 

Um  nunmehr  unsere  Untersuchung  auf  den  lebendigen 
Ton  der  Gegenwart  zu  stimmen,  dürfen  wir  vor  allem 
nicht  die  folgenden  päpstlichen  Kundgebungen  übergehen, 
durch  welche  die  thomistische  Lösung  des  Problems  noch  in 
unserer  Zeit  direkt  oder  indirekt  ihre  kirchliche  Approbation 
gefunden  hat. 


Thomas  von  Aquinos  kirchliche  Bestätigung  75 


III.  Thomas  von  Aquinos  kirchliche 
Bestätigung. 

1.  In  dem  berühmten  Sy Ilabus  vom  8.  Dezember  1864 
hat  Pius  IX.  die  «hauptsächlichsten  Irrtümer  unserer  Zeit« 
verurteilt.  ^  Unter  ihnen  finden  sich  manche  Sätze,  die 
mit  unserem  Thema  in  engstem  Zusammenhange  stehen. 
Verworfen  werden  z.  B.  folgende  Thesen,  deren  kontradik- 
torischer (nicht  konträrer)  Gegensatz  dann  -  wie  noch  immer 
nicht  allen  über  diese  Dinge  Redenden  und  Schreibenden 
geläufig  ist  —  die  katholische  Lehre  bedeutet.  Als  Irrtümer 
werden  Sätze  bezeichnet  wie  diese:  „Alle  Wahrheiten  der 
Religion  fließen  aus  der  natürlichen  Kraft  der  menschlichen 
Vernunft  (ex  nativa  humanae  rationis  vi);  daher  ist  die 
Vernunft  die  vorzüglichste  Norm  (princeps  norma),  wonach 
der  Mensch  die  Erkenntnis  aller  Wahrheit  jeglicher  Art  sich 
erwerben  kann  und  soll."  (Nr.  4.)  „Der  christliche  Glaube 
widerspricht  der  menschlichen  Vernunft  und  die  göttliche 
Offenbarung  nützt  nicht  allein  nichts,  sondern  sie  schadet 
auch  der  Vervollkommnung  des  Menschen."  (Nr.  6.)  „Die 
in  der  heiligen  Schrift  mitgeteilten  und  erzählten  Prophe- 
zeiungen und  Wunder  sind  Erfindungen  von  Dichtern,  und 
die  Geheimnisse  des  christlichen  Glaubens  sind  die  Zusammen- 
fassung von  philosophischen  Forschungen;  in  den  Büchern 
beider  Testamente  sind  mythische  Erfindungen  enthalten,  und 
Jesus  Christus  selbst  ist  eine   mythische  Erdichtung."   (Nr.  7.) 

^  Vgl.  L.  K.  Götz,  Der  Ultramontanismus  als  Weltanschauung  auf 
Grund  des  Syllabus.  Bonn  1905.  Ferner  die  Gegenschrift  dazu  von 
F.  Heiner,  Der  Syllabus  in  ultramontaner  und  antiultramontaner  Be- 
leuchtung.  Mainz  1905. 


76  Syllabus  Pius  IX 

„Alle  Dogmen  der  christlichen  Religion  ohne  Unterschied  sind 
ein  Gegenstand  der  natürlichen  Wissenschaft  oder  der  Philo- 
sophie; und  die  bloß  historisch  gebildete  menschliche  Vernunft 
kann  aus  ihren  eigenen  natürlichen  Kräften  und  Prinzipien  zu  der 
wahren  Erkenntnis  in  betreff  aller,  auch  der  dunkleren  Dogmen 
gelangen,  wofern  nur  diese  Dogmen  der  Vernunft  selbst  als 
Objekte  vorgelegt  werden."  (Nr.  9.) 

„Da  etwas  anderes  der  Philosoph  und  etwas 
anderes  die  Philosophie  ist,  so  hat  jener  das  Recht  und 
die  Pflicht,  sich  der  Autorität,  welche  er  selbst  für  die  wahre 
erkannt  hat,  zu  unterwerfen;  aber  die  Philosophie  kann  und 
darf  sich  keiner  Autorität  unterwerfen."  (Nr.  10.)  ^  „Die  Kirche 
muß  sich  nicht  allein  niemals  gegen  die  Philosophie  wenden, 
sondern  muß  auch  die  Irrtümer  der  Philosophie  dulden 
und  es  ihr  überlassen,  sich  selbst  zu  korrigieren."  (Nr.  11.) 
„Die  Philosophie  muß  ohne  Rücksicht  auf  die  über- 
natürliche Offenbarung  betrieben  werden."  (Nr.  14.) 

Bringen  wir  diese  Verurteilungen  auf  einen  kurzen  Aus- 
druck, so  können  wir  sagen:  es  wird  darin  1.  die  Gleich- 
berechtigung der  Vernunft  mit  der  Offenbarung  als  Erkenntnis- 
quelle abgelehnt;  vielmehr  2.  die  Unterordnung  der  Philo- 
sophie unter  die  Offenbarung  im  Kollisionsfalle  gefordert.  Es 
wird  3.  gegenüber  dem  Rationalismus  der  übernatürliche  Ur- 
sprung der  katholischen  Religion  behauptet  und  4.  der  Versuch, 
alle  Dogmen  aus  bloßer  Vernunft  zu  konstruieren,  zurückge- 
wiesen. Alle  diese  Punkte  aber  bedeuten  eine  Rechtfertigung  der 
Stellung,  die  Thomas  von  Aquino  zu  dem  Probleme  einnimmt. 

^  Vgl.  das  die  katholische  Lehre  über  diesen  Punkt  enthaltende, 
gegen  Günther  gerichtete  Breve  Pius  IX.  vom  15.  Juni  1857  an  den 
Fürstbischof  von  Breslau  (zitiert  in  der  im  folgenden  zu  be- 
sprechenden Modernismus-Enzyklika  §  10):  „Es  kommt  der  Philosophie 
in  allem,  was  die  Religion  angeht,  nicht  zu  zu  befehlen,  sondern  zu 
gehorchen,  nicht  vorzuschreiben,  was  zu  glauben  ist,  sondern  es  mit 
vernünftigem  Gehorsam  zu  erfassen,  nicht  die  Tiefe  der  Geheimnisse 
Gottes  zu  durchforschen,  sondern  sie  in  aller  Frömmigkeit  zu  verehren." 


Encyclica  Aeterni  Patris  77 

2.  Die  Encylcica  Aeterni  Patris,  die  Leo  XIII.  am 
4.  August  1879  in  die  Welt  sandte,  bedeutet  eine  weitere 
autoritative  kirchliche  Empfehlung  des  Aquinaten  im  allgemeinen 
und  seiner  Lehre  über  das  Verhältnis  von  Philosophie  und 
Theologie  im  besonderen.^ 

Weil  nach  den  Worten  des  Apostels  Paulus  (Coloss.  II,  8)  - 
heißt  es  in  der  Einleitung  -  „durch  Weltweisheit  und  leeren 
Trug  die  Gemüter  der  Christgläubigen  häufig  getäuscht  und 
die  Reinheit  des  Glaubens  in  den  Menschen  verletzt  wird, 
darum  haben  die  obersten  Hirten  der  Kirche  immerdar  es  für 
ihre  Amtspflicht  erachtet,  auch  die  wahre  Wissenschaft 
mit  allen  Kräften  zu  fördern,  und  zugleich  mit  besonderer 
Wachsamkeit  dafür  zu  sorgen,  daß  alle  menschlichen  Wissen- 
schaften überall  der  Regel  des  katholischen  Glaubens 
gemäß  gelehrt  würden,  besonders  aber  die  Philosophie,  von 
welcher  nämlich  zum  großen  Teile  der  richtige  Bestand  der 
übrigen  Wissenschaften  abhängt."  „Allerdings"  —  lautet  dann 
aber  die  bedeutsame  Einschränkung  —  „schreiben  wir  der 
menschlichen  Philosophie  nicht  einen  so  großen  Einfluß  und 
solches  Ansehen  zu,  daß  wir  dafür  hielten,  sie  sei  hinreichend,  alle 
Irrtümer  zu  überwinden  und  auszurotten.  Vielmehr  besteht 
die  Aufgabe  der  Philosophie  —  man  glaubt  des  Clemens  von 
Alexandrien  Wort  über  den  Uaidaycoyog  eig  Xqiozov  oder  eben 
Thomas  von  Aquino  über  die  ,praeambula  fidei'  zu  hören  — 
vor  allem  darin,  den  ,Weg  zum  Glauben'  zn  weisen,  , Erzie- 
herin zum  Evangelium'  zu  sein.  Dabei  ,ergibt  sich  zunächst 
als  große  und  herrliche  Frucht  des  Gebrauches  der  mensch- 
hchen  Vernunft  der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes;  aus  der 
Größe  der  Schönheit  der  Geschöpfe  kann  man  schlußweise 
den  Schöpfer  erkennen  .  .  .  (d.  h.)  die  Wahrheit  selbst,  welche 
nicht  getäuscht  werden  noch  täuschen  kann.  Hieraus  folgt 
augenscheinlich,    daß   die    menschliche   Vernunft   dem    Worte 

^  Die  autorisierten  Ausgaben  der  päpstlichen  Rundschreiben  (la- 
teinischer und  deutscher  Text)  erscheinen  bei  Herder,    Freiburg  i.  B. 


78  Encyclica  Aeterni  Patris 

Gottes  die  höchste  Glaubwürdigkeit  und  Autorität  zuerkennt. 
In  gleicher  Weise  erklärt  sie,  daß  die  evangelische  Wahrheit 
durch  wunderbare  Zeichen  (mirabilia  signa)  zum  gewissen 
Beweise  der  gewissen  Wahrheit  schon  seit  ihrem  Ursprung 
hervorgeleuchtet  hat,  und  daß  darum  alle,  welche  dem  Evan- 
gelium glauben,  nicht  unbesonnen  glauben,  als  ob  sie  gelehrten 
Fabeln  folgten,  sondern  in  vollständig  vernunftgemäßem 
Gehorsam  ihren  Geist  und  ihr  Urteil  der  göttlichen  Autorität 
unterwerfen.  Auch  das  ist  offenbar  von  nicht  geringerem  Be- 
lange, daß  die  Vernunft  augenscheinlich  beweist  (quod  ratio 
in  perspicuo  ponat),  daß  die  von  Christus  eingesetzte  Kirche 
(wie  die  Kirchenversammlung  vom  Vatikan  festsetzte)  wegen 
ihrer  wunderbaren  Ausbreitung,  hervorragenden  Heiligkeit  und 
unerschöpflichen  Fruchtbarkeit,  die  sie  allenthalben  entfaltet, 
wegen  der  katholischen  Einheit  und  unüberwindlichen  Festig- 
keit ein  großer  und  fortdauernder  Beweggrund  der 
Glaubwürdigkeit  ist  (magnum  quoddam  et  perpetuum  mo- 
tivum  credibilitatis)  und  ein  unwidersprechliches  Zeugnis 
ihrer  göttlichen  Sendung  (divinae  suae  legationis  testimonium 
irrefragabile)." 

Ferner  ist  die  Philosophie  berufen,  als  Instrument  der 
Theologie  die  Offenbarungslehren  zu  einem  organischen 
Ganzen  zu  verbinden  und  sie  gegen  Angriffe  zu  verteidigen. 
„In  dieser  Beziehung  verdient  die  Philosophie  großes  Lob,  da 
sie  als  eine  Schutzwehr  des  Glaubens  und  ein  festes  Bollwerk 
4er  Religion  gilt".  Freilich  nur  so  lange,  als  die  menschliche 
Vernunft  „im  Bewußtsein  ihrer  Schwäche  es  nicht  wagt,  sich 
über  ihre  Schranken  zu  erheben  noch  diese  Wahrheiten  zu 
leugnen,  noch  sie  mit  ihrem  eigenen  Maße  zu  messen,  noch 
nach  Willkür  zu  erklären;  vielmehr  soll  sie  dieselben  mit 
vollem  und  demütigem  Glauben  annehmen,  und  es  sich  zur 
höchsten  Ehre  rechnen,  daß  sie  gleich  einer  Dienerin  den 
himmlischen  Lehren  nachfolgen  (in  morem  ancillae  et 
pedisequae  famulari   caelestibus   doctrinis),  ihnen  ihre  Dienste 


Encyclica  Aeterni  Patris  79 

leisten  und  von  ihnen  durch  Gottes  Gnade  einigermaßen  ein 
Verständnis  gewinnen  darf."  Zwar  hat  die  Philosophie  — 
man  beachte  besonders  diesen  oft  übersehenen 
Grundsatz  —  ihre  eigenen,  von  der  Theologie  verschiedenen 
„Methoden,  Prinzipien  und  Beweise";  dennoch  muß  sie  ihre 
Resultate  beständig  an  der  Offenbarung  orientieren.  Dies  tut 
wenigstens  der  „katholische  Philosoph"  (philosophius  catho- 
licus,  den  die  Encyclica  ausdrücklich  fordert);  ein  solcher  ist 
überzeugt,  „daß  er  die  Rechte  des  Glaubens  und  der  Vernunft 
zugleich  verletzt,  wenn  er  einen  Satz  annimmt,  von  dem  er  weiß, 
daß  er  der  Offenbarung  widerspricht".  „Jene  philosophieren 
daher  am  besten,  welche  das  Studium  der  Philosophie 
mit  der  Hingabe  an  den  christlichen  Glauben  verbinden, 
in  dem  der  Glanz  der  göttlichen  Wahrheiten,  welche  die  Seele 
durchdringt,  auch  die  Intelligenz  selbst  erhebt  und  sie  in  ihrer 
Würde  nicht  nur  nicht  beeinträchtigt,  sondern  dieselbe  vielmehr 
in  hohem  Grade  adelt,  schärft  und  kräftigt." 

Es  folgt  ein  historischer  Rückblick  auf  die  Apologeten  der 
alten  christlichen  Kirche,  die  Glauben  und  Wissen  in  der 
„richtigen"  Form  zu  vereinigen  wußten.  Vor  allem  aber  werden 
die  mittelalterlichen  Scholastiker  gepriesen  und  unter  ihnen 
eben  in  erster  Linie  Thomas  von  Aquino,  von  dem  gerühmt 
wird:  „Es  gibt  kein  Gebiet  der  Philosophie,  das  er  nicht  scharf- 
sinnig und  zugleich  gediegen  behandelt  hätte;  seine  Unter- 
suchungen über  die  Gesetze  des  Denkens,  über  Gott  und  die 
unkörperlichen  Substanzen,  über  den  Menschen  und  die  übrigen 
sinnlichen  Dinge,  über  die  menschlichen  Handlungen  und  ihre 
Prinzipien  sind  derart,  daß  in  ihnen  sowohl  eine  Fülle  von  Stoff 
als  passende  Anordnung  der  Teile,  die  zweckmäßigste  Methode, 
Sicherheit  der  Grundsätze  und  Kraft  der  Beweise,  Klarheit  und 
Genauigkeit  im  Ausdruck  wie  nicht  minder  eine  Leichtigkeit  sich 
findet,  auch  das  Dunkelste  aufzuhellen."  Und  weiter  -  gerade 
mit  Rücksicht  auf  unser  Problem:  Indem  er  genau,  wie 
es  sich    gebührt,    zwischen    Vernunft    und    Glaube    unter- 


80  Neuer  Syllabus  Plus  X 

schied,  beide  aber  in  einem  Freundschaftsbunde  einte, 
hat  er  sowohl  die  Rechte  beider  gewahrt,  als  für  beider  Würde 
Sorge  getragen,  so  zwar,  daß  die  Vernunft,  auf  den  Flügeln 
des  heiligen  Thomas  zu  ihrer  höchsten  menschlichen 
Vollendung  emporgetragen,  nun  kaum  mehr  höher  zu 
steigen  vermag,  noch  der  Glaube  von  der  Vernunft  kaum 
weitere  oder  triftigere  Beweise  fordern  kann,  als  er  schon 
durch  Thomas  erlangt  hat." 

Zum  Schlüsse  warnt  die  Enzyklika  vor  jener  verderblichen 
«neuen  Methode  —  ohne  Rücksicht  auf  den  Glauben  —  zu 
philosophieren",  wie  sie  im  16.  Jahrhundert  anhob,  und  fordert 
statt  dessen  eine  »gesundere  und  dem  kirchlichen  Glauben  mehr 
entsprechende  Lehre  (sanior  et  magisterio  Ecclesiae  conformior 
doctrina),  wie  sie  die  Werke  des  heiligen  Thomas  von  Aquino 
enthalten«. 

Fassenwirzusammen,so  weist  auch  die  soeben  erörterte 
Encyclica  Aeterni  Patris  der  Vernunft  die  gleiche  prinzipielle 
Aufgabe  und  empfiehlt  die  gleichen  Beweise  für  die  Wahrheit 
der  Kirche  wie  Thomas.  Und  ebenso  hat  der  gegenwärtige 
Papst  Pius  X.  durch  mehrere  Erlasse  die  Autorität  und  Grund- 
sätze des  Aquinaten  unserer  Zeit  aufs  neue  einzuschärfen 
gesucht.  In  der  Enzyklika  vom  4.  Oktober  1903  wendet  sich 
Pius  X.  gegen  die  „lügnerische  Wissenschaft"  der  modernen 
Exegese,  die  im  Namen  des  historisch -kritischen  Wissens  die 
Urkunden  des  Glaubens  zu  untergraben  drohe.  Gegen  denselben 
Feind  wendet  sich 

3.  der  sog.  „neue  Syllabus"  oder  das  Decret  Lamen- 
tabili  Pius  X.  vom  4.  Juli  1907.  ^  Er  stellt  in  der  Einleitung 
die  „betrübende"  Tatsache  fest,  „daß  es  auch  unter  den  Katho- 
liken gar  nicht  wenige  Schriftsteller  gibt,  welche  die  von  den 
Vätern  und  von  der  Kirche  selbst  gezogenen  Grenzlinien  über- 

^  Vgl.  Anton  Michelitsch,  Der  biblisch  -  dogmatische  Syllabus 
Pius  X.  samt  der  Enzyklika  gegen  den  Modernismus. 

Graz  und  Wien  1908. 


Neuer  Syllabus  Pius  X  81 

schreiten  und  unter  dem  Vorwande  historischer  Betrach- 
tungsweise einen  solchen  Fortschritt  der  Dogmen  suchen,  der 
in  Wahrheit  deren  Zerstörung  ist". 

Dann  werden  Sätze  verworfen  wie  diese:  „Das  kirchliche 
Gesetz,  welches  vorschreibt,  Bücher  über  die  Heilige  Schrift 
einer  vorausgehenden  Zensur  zu  unterbreiten,  erstreckt  sich 
nicht  auf  die  Vertreter  der  Bibelkritik  und  der  wissenschaft- 
lichen Exegese  der  Bücher  des  Alten  und  Neuen  Testaments." 
(Nr.  1).  „Die  Kirche  kann,  wenn  sie  Irrtümer  verwirft,  von 
den  Gläubigen  nicht  eine  innere  Zustimmung  zu  diesem  ihren 
Urteil  verlangen."  (Nr.  7.)  „Von  aller  Schuld  frei  sind  jene 
zu  erachten,  welche  über  die  Verurteilungen  der  heiligen 
Kongregation  des  Index  oder  der  anderen  heiligen  römischen 
Kongregationen  sich  hinwegsetzen."  (Nr  8.) 

Verurteilt  wird  ferner  die  Leugnung  der  sogenannten 
Inspiration  d.  h.  des  übernatürlichen  Eingreifens  Gottes  bei 
der  Entstehung  der  alt-  und  neutestamentlichen  Schriften.  Die 
Inspiration  muß  selbst  dem  Exegeten  immer  als  unantastbare 
Glaubensüberzeugung  gegenwärtig  sein.  Als  irrig  bezeichnet 
darum  der  Syllabus  den  entgegengesetzten  Satz:  „Der  Exeget 
muß,  wenn  er  den  biblischen  Studien  mit  Nutzen  obliegen 
will,  vor  allem  jede  vorgefaßte  Meinung  von  einem  über- 
natürlichen Ursprung  der  Heiligen  Schrift  beiseite 
lassen  und  diese  nicht  anders  auslegen  als  wie  die  übrigen 
rein  menschlichen  Urkunden."  (Nr.  12.) 

Festgehalten  wird  der  alte  Begriff  der  transzendenten 
„göttlichen  Offenbarung"  gegenüber  einer  immanenten,  rein 
„natürlichen"  Entwicklung  des  religiösen  Bewußtseins  der 
Menschheit;  darum  verworfen  die  These:  „Die  Offenbarung 
konnte  nichts  anderes  sein  als  das  vom  Menschen  erworbene 
Bewußtsein  über  seine  Beziehungen  zu  Gott."  (Nr.  20.) 

Gegenüber  allen  Versuchen,  die  (früher  im  Anschluß  an 
Thomas  von  Aquino  erörterten)  sog.  praeambula  fidei  d.  h. 
die  philosophisch-historischen  Wissensgrundlagen  des  Glaubens 

Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  6 


82  Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici  Pius  X 

zu  bloßen  Wahrscheinlichkeiten  bezw.  Unwahrscheinlichkeiten 
zu  verflüchtigen,  wird  der  Satz  verurteilt:  „Die  Glaubens- 
zustimmung stützt  sich  schließlich  und  endlich  auf  eine  Reihe 
von  Unwahrscheinlichkeiten."  (Nr,  25.) 

Besondere  Aufmerksamkeit  erregte  endlich  —  wie  noch 
hinzugefügt  sei  —  die  Verwerfung  der  58.  These:  „Die 
Wahrheit  ist  nicht  mehr  unveränderlich  als  der  Mensch  selbst, 
da  sie  ja  mit  ihm,  in  ihm  und  durch  ihn  sich  entwickelt." 
Eine  Verurteilung,  der  im  Prinzip  jeder  beipflichten  wird,  für 
den  die  Wahrheit  als  Idee  jeder  Zeitlichkeit  und  insofern  jeder 
Veränderlichkeit  entrückt  ist.  Etwas  anderes  ist  freilich  die 
jeweilige  Erfassung  dieser  Idee  durch  den  Menschen.  Insofern 
kennt  auch  die  kirchliche  Lehre  eine  „Entwicklung"  der  Wahr- 
heit, die  sie  freilich  in  wesentlichen  Punkten  durch  die  Dogmen 
ein  für  allemal  festgelegt  hat.  Nur  die  immer  schärfere  und 
allseitigere  geistige  Verarbeitung  des  dogmatischen  Lehrinhaltes 
bedeutet  darum  vom  kirchlichen  Standpunkte  aus  „Ent- 
wicklung der  Wahrheit"  —  wenigstens  insoweit  religiöse 
Erkenntnisse  in  Frage  kommen. 

Von  den  65  Sätzen  dieses  neuen  „Syllabus"  Pius  X.  sind 
nicht  weniger  als  30  den  Werken  des  in  den  letzten  Jahren 
vielgenannten  französischen  Forschers  Loisy  entnommen,  der 
Professor  der  Exegese  am  Institut  Catholique  zu  Paris  war. 
Bereits  am  4.  Dezember  1903  waren  5  seiner  Schriften  auf 
den  Index  gesetzt  worden,  nämlich:  La  Religion  d'Israel; 
L'Evangile  et  l'Eglise;  Etudes  evangeliques;  Autour  d'un 
petit  livre;  Le  quatrieme  Evangile. 

4.  Einige  Monate  nach  Erscheinen  des  Syllabus  erließ 
Pius  X.  am  8.  September  1907  die  viel  erörterte  Encyclica 
Pascendi  gregis  Dominici  —  kurzweg  als  Enzyklika  gegen 
den  sog.  Modernismus  bekannt  (de  Modernistarum  doctrinis, 
wie  es  im  Urtext  heißt). 

Unter  „Modernisten"  sind  darin  nicht  etwa  „moderne" 
Gegner  der  Kirche  verstanden,  die  nicht  zu  ihr  gehören,  viel- 


Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici  Pius  X  83 

mehr  die  weit  gefährlicheren,  weil  versteckteren  „Feinde  im 
eigenen  Hause",  d.  h.  „die  große  Anzahl  katholischer  Laien, 
und  was  noch  mehr  zu  bedauern  ist,  katholischer  Priester,  die 
unter  dem  Vorgeben  der  Liebe  zur  Kirche,  ohne  solide  philo- 
sophische und  theologische  Vorbildung,  dafür  aber  bis  ins  Mark 
vom  Gifte  eines  Irrtums  durchtränkt,  das  sie  bei  den  Gegnern 
des  katholischen  Glaubens  geschöpft  haben,  sich  höchst  un- 
bescheiden zu  Kirchenreformern  aufwerfen,  sich  in  keckem 
Ansturm  an  alles  wagen,  auch  an  das  Heiligste,  an  Christi 
Werk,  die  nicht  einmal  vor  der  Person  des  göttlichen  Erlösers 
haltmachen  und  ihn  sakrilegisch  zu  einem  ganz  gewöhnlichen 
Menschen  herabsetzen".  (§  2.) 

Als  Charakteristikum  der  „modernistischen  Philo- 
sophie" werden  dann  bezeichnet  der  „Agnostizismus",  der  die 
menschliche  Vernunft  auf  den  Kreis  der  sichtbaren  Erscheinungen 
beschränke  und  die  Möglichkeit  einer  „natürlichen  Theologie", 
also  auch  einer  metaphysischen  Gotteserkenntnis  und  damit 
auch  die  Möglichkeit  einer  Offenbarung  im  transzendenten 
Sinne  bestreite  (§  4);  —  ferner  der  Standpunkt  der  „vitalen 
Immanenz"  (immanentia  vitalis),  der  an  Stelle  der  äußeren 
Offenbarung  die  innere  im  Menschen  setze,  wie  sie  in  dem 
religiösen  Gefühl,  dem  „Bedürfnis  nach  dem  Göttlichen"  (in- 
digentia  divini)  wurzele.  „Dieses  Gefühl  hat  das  an  sich,  daß 
es  Gott  als  Gegenstand  und  als  innerste  Ursache  in  sich 
schließt  und  gewissermaßen  den  Menschen  mit  Gott  eint.  Dieses 
Gefühl  ist  für  den  Modernisten  der  Glaube  und  der  so  ver- 
standene Glaube  der  Beginn  der  Religion."  (§  5.)  „Das  reli- 
giöse Gefühl,  das  auf  diese  Weise  mittels  vitaler  Immanenz 
aus  den  Tiefen  des  Unterbewußtseins  hervorsprudelt,  ist  der 
Keim  jeglicher  Religion,  wie  es  der  Grund  alles  dessen  ist, 
was  in  irgendeiner  Religion  war  oder  jemals  sein  kann. 
Dunkel,  beinahe  ungestaltet  im  Ursprung,  hat  dieses  Gefühl 
sich  fortschreitend  entwickelt  unter  dem  geheimen  Einfluß  des 
Prinzips,  das  ihm  das  Sein  gab   und  im   gleichen  Schritt  mit 

6* 


84  Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici  Pius  X 

dem  menschlichen  Leben,  von  dem  es,  wie  gesagt  wurde,  eine 
Form  bildet.  So  entstanden  alle  Religionen,  die  über- 
natürlichen Religionen  eingeschlossen.  Alle  sind  sie 
nichts  als  Ausflüsse  dieses  Gefühls.''  (§  6.)  Aber  auch  der  Ver- 
stand hat  nach  den  Modernisten  einen  Anteil  an  dem  Akte 
des  Glaubens;  denn  sie  fordern,  der  Mensch  solle  seinen 
„Glauben  denken".  „Der  Verstand  kommt  also  dem  Gefühl 
zu  Hilfe,  neigt  sich  gewissermaßen  über  dasselbe,  arbeitet  darin 
nach  Art  eines  Malers,  der  auf  einer  alten  Leinwand  die  ver- 
blichenen Linien  der  Zeichnung  wiederfindet  und  sie  auf- 
frischt." (§  7.)  So  entstehen  dann  die  religiösen  Dogmen  als 
ein  intellektueller  Niederschlag  des  in  beständiger  „Evolution" 
befindlichen  religiösen  Gefühls  (des  sensus  religiosus).  Dogmen 
bedeuten  den  Modernisten  nichts  weiter  als  Symbole  (symbola, 
imagines  veritatis)  der  durch  das  religiöse  Gefühl  ergriffenen 
Wahrheit,  nicht  aber  die  absolute  Wahrheit  selbst. 

So  setzen  die  Modernisten  im  Unterschiede  von  den 
Rationalisten  und  zugleich  in  Uebereinstimmung  mit  «der 
Lehre  der  Protestanten  und  Pseudomystiker«  an  Stelle  der 
intellektuellen  Grundlage  des  Glaubens  —  wie  sie  in  der  Er- 
kenntnis Gottes  und  der  Tatsache  seiner  Offenbarung  von  dem 
Vatikanischen  Konzil  aufs  neue  im  Anschluß  an  die  kirchlich- 
approbierten mittelalterlichen  Denker  festgelegt  wurde  -  eine 
gefühlsmäßige;  an  Stelle  des  beweisenden  Verstandes  das 
schauende  religiöse  Gefühl,  eine  gewisse  Intuition  des  Herzens 
(in  sensu  religioso  quendum  esse  agnoscendum  cordis  in- 
tuitum)  (§  9) ;  an  Stelle  der  überindividuellen  Verstandes- 
erkenntnis die  individuelle  Erfahrung,  das  persönliche  innere 
«Erlebnis«  (privata  cuisque  hominis  experientia). 

Es  leuchtet  ein,  daß  damit  die  alleinige  Wahrheit  der 
katholischen  Religion  im  Keime  preisgegeben  wird.  Darum 
fragt  die  Enzyklika  -  von  ihren  Voraussetzungen  aus  mit 
Recht:  „Trifft  man  nicht  in  allen  Religionen  Erfahrungen  dieser 
Art?  .  .  .   Mit  welchem  Rechte  könnten  also  die  Modernisten 


Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici  Pius  X  85 

den  religiösen  Erfahrungen  ihre  Wahrheit  bestreiten,  die 
man  z.  B.  in  der  mohamedanischen  Religion  macht?  Und  auf 
welche  Prinzipien  könnten  sie  sich  stützen,  um  den  Katho- 
liken allein  das  Monopol  der  wahren  Erfahrungen  zu- 
zuschreiben?" (§  9). 

Aus  den  Praemissen  ergibt  sich  nun  auch  die  Stellung 
der  Modernisten  zu  dem  Verhältnis  von  Glauben  und 
Wissen.  „Zunächst  sind  ihre  Objekte  untereinander  vollkommen 
fremd,  eines  gegen  das  andere  abgeschlossen.  Objekt  des 
Glaubens  ist  nämlich  nur  das  allein,  was  die  Wissenschaft  für 
sich  als  unerkennbar  erklärt.  Daher  zwei  ganz  verschiedene 
Gebiete.  Die  Wissenschaft  kümmert  sich  nur  um  die  Er- 
scheinungen, der  Glaube  hat  mit  ihnen  nichts  zu  tun.  Der 
Glaube  geht  ganz  auf  das  Göttliche,  über  welches  die  Wissen- 
schaft ganz  und  gar  nichts  weiß.  Daraus  schließt  man,  daß 
zwischen  Wissenschaft  und  Glauben  ein  Streit  unmöglich  sei: 
denn  wenn  jeder  Teil  in  seinem  eigenen  Hause  bleibe,  könne 
niemals  einer  auf  den  anderen  stoßen,  beide  sich  also  auch 
niemals  widersprechen.  .  .  .  Die  Frage  (beispielsweise),  ob 
Jesus  wirklich  Wunder  getan  und  wahrhaftige  Prophezeiungen 
ausgesprochen,  ob  er  auferstanden  und  in  den  Himmel  auf- 
gefahren sei,  wird  die  agnostische  Wissenschaft  mit  ,Nein', 
der  Glaube  mit  ,Ja'  beantworten.  Daraus  wird  aber  durchaus 
kein  Kampf  zwischen  beiden  entstehen.  Die  Verneinung  kommt 
von  dem  Philosophen,  der  zu  Philosophen  spricht  und  Jesus 
Christus  nur  nach  der  geschichtlichen  Realität  ins  Auge  faßt. 
Die  Bejahung  kommt  von  dem  Glaubenden,  der  sich  an 
Glaubende  wendet  und  der  das  Leben  Jesu  Christi  aufs 
neue  durch  den  Glauben  und  in  dem  Glauben  erlebt  an- 
sieht."   (§  10.) 

Wenn  aber  die  Modernisten  von  lieber-  oder  Unter- 
ordnung zwischen  Glauben  und  Wissen  reden,  dann  fordern 
sie,  „daß  die  religiöse  Evolution  sich  in  Uebereinstimmung 
zu   setzen   hat    mit   der   intellektuellen   und   moralischen  Evo- 


86  Motu  proprio  vom  18.  Nov.  1907  und  1.  Sept.  1910 

lution".  „Also  gegenüber  dem  Glauben  schrankenlose  Freiheit 
der  Wissenschaft;  demgegenüber,  gleichviel,  ob  man  beide 
als  einander  ganz  fremd  hingestellt  hat,  Unterjochung  des 
Glaubens  unter  die  Wissenschaft."  (§  10.)  Offensichtlich  ein 
Standpunkt,  der  dem  der  Kirche  und  des  von  ihr  approbierten 
Thomas  von  Aquino  gerade  entgegengesetzt  ist.  Fordern  diese 
doch  gerade  —  im  Kollisionsfalle  —  die  Unterordnung  des 
menschlichen  Wissens  unter  den  auf  göttlicher  Offenbarung 
beruhenden  Glauben! 

5.  In  einem  Motu  proprio  vom  18.  November  1907 
hat  Pius  X.  dem  Syllabus  wie  der  Enzyklika  eine  weitere 
autoritative  Bestätigung  verliehen  und  endlich  in  dem  praktisch 
bedeutsamen  iMotu  proprio  vom  1.  September  1910 
„Gesetze  zur  Abwehr  der  Modernistengefahr"  erlassen.  Darin 
heißt  es  z.  B.:  „Unter  der  scholastischen  Philosophie,  die  Wir 
vorschreiben,  verstehen  Wir  in  erster  Linie  die  Philosophie, 
wie  sie  Thomas  von  Aquino  gelehrt  hat,  was  Wir  haupt- 
sächlich betonen.  Alles,  was  darüber  von  Unserem  Vorgänger 
verfügt  wurde,  soll  auch  unter  Unserer  Regierung  in  Kraft 
bleiben,  und  wo  es  nötig  ist,  erneuern  und  bekräftigen  Wir 
dasselbe  und  gebieten  dessen  genaue  und  allgemeine  Beobach- 
tung. Wo  in  den  Seminarien  diese  Vorschriften  nicht  beachtet 
worden  sind,  werden  die  Bischöfe  ihre  Befolgung  künftighin 
einschärfen  und  durchsetzen.  Das  Gleiche  schreiben  Wir  den 
Leitern  der  religiösen  Orden  vor.  Die  Lehrer  aber  mahnen 
Wir  ernstlich,  sich  an  den  Grundsatz  zu  halten,  daß  vom 
Aquinaten,  besonders  in  metaphysischen  Dingen, 
auch  nur  wenig  abzuweichen,  nie  ohne  großen 
Schaden  ist."  „Mehr  als  zuvor  muß  heute  der  positiven 
Theologie  Beachtung  geschenkt  werden,  doch  darf  dadurch 
die  scholastische  Theologie  nicht  geschädigt  werden,  und  jene 
alle,  welche  die  positive  Theologie  mit  Geringschätzung  der 
scholastischen  anpreisen,  sind  wie  Parteigänger  der  Moder- 
nisten zu  tadeln." 


Motu  proprio  vom  18.  Nov.  1907  und  1.  Sept.  1910  87 

Es  folgen  praktische  Maßnahmen  im  einzelnen.  Den 
Bischöfen  wird  die  Pflicht  eingeschärft,  „die  Lesung  von 
Schriften  der  Modernisten  und  Büchern,  welche  modernistischen 
Geist  verraten  oder  den  Modernismus  befördern,  zu  verhindern, 
wenn  sie  schon  herausgegeben  sind,  oder  die  Herausgabe  zuvor 
zu  verhindern.  Desgleichen  sollen  alle  Bücher,  Zeitungen, 
Zeitschriften  dieser  Art  den  Jünglingen  in  den  Seminarien 
und  den  Hörern  an  den  Universitäten  verboten  bleiben." 

Um  aber  vor  allem  das  Erscheinen  solcher  Bücher  zu 
verhindern,  sollen  vin  allen  bischöflichen  Kanzleien  offizielle 
Zensoren  zur  Prüfung  herauszugebender  Schriften  bestellt 
werden.  .  .  .  Katholische  Zeitungen  und  Zeitschriften  sollen, 
soweit  es  möglich  ist,  ihren  bestimmten  Zensor  haben.  Diesem 
obliegt  die  Pflicht,  die  einzelnen  Blätter  oder  Hefte,  nachdem 
sie  erschienen  sind,  ganz  und  aufmerksam  durchzulesen.  Findet 
sich  ein  gefährlicher  Satz,  so  soll  er  im  nächsten  Blatt  oder 
Heft  eine  Berichtigung  fordern.« 

Um  aber  diesen  Verordnungen  die  entsprechende  Durch- 
führung zu  sichern,  soll  »in  jeder  Diözese  ein  Rat  bewährter 
Priester  aus  dem  Welt-  und  Ordensklerus  eingesetzt 
werden,  dessen  Pflicht  es  ist,  Umlauf,  Verbreitung  und  Ver- 
breitungsweise neuer  Irrtümer  wachsam  festzustellen  und  den 
Bischof  davon  zu  unterrichten.  In  Beratung  mit  ihnen  soll 
dann  der  Bischof  die  Maßregeln  treffen,  welche  dieses  Uebel 
schon  in  seinem  Entstehen  ersticken  lassen,  daß  es  nicht  zum 
Verderben  der  Seele  immer  weiter  greift  und,  was  noch 
schlimmer  ist,  mit  der  Zeit  sich  fest  einlebt  und  aus- 
wächst. —  Wir  beschließen  daher,  daß  ein  solcher  Rat,  den 
Wir  die  Aufsichtsbehörde  (consilium  quod  a  vigilantia  dici 
placet)  nennen  wollen,  sobald  als  möglich  in  jeder  Diözese 
errichtet  werde.«  Außerdem  sollen  «alle  Lehrer,  bevor  sie 
im  Beginn  des  Studienjahres  ihre  Vorlesungen  aufnehmen, 
dem  Bischof  die  Abfassung  dessen  vorlegen,  was  sie  als 
Gegenstand  des  Unterrichts  behandeln  wollen,  oder  die  Gegen- 


88  Modernismus 

stände  ihrer  Abhandlungen  oder  die  Thesen;  dann  soll  im 
Verlauf  des  Jahres  die  Lehrweise  jedes  Dozenten  zur  Kenntnis 
genommen  werden;  weicht  sie  von  der  gesunden  Lehre  (a  sana 
doctrina)  ersichtlich  ab,  dann  soll  der  Dozent  sofort  entfernt 
werden.  Endlich  müssen  sie  außer  dem  Glaubensbekenntnis 
ihrem  Bischof  nach  der  untenstehenden  Formel  einen  Eid 
leisten  und  mit  ihrem  Namen  unterzeichnen." 

Hiermit  wären  wir  bei  dem  vielbesprochenen  und  viel- 
gescholtenen sog.  Antimodernisteneid  angelangt,  von  dem 
im  Verlauf  der  folgenden  Darstellung  genauer  die  Rede  sein 
soll.     Zuvor  noch  einige  überleitende  Ausführungen. 

Es  ist  überaus  lehrreich,  sich  die  besprochenen  päpst- 
lichen Kundgebungen  aus  der  letzten  Zeit  zu  vergegenwärtigen, 
um  zu  erkennen,  mit  welcher  Beharrlichkeit  die  katholische 
Kirche  die  mittelalterlichen  Grundsätze  über  das  prinzipielle 
Verhältnis  von  Philosophie  und  Theologie,  von  Glauben  und 
Wissen  festhält.  Wir  begegneten  bei  dieser  Uebersicht  sogar 
ganz  gleichlautenden  Wendungen  wie  bei  den  Theologen  des 
Mittelalters  oder  gar  des  christlichen  Altertums.  Dieselben 
Grundsätze  wie  damals  sind  noch  heute  in  der  katholischen  Theo- 
logie wirksam,  nur  in  veränderter  Anwendung  —  eben  auf  „die 
hauptsächlichsten  Irrtümer  unserer  Zeit"  (wie  wir  im  Syllabus 
Plus  IX.  hörten),  auf  die  Irrungen  des  „Modernismus"  (wie  es 
in  der  Enzyklika  Pius  X.  hieß). 

An  dieser  Stelle  sei  mit  Rücksicht  auf  nicht  seltene  Miß- 
verständnisse nachdrücklich  vor  einer  zu  weiten  Fassung  des 
Begriffs  „Modernismus"  gewarnt.  Es  wäre  historisch  unbe- 
rechtigt und  würde  nur  der  Verwirrung  dienen,  wollte  man 
darunter  etwas  anderes  verstehen,  als  die  gegen  ihn  gerichtete 
Enzyklika  beabsichtigt.  Diese  aber  nennt  einen  „Modernisten" 
keineswegs  jeden  „Irrlehrer",  sofern  er  etwa  in  „modernem" 
Gewände  auftritt  —  etwa  als  „Josephiner,  Gallicaner,  Febro- 
nianer,  Amerikanist,  Traditionalist,  Ontologist,  Arianer,  Pela- 
gianer,  Rationalist,  Altkatholik"  usw.    Sondern  im  Sinne  jener 


Modernismus  89 

Enzyklika  Modernist  sein  „heißt  bestreiten,  daß  es  irgendeine 
religiöse  Erkenntnis  gebe,  die  mit  der  Wirklichkeit  überein- 
stimmt, heißt  jede  wahre  unveränderliche  und  überall  gültige 
religiöse  Wahrheit  in  Abrede  stellen,  heißt  behaupten,  Gott 
und  die  ganze  überweltliche  Wahrheit  könne  in  keinem,  auch 
nicht  im  geringsten  Punkte  von  uns  wirklichkeitsgetreu  erfaßt 
werden.  Modernist  sein  heißt  bekennen :  jede  religiöse  Wahrheit 
sei  nur  relativ  wahr,  d.  h.  für  mich,  für  hier  und  heute; 
vielleicht  schon  morgen  sei  alle  religiöse  Wahrheit  in  Fluß  und 
Entwicklung,  in  Wandel  und  Wechsel.  Modernismus  ist  in 
erster  Linie  religiöser  Relativismus. 

In  zweiter  Linie  ist  der  Modernismus  religiöser  Sub- 
jektivismus oder  Immanentismus,  d.  h.  alles  Religiöse  und 
alle  Religion,  die  natürliche  wie  die  übernatürliche,  hat  ihre 
eigentliche  und  tiefste  Quelle  im  eigenen  Selbst  des  Menschen; 
alle  religiösen  Kräfte,  die  erzeugenden  wie  die  aufnehmenden 
Kräfte  der  religiösen  Handlungen,  Gaben  und  Güter  wurzeln 
ganz  und  gar  oder  doch  der  entscheidenden  Hauptsache  nach 
in  unserem  Innern;  hier,  nämlich  im  Strudel  des  blinden 
religiösen  Instinktes,  religiöser  Erfahrung  und  religiöser  Be- 
dürfnisse, wird  die  Religion  geboren;  allein  oder  doch  in 
entscheidender  Weise  von  hier  aus  empfängt  sie  Anstoß  und 
Richtung,  Leben  und  Vollendung.  Dem  Wirken  und  der 
Stimme  Gottes  begegnet  die  Seele  ausschließlich  nur  in  ihrem 
Innern;  Gegenstand  und  tiefsten  Beweggrund  ihres  religiösen 
Glaubens  und  Gehabens  zieht  die  Seele  aus  ihrem  eigenen 
Schöße;  eine  von  außen  an  den  Menschen  herantretende, 
religionerzeugende  Einwirkung  Gottes  gibt  es  nicht.  Religion 
ist  ein  bloßer  Ausfluß  des  Innenlebens,  ein  subjektives  Gespinst. 
Organ  zur  Erfassung  Gottes  und  der  religiösen  Werte  im 
Innern  des  Menschen  ist  das  Gefühl. 

Damit  fällt  alles  Uebernatürliche:  Glaube,  Offen- 
barung, Kirche,  Sakramente,  Heilige  Schrift.  Auch  alle  natürliche 
Religion    wird    aufgelöst;    nirgends   mehr    ein   fester    Pol    im 


90  Theologische  Wissenschaft 

Gebiete  der  Religion.  Damit  wird  der  Modernismus  wirk- 
lich die  Sammelstätte,  der  Inbegriff  aller  wirklichen 
und   möglichen  Häresien."^ 

Noch  engere  Fühlung  wird  unser  Thema  mit  der  Gegen- 
wart gewinnen,  wenn  wir  nunmehr  auch  noch  kurz  folgende 
Grundsätze  über  die  Eigenart  der  theologischen  Wissenschaft 
bei  einem  angesehenen  katholischen  Dogmatiker  unserer  Tage 
verfolgen.  Als  Beispiel  diene  die  Dogmatik  von  Professor 
Esser  (Bonn).  ^ 

Darin  heißt  es:  „Die  Theologie  ist  Glaubenswissen- 
schaft. Sie  geht  von  den  Qlaubenswahrheiten  als  ihren  ersten 
und  absolut  gewissen  Prinzipien  aus,  wie  die  Philosophie 
von  den  ersten  und  evidenten  Vernunftprinzipien.  Jede  Wissen- 
schaft geht  von  sichern  und  bekannten  Prinzipien  aus,  um 
auf  Grund  derselben  Unbekanntes  zu  beweisen.  So  geht  die 
Theologie  von  den  Glaubenssätzen  aus,  welche  dem  Gläubigen 
durch  das  höhere  Glaubenslicht  wie  die  Vernunftprinzipien 
dem  Menschen  durch  das  Licht  der  Vernunft  gewiß 
sind.  Daher  hat  nur  der  Gläubige  theologisches 
Wissen  im  strengsten  Sinne.  Wer  den  Glauben  nicht 
hat  oder  wer  die  Glaubensgnade  verloren  hat,  kann  nur  ein 
natürliches  (historisches,  literarhistorisches  usw.)  Wissen  um 
theologische  Dinge  haben. 

Die  Theologie  ist  also  jenes  Wissen  (subjektiv)  oder  jene 
Wissenschaft  (objektiv)  von  Gott  und  den  Dingen  in  ihrer 
Beziehung  zu  Gott,  welche  auf  Grund  der  göttlichen 
Offenbarung  durch  die  vom  Glauben  erleuchtete 
Vernunft  erworben  wird. 

Da  die  Theologie  von  den  Glaubenssätzen  als  ihren 
Prinzipien  ausgeht,  so  hat  sie  mit  dem  Glauben  drei  Er- 
kenntnisquellen   gemeinsam,   nämlich:   die  Heilige  Schrift,   die 

^  Vgl.  den  Aufsatz  von  Prof.  A.  Qisler,  Wer  ist  ein  Modemist? 
(Schweizerische  Rundschau,  1911,  Nr.  1.) 

^  Als  Manuskript  gedruckt  und  verlegt  bei  P.  Hanstein,  Bonn. 


Theologische  Wissenschaft  91 

Tradition  (regula  remota  fidei)  und  die  Lehraussprüche  der 
Kirche  (regula  proxima  fidei).  Als  Glaubenswissenschaft 
hat  sie  außer  den  genannten  mit  dem  Glauben  gemeinsamen 
Prinzipien  noch  eines,  welches  ihr  als  Wissenschaft  eigen  ist, 
nämlich  die  menschliche  Vernunft,  deren  Gebrauch  in  der 
Theologie  nach  dem  Verhältnis  zu  bestimmen  ist,  in  welchem 
die  Vernunft  zum  Glauben  steht. 

Die  Theologie  trägt  den  Charakter  einer  wahren 
Wissenschaft  an  sich,  da  sie  wie  jede  Wissenschaft  von 
sicheren  Prinzipien  ausgehend  neue  Erkenntnisse  in  wissen- 
schaftlicher Beweisführung  gewinnt,  dieselbe  ordnet  und  zu 
einem  System  verbindet.  —  Das  Prinzip  fides  quaerens  intel- 
lectum.  Vergl.  Vatic.  Denzinger  1796. 

Da  ihre  Prinzipien  nicht  innerlich  evident  sind, 
so  ist  die  Theologie  von  den  profanen  Wissenschaften 
wesentlich  verschieden.  Aus  dieser  Verschiedenheit  erklären 
sich  die  unerheblichen  Differenzen  unter  den  Scholastikern 
über  den  wissenschaftlichen  Charakter  der  Theologie.  Sie  ent- 
lehnt ihre  Prinzipien  einem  höheren  Wissen,  der  scientia  Dei  et 
beatorum  und  ist  in  dieser  Beziehung  jenen  Subalternwissen- 
schaften vergleichbar,  die  ihre  Prinzipien  aus  anderen  Wissen- 
schaften herübernehmen.  (Thomas  S.  theol.,  I.  q.  1  a.  7.)  Daß 
die  Annahme  dieser  Prinzipien  ein  obsequium  rationabile, 
daß  der  Glaube  ein  c'redibile  und  ein  credendum  ist, 
beweist  die  Fundamental-Theologie  oder  Apologeti  k, 
die  Vorhalle  der  eigentlichen  Theologie. 

Die  Theologie  überragt  alle  menschlichen  Wissenschaften 
nicht  nur  wegen  der  Erhabenheit  des  Objektes  (de  Deo)  und 
des  Zieles  (ad  Deum),  sondern  auch  wegen  der  Größe  der 
Gewißheit  (a  Deo).  Theologiae  principium  proximum  quidem 
est  fides,  sed  primum  est  intellectus  divinus.  (Thomas  sup. 
Boeth.  de  trin.  qu.  2  a.  2.)! 

Man  sieht:  es  sind  im  wesentlichen  wiederum  dieselben 
Grundsätze,  die  uns  bei  Thomas  von  Aquino  begegneten.   Eine 


92  Theologische  Wissenschaft 

kurze  Erläuterung  aber  möge  die  zuletzt  zitierten  Aus- 
führungen vor  naheliegenden  Mißverständnissen  schützen. 
1.  Die  „eigentliche"  Theologie  wird  von  der  „Fundamental- 
Theologie  oder  Apologetik"  unterschieden.  Hat  diese  die  Auf- 
gabe, die  Tatsache  einer  göttlichen  Offenbarung  d.  h.  die  Pflicht 
und  das  Recht  des  Glaubens  zu  „beweisen"  durch  ein  „natür- 
liches" Wissen,  so  hat  jene  als  Theologie  im  engeren  Sinne 
nunmehr  von  den  als  „göttlich"  bereits  „bewiesenen"  Inhalten 
des  Glaubens  auszugehen,  um  sie  spekulativ  zu  verarbeiten  und 
systematisch  zu  ordnen.  Von  hier  aus  wird  der  zunächst  etwa 
paradox  klingende  Ausdruck  „Glaubens  -  Wissenschaft" 
verständlich  (dem  wir  bereits  früher  in  dem  Abschnitte  über 
Duns  Scotus  begegneten).  2.  Als  Glaubenswissenschaft  ist  die 
Theologie,  wie  wir  soeben  hörten,  „von  den  profanen  Wissen- 
schaften wesentlich  verschieden"  (ein  Zugeständnis,  das  nun 
eben  für  viele  Anlaß  zu  der  praktischen  Forderung  bietet,  es 
solle  sich  die  Theologie  dann  auch  konsequenterweise  von  der 
Stätte  der  „profanen  Wissenschaften"  d.  h.  von  den  Universi- 
täten in  die  Seminare  zurückziehen).  Ebenso  überraschte  nicht 
die  Konsequenz,  daß  die  eigentliche  Theologie  als  Glaubens- 
wissenschaft eben  „nur  für  Gläubige  möglich"  sei:  „Wer  den 
Glauben  nicht  hat"  -  hieß  es  -  „besitzt"  kein  theologischesWissen 
im  strikten  Sinne,  sondern  höchstens  „ein  natürliches  Wissen 
um  theologische  Dinge". 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  93 


IV.  Der  Eid  wider  den  Modernismus. 

Um  die  Grundsätze,  welche  die  soeben  besprochene  Dog- 
matik  in  üebereinstimmung  mit  den  Prinzipien  eines  Thomas 
von  Aquino  verficht,  gerade  allen  «modernistischen"  Bestre- 
bungen gegenüber  innerhalb  der  Kirche  sicherzustellen,  hat 
Pius  X.  den  bereits  erwähnten  sog.  Anti-Modernisteneid  ge- 
fordert. Und  zwar  sollen  ihn  leisten  außer  den  Lehrern  an 
theologischen  Lehranstalten  (nach  späteren  Einschränkungen 
wenigstens,  sofern  diese  nicht  staatliche  Fakultäten  einer  Uni- 
versität sind):  „1.  die  künftig  zu  weihenden  Kleriker,  2.  die 
Beichtväter  und  Kanzelredner,  bevor  sie  die  Ermächtigung  zur 
Ausübung  dieses  Amtes  erhalten,  3.  die  Pfarrer,  Kanoniker  und 
Benefiziaten,    ehe   sie  in    den   Besitz  ihrer    Pfründe    eintreten, 

4.  die  Beamten  der  bischöflichen  Kanzleien  und  der  kirchlichen 
Gerichtshöfe  mit  Einschluß  des  Generalvikars  und  der  Richter, 

5.  die  Fastenprediger  für  die  vierzigtägige  Fastenzeit,  6.  alle 
Beamten  der  römischen  Kongregrationen  und  Gerichtshöfe  vor 
dem  Kardinalpräfekten  oder  dem  Sekretär  der  Kongregation 
des  Gerichtshofes,  7.  die  Leiter  und  Lehrer  der  religiösen 
Orden  und  Kongregationen  vor  Uebernahme  ihres  Amtes."  — 
Eine  praktische  Maßnahme,  durch  die  der  Papst  eben  allen 
früheren  Erlassen  eine  größere  Aussicht  auf  peinliche  Durch- 
führung in  «Unterricht,  Wort  und  Schrift"  verschaffen  will. 
Der  Wortlaut  dieses  Eides  pflegt  (wie  man  sich  fast  täglich 
überzeugen  kann)  nicht  immer  allen,  die  über  ihn  schreiben 
oder  reden,  bekannt  zu  sein.  Da  er  außerdem  gleichsam  eine 
praktische  Illustration  unserer  bisherigen  Ausführungen  ist,  so 
erscheint  es  angezeigt,  ihn  an  dieser  Stelle  nicht  vorzuenthalten. 

Die  Eidesformel  lautet:  «Ich  ...  ,  bekenne  mich  uner- 
schütterlich,  zu  allen   und  jeden  Wahrheiten,   die  die  Kirche 


94  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

durch  ihr  unfehlbares  Lehramt  definiert,  aufgestellt  und  erklärt 
hat,  hauptsächlich  zu  jenen  Grundpfeilern  der  Doktrin,  die  sich 
direkt  gegen  die  Irrtümer  dieser  Zeit  richten.  Vor  allem 
bekenne  ich,  daß  Gott,  der  Anfang  und  das  Ende  aller  Dinge, 
erkannt  und  daher  auf  sichere  Weise  durch  das  natürliche 
Licht  der  Vernunft,  durch  das  Mittel  der  Dinge,  die  geschaffen 
wurden,  d.  h.  durch  ihre  sichtbaren  Werke  der  Schöpfung 
wie  die  Ursache  durch  ihre  Wirkung  erkannt,  ja  auch  bewiesen 
werden  kann  (certo  cognosci  adeoque  demonstrari  posse).i 

Zweitens  anerkenne  ich  die  äußeren  Argumente  der 
Offenbarung  d.  h.  die  göttlichen  Tatsachen,  unter  ihnen 
in  erster  Linie  die  Wunder  und  Prophezeiungen,  als  die 
sehr  sicheren  Zeichen  (tamquam  signa  certissima)  des  gött- 
lichen Ursprungs  der  christlichen  Religion.  Die  gleichen 
Argumente  erachte  ich  als  hervorragend  der  Intelligenz 
aller  Zeiten  und  aller  Menschen,  auch  der  gegen- 
wärtigen Zeit,  angepaßt.2 

*  Dieser  Satz,  der  sich  auf  die  Möglichkeit  einer  sog.  natürlichen 
Gotteserkenntnis  bezieht,  hat  durch  das  Vatikanische  Konzil  folgende 
dogmatische  Formulierung  gefunden:  „Si  quis  dixerit  Deum  unum 
et  verum,  Creatorem  et  Dominum  nostrum,  per  ea  quae  facta  sunt, 
natural i  rationis  humanaelumine  certo  cognosci  non  posse, 
anathema  sit.    De  Revel.  can.  I  (Denzinger,  Enchiridion  n  1653). 

Bereits  die  Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici  (§  4j  hatte  an 
diese  dogmatische  Bestimmung,  die  Gott  mit  dem  Verstände  zu  er- 
kennen als  möglich  bezeichnet,  erinnert  gegenüber  dem  Modernismus, 
der  lediglich  von  der  „inneren  Erfahrung"  Gottes  spreche.  —  Die  obige 
Eidesformel  fügt  zu  dem  vatikanischen  „cognosci"  (erkannt  werden) 
noch  verstärkend  —  richtiger:  verdeutlichend  —  das  „demonstrari" 
(bewiesen  werden)  hinzu.  Sie  will  also  ausdrücklich  auf  die  Lehre 
verpflichten,  daß  „Gott,  der  Anfang  und  das  Ende  aller  Dinge,  durch 
das  natüdiche  Licht  der  Vernunft  erkannt  und  bewiesen  werden 
könne".  Vgl.  zu  dieser  Abänderung  des  certo  cognosci  posse  in  das 
„stärkere"  demonstrari  posse  die  in  diesem  Punkte  freilich  irreführende 
Schrift  von  Clericus  Germanicus,  Der  Modernisteneid.  Augsburg  1910, 

S.  11  ff. 

^  Auch  diese  Möglichkeit,  die  Tatsache  der  göttlichen  Offenbarung 
durch  „äußere  Zeichen«,  also  auf  intellektuellem  Wege,  beweisen  bezw. 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  95 

Drittens:  Ich  glaube  fest,  daß  die  Kirche,  Hüterin  und 
Lehrerin  des  geoffenbarten  Wortes,  auf  direkteste  Weise  von 
dem  wahren  und  historischen  Christus  in  Person  während 
seines  Lebens  unter  uns  gestiftet  wurde,  und  ich  glaube,  daß 
diese  Kirche  auf  Petrus,  das  Oberhaupt  der  apostolischen 
Hierarchie,  und  auf  seine  Nachfolger  bis  ans  Ende  der  Zeiten 
gebaut  ist. 

Viertens:  Ich  nehme  aufrichtig  die  Doktrin  des  Glaubens 
auf,  wie  sie  uns  die  Apostel  und  die  rechtgläubigen  Väter 
überliefert  haben,  ich  nehme  sie  in  dem  gleichen  Sinne 
und  in  der  gleichen  Auslegung  auf  wie  sie  (fidei  doc- 
trinam  eodem  sensu  eademque  semper  sententia  ad  nos  usque 
transmissam).  Deshalb  verwerfe  ich  die  absolut  haeretische 
Annahme  von  der  Evolution  der  Dogmen,  nach  der 
diese  Dogmen  den  Sinn  wechselten,  um  einen  anderen 
zu  erhalten,  der  verschieden  von  jenem  ist,  den  ihnen  zuerst 
die  Kirche  gegeben.  ^    Gleichzeitig  verwerfe  ich  jenen  Irrtum, 

»glaubhaft  machen"  zu  können,  hat  das  Vatikanische  Konzil  dog- 
matisch behauptet  gegenüber  der  („modernistischen")  Lehre,  nur  „innere 
Erfahrung  oder  private  Offenbarung"  könne  den  Menschen  von  jener 
Tatsache  überzeugen.  Das  Dogma  lautet :  „Si  quis  dixerit  revelationem 
divinam  extemis  signis  credibilem  fieri  non  posse  ideoque  sola  interna 
cuiusque  experientia  aut  inspiratione  privata  homines  ad  fidem  moveri 
deberi,  anathema  sit.  De  fide,  can.  III  (Denzinger,  Enchir.  1659).  Und 
auch  diesen  Satz  hatte  bereits  die  Encyclica  Pascendi  (§  4)  aufs  neue  ein- 
geschärft gegen  den  „Modernismus",  der  eben  nur  die  „innere  Er- 
fahrung", das  „Erlebnis",  als  Erkenntnisquelle  für  die  Tatsache  gött- 
licher Offenbarung  gelten  läßt.    Siehe  oben  S.  84. 

^  Man  beachte  diese  wichtigen  Relativsätze  zu  der  „Evolution  der 
Dogmen".  Denn  in  einem  anderen  Sinne  spricht  Pius  X.  selbst  von 
einer  „Evolution"  (evolvi)  der  Dogmen.   Vgl.  weiter  unten. 

Bereits  das  Vaticanum  hat  neben  der  „wesentlichen  Einheit 
und  Beharrlichkeit  des  Dogmas"  doch  ein  „akzidentelles  Wachstum  des 
dogmatischen  Bewußtseins"  für  möglich  erklärt  (wie  es  J.  Mausbach 
scharf  ausdrückt),  nämlich  in  dem  Satze:  „Crescat  igitur  .  .  .  etmultum 
vehementerque  proficiat  .  .  .  intelligentia,  scientia  sapientia  ...  in 
eodem   dogmate,  eodem  sensu  eademque  sententia  (Denzinger  1810). 


96  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

der  darin  besteht,  an  Stelle  des  göttlichen  Glaubensschatzes, 
der  der  Braut  Christi  und  ihrem  wachsamen  Hüter  anvertraut 
ist,  eine  philosophische  Fiktion  oder  eine  Schöpfung  des  mensch- 
lichen Gewissens  zu  setzen,  die  nach  und  nach  durch  die  Be- 
mühungen der  Menschen  gebildet,  in  der  Zukunft  einem  un- 
beschränkten Fortschritt  ausgesetzt  wäre. 

Fünftens:  Ich  halte  mit  aller  Sicherheit  fest  und  ich 
bekenne  aufrichtig,  daß  der  Glaube  kein  blinder  religiöser 
Sinn  ist  (Fidem  non  esse  coecum  sensum  religionis),  der  aus 
den  dunklen  Tiefen  des  menschlichen  Unterbewußtseins  auf- 
steigt unter  dem  Druck  des  Herzens  und  des  moralisch 
bestimmten  Willens,  sondern  daß  er  eine  wahrhafte  Zu- 
stimmung der  Intelligenz  zu  der  Wahrheit  ist,  die  durch  die 
empfangene  Unterweisung  erworben  wurde  (ex  auditu),  eine 
Zustimmung,  durch  die  wir  wegen  der  Autorität  Gottes, 
dessen  Wahrhaftigkeit  absolut  ist,  alles  für  wahr  halten, 
was  gesagt,  bezeugt  und  geoffenbart  wurde  durch  Gott  per- 
sönlich, unsern  Schöpfer  und  Meister.  Ich  unterwerfe  mich 
noch  mit  all  der  gewollten  Ehrfurcht  und  pflichte  aus  ganzer 
Seele  allen  Verurteilungen,  Erklärungen  und  Vorschriften  bei, 
die  in  der  Encyclica  Pascendi  und  im  Decret  Lamentabili 
enthalten  sind,  besonders  jenen,  die  die  sog.  Dogmen- 
geschichte betreffen.  (Me  etiam  qua  par  est,  reverentia  subiicio 
totoque  animo  adhaereo).  Gleichzeitig  verwerfe  ich  den  Irrtum 
derer,  die  behaupten,  daß  der  von  der  Kirche  vorgetragene 
Glaube  der  Geschichte  zuwider  sei,  und  daß  die  katholischen 
Dogmen,  wie  sie  heute  verstanden  werden,  mit  den  authentischen 
Ursprüngen  der  christlichen  Religion  nicht  in  Einklang  zu  bringen 
sind.  Ich  verurteile  auch  und  verwerfe  die  Anschauung  jener,  die 
vorgeben,die  Persönlichkeit  des  christlichen  Gelehrten 
in  die  des  Gläubigen  und  die  des  Historikers  ver- 
doppeln zu  können,  als  ob  der  Historiker  das  Recht  habe,  das  auf- 
rechtzuerhalten,was  derUeberzeugung  des  Gläubigen  widerspricht 
(quae  credentis  fidei  contradicant),  oder  als  ob  es  ihm  gestattet  sei. 


i 


Der  Eid  wider  den  Modemismus  97 

unter  der  einzigen  Bedingung,  nicht  direkt  ein  Dogma  zu 
leugnen,  Praemissen  aufzustellen,  aus  denen  sich  die  Schluß- 
folgerung ergeben  würde,  daß  die  Dogmen  falsch  oder  zweifelhaft 
sind.  Gleicherweise  verwerfe  ich  jene  Methode  (die  Heilige 
Schrift  zu  beurteilen  und  auszulegen),  die  im  Gegensatz  zu 
der  Tradition  der  Kirche,  der  Analogie  des  Glaubens  und 
der  Regeln  des  apostolischen  Stuhles,  sich  auf  die  Arbeits- 
methode der  Rationalisten  gründet  und  mit  ebensoviel 
Kühnheit  als  Verwegenheit  als  höchste  und  einzige  Regel  nur 
die  Textkritik  annimmt.  Außerdem  verwerfe  ich  den  Irrtum 
jener,  die  behaupten,  daß  der  Lehrer  der  historischen 
Theologie  (disciplina  historica  theologica)  oder  der  Schrift- 
steller auf  diesem  Gebiete  sich  zuerst  jeder  zuvorgewonnenen 
(„vorgefaßten")  Meinung  (opinio  ante  concepta)  entledigen 
muß,  sei  es  hinsichtlich  des  übernatürlichen  Ursprungs  der 
katholischen  Tradition,  sei  es  hinsichtlich  des  göttlichen  Bei- 
standes, der  für  die  ständige  Bewahrung  jedes  Punktes  ge- 
offenbarter Wahrheit  versprochen  wurde,  und  die  dann 
behaupten,  die  Schriften  jedes  Kirchenvaters  müßten  außerhalb 
jeder  geheiligten  Autorität  nach  den  Prinzipien  der  Wissen- 
schaft allein  und  mit  jener  Unabhängigkeit  des  Urteils 
ausgelegt  werden,  die  man  beim  Studium  irgendeines 
profanen  Dokumentes  anzuwenden  gewohnt  ist. 
Endlich  bekenne  ich,  vollständig  frei  von  diesem  Irrtum 
der  Moder  nisten  zu  sein,  der  behauptet,  daß  es  in  der 
geheiligten  Tradition  nichts  Göttliches  gibt  oder,  was  noch 
schlimmer  ist,  daß  es  Göttliches  nur  in  pantheistischem  Sinne 
gibt,  so  daß  nur  noch  eine  reine  und  nackte  Tatsache  übrig 
bleibt,  vergleichbar  den  gewöhnlichen  Tatsachen  der  Geschichte, 
nämlich  die  Tatsache,  daß  die  Menschen  durch  ihre  Arbeit, 
durch  ihre  Geschicklichkeit,  durch  ihr  Talent  durch  die 
späteren  Jahre  hindurch  die  von  Christus  und  seinen  Aposteln 
begonnene  Schule  fortgesetzt  haben.  Schließlich  halte  ich  mit 
der  größten  Festigkeit  und  bis  zum  letzten  Atemzuge  den 

Verweyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  7 


98  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

Glauben  der  Kirchenväter  über  das  sichere  Charisma 
(Kriterium)  der  Wahrheit  fest,  das  ist  und  immer  sein  wird 
„im  Episkopat,  überliefert  durch  die  Nachfolgerschaft  der 
Apostel"  (Iren.  11c  20;  fidem  Patrum  firmissime  retineo  et  ad 
extremum  vitae  spiritum  retinebo);  nicht  so,  daß  man  nur  das 
festhalte,  was  für  die  Kultur  des  jeweiligen  Zeitalters  besser 
und  passender  erscheint,  sondern  so,  daß  niemals  anders  ge- 
glaubt und  anders  verstanden  werden  soll  die  absolute  und 
unveränderliche,  im  Anfang  durch  die  Apostel  verkündete 
Wahrheit  (non  ut  id  teneater  quod  melius  et  aptius  videri 
possit  secundum  suam  cuiusque  aetatis  culturam,  sed  ut 
nunquam  aliter  credatur  nunquam  aliter  intelligatur  absoluta 
et  immutabilis  veritas  ab  initio  per  Apostolos  praedicta). 
Alle  diese  Dinge  verpflichte  ich  mich  treu,  unverkürzt  und 
aufrichtig  zu  beobachten,  sie  unverletzlich  zu  bewahren  und 
mich  weder  im  Unterricht  noch  auf  andere  Weise  durch 
Wort  oder  Schrift  davon  zu  entfernen.  So  gelobe  und  schwöre 
ich,  so  wahr  mir  Gott  helfe  etc." 

Vergleicht  man  diese  Eidesformel  mit  den  früheren 
Erlassen  Pius  X.  —  und  seiner  unmittelbaren  Vorgänger  — , 
so  findet  man  darin  schlechthin  keinen  Grundsatz  aus- 
gesprochen, der  neu  und  unerhört  wäre.^  Wer  diesen 
Vergleich  einmal  unternommen  hat,  muß  daher  nicht  wenig 
staunen  über  das  Entrüstungsgeschrei,  mit  dem  gerade  diese 
praktische  Konsequenz  und  Zusammenfassung  des  Früheren, 
namentlich  von  selten  der  Gegner  katholischer  Lehren,  bedacht 
wurde.  Man  kann  dabei  nur  wieder  konstatieren,  wie  wenig 
die  von  unkritischem  Parteieifer  eingegebene  '  laute  Tages- 
polemik den  Voraussetzungen  und  der  Eigenart  des  Gegners 
gerecht  zu  werden  pflegt. 


^  Vgl.  den  Aufsatz  von  Prälat  Dr.  Franz  Heiner,  Der  neue  Eid  der 
Theologieprofessoren.  (Münchener  Allgemeine  Rundschau  Nr.  50,  1910). 

Die  obigen  Sperrungen  stammen  von  mir. 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  99 

Freilich  glaubten  manche  in  der  Eidesformel  einige  Ueber- 
bietungen  früherer  katholischer  Festlegungen  anzutreffen. 
Namentlich  in  folgenden  Punkten.  Zunächst  hinsichtlich  der 
sog.  natürlichen  Gotteserkenntnis.  Hatte  das  vatikanische  Konzil 
als  Dogma  formuliert,  daß  Gott  „durch  das  natürliche  Licht 
der  menschlichen  Vernunft  sicher  erkannt"  werden  könne 
(certo  cognosci  posse),  so  fügt  die  Eidesformel  noch  hinzu: 
und  „daher  auch  bewiesen  werden  könne"  (adeoque  demon- 
strari  etiam  posse).  Dieser  —  von  dem  Vatikanum  absichtlich  ^ 
vermiedene  —  Zusatz  aber  erklärt  sich  sehr  einfach  aus  der 
„antimodernistischen"  Grundabsicht  des  Eides  wie  der  ihm 
vorausgehenden  Encyclica  Pascendi.  Letztere  hatte  die  in  der 
rein  subjektiven  „inneren  Erfahrung",  im  „Gefühl"  wurzelnde 
Gottes„erkenntnis"  der  Modernisten  zurückgewiesen  (vergl. 
oben  S.  84).  Das  vatikanische  „cognosci  posse"  aber  bedeutete  eine 
objektive,  allgemeingültige  Erkenntnis  Gottes  —  wie  die  Ency- 
clica Pascendi  durch  das  gegen  die  entgegengesetzte  Auf- 
fassung gerichtete  Zitat  jener  vatikanischen  Konzilbestimmung 
ausdrücklich  bestätigt.  Um  nun  die  gemeinte  objektive  — 
und  als  solche  eben  „beweisbare"  —  Erkenntnis  unzweideutig 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  hat  die  Eidesformel  zu  dem  „Er- 
kennen-können"  noch  das  „Auch-beweisen-können"  hinzugefügt. 

Einen  besonderen  Stein  des  Anstoßes  bot  ferner  der  vor- 
letzte Satz  der  Formel,  der  von  der  „absoluten  Wahrheit" 
spricht,  die  „von  Anfang  an  durch  die  Apostel  gepredigt  wurde". 
Auch  dieser  Satz  legt  dem  katholischen  Theologen  keineswegs 


^  Die  Absicht  des  Vatikanums  war,  den  sog.  Traditionalismus  zu 
verwerfen,  der  jegliches  Erkennen  des  Daseins  Gottes  leugnete  und 
das  Gottesbewußtsein  lediglich  auf  die  »Tradition",  die  natürliche  und 
kirchliche,  gründete.  Vgl.Granderath,  Const.  dogm.  S.S.  Con.Vatic.  1902, 
p.  32n.  Im  übrigen  braucht  ja  das  Vatikanum  selbst  schon  den 
Ausdruck  „demonstrare"  (beweisen)  von  den  „Grundlagen  des 
Glaubens".  Dazu  zählt  es  aber  auch  die  „Erkenntnis"  (und  demnach 
die  „Beweisbarkeit")  des  Daseins  Gottes.     Vgl.  unten  S.  101,  104. 

7* 


100  Der  Eid  wider  den  Modemismus 

eine  „neue  Verpflichtung"  auf,  noch  „unterbindet  er  seine  Be- 
wegungsfreiheit" irgendwie  mehr  als  bisher.  Denn,  wer  auch 
nur  einigermaßen  mit  der  katholischen  Gedankenwelt  vertraut 
ist,  weiß,  daß  in  ihr  stets  das  sog.  depositum  fidei,  die  „Hinter- 
lage des  Glaubens"  d.  h.  die  durch  die  Apostel  verkündigte 
Lehre,  als  unantastbar,  aller  menschlichen  Kritik  entzogen  galt.  — 
Man  kann  diese  Voraussetzung  angreifen,  aber  auf  Grund  der- 
selben fordert  der  Eid  nichts,  was  über  bisherige  Verpflich- 
tungen innerhalb  dieser  Gedankensphäre  hinausginge.  Beide 
Dinge  sind  scharf  auseinanderzuhalten,  will  man 
nicht  unheilvolle  Konfusion  in  eine  derartige  reli- 
giöse Polemik  hineintragen. 

Was  übrigens  jenen  Begriff  der  „absoluten  Wahrheit" 
betrifft,  so  verurteilt  er  den  katholischen  Theologen  nicht 
schlechthin  zur  Untätigkeit.  In  einem  Worte  vom  14.  Juni  1907 
hat  Pius  X.  in  dieser  Hinsicht  lediglich  seine  und  seiner  Vor- 
gänger amtlichen  Kundgebungen  erläutert,  wenn  er  sagt,  die 
kirchliche  Lehre  solle  „nicht  in  dem  Sinne  unveränderlich 
bleiben,  daß  sie  keine  Fortschritte  macht",  sie  solle  vielmehr 
„nach  der  Eigenart  der  Völker  und  Zeiten  immer 
offener  dargelegt  und  in  gesetzmäßiger  Auslegung  entwickelt 
werden  (evolvi)".^  (Freilich  bedeutet  Entwicklung  hier,  wie 
auch  sonst  innerhalb  des  katholischen  Dogmas,  lediglich  die 
Entfaltung  d.  h.  immer  tiefere,  mit  den  Erkenntnismitteln  der 
Zeiten,  Völker  und  Individuen  fortschreitende  geistige  Er- 
fassung eines  ursprünglich  geoffenbarten  und  deshalb  „ab- 
soluten" Wahrheits-Kernes.) 

Endlich  hat  noch  jene  Stelle  der  Eidesformel  starke  Er- 
regung hervorgerufen,  die  dem  historisch-exegetischen  Theo- 
logen die  Entledigung  „jeder  vorgefaßten  Meinung"  (opinio 
ante  concepta)  verbietet,  ehe  er  an  die  Urkunden  des  Christen- 
tums herantritt  —  als  wären  es  „nur  profane"  Literatur-Denk- 


^  Vgl.  Mausbach  a.  a.  O.  S.  51. 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  101 

mäler.  Auch  dieses  Verbot  ist  kein  anderes,  als  bereits  in  dem 
früher  erörterten  Syllabus  Pius  X.  zum  Ausdruck  kommt,  wenn 
darin  die  These  verworfen  wird:  „Der  Exeget  muß,  wenn 
er  den  biblischen  Studien  mit  Nutzen  obliegen  will,  vor  allem 
jede  vorgefaßte  Meinung  von  einem  übernatürlichen  Ursprung 
der  Heiligen  Schrift  beiseite  lassen  und  diese  nicht  anders 
auslegen  als  wie  die  übrigen  rein  menschlichen  Urkunden." 
(Nr.  1 2.)  Als  positive  Lehre  der  katholischen  Kirche  ergibt  sich 
daraus  folglich  der  Satz:  Der  katholische  Exeget  darf  die 
„vorgefaßte  Meinung  von  einem  übernatürlichen  Ursprung 
der  Heiligen  Schrift  nicht  beiseite  lassen  und  muß  diese 
anders  auslegen  als  wie  die  übrigen  rein  menschlichen 
Urkunden".  Aber  —  man  beachte!  —  eben  der  katholische 
Exeget  (wenn  es  in  der  soeben  zitierten  Stelle  nur  heißt  „der 
Exeget",  so  ist  offensichtlich  der  katholische  gemeint)!  Also 
ein  solcher  Exeget,  der  bereits  auf  dem  allgemeinen  Boden 
der  „katholischen  Glaubensüberzeugung"  steht.  Daß  aber  die 
,; Glaubensüberzeugung"  nicht  zuletzt  wiederum  auf  einem 
Glauben,  sondern  auf  einem  „Wissen"  von  der  Tatsache  einer 
göttlichen  Offenbarung  beruhen  soll,  fanden  wir  gerade  in 
Thomas  von  Aquinos  Lehre  von  den  praeambula  fidei  oder 
den  motiva  credibilitatis  nachdrücklich  gefordert.  Ein  Stand- 
punkt, den  das  vatikanische  Konzil  in  dem  Satze  als  Dogma 
anerkennt:  die  richtige  Vernunft  beweist  die  Grundlagen 
des  Glaubens.  (Recta  ratio  fidei  fundamenta  demonstret. 
Sess.  3,  C.  4.) 

Also  auch  der  zuletzt  erwähnte  Punkt  ist  keineswegs  eine 
eigentümliche  Neuerung  des  »Antimodernisteneides*,  sondern 
inhaltlich  bereits  frühere  Lehre  der  katholischen  Kirche.  Weil 
es  sich  bei  jenem  Punkte  nun  besonders  um  das  Verhältnis 
von  Glauben  und  Wissen  handelt,  ist  die  in  Rede  stehende 
Eidesformel  gerade  der  äußere  Tages-Anlaß  geworden  zu 
einem  Feldzuge,  um  nicht  zu  sagen  Feldgeschrei,  gegen  die 
katholische  Fassung  von  Glauben  und  Wissen.     Ein  Geschrei, 


102  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

das,  wie  nicht  überrascht,  am  lautesten  von  den  Unkundigen 
angestimmt  wird;  nämlich  von  solchen,  die  der  Meinung 
sind,  es  würde  durch  diesen  Eid  den  ihn  Leistenden  irgend- 
ein Inhalt  aufgezwungen,  den  sie  nicht  ohnehin  als  „gläubige 
Katholiken«  innerlich  anerkennen  müßten!  Daß  letzteres  der 
Fall  ist,  wurde  im  Vorhergehenden  an  entscheidenden  Punkten 
gezeigt  und  ließe  sich  leicht  auf  alle  übrigen  ausdehnen.  Es 
wirkt  daher  im  höchsten  Maße  befremdend  und  zeugt  von 
seltsamer  Unkenntnis  dieser  Dinge,  wenn  an  politisch  hoch- 
bedeutsamer Stelle  bereits  erwogen  wurde,  ob  man  fürderhin 
die  durch  den  Eid  sich  verpflichtenden  katholischen  Lehrer 
wenigstens  für  den  Unterricht  in  Deutsch  und  Geschichte  in 
„staatlicher  Anstellung"  dulden  könne.  ^  Nach  unseren  Dar- 
legungen müßte  diese  Erwägung  ja  doch  auf  alle  katholischen 
Lehrer  —  wenigstens  für  die  genannten  Fächer  —  übertragen 
werden  und  würde  schließlich  konsequenterweise  wieder  auf 
die  »Kulturkampf «-Frage  führen,  inwieweit  sich  die  Ueber- 
zeugung  eines  gläubigen  Katholiken  mit  dem  «Staatsdienste" 
verträgt. 

In  der  Richtung  der  zuletzt  angedeuteten  Gedanken  liegt 
nun  auch  eine  weitere  Frage,  die  durch  den  Antimodernisten- 
Eid  wiederum  zu  einer  aktuellen  Angelegenheit  geworden  ist. 
Abermals  ist  nämlich  das  Recht  der  theologischen,  speziell  der 
katholischen  Fakultäten  im  Organismus  der  Universitäten 
in  Frage  gestellt  und  zu  einem  Gegenstande  lebhafter  Tages- 
erörterung erhoben  worden.  Diese  praktische  Frage  aber  steht 
in  allerengstem  Zusammenhange  mit  dem  theoretischen  Probleme 
unseres  Themas.  Eine  Tatsache,  die  schon  darin  ihren  äußeren 


1  Vgl.  die  kirchenpolitische  Rede  des  Ministerpräsidenten  von 
Bethmann-HoUweg  im  Abgeordnetenhause  vom  7.  März  ds.  Js.,  die  im 
übrigen  den  Antimodernisteneid  an  sich  als  eine  »rein  innerkirchliche 
Angelegenheit"  betrachtet,  wenn  auch  bei  der  Ausführung  derartiger 
päpstlicher  Erlasse  sich  Konsequenzen  ergäben,  die  mit  dem  staatlichen 
Interesse  zusammenhingen. 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  103 

Ausdruck  findet,  daß  Vertreter  der  katholischen  Theologie 
gerade  durch  den  Nachweis  eines  prinzipiell  unanfechtbaren 
Verhältnisses  zwischen  Glauben  und  Wissen,  Vernunft  und 
Offenbarung  dem  Vorwurfe  der  w Unwissenschaftlichkeit"  zu 
begegnen  suchen,  die  allein  die  Aufhebung  ihrer  Fakultät 
sachlich  rechtfertigen  würde.  Daß  dies  der  Fall  sei,  scheint 
nun  freilich  nicht  wenigen  gerade  die  antimodernistische 
Eidesformel  zu  beweisen,  dieser  „offene  und  blutige  Hohn 
auf  die  unantastbare  Freiheit  des  Denkens,  Forschens  und 
Lehrens«,  —  eine  Maßnahme,  die  dem  theologischen  Hoch- 
schullehrer etwas  zumute,  was  „alles  bisher  Dagewesene  weit 
übersteige".  ^ 

Gegenüber  solchen  Anklagen  hat  der  katholische  Theo- 
logieprofessor Joseph  Mausbach  (Münster)  vor  kurzem  eine 
bedeutsame  Schrift  veröffentlicht  unter  dem  Titel:  «Der  Eid 
wider  den  Modernismus  und  die  theologische  Wissenschaft" 
(Köln,  1911).  2  Der  Verfasser  stellt  ebenfalls  fest,  daß  die 
Eidesformel  dem  Theologen  nicht  neue  und  fremde  Gedanken 
vorlegt,  sondern  zum  Teil  wörtliche  Entlehnungen  aus 
den  Beschlüssen  des  Vatikanischen  Konzils,  zum  Teil 
Anwendungen  und  Folgerungen  aus  denselben  gegen  den 
Modernismus,  die  vom  Standpunkte  des  Glaubens  und 
der  bisherigen  Theologie  fast  selbstverständlich  erscheinen. 
Die  Professoren  der  theologischen  Fakultät  zu  Paderborn 
konnten  mit  Recht  vor  ihrer  Eidesleistung  schreiben:  »Wir 
sind  der  Ueberzeugung,  daß  mit  diesem  Eid  eine  inhaltlich 
neue  Verpflichtung  nicht  übernommen  wird,  die  nicht  schon 
jetzt  besteht;   der  Eid  ist  nur  eine  Bekräftigung  dessen,  wozu 


*  Wie  der  Verfasser  eines  Artikels  in  der  Kölnischen  Zeitung 
(Nr.  1211  1910)  irrigerweise  meint.  In  der  Tat  ein  «abschreckendes 
Beispiel  oberflächlicher  Kritik",  wie  Mausbach  mit  Recht  sagt. 

-  Vgl.  auch:  Der  Modernismus,  Zwei  Kundgebungen  des  Kardinals 
Mercier,  Köln  1911.  Ferner  die  soeben  erschienene  Schrift  von  Karl 
Braig,  Der  Modernismus  und  die  Freiheit  derWissenschaft,  Freiburg  1911. 


104  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

eine  Gewissensverpflichtung  schon  jetzt  vorliegt."  Der  Grund, 
weshalb  die  Theologieprofessoren  der  Staatsuniversitäten  von 
der  Eidesleistung  entbunden  wurden,  kann  demnach  nicht 
in  dem  Gedanken  liegen,  «der  Eid  würde  von  ihnen  als 
eine  Aenderung  der  bisherigen  Grundsätze  der  theologischen 
Wissenschaft  und  Forschung  empfunden  worden  sein".  „Die 
faktische  Ausnahme  aber  läßt  sich  durch  die  Absicht  erklären, 
der  eigenartigen  Lage  und  staatsrechtlichen  Stellung  der 
Fakultäten  gerecht  zu  werden  und  den  Kirchenfeinden  jeden 
Anlaß  zu  kirchenpolitischer  Agitation  zu  nehmen."  (S.  11.) 
Aus  dem  dann  folgenden  Abschnitt  über  den  „Autoritäts- 
glauben und  die  Forschungsfreiheit"  interessieren  uns  hier, 
historisch  wie  sachlich,  einige  prinzipielle  Ausführungen,  die 
sich  auf  die  Begründung  des  Glaubens  beziehen,  wie  sie  einer 
besonderen  Disziplin,  der  Apologetik,  zufällt.  Sie  hat  die 
Aufgabe,  „die  Selbstbesinnung  des  Katholiken  über  das  Recht 
des  Glaubens  methodisch  durchzuführen  und  dem  die  Wahr- 
heit Suchenden  die  Gründe  der  Glaubwürdigkeit  syste- 
matisch zu  entwickeln.  Diese  Wissenschaft  verlangt  von  den 
Draußenstehenden  nicht , von  vornherein'  die  Annahme  eines 
,übernatürlich  Gegebenen';  sie  sucht  vielmehr,  von  den  Tat- 
sachen der  äußeren  und  inneren  Wirklichkeit  ausgehend,  eine 
natürliche  Ueberzeugung  vom  göttlichen  Ursprung  der 
Kirche  zu  begründen.  Der  größte  Teil  dieses  Nachweises  gehört 
dem  Gebiete  der  Geschichte  an;  die  Beweismittel,  die  darin 
gebraucht  werden,  dürfen  —  nach  dem  Programm  der 
Apologetik  und  nach  den  deutlichen  Aussprüchen  desVatikanums 
—  nur  dem  Gebiete  der  Vernunft,  nicht  dem  des 
kirchlichen  Glaubens  entnommen  sein  —  ,recta  ratio 
fidei   fundamenta  demonstret'!    (sess.  3,  c  4)i     Die  eigentliche 


'  Diese  hochbedeutsame  Bestimmung  des  Vatikanischen  Konzils 
lautet  vollständig  so:  „Neque  solum  fides  et  ratio  inter  se  dissidere 
numquam  possunt,  sed  opem  quoque  sibi  mutuam  ferunt,  cum  recta 
ratio  fidei   fundamenta   demonstret   eiusque  lumine  illustrata 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  105 

Theologie,  die  Dogmatik  und  Moral,  legt  allerdings  das  Dogma 
zugrunde;  aber  soweit  sie  Wissenschaft  ist,  soweit  sie  erklärt, 
widerlegt,  philosophisch  und  historisch  beweist,  muß  auch  sie 
die  Gesetze  der  Wissenschaft  befolgen,  darf  sie  nur  Einsicht 
vermitteln,  nicht  Glauben  fordern  wollen."  (S.  26.) 

Was  weiterhin  „Die  Eidesformel  und  die  historische 
Methode"  betrifft,  so  erinnert  Mausbach^  sowohl  an  die  vati- 
kanische Entscheidung,  die  jeder  Wissenschaft  —  mithin 
auch  der  historischen  —  ihre  eigenen  Prinzipien,  Me- 
thoden und  Beweise  zugesteht,  als  auch  an  ein  Wort 
Leo  XIII.  über  die  Geschichtswissenschaft,  das  lautet:  „Besonders 
ist  darauf  Gewicht  zu  legen,  daß  alles  Erdichtete  und  Falsche 
durch  Zurückgehen  zu  den  Quellen  der  Geschichte  widerlegt 
wird,  vor  allem  erinnere  sich  der  Schriftsteller,  es  sei  das 
erste  Gesetz  der  Geschichtsschreibung,  daß  sie  nichts 
Falsches  zu  sagen  wagt,  sodann  daß  sie  nichts  Wahres  zu 
sagen  sich  scheut  und  im  Schreiben  keinen  Verdacht  irgend- 
welcher Vorliebe  oder  Gegnerschaft  auf  sich  ladet  .  .  .  Beweis- 
kräftigen Gründen  (firmis  ad  probandum  argumentis)  muß 
notwendig  die  Willkür  der  Meinungen  weichen,  und  die 
anhaltenden  Angriffe  auf  die  Wahrheit  wird  überwinden  und 

rerum  divinarum  scientiam  excolat,  fides  vero  rationem  ab  erroribus 
liberet  ac  tueatur  eamque  multiplici  cognitione  instruat.  Qua  propter 
tantum  abest,  ut  Ecclesia  humanarum  artium  et  discipli- 
narum  culturae  obsistat,  ut  hanc  multis  modis  iuvet  atque 
promoveat.  Non  enim  commoda  ab  iis  ad  hominum  vitam  dima- 
natia  aut  ignorat  ant  despicit;  fatetur  immo,  eas  quemadmodum 
a  Deo  scientiarum  Domino  profectae  sunt,  ita,  siriteper- 
tractentur,  ad  Daum  iuvante  eins  gratia  perducere.  Nee 
sane  ipsa  vetat,  ne  huiusmodi  disciplinae  in  suo  quaeque  ambitu 
propriis  utantur  principiis  et  proprio  methodo;  sed  iustam 
hanc  libertatem  agnoscens  id  sedulo  cavet,  ne  divinae  doctrinae  re- 
pugnando  errores  in  se  suscipiant,  aut  fines  proprios  transgressae 
ea  quae  sunt  fidei  occupent  et  perturbent.   sess.  3.  (24.  Apr.  1870.) 

'  Vgl.  auch  N.  Peters,  Die  grundsätzliche  Stellung  der  katho- 
lischen Kirche  zur  Bibelfoischung,  Paderborn  1905. 


106  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

brechen   die  Wahrheit  selbst,   die    bisweilen    verdunkelt,    aber 
nie  ausgelöscht  werden  kann."  (S.  33.) 

An  der  Uebertragung  dieser  Forschungs-Methode  auf  die 
Dogmengeschichte  ändert  die  Eidesformel  nichts.  Sie  will 
gegenüber  den  „apriorischen"  Konstruktionen  der  „moder- 
nistischen" Historiker  im  Sinne  einer  „bestimmten  phaenomena- 
listischen,  religionsphilosophischen  Voraussetzung"  (S.  38)  ledig- 
lich einschärfen,  „daß  der  katkolische  Gelehrte  bei  geschichtlich- 
theologischen Studien  das  Forschungsergebnis  an  dem  Inhalt 
und  den  Normen  des  Glaubens  prüft  und  kontrolliert".  (S.  34.) 
Einen  solchen  Anspruch  erhebt  die  katholische  Kirche  in 
bezug  auf  den  Dogmenhistoriker,  weil  sie  überzeugt  ist,  ,,die 
legitime,  organische  Entfaltung  jenes  himmlischen,  vom 
Erlöser  in  die  Welt  gesenkten  Senfkörnleins  zu  sein,  den  Geist 
Christi  für  die  Lösung  der  wesentlichen  religiösen  Fragen  bis 
heute  in  sich  zu  tragen.  Muß  nicht  jeder  Unparteiliche  (—  so 
fragt  der  Verfasser  - )  ihr  von  diesem  Standpunkte  aus  das 
Recht  zuerkennen.  Gewicht  darauf  zu  legen,  daß  der  katho- 
lische Theologe  bei  „Interpretation"  die  altkirchlichen  Denk- 
mäler d.  h.  bei  der  vollen  Erschließung  ihres  Sinnes 
diese  G  lau  bensvorstellung  nicht  ausschaltet,  sondern  in  erster 
Linie  berücksichtigt?  Muß  er  nicht  sogar  vom  allgemein- 
methodischen Standpunkte  aus  zugestehen,  daß  es  auf  Erden 
keine  Institution  gibt,  die  mit  ähnlichem  Rechte  behaupten  kann, 
in  geschlossener  Entwicklung  aus  jener  Wurzel  zu  stammen, 
den  Geist,  die  Ideen,  die  Einrichtungen  jener  Zeit  uns  nahe- 
zubringen? Läge  nicht  eine  unwissenschaftliche  und  für  den 
Theologen  unwürdige  Bescheidenheit  darin,  die  katholische 
Auffassung  nur  ,, sozusagen  probeweise  neben  Dutzend  anderen 
Erklärungsmöglichkeiten  an  die  Quellen  anzulegen",  wo  diese 
anderen  Möglichkeiten,  seien  sie  aus  dem  subjektiven  Denken 
des  Forschers  oder  aus  dem  supponierten  Geiste  der  alten  Zeit 
geschöpft,  viel  eher  die  Gefahr  einschließen,  das  Urteil  in  die 
Irre  zu  führen?     Es  muß  ihm  vielmehr  gestattet  sein,  bei  der 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  107 

Fragestellung  und  Vergleichung  diese  Möglichkeit  in  erster 
Linie  in  Betracht  zu  ziehen,  natürlich  ohne  den  Quellen  Ge- 
walt anzutun  oder  irgendein  Moment  innerer  Wahrscheinlich- 
keit abzuschwächen."  (S.  44.) 

Daß  aber  überhaupt  die  durch  den  Antimodernisteneid 
geleistete  Verpflichtung  zu  einem  Glaubensbekenntnisse  «im 
religiösen  Leben  der  Gegenwart  nicht  etwas  ganz  Unerhörtes" 
bedeutet,  sucht  der  folgende  Abschnitt  zu  zeigen.  Er  handelt 
über  die  «bekenntnismäßige  Verpflichtung  der  prote- 
stantischen Theologen"  und  zitiert  eine  Reihe  der  bei 
diesen  üblichen  Schwurformeln,  deren  Geist  bis  in  die 
Satzungen  der  theologischen  Fakultäten  der  Universitäten 
hineinragt.  So  lautet  z.  B.  der  Wortlaut  des  Gelübdes,  das 
die  Theologieprofessoren  der  Leipziger  Fakultät  abzulegen 
haben:  »Ich  gelobe  vor  Gott,  daß  ich  das  Evangelium  von 
Christo,  wie  dasselbe  in  der  Heiligen  Schrift  enthalten  und  in 
der  ersten  ungeänderten  Augsburgischen  Konfession  und  sodann 
in  den  übrigen  Bekenntnisschriften  der  evangelisch-lutherischen 
Kirche  bezeugt  ist,  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  lauter 
und  rein  lehren  und  verkünden  will."  Aehnlich  heißt  es  in 
den  Satzungen  der  Bonner  evangelisch-theologischen  Fakultät: 
»Die  Fakultät  bekennt  sich  zu  der  unierten  evangelischen 
Kirche  und  ist  verpflichtet,  ihre  Lehre  mit  den  Grundsätzen 
dieser  Kirche,  wie  sie  in  deren  anerkannten  Bekenntnis- 
schriften übereinstimmend  und  schriftgemäß  aufgestellt  worden 
sind,  in  Einklang  zu  erhalten."  (Man  vergleiche  damit  die 
folgende  Bestimmung  der  Bonner  katholisch- theologischen 
Fakultät:  „Der  neuangestellte  .  .  .  Professor  wie  auch  jeder 
Privatdozent  ist  gehalten,  ehe  er  seine  Vorlesungen  beginnt, 
das  katholische  Glaubensbekenntnis  nach  Vorschrift  des  Triden- 
tinischen  Kirchenrats  und  in  der  in  der  Kirche  üblichen  Form 
in  die  Hände  des  Dekans  .  .  .  abzulegen.") 

Wenn  in  letzter  Zeit  heftige  Angriffe  auf  derartige 
„römische"  Ueberreste  im  heutigen  Protestantismus  erfolgten; 


108  Der  Eid  wider  den  Modernismus 

wenn  jene  Angriffe  sich  dabei  nicht  zum  wenigsten  gegen  die 
„Umdeutungskünste  und  Halbheiten"  der  sogen,  liberalen 
Theologie  richteten,  so  ist  es  interessant,  aus  dem  Munde 
eines  material  ganz  anders  gerichteten  katholischen  Theologen 
dennoch  die  formale  Anerkennungjener  Angriffe  zu  vernehmen. 
„Sollte  man  —  schreibt  Mausbach  im  Anschluß  an  die  soeben 
erwähnten  Satzungen  und  Verpflichtungen  —  von  freisinnigem 
Standpunkt  erwidern,  diese  Forderungen  der  evangelischen 
Kirche  würden  nicht  so  streng  und  ernsthaft  aufgefaßt  und 
durchgeführt  wie  die  der  katholischen,  so  läge  darin  vom 
Standpunkt  vollkommen  freier  Religiosität  und 
Theologie  offenbar  keine  Rechtfertigung  jener 
Bindung  des  Glaubens  und  Lehrens.  Im  Gegenteil 
müßte  dann  erst  recht  die  Aufhebung  jener  statut- 
und  gesetzmäßigen  Verletzung  der  protestantischen 
Lehrfreiheit   verlangt    werden."  (S.  56.) 

Was  endlich  „die  Stellung  und  Bedeutung  der  katholisch- 
theologischen Fakultäten"  angeht,  so  gibt  Mausbach  zu,  daß, 
abgesehen  von  der  bei  allen  Fakultäten  gleichen  objektiven 
Gebundenheit  des  Forschers  durch  den  tatsächlichen  Sachver- 
halt seines  Gebietes,  doch  „die  subjektive  Gebundenheit  beim 
katholischen  Theologen  insofern  eine  andere  und  strengere  ist, 
als  er  verpflichtet  ist,  die  von  der  Offenbarung  und  dem 
kirchlichen  Lehramte  verkündigte  Wahrheit  im  Denken  und 
Lehren  festzuhalten,  seine  wissenschaftliche  Arbeit  mit  dieser 
Glaubensgrundlage  im  Einklang  zu  erhalten.  Gegen  diese 
Bindung  seines  Urteils,  seiner  inneren  Beziehung  zum  Wissens- 
stoff, richten  sich  insbesondere  die  geläufigen  Anklagen.  Nun 
ahnen  zunächst  die  meisten  Gegner  nicht,  wie  viele  Gebiete 
Tatsachen  und  Probleme  auch  in  der  katholischen  Theologie 
der  freien,  gelehrten  Beurteilung  unterstehen,  nicht  bloß  bei 
Ergründung  und  Auffassung  des  Geschichtlichen,  sondern  auch 
bei  Beurteilung  dogmatischer  und  sittlicher  Fragen."  Sodann 
ist  zu  beachten,  „daß  das  Schlagwort  von  der  Voraussetzungs- 


Der  Eid  wider  den  Modernismus  109 

losigkeit  der  Wissenschaft  auf  Verkennung  zweifelloser  psycho- 
logischer Tatsachen  beruht,  und  daß  die  Vertreter  der  katho- 
lischen Theologie  nicht  nur  subjektiv  von  der  Wahrheit  ihres 
Glaubens  überzeugt  und  zur  wissenschaftlichen  Rechtfertigung 
desselben  bereit  sind,  sondern  daß  sie  auch  in  demselben 
Momente,  wo  sie  diese  Ueberzeugung  verlieren 
würden,  die  Freiheit,  ja  die  Pflicht  haben,  ihr  Lehr- 
amt aufzugeben".  (S.  59.)  Mit  Paulsen  ist  Mausbach  der 
weiteren  Meinung,  daß  der  Staat  nicht  nur  durch  das  Prinzip 
der  Parität  gezwungen  sei,  auch  der  mit  der  protestantischen 
verfassungsmäßig  gleichberechtigten  katholischen  Religion  an 
der  Universität  die  Möglichkeit  eines  wissenschaftlich  vor- 
gebildeten Klerus  zu  bieten,  sondern  vor  allem  auch  im  Inter- 
esse des  Wachstums  der  Kultur  an  dem  Fortbestande  der  ka- 
tholisch-theologischen Fakultäten  im  Ganzen  der  Hochschule 
Anteil  nehmen  müsse.  Denn  gerade  „die  Eingliederung  in 
das  umfassende  Ganze  einer  Universität,  die  engere  Be- 
rührung mit  den  vom  Staate  für  die  Wissenschaft  getroffenen 
Veranstaltungen,  die  reichere  Gelegenheit,  die  deutsche 
Kultur  unserer  Zeit  und  die  Angehörigen  anderer  Stämme, 
Berufe  und  Konfessionen  kennen  zu  lernen,  bietet  immerhin 
sachliche  Vorzüge  für  die  Allgemeinbildung  des  künftigen 
Geistlichen,  die  der  moderne  Kulturstaat  nicht  geringschätzen 
kann."  (S.  65.) 

Es  erschien  angezeigt,  im  vorhergehenden  möglichst  die 
Vertreter  des  antimodernistischen  Standpunktes  selbst  zu  Worte 
kommen  zu  lassen.  Auf  diese  Weise  entging  unsere  Dar- 
stellung am  sichersten  dem  Vorwurfe  mangelnder  Objektivität. 
Zugleich  aber  vermittelte  sie  eine  lebendige  Erkenntnis,  in 
welch'  innerem  Zusammenhang  alle  diese  Kund- 
gebungen mit  der  mittelalterlichen,  speziell  tho- 
mistischen,  Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Theo- 
logie und  Philosophie  stehen.  Gerade  dieser  —  wie  sie 
glaubt  —  „gesunde"  Konservativismus  bildet  die  Eigenart  und 


110  Das  Prinzip  der  löblichen  Unterwerfung 

zugleich  den  Stolz  der  katholischen  Kirche  gegenüber  den 
kühnen  „Neuerungen"    -    eben  des  Modernismus. 

Wie  nun  im  allgemeinen  die  antimodernistischen  Erlasse 
der  letzten  Zeit  zum  Stein  des  Anstoßes  geworden  sind,  so 
pflegen  im  besonderen  die  einzelnen  Persönlichkeiten,  die  sich 
ihnen  fügen,  als  „Schwächlinge"  und  „kulturfeindliche,  mittel- 
alterliche Typen"  gebrandmarkt  zu  werden.  Dabei  sind  auf 
Seiten  der  Gegner  oftmals  —  um  nicht  zu  sagen  meistens  — 
Haß  und  Spott  stärker  als  ein  unbefangenes  und  gründliches 
Verständnis  des  bekämpften  Standpunktes.  Dies  ist  freilich  für 
den  keine  Ueberraschung,  der  weiß,  welche  hohen  sittlichen 
Anforderungen  der  ehrliche  Wille  zur  Wahrheit  in  sich  schliei3t. 

Gerade  unsere  historische  Orientierung  ist  nun  geeignet, 
ein  wirkliches  Verständnis  für  die  Haltung  derer  anzubahnen, 
die  sich  in  religiösen  Fragen,  insbesondere  im  Falle  eines  schein- 
baren oder  wirklichen  Konflikts  zwischen  Philosophie  und 
Theologie  auf  die  Seite  der  —  wie  sie  historisch  und  philo- 
sophisch in  den  praeambula  fidei  bewiesen  zu  haben  meinen 
—  göttlicher  Autorität  entstammenden  kirchlichen  Lehre  stellen. 

Es  ist  das  Prinzip  der  „löblichen  Unterwerfung" 
(laudabiliter  se  subjecitheißtesin  der  Sprache  der  Kurie),  bei 
dem  wir  angelangt  sind.  Um  es  richtig  sowohl  positiv  wie  negativ 
zu  würdigen,   muß  man  folgende  beiden  Punkte  festhalten. 

Erstens.  Als  die  entscheidende  Voraussetzung  der  mittel- 
alterlichen Lösung  unseres  Problems  fanden  wir  auf  allen 
Etappen  seiner  historischen  Entwicklung  die  Annahme,  daß  zu 
einer  bestimmten  Zeit  Gott  selbst  sich  durch  Propheten  und 
vor  allem  durch  seinen  „menschgewordenen  Sohn"  Jesus  Christus 
geoffenbart  habe.  „Gott  selbst  hat  gesprochen"  —  lautete 
die  charakteristische  Formulierung.  Gott  aber  ist  die  „absolute 
Wahrheit"  und  zugleich  die  ewige  Wahrhaftigkeit  selbst,  die 
nicht  lügen  noch  betrügen  kann.  Also  darf  und  muß  der 
Mensch  ihr  Glauben  schenken.  Der  „Sohn  Gottes"  aber  hat 
weiterhin   eine  Kirche  gestiftet  zu   dem   Zwecke,   seine  Lehre 


Das  Prinzip  der  löblichen  Unterwerfung  111 

bis  zum  Ende  der  Tage  unverfälscht  fortzupflanzen.  Also  darf 
und  muß  der  Mensch  auch  den  Lehren  dieser  Kirche  glauben  — 
um  der  Autorität  Gottes  selbst  willen. 

Dies  die  Schlußkette,  mit  der  jene  „löbliche  Unter- 
werfung" innerlich  aufs  engste  verknüpft  ist. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort  und  würde  die  Uebersicht  des 
historischen  Zusammenhanges  stören,  genauer  die  Haken  zu 
prüfen,  an  denen  die  obige  Kette  hängt.  Um  so  mehr  halten 
wir  uns  gegenwärtig,  daß  die  katholische  Kirche  —  und 
demnach  auch  der  gläubige  katholische  Forscher  —  diese 
Schlußkette  als  gesichert  ansieht.  Philosophische  (vornehmlich 
das  Dasein  eines  überweltlichen  „persönlichen"  Gottes  be- 
treffende) und  historische  Erkenntnisse  (die  aus  Wundern  und 
Weissagungen  erschlossene  Tatsächlichkeit  einer  „übernatür- 
lichen" Offenbarung)  gelten,  wie  wir  genugsam  hörten,  als  die 
Wissensgrundlage  des  katholischen  Glaubensgebäudes. 

Dann  aber  folgt:  die  kirchliche  Autorität  als  göttliche 
vorausgesetzt  (nicht  mit  Willkür,  sondern  auf  Grund  angeblich 
sicherer  „Beweise")  bedeutet  die  Unterwerfung  unter  sie  eine 
unabweisbare  Konsequenz.  Demnach  —  formal  ge- 
nommen —  nichts  von  vornherein  Verächtliches,  sondern 
einen  Akt  höchster  Sittlichkeit,  weil  subjektiver  Wahrhaftigkeit.  ^ 

Zweitens  aber  kann  folgender  Fall  eintreten.  Ange- 
nommen, ein  Forscher  oder  ein  denkender  Katholik  überhaupt 
kommt  zu  einem  Resultate,  das  direkt  oder  indirekt  in  Wider- 
spruch zur  Kirchenlehre  steht.  Dann  bestehen  zwei  Mög- 
lichkeiten. Einmal  kann  jemand  eben  —  solange  seine 
Ueberzeugung  von  der  „göttlichen  Autorität"  der  Kirche 
bestehen  bleibt  —  unter  mehr  oder  minder  großen  inneren 
Kämpfen  sein  eigenes,  bloß  „menschliches"  Resultat  zugunsten 
der  „göttlichen"  Lehre  preisgeben.  Sodann  aber  kann,  wie 
psychologisch  jeder  leicht  nacherleben  kann,  gerade  eine  solche 

^  Vergl.  J.  M.  Verweyen,  «Wissenschaft  und  Ethos"  (in  der  von 
Ernst  Horneffer  herausg.  Zeitschrift  „Die  Tat"  II.  Jahrg.,  Heft  8). 


112  Das  Prinzip  der  löblichen  Unterwerfung 

Diskrepanz  zwischen  eigenem  Denken  (vorab  wenn  es  sich 
um  das  methodisch  geschulte  des  Forschers  handelt)  und  der 
Kirchenlehre  zu  einem  erneuten  Anlaß  werden,  die  Sanktion 
der  kirchlichen  Autorität,  d.  h.  die  bisher  angenommene  Tat- 
sache der  übernatürlichen  Offenbarung  und  deren  Identität 
mit  dem  Dogma  einer  kritischen  Prüfung  zu  unterziehen. 

Vielleicht  tritt  in  manchen  erst  bei  einem  solchen  Konflikte 
eine  völlige  Unbefangenheit  ein  gegenüber  den  Argumenten 
für  die  Offenbarungs-Tatsache  und  die  Unfehlbarkeit  der 
Kirchenlehre,  so  daß  letztere  nun  nicht  mehr  genügend  sank- 
tioniert erscheinen,  um  ihnen  die  eigenen  Forschungsresultate 
zu  unterwerfen.  Sofern  diese  in  ehrlicher  Arbeit  errungen 
werden,  können  sie  zudem  manchmal  ein  weit  „persönlicheres" 
geistiges  Eigentum  sein  als  die  üblichen  Argumente  für  eine 
Oifenbarungstatsache  und  vermögen  dann  leicht  Zweifel  an 
einer  solchen  aufkommen  zu  lassen. 

Erst  wenn  das  Zentrum  des  geistigen  Menschen  —  und 
dazu  gehört  auch  sein  gewissenhaft  errungenes  Wissen  —  in 
Konflikt  gerät  mit  „Autoritäten",  zeigt  sich,  inwieweit  letztere  wirk- 
lich dem  betreffenden  Menschen  ihre  Sanktion  erweisen  können. 

Freilich  wird  man  auch  dies  nicht  kurzsichtig  übersehen 
dürfen,  daß  jener  Konflikt  auch  infolge  einer  selbstgefälligen 
raschen  Ueberschätzung  der  eigenen  Resultate  gerade  eine 
gewisse  Befangenheit  gegenüber  den  früher  anerkannten 
Gründen  für  die  kirchliche  Autorität  hervorrufen  kann.  Ander- 
seits aber  ist  doch  wohl  bei  höchster  Ehrlichkeit  und  Ge- 
wissenhaftigkeit gerade  ein  Konflikt  des  eigenen  Denkens 
mit  dem  kirchlichen  Dogma  geeignet,  jene  Unbefangenheit 
gegenüber  den  Offenbarungs-Argumenten  zu  erzeugen. 

So  wenig  in  dem  ersten  Falle  der  »Ungläubige"  über 
die  »Unterwerfung«  hat  aber  im  zweiten  Falle  der  „Gläubige" 
—  in  formal-ethischer  Hinsicht  —  berechtigten  Grund,  sich 
über  die  Nicht-Unterwerfung  sittlich  zu  „entrüsten". 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  113 


V.  Die  katholische  Lösung  des  Problems 
als  Typus. 

Unsere  Untersuchung  hatte  zunächst  die  historische  Absicht, 
aus  den  mittelalterlichen  Voraussetzungen  die  gegenwärtige 
Problemlage  zu  verstehen.  Aber  eine  vertiefte  geschichtliche 
Betrachtung  philosophischer  Fragen  wirft  gleichzeitig  noch 
einen  andern  Ertrag  ab.  Sie  begnügt  sich  nicht  damit,  die 
Reihenfolge  der  Ideen  in  ihrem  zeitlichen  Aufeinander  und  in 
ihrer  etwaigen  inneren  Abhängigkeit  aufzudecken.  Die  Ge- 
schichte der  Philosophie  kann  vielmehr  zugleich  in  hohem 
Maße  der  sachlichen  Orientierung  dienen,  indem  sie  die 
historisch  aufgetretenen  Ideen  —  sowie  ihre  Vertreter  —  als 
Typen  möglicher  Lösungen  und  Denkweisen  zu  begreifen  lehrt. 

Wenden  wir  diese  Methode  auf  unsere  Frage  an,  so 
dürfen  wir  folgendes  sagen.  Das  allgemeine  Problem  von 
Glauben  und  Wissen  hat  im  Mittelalter  eine  ganz  bestimmte, 
zeitgeschichtlich  bedingte  Lösung  erfahren.  Indem  man  diese 
zeitgeschichtlichen  Faktoren  von  dem  allgemeinen  Wesen  des 
Problems  trennt,  gewinnt  man  leicht  ein  Schema,  das  die 
Eigenart  abweichender  Lösungen  deutlich  hervortreten  läßt. 

Wenn  das  viel  zitierte  Wort  eine  erkenntnistheoretische 
Wahrheit  bedeutet:  „Das  ist  das  Ende  aller  Philosophie,  zu 
wissen,  daß  wir  glauben  müssen"  —  so  fragt  sich  doch  in 
jedem  Falle:  woher  der  betreffende  Glaube?  und  welcher 
Inhalt  des  Glaubens?  Ursprung  und  konkreter  Inhalt  des 
Glaubens  müssen  sich  auch  dann  noch  vor  dem  kritischen 
Forum  ausweisen,  wenn  die  allgemeine  Funktion  des  Glaubens 
überhaupt  bereits  gerechtfertigt  ist.    Denn  nicht  das  allein  ist 

Verwcyen,  Philosophie  und  Theologie  im  Mittelalter.  8 


114  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

das  Entscheidende,  ob  man  überhaupt  „glaubt",  sondern  auch 
an  welchem  Punkte  und  in  bezug  auf  welchen  Gegenstand  dies 
geschieht  —  zugleich  auf  Grund  welcher  Voraussetzungen. 
Kurz:  warum  man  dies  oder  jenes  glaubt.  Solltees  auch  eines 
kritischen  Kopfes  nicht  unwürdig  sein,  „Geheimnisse"  anzu- 
nehmen, so  gälte  es  doch  stets  mit  Besonnenheit  die  Stelle, 
an  der  -  und  die  Motive,  aus  denen  ein  ,, Geheimnis" 
Anerkennung  verdient,  festzulegen. 

Was  nun  den  Ursprung  des  Glaubens  betrifft,  so  erblickte 
ihn  das  Mittelalter,  wie  wir  sahen,  in  einer  durch  die  „natür- 
liche Ordnung"  der  Dinge  nicht  erklärbaren  „übernatürlichen" 
(transcendenten)  Offenbarung  Gottes.  Aus  dem  „Jenseits",  ver- 
suchte man  zu  beweisen,  sind  im  Laufe  der  Geschichte  durch 
gottbegnadete,  „vom  heiligen  Geiste  inspirierte"  Propheten,  vor 
allem  durch  die  „zweite  Person  in  der  Gottheit"  selbst  die 
wichtigsten  religiösen  Lehren  in  das  „Diesseits"  zu  der  suchen- 
den und  irrenden  Menschheit  gedrungen. 

Die  christliche  sogen.  Orthodoxie  —  die  katholische 
wie  die  protestantische  —  hält  bis  in  unsere  Tage  an 
diesem  Ursprünge  des  „wahren"  religiösen  Glaubens  unver- 
rückbar fest;  während  die  konsequente  Nicht-Orthodoxie,  wie 
wir  kurz  sagen  wollen,  keinen  ,, göttlichen"  Ursprung  dieser 
Art  kennt.  Der  Begriff  der  „übernatürlichen  Offen- 
barung" ist  darum  im  tiefsten  Grunde  der  Kardinal- 
punkt, um  den  in  der  Gegenwart  der  Kampf  um  den 
„religiösen  Glauben"  tobt. 

Denn  alle,  die  auch  die  religiösen  Vorstellungen  und 
Gefühle  der  Menschheit  einem  natürlichen  d.  h.  rein  „dies- 
seitig" zu  fassenden  Entwicklungsprozesse  einordnen,  sind 
infolge  dieses  Forschungsprinzips  bezw.  Forschungsresultats 
durch  eine  unüberbrückbare  Kluft  von  denen  getrennt,  die 
einen  völlig  einzigartigen,  mit  den  Mitteln  sonstiger  Kausal- 
analyse prinzipiell  nicht  faßbaren  Ursprung  des  religiösen 
Glaubens  verfechten.  Auf  der  einen  Seite  das  Lager  derer,  die 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  115 

alle  Religionen  -  einschließlich  der  christlichen  -  in  keinem 
wesentlich  anderen  Sinne  auf  „Offenbarung"  zurückführen,  wie 
etwa  die  Schöpfungen  großer  Künstler,  die  ihr  Werk  ja  geradezu 
auf  eine  aus  den  Tiefen  ihres  Wesens  hervorquellende,  zuletzt 
nicht  weiter  analysierbare  „Inspiration"  zurückführen. ^  Auf  der 
anderen  Seite  jene,  die  in  einem  wesentlich  verschiedenen,  meta- 
physischen Sinne  die  „Inspiration"  verstanden  wissen  wollen 
und  eine  völlig  einzigartige,  sonst  nie  in  der  Geschichte  an- 
zutreffende Entstehung  der  jüdischen  und  christlichen  ,,Offen- 
barungs"-Religionen,  wie  man  sie  im  Unterschiede  zu  den 
„bloß  natürlichen"  gerne  nennt,  annehmen. 

Es  wäre  eine  sehr  zeitgemäße  Untersuchung,  vom  Stand- 
punkte unseres  heutigen  Wissens  aus,  die  Gründe  aufzudecken, 
welche  gegen  eine  „übernatürliche"  zugunsten  einer  „natür- 
lichen" Offenbarung  sprechen.  Eine  solche  Aufgabe  würde  zu- 
gleich auf  eine  Kritik  der  vom  Mittelalter  und  seinen  von  der 
katholischen  Kirche  bis  heute  verfochtenen  Argumente  hinaus- 
laufen. Für  die  Zwecke  der  vorliegenden  Arbeit  genüge  es, 
die  Richtlinien  einer  solchen  Kritik  anzugeben.  Im  wesent- 
lichen würde  es  sich  dabei  um  den  Nachweis  handeln,  daß 
die  angeblichen  „Wunder  und  Weissagungen"  keineswegs  so 
unerschütterliche  Argumente  bedeuten  (testimonia  irrefragabilia, 
wie  sie  die  Encyclica  Pascendi  in  Uebereinstimmung  mit  ähn- 
lichen Aeußerungen  des  vatikanischen  Konzils  und  des  Thomas 
von  Aquino  nennt.  (Vgl.  oben  S.  78.)  Abgesehen  von  der 
philosophischen  Frage  der  Möglichkeit  —  und  Wahrschein- 
lichkeit —  von  „Wundern"  und  der  durch  sie  zu  bezeu- 
genden „göttlichen  Offenbarung"  ist  es  offensichtlich  die  rein 
historische  Frage  nach  der  Tatsächlichkeit  beider,  die  hier 
die  entscheidende  Instanz  bildet.  Somit  wäre  es  schließlich 
Sache  der  geschichtlichen,  möglichst  unvoreingenommenen, 
„voraussetzungslosen"    Betrachtung,    über    die  Tatsache    einer 

'  Man  lese  z.  Bsp.  Nietzsches  Schilderung  über  die  Zustände 
seiner  .Inspiration". 

8* 


116  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

übernatürlichen  Offenbarung  zu  entscheiden.  Nun  finden 
sich  unter  den  religiösen  Urkunden  der  Menschheit  solche, 
—  wie  eben  auch  die  christlichen  —  die  ihre  Entstehung 
unmittelbar  auf  „göttliche  Eingebung"  zurückführen  und 
zu  ihrer  Beglaubigung  auf  nicht  „natürlich"  zu  erklärende 
Taten  und  Ereignisse,  die  Wunder,  hinweisen.  Da  entsteht  die 
hochbedeutsame  Frage  nach  der  Glaubwürdigkeit  solcher 
Ueberlieferungen;  eine  Frage,  bei  deren  Entscheidung  sowohl 
historische,  den  Berichten  selbst  entnommene  sog.  textkritische 
als  auch  philosophische  sowie  allgemeine,  dem  gegenwärtigen 
Stande  des  Wissens  überhaupt  (z.  B.  der  Psychologie  der 
Zeugenaussage  oder  Psychopathologie)  entnommene  Argumente 
mitsprechen.  Wer  „V/under"  in  jenem  „übernatürlichen" 
Sinne  aus  philosophischen  Erwägungen  heraus  für  unmöglich 
oder  doch  —  was  nicht  minder  in  die  Wagschale  fällt  —  für 
unwahrscheinlich  hält,  wird  von  vornherein  Wunderberichten 
gegenüber  sich  skeptisch  verhalten.  ^  So  wird  die  philosophische 
Weltauffassung  des  betreffenden  Religionshistorikers  von  grund- 
legender Bedeutung  für  seine  Stellung  zu  den  Urkunden  dieser 
Art.  Es  handelt  sich  hierbei  um  einen  bei  den  verschiedenen 
Forschern  verschiedenen  philosophischen  Einschlag  in 
der  historischen  Einzelforschung,  der  nicht  immer 
scharf  genug  herausgearbeitet  wird  und  darum  leicht  die  gegen- 
seitige Verständigung  trübt. 

Nicht  unerwähnt  bleibe  schließlich  noch,  daß  im  19.  Jahr- 
hundert —  das  man  wohl  als  das  saeculum  historicum  zu  charak- 
terisieren pflegt  —  eine  ganz  neue  historische  Disziplin  sich  ent- 
wickelte, durch  welche  die  Frage  nach  dem  „übernatürlichen 
Offenbarungs"-Ursprung  speziell  der  jüdischen  und  christlichen 
Religion  in  eine  ganz  neue  Beleuchtung  getreten  ist.     Gemeint 


^  Vgl.  meine  demnächst  erscheinende  Untersuchung  über  »Das 
Problem  des  Möglichen".  Ferner  das  soeben  erschienene  Buch  von 
F.  Kiefl,  Die  philosophischen  Voraussetzungen  im  Kampf  um  die 
Christusmythe,  Mainz  1911. 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  117 

ist  die  vergleichende  Religionsgeschichte.  Sie  läßt 
immer  mehr  von  dem,  was  die  christliche  Theologie  als  Einzig- 
artigkeit des  „Christentums"  behauptet  hatte,  als  Gemeingut 
vieler  Religionen  erkennen  und  ist  dadurch  zu  einem  bisher  in 
dieser  Art  unbekannten  Gegner  der  „übernatürlichen"  Offen- 
barung geworden.  Die  vergleichende  Religionswissenschaft 
zeigt  uns  immer  deutlicher  die  ganze  JVlannigfaltigkeit  der 
konkreten  Gestaltungen,  welche  die  allgemeine  religiöse 
Grundform  beiden  verschiedensten  Völkern  angenommen  hat. 
Vom  Standorte  dieser  Betrachtungsweise  erscheint  es  dann  will- 
kürlich, gerade  die  konkrete  christliche  Gestalt  dieser  Grundform 
auf  eine  einzigartige,  „übernatürliche"  Offenbarung  zurückzu- 
führen. „Denn  wie  man  auch  über  Wunder  denken  möge, 
jedenfalls  ist  es  der  Historie  unmöglich,  die  christlichen  Wunder 
zu  glauben  und  die  nicht-christlichen  zu  leugnen,  und,  wie  sehr 
man  in  den  ethischen  Kräften  des  inneren  Lebens  etwas  Ueber- 
natürliches  finden  möge,  es  gibt  kein  Mittel,  die  Er- 
hebungen des  Christen  über  die  Sinnlichkeit  als 
übernatürlich  und  die  Piatons  oder  Epiktets  als 
natürlich  zu  konstruieren."^  Im  einzelnen  müßte  dabei 
natürlich  gezeigt  werden,  daß  eben  auch  die  angeblichen 
Besonderheiten  des  Urchristentums  aus  den  verschiedensten 
(historischen  und  philosophischen)  Gründen  nicht  eine  solche 
Ausnahmestellung  im  Sinne  eines  „göttlichen"  Ursprunges  recht- 
fertigen. — 

Nunmehr  gilt  es  auch  in  inhaltlicher  Beziehung  die 
mittelalterlich-katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  zu 
begreifen.  Als  Inhalte  des  religiösen  Glaubens  fanden  wir 
Lehren  über  Gott,  seinen  „menschgewordenen  Sohn"  Jesus 
Christus  und  des  Menschen  Verhältnis  zu  beiden  —  Lehren, 
die  einer  übernatürlichen  Offenbarung,  unmittelbar  göttlicher 
Belehrung  zu    entstammen,   demnach  über    alles    menschliche 

^  E.  Troeltsch,  Die  Absolutheit  des  Christentums  und  die  Religions- 
geschichte, Tübingen  1Q02. 

9 


118  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

Wissen  erhaben  und  die  eigentliche  „wahre  Philosophie" 
zu  sein  schienen,  wie  wir  bereits  in  der  Zeit  der  Patristik 
vernahmen,  (vgl.  oben  S.  1 1  ff.). 

Wenn  auch  viele  dieser  Glaubenslehren  als  übervernünf- 
tige bezeichnet  wurden  d.  h.  als  solche,  zu  deren  Auffindung 
und  Erkenntnis  die  menschliche  Vernunft  nicht  imstande  sei, 
so  war  und  ist  man  im  Rahmen  dieser  Problem-Lösung  doch 
der  Ueberzeugung,  der  paulinischen  Forderung  eines 
„vernünftigen  Glaubens"  entsprochen  zu  haben.  Ein 
Widerspruch  zwischen  wirklichen  und  gesicherten  Resultaten 
des  Wissens  einerseits  und  den  richtig  verstandenen  In- 
halten des  Glaubens  anderseits  gilt  als  grundsätzlich  ausge- 
schlossen. Dies  bedeutet  die  prinzipielle  Verfechtung  einer 
Harmonie  zwischen  zwei  verschieden  gearteten,  aber  nicht  durch 
einen  unüberbrückbaren  Gegensatz  getrennten  Sphären  unserer 
geistigen  Betätigung.  In  anderem  Bilde  gesprochen:  keine 
dualistische  Zweiweltentheorie  in  dem  Sinne,  daß  die 
Welt  des  Wissens  die  Existenz  der  Welt  des  Glaubens  be- 
drohen könnte.  Vielmehr  ein  beständiges  gegenseitiges  Stützen 
beider  Welten:  das  Wissen  imstande,  „die  Fundamente  des 
Glaubens  zu  beweisen";  der  Glaube  ein  göttlicher  Gnade 
und  Unterweisung  entspringendes  „übernatürliches  Licht"  (ein 
lumen  supranaturale),  das  dem  „natürlichen"  Wissen  neue  Be- 
leuchtung und  Vertiefung  sowie  zugleich  Anregung  zu  weiteren 
Spekulationen  über  göttliche  Dinge  zuteil  werden  läßt. 

Man  kann  die  Eigenart  dieses  prinzipiell  har- 
monisierenden Lösungsversuches  unseres  Problems 
durch  die  katholische  Kirche  nicht  genug  unter- 
streichen gegenüber  einem  Dualismus  der  „doppelten 
Wahrheit",  der  Glauben  und  Wissen  zu  feindlichen 
Gegensätzen  stempelt. 

Diese  prinzipiellen  Fassungen  sind  offensichtlich  auch  dann 
möglich,  wenn  die  Inhalte  des  Glaubens  nicht  die  Lehren 
und  Dogmen  der  Kirche  bilden. 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  119 

Die  übliche  Sprache  der  christlichen  Orthodoxie  pflegt 
solche,  die  nicht  den  christlichen  Kirchen-  und  Dogmenglauben 
teilen,  schlechthin  —  und  dazu  nicht  selten  im  verächtlichen 
Sinne  —  als  „Ungläubige"  zu  bezeichnen.  Darin  aber  liegt 
eine  ungeheure  Willkür,  um  nicht  zu  sagen,  Anmaßung.  Denn 
in  der  christlichen  Dogmatik  findet  sich  zwar  ein  —  aber 
nicht  „der"  Glaube.  Auch  ein  „Ungläubiger"  kann,  paradox 
gesprochen,  sehr  „gläubig"  sein.  Denn  die  von  allen  konkreten 
Inhalten  unabhängige  Grundform  des  Glaubens  in  dem  hier 
in  Rede  stehenden  Sinne  ist  der  zuletzt  nicht  rationalen, 
sondern  irrationalen  Quellen  entspringende  Wille,  die  empirische 
Wirklichkeit  im  Lichte  einer  sittlichen  Idee  zu  betrachten  und 
nach  Möglichkeit  unter  deren  Einfluß  umzugestalten.  Von  hier 
aus  versteht  man,  daß  im  kirchlichen  Sinne  Ungläubige  mit 
Rücksicht  auf  ihren  starken  diesseitigen  „Lebensglauben"  ^  nicht 
auf  das  Recht  verzichten  wollen,  sich  Gläubige  nennen  zu 
dürfen.  Von  hier  aus  ist  auch  das  Wort  zu  verstehen:  „Nur 
der  Mensch  ohne  Ideal  ist  der  wahre  Atheist  und  der  Mensch 
ohne  Glauben  an  die  Vervollkommnung  seiner  selbst  und  der 
Gattung  der  wahrhaft  Ungläubige."  ^ 

Wer  ferner  in  Abrede  stellt,  daß  der  in  einem  christ- 
lichen Dogma  formulierte  Inhalt  objektive,  historische,  oder 
metaphysische,  Wahrheit  enthält  —  kann  dennoch  lebendig  an 
die  dem  Dogma  zugrunde  liegende  Idee  als  an  eine  ethische 
Macht  glauben. 

Wer  sich  als  „ungläubiger  Forscher"  beispielsweise  gegen- 
über dem  als  historische  Tatsache  behaupteten  „geboren  aus 
Maria  der  Jungfrau"  schlechthin  ungläubig  verhält,  kann  doch 
die  Grundidee  bejahen,  die  dem  ex  carne  natum  ein  ex  Deo 
natum  überordnet.  Die  gleiche  Betrachtung  ließe  sich  auf 
alle  christlichen  Dogmen  ausdehnen. 


^  Als  Beispiel  diene   etwa  Ellen  Keys  Buch  „Der  Lebensglaube". 
^  Friedrich  Jodl,  Wissenschaft  und  Religion,  1909. 

9* 


120  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

Nicht  der  christliche  Dogmenglaube,  sondern  der  Glaube 
in  dem  allgemeineren  Sinne  der  vertrauensvollen  Hingabe  an 
das  aufwärts  steigende  Leben  im  Gegensatze  zu  der  „un- 
gläubigen" Resignation  einer  matten  Alltäglichkeit  —  dieser 
Gegensatz  ist  es,  den  das  viel  zitierte,  oft  in  unberechtigter 
Weise  gerade  zur  Apologie  des  christlichen  Glaubens  ausge- 
beutete Wort  Goethes  meint:  „Das  eigentliche,  einzige  und 
tiefste  Thema  der  Welt-  und  Menschengeschichte,  dem  alle 
übrigen  untergeordnet  sind,  bleibt  der  Konflikt  des  Unglaubens 
und  Glaubens.  Alle  Epochen,  in  welchem  der  Glaube  herrscht, 
in  welcher  Gestalt  er  auch  wolle,  sind  glänzend,  herz- 
erhebend und  fruchtbar  für  Mitwelt  und  Nachwelt." 

Wie  der  kirchliche  Glaube  nur  ein  Spezialfall  des  reli- 
giösen Glaubens  überhaupt  ist,  so  ist  nun  auch  das  religiöse 
Problem  von  Glauben  und  Wissen  nur  ein  Spezialfall  eines 
umfassenderen  Problems,  dessen  Grundform  sich  an  den 
mannigfachsten  Inhalten  und  Verhältnissen  auswirken  kann. 
Welcher  Art  diese  auch  immer  sein  mögen:  von  einem  höheren 
Standpunkte  aus  gesehen  verhalten  sich  Glauben  und  Wissen 
zueinander  wie  Irrationalismus  und  Rationalismus,  wie  Instinkt 
und  Vernunft,  wie  unmittelbare  Erlebnis-Gewißheit  und  nach- 
trägliche Reflexion,  wie  Schauen  und  Beweisen.  Die  nähere 
Begründung  dieser  Behauptung  bleibe  einer  besonderen  Unter- 
suchung über  das  Wesen  des  Irrationalismus  vorbehalten.  Nur 
dies  sei  hier  noch  bemerkt,  daß  unser  geistiges  Leben  be- 
ständig von  irrationalen  Wert-Elementen  durchzogen  wird,  die 
sich  in  weiterem  Sinne  als  ein  „Glauben"  gegenüber  der 
kritischen  Zersetzung  durch  das  Wissen  zu  behaupten  suchen. 
In  diesen  Zusammenhang  gehört  das  psychologisch  außer- 
ordentlich wichtige  und  interessante  Phaenomicn  des  Zweifels, 
das  ja  gerade  auch  in  der  Seele  des  religiösen  Menschen  eine 
große  Rolle  spielt.  In  doppelter  Weise  kann  der  Zweifel  auf- 
treten: als  Instinktunsicherheit  d.  h.  als  eine  unmittelbare 
reflexionslose   Erschütterung  der  Glaubensgewißheit    und   der 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  121 

in  ihr  festgehaltenen  Eindeutigkeit  einer  Wertbeziehung  — ■ 
oder  als  ein  intellektuelles  Schwanken  d.  h.  als  ein  durch 
rationale  Ueberlegungen  eintretender  Zustand  der  intellektuellen 
Ungewißheit,  die  sich  als  Mehrdeutigkeit  in  Gedanken  an  die 
Möglichkeit  des  Auch-anders-sein-könnens  äußert.  Bald  siegt, 
wie  uns  aus  mannigfaltigen  Beispielen  des  täglichen  Lebens 
geläufig  ist,  die  schließlich  auf  irrationaler  Grundlage  beruhende, 
nicht  weiter  beweisbare,  sondern  nur  erlebbare  „Glaubens- 
überzeugung", bald  die  rationale  Ueberlegung.  Die  Stärke- 
verhältnisse beider  zählen  im  letzten  Grunde  zu  den  Geheim- 
nissen der  Individualität  und  sind  überdies  oft  für  die  ver- 
schiedenen Sphären  unseres  geistigen  Seins  verschieden. 

Die  Psyche  des  katholischen  Christen  ist  nun  dadurch 
charakterisiert,  daß  sie  sich  gegenüber  allen  Zweifeln  an  der 
Wahrheit  der  Dogmen  immer  wieder  zu  einem  energischen 
„Und  dennoch  !"  aufschwingt,  das  den  Grübeleien  der  Vernunft 
zum  Trotz  unerschütterlich  den  Glauben  an  das  „Wort  Gottes" 
bewahrt.  Diese  katholische  Glaubensenergie  aber  ruht  auf  der 
rationalen  Basis  der  angeblichen  Beweise,  „daß  Gott  wirklich 
gesprochen  hat".  So  durchdringen  sich  Rationalismus  und 
Irrationalismus  in  eigenartiger  Weise  in  der  Seele  des 
Menschen,  der  sich  die  katholische  Lösung  unseres  Problems  — 
sei  es  nur  in  formaler  oder  auch  zugleich  in  materialer  Hinsicht  — 
zu  eigen  macht. 

Noch  schärfere  Beleuchtung  gewinnt  die  Eigenart  dieser 
Lösung  durch  den  Vergleich  mit  der  Luthers,  der  dem 
Irrationalismus  allein  das  Wort  redet. 

„Das  gerade  war  das  Wichtigste,  das  Neue,  das  Reforma- 
torische in  Luthers  Gedanken:  praktisches  Christentum  war  ihm 
seinem  eigentlichen  Wesen  nach  nicht  Annahme  einer  auto- 
ritativ gegebenen  Erkenntnis  von  Gott  und  Welt  und  daneben 
Uebung  ethischer  Tugenden;  es  war  ihm  das  erfahrbare 
und  nur  durch  Erfahrung  erlangbare  Wurzeln  im 
religiösen   Glauben.     Hinter   diesem    religiösen   Vertrauen 


122  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

auf  Gottes  Gnade  in  Christo  trat  das  ganze  Gebiet  der  Ethik 
im  engeren  Sinne  als  das  Bedingte  hinter  dem  Bedingenden 
zurück.  Das  Neue  im  Lutherschen  Christentum  war  primär 
dies  religiöse  Verständnis  des  Evangeliums."^  Der  „Glaube 
allein"  ist  es,  der  nach  Luther  „selig  macht",  d.  h.  die  Zuver- 
sicht (fiducia)  zu  der  Gnade  Christi,  das  „Vertrauen,  daß  wir 
Gott  gefallen  um  Christi  willen".  Die  einzige  Sünde  ist 
schließlich  der  entsprechende  Unglaube:  „Sündige  nur  tapfer, 
aber  glaube  noch  tapferer."  Sogar  alle  sog.  „guten  Werke", 
die  ohne  Glauben  geschehen,  sind  tot  und  nützen  nichts  zur 
Seligkeit.  Anderseits  aber  bringt  der  lebendige  Glaube  von 
selbst  die  „Werke"  als  Früchte  hervor:  Opera  sunt  facienda 
non  ut  causa,  sed  ut  fructus  iustitiae.  (Comm.  in  ep.  ad. 
Gal.)  Extra  causam  iustificationis  nemo  potest  bona  opera  a 
Deo  praecepta  satis  magnifice  commendare.  Opera  vero  extra 
fidem  peccatum  peccato  addunt.  (1.  c.)  In  diesem  Sinne  ist 
auch  Luthers  Wort  in  den  Tischreden  zu  verstehen:  „Glaube 
an  den  Herrn  Jesum  Christum  und  tue  die  Werke  deines 
Berufes"!  Dem  echten  Christen  ist  bei  seinem  Tun  und 
Lassen  „die  lebendige  Zuversicht  auf  Gottes  Gnade  so  gewiß, 
daß  er  tausendmal  darüber  stürbe". 

Luthers  Formel:  Der  Glaube  allein  (sola  fides)  richtet 
sich  aber  nicht  nur  gegen  die  katholische  Lehre  von  den 
„guten  Werken",  sondern  auch  zweitens  gegen  die  von  dem 
katholischen  Dogma  behauptete  Möglichkeit  eines  Wissens  von 
der  Offenbarungstatsache.  Luther  stellt  sich  in  entschiedenen 
Gegensatz  zu  der  mittelalterlich-katholischen  Tradition,  wenn 
er  auch  die  sog.  Heilstatsachen  als  Gegenstand  eines  bloßen 
Fürwahrhaltens  betrachtet.  Die  an  Stelle  der  kirchlichen  Auto- 
rität tretende  Autorität  der  Bibel  als  des  „Wortes  Gottes"  ist 
ihm  durch  ein  inneres  Erlebnis,  durch  eine  unmittelbare  (irra- 
tionale) Gewißheit  sanktioniert.  Augustinus  hatte  bekannt: 
„Ich  würde  dem  Evangelium  nicht  glauben,  wenn  mich  nicht 

1  F.  Loofs,  Grundriß  der  Dogmengeschichte  4  A.  S.  714. 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  123 

die  Autorität  der  katholischen  Kirche  dazu  bewöge."  Solcher 
Standpunkt  dünkt  Luther  „falsch  und  unchristlich;  es  muß  ein 
jeglicher  allein  darum  glauben,  daß  es  Gottes  Wort  ist  und 
daß  er  inwendig  befinde,  daß  es  Wahrheit  sei".  „Darum 
muß  dir's  Gott  ins  Herz  sagen:  das  ist  Gottes  Wort."^ 
Also:  eine  auf  persönlicher  Gnadenwirkung  und  Offenbarung 
beruhende,  in  innerem  Erleben  wurzelnde  Gewißheit  von  der 
Tatsache  einer  historischen  Kundgebung  Gottes  an  die  Mensch- 
heit; —  kein  Versuch,  diese  Tatsache  durch  Wunder  und 
Weissagungen  zu  „beweisen",  wie  die  katholische  Theologie 
es  unternimmt! 

Endlich  drittens  ist  auch  der  „Glaube  allein"  das  Organ 
zur  Erfassung  des  Offenbarungsinhaltes.  Ein  natürliches 
Wissen  von  den  Wahrheiten,  die  göttlicher  Offenbarung  ent- 
stammen, gibt  es  nicht.  Die  Theologie  hat  lediglich  die  Auf- 
gabe, den  Sinn  des  Wortes  Gottes  zu  ermitteln,  ohne  ihn 
spekulativ  weiter  auszudeuten. 

Man  beachtet  im  allgemeinen  noch  immer  nicht  genug, 
wie  sehr  Luther  bei  der  Schätzung  der  natürlichen  Kräfte  des 
Menschen  von  der  mittelalterlich-katholischen  Tradition  abweicht. 
Diese  nannte  „Natur  und  Gnade"  nicht  unversöhnliche  Feinde, 
sondern  bekannte  sich  zu  der  klassischen  Formulierung  Thomas 
von  Aquinos,  nach  der  die  Gnade  die  Natur  nicht  zerstöre, 
sondern  „vollende"  und  ,, erhebe":  gratia  naturam  non 
destruit,  sed  perficit.'-  Daher  finden  wir  auch  bei  den 
mittelalterlichen  Denkern  die  „natürliche"  Vernunft  in  ver- 
schiedener Beziehung  im  Dienste  des  „übernatürlichen"Glaubens. 

Luther  dagegen  schilt  die  „natürliche  Vernunft  Frau 
Hulde",  „die  Hure  des  Teufels"  und  „Erzfeindin  des  Glaubens". 


'  a.  a.  O.  S.  743;. vgl.  zum  folgenden  auch  S.  747, 
^  Eine  lehrreiche  Beleuchtung  dieses  Grundsatzes  gibt  der  katho- 
lische Theologe  A.  Rademacher  in  seiner  Schrift:   Gnade  und  Natur, 
ihre  innere  Harmonie   im  Weltlauf   und  Menschheitsleben,  M.-Qlad- 
bach  1908. 


124  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

Philosophie  und  Theologie  scheinen  ihm  unversöhnliche  Feinde. 
Aristoteles  —  im  Mittelalter  mit  Stolz  „der  Philosoph"  genannt  - 
gilt  Luther  als  „die  gottlose  Wehr  der  Papisten".  Die  aristo- 
telische Ethik  sei  eine  pessima  inimica  gratiae:  Aristoteles  ad 
theologiam  est  tenebrae  ad  lucem.  Luther  erkennt  im  Unter- 
schiede von  der  kathoHschen  Theologie  das  arabische  Prinzip 
der  „doppelten  Warhrheit"  an  und  tadelt  deshalb  die  Sorbonne: 
sie  habe  „die  höchst  verwerfliche  Lehre  aufgestellt,  daß  das, 
was  in  der  Philosophie  ausgemachte  Wahrheit  sei,  auch  in 
der  Theologie  gelten  müsse". 

Erst  unter  Melanchthons  Einflüsse  hat  Luther  wenigstens 
zugegeben,  daß  die  logischen  und  rhetorischen  Schriften  des 
Aristoteles  nützlich  sein  könnten,  „junge  Leut  zu  üben,  wohl 
reden  und  predigen". 

Die  altprotestantische  Dogmatik  eines  Johann  Gerhard 
und  Ph.  Melanchthon  fordert  einen  „richtigen  Gebrauch  der 
Philosophie"  —  (verus  usus  philosophiae).  Die  Philosophie 
soll  die  Vorhalle  der  Theologie  sein  und  der  Schrift- 
auslegung zugute  kommen.  Dabei  wird  ein  Dualismus 
zwischen  Vernunft  und  Offenbarung  festgehalten,  „der  halb 
theoretisch,  halb  praktisch  begründet  ist  und  den  Zweck  hat, 
sämtliche  Glaubenslehren  in  ihrem  Detail  als  wahr  zu  sichern, 
die  Wahrheitsfrage  in  dem  Sinne  zu  lösen,  daß  von  vorn- 
herein jedes  Glaubensobjekt  in  seiner  Wahrheit  garantiert  ist 
und  der  auf  diese  Objekte  sich  richtende  praktische  Glaube 
von  Hause  aus  aller  am  Detail  erwachenden  und  von  da  aus 
vielleicht  gefährlich  weitergreifenden  Zweifel  überhoben  ist". 
„Die  Frage  der  doppelten  Wahrheit  hat  Melanchthon  hierbei 
noch  nicht  ins  Auge  gefaßt.  Bei  seiner  Ueberzeugung  von 
der  Harmonie  aller  Wissenschaften  in  ihrem  obersten  Zweck 
macht  sie  ihm  keine  Sorge.  Ebenso  hat  er  eine  Regulierung 
eventueller  Einzelkonflikte  nicht  vorgesehen ;  in  seiner  geschmack- 
vollen sinnigen  Weise  nimmt  er  dieselbe  überall  unter  der 
Hand  vor.     Wohl  aber  hat  er  die  Frage  der  doppelten  Offen- 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  125 

barung  erwogen,  die  bei  der  Deckung  so  mancher  Elemente 
des  heiligen  Buches  mit  dem  natürlichen  Erkennen  unvermeid- 
lich war.  Doch  auch  hier  hält  er  sich  nur  an  das  Große. 
Nicht  eine  Schwierigkeit  findet  er  hierin,  sondern  eine  köst- 
liche Bestätigung  des  besten  Inhalts  der  natürlichen  Erkenntnis, 
gerade  wie  die  Benutzung  der  dialektischen  Regeln  durch  den 
heiligen  Geist  nur  eine  göttliche  Bezeugung  der  Herrlichkeit 
dieser  Gottesgabe  ist.  Er  kümmert  sich  nicht  um  Kleinig- 
keiten, sondern  lebt  und  webt  in  der  Ueberzeugung,  daß  die 
gereinigte  Wissenschaft  und  das  gereinigte  Gottes- 
wort aufs  innigste  verbunden  sind  als  die  beiden 
gottgegebenen  Wege  zum  irdischen  und  ewigen 
Wohl."^  Von  solchen  Voraussetzungen  aus  wird  Melanch. 
thonzum  Begründer  der  sog.  protestantischen  Scholastik.  ^ 
Die  Philosophie,  die  Luther  —  und  anfangs  auch  Melanchthon  — 
als  heidnische  Verirrung  aus  dem  Heiligtum  der  Theologie 
gebannt  wissen  wollte,  wird  abermals  zur  „Dienerin"  nun- 
mehr des  neuen  Glaubens.  Und  wiederum  entstanden  neue 
dogmatische  Systeme,  die  den  Inhalt  der  neuen  Lehre  be- 
grifflich zu  fassen  suchten. 

Luthers  Grundgedanken  über  das  Verhältnis  von  Glauben 
und  Wissen  wurden  von  Kant  zu  Ende  gedacht  und  dem 
Systeme  des  Kritizismus  eingeordnet.  Man  hat  deshalb  Kant  den 
„Philosophen  des  Protestantismus"  genannt^  —  im  Gegensatze 


^  E.  Troeltsch,  Vernunft  und  Offenbarung  bei  Johann  Gerhard 
und  Melanchthon,  Untersuchung  zur  Geschichte  der  altprotestantischen 
Theologie,  Göttingen  1891,  S.  73  und  95.  Ferner  H.  Maier,  Melanchthon 
als  Philosoph  (Archiv  für  Gesch.  d.  Philos,,  Bd.  X  und  XI). 

-  Vgl.  E.  Weber,  Die  philosophische  Scholastik  des  deutschen 
Protestantismus  im  Zeitalter  der  Orthodoxie,  Leipzig  1907. 

'  Vgl.  F.  Paulsen,  Philosophia  militans,  Berlin  1901,  S.  31  ff.  (auch 
Kantstudien  IV  (1899)  und  VI  (1901).  Bruno  Bauch,  Luther  und  Kant, 
Leipzig  1903.  Ernst  Saenger,  Kants  Lehre  vom  Glauben,  Leipzig  1903. 
Rudolf  Eucken,  Kant  und  Thomas  von  Aquino,  Ein  Gegensatz  zweier 
Welten.     Ders. :  Thomas  von  Aquino  und  die  Kultur  der  Neuzeit. 


( 

126  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

zu  Thomas  von  Aquino,    dem  Philosophen  des  Katholizismus. 
Für  diese  Charakteristik  ist   nicht   zum  wenigsten    gerade  die 
Stellung    beider   Denker   zu    unserem    Probleme    maßgebend. 
In  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  schreibt   Kant:  „Ich    kann    Gott,    Freiheit    und   Un- 
sterblichkeit zum  Behuf  des  notwendigen  praktischen  Gebrauchs 
meiner    Vernunft    nicht    einmal    annehmen,    wenn    ich    nicht 
der  spekulativen  Vernunft   zugleich  ihre  Anmaßung  benehme, 
weil  sie  sich,  nur  zu  diesen  zu  gelangen,  solcher  Grundsätze 
bedienen  muß,    die,    indem   sie  in    der  Tat  bloß  auf  Gegen- 
stände möglicher  Erfahrung  reichen,    wenn   sie  gleichwohl  auf 
das  angewandt   werden,    das    nicht   ein    Gegenstand   der  Er- 
fahrung   sein   kann,    wirklich   dieses  jederzeit  in  Erscheinung 
verwandeln,    und    so    alle  praktische  Erweiterung    der   reinen 
Vernunft   für   unmöglich    erklären.     Ich    mußte    also    das 
Wissen    aufheben,    um    zum    Glauben    Platz    zu    be- 
kommen,   und    der    Dogmatismus    der  Metaphysik    d.  i.  das 
Vorurteil,    in    ihr    ohne    Kritik    der    reinen    Vernunft    fortzu- 
kommen,   ist   die    wahre    Quelle   alles    der    Moralität    wider- 
streitenden Unglaubens,  der  jederzeit  sehr  dogmatisch  ist."  Kants 
kritisches  Bemühen  ist  darauf  gerichtet,  ein  anmaßendes  Wissen 
und  den  in  seinem  Namen  auftretenden  Unglauben  zu  besei- 
tigen,  um  für  einen  kritisch  fundierten  Glauben  Platz  zu  ge- 
winnen und  „allen  Einwürfen  wider  Sittlichkeit   und  Religion 
auf  sokratische  Art,    nämlich   durch    den    klarsten  Beweis  der 
Unwissenheit  der  Gegner,  auf  alle  künftige  Zeit  ein  Ende  zu 
machen".     Eine  reinliche  Gebietsteilung  zwischen  Wissen  und 
Glauben  soll  allen  unnützen  Fehden  dieser  Art  ein  für  allemal 
vorbeugen.     Kants  kritisches  Resultat  lautet:  ein  dogmatisches 
metaphysisches  Wissen  ist  unmöglich.     Gott,  Freiheit  und  Un- 
sterblichkeit, die  vornehmsten  Probleme  der  bisherigen  Meta- 
physik,   sind    keine  Gegenstände  möglichen    Erkennens.     Die 
Transcendenz  bleibt  dem  erkennenden  Menschengeiste  ewig 
verschlossen.  Aber  als  sittlich  wol  lendes  Wesen  gewinnt  der 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  127 

Mensch  einen  Zugang  zu  der  jenseitigen  Welt  des  Uebersinn- 
lichen,  zu  dem  mundus  intelligibilis.  Der  kategorische  Impe- 
rativ, das  Bewußtsein  des  Sollens,  führt  zu  einem  „praktischen 
Vernunftglauben"  an  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit.  An 
Stelle  der  vermeintlichen  metaphysischen  Erkenntnisse  treten 
diese  drei  Vernunftpostulate  d.  h.  „theoretische,  als  solche  aber 
nicht  erweisbare  Sätze,  sofern  sie  einem  a  priori  unbedingt 
geltenden  praktischen  Gesetze  unzertrennlich  anhängen".  Auch 
die  Religion  verbleibt  „innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Ver- 
nunft". Alles,  was  die  historischen  Religionen  außer  einem 
guten  Lebenswandel  vorschreiben,  ist  bloßer  „Afterdienst  Gottes". 
Die  religiösen  Dogmen  sind  lediglich  Symbole  sittlicher  Ideen. 
Der  dem  sittlichen  Bewußtsein  entsprechende  praktische  Vernunft- 
glaube ist  allein  von  Wert.  Gänzlich  wertlos  dagegen  ist  der 
Glaube  in  dem  früheren  Sinne  des  Fürwahrhaltens  angeblich 
historischer  Begebenheiten  und  ihrer  spekulativen  Andeutungen, 
als  könnten  sie  metaphysische  Wahrheit  beanspruchen.  Dies 
die  Grundgedanken  der  Kantischen  Religionsphilosophie. 

Zweierlei  ist  an  ihnen  für  unseren  Zusammenhang  be- 
merkenswert. Erstens:  ihre  augenscheinliche  Uebereinstimmung 
mit  den  Prinzipien  der  Reformation.  Beiden  scheint  die  Vernunft 
außerstande,  „Beweise"  für  das  Dasein  Gottes  und  die  Tat- 
sache einer  göttlichen  Offenbarung  zu  erbringen.  Statt  der 
Ratio  bildet  ein  Irrationalismus,  die  nicht  weiter  beweisbare 
innere  Erfahrung  vom  „Worte  Gottes",  wie  Luther  sagt  — 
von  einem  überindividuellen  sittlichen  Sollen,  dem  kate- 
gorischen Imperativ  in  der  Sprache  Kants,  die  Grundlage  des 
Glaubens. 

Damit  aber  hat  Kant  zweitens  (wie  Luther)  die  mehrfach 
hervorgehobenen  rationalen  Fundamente  der  mittelalterlich- 
katholischen Problemlösung  preisgegeben. 

Der  Kantische  Dualismus  zwischen  theoretischer  und 
praktischer  Vernunft  hat  den  stärksten  Einfluß  auf  die  Ent- 
wicklung   unseres    Problems     innerhalb   der    protestantischen 


128  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

Theologie  des  19.  Jahrhunderts  bis  in  unsere  Tage  gewonnen. 
Einige  Beispiele  mögen  dies  erläutern. 

Schleiermacher  (1768—1834)  war  es,  der  nach  den 
abermaligen  rationalistischen  Versuchen  Hegels  i,  die  philoso- 
phische Spekulation  in  die  Welt  des  religiösen  Glaubens  hinein- 
zutragen, wiederum  auf  die  Kantische  Trennung  beider  Gebiete 
zurückging.  Die  Religion,  deren  Wesen  sich  in  einer  Mannig- 
faltigkeit „positiver  Religionen"  offenbart,  wohnt  nach  ihm  in 
einer  von  dem  Erkennen  völlig  verschiedenen  geistigen  „Provinz". 
Sie  bedeutet  „Sinn  und  Geschmack  für  das  Unendliche"  und 
besteht  in  einem  absoluten  Abhängigkeitsgefühl  gegenüber  dem 
Unendlichen.  Da  Gefühle  nicht  wahr  oder  falsch  sein  können, 
ist  der  Unterschied  zwischen  wahrer  und  falscher  Religion 
hinfällig.  Er  stammt  aus  einer  intellektualistischen  Fassung  der 
Religion.  Wissen  um  die  Religion  und  die  Religion  selbst 
sind  aber  gänzlich  verschiedene  Dinge.  Der  religiöse  Glaube 
kann  deshalb  seinem  Wesen  nach  nie  mit  dem  Wissen  in 
Konflikt  geraten.  Erst  wenn  die  evangelische  Theologie  die 
völlige  Verschiedenheit  von  Glaubenssätzen  und  Wissenssätzen 
begriffen  hat,  wird  sie,  wie  Schleiermacher  in  der  Schrift  über 
den  christlichen  Glauben  ausführt,  einsehen,  „daß  zum  Bei- 
spiel eine  so  wunderliche  Frage  wie  die,  ob  derselbe  Satz  in 
der  Philosophie  wahr  sein  könne  und  in  der  christlichen  Theo- 
logie falsch  und  umgekehrt,  deswegen  nicht  mehr  vorkommt, 
weil  ein  Satz,  so  wie  er  in  der  einen  ist,  in  der  anderen  keinen 
Platz  finden  kann,  sondern,  wie  ähnlich  er  auch  klinge,  die 
Verschiedenheit  doch  immer  vorausgesetzt  werden  muß".  Denn 
die  Glaubenslehre  „hat  es  ebenso  wenig  mit  dem  objektiven 
Bewußtsein  unmittelbar  zu  tun  als  die  reine  Wissenschaft  mit 
dem  subjektiven".  Deshalb  hält  Schleiermacher  es  für  verfehlt, 
wenn   man  die  Glaubenslehre  „mit  wissenschaftlichen   Sätzen 

*  Vgl.  H.  Hadlich,  Hegels  Lehren  über  das  Verhältnis  von  Religion 
und  Philosophie.  (Abhandl.  z.  Philos.  und  ihrer  Geschichte,  herausg. 
V.  B.  Erdmann,  Bd.  24.) 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  129 

durchschießt  oder  sie  von  der  Grundlage  der  Wissenschaft 
abhängig  machen  will".  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  sind 
nach  ihm  für  die  Glaubenslehre  völlig  überflüssig,  ja  überhaupt 
gar  nicht  möglich;  denn  metaphysische  Erkenntnis  gibt  es  nicht, 
wie  Schleiermacher  im  Anschluß  an  Kants  Erkenntnistheorie 
zu  zeigen  sucht. 

In  den  Bahnen  Kants  und  Schleiermachers  bewegt  sich 
auch  ein  so  einflußreicher  Theologe  wie  Albrecht  Ritschi 
(1822-1889)1.  £i-  bezeichnet  Glauben  und  Wissen,  religiöse 
Weltanschauung  und  wissenschaftliche  Welterkenntnis  als  zwei 
„heterogene  Erkenntnisarten",  als  „entgegengesetzte  Geistes- 
tätigkeiten" oder  „verschiedene  Geistesfunktionen".  Auf  der 
Verwechslung  dieser  verschiedenen  Erkenntnisarten  beruht  die 
Feindschaft  zwischen  Philosophie  und  Theologie.  Beide  können 
nur  so  lange  in  Frieden  leben,  als  jede  in  ihrem  eigenen  Ge- 
biete bleibt. 

Das  religiöse  Erkennen  besteht  nun  nach  Ritschi  „in 
selbständigen  Werturteilen",  während  das  rein  theoretische  Er- 
kennen ganz  „uninteressiert"  ist.  Die  Wahrheit  des  religiösen 
Erkennens  besteht  demnach  lediglich  darin,  daß  wir  den  sitt- 
lichen Wert  der  betreffenden  religiösen  Vorstellungen  in  uns 
erfahren  —  oder  „erleben",  wie  die  in  der  Gegenwart  beliebte 
Wendung  lautet.  Wer  an  Gott  glaubt,  sagt  z.  B.  Ritschis 
Schüler,  der  Marburger  Theologieprofessor  Wilhelm  Herr- 
mann^,  hat  „in  seinen  Erlebnissen  die  Spuren  einer  geisti- 
gen Macht  gefunden,  durch  die  er  sich  zu  völliger  Hingabe 
in    Ehrfurcht    und   Vertrauen    gezwungen    sieht".      Nicht   das 


^  Die  christliche  Lehre  von  der  Rechtfertigung  und  Versöhnung, 
dargestellt  von  Albrecht  Ritschi,  Bonn  L  A.  1874,  2.  A.  1882/83.  Auch: 
Theologie  und  Metaphysik,  Bonn  1887.  Vgl.  dazu  E.  Boutroux,  Wissen- 
schaft und   Religion  in  der  Philosophie  unserer  Zeit,    Leipzig  1910. 

^  Die  Religion  in  ihrem  Verhältnis  zum  Welterkennen  und  zur 
Sittlichkeit,  1871.  —  Vgl.  auch  Werturteile  und  Glaubensurteile.  Eine 
Untersuchung  von  Prof.  D.  Max  Reischle,  Halle  1900. 


130  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

„Welterkennen",  sondern  die  Sittlichkeit  führt  zur  Religion.  Das 
Sittengesetz  aber  ist  in  sich  selbst  fest  verankert.  „Es  steht, 
wie  Kant  sagt,  obgleich  es  durch  alle  Anstrengungen  der  theo- 
retischen, spekulativen  oder  empirisch  unterstützten  Vernunft 
nicht  bewiesen  werden  kann,  dennoch  für  sich  selbst  fest." 
Mit  Kant  ist  Herrmann  der  Ueberzeugung,  daß  wir  nur  durch 
den  im  Sittengesetze  liegenden  praktischen  Glauben  die  Gewii3- 
heit  einer  übersinnlichen  Welt  gewinnen.  Ein  Konflikt  zwischen 
„Welterkennen"  und  religiösem  Glauben  ist  deshalb  im  letzten 
Grunde  gar  nicht  möglich.  „Daß  die  Auffassung  der  Welt  für 
den  Menschen  als  erkennendes  Subjekt  eine  völlig  andere  sei 
wie  für  den  Menschen  als  sittliche  Person  - ,  diese  von  Kant 
errungene  Erkenntnis  vindiziert  auf  der  einen  Seite  der  exakten 
Wissenschaft  die  Pflicht  der  Selbständigkeit,  welcher  sie  sich 
mit  reichem  Erfolge  unterzogen  hat.  Auf  der  anderen  Seite 
wird  durch  diese  Errungenschaft  Kants  die  Theologie 
in  die  Freiheit  entlassen,  nach  der  sie  in  der  Reformations- 
zeit hinausgeblickt  hatte." 

Endlich  seien  noch  zwei  Denker  der  letzten  Zeit  erwähnt, 
bei  denen  wir  dieselbe  Betonung  des  religiösen  „Erlebnisses" 
oder,  wie  es  auch  oft  heißt,  „Bedürfnisses"  antreffen.  Zunächst 
H.  Spitta,  der  Verfasser  eines  viel  beachteten  Buches  „Mein 
Recht  auf  Leben".  Darin  finden  sich  subjektivistische  Sätze 
wie  diese:  „Die  Religion,  der  ich  angehöre,  habe  ich  nicht, 
weil  sie  die  wahre  ist,  wie  man  doch  meinen  sollte,  sondern 
sie  ist  die  wahre,  weil  ich  sie  habe,  und  ich  habe  sie,  weil  sie 
und  insofern  sie  meinem  Bedürfnis  entspricht;  das  und 
nichts  anderes  ist  der  wahre  Sachverhalt.  Es  hat  hiermit  die 
gleiche  Bewandtnis  wie  mit  der  Frage  nach  dem  „wahren" 
Gott,  Gott  ist  stets  und  kann  nur  sein  irgend  jemandes  Gott, 
ihm  hilft  er,  darum  ist  er  sein  Gott."  „Der  religiöse  Mensch 
hat  seinen  Gott,  —  dieser  sein  Gott  ist  dann  hinterher  Gott 
schlechthin;  es  sind  Erfahrungstatsachen  des  inneren 
persönlichen    Lebens,    um    die    es    sich    überall    handeh 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  131 

der  fremde  Mensch  mag  sie  für  sich  ebenfalls  an- 
nehmen oder  ablehnen,  je  nachdem,  zu  ändern  vermag  er 
sie  nicht." 

Die  an  Kant  und  Schleiermacher  orientierte  Lösung 
unseres  Problems  hat  in  jüngster  Zeit  nicht  zum  wenigsten 
durch  die  Werke  Friedrich  Paulsens  weiteste  Verbreitung 
gefunden.  Indem  er  eine  scharfe  Grenzscheide  zwischen  Wissen 
und  Glauben  zieht,  schreibt  er  in  seiner  (in  15  Auflagen  er- 
schienenen) Einleitung  in  die  Philosophie:  „Die  kritische 
Philosophie  zeigt  die  gleiche  Unmöglichkeit  des  positiven  und 
des  negativen  Dogmatismus.  Eben  damit  begründet  sie  die 
Möglichkeit  des  Glaubens,  eines  Glaubens,  der  ohne 
theoretische  Beweise  im  Geist  als  wollendem, 
wirkendem,  Werte  schaffendem  und  empfindendem 
Wesen  gesetzt  ist:  ich  könnte  nicht  leben  und  nicht  wirken 
in  einer  Welt,  die  nichts  als  eine  ungeheure,  sinn-  und  seelen- 
lose Maschine  wäre,  darum  kann  ich  nicht  glauben,  daß  es  so 
mit  ihr  sich  verhält,  darum  glaube  ich,  daß  sie  die  Offen- 
barung eines  Allweisen  und  Allguten  ist,  auch  wenn  meine 
Augen  ihn  nicht  sehen  und  mein  Verstand  ihn  nicht  fassen 
kann."  Und  an  anderen  Stellen:  „Das  Evangelium  ist  und 
hat  kein  System  der  Kosmologie  und  Biologie,  es  ist  die 
Predigt  vom  Reiche  Gottes,  das  im  Gemüt  und  Leben  der 
Menschen  wirklich  werden  will."  „Darf  ich  das  Wort 
sprechen  und  meinen,  wie  ich  es  verstehen  und  fassen  kann, 
dann  mag  ich,  unbeirrt  durch  den  Spott  der  Verächter  und 
den  Haß  der  Hüter  des  Buchstabenjoches,  auch  heute  noch 
mich  zum  Glauben  an  Gott,  der  sich  in  Jesu  offen- 
bart hat,  bekennen.  In  Jesu  Leben  und  Sterben  ist  mir  der 
Sinn  des  Lebens,  ist  mir  der  Sinn  der  Dinge  überhaupt  auf- 
gegangen, das  aber  nenne  ich  Gott  und  Gottes  Erscheinung,  was 
mir  das  Leben  möglich  macht  und  seine  Bedeutung  zeigt:  so 
kann  der  aufrichtigste  und  frommste  Mann  heute  so  gut 
als  zu   irgendeiner  Zeit  sprechen." 


132  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

Schon  aus  den  bisher  angeführten  Beispielen  erhellt  zur 
Genüge,  wie  prinzipiell  verschieden  der  durch  Luther  und 
Kant  eingeleitete  Lösungsversuch  von  dem  mittelalterlich- 
katholischen ist.  Es  schien  und  scheint  der  katholischen  Kirche 
noch  heute  der  religiöse  Glaube  in  einer  bewiesenen  Objek- 
tivität verankert,  während  er  bei  den  erwähnten  nachkantischen 
protestantischen  Theologen  letzten  Endes  in  der  Subjektivität 
der  inneren  religiösen  Erfahrung,  des  Erlebnisses  oder  Be- 
dürfnisses wurzelt,  die  dann  höchstens  durch  die  Ueberein- 
stimmung  in  vielen  Menschen  eine  gewisse  Allgemeinheit 
erlangen  und  zu  einer  kirchlichen  Gemeinschaft  führen  können. 

Es  fördert  in  dem  gegenwärtigen  lebhaften  Kampfe  um 
das  religiöse  Problem  außerordentlich  die  gegenseitige 
Verständigung,  wenn  man  bei  den  verschiedensten  —  „ortho- 
doxen", „liberalen"  wie  „freien"  —  religiösen  Richtungen 
gleichsam  Jagd  macht  auf  diesen  subjektiven  Erlebnis- 
Faktor. 

Wer  sich  hinter  seiner  inneren  religiösen  Erfahrungs- 
Gewißheit  verschanzt,  dem  ist  schließlich  gar  nicht  beizukommen. 
Höchstens  kann  man  dem  Bekenntnis  des  anderen  das  eigene 
gegenüberstellen.  (Solche  offene  Aussprache  ist  zudem  ge- 
eignet, neues  und  ursprüngliches  religiöses  Leben  zu  ent- 
zünden.) 

Auch  ist  zunächst  gegen  die  subjektive  Ehrlichkeit  derer 
nichts  einzuwenden,  die  sich  auf  ein  Erlebnis  berufen,  das 
mit  den  Erfahrungen  der  ersten  Christen  übereinstimmt.  So- 
lange das  Bekenntnis  nichts  als  ein  Ausdruck  innerer  Vorgänge 
zu  sein  beansprucht,  ist  es  relativ  ungefährlich.  Seine  unge- 
heure Gefahr  beginnt  erst  dann,  wenn  das  B  e  kenntnis  in  die 
Sphäre  der  objektiven  E  r  kenntnis  störend  eingreift,  wenn  es 
den  Blick  für  objektive  sachliche  Beweise  zu  trüben  beginnt. 
Um  dieser  erfahrungsgemäß  nicht  geringen  Gefahr  zu  begegnen, 
ist  die  strengste  Orientierung  an  den  in  der  Wissenschaft 
geübten  Methoden  allgemein-gültigen  Erkennens  geboten. 


Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus  133 

Die  zuletzt  besprochene  Erlebnis-Theorie  findet  in  der 
katholischen  Lösung  unseres  Problems  keinen  Platz. ^  Ja  sie 
^st  es  gerade,  die  in  der  Encyclica  Pascendi  als  „mo- 
dernistische" Verirrung  gekennzeichnet  wird. 

Es  ist  bewundernswert,  mit  welcher  immanenten  Logik  die 
katholische  Kirche  auf  Grund  dieser  Voraussetzungen  ihr 
Dogmensystem  entwickelt  und  es  gegen  „allzu  kühne  Neue- 
rungen" schützt.  Der  „Modernismus"  strebt  nun  gerade  jene 
Voraussetzungen  direkt  oder  indirekt  zu  untergraben.  Kein 
Wunder,  daß  er  als  der  „Inbegriff  aller  möglichen  Häresien" 
mit  den  schärfsten  Mitteln  bekämpft  wird.  „Modernistischen" 
Strömungen  Tür  und  Tor  öffnen,  würde  für  die  katholische 
Kirche  eine  ungeheure  Inkonsequenz  und  allmähliche  Selbst- 
vergiftung bedeuten. 

Man  braucht  kein  Anhänger  der  katholischen  Glaubens- 
lehren zu  sein,  um  die  antimodernistischen  Bestrebungen  in 
unseren  Tagen  —  so  seltsam  dies  auch  vielen  Ohren  klingen 
mag  —  freudig  zu  begrüßen.  Jeder  wird  dies  tun  müssen, 
der  auch  auf  religiösem  Gebiete  konsequente  Durchführung  der 
Grundsätze  als  eine  dringende  Forderung  erhebt.  Gerade 
in  den  religiösen  Gärungen  der  Gegenwart  dient  es  offen- 
sichtlich der  Klärung,  wenn  jede  Richtung  möglichst  unzwei- 
deutig Farbe  bekennt  und  ihre  letzten  Ziele  zum  offenen 
Ausdruck  bringt.  „Liberale  Verwaschungspolitik"  ist  hier  am 
wenigsten  heute  am  Platze,  da  die  Klage  der  inneren  Un- 
wahrhaftigkeit  des  religiösen  Lebens  in  seinen  überkommenen 
Formen  eindringlich  an  unser  Ohr  tönt.  - 

Wer   immer    aber   gegen   eine   religiöse  Weltanschauung 


^  Vgl.  auch  V.  Cathrein  S.  J.,  Glauben  und  Wissen,  Freiburg  1903 
und  die  dort  angeführte  Literatur  katholischer  Autoren. 

*  Als  besonders  beachtenswertes  Sympton  unserer  Zeit  darf  in 
dieser  Hinsicht  die  von  Ernst  Horneffer  herausgegebene  Zeitschrift 
»Die  Tat"  genannt  werden.  Vgl.  darin  (II.  Jhrg.,  11.  Heft)  den  Auf- 
satz »Jesus  und  Nietzsche  über  das  Unbedingte«  von  J.  M.  Verweyen. 


134  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typus 

kämpft,  tut  gut,  die  Axt  an  die  Wurzel  zu  legen,  statt  nur 
den  einen  oder  anderen  Ast  abzusägen,  der  aus  ihr  mit 
innerer  Notwendigkeit  hervorwächst.  Der  „Anti-Modernismus" 
ist  gleichsam  eine  solche  periphere  Ast-Erscheinung  im  heutigen 
Katholizismus  und  weist  auf  das  Zentrum  der  katholischen 
Lösung  des  Problems  von  Philosophie  und  Theologie,  Glauben 
und  Wissen.  In  der  Kritik  dieser  Problemlösung  aber  bohrt 
am  tiefsten,  wer  ihre  Voraussetzung  ir  „übernatürlichen 
Offenbarung  und   Kirche"    mit  '  '  .len    und    erkenntnis- 

theoretischen Mitteln  als  unzulänglich  nachweist. 


Inhalt  135 


ii    Mts- Verzeichnis. 


Vorwort.  Seite 

Eioleltung.    -  Mittelalterliche  Weltanschauung  im  allgemeinen  .  7 
I.  Die  Patristik. 

l:  Justin 10 

2.  IrenäUc 11 

3.  Clemens  v.  A.  . 12 

4.  Tertullian 13 

5.  Augustinus    . 14 

II.  Die  Scholastik. 

1.  Eriugena 18 

2.  Anseimus 23 

3.  Abaelard • 27 

4.  Albertus  Magnus 32 

5.  Thomas  v.  Aquino 35 

6.  Duns  Scotus     .    .   .    .    • 51 

7.  Bonaventura 58 

8.  Roger  Bacon 61 

9.  Raymundus  LuUus 64 

10.  Wilhelm  Occam 66 

1 1 .  Spätere  Mystiker 68 

12.  Zusammenfassung 72 

III.  Tliomas  Ton  Aquinos  kirchliclie  Bestätigung. 

1.  Syllabus  Pius  IX 75 

2.  Encyclica  Aeterni  Patris 77 

3.  »Neuer  Syllabus"  (Decret  Lamentabili) 80 

4.  Encyclica  Pascendi  gregis  Dominici 82 

5.  Motu  proprio  vom  18.  November  1907 86 

6.  Modernismus 88 


136  Inhalt 

IT.  Der  Eid  wider  den  Modernisrnns. 

1.  Die  Eidesformel Qc 

2.  Ihre  Uebereinstimmung  mit  früheren  Erlassen QF 

3.  Mausbachs  Schrift IC 

4.  Das  Prinzip  der  löblichen  Unterwerfung  .   .   . 

T.  Die  katholische  Lösung  des  Problems  als  Typ^; 

1.  Ursprung  und  Inhalt  des  Glaube»^' 

2.  Richtlinien  einer  Kritik ~' 

3.  Irrationalismus  und  Rationalismus 2'^ 

4.  Luther  und  Kant     . ...   12' 

5.  Schleiermacher  und  verwandte  Theologen     ....  2'1 

6.  Die  Erlebnis-Theorie oi 


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