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University of Toronto
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Philosophie und Theologie
im Mittelalter
Die historischen Voraussetzungen des
Anti-Modernismus
von
Dr. Johannes Maria Verweyen
Privatdozenten für Philosophie an der Universität Bonn
BONN
Verlag von Friedrich Cohen
1911.
THE INSTITUTE OF «EDIAIVAL STUOlES
10 ELMSLEV PLACE
TORONTO 6. CAN40A.
007131931
^'3
Aachener Verlags- und Druckerei-Qes., Aachen.
THE »NSTIIUTE OF MEDIAEVAL STUOJii
^ 10 ELMSLEy PLACE
TORONTt) 6, CANADA.
Dem Andenken meines Vaters
MOTTO: Et drj Tig e$ dgxrj? rd Jigayfiara (pvöjueva
ßXeymev, cootieq sv roTg äXXoiq xal iv
jovTOig xdXhoz äv övrco d^ecoQ^oscev.
Wenn nun jemand zusehen würde, wie die Dinge von
Anfang an wachsen, so würde er auf diese Weise hier
wie auch sonst die beste Einsicht gewinnen.
Aristoteles, Po!itil<a, 1,2, 1252^24.
In den leidenschaftlichen Streit der Parteien das Licht
der Besonnenheit und des gegenseitigen Verständnisses
hineinzutragen, ist eine der vornehmsten und praktisch
wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft, nicht zum wenigsten
der Philosophie.
Diesem Ziele soll auch die vorliegende Arbeit dienen,
die sich auf die historischen Voraussetzungen des so-
genannten Antimodernismus bezieht und demnach in
engster Fühlung zu einer vielerörterten Tagesfrage steht.
BONN, April 1911.
Der Verfasser.
•V5
Der Erörterung unseres Themas mögen ein paar allgemeine
historische Notizen vorangehen.
Unter mittelalterlicher Weltanschauung verstehen wir die
Weltanschauung des christlichen Mittelalters in der Geschichte
des christlichen Abendlandes. Denn das christliche Morgenland
hat bisher noch keine mittelalterliche Epoche erlebt, weil dem
1453 beginnenden zweiten Abschnitte in seiner Geschichte noch
kein dritter, neuzeitlicher, gefolgt ist.
Das christliche Mittelalter löst das christliche Altertum ab,
das drei Perioden umfaßt: die apostolische und nachapostolische
Zeit (l.Jahrh.), ferner die Zeit der Christenverfolgungen und
Ausbildung einer christlichen Universalkirche im Kampfe mit
römischer Kultur und römischem Staat (2. u. 3. Jahrh.); end-
lich die Zeit der Entwicklung des kirchlichen Lebens unter
römischem Schutz (seit Constantin — 325).
Vier Ereignisse begründen die Ablösung des christlichen
Altertums durch eine neue geschichtliche Zeitperiode, die von
der vorausgehenden nach Schauplatz und Inhalt verschieden
ist: die Völkerwanderung, insbesondere das Auftreten der
Germanen; das durch letztere herbeigeführte Ende des west-
römischen Reiches, der Eintritt der germanischen Völkerstämme
in die Kirche, endlich die Tatsache, daß diese aus allen Stürmen
siegreich hervorgeht und in ihrer altchristlich-lateinischen Ge-
stalt fortbesteht.!
Da nun die Kirche, bereits im Besitze einer Kultur, dem
germanischen Naturvolk wenigstens äußerlich überlegen war,
^ Vgl. die gedrängte, aber inhaltreiche Darstellung, die Albert
Ehrhardt in seinem Buche „Das Mittelalter und seine kirchliche Ent-
wicklung" (Mainz 1908) gibt. (Bd. VIII der von Martin Spahn heraus-
gegebenen Sammlung „Kultur und Katholizismus".)
8 Einleitung
mußte sie die Führerrolle in der neuen Periode übernehmen.
So erklärt sich die „Vorherrschaft des Klerikalismus", durch
die das Mittelalter charakterisiert ist: die Durchdringung des
ganzen national-profanen Lebens durch kirchlich-religiöse Ideen;
die enge Verbindung von Philosophie (d. h. Wissenschaft
überhaupt) und Theologie, von Staat und Kirche, Papsttum
und Kaisertum.
Wie es unmöglich ist, irgendein bestimmtes Jahr als
Beginn der mittelalterlichen Geschichtsperiode anzugeben —
jene genannten vier Ereignisse, deren jedes einzelne zwar durch
eine Jahreszahl bestimmt werden kann, führen doch erst durch
ein allmähliches Zusammenwirken eine neue Epoche herauf —
ebenso unmöglich ist es, den Beginn der mittelalterlichen Welt-
anschauung bezw. Philosophie durch ein Datum festzulegen:
auch hier ist die neue Periode des Geisteslebens durch all-
mähliche Uebergänge mit der vorausgegangenen verknüpft.
Augustin ist der letzte, der vor dem Zusammenbruch des
Römerreiches ein System der christlichen Weltanschauung ent-
wickelt. Die nachaugustinische Zeit ist infolge der sich voll-
ziehenden staatlichen Umwälzungen einer Fortbildung alter
oder Entdeckung neuer Probleme nicht günstig. Die den
Ausgang der patristischen Periode bildenden römischen und
lateinischen Schriftsteller erblicken ihre Aufgabe hauptsächlich
in didaktischen Zielen, d. h. in der schulmäßigen Ueberlieferung
der kompilatorisch zusammengestellten Gedanken der Väter in
Verbindung mit platonischen, neuplatonischen und zum Teil
aristotelischen Elementen. Auch Alkuin ist im wesentlichen nicht
über die Enzyklopädie hinausgekommen, wenn er auch in
psychologischen Untersuchungen bereits eine gewisse Selb-
ständigkeit verrät und insofern eine Uebergangserscheinung
darstellt.
Die in den Schulen besonders gepflegte Dialektik behauptet
in dem Systeme Eriugenas eine so selbständige und eigenartige
Stellung gegenüber der Theologie, daß dieser Denker sich
Einleitung 9
deutlich von den Männern abhebt, die man der dritten Periode
der Patristik zurechnet.
Johannes Scotus Eriugena gilt demnach zumeist als der
Denker, mit dem die eigentliche scholastische Periode anhebt.
Wenn wir im folgenden von der Bedeutung des Problems
„Glauben und Wissen" innerhalb der mittelalterlichen Welt-
anschauung reden, so verstehen wir dabei unter letzterer lediglich
die philosophische bezw. philosophisch-theologische Spekulation
der führenden Denker des Mittelalters, ohne auf die praktische
Weltanschauung näher einzugehen, wie sie sich im mittelalter-
lichen Volksleben und nicht zum wenigsten in den Dichtungen
dieser Zeit widerspiegelt.
Bei der Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Weltan-
schauung verfährt man am besten, indem man der zeitlichen
Reihenfolge nach die Stellung ihrer Vertreter zu gewissen
Kardinalproblemen zu ermitteln sucht, welche die ganze Epoche
bewegt haben. Diese Kardinalprobleme betreffen: Gott und
Erlösung, das Verhältnis von Staat und Kirche, Willensfreiheit.
Bei einer solchen Untersuchung, in der die Methodik
der mittelalterlichen Philosophie durch die Behandlung eines
speziellen Problems beleuchtet wird, ^ gewinnt man den Ein-
druck, daß alle einzelnen Probleme mittelalterlicher Weltan-
schauung schließlich die Richtung ihrer Lösung von einem
einzigen Hauptprobleme gewinnen, nämlich dem Probleme von
Philosophie und Theologie oder — was dasselbe ist — von
Glauben und Wissen. Die mittelalterliche Entwicklung dieses
Problems in den wichtigsten Grundlinien zu zeichnen, soll
der Zweck der folgenden Ausführungen sein.
^ Vergleiche mein Buch über „Das Problem der Willensfreiheit in
der Scholastik" (Heidelberg 1909).
10 Patristik
I. Die Patristik.
Schon in der Väterzeit treffen wir eine ganz bestimmte,
für die Folgezeit maßgebende Lösung unserer Frage an. Nur
einige wichtige Punkte seien hervorgehoben.
Wenden wir den BHck zu den griechischen Apologeten,
so begegnen wir zunächst Justin, dem Märtyrer (100—166).
Bekannt ist der Satz seiner Apologie (I, c46): «Die nach dem
Logos lebten, waren Christen, mochten sie auch für Atheisten
gehalten werden, wie bei den Griechen Heraclit und Sokrates
und die ihnen Aehnlichen«. Ein Ausspruch, der das Bestreben
dieses mit griechischer Bildung ausgestatteten christlichen Apo-
logeten zeigt, den Kreis der Zugehörigkeit zum Christentum
ganz erheblich — um nicht zu sagen mit historischer Ver-
gewaltigung - zu erweitern. Definiert er doch geradezu den
späteren vielgerühmten Ausspruch TertuUians: anima humana
naturaliter christiana vorwegnehmend, das Christliche als das
Allgemeinmenschliche (Apolog. II, c 13). Stoische Einflüsse
führen ihn dazu. An dem Logos spermatikos hat das ganze
Menschengeschlecht teil. Wie ein Samen ist die göttliche
Vernunft durch das ganze Weltall verstreut, in allen Menschen
wirksam, in einigen aber ganz besonders. Zu diesen Auser-
wählten zählen Moses und die Propheten — aber auch die
griechischen Denker und Dichter. Freilich haben diese das
Beste ihrer Gedanken dem alten Testamente entlehnt, wie
Justin (Apol. I, c44) ausführt: «Die Lehre von der sittlichen
Wahlfreiheit hat Plato Moses entnommen, wie denn jener über-
haupt das ganze Testament gekannt hat; ferner stammt alles,
was Philosophen und Dichter über die Unsterblichkeit der
Seele, über die Strafen nach dem Tode, über die Betrachtung
Justin 11
der himmlischen Dinge und ähnliches gesagt haben, ursprüng-
lich von den jüdischen Propheten her; von hier aus sind
nach allen Richtungen »Samenkörner der Wahrheit' {oTteg/uara
rfjg dh]&Eiag) gedrungen, wenn auch durch ungenaue Auf-
fassung derselben Widerstreit unter den Ansichten entstanden
ist.« So besteht nach Justin nicht nur ein innerer, sondern
sogar ein äußerer, freilich von ihm mehr behaupteter als be-
wiesener Zusammenhang zwischen dem Logos und den grie-
chischen Lehren. Daß er ihnen gegenüber sich freundlich
verhält, verdient besondere Beachtung. Das wahre Wissen
aber leitet er dennoch aus einer anderen Quelle ab. Christus —
der von der Jungfrau Maria geborene Sohn Gottes, wie der
bedeutsame Dialog mit dem Juden Tryphon ausführt — ist
der Fleisch gewordene Logos. Seine Mission war es, die
„volle Wahrheit" zu bringen, und zwar allen Menschen, nicht
bloß wenigen Auserwählten, auf die sich die Denker und Dichter
beschränkten. Das Christentum darum die wahre, die allein
»sichere und heilsame Philosophie".
So läßt bereits Justin Töne erklingen, die in der Folge-
zeit immer wieder angeschlagen werden. Einerseits eine keines-
wegs feindliche Haltung gegenüber dem menschlichen Wissen,
aber dennoch ein stärkeres Vertrauen auf die göttliche, durch
Christus verkündete Wahrheit, deren wir im Glauben gewiß
werden.
Nicht alle Apologeten jener Zeit standen in solchem
freundlichen Verhältnis zu der griechischen Wissenschaft. Schon
gleich Justins Schüler, Tatian, ergeht sich in Verachtung aller
Kunst und Philosophie, um desto lebhafter die Segnungen der
christlichen Lehre zu preisen — auch dies ein durchaus typisches
Verfahren, das uns bei extrem asketisch gerichteten Geistern
begegnet.
Nicht ganz so verächtlich spricht der Bischof von Lyon,
Irenäus (etwa 125-202) von dem menschlichen Wissen,
aber auch er wertet es gering gegenüber der wahren Gnosis,
12 Clemens von Alexandrien
wie sie nur durch die göttliche Offenbarung unter Vermittlung
der Kirche zu erlangen ist. So kommt schon er bei seiner
»Enthüllung und Widerlegung der falschen Gnosis" zu der
Gleichung: die wahre Erkenntnis ist die Kirchenlehre!
Einen Schritt weiter führt uns Clemens von Alexandrien
(t um 215), der einflußreiche Lehrer an der dortigen Kate-
chetenschule. Er prägt das berühmte Wort von der erziehenden
Bedeutung der griechischen Philosophie. Hatte Paulus bereits
(Gal. 3, 24) das hebräische Gesetz einen naidaymyög eig Xqiozöv
einen Erzieher auf Christus hin genannt, so wendet Clemens
nunmehr die gleiche Bezeichnung auf die Philosophie an, die
nicht minder, vor allem in Piaton, ihrem bei weitem besten
Vertreter, die Mission gehabt habe, Hellas auf Christus vor-
zubereiten. Und selbst nachdem dieser erschienen, bleibt die
Bedeutung der Philosophie bestehen. Denn gerade mit ihrer
Hilfe, fordert Clemens, soll man von dem Glauben zum
Wissen fortschreiten, die Pistis in Gnosis verwandeln, dabei
aber stets als Kriterium des wahren Wissens die Ueberein-
stimmung mit dem Glauben, d. h. mit der Kirchenlehre, gegen-
wärtig halten.
Damit ist, wohl zum ersten Male mit voller Deutlichkeit,
die Idee einer „christlichen Philosophie" ausgesprochen!
Dem Idealbilde des stoischen Weisen entnimmt Clemens Züge,
um das Bild eines wahren Gnostikers, d. i. eines „christlichen
Philosophen", zu entwerfen; ihn kennzeichnen innere Freiheit,
Erhabenheit über alles Aeußere und ein Leben in Gott, so
daß er selbst gleichsam Gott, ein {}eov/Lievog wird.
Von den übrigen griechischen Apologeten, einem Origines,
der das erste, freilich in vielen Punkten nicht von der Kirche
anerkannte System einer christlichen Weltanschauung entwirft,
und seinen Schülern, den sog. drei Lichtern der Kirche von
Kappadozien (Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von
Nyssa) sowie endlich von dem für das Konzil von Nycäa
hoch bedeutsamen vierten griechischen Kirchenvater, Athanasius
Tertullian 13
dem Großen, können wir für unsere Zwecke gleich zu den
lateinischen Apologeten übergehen. Da ist zunächst Tertullian
(geb. 160 zu Carthago) erwähnenswert. Ist er es doch, der
mit besonderer Schärfe und afrikanischem Advokatenfeuer so-
wohl den Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit als
auch zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Ver-
nunft betont, um sich in beiden Punkten mit der ganzen
Leidenschaft seiner Beredsamkeit gegen das Heidentum zu
richten. Wie er überhaupt von der Leistungsfähigkeit des
Menschen außerordentlich gering denkt, so insbesondere auch
von der menschlichen Vernunft. Der griechischen Philosophie
bringt er darum keine Sympathie entgegen. Weit erhaben
über die natürliche Gotteserkenntnis der Philosophen dünkt
ihm die übernatürliche, wie sie uns durch Offenbarung zuteil
wird; weit erhaben über das menschliche Wissen der gött-
liche Glaube. Nicht die schwache und irrtumsfähige Vernunft
eines sterblichen Weisen kann uns Führer in den höchsten
Fragen des Daseins sein. Wir sind göttlicher Führerschaft
in diesen Dingen gewürdigt worden. Christus, der Sohn
Gottes, ist der wahre Philosoph; er allein antwortet auf
alle Fragen über Gott, ohne zu irren. Das Wenige, was die
heidnischen Philosophen über göttliche Dinge wußten, haben
sie dem alten Testament entlehnt und ruhmsüchtig, wie sie
waren, sich selbst zugeschrieben — eine Anschuldigung, die
uns in jener Zeit häufig begegnet (und bis heute sind ja
„Verdächtigungen" im Uebereifer apologetischer Streitlust keine
Seltenheit).
So lautet die Parole Tertullians: Glauben, nicht Grübeln!
Was unserem Verstände eine Torheit erscheint, sollen wir
gerade deshalb um so fester im Glauben für wahr halten.
Wie es in jenem vielgenannten Ausspruch Tertullians zum
Ausdruck kommt: Mortuus est dei filius; prorsus credibile est,
quia ineptum est. Et sepultus resurexit; certum, quia im-
possibile est. (De carne Christi V.) Tod und Auferstehung
14 Augustinus
des Gottmenschen erscheinen vor dem Forum unseres Wissens
als eine Unmöglichkeit, aber der Glaube erhebt selbst diese
zu der Gewißheit einer unbezweifelbaren Wirklichkeit. Es ist
der Standpunkt des «Credo, quia absurdum est«, der später
unter der Flagge der sog. doppelten Wahrheit wieder auftaucht
und in dieser Fassung niemals offizielle Anerkennung in der
Kirche gefunden hat; ebensowenig wie die prinzipielle Ge-
ringschätzung des menschlichen Wissens, der wir auch bei
Tertullians Zeitgenossen wie Arnobius und Lactantius be-
gegnen. Auch sie stimmen wieder das Klagelied von der Eitelkeit
menschlicher Wissenschaft an, die vor Gott nichts als arm-
selige Torheit sei; ohne die Hilfe göttlicher Offenbarung
gehe unsere Vernunft beständig in die Irre.
Die lateinischen Kirchenväter Hilarius, den Gegner des
Arius im Abendlande, - Ambrosius, den Bischof von Mailand
und den für die Exegese und Geschichte der Askese bedeut-
samen Einsiedler Hieronymus (f 420) können wir für unsern
Zweck übergehen. Um so mehr ist ein Wort über Augustinus
geboten, in dem die Patristik ihren Höhepunkt erreicht. Zwei
Punkte verdienen hier besonders hervorgehoben zu werden.
Erstens jene charakteristische Fassung des Verhältnisses zwischen
Wissen und Glauben, die Augustinus in einem Satz wie diesem zu
formulieren pflegt: credimus ut cognoscamus, non cognos-
cimus ut credamus. (In Joh. Ev. tract. 40, 9.) Damit will er,
wie der Zusammenhang seiner Lehre ergibt, sagen: wir müssen
zuerst glauben, um dann allmählich durch fortgesetzte Ver-
tiefung in die Glaubensinhalte mit Hilfe göttlicher Gnade nach
Möglichkeit, d. h. nach Maßgabe der individuellen Kräfte den
Glauben in Wissen, in Erkenntnis, umzuwandeln. „Crede ut
intelligas" (Sermo; 43, 4) lautet deshalb seine häufig wieder-
kehrende Mahnung, bei der er sich gerne auf eine Stelle des
Isaias beruft: „Wenn ihr nicht glaubet, werdet ihr nicht ein-
sehen." (Is. 7, 9.) In einer besonderen Schrift „über den
Nutzen des Glaubens" nennt er in gleichem Sinne den Glauben
Augustinus 15
„die Leiter zur Erkenntnis" und letztere „den Lohn des
Glaubens", der uns voll und ganz freilich erst in der zu-
künftigen ewigen Seligkeit zuteil werde.
Aber mit Paulus will auch Augustinus, daß der Glaube
ein „vernünftiger", der. in ihm liegende Gehorsam gegen die
göttliche Wahrheit ein rationabile obsequium sei. Das aber
ist nur möglich, wenn irgend eine Erkenntnis dem Glauben
vorangeht. Man muß wissen, daß in der Kirchenlehre und
der christlichen Offenbarung überhaupt die göttliche Wahrheit
enthalten ist. In diesem Sinne spricht Augustinus dann die
Ergänzung zu dem soeben angeführten Grundsatz in Worten
wie diesen aus: Si igitur rationabile est, ut ad magna quaedam,
quae capi nondum possunt, fides praecedat rationem, procul
dubio quantulacumque ratio, quae hoc per suadet, etiam ipsa
autecedit fidem (Epist. 1 20, 3). Diese „Glaubensgründe"
können nach Augustinusteils persönlich-subjektive, teils historisch-
objektive sein, wie sie etwa in Wunder und Weissagungen
sowie der siegreichen Ausbreitung und inneren Einheit der
Kirche als Zeugen göttlicher Offenbarung enthalten sind. (De
utilitate credendi 34, 35). Eine besonders wichtige Bedeutung
mißt aber Augustinus unter diesen Gründen der „Autorität" zu.
Nichts ist bezeichnender für die innere Verfassung dieses
Mannes, der nach vielen Irrfahrten endlich die ersehnte Ruhe
und den gewünschten Frieden im Schöße der Kirche gefunden
hatte und darum allen Suchenden denselben Rettungsanker zu-
werfen wollte, als sein Bekenntnis: „Ich würde dem Evange-
lium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der
katholischen Kirche dazu bewöge" (In Joh. Ev. tract. 40, 9).
In immer neuen Tonarten preist er die Bedeutung der Autorität
für die sittliche und religiöse Erkenntnis - worüber man das
Nähere in J. Mausbachs Darstellung der Ethik Augustins (Bd. I,
S. 1 68 ff.) oder in Fr. Loofs Grundriß der Dogmengeschichte (4 A,
S. 369 ff.) finden kann. Hier sei vor allem erwähnt, wie energisch
Augustinus geradegegenüber den selbstherrlichen philosophischen
16 Augustinus
Spekulationen das Recht und die Bedeutung der kirchlichen Auto-
rität verficht. Ihr müßten sich um der Schwachen willen auch die
geistig Starken in Ehrfurcht nahen, zumal sie ja ohnehin leicht
ihre Selbständigkeit überschätzten — Gedanken, die bis auf
unsere Tage immer wieder zur Verteidigung der kirchlichen
Autorität angeführt werden mit dem beliebten Zitat: C'est la
mediocrite qui fait l'autorite — und in jedem Menschen stecke
nun einmal ein gutes Stück Durchschnitts-Menschentum, wie
auch beispielsweise Hermann Schell zu sagen pflegte. Man
begreift, daß Augustinus von seinen Voraussetzungen aus in
erster Linie die göttliche Offenbarung als autoritative Erkenntnis-
quelle würdigt. Freilich hat er auch manches Wort der An-
erkennung für die Leistungen der heidnischen Vernunft, die
„gleichsam aus den Bergwerken der göttlichen Vorsehung, die
überallhin sich ergossen hat, ausgegraben" habe. Wie er alle
irdische Tätigkeit, wofern sie nur auf Gott, den einen End-
zweck, bezogen wird, als sittlich wertvoll betrachtet und damit
wohl zum ersten Male die Idee einer christlichen Kultur
ausspricht, so billigt er auch an sich alles menschliche Wissen
von den Kräften der Natur, sofern deren Erforschung wenigstens
zugleich Aufklärung über Gott, die letzte Ursache alles Ge-
schaffenen, gibt. Aber er beeilt sich doch sogleich hinzuzu-
fügen, daß über alles menschliche Wissen der Glaube an
die göttliche Offenbarunggeht. Der Christ kennt auch ohne
Philosophie aus der heiligen Schrift Gott als den Schöpfer der
Welt und Spender der Gnade. Also schon hier bei Augustinus
zum wenigsten doch Ansätze zu einer „weltfremden" Abkehr
von der menschlichen Wissenschaft. Eine kulturfeindliche
Unterströmung, die sich durch das ganze Mittelalter hin-
durchzieht — übrigens bis in die Neuzeit hinein. Dabei mutet
es uns seltsam an, wenn wir Augustinus gelegentlich begeistert
fragen hören, welche Erörterungen und Schriften der Philo-
sophen, welche „Gesetze irgendwelcher Staaten" auch nur
annähernd den beiden Gesetzen der Liebe zu Gott und zum
Augustinus 17
Nächsten zu vergleichen seien. Enthielten doch diese Gesetze
nicht nur die wahre Moral, sondern auch die Grundwahrheit
der „Physik" - ein heutiger „Physiker" wird dies nicht ohne
einige Ueberraschung vernehmen — , daß nämlich Gott die letzte
Ursache aller Naturerscheinungen sei. (Es befremdet nicht,
wenn bei solcher ,, Physik" keine großen Entdeckungen gemacht
wurden.)
Die Grundtöne, die schon in dem christlichen Altertum
zur prinzipiellen Lösung des Problems von Glauben und
Wissen angeschlagen werden, klingen im christlichen Mittelalter
fort, wie ja überhaupt der Unterschied zwischen Pa-
tristik und Scholastik ein lediglich gradueller ist.
Natürlich wurde dieses Problem um so wichtiger, die An-
wendung des Prinzips um so schwieriger und gefahrvoller, je
mehr die Kirchenlehre feste Gestalt annahm, während' die Väter
vielfach erst durch ihre philosophische Spekulation die For-
mulierung des Dogmas bestimmten.
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter.
18 Scholastik
II. Die Scholastik.
Wenden wir uns nunmehr dem Hauptteile unserer Unter-
suchung zu, 1 so müssen wir mit
1. Johannes Scotus Eriugena
beginnen, der am Hofe Karls des Kahlen lehrte und etwa
877 starb.
Folgende Punkte sind für seine Stellung zu unserem
Gegenstande charakteristisch.
1. Eriugena unterwirft sich nicht bloß dem alten und
neuen Testamente — wie die Kirchenväter, die sich überdies
gegenseitig als gleichberechtigt ansehen, sondern prinzipiell
bereits, wie die Scholastik überhaupt, auch der Autorität der
Väter. Freilich nur solange, als letztere nicht mit Offenbarung
und Vernunft in Widerspruch stehen. (De div. nat. II, 16.)
Denn 2. betont er, das Verhältnis zwischen Vernunft und
Autorität sei ein derartiges, daß die „richtige" Vernunft (die recta
ratio) nicht der „wahren" Autorität (der vera autoritas) wider-
sprechen kann, da beide aus derselben Quelle, nämlich der
göttlichen Weisheit, stammen. ^
So begegnet uns gleich hier an seiner Schwelle eine für
die ganze mittelalterliche Philosophie typische Begründung
für die Behauptung, daß ein wirklicher Konflikt zwischen
Glauben und Wissen, also eine doppelte Wahrheit, ausgeschlossen
^ Vergl. zum folgenden die einschlägigen Abschnitte in Albert
Stöckis Geschichte d. Philos. d. Mittelalters, 3 Bde. Mainz 1864—66.
^ Vera enim auctoritas rectae rationi non obsistit neque recta
ratio verae auctoritati. Ambo siquidem ex uno fönte, divina videlicet
sapientia, manare dubium non est. De div. nat. I, 66.
Eriugena 19
sei. Sogar das beliebte Bild der gemeinsamen „Quelle", aus
der letzten Endes die Inhalte des Wissens wie des Glaubens
fließen, treffen wir bereits hier an. Dieses Bild ist nicht nur
der Ausdrucksweise des alten wie neuen Testamentes geläufig,
sondern es findet sich in etwas anderem Sinne ebenfalls
innerhalb des Neuplatonismus, zu dem Eriugena enge Fühlung
hatte. Uebersetzte er doch u. a. das Werk des einflußreichen
Neuplatonikers Dionysius Areopagite „De divinis nominibus"
ins Lateinische.
3. Die „wahre" Autorität aber ist keine andere als die
göttliche Offenbarung. Von ihr muß deshalb alle Vernunft-
forschung ausgehen. Menschliches Wissen kann fehl gehen;
allein die Autorität der „göttlichen Schrift" ist eine unerschütter-
liche. Die Theologen sind die heiligen Organe, durch die
Gott, dessen Natur unaussprechlich ist, sich offenbart. Es
wäre darum Anmaßung, von Gott in anderen Ausdrücken zu
reden als in den in der hl. Schrift niedergelegten.
Nicht beim Wissen, sondern beim Glauben beginnt unser
Heil.i
4. Aber die Vernunft ist darum nicht zu völliger Trägheit
verurteilt. Ihre Aufgabe ist es, den Sinn der biblischen Lehren,
und zwar aller, aufzudecken. Das der Vernunft zugewiesene
Arbeitsfeld sind die Offenbarungen Gottes. Philosophie und
Religion bezw. Theologie decken sich somit nach Umfang
wie Inhalt. Daraus folgt die Identität der „wahren" Phi-
losophie mit der „wahren" Religion. Ein Gedanke, der
nichts Geringeres bedeutet und fordert als die Auflösung aller
Glaubenslehren in Vernunftpostulate. Ja, Eriugena ist Ratio-
nalist genug, um in einem Kollisionsfalle, wenn die Autorität
* Ratiocinationis exordium ex divinis eloguiis assumendum esse
existimo. De div. nat. II, 15.
Inconcussa auctoritas divinae scripturae. 1. c. III, 17.
Salus nostra ex fide inchoat. De praed. I.
2*
20 Eriugena
mit der Vernunft in Widerstreit gerät, der letzteren den Vorzug
einzuräumen
1
Anderseits soll aber doch die Autorität der hl, Schrift
eine unbedingte, „unerschütterlich" feststehende sein. Die gleich-
zeitige Betonung der Rechte der Vernunft und damit die
Vermeidung einer Kollision weiß Eriugena durch eine weit-
gehende allegorische Interpretation der Offenbarungslehren zu
ermöglichen. Diese wenden sich, wie er hervorhebt, in Bildern
an das Auffassungsvermögen aller Menschen, wenn sie auch
ihrem tieferen Gehalte nach nur von den „Philosophen" erfaßt
werden. ^
Auch dieses Hilfsmittel allegorischer Betrachtungsweise
hat durchaus typischen Charakter. Erfreute es sich doch zu
allen Zeiten, bei den griechischen Philosophen nicht weniger
als bei den christlichen Theologen bis auf den heutigen Tag
mit seinen „Modernismus"- Streitigkeiten, nicht geringer Be-
liebtheit, wenn es galt, die Resultate des Wissens mit den
überlieferten Lehren des Glaubens auszusöhnen.
Mit erfreulicher Charakterfestigkeit hat sich gerade die
katholische Kirche stets gegen eine derartige, die Grenzsteine
verrückende Versöhnungs-Politik gerichtet. Bereits Eriugenas
^ Quid est aliud de philosophia tractare nisi verae religionis,
qua summa et principalis omnium rerum causa, Deus, et humiliter
colitur et rationabiliter investigatur, regulas exponere? Conficitur
inde, veram esse philosophiam veram religionem conversimque
veram religionem esse veram philosophiam. De praed. I, 1.
Omnis autoritas, quae vera ratione non approbatur, infirma
esse videtur ... Nil enim aliud mihi videtur esse vera auctoritas
nisi rationis virtute reperta veritas. De div. nat. I, 71; I, 63.
^ Sacrae siquidem scripturae in omnibus sequenda est auctori-
tas . . . Non tamen ita credendum ist, ut ipsa semper propriis
verborum seu nominum signis fruatur, divinam nobis naturam insinuans,
sed quibusdam similitudinibus variisque translatorum verborum seu
nominum modis utitur, infirmitati nostrae condescendens nostrosque
adhuc rüdes infantilesque sensus simplici doctrina erigens.
De div. nat. I, 64.
Petrus Damiani 21
Standpunkt, der den „übernatürlichen'", Geheimnis-Charakter
der biblischen Lehren nicht genügend wahrte, wurde von der
Kirche nicht anerkannt; sein Hauptwerk „De divisione naturae"
wurde von dem Pariser Provinzial-Konzil 1210 und von
Honorius 111. 1225 verworfen.
Das zehnte Jahrhundert ist beherrscht von dem durch
Eriugena angeregten Streite um Nominalismus und Realismus,
d. h. um die Frage, ob das Allgemeine sich bloß in unserem
Geiste als Produkt der Abstraktion vorfinde oder ob - und
wie - es etwa in der transsubjektiven Wirklichkeit existiere.
Diese sog. dialektischen Streitigkeiten wurden auch für theo-
logische Fragen bedeutsam - vor allem durch den Nomina-
listen Roscelli n, der aus seiner nominalistischen Voraus-
setzung, nur das Individuelle existiere, das Allgemeine dagegen
sei lediglich ein flatum vocis (wie seine Gegner sagten), den
dem kirchlichen Dogma der Trinität widerstreitenden Schluß
zog: also kann sich in der Gottheit nicht eine (allgemeine)
Wesenheit in drei (besonderen) Personen finden, sondern man
muß von „drei Göttern" (Tritheismus) reden, d. h. von drei
göttlichen Wesen, die zwar alle an Macht gleich sind.
Gegen solche Dialektik, also gegen die Ansprüche eines
kühnen Wissens, erhoben im 10. und 11. Jahrhundert manche
Männer ihre warnende Stimme und forderten im Namen des
Glaubens, man solle nicht die Pfade der hl. Väter und der
Offenbarung verlassen. Zu ihnen zählte u. a. Gerberts,
des späteren Papstes Sylvester 11. Schüler, der Bischof Fulbert;
ferner ein berühmter Bußprediger, dessen Erwähnung gerade
für unsern Zweck nicht unterbleiben darf. Gemeint ist Petrus
Damiani, der in seiner Geringschätzung des menschlichen
Erkennens bis zu der Behauptung ging, auf Gott finde das
Prinzip des Widerspruches keine Anwendung, weshalb Gott
— man beachte diese erkenntnistheoretisch interessante Kon-
sequenz ~ sogar Geschehenes ungeschehen machen könne.
Außerdem aber gehört gerade Petrus Damiani in unseren
22 Berengar von Tours
Zusammenhang, weil er, wie es scheint, zum ersten Male
die heute uns geläufige Wendung gebraucht, die Vernunft
stehe zur Offenbarung in einem „Magdverhältnisse", die
Philosophie sei die Dienerin der Theologie, Philosophia
ancilla Theologiae!^
Wie sehr in jener Zeit das dialektisch gestimmte Wissen
in das Gebiet des Glaubens einzudringen suchte, mag auch
noch durch die folgenden Angaben beleuchtet werden. Ein
bedeutender Schüler des genannten antidialektischen Fulbert
war der Dialektiker Berengar von Tours (999 — 1088).
Er wandte die Dialektik gegen das Dogma der Transsub-
stantiation, indem er, ausgehend von seinem nominalistischen
Substanzbegriff — man sieht auch hierbei wiederum den Ein-
fluss der Erkenntnistheorie auf die kritische Zersetzung theo-
logischer Lehren - die Aenderung der Substanz ohne
Aenderung der Accidentien, d. h. der sinnlich wahrnehmbaren
Eigenschaften des Brotes und Weines, für vernunftwidrig hielt.
Da sich gerade Berengar an das Eriugena zugeschriebene
Buch „De eucharistia" angelehnt hatte, kam der Name Eriugenas
noch mehr in Verruf bei den Vertretern der Kirchenlehre.
Die Synode zu Vercelli (1050) verurteilte das genannte Werk
und verbot die Lektüre der Schriften Eriugenas überhaupt —
ein „Index"-Bekämpfungsmittel, das ja in der Geschichte der
Kirche bis heute zur Ausrottung der Ansprüche des Wissens
immer wieder zur Anwendung kam.
^ Vgl. J. A. Endres, Petrus Damiani und die weltliche Wissen-
schaft (Beiträge z. Gesch. d. Philos. d. Mittelalters Bd. VIII, 3). Quae
tarnen artis humanae peritia siquando tractandis sacris eloguiis adhibetur,
non debet ius magisterii sibimet arroganter accipere, sed velut an-
cilla dominae quodam famulatus obsequio subservire, ne si praecedit,
aberret. Opera, ed. Cajetan, Par. 1743, III S. 312.
- Berengar ist der erste offene Leugner der Transsubstantiation.
Vgl. Gerhard Rauschen, Eucharistie und Bußsakrament in den ersten
sechs Jahrhunderten der Kirche, Freiburg 1908, S. 23.
Anseimus 23
Endlich sei noch Berengars Gegner erwähnt, der spätere
Erzbischof von Canterbury Lanfranc (1005 — 1089), der das
Dogma als göttliche Offenbarung verteidigt. Lanfrancs Schüler
ist nun der berühmte Gegner des Roscellin und Erzbischof
von Canterbury Anselm, der gerade in der Geschichte unseres
Problems eine hervorragende Stelle einnimmt.
2. Anseimus. (1033-1109).i
Dasberühmte Wort: Credo ut intelligam geht in dieser
Fassung — wenn wir es auch in ganz ähnlicher bereits bei
Augustinus fanden — auf Anselm zurück und lautet vollständig:
Neque enim quaero intelligere, ut credam; sed credo, ut in-
telligam. (Proslogium c I.)-
In diesem Grundsatze der norma coelitus hausta, wie
ihn die kirchliche Lektion am Festtage des hl. Anselm nennt,
scheinen dem Wissen alle Rechte zugunsten des Glaubens
genommen. Aber eben nur scheinbar. In Wahrheit weist Anselm
der Vernunft eine doppelte Aufgabe zu.
Doch fragen wir zunächst, in welcher Hinsicht er das
Wissen und Erkennen nicht als Bedingung des Glaubens be-
trachtet, so ist zu erwidern: Bevor der Christ die Inhalte
der göttlichen Offenbarung gläubig annimmt, braucht er sie
nicht mit seiner Vernunft begriffen zu haben. Es ist keine
Einsicht in die innere Wahrheit, in das „Wie" der Geheimnisse,
^ Vgl. Philos. Jhrb., Bd. 19, 2. u. 3. Heft.
- Rectus ordo exigit, ut profunda Christianae fidei credamus,
priusquam ea praesumamus ratione discutere. Cur deus homo I, C. 1.
Christianus per fidem debet ad intellectum proficere, non per
intellectum ad fidem accedere aut si intelligere non valet, a fide
recedere. Ep. II ep. 41.
Man sieht sogleich die Uebereinstimmung mit dem Augustinus-
wort: credimus ut cognoscamus, non cognoscimus, ut credamus. (Vgl.
oben S. 14.) In Job. Ev. tract. 40, 9.
24 Anseimus
erforderlich als conditio sine qua non des Glaubens. ^ Man
braucht nicht (modern geredet, ohne dem Gedankengange
Anselms Gewalt anzutun) zu wissen und einzusehen, wie etwa
die Trinität oder die Verwandlung des Brotes und Weines
möglich ist, um an ihre Tatsächlichkeit zu glauben. Gerade
in diesem Sinne, d. h. in bezug auf die Einsicht in die innere
Möglichkeit der Dogmen ist jener oft mißverstandene Satz zu
interpretieren: Non quaero intelligere, ut credam.
Aber dieser Satz selbst gibt die gesamte Auffassung An-
selms nur halb wieder; denn er setzt bereits die Ueberzeugung
von der Wirklichkeit einer göttlichen Offenbarung voraus.
Wie aber wird man dieser Wirklichkeit nach Anselm
gewiß? Etwa wiederum durch bloßen Glauben? Keineswegs;
sondern eben durch Wissen! Die schon vorhin angedeutete
Aufgabe der Vernunft ist nämlich eine doppelte.
Erstens besteht sie darin, die Tatsache der Offenbarung
festzustellen — daß also, konkret gesprochen, Christus, als Sohn
des wahrhaftigen Gottes, der weder lügen noch betrügen kann,
eine Fülle von Lehren verkündet und an sie zu glauben be-
fohlen hat. So gilt also vor dem Glauben geradezu der um-
gekehrte Satz: intellige, ut credas! Suche die Tatsache der
Offenbarung zu erkennen, um durch dieses Wissen zu dem
Glauben an deren Inhalte zu gelangen !
Und selbst nach gläubiger Annahme der Offenbarungs-
lehren wird die Vernunft von Anselm noch zur Betätigung
aufgerufen. Sie soll nämlich zweitens die Dogmen spekulativ
zu erfassen suchen. Schon zu dem Zwecke, um die Vernunft-
einwände der Gegner zu widerlegen; aber auch deshalb, weil die
Erkenntnis über dem bloßen Glauben steht. Von diesem
Rechte der Vernunft keinen Gebrauch zu machen, scheint
^ Sufficere namque debere existimo rem incomprehensibilem inda-
ganti, si ad hoc ratiocinando pervenerit, ut eam certissime esse
cognoscat; etiamsi penetrare nequeat intellectus, quo modo ita sit.
Monol. c 64.
Anseimus 25
Anselm geradezu ein Zeichen von Pflichtvergessenheit zu sein.i
Er selbst hat, seinem Prinzip getreu, vor das in den beiden
inhaltsschweren Worten enthaltene Dogma Deus-homo ein cur
gesetzt und in der gleichlautenden berühmten Schrift aus „bloßer
Vernunft" die Notwendigkeit zu begründen versucht, daß Gott
selbst Mensch wurde, um die sündige Menschheit zu erlösen.
Ein Versuch übrigens, dessen Scheindialektik leicht aufzudecken
ist. Denn warum sollte - um nur dies hervorzuheben - der
endliche Mensch zwar unendliche, nur durch die Mensch-
werdung des unendlichen Gottes tilgbare Schuld auf sich zu
laden, nicht aber auch aus eigener Kraft entsprechende Sühne zu
leisten vermögen? Von einer Denknotwendigkeit ist hierbei
wahrlich nichts zu entdecken. Der Mystiker Bernhard von
Clairvaux erkannte dies mit schärferem Blick, wenn er die
'rationalistischen Bemühungen Anselms abweisend sich in de-
mütigem Glauben vor der Tatsache der Menschwerdung Gottes
beugte und so ein angebliches Wissen und Begreifen entlarvte,
um dem einfältigen Glauben sein Recht zu lassen.'
Freilich beeilt sich Anselm nun sogleich hinzuzufügen,
daß jener Versuch einer innerlichen Begründung nicht bei allen
Dogmen möglich sei. So widerstrebe z. B. das Geheimnis der
Trinität einer apriorischen Vernunftkonstruktion, wie er in einer
besonderen Schrift über die Trinität ausführt. Demnach schützt
er das Glaubensgebiet vor einer restlosen rationalistischen Auf-
lösung und sichert in diesem Sinne dem Glauben den Primat
gegenüber dem Wissen. Die Vernunft bleibt, anders gewendet,
dem Dogma, die Philosophie der Theologie untergeordnet.
Wo immer eine angebliche Erkenntnis mit der hl. Schrift und
* Negligentiae mihi esse videtur, si postquam confirmati
sumus in fide, non studemus, quod credimus intelLigere.
cur deus homo I, c 2.
■^ Vgl. R. Seeberg, Die Versöhnungslehre des Anseimus und die
Bekämpfung derselben durch den hl. Bernhard. (Mitteilungen u.
Nachrichten f. d. evang. Kirche in Rußland, 1888.)
26 Anseimus
der inhaltlich mit ihr identischen Kirchenlehre in Widerspruch
gerät, ist sie dadurch ohne weiteres als eine nur scheinbare
Erkenntnis erwiesen. Ein Grundsatz, der seitdem bis in die
Kämpfe der Gegenwart hinein von der katholischen Theologie
festgehalten wurde. ^
Es sei zum Schlüsse noch ein Wort Anselms mitgeteilt,
das seinen Glauben an die kirchliche Autorität zu energischem
Ausdruck bringt. «Kein katholischer Christ — verkündet er
mit fühlbarer innerer Wärme — darf etwas, was die katho-
lische Kirche im Herzen glaubt und mit dem Munde bekennt,
in Frage stellen, sondern an diesem Glauben unzweifelhaft
festhaltend, diesen Glauben liebend und nach demselben lebend,
forsche er in Demut, soweit er es vermag, nach den Gründen
für seinen Glauben. Kann er es zur Einsicht in demselben
bringen, so sei er Gott dankbar, kann er es nicht, so renne
er nicht dagegen an, sondern beuge sein Haupt und bete an.
Denn eher wird die menschliche Weisheit an diesen Felsen selbst
anrennen, als ihn umrennen.« (Vgl. De fide Trin. c. I u. II.)-
Werfen wir einen Rückblick auf die Stellung Anselms zu
unserem Problem, so kann uns leicht die Ahnung beschleichen,
ob nicht die von ihm so nachdrücklich angefeuerte Vernunft
mit ihrer kühnen Frage Cur deus homo — die gleich bis
ins Herz der christlichen Weltanschauung drang — leicht die
ihr von Anselm gesteckten Grenzen zu überschreiten versucht
sein konnte. Wie, wenn sie trotzig ein Nein dem Dogma
entgegenschleuderte, wenn es in ihre Formen sich nicht fügen
wollte? Noch stand für Anselm — und die kommenden
Denker des Mittelalters teilten seine Ueberzeugung — die
Tatsache der Offenbarung mit unerschütterlicher Gewißheit
^ Certus enim sum, si quid dico, quod sacrae scripturae absque
dubio contradicat, quia falsum est, nee illud teuere volo, si cognovero.
Cur deus homo 1, c 38.
^ Cum ad intellectum valet (sc. christianus) pertingere, delectatur ;
cum vero nequit, quod capere non potest, veneratur. Ep. C. 2, ep. 41.
Abaelard 27
fest. Ein vor allem durch Wunder und Weissagungen ge-
stütztes Wissen schien dem Glauben eine unantastbare Grund-
lage zu bieten. Aber die von Anselm so energisch zur
Betätigung aufgerufene Vernunft mußte sich mit innerer Logik
schließlich auch den historischen und philosophischen Voraus-
setzungen des Dogmas, d. h. den angeblichen Offenbarungs-
Tatsachen immer kritischer gegenüberstellen. So kam es all-
mählich zu der religionsgeschichtlich orientierten kritischen
Theologie unserer Tage, d. h. zu der Leugnung der Beweis-
kraft der von den mittelalterlichen Theologen und ihren bis
heute fortlebenden Nachfolgern für die Tatsache einer sog.
übernatürlichen Offenbarung angeführten Argumente.
Schon ein Zeitgenosse Anselms gibt dessen semirationa-
listischem Grundprinzip ein extrem rationalistisches Gepräge,
das wir nunmehr ins Auge fassen wollen.
3. Abaelard (1079—1142).
Dieser in mancher Hinsicht, vor allem in seiner Ethik,
modern anmutende Denker setzt die Methode Anselms, durch
Anwendung der Dialektik auf die Glaubenslehren vom Glauben
zum Wissen aufzusteigen, fort und ergänzt sie zu der für den
späteren scholastischen Lehrbetrieb charakteristischen Methode
des Sic et Non: die für und wider eine These sprechenden
Autoritäten werden zunächst aufgeführt, um in der Solutio
die wirklichen oder scheinbaren Widersprüche aufzulösen und
dabei etwa zu einer vermittelnden Ansicht zu gelangen. «Diese
Abaelardsche Methode wurde die Grundlage für die Art und
Weise der Quaestionen und Disputationen der späteren Epoche
auf theologischem, philosophischem, kanonistischem und zivil-
rechtlichem Gebiete", um mit H. Denifle, dem um die mittel-
alterliche Philosophie hochverdienten Forscher, zu reden. ^
1 Vgl. Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittel-
alters. Bd. I, S. 620.
28 Abaelard
Während Anselm die spekulative Erfassung der Dogmen
nicht als Bedingung des Glaubens, sondern nur als dessen
wünschenswerten und nach Kräften zu erstrebenden Abschluß
betrachtet hatte, erkennt Abaelard — wenigstens an manchen
Stellen — überhaupt keine schlechthin übervernünftigen Ge-
heimnisse an. Solche, unserem Verständnis völlig entzogene
Offenbarungen zu geben, würde, wie er meint, ein völlig
zweckloses Tun von selten Gottes bedeuten. (Wie wenig
solcher Meinung etwa Thomas und Scotus beistimmen, werden wir
später erfahren.) Stellenweise bezeichnet er es allerdings - ob
nicht vielleicht im Gegensatze zu früheren oder späteren
Aeußerungen, bleibe hier dahingestellt — als Anmaßung, alle
Geheimnisse begreifen zu wollen.
Im allgemeinen aber redet er von der Verpflichtung der
Vernunft, den Inhalt der angeblichen göttlichen Offenbarung
auf seine Glaubwürdigkeit zu prüfen, die erst dann gesichert
ist, wenn die betreffenden Lehren mit der Vernunft begriffen
sind. ^ Nur so entgeht man der Gefahr der Leichtgläubigkeit,
vor der die Bibel warnt: Wer schnell glaubt, ist leichtsinnigen
Herzens! (Introd. ad theolog. II, c 3).
Auch auf die Trinität wendet Abaelard sein rationalistisches
Prinzip an und glaubt dazu um so eher berechtigt, als schon
Piaton dieses Dogma erkannt habe: die eine Idee des Guten,
die übrigen Ideen und die Weltseele entsprechen den drei
göttlichen Personen. Eine Konstruktion, bezüglich derer Abae-
lard mit Recht von Bernhard von Clairvaux angegriffen wurde.
Die Selbständigkeit ferner, mit der Abaelard das Urteil
der Vernunft nicht nur über die Autorität der Väter stellte —
die man doch nicht mit den Aposteln verwechseln dürfe — ,
sondern auch ganz und gar rationalistisch über die Glaub-
würdigkeit des Offenbarungsinhaltes entscheiden ließ, hatte
schließlich zur Folge, daß sein Hauptwerk Theologia — es
^ Nee quia Deus id dixerat, creditur, sed quia hoc sie esse con-
vincitur (se. resurrectionem futuram), aecipitur. Introd.ad.theol.II,e3.
Alanus ab insulis 29
handelt de fide, de sacramente und de caritate - von dem
Konzil zu Sens 1141 verurteilt wurde.
In der Tat bedeutet der Versuch, alle Dogmen in Ver-
nunftspostulate aufzulösen, die Leugnung des übernatürlichen
Charakters der Kirchenlehre. Die Verurteilung Abaelards war
deshalb eine einfache Konsequenz aus der kirchlichen Voraus-
setzung des übernatürlichen und teilweise übervernünftigen
Offenbarungscharakters der christlichen Religion.
Unter dem Einfluß der Schrift Abaelards Sic et non
schrieb Petrus Lombardus (tll64 als Bischof von Paris)
seine quattuor libri sententiarum, die im Mittelalter eine Haupt-
autorität in theologisch-philosophischen Fragen bildeten und
vielfach in den sog. Sentenzen-Kommentaren erläutert wurden.
In ähnlicher Weise stellte Alanus ab insulis die Re-
sultate der christlichen Tradition in einem Sammelwerke de
arte fidei catholicae zusammen, zum Zwecke der Verteidigung
der Kirchenlehre durch Vernunftgründe, und zwar mit Hilfe
einer an Spinoza erinnernden deduktiven Methode. Bemerkt
sei auch, daß für Alanus im 12. Jahrhundert Piaton noch
,;der Philosoph" ist. ^
Diese Versuche der Dialektik, im Namen des Wissens das
Recht des Glaubens zu schützen, gewannen nun erhöhte Be-
deutung, seitdem gegen Ende des 12. Jahrhunderts durch
Vermittlung der Araber dem Abendlande auch die metaphy-
sischen, physischen und ethischen Schriften des Aristoteles
bekannt wurden, während es bis dahin nur dessen logische
Schriften sowie die eloaycoyr] elg rag ^ ÄQioroxekovg Karrjyogiag
des Porphyrius in der lateinischen Uebersetzung des Boethius
gekannt hatte.
Als Physiker und Metaphysiker wurde Aristoteles von der
kirchlichen Behörde nicht mit derselben Freundlichkeit
^ Vgl. M. Baumgartner: Die Philosophie des Alanus de Insulis
im Zusammenhang mit den Anschauungen des 12. Jahrh. dargestellt.
(Beiträge z. Gesch. d. Mitt., B. II, 4.)
30 Alexander von Haies
empfangen, mit der er als Logiker bis dahin behandelt
war. Die Pariser Synode (1210) und der päpstliche Legat
Robert de Courcon (1215) verboten die Aufnahme der aristo-
telischen Metaphysik und Naturphilosophie in den Lehrplan
der inzwischen gegründeten Pariser Universität; — während
die aristotelische Ethik nicht verboten wurde, obschon sie es
ihres rein diesseitigen, „naturalistischen" Charakters wegen vom
kirchlichen Standpunkte aus nicht minder verdient hätte.
Aber bereits 1254 zählte die aristotelische Metaphysik
und Physik zu den offiziellen Unterrichtsgegenständen
der facultas artium. Albertus Magnus durfte kurze Zeit
darauf schreiben, die Natur habe in Aristoteles die höchste
Vollendung des menschlichen Geistes, mithin gleichsam eine
Regel der Wahrheit aufgestellt. Und der dem gleichen Jahr-
hundert angehörige Roger Bacon (1214-1294), den man
den größten Naturforscher des Mittelalters genannt hat, schloß
sich diesem Urteile durchaus an, wenn er „dem Philosophen" —
wie Aristoteles seit jener Zeit schlechtweg genannt wird —
für das Gebiet des Wissens denselben Ehrenplatz anweist,
den Paulus für den Glauben beanspruche. ^
Zu den aristotelischen Schriften gesellten sich ferner die
arabischen Kommentare eines Alkendi, Alfarabi, Avicenna,
Averroes, ferner die Schriften der jüdischen Scholastiker
Avencebrol, Ibn Gebirol und vor allem Maimonides, der be-
sonders auf Thomas von Aquino wirkte.
Alexander von Haies (f 1245) ist der erste mittel-
alterliche Kenner des ganzen Aristoteles und benuzte als solcher
^ Roger Bacon schreibt: Hunc {sc. Aristotelem) natura formavit,
ut dicit Averroes in III de anima, ut ultimam perfectionem hominis
inveniret. Hie omnium philosophorum magnorum testimonio praefertur
philosophis et philosophiae adscribendum est id, quod ipse affirmavlt,
unde nunc temporis autonomatice philosophus nominatur in auctoritate
philosophiae sicut Paulus in doctrina sapientiae sacrae.
Op. malus II, c 8.
Dominikaner und Franciskaner 31
zum ersten Male das gesamte Rüstzeug des griechischen
Denkers zur Verteidigung des Glaubens, indem er unter
diesem Einflüsse die erste große Summa Theologiae ver-
faiSte. Sie bedeutet den Versuch einer logischen Begründung der
Kirchenlehre mit Hilfe der syllogistischen Methode. Indes bietet
Alexander von Haies keine neuen prinzipiellen Gesichtspunkte
für unser Problem, so wenig wie etwa Vincenz von Beauvais.
Bevor wir indes zu dem für unsern Zweck wichtigen
Albertus Magnus übergehen, müssen wir noch ein drittes
Ereignis erwähnen, das neben der Rezeption des Aristotelis-
mus und dem Bekanntwerden des Abendlandes mit den arabi-
schen Kommentatoren für das geistige Leben des Mittelalters
bedeutsam wurde. Es ist die Gründung des Dominikaner-
und Franciskanerordens. Die verschiedene psycho-
logische Struktur ihrer Stifter hat beiden Orden von vorne-
herein ein verschiedenes Gepräge gegeben, das auch für die
Geschichte unseres Problems keineswegs nebensächlich ist.
Ist auch das Ziel beider dasselbe, ein Leben im Geiste des
Evangeliums, so doch die Methode verschieden. Kurz und
treffend hat man gesagt: »Dominikus wählte den Weg durch
den Verstand, Franziskus durch das Herz." Die Devise der
Dominikaner sei zu wirken : verbo et exemplo, die der
Franciskaner dagegen: plus exemplo quam verbo.
Mit der Vorsicht, mit der man in solchem Falle all-
gemeine Bezeichungen verwenden darf, könnte man sagen : der
Dominikanerorden trage von Hause aus einen mehr intellektua-
listischen Charakter, während der Franciskanerorden mehr
voluntaristisch gerichtet sei. Aber auch unter den Söhnen
des Dominikus fanden sich allen Vernunft-Grübeleien ab-
geneigte Mystiker, wie unter den Nachfolgern des armen
Franz von Assisi sich viele fanden und noch immer finden,
die das Wissen zu fördern trachten.
Immerhin ist es kein Zufall, daß gerade aus den Reihen
der Franciskaner Männer erstanden, die dem menschlichen
32 Albertus Magnus
Wissen ein weit geringeres Vertrauen schenkten und darum
von dem Glauben weit mehr Aufschlüsse erwarteten als etwa
die Dominikaner Albertus und Thomas. Man spricht deshalb
wohl von einer „skeptischen Tendenz" des Franciskanerordens.
Mit welcher Berechtigung, wird im folgenden deutlich werden.
Nunmehr zu jenem Doctor universalis, wie man ihn ge-
nannt hat, der die erste systematische Bearbeitung der aristo-
telischen Schriften im Anschluß an die arabischen Kommen-
tatoren gibt.
4. Albertus Magnus (1193-1280).
In der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Theologie
und Philosophie läßt Albertus das rationalistische Prinzip
Abaelards nicht gelten ; vielmehr stimmt er dem anseimischen
Grundsatze: Credo ut intelligam zu, und zwar in jener uns
bereits durch Anseimus geläufigen Interpretation, daß nicht
alle Offenbarungslehren nachträglich durch die Vernunft be-
gründet werden können, wie z. B. nicht das Dogma der
Trinität und der Auferstehung des Fleisches. Und vollends
der durch Eriugena im Anschlüsse an Augustinus voll-
zogenen Identifizierung der wahren Religion mit der wahren
Philosophie hält Albertus die Auffassung entgegen, es gebe
Gegenstände des Glaubens, die der Vernunft durchaus un-
zugänglich seien, d. h. schlechthin nur durch göttliche Offen-
barung mit Hilfe des aus ihr stammenden „übernatürlichen
Lichtes" gefunden werden könnten.
Die Offenbarung bildet nun die Erkenntnisquelle der
Theologie, während die Vernunft und die Erfahrung, wie gerade
Albertus betont, das ausschließliche Erkenntnisprinzip der Phi-
losophie darstellt. Theologie und Philosophie sind darum
getrennte Gebiete, zwischen denen kein ,,Uebergriff"
— wie der moderne Ausdruck lautet — stattfinden soll.
Sind demnach theologische Sätze Gegenstände des
Glaubens, so heißt das: sie können erstens nicht, wie die
Albertus Magnus 33
philosophischen, aus bloßer Vernunft bewiesen werden. Oleich-
wohl versucht freilich auch die Theologie Vernunftgründe für
die Glaubenssätze beizubringen, damit diese „besser erkannt"
werden, zugleich glaubwürdiger erscheinen und endlich den
Ungläubigen gegenüber besser verteidigt werden können. ^
Der Zweck der Theologie ist dabei stets ein ethisch-
praktischer, die Beförderung des ewigen Heiles der Menschen,
die Hebung der Frömmigkeit, und unterscheidet sich auch
dadurch zweitens wesentlich von der Philosophie, deren
Ziel die Vermehrung des Wissens, nicht die religiöse Er-
bauung und sittliche Hebung des Menschen ist, '
Was aber drittens den Gewißheitsgrad betrifft, so ist
dieser bei der unmittelbar auf göttlicher Offenbarung, auf
„Inspiration", auf dem „übernatürlichen Lichte des Glaubens"
beruhenden Theologie ungleich größer als bei der „bloß
menschlichen" Wissenschaft, die sich lediglich des natürlichen
Lichtes der Vernunft bedient. ^
^ Licet fidei innitatur (sc. theologia) ut principio, tarnen fides ipsa
ex posterioribus credit! quaerit intellectum et rationem.
S. theol. I tr. 19, 5 m. 3.
Bene tres rationes assignaverunt (sc. antiqui) propter quas bonum
est quaerere rationes credendorum. Una est, ut melius cognoscatur
creditum. . . . Melius eniin cognoscitur, quod duabus viis cognoscitur
quam quod cognoscitur fide sola. Secunda est propter inductionem
simplicium ad fidem : qui facilius inducuntur per rationem persuasivam.
Tertia est propter contradictionem infidelium convincendam.
S. th. I tr. 3, 15 m. 3 art. 2.
- Theologia scientia est secundum pietatem: hoc est non est de
scibili simplicitur ut scibile est, nee de omni scibili, sed secundum
quod est inclinans ad pietatem. ... Et hoc modo theologia scientia
est de his, quae at salutem pertinent; pietas enim conducit ad salutem.
S. theol. I tr. 1, 2.
^ lUud quod scitur ex primo verius scitur quam id quod scitur
ex aliquo secundorum, sed quod scitur per inspirationem, scitur
ex primo: ergo verius scitur quam ex aliqua alia causa.
Comm. in Math. p. V.
Noster intellectus perficitur luminibus et elevatur: et ex lumine
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 3
34 Albertus Magnus
Aber auch das letztere stammt aus göttlicher Quelle und
vermittelt deshalb eine „natürliche Offenbarung". Es kann
also viertens prinzipiell kein Widerspruch zwischen Philo-
sophie und Theologie bestehen, da beide ihren Ursprung in
Gott haben, der als unendliche Wahrheit und Wahrhaftigkeit
sich nicht selbst widersprechen kann. —
Eine Konstruktion, so können wir schon jetzt zu dieser
Zwei-Quellen-Theorie kritisch bemerken, die formal-logisch
durchaus unanfechtbar ist, die aber hinsichtlich ihres realen
Erkenntniswertes steht und fällt mit der Voraussetzung, daß
im Laufe der Geschichte einmal eine unmittelbare, „über-
natürliche" Offenbarung auf Grund einer „Inspiration" bezw.
in Christus, dem „Sohne Gottes", stattgefunden hat.
Außerdem aber ist die prinzipielle Leugnung eines Gegen-
satzes zwischen theologischer und philosophischer Wahrheit
auch insofern zunächst nur von formeller Bedeutung, als
es in concreto einmal sehr umstritten sein kann, wo eine
solche „Inspiration" vorliegt — das Mittelalter löst diese
Kanon-Frage letzten Endes durch die schon damals faktisch
anerkannte, wenn auch noch nicht prinzipiell dogmatisch for-
mulierte Unfehlbarkeit der kirchlichen Lehrentscheidung — und
weil es anderseits in concreto nicht minder umstritten sein
kann, ob irgend ein Satz wirklich eine philosophische Wahr-
heit, d. h. ein allgemein gültiges Urteil darstellt.
In jedem Falle verdient Albertus besondere Beachtung
durch die nachdrückliche Betonung, Philosophie und Theologie
seien verschiedene Gebiete mit verschiedenen Erkenntnisprinzi-
pien. Woraus er die wichtige Konsequenz zieht, theologische
Sätze müßten theologisch, d. h. unter Berufung auf die gött-
quidem connaturali non elevatur ad scientiam Trinitatis et incarnationis
et resurrectionis. Ex lumine autem fluente a superiori natura ad super-
mundana elevatur, quae potentia sola divina et voluntate sunt. Et bis
lumine desuper fluente assentit et certius ea seit quam ea, quae ex
lumine sibi connaturali accipit. S. theol. I tr. 1, 1.
Thomas v. Aquino 35
liehe Offenbarung, philosophische Sätze dagegen philosophisch,
d. h. durch Vernunft und Erfahrung, begründet werden, deren
Wert gerade er, der für seine Zeit bedeutende und eifrige
Naturforscher, hervorhebt.
Das Erbe Albertus' tritt wie überhaupt, so auch speziell
für unser Problem, dessen großer Schüler an, der „Fürst der
Scholastiker", der „Meister aller Wissenden", wie Dante ihn
nennt:
5. Thomas v. Aquino (f 1274).
Die uns beschäftigende Frage erörtert Thomas unter
Hinzuziehung eines aus der arabischen Scholastik stammenden
Prinzips der sog. doppelten Wahrheit. ^ Wenn auch neuere
Untersuchungen ergeben, daß Averroes keineswegs in dem
ihm von Thomas unterlegten und später etwa durch Petrus
Pomponatius berüchtigt gewordenen Sinne, vielmehr dem
Grundgedanken nach genau wie die christliche Scholastik
dieses Prinzip vertreten hat, so liegt letzteres doch in seiner
angeblich averroistischen Fassung gleichsam als Gegenstand
der thomistischen Lösung unserer Frage zugrunde.
In folgenden Punkten bringt Thomas seine Stellung zu
jenem Prinzip zum Ausdruck.
1. Absolut genommen, gibt es keine doppelte Wahr-
heit. Gott ist die Eine Wahrheit. Folglich ist prin-
zipiell kein Widerspruch zwischen Philosophie und
Theologie möglich, da sie eben beide von Gott,
dem Wahrhaftigen, stammen.'-
^ Vgl. Max Maywald: Die Lehre von der zweifachen Wahrheit,
ein Versuch der Trennung von Theologie und Philosophie im
Mittelalter, ein Beitrag zur Geschichte der scholastischen Philosophie.
Berlin 1871. L. Gauthier, la Theorie d'Ibn Rochd (Averroes) sur les
rapports de la Religion et de la Philosophie, Paris 1909.
- Illud quod inducitur in animam discipuli a docente, doctoris
scientia continet nisi doceat ficte; quod de Deo nefas est dicere.
Principiorumautem naturaliternotorumcognitionobisdivinitusestindita,
cum ipse Deus sit, auctor nostrae naturae. Haec ergo principia
3*
36 Thomas v. Aquino
2, Wohl aber gibt es in relativem Sinne eine doppelte
Wahrheit, nämlich insofern eben die Eine Wahrheit
objektiv in doppelter Weise dem erkennenden Subjekte
vermittelt sein kann, nämlich
a) durch Offenbarung, und zwar entweder als »ver-
nünftige", d. h. an sich auch der menschlichen
Vernunft zugängliche, oder als «übervernünftige«
Wahrheit, d. h. als Geheimnis,
b) durch die Vernunft.
Demnach sind die auf Offenbarung beruhende Theologie
und die der natürlichen Vernunftbetätigung entspringende
Philosophie die beiden objektiv verschiedenen Wege, auf
denen die Eine Wahrheit zu uns kommt. ^
Man könnte die naheliegende Frage erheben, warum nicht
der eine Weg genügt. Thomas ist bereits eifrig bemüht,
diese Schwierigkeit zu lösen. Er sucht den Zweck einer
solchen, im relativen Sinne, doppelten Wahrheit zu ergründen,
d. h. die Frage zu beantworten, ob und warum überhaupt
eine Offenbarung notwendig war.
etiam divinaSapientia continet. Quidquid igitur principiis hujus-
modi contrarium est, est divinae sapientiae contrarium ; non igitur a Deo
esse potest. Ea igitur, quae ex revelatione divina per fidem
tenentur, non possunt naturali cognitioni esse contraria.
De Trin. 2. art. 3.
^ Dico autem Duplicem veritatem divinorum non ex parte
ipsius Dei qui est una et simplexVeritas, sed ex parte cognitionis
nostrae, quae ad divina cognoscenda diversimode se habet.
Contra Gent. I, c 9.
Est autem in his, quae de Deo confitemur duplex veritatis
modus. Quaedam namque vero sunt de Deo, quae omnem facultatem
humanae rationis excedunt, ut Deum trinum esse et unum. Quaedam
vero sunt, ad quae etiam ratio naturalis pertingere potest, sicut est
Deum esse, Deum esse unum et alia hujusmodi, quae etiam phi-
losophi demonstrative de Deo probaverunt, ducti naturalis
lumine rationis. c. Gent. I, c 3.
Ferner: de ver. 14. Sent. lib. III, dist. 24, 1. art. 3.
Thomas v. Aquino 37
Als allgemeinsten Qrund für die (moralische) Notwendig-
keit — man beachte, nicht für die bloße Nützlichkeit — der
Offenbarung vernehmen wir: Nur wenige Menschen sind im-
stande, über die höchsten Probleme des Daseins nachzu-
denken, geschweige sie zu lösen. Mangel an Zeit, Begabung
und Lust verhindern es. Und selbst die Wenigen, die sich
damit zu beschäftigen vermögen, sind nicht vor Irrtum ge-
schützt, beginnen immer wieder an ihren Resultaten zu zweifeln
und sind überdies untereinander so uneinig, daß sie den
übrigen nur schlechte Führerdienste leisten können. ^
Und doch ist die absolute subjektive Gewißheit und ob-
jektive Wahrheit in den höchsten Fragen ein dringendes Be-
dürfnis. Nur die göttliche Offenbarung ist ein zuverlässiger
Retter in dieser intellektuellen Not. —
Man beachte, wie rasch dieses Argument, den Wunsch
zum Vater des Gedankens machend, über die Frage hinweg-
springt, ob es nicht vielleicht das Los des Menschengeistes
ist, sich in den »höchsten Fragen" mit einigem Stammeln
oder doch, wie auch sonst, mit vorläufigen, immer der Ent-
wicklung fähigen und bedürftigen Annahmen bescheiden zu
müssen. Thomas hat zu viel von dem Blute des Dogma-
tikers in sich, um dem Gedanken einer solchen Resignation,
wie sie dem erkenntnis-theoretisch Besonnenen ziemt, auch nur
als einem zum wenigsten doch diskutablen näher zu treten.
Deshalb ist das soeben angeführte Argument für die Not-
wendigkeit einer Offenbarung von vornherein hinfällig, weil
es auf einer zweifelhaften Voraussetzung beruht.
Aehnlich steht es mit dem weiteren Argumente, das den
Zweck der Offenbarung »übervernünftiger" Wahrheiten dartun
soll, den wir früher z. B. Abaelard leugnen hörten. Der
Mensch ist nach mittelalterlich-dogmatischer Vorstellung zu
einem «übernatürlichen" Endziele, zu der „Anschauung Gottes"
in dem zukünftigen, ewigen Leben berufen — einem Ziele,
'■ c. Gent. I, 4.
38 Thomas v. Aquino
das er mit den Mitteln seiner bloßen Natur nicht erreichen
könnte. Ueber die ,; übernatürlichen« Mittel aber vermag
nur die Offenbarung Aufschluß zu geben. ^
Die petitio principii ist offensichtlich. Das „übernatür-
liche" Ziel wird dem Menschen ja allererst durch „Offen-
barung" bekannt, die Thomas demnach als Tatsache bereits
voraussetzt, wenn er ihre nachträgliche Rechtfertigung unter-
nimmt. Aber eben die Notwendigkeit dieser „Tatsache" ist
ja gerade das Problem!
Ein weiteres Moment zugunsten der Offenbarung sucht
Thomas durch den Hinweis auf die „Verdienstlichkeit" des
Glaubens an unbegreifbare Geheimnisse geltend zu machen.
Der Glaube sei zwar ein Akt des Verstandes — man beachte
gleich hier diesen intellektualistisch gefärbten thomistischen
Glaubensbegriff im Gegensatze zu dem Luthers — , der jedoch
„auf Befehl des von Gott durch die Gnade bewegten freien
Willens" zustande komme und darum als sittlich-freier Glaubens-
akt „verdienstlich" sei. In den Geheimnissen trete dem Menschen
das jenseitige Ziel als ein besonders erhabenes entgegen. Der
Glaube an jene Geheimnisse sei darum ein besonderer Aus-
druck des Verlangens nach jenem Endziel und mithin be-
sonders „verdienstlich für den Himmel", wie gewöhnlich hinzu-
gesetzt wird. '
^ Quia enim homini Deus providit finem qui est supra na-
tu ram hominis scilicet plenam participationem suae beatitudinis —
oportet autem eum qui in finem tendit, si libero arbitrio agat, cognos-
cere finem, ex cujus consideratione dirigitur in his quae sunt ad finem:
ideo oportuit, ut homo alicujus rei cognitionem haberet quae natura-
lem cognitionem ejus excedit, quae quidem cognitio homini datur per
gratiam fidei. Sent. lib. III, dist. 24, 1. art. 3.
c. G. I, 5. S. th. I, 1. art. 1.
^ Dicendum quod actus nostri sunt meritorii, in quantum proce-
dunt ex libero arbitrio moto a Deo per gratiam. Unde omnis actus
humanus qui subjicitur libero arbitrio, si sit relatus ad Deum, potest
meritorius esse. Ipsum autem credere est actus intellectus
assentientis veritati divinae ex imperio voluntatis a Deo
Thomas v. Aquino 3Q
Endlich solle der Mensch durch den Glauben an die unbe-
greifbaren Offenbarungswahrheiten zur„Demut" erzogen werden.
Auch zu diesen Argumenten sei ein kurzes Wort andeu-
tender Kritik hinzugefügt. Man kann sehr wohl die Ehr-
furcht vor dem Unbegreifbaren, die demütige Hingabe an
die dunklen und geheimnisvollen Seiten und Mächte des
Daseins als sittlich wertvoll bezeichnen und erleben, ohne
darum doch mit Thomas das „sacrificium intellectus" in dem
Sinne zu fordern und zu bringen, daß man sein eigenes
Denken festbannt auf einen historisch ein für alle Mal festge-
legten Vorstellungskreis und es in diesen gefangen gibt. Man
kann, anders gewendet, die erzieherische Bedeutung des
Glaubens an ein Unbegreifliches als sittlich wertvolle Grund-
form zugeben, ohne deshalb gerade, wie Thomas und das
Mittelalter, ja die christliche Orthodoxie überhaupt, die „Ge-
heimnisse" in bestimmten, historisch aufgetretenen Lehren, die
sich als göttliche Offenbarung ausgaben, zu erblicken und zu
verehren. (Vergl. unten Kap. V).
3. Zu der Einen Wahrheit kann sich das erkennende
Subjekt in dreifacher Weise verhalten, nämlich je nach der
Art und Stärke, mit der es jener „zustimmt" (assentire).
Meinen, Glauben und Wissen heißen diese drei Zustände,
die sich folgendermaJäen unterscheiden. Hat das Sub-
jekt keine innere Einsicht in den Gegenstand gewonnen,
motae per gratiam et sie subjacet libero arbitrio in ordine ad
Daum; unde actus fidei potest esse meritorius.
S. th. II, II 2. art. 9.
Nullus enim desiderio et studio in aliquid tendit nisi sit ei
praecognitum. Quia ergo ad altius bonum quam experiri in praesenti
vita possit humana fragilitas homines per divinam providentiam or-
dinantur . . . oportuit mentem evocari in aliquid altius quam ratio
nostra in praesenti possit pertingere, ut sie disceret aliquid desiderare
et studio tendere in aliquid, quod totum statum praesentis vitae exeedit.
Et hoe praecipue christianae religioni eompetit, quae singulariter bona
spiritualia et aeterna promittit. c. Gent. I, 5.
40 Thomas v. Aquino
kommt es mit seinem Verstände über verschiedene Annahmen,
es verhalte sich möglicherweise so oder anders, nicht hinaus,
so kann es doch auf Grund eines voluntaristischen Ein-
schlages, wie man das „voluntarie" modern übersetzen würde,
mehr zu der einen Annahme neigen. So entsteht die
„Meinung", wenn dabei noch ein Zweifel zurückbleibt, die
entgegengesetzte Annahme könnte vielleicht auch richtig sein;
der Glaube dagegen, wenn ein Zweifel ganz ausgeschlossen
ist. Von beiden Arten der Zustimmung, des assensus, zur Wahr-
heit ist das Wissen unterschieden: es schließt jeden Zweifel
aus und zugleich die innere Einsicht in die Wahrheit ein. ^
' Assentit autem intellectus alicui dupliciter: uno modo quia ad
hoc movetur ab ipso objecto, quod est per seipsum cognitum, sicut
patet in primis principiis, quorum est intellectus; ve! per aliud cognitum,
sicut patet in conclusionibus, quarum est scientia. Alio modo in-
tellectus assentit alicui non quia sufficienter moveatur ab objecto
proprio, sed per quandam electionem voluntarie declinans in unam
partem magis quam in aliam; et siquidem hoc sit cum dubitatione et
formidine alterius partis, erit opinio; si autem sit cum certitudine
absque tali formidine, erit fides. S. theol.II, II l.art.4. dever. 14.
credere est . . . actus intellectus secundum quod a voluntate
determinatur ad unum. S. theo). II, II 2 art. 1.
in cognitione fidei principalitatem habet voluntas, intellectus autem
assentit per fidem bis, quae sibi proponuntur, quia vult, non autem
ex ipsa veritatis evidentia necessario tractus. c. Gent. III, 40.
Dieser Zusatz «quia vult" ist überaus bedeutsam.
Die „natürliche Vernunft" kann also gleichsam nur bis an die
Schwelle des Heiligtums führen. Ob der Mensch es betritt, d. h. ob
er die geoffenbarten Wahrheiten innerlich anerkennt — ohne sie be-
greifen zu können — darüber entscheidet zuletzt sein Wille. Gerade
darin besteht nach Thomas das „Verdienst" des Glaubens. (Vgl. oben
S. 38.) In Uebereinstimmung mit dieser thomistischen Lehre definierte
das Vatikanische Konzil, der Glaube sei eine zum Heile gehörige Tat,
durch welche der Mensch Gott selbst einen freien Gehorsam
leistet, indem er seiner Gnade zustimmt und mit ihr mitwirkt, ob-
wohl er ihr widerstehen könnte.
Conc. Vatic. sess. 3, c 3. Vgl. V. Cathrein, Glauben und Wissen
Freiburg 1903, S. 162.
Thomas v. Aquino 41
Man sieht, der Verfasser des Buches wde veritate« hat
auch seinen Ausführungen über Glauben und Wissen eine
Art erkenntnistheoretische Grundlage zu geben versucht, wie
denn überhaupt bekanntlich die Scholastik nicht ohne Erkennt-
nistheorie war, mochte letztere auch noch nicht als so selbst-
ständige Disziplin behandelt werden, wie es in der modernen
Philosophie seit Locke bezw. Bacon üblich ist. Ein moderner
Erkenntnistheoretiker wäre geneigt, die zuletzt erwähnte tho-
mistische Formel, es sei ein dreifacher Assensus zu der
Einen Wahrheit möglich, in die andere, sachlich sich mit jener
deckende zu übersetzen: es gebe drei Grade der Gewißheit
oder ein Wissen erster, zweiter und dritter Ordnung, wie man
auch wohl zu sagen pflegt.
4. Glauben und Wissen sind nicht nur subjektiv in der
zuletzt geschilderten Weise — mit Rücksicht auf das verschiedene
Verhalten des zustimmenden Subjekts — sondern auch objektiv
verschieden, zunächst hinsichtlich ihres -Ursprungs. Der
Glaube beruht auf Autorität, der christliche auf der höchsten;
denn der Grund, warum der Christ glaubt, ist die göttliche
Wahrhaftigkeit. Der Gegenstand seines Glaubens daher die
«erste Wahrheit" selbst, die «veritas prima«. Das Wissen
dagegen entspringt der Vernunft. ^
^ Dicendum quod cujuslibet cognoscitivi Habitus objectum duo
habet, scilicet id quod materialiter cognoscitur, quod est sicut ma-
teriale objectum; et id per quod cognoscitur, quod est for-
malis ratio objecti; sicut in scientia geometriae materialiter scita
sunt conclusiones, formalis vero ratio sciendi sunt media demonstra-
tionis, per quae condusiones cognoscuntur. Sic igitur in fide si con-
sideremus formalem rationem objecti, nihil est aliud quam veritas
prima. Non enim fides, de qua loquimur, assentit alicui nisi quia
aDeo est revelatum. Unde ipsi veritati divinae fides innititur
tamquam medio. Si vero consideremus materialiter ea, quibus fides
assentit, non solum est ipse Deus, sed etiam multa alia, quae tarnen
sub assensu fidei non cadunt, nisi secundum quod habent aliquem
ordinem ad Deum prout scilicet per aliquos Divinitatis effectus homo
adjuvatur ad tendendum in divinam fruitionem. Et ideo etiam ex
42 Thomas v. Aquino
Glauben und Wissen beziehen sich ferner auf verschiedene
Objekte oder auf dasselbe Objekt, aber in verschiedener Hin-
sicht. Der erste Fall liegt bei den Geheimnissen vor, die in
keiner Weise Gegenstand unseres Wissens sind; der zweite
Fall entsteht folgenderweise. Ist es auch an sich nicht ohne
Widerspruch denkbar, daß derselbe Gegenstand in derselben
Hinsicht zugleich Objekt des Meinens, Glaubens und Wissens
ist — denn diese drei «assensus« sind einander diametral
entgegengesetzt — so können doch dieselben Gegenstände
verschieden behandelt werden; nämlich einmal, sofern sie in
der Philosophie durch das «Licht der natürlichen Vernunft«
oder sofern sie in der Theologie durch das «Licht der gött-
lichen Offenbarung" erkannt werden. Denn manche Vernunft-
wahrheiten, wie das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der
Seele, sind zugleich auch geoffenbart. Als Grund hierfür
vernahmen wir bereits die Irrtumsfähigkeit der Vernunft. ^ (S.37.)
hac parte objectum fidei est quodammodo veritas prima, in
quantum nihil cadit sub fide nisi in ordine ad Deum.
S. theol. II, II 1, art. 1.
de ver. 14; S. theol. I, 99, art. 1.
^ De eodem secundum idem non potest esse simul in uno homine
scientia nee cum opinione nee cum fide.
S. theol. II, II 1, art. 5 ad 4.
Dicendum, quod diversa ratio cognoscibilis diversitatem scien-
ciarum inducit. Eandem enim conclusionem demonstrat astro-
logus et naturalis, puta quod terra est rotunda; sed astrologus per
medium mathemadcum, id est a materia abstractum; naturalis autem
per medium circa materiam consideratum. Unde nihil prohibet de
eisdem de quibus philosophicae disciplinae tractant, secundum quod
sunt cognoscibilia lumine naturalis rationis, etiam aliam
scientiam tractare, secundum quod cognoscuntur lumine divin ae
revelationis. S. theol. I 1, art. 1 ad 2.
Man beachte bei Thomas die häufige Gegenüberstellung des
lumen naturale (bzw. lumen naturalis rationis) und des lumen supra-
naturale (bzw. lumen divinae revelationis). Wendungen, die wir bis
Thomas v. Aquino 43
Als Charakteristikum der beiden zuletzt erörterten Punkte
können wir dies bezeichnen, daß auch Thomas reinliche Ge-
bietsteilung zwischen Glauben und Wissen herzustellen
sucht, um alle Konfusion und Grenzüberschreitung im Prinzip
von vorneherein abzuwehren.
5. Stellen wir nunmehr, das Bisherige teils neu beleuchtend,
teils ergänzend, die abschließende Frage nach der Stellung
von Glauben und Wissen im Systeme der thomistischen
Theologie, so haben wir folgendes festzuhalten.
Prinzipiell ist ein Wissen möglich von den Grundlagen
des Glaubens und folglich auch der Theologie, ein historisch-
philosophisches Wissen von der Tatsache der göttlichen
Offenbarung.
Thomas bezeichnet dieses Wissen als ein solches, das
sich auf die praeambula fidei d. h. eben auf das bezieht, was
dem Glauben vorangeht. Ist es auch nicht Sache der »natür-
lichen Vernunft", die Inhalte des natürlichen Glaubens restlos
zu begreifen, so doch diesen schließlich auf einem Willensakte
beruhenden Glauben vorzubereiten durch den Nachweis, daß
in die neuere Philosophie hinein antreffen, z. B. bei Descartes,
Tschirnhaus, Leibniz u.a. Vgl. J. Verweyen, E. W. v. Tschimhaus
als Philosoph. Bonn 1905.
Investigationi rationis humanae plerumque falsitas admiscetur
propter debilitatem intellectus nostri judicando et phantasmatum per-
mixtionem. Etideoapud multos in dubitatione remanent ea,
quae sunt verissime etiam demonstrata, dum vim demonstrationis
Ignorant et praecipue cum videant a diversis qui sapientes dicuntur,
diversa doceri. Inter multa etiam vera, quae demonstrantur, immiscetur
aliquando aliquid falsum, quod non demonstratur, sed aliqua
probabili vel sophistica ratione asseritur, quae interdum demonstratio
reputatur. Et ideo oportuit per viam fidei, fixa certitudine, ipsam
veritatem de rebus divinis hominibus exhiberi. Salubriter ergo divina
providet dementia, ut ea etiam, quae ratio investigare potest,
fide tenenda praeciperet; ut sie omnes de facili possent divinae
cognitionis participes esse et absque dubitatione et errore.
c. Gent. I, 4.
44 Thomas v. Aquino
es der wahrhaftige Gott selbst ist, dessen Worten der Christ
glaubt. 1
Es handelt sich also hierbei um nichts Geringeres, als
um Beweise für die Offenbarungs-Tatsache. Und wie be-
weist Thomas sie?
Die göttliche Weisheit hat sich, wie er ausführt, durch
überzeugende Argumente geoffenbart, durch sichtbare Werke,
wdie das Vermögen der ganzen Natur übersteigen", d. h. durch
Wunder. Welcher Art aber sind diese? Wunderbar sind
die Krankenheilungen, von denen die hl. Schrift erzählt, die
Toten-Erweckungen, die Verwandlung von Himmelskörpern,
wie die plötzlichen Verfinsterungen der Sonne oder deren
Stillestehen auf Befehl eines Menschen. Wunderbarer aber
ist noch die Wirkung der Inspiration-, daß infolge Erleuch-
tung durch den heiligen Geist ganz unbegabte und einfältige
Menschen (idiotae et simplices), wie die Jünger Jesu, die
höchste Weisheit verkündigten, die sogar die „weisesten"
Menschen zu Anhängern des Christentums machten. Das
Wunderbarste jedoch ist, daß eine ungeheure Schar von
Menschen (innumerabilis turba) nicht durch Waffengewalt,
nicht durch Aussicht auf irdischen Lohn, sondern unter völliger
Verachtung aller weltlichen und „fleischlichen" Genüsse nur die
unsichtbaren zukünftigen Güter ersehnt hat. Fürwahr das
„größte Wunder und ein offenkundiges Werk göttlicher
^ Rationes demonstrativae inductae ad ea quae sunt fidei
praeambula, non tarnen ad articulos, etsi diminuant rationem fidei,
quia faciunt esse apparens id quod proponitur; non tarnen diminuunt
rationem caritatis, per quam voluntas est prompta ad ea credendum,
etiamsi non apparerent; et ideo non diminuitur ratio meriti.
S. theol. II, II 2 art. 10.
Cognitio fidei praesupponit cognitionem naturalem
sicut et gratia naturam. de ver. 14 art. 9.
Dicendum quod fides non habet inquisitionem rationis naturalis
demonstrantis id quod creditur, habet tarnen inquisitionemquandam
eorum, per quae inducitur horao ad credendum, puta, quia
sunt dicta a Deo et miraculis confirmata. S. th. II, II 2 art. 1.
Thomas v- Aquino 45
Inspiration", wie Thomas schließt! Um so wunderbarer aber
ist dies alles, weil es bereits lange vorher durch die Weis-
sagungen der Propheten verkündigt war.
Wunder und Weissagungen, nicht zum wenigsten die
wunderbare Ausbreitung des Christentums trotz aller Ver-
folgungen und trotz seiner Anforderungen an die mensch-
lichen Leidenschaften, sind also nach Thomas von Aquino ein
hinreichender Beweis, sie bieten, wie er sagt, „rationes de-
monstrativae" oder „convenientia argumenta" für die „göttliche
Wahrheit des Christentums", d. h. für die Tatsache einer über-
natürlichen Offenbarung, deren Inhalt nicht auf dem sonst
üblichen Wege einer sogen, immanenten und «natürlichen"
Entwicklung entstanden; m. a. W. für die Tatsache, daß »Gott
selbst gesprochen hat", wie die häufig bei Thomas wieder-
kehrende Wendung lautet.^
^ Hace enim divinae sapientiae secreta ipsa divina Sapientia,
quae omnia plenissime novit, dignata est hominibus revelare, quae sui
praesentiam et doctrinae et inspirationis veritatem convenientibus
argumentis ostendit, dum ad confirmandum ea, quae naturalem
cognitionem excedunt, opera visibiliter ostendit, quae totius naturae
superant facultatem; videlicet in mirabili curatione languorum,
mortuorum suscitatione, coelestium mirabili immutatione et quod est
mirabilius humanarum mentium inspiratione, ut idiotae et sim-
plices, dono Spiritus sancti repleti, summam sapientiam et facundiam
in instanti consequerentur . . . praedictae probationis efficacia non ar-
morum violentia, non voluptatum promissione et quod est mira-
bili ssim um inter persecutorum tyrannidem, innumerabilis turba non
solum simplicium, sed etiam sapientissimorum hominum ad fidem,
christianorum convocavit; in qua omnem humanum intellectum excedentia
praedicantur, voluptates carnis cohibentur et omnia quae in mundo
sunt, haberi contemptui docentur. Quibus animos mortalium assentire
et maximum miraculum est et manifestum divinae inspira-
tionis opus, ut contemptis visibilibus sola invisibilia cupiantur.
Hoc autem non subito neque casu, sed divina dispositione factum esse
manifestum est ex hoc quod hoc se facturum Deus multis ante Pro-
phetarum praedixit oraculis, quorum libri penes nos in veneratione
habentur, utpote fidei testimonium adhibentes. c. Gent. I, 6.
46 Thomas v. Aquino
Man würde dem mittelalterlichen Denker nicht gerecht
werden, wollte man folgendes übersehen. Wenn alle die
Tatsachen einwandfrei festständen, die wir Thomas soeben an-
führen hörten; wenn m. a. W. in der Geschichte der Religion
im allgemeinen und der christlichen im besonderen Ereignisse
nachweisbar wären, die schlechthin die Grenzen möglicher
»natürlicher" Leistung überschritten, dann wäre selbstverständlich
die Annahme eines »übernatürlichen« Prinzips zu ihrer Er-
klärung erfordert. Die Göttlichkeit des Christentums wäre
dann gleichsam analytisch in seinem übernatürlichen Ursprung
enthalten und der thomistische Beweisgang müßte von jedem
Denkenden angetreten werden.
Aber es fragt sich, ob nicht jene Voraussetzung im
höchsten Maße anfechtbar ist. Wie ein Axiom stand sie
freilich im ganzen Mittelalter unerschütterlich fest. Nicht als
ob man sie immer in der christlichen Theologie unbeachtet
und ungeprüft gelassen hätte. Man bemühte sich vielmehr
eifrig um ihre Rechtfertigung, wie wir u. a. schon bei Augusti-
nus sahen. Aber man setzte dabei immer die Zuverlässig-
keit der neutestamentlichen Ueberlieferung, namentlich sofern
es sich um „wunderbare Krankenheilungen'' und ähnliches
handelt, voraus. Die moderne kritische Theologie aber war
und ist bemüht, die früher als unbezweifelbar angesehene
Glaubwürdigkeit der Evangelien zu erschüttern und damit
zugleich die Grundlagen zu zersetzen, auf denen Thomas die
Lösung unseres Problems aufbaut.
In eine sachliche Erörterung dieses Punktes einzutreten,
muß einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben. Hier
handelt es sich in erster Linie darum, den Werdegang des
Verhältnisses von Glauben und Wissen zu begreifen und die
Stellen zu markieren, an denen die spätere bezw. heutige
Kritik früherer Lösungsversuche einsetzt. —
Nehmen wir den früheren Faden wieder auf, um uns
nochmals zu vergegenwärtigen, daß an der Pforte des
Thomas v. Aquino 47
thomistischen Lehrgebäudes das Wissen um die praeambula fidel
steht. Aber es dringt auch in das Heiligtum selbst hinein.
Ein prinzipielles Wissen ist nämlich auch bezüglich der
sogenannten „vernünftigen* — nicht „ übervernünftigen « —
Glaubenswahrheiten möglich. Zu ihnen zählt z. B. die
Existenz eines einzigen und unkörperlichen Gottes. Um der
geistig Schwachen willen sind aber auch derartige Wahrheiten
geoffenbart, die darum für jene die prima credibilia, die ersten
Gegenstände des Glaubens bilden, während sie für die größere
geistige Fassungskraft anderer zu den praeambula fidei gehören.
Folglich verflüchtigen sich die an und für sich Gegen-
stand des Wissens sein sollenden praeambula fidei je nach
der geistigen Stufe des betreffenden Menschen zu den ersten
Gegenständen des Glaubens. Die geistig Schwachen sind
darum in weit geringerem Maße imstande, ihrem Glauben
eine vernünftige Wissens-Grundlage zu geben, sie sind um so
mehr an die Autorität gewiesen. ^
(Man ist geneigt, im Sinne des Thomas hinzuzufügen, daß dies
sich auch in anderen Dingen so verhält, nicht nur in religiösen.)
' Sciendum autem, quod aliquid est credibile dupliciter. Uno
modo simpliciter quod scilicet excedit facultatem omnium hominum
in statu viae existentium sicut Deum esse trinum et hujusmodi. Et
de bis impossibile est ab aliquo homine scientiam haberi: sed quilibet
fidelis assentit hujusmodi propter testimonium Dei, cui haec sunt
praesto et cognita. Aliquid vero est credibile non simpliciter, sed
respectu alicujus, quod quidem non excedit facultatem omnium, sed
aliquorum tantum sicut illa, quae de Deo demonstrative sciri possunt,
ut Deum esse unum aut incorporeum et hujusmodi. Et de his nihil
prohibet, quin sint ab aliquibus scita, qui horum habent demon-
strationes et ab aliquibus credita, qui horum demonstrationes non
perceperunt; sed impossibile est, quod sint ab eodem scita et credita.
de ver. 14 art. 9.
Ueber die mittelalterlichen Versuche, das Dasein Gottes im Sinne
der praeambula fidei zu beweisen vgl. M. Grunwald, Geschichte der
Gottesbeweise im Mittelalter.
(Beitr. z. Gesch. d. Philos. d. Mittelalters, Bd. VI, 3.)
48 Thomas v. Aquino
Unmöglich aber können die eigentlichen Geheimnisse
Gegenstand des Wissens sein. Wer es etwa unternehmen
wollte, sagt Thomas gegen den Rationalismus etwa eines
Abaelard, die Dreiheit der göttlichen Personen, das Dogma
der Trinität, zu »beweisen«, würde dem Glauben zuwider-
handeln. Derselbe Grundsatz: sola fide tenetur gilt z. B. auch
von der Lehre der zeitlichen Weltschöpfung; kann auch die
Schöpfung der Welt mit Hilfe der Vernunft erkannt werden,
so doch nicht der zeitliche Anfang der Welt. Es bliebe eine
ewige Weltschöpfung denkbar. Nur die Offenbarung belehrt
uns, wie Thomas im Anschluß an die Lehren des jüdischen
Scholastikers Maimonides ausführt, über die zeitliche Welt-
schöpfung. Ebenso verhält es sich beispielsweise mit dem
Dogma der Erbsünde, der Menschwerdung des Logos, dem
Fegefeuer, der Auferstehung des Fleisches etc. ^
Es zeugt von dem lebhaften Wissensdrange, von dem
intellektualistischen Charakter des mittelalterlichen Denkers, wenn
er sogar derartigen Geheimnissen gegenüber die Ver-
nunft nicht zu völliger Untätigkeit verurteilt sehen will, ihr
vielmehr eine doppelte Aufgabe zuweist. Erstens vermag und
soll die Vernunft die Einwände der Gegner widerlegen und
wenigstens die Möglichkeit, d. h. innere Widerspruchslosigkeit
der betr. Dogmen dartun, um so durch Abweisung des falschen
Wissens der Gegner gleichsam die Bahn frei zu machen
* Impossibile est per rationem naturalem ad cognitionem divinarum
personarum pervenire; per rationem naturalem cognosci possunt de
Deo ea, quae pertinent ad unitatem essentiae, non ea quae pertinent
ad distinctionem personarum; qui autem probarenititur trinitatem
personarum naturali ratione, fidei derogat.
S. theol. I, 32 a. L
Mundum incepisse est credibile, non autem demonstrabile vel
scibile. Et hoc utile est ut consideretur, nisi forte aliquis quod fidei est
demonstrare praesumens rationes non necessarias inducat, quae praebeat
materiam irridendi infidelibus existimantibus nos propter hujusmodi
rationes credere, quae fidei sunt. S. theol. I, 46 art. 2.
Thomas v. Aquino 49
für den Glauben. ^ Dieses Ziel erreicht die Vernunft noch
mehr, wenn sie zweitens auch Analogien zu den dogma-
tischen Wahrheiten in der Natur aufzufinden sucht; überdies
ist es schon eine Freude, meint Thomas, über die höchsten
Dinge in schwachen Lauten einiges stammeln zu können.
Nur soll man sich hüten, derartige Analogien, die dem
Gläubigen zur Uebung und zum Tröste gereichen, als Be-
weise auszugeben; die Gegner würden dann ja erst recht nicht
für den Glauben gewonnen werden, wenn sie ihn durch so
schwache Gründe gestützt fänden. ^
Aber so sehr sich auch der wissensdurstige Mensch be-
müht, das Dunkel der Geheimnisse aufzuhellen, über schwache
' Dicendum quod rationes, quae inducuntur ad auctoritatem fidei
non sunt demonstrationes, quae in visionem intelligibilem intellectum
humanuni reducere possunt; et ideo non desinunt esse non apparentia;
sed removentimpedimenta fidei ostendendo non esse impossibile,
quod in fide proponitur. S. theol. II, II 2 art. 10. c Gent. I 9.
- Considerandum etiam videtur, quod res quidem sensibiles, ex
quibus humana ratio cognitionis principium sumit, aliquale vestigium
divinae imitationis retinent (videlicet quod sunt et bonae sunt), ita
tamen imperfectum, quod ad declarandam ipsius Dei substantiam
omnino insufficiens invenitur . . . Humana igitur ratio ad cogno-
scendum fidei veritatem, quae solum videntibus divinam substantiam
potest esse notissima, ita se habet, quod ad eam potest aliquis veras
similitudines colligere; quae tarnen non sufficiunt ad hoc quod
praedicla veritas quasi demonstrative vel per se intellecta comprehen-
datur. Utile tarnen est, ut in hujusmodi rationibus quantumcumque
debilibus se raems humana exerceat, dummodo desit comprehendi vel
demonstrandi praesumptio, quia de rebus altissimis etiam parva
et debili consideratione aliquid posse inspicere jucun-
dissimum est. c. Gent. I, 8.
Sunt tarnen ad hujusmodi veritatem (quae supra rationem humanam
est) manifestandam rationes aliquae verisimiles inducendae ad fidelium
quidem exercitium et solatium, non autem ad adversarios convincendos;
quia ipsa rationum insufficientia eos magis in suo errore confirmaret,
dum aestimarent nos propter tarn debiles rationes veritati fidei consentire.
c. Gent. I, 9.
Ueber die visio beatifica vgl. Sent. lib. III, dist. 31, 2, art. 1.
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 4
50 Thomas v. Aquino
Versuche kommt er dabei in Anbetracht der Tiefe götth'cher
Lehren doch nicht hinaus. Wenigstens nicht in diesem
irdischen Leben. Erst im zukünftigen ewigen Leben, im
,, Vaterlande", in patria, wie es bezeichnenderweise heißt,
wird es den Guten vergönnt sein, in der „beseligenden An-
schauung Gottes", der visio beatifica, nach dem diesseitigen
Glauben, den schon Paulus mit dem Sehen in einem Spiegel
vergleicht, eines erfüllten, „von Angesicht zu Angesicht"
gehenden „Schauens", nach dem credere eines höheren con-
templari, gewürdigt zu werden, soweit dies die endliche
Kreatur überhaupt zuläßt.
Als allgemeinster Grundsatz aber ist immer festzuhalten:
Der Glaube ist die Norm des Wissens, die Theologie die
„Herrin" der Philosophie. Die wahre Philosophie befindet sich
immer in Uebereinstimmung mit den richtig verstandenen
Glaubensiehren — aus Gründen, die bereits erörtert wurden, ^
Die Grundsätze, die Thomas von Aquino über
unser Problem entwickelt, leben bis heute in der ka-
tholischen Theologie fort. Darüber später genaueres
(Kap. III u. IV).
Bevor wir zu dem größten mittelalterlichen Theologen
des Franciskanerordens übergehen, möge hier noch eine
Zwischenbemerkung Platz finden, nämlich ein Hinweis dar-
auf, wie sehr z. B. Nietzsche auch den uns beschäftigenden
historischen Tatbestand vergewaltigt, wenn er in dem 89. Apho-
rismus der „Morgenröte" über den «Zweifel als Sünde"
schreibt: „Das Christentum hat das Aeußerste getan, um den
Zirkel zu schließen, und schon den Zweifel für Sünde erklärt.
^ Unde et theologia maxima sapientia dici debet, utpote
semper altissimam causam considerans; et propter hoc ipsi quasi
principali philosophia humana deservit. c. Gent. 11,4.
S. theo). II, II 2 art. 10.
Man erkennt hierin sogleich des Petrus Damiani Wort wieder:
philosophia ancilla theologiae.
Duns Scotus 51
Man soll ohne Vernunft, durch ein Wunder, in den Glauben
hineingeworfen werden und nun in ihm wie im hellsten und
■ unzweideutigsten Elemente schwimmen; schon der Blick nach
einem Festlande, schon der Gedanke, man sei vielleicht nicht
zum Schwimmen allein da, schon die leise Regung unserer
amphibischen Natur — ist Sünde! Man merke doch, daß
damit die Begründung des Glaubens und alles Nach-
denken über seine Herkunft ebenfalls schon als sündhaft
ausgeschlossen sind. Man will Blindheit und Taumel und
einen ewigen Gesang über den Wellen, in denen die Vernunft
ertrunken ist!" Wie wenig dies auf Thomas von Aquino, den
Hauptrepräsentanten des mittelalterlichen, katholischen Christen-
tums zutrifft, geht aus unserer Darstellung deutlich hervor.
Zeigte sie doch, welchen breiten Raum «die Begründung des
Glaubens und alles Nachdenken über seine Herkunft" inner-
halb der thomistischen Theologie einnimmt, die keinen ./blinden",
sondern — in der geschilderten Weise — einen durch „Wissen«
begründeten und erleuchteten Glauben verficht. Ganz in
Uebereinstimmung mit dem Christentum eines Paulus, der ja
gerade die Forderung eines »vernünftigen Glaubens" — eines
rationabile obsequium — erhebt.
6. Duns Scotus (f 1308 zu Cöln).
Unter den Scholastikern ist wohl keiner so vielen Miß-
verständnissen begegnet wie Scotus. Haben doch jüngste
Forschungen von P. Minges ergeben, daß die landläufigen
Darstellungen dieses Denkers, wie sie zahlreich in den letzten
Jahrzehnten von Theologen und Historikern gegeben wurden,
in wesentlichen Punkten einer Korrektur bedürfen. Da findet
man z. B. durchweg die Ansicht verbreitet, Scotus verteidige
die sog. Willensfreiheit in einem von Thomas, dem «princips
scholasticorum", wesentlich abweichenden „ extrem-indetermi-
nistischen« Sinne! Wie wenig dies zutrifft, wie sehr vielmehr
die beiden großen Scholastiker in diesem Punkte überein-
4*
52 Duns Scotus
stimmen, habe ich in meinem bereits erwähnten Buche quellen-
mäßig nachgewiesen und dadurch die Einheit der scholastischen
Lehrentwicklung an einem Zentral-Punkte dargetan. Ebenso
hat der Franziskanerpater Minges in mühsamen Untersuchungen
die scotistische Freiheitslehre in zwei Arbeiten dargestellt, deren
Titel lauten: „Ist Duns Scotus Indeterminist?" (Münster 1905)
und »Der Gottesbegriff des Duns Scotus auf seinen angeblich
exzessiven Indeterminismus geprüft« (Wien 1907). Aehnlich
hat derselbe Verfasser die üblichen Auffassungen von der
Gnadenlehre des Scotus einer kritischen, auf eingehenden
Quellenstudien beruhenden Revision unterzogen in der
Schrift: »Die Gnadenlehre des Duns Scotus auf ihren angeb-
lichen Pelagianismus und Semipelagianismus geprüft (Münster
1906). Für die Geschichte der Erkenntnistheorie sei noch
die spätere Abhandlung des genannten Autors erwähnt: »Der
angebliche exzessive Realismus des Duns Scotus" (Beiträge z.
Gesch. d. Philos. d. M.-A. Bd. Vll).
Es ist von vornherein wahrscheinlich, daß auch über die
Stellung des Duns Scotus zu unserem Problem die verschie-
densten Entstellungen im Umlauf sind. Schon Max Maywald
schrieb in einer 1868 erschienenen Schrift über »Die Lehre
von der zweifachen Wahrheit«, diese Lehre sei zwar nicht
innerhalb der Franziskanerschule entstanden, aber doch von
ihr begünstigt worden. Eine Auffassung, über die spätere
Historiker — bis in die Gegenwart — erheblich hinausgingen,
wenn sie gerade als die Lehre des Scotus ausgaben, Religion und
Philosophie seien in dem Sinne getrennte Gebiete, daß in jener
wahr sein könne, was in dieser falsch sei und umgekehrt. Die
»antirationalistische" Richtung dieses Scholastikers gebe dann
natürlich der Philosophie den Vorrang in einem solchen Konflikt.
Was nun die sogenannte „skeptische Tendenz« bei Duns
Scotus anbetrifft, so ist folgendes zu beachten. Schon der
Ehrentitel doctor subtilis deutet seine Geistesrichtung an, die
sich in scharfsinnigen, manchmal spitzfindigen Unterschei-
Duns Scotus 53
düngen offenbart. Dabei kommt er zugleich zu einer kriti-
schen Stellung zu den üblichen Traditionsbeweisen für gewisse
Lehren. Als ein mathematisch geschulter Kopf stellt er scharfe
Anforderungen an einen «Beweis" - schärfere vielfach als sein
großer Vorgänger Thomas von Aquino, dessen Argumente ihm
nicht selten zu wenig stringent erscheinen und zur Polemik
herausfordern. Nicht in dem Zweifel an der Wahrheit theo-
logisch-philosophischer Lehren, sondern in der vorsichtigeren
Prüfung der für sie vorgebrachten traditionellen Begründungen
besteht die vielgenannte „skeptische Tendenz" des Duns
Scotus,
Ein paar Beispiele. Aus den bekannten Worten des
neuen Testaments könne man einen Beweis für das Gebot der
Beichte nicht ableiten. Nur die kirchliche Autorität sei ein
zureichender Grund für diese Forderung; zumal auch das
Naturgesetz nur Gott, nicht dem Priester, die Sünden zu be-
kennen gebiete. Auch sei der Schluß aus den Abendmahls-
worten Christi auf die Transsubstantiation nicht zwingend;
bliebe die Möglichkeit einer symbolischen Interpretation, hätte
nicht die vom hl. Geiste erleuchtete Kirche unter Innocenz III.
auf dem Laterankonzil diese Lehre der Wesensverwandlung
des Brotes und Weines in das Fleisch und Blut Christi als
Wahrheit verkündet, weshalb es nunmehr ebenfalls ein sünd-
hafter Irrtum wäre, anzunehmen, daß Brot und Leib Christi
gleichzeitig nebeneinander existierten. Ja selbst den sogen.
Gottesbeweisen steht Scotus sehr kritisch gegenüber. Zwar
bemüht er sich um Vernunftbeweise für das Dasein Gottes,
wie aus seinem Gebete im 3. Kap. der Schrift de primo
principio hervorgeht: «Herr, unser Gott, der du verkündet
hast, du seiest der erste und der letzte, lehre deinem Diener
dasjenige aus der Vernunft zu zeigen (ostendere ratione),
was er mit gewissestem Glauben festhält, daß du bist die
erste bewirkende Ursache, das erste eminente Wesen und das
letzte Endziel". So schließt Scotus von dem Endlichen und
54 Duns Scotus
Zeitlichen auf ein Ewiges und Unendliches, indem er im
Anschluß an die aristotelischen Gottesbeweise ein erstes Wesen
zu beweisen unternimmt, dessen Persönlichkeit ihm jedoch
im Gegensätze zu Thomas und Aristoteles erst auf Grund
moralischer Argumente gesichert erscheint. Aber auch diese
führen nicht zu der Erkenntnis aller Eigenschaften Gottes: seine
Allmacht, Unermeßlichkeit, Allgegenwart, Wahrheit, Gerechtig-
keit, Barmherzigkeit und Vorsehung sind dem Lichte der
natürlichen Vernunft nicht zugänglich. Aehnlich verhält es
sich mit der Unsterblichkeit der Menschenseele. Auch für
diese von Scotus keineswegs weder philosophisch noch theo-
logisch angezweifelte Lehre genügen ihm die Beweise des
Aristoteles und Thomas nicht. Wenn man z. B. argumen-
tiere, den Bösen gehe es oft viel besser in der Welt als den
Guten, weshalb die ausgleichende Gerechtigkeit eine jenseitige
Verwaltung verlange, so sei das keine stichhaltige Begrün-
dung. Denn die natürliche Vernunft könne nicht das Dasein
eines vergeltenden Lenkers der Welt beweisen. Und selbst
einen solchen voraussetzend, könne man noch immer auf die
immanente Belohnung und Bestrafung hinweisen, die in der
guten wie bösen Tat selbst liege. Vollends aber sei es un-
möglich, die übernatürliche Seligkeit des Himmels sowie die
Ewigkeit der Höllenstrafen der natürlichen Vernunft zu be-
weisen. Während Scotus die Unsterblichkeit der Seele in
einigen Werken wie dem Sentenzen-Kommentar, nicht mit
metaphysischer Strenge, wenn auch als moralisch wahrschein-
lich, gegen die Einwände der heidnischen Philosophen ver-
leidigen zu können glaubt, hat er in anderen Schriften die
natürliche d. h. philosophische Erkennbarkeit der Unsterblichkeit
gelehrt.
Alle diese Punkte hat P. Minges auf Grund eingehender
und quellenmäßiger Untersuchungen in der besonderen Abhand-
lung erörtert: Das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen,
Theologie und Philosophie nach Duns Scotus (Forsch, zur
Duns Scotus 55
Christi. Lit. u. Dogmeng. Bd. VII, Paderborn 1908). Das
Resultat dieser jüngsten Forschungen faßt der Autor in
folgenden Thesen zusammen: I. »Es ist falsch, daß nach Scotus
Glaube und Wissen einander widersprechen können oder daß
etwas philosophisch wahr sein könne, was theologisch falsch
ist oder umgekehrt. IL Es ist falsch, daß Scotus auf den
Nachweis der Harmonie zwischen Wissen und Glauben kein
großes Gewicht legt. III. Es ist falsch, daß, wie Schwane
meint, Scotus auf eine spekulative Theologie gar kein großes
Gewicht legt. IV. Diejenigen Stellen, die einen scheinbaren
Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie enthalten,
einer Trennung beider das Wort zu reden scheinen oder eine
gewisse Vernachlässigung der Philosophie und spekulativen
Theologie bekunden, lehren in Wirklichkeit etwas ganz
anderes. Sie sagen speziell nur, daß die katholische Lehre
nicht übereinstimmt mit so manchen Behauptungen der heid-
nisch-arabischen Philosophen. V. Es ist falsch, daß es Scotus
vornehmlich auf die demütige Unterwerfung unter die Autori-
tät Gottes und der Kirche ankomme oder daß er von vorn-
herein die Tendenz habe, die natürliche Erkenntnis zugunsten
der übernatürlichen zu schmälern und die spekulative Theo-
logie in Zweifel aufzulösen. Scotus glaubt nur, daß manche
philosophische oder theologische Beweise anderer Gelehrten
nicht genügend oder stringent sind; an deren Stelle bringt
er andere Beweise vor und sieht auf philosophischem wie
auf theologischem Gebiete manche Sätze als beweisbar an, die
von anderen Philosophen und Theologen als unbeweisbar
gelten."
Zum Schlüsse sei die Stellung des Duns Scotus zu
unserem Problem noch durch folgendes Schema kurz er-
läutert. Er betont
L Die Verschiedenheit von Glauben und Wissen, Theologie
und Philosophie, und zwar
a) hinsichtlich ihres Ursprunges oder Erkenntnisprinzips,
56 Duns Scotus
das dort übernatürliche Offenbarung, hier natürliche
Vernunft lautet.^ Folglich
b) nach ihrem Objekt: die Theologie handelt von Offen-
barungswahrheiten, die Philosophie von Vernunftwahr-
heiten,
c) nach Gewißheit: diese ist bei der Theologie am höch-
sten, weil sie unmittelbar auf der göttlichen Wahr-
haftigkeit beruht. 2
d) nach ihrem Zweck: die Theologie ist zwar eine Wissen-
schaft, wenn man darunter ein System von wirklichen
Erkenntnissen versteht; freilich keine Wissenschaft Am
allerstrengsten Sinne", weil sie als »Glaubenswissen-
schaft« — ein Ausdruck, den wir später noch in der
Theologie unserer Tage antreffen werden - sich nicht
lediglich auf natürlichen und in sich evidenten Prin-
zipien aufbaut und keine volle innere Einsicht in die
Offenbahrungslehren gewährt. Endlich - eben ihrem
Zwecke nach - eine praktische, von der rein theore-
tisch gerichteten Philosophie verschiedene Wissenschaft,
die zugleich die religiös-sittliche Erziehung des Menschen,
sein Seelenheil im Auge hat.^ Gerade dieser Zweck
^ Haec scientia (theologia) nulli subalternatur. Quia licet sub-
jectum eius possit aliquo modo contineri sub subjecto Metaphysicae,
nulla tarnen principia accipit a Metaphysica, quia nuUa passio theo-
logica demonstrabilis est in ea per principia entis vel per rationem
sumptam ex ratione entis. Nee ipsa aliam (scientiam) sibi subalternat:
quia nulla alia scientia accipit principia ab ipsa. Nam qraelibet alia
in genere cognitionis naturalis habet resolutionem suam ultimo ad
aliqua principia immediata naturaliter nota. Sent. prol. 3.
* Cum Sit duplex prioritas in scientia scilicet ex nobilitate objecti
et ex certitudine notitiae, haec (sc. theologia) est utroque modo cer-
tissima, quia habet objectum nobilissimum et principia secundum se
certissima sunt. Rep. prol. 3.
^ Fides non est habitus speculativus nee credere est actus specu-
lations nee visio sequens credere est visio speculativa, sed practica.
Vgl. Minges 1. c. S. 79, 104, 106, 111 u. 118. ^^"^- P''^^' ^-
Duns Scotus 57
war ohne Offenbarung nicht erreichbar. Darum be-
tont Scotus
IL DieNotwendigkeit der Offenbarung und Theologie. Jedes
erkennende Wesen — darin gipfelt sein Gedankengang -
muß den Zweck seines Handelns erkennen, wenn es ihn
überhaupt anstreben soll. Nun hat aber der Mensch
objektiv ein übernatürliches Ziel, die „Anschauung Gottes*
ist also mit den Mitteln seiner bloßen Natur nicht fähig,
jenes zu erkennen. Also ist eine übernatürliche Hilfe
notwendig, eine Offenbarung als eine doctrina super-
naturaliter addita, und zwar
a) hinsichtlich des übernatürlichen Zieles selbst (- das
aber doch seinerseits erst aus der Offenbarung erkannt
ist, weshalb auch Scotus — wie Thomas — bei dieser
Argumentation in den Fehler der petitio principii fällt!),
b) hinsichtlich der Mittel, die mit Rücksicht auf das Ziel
ebenfalls übernatürlich und deshalb auch geoffenbart
sein müssen.
III. Als Beweise der Tatsache der Offenbarung führt Scotus an:
a) die Erfüllung der Weissagungen sowie die zahlreichen
Wunder, von denen das alte und neue Testament
berichtet,
b) dieUebereinstimmung der biblischen Schriftsteller, welche
die Wahrheit sagen „konnten" und «wollten",
c) die Uebereinstimmung der christlichen Lehre mit der
„gesunden Vernunft", die alle Einwände der Gegner
als nichtig erkennt,
d) die Fortdauer der Kirche trotz aller Anfeindung.
Es erübrigt sich für unseren Zweck, hier in eine nähere
Kritik dieser „Beweise« einzutreten. Nur bleibe nicht uner-
wähnt, daß letztere — die wir im Prinzip ja bereits bei den
früheren Denkern antrafen - ihrem Kerne nach durch das
Vatikanische Konzil approbiert wurden, (sess. 3, c. 2.)
58 Bonaventura
7. Bonaventura (tl274).
Auch Bonaventura stellt fest, daß es Wahrheiten gibt, die
sowohl durch die Vernunft als auch durch die Offenbarung gelehrt
werden, wie z. B. das Dasein Gottes. Aber weil die Philosophie
doch nie absolut klare und irrtumsfreie Erkenntnis über Gott
und göttliche Dinge gibt — wir würden heute sagen: weil die
Metaphysik nie zu apodiktischen Urteilen gelangt — , so ge-
währt die übernatürliche «Erleuchtung des Glaubens" größere
Gewißheit als das natürliche Wissen. Wenn auch einige Philo-
sophen ,; viele Wahrheiten« über Gott erkannten, so irrten sie
doch auch in vielen Punkten, weil sie «den Glauben entbehrten«.^
Aber wie, wenn es sich um Wahrheiten handelt, die aus-
schließlich Gegenstand der Philosophie, des natürlichen Er-
kennens sind? Dann, antwortet Bonaventura, ist eine doppelte
Gewißheit zu unterscheiden. Fragt man nach dem Grade
der inneren Anhänglichkeit an die betreffenden Wahrheiten,
so ist die certitudo adhaesionis bei dem Wissenden geringer als
bei dem Gläubigen. Denn der Gläubige läßt sich nicht einmal
durch die größten Folterqualen von seinem Glauben abbringen.
Der Wissende dagegen geht nicht in den Tod für die Ver-
nunftwahrheiten. (An den Martertod des Sokrates denkt
Bonaventura nicht, und Giordano Bruno hatte der Welt noch
^ Ratio autem, quare talis scientia simul potest esse de eodem
cum ipsa fide et quod una cognitio alteram non expellit, est, quia
scientia manuductione ratiocinationis licet aliquam certitudinem et
evidentiam faciat circa divina; illa tarnen certitudo et evidentia non
est omnino clara, quamdiu sumus in via. Quamvis enim aliquis
possit rationibus necessariis probare Deum esse et esse Deum unum,
tarnen cernere ipsum divinum esse et ipsam Dei unitatem et qualiter
illa unitas non excludit pluralitatem personarum, non potest nisi per
iustitiam fidei emundetur. Unde illuminatio et certitudo talis scientiae
non est tanta, quod habita illa superfluat illuminatio fidei, imo valde
est cum illa per necessaria. Et hujus Signum est, quia licet aliqui
philosophi de Deo sciverunt multa vera, tamen quia fide
caruerunt, in multis erraverunt vel etiam defecerunt.
Sent. lib. III dist. 24, art. 2, 3.
Bonaventura 59
nicht das Schauspiel seiner Charakterfestigkeit gegeben.) Ander-
seits sei die certitudo speculationis vielfach in der Wissenschaft
größer wegen der inneren Einsicht in die natürlichen Wahr-
heiten. ^
Gleich den anderen großen Theologen des Mittelalters
hat auch Bonaventura sich um die spekulative Durchdringung
der christlichen Lehren bemüht. Schrieb doch auch er einen
Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus; war doch
auch er neben Thomas ein berühmter Lehrer und Nachfolger
seines Ordensgenossen Alexander von Haies auf dem Lehr-
stuhl zu Paris! Dennoch liegt der Schwerpunkt dieses Doctor
seraphicus — so lautet Bonaventuras Ehrentitel - nicht in
der begrifflichen Zergliederung und Begründung der Glaubens-
wahrheiten, nicht im diskursiven Denken über sie, sondern in
ihrer unmittelbaren Erfassung, nicht in der verstandesmäßigen
Spekulation, sondern in der gemütstiefen Intuition.
Ihm gilt es als die tiefste Weisheit, sich anbetend in die
Geheimnisse des Glaubens zu versenken, insbesondere in das
Leben und Sterben Christi, um schon hienieden in inniger
Gemeinschaft mit diesem „Bräutigam der Seele" zu leben —
wie das beliebte Bild lautet — und darin bereits einen
„Vorgeschmack" der künftigen himmlischen Seligkeit zu
besitzen. Den Höhepunkt aber erreicht dieses Schauen in
jenem begnadeten Zustande der Ekstase, wenn die Seele
gleichsam alle Bande des irdisch-leiblichen Lebens abgestreift
hat, ganz in die Tiefe der göttlichen Geheimnisse untertaucht
und in unbeschreiblichem Jubel die Gottheit selbst zu „um-
armen" fühlt. Solche hehren Augenblicke kann man nicht
mit dem Verstände begreifen, sondern nur mit tiefstem
Gefühle erleben. So bekennt Bonaventura in seinem Itine-
rarium mentis ad Dominum: „Möchtest du diesen Vorgang
kennen, so frage die Gnade, nicht die Lehre; das Verlangen,
nicht das Erkennen; die Seufzer des Gebetes, nicht das
* Sent. IIb. III dist. 23, art. 1, 4.
60 Bonaventura
Studium; den Bräutigam, nicht den Leiirer; Gott, nicht den
Menschen; nicht das Licht, sondern jenes hoch lodernde
Feuer, das in überströmender Salbung und glühenden Affekten
zu Gott hinreißt, dessen Glutherd zu Jerusalem ist, wo der
Gottmensch es durch die Glut seines brennenden Leidens
angezündet hat." So gewährt die contemplatio, das Schauen,
in glaubensvoller Hingabe an die göttlichen Wahrheiten ein
höheres Wissen, als die irdische, auf sich gestellte Vernunft
zu erreichen vermag. Alle menschliche Weisheit ist nicht
nur Stückwerk, sondern zugleich Torheit im Vergleich zu
jener mystischen Erleuchtung. Denn „Mystik" heißt die ge-
schilderte Richtung, in der Bonaventura sich bewegt, an-
knüpfend an Augustinus, der bereits unter dem Einfluß neu
platonischer Gedankengänge, in denen die Ekstasis eine
zentrale Stellung einnimmt, von jenem ekstatischen Erlebnisse
des amplexus Dei und raptus in Deum begeistert redet
(de mor. eccl. cath. I, 22. de gen. ad lit. XII, 26), und in Bern-
hard von Clairvaux sowie den Victorinern Nachahmer fand.
Es wäre irrig, zwischen mittelalterlicher Scholastik und
Mystik einen feindlichen Gegensatz anzunehmen. Beide be-
zeichnen vielmehr lediglich verschiedene Wege, die Offen-
barungslehren dem menschlichen Geiste innerlich nahezu-
bringen. Dort unternimmt man es vorwiegend mit Hilfe
des spekulierenden Intellekts, hier in erster Linie mit der Glut
eines von Liebe zum Göttlichen entbrannten Gemütes, das
weniger ein begrifflich - spekulatives als ein kontemplatives
Geistesleben liebt. Beide Wege ergänzten sich. So konnte
auch der „Intellektualismus" eines Thomas von Aquino in
derselben Persönlichkeit neben mystischen Elementen bestehen.
Indes das harmonische Band zwischen diesen beiden
verschiedenen Geistesrichtungen blieb in der Folgezeit nicht
immer bestehen. Nicht zum wenigsten in diesem Umstände
liegt der Einfluß, den die mittelalterliche Mystik ungewollt auf
die spätere Entwicklung unseres Problems ausgeübt hat. Waren
Roger Bacon 61
es doch gerade die späteren Mystiker, die immer mehr die
von den bisherigen mittelalterlichen Theologen anerkannten
Rechte der Vernunft zugunsten des Glaubens beschnitten —
ein Verfahren, das dann für die einflußreiche Gedankenwelt
Luthers vorbildlich wurde.
Doch bevor wir hierauf eingehen, müssen wir uns von
dem großen Mystiker Bonaventura einem der größten Natur-
forscher des Mittelalters zuwenden, der ebenfalls dem Francis-
kanerorden angehörte und in Oxford lehrte.
8. Roger Bacon (f 1294).
In ihm begegnen wir einem begeisterten Verehrer der
Naturwissenschaft, speziell der Astronomie. ^ Auch er faßt
den Begriff der „Philosophie" in einem sehr weiten Sinne und
versteht darunter den Inbegriff aller Vernunftwahrheiten.
Letztere aber werden, wie er nachdrücklich hervorhebt, nicht
etwa allein durch logische Beweise ermittelt, sondern wesent-
lich unter Hinzuziehung einer zweiten natürlichen Erkenntnis-
quelle, nämlich der Erfahrung. Bloße Vernunft-Spekulation
führt nicht zu einem „sicheren Schauen der Wahrheit"; ohne
Erfahrung, sagt schon dieser mittelalterliche Bacon, wie sein
späterer Landsmann Bacon von Verulam (1561-1626), kann
nichts Bestimmtes gewußt werden. Sine experientia nihil
sufficienter sciri potest. ^
Was den Zweck der Philosophie betrifft, so soll sie nicht
als Selbstzweck das Wissen um des bloßen Wissens willen
zu erweitern trachten, sondern alle ihre Bemühungen sollen
letzten Endes der sittlichen Bestimmung des Menschen dienen.
^ Vgl. Franz Strunz, Geschichte der Naturwissenschaften
im Mittelalter, Stuttgart 1910, S. 93 ff.
- Duo sunt modi cognoscendi, scilicet per argumentum et per
experientiam. Argumentum concludit et facit nos concludere quaestionem,
sed non certificat neque removet dubitationem, ut quiescat animus
in intuitu veritatis nisi eam inveniat via experientiae ... Sine ex-
perientia nihil sufficienter sciri potest. Op. mains VI c 1.
62 Roger Bacon
Gott gilt es aus seiner Schöpfung zu erkennen und zugleich
das Verhältnis, in dem der Mensch zu Gott steht. Nur eine
solche ethisch-religiös orientierte Philosophie hat Wert. Die
Philosophie der „Ungläubigen" ist durchaus schädlich und
darum völlig wertlos; sie stammt aus der Finsternis und ver-
dunkelt den Geist. „Ungläubig" aber und darum verderblich
ist jede Philosophie „an sich" — secundum se - , die ihre eigenen,
selbständigen Wege geht, ohne Rücksicht auf die Lehren der
göttlichen Offenbarung. Nur diese schützt das endliche
menschliche Denken vor Irrtum. Die „wahre" Philosophie
bleibt darum in engstem Zusammenhange mit der Theo-
logie. Sie beweist die Wahrheit des christlichen Glaubens,
vorab die Tatsache der Offenbarung, und arbeitet der Theologie
durch Ermittelung der auf Gott bezogenen Vernunftwahr-
heiten vor, indem sie vor allem zu der Erkenntnis Gottes
aus dem sichtbaren Werke seiner Schöpfung gelangt und
daraus zugleich die Pflicht der Gottesverehrung für den
Menschen ableitet. ^
Aufgabe der Theologie aber ist es alsdann, unter
Berufung auf die göttliche Offenbarung die Vernunftwahr-
heiten zu vertiefen und zu ergänzen. Die Theologie ist dem-
nach infolge ihrer göttlichen Grundlage hoch erhaben über der
^ Philosophia habet dare probationes fidei Christianae.
Op. malus II, c 8.
Totius philosophiae decursus consistit in eo, ut per Cognitionen!
suae creaturae cognoscatur creator, cui propter reverentiam majestatis
et beneficium creationis et futurae felicitatis serviatur in cultu honorifico
et morum pulchritudine et legum utilium honestate, ut jin pace et
honestate, vivant homines in hac vita. Philosophia enim specu-
lativa decurrit usque ad cognitionem creatoris per crea-
turas. Et moralis philosophia morum honestatem, leges justas et
cultum Dei statuit et persuadet de futura felicitate utiliter et magnifice,
secundum quod possibile est philosophiae. Op. maius II, c 7.
Philosophia infidelium est penitus nociva. II, c8.
Philosophia secundum se ducit ad caecitatem infernalem et
ideo oportet, quod secundum se sit tenebra et caligo. I.e.
Roger Bacon 63
Philosophie als einer rein menschlichen Wissenschaft. Von
solchen Voraussetzungen aus kommt dann auch Roger
Bacon zu der eigenartigen Konsequenz, die wir bereits in
dieser Formulierung früher bei den alten Kirchenschriftstellern
antrafen: die „wahre" Philosophie ist allein in der hl. Schrift
enthalten; die vom „hl. Geiste erleuchteten", gottgesandten
Patriarchen und Propheten sind die „wahren Philosophen, die
alles wußten" - wie Bacon wörtlich sagt -, und zwar
kannten sie eben „nicht nur das Gesetz Gottes, sondern auch
alle Teile der Philosophie"; ja, sie hatten sogar die „volle
Herrschaft über die Natur". ^ (Man wird hierbei an eine
ähnliche optimistische Bibel-Auslegung Richards von St. Victor
[t 1173] erinnert.*)
Wenn auch Roger Bacons Ausführungen uns sachlich
nichts „Neues" brachten, so waren sie doch um einiger
interessanter Formulierungen willen erwähnenswert. Ist doch
„die Philosophie der Ungläubigen" — philosophia in-
fidelium est penitus nociva, hörten wir Bacon verkünden —
bis auf den heutigen Tag ein stark gefühlsbetonter Begriff
1 Dico igitur, quod eisdem personis a Deo data est potestas philoso-
phiae, quibus et Sacra scriptura, scilicet sanctis ab initio, ut sie appareat
una esse sapientia completa hominibus necessaria. Soli enim patri-
archae et prophetae fuerunt veri philosophi qui omnia
sciverunt, scilicet non solum legem Dei, sed omnes partes philosophiae.
Hoc enim ipsa sacra scriptura satis evidenter ostendit, quae dicit
Joseph erudivisse principes Pharaonis et senes Aegypti prudentiara do-
cuisse et Moysem fuisse peritum in omni sapientia Aegyptiorum. Et
Bezaleel et Aholiab hoc demonstrant, qui omni intellectu et sapientia
rerum naturalium fuerunt illustrati; uno enim f latu SpiritusSanctus
eos illuminavit et docuit totam potestatem naturae in rebus
metallicis et caeteris mineralibus. Sed et Salomon sapientior
omnibus praecedentibus et subsequentibus secundum testimonium
scripturae plenam obtinuit philosophiae potestatem.
Philosophiae cum theologia affinitas c IX.
^ Vgl.J. Verweyen, Das Problem der Willensfreiheit.
Freiheit in der Scholastik, Heidelberg 1909, S. 74.
64 Raymundus Lullus
geblieben, der vom Standpunkte der Offenbarungs-Theologie
notwendig abgelehnt werden muß.
Sachlich bedeutsamer ist für die Geschichte unseres
Problems der Verfasser der bekannten „Ars magna".
9. Raymundus Lullus (f 1315).
In Rede und Gegenrede läßt Lullus die w Zwölf Prinzipien
der Philosophie" zu Worte kommen. Die Vernunft bezw.
die Philosophie beklagt sich, daß die Averroisten ihr vorge-
worfen hätten, sie sei eine Feindin des Glaubens und der
Theologie, bis sie schließlich Lullus bittet, nötigenfalls mit
Gewalt diese Verleumder zu bekämpfen.
Auch Lullus definiert den Glauben als eine über die
natürlichen Verstandeskräfte hinausweisende Erkenntnisquelle. ^
Aus eigener Kraft könnte die Vernunft die Wahrheiten des
Glaubens nicht ermitteln. Dennoch aber ist der Glaube nur
eine, obzwar notwendige Vorstufe aller höheren Erkenntnis;
mithin keine absolut übernatürliche Erkenntnisquelle, aus der
dem Menschen etwa schlechthin übervernünftige Geheimnisse
zufließen. Denn nicht der Glaube, sondern die Einsicht, nicht
das credere, sondern das intelligere bildet das Ziel des Intellekts.
Aber gleichwohl ist der Glaube eine nützliche vorläufige Er-
kenntnisstufe, gleichsam ein Instrument, dessen sich der Ver-
stand vorübergehend auf dem Wege zu den höchsten Wahr-
heiten bedient.* Aber das Endziel des Verstandes besteht
darin, apodiktische Beweise für alle Glaubenswahrheiten zu
finden. Das ist möglich; denn — so meint Lullus mit vielen
^ Fides est Habitus a Deo datus per quem intellectus intelligit
super vires suas ea, quae per suam naturam attingere non potest, ut
puta articulos fidel et hujusmodi. Philos. princ. c IIL
^Credere non est finis intellectus, sed intelligere; verumtamen
fides est suum instrumentum ad elevandum suum intelligere cum credere;
et ideo sicut instrumentum consistit inter causam et effectum; sie fides
consistit inter intellectum et Deum, influxa fide a Deo in subjectum ut
per ipsum quiescat in objecto primo. Ars magna IX, c 63.
Raymundus Lullus 65
extremen Rationalisten unter seinen Vorgängern — alle Dogmen
sind Vernunftpostulate. Aber eben darum ist auch ein Wider-
spruch zwischen Glauben und Wissen unmöglich.
So kommt auch Lullus zu der Harmonie zwischen Philo-
sophie und Theologie, aber eben - mit wesentlicher Ab-
weichung von der kirchlich approbierten Lösung des Problems —
nur so, daß er die Glaubensinhalte restlos auf rationalem Wege
in Gegenstände des natürlichen Denkens verwandelt. Er hebt
insofern — in einem umgekehrten Verfahren wie demjenigen
Kants — den Glauben auf, um für ein höheres, durch den
Glauben vorher angeregtes Wissen Platz zu bekommen. Ein
Verfahren, das er durch einen interessanten Vergleich zu ver-
deutlichen sucht: Wie das Oel in einem mit Wasser gefüllten
Gefäße um so höher steigt, je höher das Wasser dringt, ebenso
steigt der Glaube mit zunehmender rationaler Einsicht in seine
Wahrheit. Genauer gesprochen, löst sich dabei aber der Glaube
offensichtlich in Wissen auf.
Diesen Standpunkt erneuert später im wesentlichen der
spanische Arzt Raymundus von Sabunde, derum 1430 Lehrer
der Philosophie und Medizin in Toulouse war. In seiner
»natürlichen Theologie« (Theologia naturalis) spricht er von
zwei Büchern, in denen der Mensch die Wahrheit lesen kann.
«Natur und Offenbarung" lautet der Titel. Beide Bücher
sind ihrem Inhalte nach durchaus gleich; die Methode der
Lektüre dagegen ist verschieden. Hier läßt sich der Leser
von der Autorität, dort von der Vernunft leiten. Das Buch
der Natur aber ist die Pforte zum Buche der Offenbarung,
weil jenes die Beweise für das Dasein Gottes, seine Wahr-
haftigkeit sowie vor allem für die Tatsache der Offenbarung
enthält. Die Glaubwürdigkeit der Offenbarung ist freilich erst
durch den rationalen Nachweis bezeugt, daß es sich bei den
Dogmen lediglich um Vernunftpostulale handelt. Anderseits
sollen doch wieder einige Dogmen, wie die Trinität, Eucharistie,
Inkarnation u. a. keine Vernunftpostulate sein. Aber dies
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 5
66 Wilhelm Occam
meint Raymundus offenbar nur in dem Sinne, daß die Ver-
nunft nicht aus sich zu derartigen Wahrheiten gelangt, diese
vielmehr durch die Offenbarung als eine äußere Anregung
zuvor kennen lernen muß, um sie darauf ihrerseits rationa-
listisch zu begründen.!
Hatten wir es soeben mit Denkern zu tun, die ein starkes
Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft gegenüber
den geoffenbarten Lehren setzen, so kommen wir nunmehr
zu einer wesentlich anders gerichteten Gruppe von Theologen.
10. Wilhelm Occam (tl347).
Occam, ein Schüler und Ordensgenosse des Duns Scotus,
der Hauptvertreter des damaligen Nominalismus und Lehrer
in Paris, hat sich den Beinamen eines doctor singularis
und venerabilis inceptor erobert. Für seine Haltung gegen-
über den geistigen Kämpfen seiner Zeit ist charakteristisch,
daß er dem Papste jede direkte und indirekte Herrschaft über
die wehlichen Fürsten abspricht. Im Kampfe Bonifaz VIIL
gegen Philipp den Schönen stellte er sich auf die Seite des
letzteren. Ebenso ergriff er später gegen Johann XII. die
Partei Ludwigs des Bayern, dem er das kühne Wort entgegen-
rief: Tu me defendas gladio, ego te defendam calamo.
Dieser kirchenpolitischen Selbständigkeit entspricht es,
wenn Occam auch als Denker eigene, von der Tradition ab-
weichende Wege geht. Schon sein nominalistischer Stand-
punkt, der das Allgemeine nur in den sprachlichen Fassungen
des erkennenden Geistes, nicht irgendwie in den Dingen
selbst erblickt und damit den naiv-objektiven Gegenstand der
Erkenntnis preisgibt, befindet sich im Gegensatze zu dem
Realismus — nicht nur in dessen extremer, sondern auch in
der gemäßigten Form, etwa eines Thomas von Aquino.
Mit dieser Versubjektivierung des Erkenntnisprozesses
verbindet Occam zugleich eine skeptische Beurteilung der
' Stöckl, 1. c. II S. 1057.
Wilhelm Occam 67
menschlichen Vernunft. Die natürhche Erkenntnis scheint
ihm hinsichtlich der höchsten Fragen des Daseins zu versagen.
Zwingende Gottesbeweise gibt es nicht, weder bezüglich des
Daseins noch der Eigenschaften Gottes. Auch ist ein Beweis
für die Nicht-Ewigkeit der Welt nicht zu erbringen: eine
ewige Weltschöpfung wäre ein widerspruchsloser Begriff.
Ebenso verfehlt sind nach Occam die üblichen Beweise für
die Existenz einer immateriellen Seelensubstanz. Endlich ist
auch kein stichhaltiger Beweis dafür zu erbringen, daß nur
Gott den menschlichen Willen und seine Sehnsucht befriedigt;
denn ein übernatürliches Ziel läßt sich nicht durch natürliche
Vernunft begründen.
Wie Occam mit den extremen sog. Spiritualen den
«natürlichen« Privatbesitz in irgendeiner Form als dem
Geiste Christi zuwider bezeichnete, so sucht er auch die
Kraft der natürlichen Erkenntnis zugunsten des übernatürlichen
Glaubens herabzusetzen. Für den »Weisen dieser Welt, der
sich nur auf die natürliche Vernunft stützt" — pro sapientibus
mundi et praecipue innitentibus rationi naturaH — sind die
Glaubenssätze nicht einmal wahrscheinlich, geschweige denn
rational auflösbar. Aber gerade ihr irrationaler Charakter be-
gründet die Verdienstlichkeit des Glaubens — ein Gedanke,
der an Tertullians Wort credo quia absurdum est anklingt.
Occams Standpunkt deckte sich nicht mit dem kirchlichen.
Seine Lehrbücher wurden bereits 1339 verworfen. In dem
betreffenden Dekret für die Lehrer an der Pariser Universität
finden sich die für die mittelalterliche Methode der Be-
kämpfung charakteristischen Sätze: »Gegen die von unseren
Vorfahren gemachte Vorschrift, daß nur die von den Obern
vorgeschriebenen oder sonst gewohnten Schriften gelesen
werden dürfen, haben sich einige erdreistet, die Lehre des
Occam vorzutragen, ob sie gleich von den Ordinarien nicht
erlaubt noch sonst von uns und anderen geprüft worden ist.
Darum wird dieselbe vorzutragen, wie zum Gegenstände der
68 Gerson
Disputationen zu machen oder auch nur den Occam zu
zitieren, bei Strafe verboten." ^
Eine systematische Bearbeitung erfuhren Occams Werke
später durch den Tübinger Theologieprofessor Gabriel Biel
(t 1495), den sog. letzten Scholastiker, der auf Luther und
Melanchton großen Einfluß gewann.
11. Spätere Mystiker.
Hinsichtlich seiner Wirkung auf Luther verdient unter
Occams Nachfolgern auch vor allem der Mystiker Gerson
(1363 — 1429)2 Erwähnung. Er wirft den Scholastikern eine
falsche Wißbegierde (curiositas) vor. Wichtiger als philo-
sophische und dialektische Streitigkeiten ist ihm die bußfertige
Gesinnung. Wichtiger als die spekulative ist ihm die mystische
Theologie, die den Weg zur Vereinigung des Gemütes mit
Gott weist; nämlich dadurch, daß sie sich nicht auf den
Verstand und seine «rationalen« Beweise, sondern auf die
innere Erfahrung und ihre »irrationale" Gewißheit stützt.
Sie allein gewährt Weisheit, nicht bloße Wissenschaft.
So dringt Gerson weniger auf das rational auflösbare
Wissen als auf das irrationale, nicht weiter beweisbare, viel-
mehr nur erlebbare unmittelbare Innewerden Gottes und gött-
licher Wahrheiten. So legt er gegenüber allem Grübeln den
Nachdruck auf die mystische Vereinigung der Seele mit Gott.
Nicht begriffliche Erkenntnis, sondern das Schauen gewährt
die höchste Einsicht und Seligkeit. Solches Schauen aber
entstammt einer Erleuchtung, wie sie nur eine in glühender
Liebe zu Gott entbrannte Seele erfährt, die sich von allen
äußeren Zerstreuungen in ihre eigene Tiefe zu einem stillen
Beisichselbstsein zurückgezogen hat.
Freilich fehlt das spekulative Moment auch bei Gerson
nicht ganz. Auch er bemüht sich, die innere Erfahrung der
M. C.S. 1037; 1011, 1018, 1020 ff.
^ 1. c. S. 1080 ff.
Meister Eckhardt 69
Seele in ihrem Verkehre mit Gott auf eine begriffliche,
psychologische Formel zu bringen. Er rühmt die Verbindung
des Spekulativen und Mystischen vor allem an Augustinus
und Bonaventura. Aber er legt den Nachdruck doch eben
auf die Erlebnisse selbst und betont um so stärker die gläubige
Versenkung in das Göttliche als seine verstandesmäßige Be-
gründung. Anderseits spricht er doch auch dem Nachweis
der Uebereinstimmung zwischen Glauben und Wissen keines-
wegs alle Bedeutung ab. Ebenso fordert er mit allen Vor-
gängern, daß die auf die trügerische menschliche Vernunft
aufgebaute Philosophie ihre Resultate beständig prüfe an der
aus göttlicher Offenbarung schöpfenden Theologie.
Während Gerson sich wie die früher erwähnten Mystiker
des Mittelalters strenge in den Bahnen der Kirchenlehre
hält, ist der Begründer der sog. deutschen Mystik, Meister
Eckhardt (f 1329) mit ihr in Konflikt geraten. Auch er
sucht mit seinen Vorläufern die mystische, nicht durch gelehrtes
Wissen zu gewinnende Vereinigung der Seele mit Gott. Während
aber jene die Wesens Verschiedenheit zwischen Gottheit und
Mensch bei aller Innigkeit ihrer geistigen Verbindung aufrecht
hielten, bedient sich Eckhardt Wendungen, die darüber hinaus-
gehen und pantheistischen Charakters sind. Die Frucht des
mystischen Schauens, als dessen Organ er das ungeschaffene
„Seelenfünklein" bezeichnet, bedeutet nach ihm nichts Geringeres
als die Geburt des Sohnes Gottes in uns. Diese kommt
nur dadurch zustande, daß die Seele sich ganz von allem
Aeußeren loslöst und in stiller „Gelassenheit" nur den gött-
lichen Willen in sich walten läßt. „Wenn wir alle Dinge und
auch uns selbst sehen als ein Nichts, dann sehen wir Gott.''
„Gott allein muß wirken; der Mensch folge nur und widerstehe
nicht." So wird der Mensch erst eins mit Gott, ja geradezu
Gott selbst. Es beginnt die „Vergottung" des Menschen,
der in der mystischen Ekstase nicht nur filius adoptivus wird,
sondern sogar filius naturalis Dei wird. Der historische
70 Johannes Tauler
Christus ist lediglich ein Ideal. Jeder Mensch soll und kann
dieselbe Stufe der Qottessohnschaft erlangen wie er.
Kein Wunder, daß die Schriften und Predigten Eckhardts
wegen solcher Lehren Anstoß erregten. Er wurde als Domini-
kanermönch zunächst vor das Ordenskapitel in Venedig, dann
1327 vor das Inquisitionstribunal geladen, von dem er an den
Papst appellierte, ohne dadurch die Verurteilung vieler seiner
Lehren verhüten zu können.
Aber die von ihm verkündigten Ideen gewannen bald
einen neuen Vertreter in Johannes Tauler (f 1361). Ihm gilt
das »Gemüt" als der vornehmste Teil der Seele, als ihr tiefster
Grund, der zugleich mit dem Urgründe des göttlichen Wesens
identisch ist. Wie sich nun in den dunklen Tiefen der gött-
lichen Natur durch deren Selbsterfassung die Geburt des Sohnes
vollzieht, so lehrt Tauler mit Eckhardt Analoges von der mensch-
lichen Seele. Auch in ihrem Grunde wird Gott geboren.
Darin gipfelt alles mystische Leben, das nicht durch begriff-
liches Wissen, sondern nur durch »gelassenes« Aufnehmen
göttlicher Einwirkungen erlangt wird. »Das natürliche Licht
der Vernunft muß ganz zu nichte werden, soll Gott eingehen
mit seinem Lichte." Ja, ein völliges Nichtwissen ist die Be-
dingung jener Gottesgeburt in uns. «Der Mensch soll ent-
weichen allen Sinnen und einkehren alle seine Kräfte und
kommen in ein Vergessen aller Dinge und seiner selbst." „Und
nicht etwa bildlich ist die Geburt des Sohnes Gottes in uns
zu verstehen, sondern ganz real." „Gott der Vater gebäret
seinen Sohn in der Seele, nicht als die Kreaturen tun im
Bilde und im Gleichnis, sondern vielmehr in aller Weise, als
er ihn gebärt in der Ewigkeit, noch minder noch mehr." „Und
wie der Sohn wird geboren aus dem Vater und fließt wieder
in den Vater, also wird der Mensch in dem Sohn von dem
Vater geboren, und fließt wieder in den Vater mit dem Sohn
und wird Eins mit ihm."
Heinrich Suso. Johannes Ruysbroek 71
Aehnlich die übrigen „deutschen Mystiker", wie Heinrich
Suso (tl365), Johannes Ruysbroek (f 1381) — der indes
die Wesens Verschiedenheit zwischen Gott und dem mystisch
sich mit ihm vereinigenden Menschengeiste festhält — und
nicht zuletzt der unbekannte Verfasser der wieder stark pan-
theistisch, aber auch zugleich ethisch-dualistisch gefärbten sog.
„deutschen Theologie", deren erste gedruckte Ausgabe aus
dem Jahre 1516 von Luther stammt. „Wer Gott leiden will und
soll — heißt es darin - , der muß und soll alle Dinge leiden,
das ist: Gott, sich selber und alle Kreatur, nichts ausge-
nommen; und wer Gott gehorsam, gelassen und Untertan
sein soll und will, der muß und soll auch allen Dingen ge-
lassen, gehorsam und unteran sein in leidender Weise und
nicht in tätiger Weise, und dies Alles in einem schweigenden
Innebleiben in dem inwendigen Grund seiner Seele und in
einer heimlichen, verborgenen Geduldigkeit, alle Dinge oder
Widerwärtigkeit williglich zu tragen und zu leiden und in
allen diesen Dingen keinen Behelf noch Entschuldigung noch
Widerrede oder Rache zu tun oder zu begehren, sondern
allezeit in einer lieblichen wahren Demütigkeit zu sprechen:
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."
Solche demütige Gelassenheit allem Geschehen gegenüber be-
zeichnet auch die „deutsche Theologie" als die notwendige
Bedingung jener uneigennützigen Liebe, durch die sich die
Seele mystisch mit Gott verbindet. Diese Vereinigung
kommt darin zum Ausdruck, ,,daß man lauterlich und ein-
fältiglich und gänzlich in der Wahrheit einfältig sei mit dem
einfältigen ewigen Willen Gottes oder zumal ohne Willen sei,
und daß der geschaffene Wille geflossen sei in den ewigen
Willen und darin verschmolzen sei und zu nichte geworden
sei also, daß der ewige Wille allein daselbst wolle, tue und
lasse". Darin besteht das Wesen der „Vergottung des Menschen".
So spinnen sich die historischen Fäden von der deutschen
Mystik hinüber zu Luther und gewinnen einen wesentlichen
72 Zusammenfassung
Anteil an der reformatorischen Lösung unseres Problems. Sind
es doch gerade die deutschen Mystiker, welche das in der
Scholastik weit höher geschätzte Wissen immer mehr hintan-
setzen zugunsten der gemütvollen Hingabe an das Göttliche.
Und wenn wir in der protestantischen Theologie des 19. Jahr-
hunderts - bis hinein in unsere Tage - die „innere Erfah-
rung", das „religiöse Erlebnis" als besondere Erkenntnis-
quelle preisen hören, so erkennen wir darin sogleich den Geist
jener Mystiker wieder, die wir soeben an unserem Auge vor-
überziehen sahen. Doch bevor wir hierauf näher eingehen,
wollen wir einen zuzammenfassenden Rückblick auf die bis-
herigen Ausführungen werfen.
12. Zusammenfassung.
Unter den Stellungen, die mittelalterliche Denker zu dem
Probleme von Glauben und Wissen, d. h. zu dem Verhältnis
von Vernunft und Offenbarung, Philosophie und Theologie
einnehmen, trafen wir drei verschiedene Gruppen an.
Wir begegneten erstens dem Bestreben, alle Dogmen
in Vernunftpostulate aufzulösen; so bei Eriugena, Abaelard,
Lullus, Raymund von Sabunde. Es ist der Standpunkt eines
Rationalismus, der mit derVernunft alle Offenbarungslehren glaubt
einsehen zu können und folglich dem von der Kirche gelehrten
„übervernünftigen" Charakter vieler Dogmen nicht gerecht wird.
Nicht so radikal war zweitens der Versuch, nur einige
Dogmen durch das Licht der natürlichen Vernunft aufzuhellen,
ohne den absoluten Geheimnis-Charakter anderer anzutasten.
Anseimus, Albertus Magnus und vor allem Thomas von Aquino
waren Vertreter dieser - prinzipiell von der Kirche aner-
kannten — Richtung. Auch Scotus gehörte zu ihnen, obschon
sich zu den üblichen „Beweisen" seiner Vorgänger, wie wir
sahen, sehr kritisch stellte.
In dieser Richtung gingen dann drittens Spätere derart
weiter, daß sie schlechthin den irrationalen Charakter aller
Petrus Pomponatius 73
Glaubenslehren festhielten, ohne irgendein Dogma als Vernunft-
postulat begreifen zu wollen. So Occam, Biel und spätere Mystiker.
Demnach befindet sich der thomistische Lösungs-
versuch in der Mitte zweier Extreme, von denen das
erste extrem-rationalistisch dem Wissen, das zweite extrem-
antirationalistisch oder irrationalistisch dem Glauben eine ein-
seitig dominierende Stellung anweisen.
Diese mittlere Richtung - man hat sie wohl als einen
Sem i rati 0 na lism US bezeichnet- ist von der katholischen Kirche
offiziell anerkannt worden. Anders ausgedrückt: Die Stellung
des „Fürsten der Scholastiker" Thomas von Aquino zu unserem
Problem bedeutet prinzipiell zugleich dessen katholische Lösung.
Gegenüber irrigen Vorstellungen — die noch immer
nicht ganz ausgestorben sind — zunächst der Hinweis darauf,
daß die katholische Kirche niemals das Prinzip der
sog. »doppelten Wahrheit« anerkannt hat. Wenn
Thomas von duplex veritas redet, so versteht er darunter, wie
wir uns überzeugten, etwas wesentlich anderes als Averroes
(wenigstens so wie Thomas diesen arabischen Denker inter-
pretiert). Das «averoistische" Prinzip der doppelten Wahrheit
aber wurde bereits 1270 durch Bischof Templer von Paris und
1275 durch Papst Johann XXI. verworfen. Als dann später
der berühmte Lehrer zu Padua und eifrige Verfechter des
Aristotelismus Petrus Pomponatius (1462 — 1525) aus-
drücklich die Lehre vertrat, es könne in der Philosophie falsch
sein (wie die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit, der
Wunder und der Willensfreiheit), was in der Theologie wahr
sei — und umgekehrt — da wandte sich 1512 das Lateran-
Konzil abermals gegen einen solchen Dualismus: eine Wahrheit
könne der anderen nicht widersprechen; daher müsse jede dem
Glauben entgegengesetzte Behauptung notwendig falsch sein. ^
^ Quumque verum vero minime contradicat, omnem assertionem
veritati illuminatae fidei contrariam omnino falsam esse defendimus.
Con,c. Lat. 1512, V, sessio VIII.
74 Petrus Pomponatius
Um nunmehr unsere Untersuchung auf den lebendigen
Ton der Gegenwart zu stimmen, dürfen wir vor allem
nicht die folgenden päpstlichen Kundgebungen übergehen,
durch welche die thomistische Lösung des Problems noch in
unserer Zeit direkt oder indirekt ihre kirchliche Approbation
gefunden hat.
Thomas von Aquinos kirchliche Bestätigung 75
III. Thomas von Aquinos kirchliche
Bestätigung.
1. In dem berühmten Sy Ilabus vom 8. Dezember 1864
hat Pius IX. die «hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit«
verurteilt. ^ Unter ihnen finden sich manche Sätze, die
mit unserem Thema in engstem Zusammenhange stehen.
Verworfen werden z. B. folgende Thesen, deren kontradik-
torischer (nicht konträrer) Gegensatz dann - wie noch immer
nicht allen über diese Dinge Redenden und Schreibenden
geläufig ist — die katholische Lehre bedeutet. Als Irrtümer
werden Sätze bezeichnet wie diese: „Alle Wahrheiten der
Religion fließen aus der natürlichen Kraft der menschlichen
Vernunft (ex nativa humanae rationis vi); daher ist die
Vernunft die vorzüglichste Norm (princeps norma), wonach
der Mensch die Erkenntnis aller Wahrheit jeglicher Art sich
erwerben kann und soll." (Nr. 4.) „Der christliche Glaube
widerspricht der menschlichen Vernunft und die göttliche
Offenbarung nützt nicht allein nichts, sondern sie schadet
auch der Vervollkommnung des Menschen." (Nr. 6.) „Die
in der heiligen Schrift mitgeteilten und erzählten Prophe-
zeiungen und Wunder sind Erfindungen von Dichtern, und
die Geheimnisse des christlichen Glaubens sind die Zusammen-
fassung von philosophischen Forschungen; in den Büchern
beider Testamente sind mythische Erfindungen enthalten, und
Jesus Christus selbst ist eine mythische Erdichtung." (Nr. 7.)
^ Vgl. L. K. Götz, Der Ultramontanismus als Weltanschauung auf
Grund des Syllabus. Bonn 1905. Ferner die Gegenschrift dazu von
F. Heiner, Der Syllabus in ultramontaner und antiultramontaner Be-
leuchtung. Mainz 1905.
76 Syllabus Pius IX
„Alle Dogmen der christlichen Religion ohne Unterschied sind
ein Gegenstand der natürlichen Wissenschaft oder der Philo-
sophie; und die bloß historisch gebildete menschliche Vernunft
kann aus ihren eigenen natürlichen Kräften und Prinzipien zu der
wahren Erkenntnis in betreff aller, auch der dunkleren Dogmen
gelangen, wofern nur diese Dogmen der Vernunft selbst als
Objekte vorgelegt werden." (Nr. 9.)
„Da etwas anderes der Philosoph und etwas
anderes die Philosophie ist, so hat jener das Recht und
die Pflicht, sich der Autorität, welche er selbst für die wahre
erkannt hat, zu unterwerfen; aber die Philosophie kann und
darf sich keiner Autorität unterwerfen." (Nr. 10.) ^ „Die Kirche
muß sich nicht allein niemals gegen die Philosophie wenden,
sondern muß auch die Irrtümer der Philosophie dulden
und es ihr überlassen, sich selbst zu korrigieren." (Nr. 11.)
„Die Philosophie muß ohne Rücksicht auf die über-
natürliche Offenbarung betrieben werden." (Nr. 14.)
Bringen wir diese Verurteilungen auf einen kurzen Aus-
druck, so können wir sagen: es wird darin 1. die Gleich-
berechtigung der Vernunft mit der Offenbarung als Erkenntnis-
quelle abgelehnt; vielmehr 2. die Unterordnung der Philo-
sophie unter die Offenbarung im Kollisionsfalle gefordert. Es
wird 3. gegenüber dem Rationalismus der übernatürliche Ur-
sprung der katholischen Religion behauptet und 4. der Versuch,
alle Dogmen aus bloßer Vernunft zu konstruieren, zurückge-
wiesen. Alle diese Punkte aber bedeuten eine Rechtfertigung der
Stellung, die Thomas von Aquino zu dem Probleme einnimmt.
^ Vgl. das die katholische Lehre über diesen Punkt enthaltende,
gegen Günther gerichtete Breve Pius IX. vom 15. Juni 1857 an den
Fürstbischof von Breslau (zitiert in der im folgenden zu be-
sprechenden Modernismus-Enzyklika § 10): „Es kommt der Philosophie
in allem, was die Religion angeht, nicht zu zu befehlen, sondern zu
gehorchen, nicht vorzuschreiben, was zu glauben ist, sondern es mit
vernünftigem Gehorsam zu erfassen, nicht die Tiefe der Geheimnisse
Gottes zu durchforschen, sondern sie in aller Frömmigkeit zu verehren."
Encyclica Aeterni Patris 77
2. Die Encylcica Aeterni Patris, die Leo XIII. am
4. August 1879 in die Welt sandte, bedeutet eine weitere
autoritative kirchliche Empfehlung des Aquinaten im allgemeinen
und seiner Lehre über das Verhältnis von Philosophie und
Theologie im besonderen.^
Weil nach den Worten des Apostels Paulus (Coloss. II, 8) -
heißt es in der Einleitung - „durch Weltweisheit und leeren
Trug die Gemüter der Christgläubigen häufig getäuscht und
die Reinheit des Glaubens in den Menschen verletzt wird,
darum haben die obersten Hirten der Kirche immerdar es für
ihre Amtspflicht erachtet, auch die wahre Wissenschaft
mit allen Kräften zu fördern, und zugleich mit besonderer
Wachsamkeit dafür zu sorgen, daß alle menschlichen Wissen-
schaften überall der Regel des katholischen Glaubens
gemäß gelehrt würden, besonders aber die Philosophie, von
welcher nämlich zum großen Teile der richtige Bestand der
übrigen Wissenschaften abhängt." „Allerdings" — lautet dann
aber die bedeutsame Einschränkung — „schreiben wir der
menschlichen Philosophie nicht einen so großen Einfluß und
solches Ansehen zu, daß wir dafür hielten, sie sei hinreichend, alle
Irrtümer zu überwinden und auszurotten. Vielmehr besteht
die Aufgabe der Philosophie — man glaubt des Clemens von
Alexandrien Wort über den Uaidaycoyog eig Xqiozov oder eben
Thomas von Aquino über die ,praeambula fidei' zu hören —
vor allem darin, den ,Weg zum Glauben' zn weisen, , Erzie-
herin zum Evangelium' zu sein. Dabei ,ergibt sich zunächst
als große und herrliche Frucht des Gebrauches der mensch-
hchen Vernunft der Beweis für das Dasein Gottes; aus der
Größe der Schönheit der Geschöpfe kann man schlußweise
den Schöpfer erkennen . . . (d. h.) die Wahrheit selbst, welche
nicht getäuscht werden noch täuschen kann. Hieraus folgt
augenscheinlich, daß die menschliche Vernunft dem Worte
^ Die autorisierten Ausgaben der päpstlichen Rundschreiben (la-
teinischer und deutscher Text) erscheinen bei Herder, Freiburg i. B.
78 Encyclica Aeterni Patris
Gottes die höchste Glaubwürdigkeit und Autorität zuerkennt.
In gleicher Weise erklärt sie, daß die evangelische Wahrheit
durch wunderbare Zeichen (mirabilia signa) zum gewissen
Beweise der gewissen Wahrheit schon seit ihrem Ursprung
hervorgeleuchtet hat, und daß darum alle, welche dem Evan-
gelium glauben, nicht unbesonnen glauben, als ob sie gelehrten
Fabeln folgten, sondern in vollständig vernunftgemäßem
Gehorsam ihren Geist und ihr Urteil der göttlichen Autorität
unterwerfen. Auch das ist offenbar von nicht geringerem Be-
lange, daß die Vernunft augenscheinlich beweist (quod ratio
in perspicuo ponat), daß die von Christus eingesetzte Kirche
(wie die Kirchenversammlung vom Vatikan festsetzte) wegen
ihrer wunderbaren Ausbreitung, hervorragenden Heiligkeit und
unerschöpflichen Fruchtbarkeit, die sie allenthalben entfaltet,
wegen der katholischen Einheit und unüberwindlichen Festig-
keit ein großer und fortdauernder Beweggrund der
Glaubwürdigkeit ist (magnum quoddam et perpetuum mo-
tivum credibilitatis) und ein unwidersprechliches Zeugnis
ihrer göttlichen Sendung (divinae suae legationis testimonium
irrefragabile)."
Ferner ist die Philosophie berufen, als Instrument der
Theologie die Offenbarungslehren zu einem organischen
Ganzen zu verbinden und sie gegen Angriffe zu verteidigen.
„In dieser Beziehung verdient die Philosophie großes Lob, da
sie als eine Schutzwehr des Glaubens und ein festes Bollwerk
4er Religion gilt". Freilich nur so lange, als die menschliche
Vernunft „im Bewußtsein ihrer Schwäche es nicht wagt, sich
über ihre Schranken zu erheben noch diese Wahrheiten zu
leugnen, noch sie mit ihrem eigenen Maße zu messen, noch
nach Willkür zu erklären; vielmehr soll sie dieselben mit
vollem und demütigem Glauben annehmen, und es sich zur
höchsten Ehre rechnen, daß sie gleich einer Dienerin den
himmlischen Lehren nachfolgen (in morem ancillae et
pedisequae famulari caelestibus doctrinis), ihnen ihre Dienste
Encyclica Aeterni Patris 79
leisten und von ihnen durch Gottes Gnade einigermaßen ein
Verständnis gewinnen darf." Zwar hat die Philosophie —
man beachte besonders diesen oft übersehenen
Grundsatz — ihre eigenen, von der Theologie verschiedenen
„Methoden, Prinzipien und Beweise"; dennoch muß sie ihre
Resultate beständig an der Offenbarung orientieren. Dies tut
wenigstens der „katholische Philosoph" (philosophius catho-
licus, den die Encyclica ausdrücklich fordert); ein solcher ist
überzeugt, „daß er die Rechte des Glaubens und der Vernunft
zugleich verletzt, wenn er einen Satz annimmt, von dem er weiß,
daß er der Offenbarung widerspricht". „Jene philosophieren
daher am besten, welche das Studium der Philosophie
mit der Hingabe an den christlichen Glauben verbinden,
in dem der Glanz der göttlichen Wahrheiten, welche die Seele
durchdringt, auch die Intelligenz selbst erhebt und sie in ihrer
Würde nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern dieselbe vielmehr
in hohem Grade adelt, schärft und kräftigt."
Es folgt ein historischer Rückblick auf die Apologeten der
alten christlichen Kirche, die Glauben und Wissen in der
„richtigen" Form zu vereinigen wußten. Vor allem aber werden
die mittelalterlichen Scholastiker gepriesen und unter ihnen
eben in erster Linie Thomas von Aquino, von dem gerühmt
wird: „Es gibt kein Gebiet der Philosophie, das er nicht scharf-
sinnig und zugleich gediegen behandelt hätte; seine Unter-
suchungen über die Gesetze des Denkens, über Gott und die
unkörperlichen Substanzen, über den Menschen und die übrigen
sinnlichen Dinge, über die menschlichen Handlungen und ihre
Prinzipien sind derart, daß in ihnen sowohl eine Fülle von Stoff
als passende Anordnung der Teile, die zweckmäßigste Methode,
Sicherheit der Grundsätze und Kraft der Beweise, Klarheit und
Genauigkeit im Ausdruck wie nicht minder eine Leichtigkeit sich
findet, auch das Dunkelste aufzuhellen." Und weiter - gerade
mit Rücksicht auf unser Problem: Indem er genau, wie
es sich gebührt, zwischen Vernunft und Glaube unter-
80 Neuer Syllabus Plus X
schied, beide aber in einem Freundschaftsbunde einte,
hat er sowohl die Rechte beider gewahrt, als für beider Würde
Sorge getragen, so zwar, daß die Vernunft, auf den Flügeln
des heiligen Thomas zu ihrer höchsten menschlichen
Vollendung emporgetragen, nun kaum mehr höher zu
steigen vermag, noch der Glaube von der Vernunft kaum
weitere oder triftigere Beweise fordern kann, als er schon
durch Thomas erlangt hat."
Zum Schlüsse warnt die Enzyklika vor jener verderblichen
«neuen Methode — ohne Rücksicht auf den Glauben — zu
philosophieren", wie sie im 16. Jahrhundert anhob, und fordert
statt dessen eine »gesundere und dem kirchlichen Glauben mehr
entsprechende Lehre (sanior et magisterio Ecclesiae conformior
doctrina), wie sie die Werke des heiligen Thomas von Aquino
enthalten«.
Fassenwirzusammen,so weist auch die soeben erörterte
Encyclica Aeterni Patris der Vernunft die gleiche prinzipielle
Aufgabe und empfiehlt die gleichen Beweise für die Wahrheit
der Kirche wie Thomas. Und ebenso hat der gegenwärtige
Papst Pius X. durch mehrere Erlasse die Autorität und Grund-
sätze des Aquinaten unserer Zeit aufs neue einzuschärfen
gesucht. In der Enzyklika vom 4. Oktober 1903 wendet sich
Pius X. gegen die „lügnerische Wissenschaft" der modernen
Exegese, die im Namen des historisch -kritischen Wissens die
Urkunden des Glaubens zu untergraben drohe. Gegen denselben
Feind wendet sich
3. der sog. „neue Syllabus" oder das Decret Lamen-
tabili Pius X. vom 4. Juli 1907. ^ Er stellt in der Einleitung
die „betrübende" Tatsache fest, „daß es auch unter den Katho-
liken gar nicht wenige Schriftsteller gibt, welche die von den
Vätern und von der Kirche selbst gezogenen Grenzlinien über-
^ Vgl. Anton Michelitsch, Der biblisch - dogmatische Syllabus
Pius X. samt der Enzyklika gegen den Modernismus.
Graz und Wien 1908.
Neuer Syllabus Pius X 81
schreiten und unter dem Vorwande historischer Betrach-
tungsweise einen solchen Fortschritt der Dogmen suchen, der
in Wahrheit deren Zerstörung ist".
Dann werden Sätze verworfen wie diese: „Das kirchliche
Gesetz, welches vorschreibt, Bücher über die Heilige Schrift
einer vorausgehenden Zensur zu unterbreiten, erstreckt sich
nicht auf die Vertreter der Bibelkritik und der wissenschaft-
lichen Exegese der Bücher des Alten und Neuen Testaments."
(Nr. 1). „Die Kirche kann, wenn sie Irrtümer verwirft, von
den Gläubigen nicht eine innere Zustimmung zu diesem ihren
Urteil verlangen." (Nr. 7.) „Von aller Schuld frei sind jene
zu erachten, welche über die Verurteilungen der heiligen
Kongregation des Index oder der anderen heiligen römischen
Kongregationen sich hinwegsetzen." (Nr 8.)
Verurteilt wird ferner die Leugnung der sogenannten
Inspiration d. h. des übernatürlichen Eingreifens Gottes bei
der Entstehung der alt- und neutestamentlichen Schriften. Die
Inspiration muß selbst dem Exegeten immer als unantastbare
Glaubensüberzeugung gegenwärtig sein. Als irrig bezeichnet
darum der Syllabus den entgegengesetzten Satz: „Der Exeget
muß, wenn er den biblischen Studien mit Nutzen obliegen
will, vor allem jede vorgefaßte Meinung von einem über-
natürlichen Ursprung der Heiligen Schrift beiseite
lassen und diese nicht anders auslegen als wie die übrigen
rein menschlichen Urkunden." (Nr. 12.)
Festgehalten wird der alte Begriff der transzendenten
„göttlichen Offenbarung" gegenüber einer immanenten, rein
„natürlichen" Entwicklung des religiösen Bewußtseins der
Menschheit; darum verworfen die These: „Die Offenbarung
konnte nichts anderes sein als das vom Menschen erworbene
Bewußtsein über seine Beziehungen zu Gott." (Nr. 20.)
Gegenüber allen Versuchen, die (früher im Anschluß an
Thomas von Aquino erörterten) sog. praeambula fidei d. h.
die philosophisch-historischen Wissensgrundlagen des Glaubens
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 6
82 Encyclica Pascendi gregis Dominici Pius X
zu bloßen Wahrscheinlichkeiten bezw. Unwahrscheinlichkeiten
zu verflüchtigen, wird der Satz verurteilt: „Die Glaubens-
zustimmung stützt sich schließlich und endlich auf eine Reihe
von Unwahrscheinlichkeiten." (Nr, 25.)
Besondere Aufmerksamkeit erregte endlich — wie noch
hinzugefügt sei — die Verwerfung der 58. These: „Die
Wahrheit ist nicht mehr unveränderlich als der Mensch selbst,
da sie ja mit ihm, in ihm und durch ihn sich entwickelt."
Eine Verurteilung, der im Prinzip jeder beipflichten wird, für
den die Wahrheit als Idee jeder Zeitlichkeit und insofern jeder
Veränderlichkeit entrückt ist. Etwas anderes ist freilich die
jeweilige Erfassung dieser Idee durch den Menschen. Insofern
kennt auch die kirchliche Lehre eine „Entwicklung" der Wahr-
heit, die sie freilich in wesentlichen Punkten durch die Dogmen
ein für allemal festgelegt hat. Nur die immer schärfere und
allseitigere geistige Verarbeitung des dogmatischen Lehrinhaltes
bedeutet darum vom kirchlichen Standpunkte aus „Ent-
wicklung der Wahrheit" — wenigstens insoweit religiöse
Erkenntnisse in Frage kommen.
Von den 65 Sätzen dieses neuen „Syllabus" Pius X. sind
nicht weniger als 30 den Werken des in den letzten Jahren
vielgenannten französischen Forschers Loisy entnommen, der
Professor der Exegese am Institut Catholique zu Paris war.
Bereits am 4. Dezember 1903 waren 5 seiner Schriften auf
den Index gesetzt worden, nämlich: La Religion d'Israel;
L'Evangile et l'Eglise; Etudes evangeliques; Autour d'un
petit livre; Le quatrieme Evangile.
4. Einige Monate nach Erscheinen des Syllabus erließ
Pius X. am 8. September 1907 die viel erörterte Encyclica
Pascendi gregis Dominici — kurzweg als Enzyklika gegen
den sog. Modernismus bekannt (de Modernistarum doctrinis,
wie es im Urtext heißt).
Unter „Modernisten" sind darin nicht etwa „moderne"
Gegner der Kirche verstanden, die nicht zu ihr gehören, viel-
Encyclica Pascendi gregis Dominici Pius X 83
mehr die weit gefährlicheren, weil versteckteren „Feinde im
eigenen Hause", d. h. „die große Anzahl katholischer Laien,
und was noch mehr zu bedauern ist, katholischer Priester, die
unter dem Vorgeben der Liebe zur Kirche, ohne solide philo-
sophische und theologische Vorbildung, dafür aber bis ins Mark
vom Gifte eines Irrtums durchtränkt, das sie bei den Gegnern
des katholischen Glaubens geschöpft haben, sich höchst un-
bescheiden zu Kirchenreformern aufwerfen, sich in keckem
Ansturm an alles wagen, auch an das Heiligste, an Christi
Werk, die nicht einmal vor der Person des göttlichen Erlösers
haltmachen und ihn sakrilegisch zu einem ganz gewöhnlichen
Menschen herabsetzen". (§ 2.)
Als Charakteristikum der „modernistischen Philo-
sophie" werden dann bezeichnet der „Agnostizismus", der die
menschliche Vernunft auf den Kreis der sichtbaren Erscheinungen
beschränke und die Möglichkeit einer „natürlichen Theologie",
also auch einer metaphysischen Gotteserkenntnis und damit
auch die Möglichkeit einer Offenbarung im transzendenten
Sinne bestreite (§ 4); — ferner der Standpunkt der „vitalen
Immanenz" (immanentia vitalis), der an Stelle der äußeren
Offenbarung die innere im Menschen setze, wie sie in dem
religiösen Gefühl, dem „Bedürfnis nach dem Göttlichen" (in-
digentia divini) wurzele. „Dieses Gefühl hat das an sich, daß
es Gott als Gegenstand und als innerste Ursache in sich
schließt und gewissermaßen den Menschen mit Gott eint. Dieses
Gefühl ist für den Modernisten der Glaube und der so ver-
standene Glaube der Beginn der Religion." (§ 5.) „Das reli-
giöse Gefühl, das auf diese Weise mittels vitaler Immanenz
aus den Tiefen des Unterbewußtseins hervorsprudelt, ist der
Keim jeglicher Religion, wie es der Grund alles dessen ist,
was in irgendeiner Religion war oder jemals sein kann.
Dunkel, beinahe ungestaltet im Ursprung, hat dieses Gefühl
sich fortschreitend entwickelt unter dem geheimen Einfluß des
Prinzips, das ihm das Sein gab und im gleichen Schritt mit
6*
84 Encyclica Pascendi gregis Dominici Pius X
dem menschlichen Leben, von dem es, wie gesagt wurde, eine
Form bildet. So entstanden alle Religionen, die über-
natürlichen Religionen eingeschlossen. Alle sind sie
nichts als Ausflüsse dieses Gefühls.'' (§ 6.) Aber auch der Ver-
stand hat nach den Modernisten einen Anteil an dem Akte
des Glaubens; denn sie fordern, der Mensch solle seinen
„Glauben denken". „Der Verstand kommt also dem Gefühl
zu Hilfe, neigt sich gewissermaßen über dasselbe, arbeitet darin
nach Art eines Malers, der auf einer alten Leinwand die ver-
blichenen Linien der Zeichnung wiederfindet und sie auf-
frischt." (§ 7.) So entstehen dann die religiösen Dogmen als
ein intellektueller Niederschlag des in beständiger „Evolution"
befindlichen religiösen Gefühls (des sensus religiosus). Dogmen
bedeuten den Modernisten nichts weiter als Symbole (symbola,
imagines veritatis) der durch das religiöse Gefühl ergriffenen
Wahrheit, nicht aber die absolute Wahrheit selbst.
So setzen die Modernisten im Unterschiede von den
Rationalisten und zugleich in Uebereinstimmung mit «der
Lehre der Protestanten und Pseudomystiker« an Stelle der
intellektuellen Grundlage des Glaubens — wie sie in der Er-
kenntnis Gottes und der Tatsache seiner Offenbarung von dem
Vatikanischen Konzil aufs neue im Anschluß an die kirchlich-
approbierten mittelalterlichen Denker festgelegt wurde - eine
gefühlsmäßige; an Stelle des beweisenden Verstandes das
schauende religiöse Gefühl, eine gewisse Intuition des Herzens
(in sensu religioso quendum esse agnoscendum cordis in-
tuitum) (§ 9) ; an Stelle der überindividuellen Verstandes-
erkenntnis die individuelle Erfahrung, das persönliche innere
«Erlebnis« (privata cuisque hominis experientia).
Es leuchtet ein, daß damit die alleinige Wahrheit der
katholischen Religion im Keime preisgegeben wird. Darum
fragt die Enzyklika - von ihren Voraussetzungen aus mit
Recht: „Trifft man nicht in allen Religionen Erfahrungen dieser
Art? . . . Mit welchem Rechte könnten also die Modernisten
Encyclica Pascendi gregis Dominici Pius X 85
den religiösen Erfahrungen ihre Wahrheit bestreiten, die
man z. B. in der mohamedanischen Religion macht? Und auf
welche Prinzipien könnten sie sich stützen, um den Katho-
liken allein das Monopol der wahren Erfahrungen zu-
zuschreiben?" (§ 9).
Aus den Praemissen ergibt sich nun auch die Stellung
der Modernisten zu dem Verhältnis von Glauben und
Wissen. „Zunächst sind ihre Objekte untereinander vollkommen
fremd, eines gegen das andere abgeschlossen. Objekt des
Glaubens ist nämlich nur das allein, was die Wissenschaft für
sich als unerkennbar erklärt. Daher zwei ganz verschiedene
Gebiete. Die Wissenschaft kümmert sich nur um die Er-
scheinungen, der Glaube hat mit ihnen nichts zu tun. Der
Glaube geht ganz auf das Göttliche, über welches die Wissen-
schaft ganz und gar nichts weiß. Daraus schließt man, daß
zwischen Wissenschaft und Glauben ein Streit unmöglich sei:
denn wenn jeder Teil in seinem eigenen Hause bleibe, könne
niemals einer auf den anderen stoßen, beide sich also auch
niemals widersprechen. . . . Die Frage (beispielsweise), ob
Jesus wirklich Wunder getan und wahrhaftige Prophezeiungen
ausgesprochen, ob er auferstanden und in den Himmel auf-
gefahren sei, wird die agnostische Wissenschaft mit ,Nein',
der Glaube mit ,Ja' beantworten. Daraus wird aber durchaus
kein Kampf zwischen beiden entstehen. Die Verneinung kommt
von dem Philosophen, der zu Philosophen spricht und Jesus
Christus nur nach der geschichtlichen Realität ins Auge faßt.
Die Bejahung kommt von dem Glaubenden, der sich an
Glaubende wendet und der das Leben Jesu Christi aufs
neue durch den Glauben und in dem Glauben erlebt an-
sieht." (§ 10.)
Wenn aber die Modernisten von lieber- oder Unter-
ordnung zwischen Glauben und Wissen reden, dann fordern
sie, „daß die religiöse Evolution sich in Uebereinstimmung
zu setzen hat mit der intellektuellen und moralischen Evo-
86 Motu proprio vom 18. Nov. 1907 und 1. Sept. 1910
lution". „Also gegenüber dem Glauben schrankenlose Freiheit
der Wissenschaft; demgegenüber, gleichviel, ob man beide
als einander ganz fremd hingestellt hat, Unterjochung des
Glaubens unter die Wissenschaft." (§ 10.) Offensichtlich ein
Standpunkt, der dem der Kirche und des von ihr approbierten
Thomas von Aquino gerade entgegengesetzt ist. Fordern diese
doch gerade — im Kollisionsfalle — die Unterordnung des
menschlichen Wissens unter den auf göttlicher Offenbarung
beruhenden Glauben!
5. In einem Motu proprio vom 18. November 1907
hat Pius X. dem Syllabus wie der Enzyklika eine weitere
autoritative Bestätigung verliehen und endlich in dem praktisch
bedeutsamen iMotu proprio vom 1. September 1910
„Gesetze zur Abwehr der Modernistengefahr" erlassen. Darin
heißt es z. B.: „Unter der scholastischen Philosophie, die Wir
vorschreiben, verstehen Wir in erster Linie die Philosophie,
wie sie Thomas von Aquino gelehrt hat, was Wir haupt-
sächlich betonen. Alles, was darüber von Unserem Vorgänger
verfügt wurde, soll auch unter Unserer Regierung in Kraft
bleiben, und wo es nötig ist, erneuern und bekräftigen Wir
dasselbe und gebieten dessen genaue und allgemeine Beobach-
tung. Wo in den Seminarien diese Vorschriften nicht beachtet
worden sind, werden die Bischöfe ihre Befolgung künftighin
einschärfen und durchsetzen. Das Gleiche schreiben Wir den
Leitern der religiösen Orden vor. Die Lehrer aber mahnen
Wir ernstlich, sich an den Grundsatz zu halten, daß vom
Aquinaten, besonders in metaphysischen Dingen,
auch nur wenig abzuweichen, nie ohne großen
Schaden ist." „Mehr als zuvor muß heute der positiven
Theologie Beachtung geschenkt werden, doch darf dadurch
die scholastische Theologie nicht geschädigt werden, und jene
alle, welche die positive Theologie mit Geringschätzung der
scholastischen anpreisen, sind wie Parteigänger der Moder-
nisten zu tadeln."
Motu proprio vom 18. Nov. 1907 und 1. Sept. 1910 87
Es folgen praktische Maßnahmen im einzelnen. Den
Bischöfen wird die Pflicht eingeschärft, „die Lesung von
Schriften der Modernisten und Büchern, welche modernistischen
Geist verraten oder den Modernismus befördern, zu verhindern,
wenn sie schon herausgegeben sind, oder die Herausgabe zuvor
zu verhindern. Desgleichen sollen alle Bücher, Zeitungen,
Zeitschriften dieser Art den Jünglingen in den Seminarien
und den Hörern an den Universitäten verboten bleiben."
Um aber vor allem das Erscheinen solcher Bücher zu
verhindern, sollen vin allen bischöflichen Kanzleien offizielle
Zensoren zur Prüfung herauszugebender Schriften bestellt
werden. . . . Katholische Zeitungen und Zeitschriften sollen,
soweit es möglich ist, ihren bestimmten Zensor haben. Diesem
obliegt die Pflicht, die einzelnen Blätter oder Hefte, nachdem
sie erschienen sind, ganz und aufmerksam durchzulesen. Findet
sich ein gefährlicher Satz, so soll er im nächsten Blatt oder
Heft eine Berichtigung fordern.«
Um aber diesen Verordnungen die entsprechende Durch-
führung zu sichern, soll »in jeder Diözese ein Rat bewährter
Priester aus dem Welt- und Ordensklerus eingesetzt
werden, dessen Pflicht es ist, Umlauf, Verbreitung und Ver-
breitungsweise neuer Irrtümer wachsam festzustellen und den
Bischof davon zu unterrichten. In Beratung mit ihnen soll
dann der Bischof die Maßregeln treffen, welche dieses Uebel
schon in seinem Entstehen ersticken lassen, daß es nicht zum
Verderben der Seele immer weiter greift und, was noch
schlimmer ist, mit der Zeit sich fest einlebt und aus-
wächst. — Wir beschließen daher, daß ein solcher Rat, den
Wir die Aufsichtsbehörde (consilium quod a vigilantia dici
placet) nennen wollen, sobald als möglich in jeder Diözese
errichtet werde.« Außerdem sollen «alle Lehrer, bevor sie
im Beginn des Studienjahres ihre Vorlesungen aufnehmen,
dem Bischof die Abfassung dessen vorlegen, was sie als
Gegenstand des Unterrichts behandeln wollen, oder die Gegen-
88 Modernismus
stände ihrer Abhandlungen oder die Thesen; dann soll im
Verlauf des Jahres die Lehrweise jedes Dozenten zur Kenntnis
genommen werden; weicht sie von der gesunden Lehre (a sana
doctrina) ersichtlich ab, dann soll der Dozent sofort entfernt
werden. Endlich müssen sie außer dem Glaubensbekenntnis
ihrem Bischof nach der untenstehenden Formel einen Eid
leisten und mit ihrem Namen unterzeichnen."
Hiermit wären wir bei dem vielbesprochenen und viel-
gescholtenen sog. Antimodernisteneid angelangt, von dem
im Verlauf der folgenden Darstellung genauer die Rede sein
soll. Zuvor noch einige überleitende Ausführungen.
Es ist überaus lehrreich, sich die besprochenen päpst-
lichen Kundgebungen aus der letzten Zeit zu vergegenwärtigen,
um zu erkennen, mit welcher Beharrlichkeit die katholische
Kirche die mittelalterlichen Grundsätze über das prinzipielle
Verhältnis von Philosophie und Theologie, von Glauben und
Wissen festhält. Wir begegneten bei dieser Uebersicht sogar
ganz gleichlautenden Wendungen wie bei den Theologen des
Mittelalters oder gar des christlichen Altertums. Dieselben
Grundsätze wie damals sind noch heute in der katholischen Theo-
logie wirksam, nur in veränderter Anwendung — eben auf „die
hauptsächlichsten Irrtümer unserer Zeit" (wie wir im Syllabus
Plus IX. hörten), auf die Irrungen des „Modernismus" (wie es
in der Enzyklika Pius X. hieß).
An dieser Stelle sei mit Rücksicht auf nicht seltene Miß-
verständnisse nachdrücklich vor einer zu weiten Fassung des
Begriffs „Modernismus" gewarnt. Es wäre historisch unbe-
rechtigt und würde nur der Verwirrung dienen, wollte man
darunter etwas anderes verstehen, als die gegen ihn gerichtete
Enzyklika beabsichtigt. Diese aber nennt einen „Modernisten"
keineswegs jeden „Irrlehrer", sofern er etwa in „modernem"
Gewände auftritt — etwa als „Josephiner, Gallicaner, Febro-
nianer, Amerikanist, Traditionalist, Ontologist, Arianer, Pela-
gianer, Rationalist, Altkatholik" usw. Sondern im Sinne jener
Modernismus 89
Enzyklika Modernist sein „heißt bestreiten, daß es irgendeine
religiöse Erkenntnis gebe, die mit der Wirklichkeit überein-
stimmt, heißt jede wahre unveränderliche und überall gültige
religiöse Wahrheit in Abrede stellen, heißt behaupten, Gott
und die ganze überweltliche Wahrheit könne in keinem, auch
nicht im geringsten Punkte von uns wirklichkeitsgetreu erfaßt
werden. Modernist sein heißt bekennen : jede religiöse Wahrheit
sei nur relativ wahr, d. h. für mich, für hier und heute;
vielleicht schon morgen sei alle religiöse Wahrheit in Fluß und
Entwicklung, in Wandel und Wechsel. Modernismus ist in
erster Linie religiöser Relativismus.
In zweiter Linie ist der Modernismus religiöser Sub-
jektivismus oder Immanentismus, d. h. alles Religiöse und
alle Religion, die natürliche wie die übernatürliche, hat ihre
eigentliche und tiefste Quelle im eigenen Selbst des Menschen;
alle religiösen Kräfte, die erzeugenden wie die aufnehmenden
Kräfte der religiösen Handlungen, Gaben und Güter wurzeln
ganz und gar oder doch der entscheidenden Hauptsache nach
in unserem Innern; hier, nämlich im Strudel des blinden
religiösen Instinktes, religiöser Erfahrung und religiöser Be-
dürfnisse, wird die Religion geboren; allein oder doch in
entscheidender Weise von hier aus empfängt sie Anstoß und
Richtung, Leben und Vollendung. Dem Wirken und der
Stimme Gottes begegnet die Seele ausschließlich nur in ihrem
Innern; Gegenstand und tiefsten Beweggrund ihres religiösen
Glaubens und Gehabens zieht die Seele aus ihrem eigenen
Schöße; eine von außen an den Menschen herantretende,
religionerzeugende Einwirkung Gottes gibt es nicht. Religion
ist ein bloßer Ausfluß des Innenlebens, ein subjektives Gespinst.
Organ zur Erfassung Gottes und der religiösen Werte im
Innern des Menschen ist das Gefühl.
Damit fällt alles Uebernatürliche: Glaube, Offen-
barung, Kirche, Sakramente, Heilige Schrift. Auch alle natürliche
Religion wird aufgelöst; nirgends mehr ein fester Pol im
90 Theologische Wissenschaft
Gebiete der Religion. Damit wird der Modernismus wirk-
lich die Sammelstätte, der Inbegriff aller wirklichen
und möglichen Häresien."^
Noch engere Fühlung wird unser Thema mit der Gegen-
wart gewinnen, wenn wir nunmehr auch noch kurz folgende
Grundsätze über die Eigenart der theologischen Wissenschaft
bei einem angesehenen katholischen Dogmatiker unserer Tage
verfolgen. Als Beispiel diene die Dogmatik von Professor
Esser (Bonn). ^
Darin heißt es: „Die Theologie ist Glaubenswissen-
schaft. Sie geht von den Qlaubenswahrheiten als ihren ersten
und absolut gewissen Prinzipien aus, wie die Philosophie
von den ersten und evidenten Vernunftprinzipien. Jede Wissen-
schaft geht von sichern und bekannten Prinzipien aus, um
auf Grund derselben Unbekanntes zu beweisen. So geht die
Theologie von den Glaubenssätzen aus, welche dem Gläubigen
durch das höhere Glaubenslicht wie die Vernunftprinzipien
dem Menschen durch das Licht der Vernunft gewiß
sind. Daher hat nur der Gläubige theologisches
Wissen im strengsten Sinne. Wer den Glauben nicht
hat oder wer die Glaubensgnade verloren hat, kann nur ein
natürliches (historisches, literarhistorisches usw.) Wissen um
theologische Dinge haben.
Die Theologie ist also jenes Wissen (subjektiv) oder jene
Wissenschaft (objektiv) von Gott und den Dingen in ihrer
Beziehung zu Gott, welche auf Grund der göttlichen
Offenbarung durch die vom Glauben erleuchtete
Vernunft erworben wird.
Da die Theologie von den Glaubenssätzen als ihren
Prinzipien ausgeht, so hat sie mit dem Glauben drei Er-
kenntnisquellen gemeinsam, nämlich: die Heilige Schrift, die
^ Vgl. den Aufsatz von Prof. A. Qisler, Wer ist ein Modemist?
(Schweizerische Rundschau, 1911, Nr. 1.)
^ Als Manuskript gedruckt und verlegt bei P. Hanstein, Bonn.
Theologische Wissenschaft 91
Tradition (regula remota fidei) und die Lehraussprüche der
Kirche (regula proxima fidei). Als Glaubenswissenschaft
hat sie außer den genannten mit dem Glauben gemeinsamen
Prinzipien noch eines, welches ihr als Wissenschaft eigen ist,
nämlich die menschliche Vernunft, deren Gebrauch in der
Theologie nach dem Verhältnis zu bestimmen ist, in welchem
die Vernunft zum Glauben steht.
Die Theologie trägt den Charakter einer wahren
Wissenschaft an sich, da sie wie jede Wissenschaft von
sicheren Prinzipien ausgehend neue Erkenntnisse in wissen-
schaftlicher Beweisführung gewinnt, dieselbe ordnet und zu
einem System verbindet. — Das Prinzip fides quaerens intel-
lectum. Vergl. Vatic. Denzinger 1796.
Da ihre Prinzipien nicht innerlich evident sind,
so ist die Theologie von den profanen Wissenschaften
wesentlich verschieden. Aus dieser Verschiedenheit erklären
sich die unerheblichen Differenzen unter den Scholastikern
über den wissenschaftlichen Charakter der Theologie. Sie ent-
lehnt ihre Prinzipien einem höheren Wissen, der scientia Dei et
beatorum und ist in dieser Beziehung jenen Subalternwissen-
schaften vergleichbar, die ihre Prinzipien aus anderen Wissen-
schaften herübernehmen. (Thomas S. theol., I. q. 1 a. 7.) Daß
die Annahme dieser Prinzipien ein obsequium rationabile,
daß der Glaube ein c'redibile und ein credendum ist,
beweist die Fundamental-Theologie oder Apologeti k,
die Vorhalle der eigentlichen Theologie.
Die Theologie überragt alle menschlichen Wissenschaften
nicht nur wegen der Erhabenheit des Objektes (de Deo) und
des Zieles (ad Deum), sondern auch wegen der Größe der
Gewißheit (a Deo). Theologiae principium proximum quidem
est fides, sed primum est intellectus divinus. (Thomas sup.
Boeth. de trin. qu. 2 a. 2.)!
Man sieht: es sind im wesentlichen wiederum dieselben
Grundsätze, die uns bei Thomas von Aquino begegneten. Eine
92 Theologische Wissenschaft
kurze Erläuterung aber möge die zuletzt zitierten Aus-
führungen vor naheliegenden Mißverständnissen schützen.
1. Die „eigentliche" Theologie wird von der „Fundamental-
Theologie oder Apologetik" unterschieden. Hat diese die Auf-
gabe, die Tatsache einer göttlichen Offenbarung d. h. die Pflicht
und das Recht des Glaubens zu „beweisen" durch ein „natür-
liches" Wissen, so hat jene als Theologie im engeren Sinne
nunmehr von den als „göttlich" bereits „bewiesenen" Inhalten
des Glaubens auszugehen, um sie spekulativ zu verarbeiten und
systematisch zu ordnen. Von hier aus wird der zunächst etwa
paradox klingende Ausdruck „Glaubens - Wissenschaft"
verständlich (dem wir bereits früher in dem Abschnitte über
Duns Scotus begegneten). 2. Als Glaubenswissenschaft ist die
Theologie, wie wir soeben hörten, „von den profanen Wissen-
schaften wesentlich verschieden" (ein Zugeständnis, das nun
eben für viele Anlaß zu der praktischen Forderung bietet, es
solle sich die Theologie dann auch konsequenterweise von der
Stätte der „profanen Wissenschaften" d. h. von den Universi-
täten in die Seminare zurückziehen). Ebenso überraschte nicht
die Konsequenz, daß die eigentliche Theologie als Glaubens-
wissenschaft eben „nur für Gläubige möglich" sei: „Wer den
Glauben nicht hat" - hieß es - „besitzt" kein theologischesWissen
im strikten Sinne, sondern höchstens „ein natürliches Wissen
um theologische Dinge".
Der Eid wider den Modernismus 93
IV. Der Eid wider den Modernismus.
Um die Grundsätze, welche die soeben besprochene Dog-
matik in üebereinstimmung mit den Prinzipien eines Thomas
von Aquino verficht, gerade allen «modernistischen" Bestre-
bungen gegenüber innerhalb der Kirche sicherzustellen, hat
Pius X. den bereits erwähnten sog. Anti-Modernisteneid ge-
fordert. Und zwar sollen ihn leisten außer den Lehrern an
theologischen Lehranstalten (nach späteren Einschränkungen
wenigstens, sofern diese nicht staatliche Fakultäten einer Uni-
versität sind): „1. die künftig zu weihenden Kleriker, 2. die
Beichtväter und Kanzelredner, bevor sie die Ermächtigung zur
Ausübung dieses Amtes erhalten, 3. die Pfarrer, Kanoniker und
Benefiziaten, ehe sie in den Besitz ihrer Pfründe eintreten,
4. die Beamten der bischöflichen Kanzleien und der kirchlichen
Gerichtshöfe mit Einschluß des Generalvikars und der Richter,
5. die Fastenprediger für die vierzigtägige Fastenzeit, 6. alle
Beamten der römischen Kongregrationen und Gerichtshöfe vor
dem Kardinalpräfekten oder dem Sekretär der Kongregation
des Gerichtshofes, 7. die Leiter und Lehrer der religiösen
Orden und Kongregationen vor Uebernahme ihres Amtes." —
Eine praktische Maßnahme, durch die der Papst eben allen
früheren Erlassen eine größere Aussicht auf peinliche Durch-
führung in «Unterricht, Wort und Schrift" verschaffen will.
Der Wortlaut dieses Eides pflegt (wie man sich fast täglich
überzeugen kann) nicht immer allen, die über ihn schreiben
oder reden, bekannt zu sein. Da er außerdem gleichsam eine
praktische Illustration unserer bisherigen Ausführungen ist, so
erscheint es angezeigt, ihn an dieser Stelle nicht vorzuenthalten.
Die Eidesformel lautet: «Ich ... , bekenne mich uner-
schütterlich, zu allen und jeden Wahrheiten, die die Kirche
94 Der Eid wider den Modernismus
durch ihr unfehlbares Lehramt definiert, aufgestellt und erklärt
hat, hauptsächlich zu jenen Grundpfeilern der Doktrin, die sich
direkt gegen die Irrtümer dieser Zeit richten. Vor allem
bekenne ich, daß Gott, der Anfang und das Ende aller Dinge,
erkannt und daher auf sichere Weise durch das natürliche
Licht der Vernunft, durch das Mittel der Dinge, die geschaffen
wurden, d. h. durch ihre sichtbaren Werke der Schöpfung
wie die Ursache durch ihre Wirkung erkannt, ja auch bewiesen
werden kann (certo cognosci adeoque demonstrari posse).i
Zweitens anerkenne ich die äußeren Argumente der
Offenbarung d. h. die göttlichen Tatsachen, unter ihnen
in erster Linie die Wunder und Prophezeiungen, als die
sehr sicheren Zeichen (tamquam signa certissima) des gött-
lichen Ursprungs der christlichen Religion. Die gleichen
Argumente erachte ich als hervorragend der Intelligenz
aller Zeiten und aller Menschen, auch der gegen-
wärtigen Zeit, angepaßt.2
* Dieser Satz, der sich auf die Möglichkeit einer sog. natürlichen
Gotteserkenntnis bezieht, hat durch das Vatikanische Konzil folgende
dogmatische Formulierung gefunden: „Si quis dixerit Deum unum
et verum, Creatorem et Dominum nostrum, per ea quae facta sunt,
natural i rationis humanaelumine certo cognosci non posse,
anathema sit. De Revel. can. I (Denzinger, Enchiridion n 1653).
Bereits die Encyclica Pascendi gregis Dominici (§ 4j hatte an
diese dogmatische Bestimmung, die Gott mit dem Verstände zu er-
kennen als möglich bezeichnet, erinnert gegenüber dem Modernismus,
der lediglich von der „inneren Erfahrung" Gottes spreche. — Die obige
Eidesformel fügt zu dem vatikanischen „cognosci" (erkannt werden)
noch verstärkend — richtiger: verdeutlichend — das „demonstrari"
(bewiesen werden) hinzu. Sie will also ausdrücklich auf die Lehre
verpflichten, daß „Gott, der Anfang und das Ende aller Dinge, durch
das natüdiche Licht der Vernunft erkannt und bewiesen werden
könne". Vgl. zu dieser Abänderung des certo cognosci posse in das
„stärkere" demonstrari posse die in diesem Punkte freilich irreführende
Schrift von Clericus Germanicus, Der Modernisteneid. Augsburg 1910,
S. 11 ff.
^ Auch diese Möglichkeit, die Tatsache der göttlichen Offenbarung
durch „äußere Zeichen«, also auf intellektuellem Wege, beweisen bezw.
Der Eid wider den Modernismus 95
Drittens: Ich glaube fest, daß die Kirche, Hüterin und
Lehrerin des geoffenbarten Wortes, auf direkteste Weise von
dem wahren und historischen Christus in Person während
seines Lebens unter uns gestiftet wurde, und ich glaube, daß
diese Kirche auf Petrus, das Oberhaupt der apostolischen
Hierarchie, und auf seine Nachfolger bis ans Ende der Zeiten
gebaut ist.
Viertens: Ich nehme aufrichtig die Doktrin des Glaubens
auf, wie sie uns die Apostel und die rechtgläubigen Väter
überliefert haben, ich nehme sie in dem gleichen Sinne
und in der gleichen Auslegung auf wie sie (fidei doc-
trinam eodem sensu eademque semper sententia ad nos usque
transmissam). Deshalb verwerfe ich die absolut haeretische
Annahme von der Evolution der Dogmen, nach der
diese Dogmen den Sinn wechselten, um einen anderen
zu erhalten, der verschieden von jenem ist, den ihnen zuerst
die Kirche gegeben. ^ Gleichzeitig verwerfe ich jenen Irrtum,
»glaubhaft machen" zu können, hat das Vatikanische Konzil dog-
matisch behauptet gegenüber der („modernistischen") Lehre, nur „innere
Erfahrung oder private Offenbarung" könne den Menschen von jener
Tatsache überzeugen. Das Dogma lautet : „Si quis dixerit revelationem
divinam extemis signis credibilem fieri non posse ideoque sola interna
cuiusque experientia aut inspiratione privata homines ad fidem moveri
deberi, anathema sit. De fide, can. III (Denzinger, Enchir. 1659). Und
auch diesen Satz hatte bereits die Encyclica Pascendi (§ 4) aufs neue ein-
geschärft gegen den „Modernismus", der eben nur die „innere Er-
fahrung", das „Erlebnis", als Erkenntnisquelle für die Tatsache gött-
licher Offenbarung gelten läßt. Siehe oben S. 84.
^ Man beachte diese wichtigen Relativsätze zu der „Evolution der
Dogmen". Denn in einem anderen Sinne spricht Pius X. selbst von
einer „Evolution" (evolvi) der Dogmen. Vgl. weiter unten.
Bereits das Vaticanum hat neben der „wesentlichen Einheit
und Beharrlichkeit des Dogmas" doch ein „akzidentelles Wachstum des
dogmatischen Bewußtseins" für möglich erklärt (wie es J. Mausbach
scharf ausdrückt), nämlich in dem Satze: „Crescat igitur . . . etmultum
vehementerque proficiat . . . intelligentia, scientia sapientia ... in
eodem dogmate, eodem sensu eademque sententia (Denzinger 1810).
96 Der Eid wider den Modernismus
der darin besteht, an Stelle des göttlichen Glaubensschatzes,
der der Braut Christi und ihrem wachsamen Hüter anvertraut
ist, eine philosophische Fiktion oder eine Schöpfung des mensch-
lichen Gewissens zu setzen, die nach und nach durch die Be-
mühungen der Menschen gebildet, in der Zukunft einem un-
beschränkten Fortschritt ausgesetzt wäre.
Fünftens: Ich halte mit aller Sicherheit fest und ich
bekenne aufrichtig, daß der Glaube kein blinder religiöser
Sinn ist (Fidem non esse coecum sensum religionis), der aus
den dunklen Tiefen des menschlichen Unterbewußtseins auf-
steigt unter dem Druck des Herzens und des moralisch
bestimmten Willens, sondern daß er eine wahrhafte Zu-
stimmung der Intelligenz zu der Wahrheit ist, die durch die
empfangene Unterweisung erworben wurde (ex auditu), eine
Zustimmung, durch die wir wegen der Autorität Gottes,
dessen Wahrhaftigkeit absolut ist, alles für wahr halten,
was gesagt, bezeugt und geoffenbart wurde durch Gott per-
sönlich, unsern Schöpfer und Meister. Ich unterwerfe mich
noch mit all der gewollten Ehrfurcht und pflichte aus ganzer
Seele allen Verurteilungen, Erklärungen und Vorschriften bei,
die in der Encyclica Pascendi und im Decret Lamentabili
enthalten sind, besonders jenen, die die sog. Dogmen-
geschichte betreffen. (Me etiam qua par est, reverentia subiicio
totoque animo adhaereo). Gleichzeitig verwerfe ich den Irrtum
derer, die behaupten, daß der von der Kirche vorgetragene
Glaube der Geschichte zuwider sei, und daß die katholischen
Dogmen, wie sie heute verstanden werden, mit den authentischen
Ursprüngen der christlichen Religion nicht in Einklang zu bringen
sind. Ich verurteile auch und verwerfe die Anschauung jener, die
vorgeben,die Persönlichkeit des christlichen Gelehrten
in die des Gläubigen und die des Historikers ver-
doppeln zu können, als ob der Historiker das Recht habe, das auf-
rechtzuerhalten,was derUeberzeugung des Gläubigen widerspricht
(quae credentis fidei contradicant), oder als ob es ihm gestattet sei.
i
Der Eid wider den Modemismus 97
unter der einzigen Bedingung, nicht direkt ein Dogma zu
leugnen, Praemissen aufzustellen, aus denen sich die Schluß-
folgerung ergeben würde, daß die Dogmen falsch oder zweifelhaft
sind. Gleicherweise verwerfe ich jene Methode (die Heilige
Schrift zu beurteilen und auszulegen), die im Gegensatz zu
der Tradition der Kirche, der Analogie des Glaubens und
der Regeln des apostolischen Stuhles, sich auf die Arbeits-
methode der Rationalisten gründet und mit ebensoviel
Kühnheit als Verwegenheit als höchste und einzige Regel nur
die Textkritik annimmt. Außerdem verwerfe ich den Irrtum
jener, die behaupten, daß der Lehrer der historischen
Theologie (disciplina historica theologica) oder der Schrift-
steller auf diesem Gebiete sich zuerst jeder zuvorgewonnenen
(„vorgefaßten") Meinung (opinio ante concepta) entledigen
muß, sei es hinsichtlich des übernatürlichen Ursprungs der
katholischen Tradition, sei es hinsichtlich des göttlichen Bei-
standes, der für die ständige Bewahrung jedes Punktes ge-
offenbarter Wahrheit versprochen wurde, und die dann
behaupten, die Schriften jedes Kirchenvaters müßten außerhalb
jeder geheiligten Autorität nach den Prinzipien der Wissen-
schaft allein und mit jener Unabhängigkeit des Urteils
ausgelegt werden, die man beim Studium irgendeines
profanen Dokumentes anzuwenden gewohnt ist.
Endlich bekenne ich, vollständig frei von diesem Irrtum
der Moder nisten zu sein, der behauptet, daß es in der
geheiligten Tradition nichts Göttliches gibt oder, was noch
schlimmer ist, daß es Göttliches nur in pantheistischem Sinne
gibt, so daß nur noch eine reine und nackte Tatsache übrig
bleibt, vergleichbar den gewöhnlichen Tatsachen der Geschichte,
nämlich die Tatsache, daß die Menschen durch ihre Arbeit,
durch ihre Geschicklichkeit, durch ihr Talent durch die
späteren Jahre hindurch die von Christus und seinen Aposteln
begonnene Schule fortgesetzt haben. Schließlich halte ich mit
der größten Festigkeit und bis zum letzten Atemzuge den
Verweyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 7
98 Der Eid wider den Modernismus
Glauben der Kirchenväter über das sichere Charisma
(Kriterium) der Wahrheit fest, das ist und immer sein wird
„im Episkopat, überliefert durch die Nachfolgerschaft der
Apostel" (Iren. 11c 20; fidem Patrum firmissime retineo et ad
extremum vitae spiritum retinebo); nicht so, daß man nur das
festhalte, was für die Kultur des jeweiligen Zeitalters besser
und passender erscheint, sondern so, daß niemals anders ge-
glaubt und anders verstanden werden soll die absolute und
unveränderliche, im Anfang durch die Apostel verkündete
Wahrheit (non ut id teneater quod melius et aptius videri
possit secundum suam cuiusque aetatis culturam, sed ut
nunquam aliter credatur nunquam aliter intelligatur absoluta
et immutabilis veritas ab initio per Apostolos praedicta).
Alle diese Dinge verpflichte ich mich treu, unverkürzt und
aufrichtig zu beobachten, sie unverletzlich zu bewahren und
mich weder im Unterricht noch auf andere Weise durch
Wort oder Schrift davon zu entfernen. So gelobe und schwöre
ich, so wahr mir Gott helfe etc."
Vergleicht man diese Eidesformel mit den früheren
Erlassen Pius X. — und seiner unmittelbaren Vorgänger — ,
so findet man darin schlechthin keinen Grundsatz aus-
gesprochen, der neu und unerhört wäre.^ Wer diesen
Vergleich einmal unternommen hat, muß daher nicht wenig
staunen über das Entrüstungsgeschrei, mit dem gerade diese
praktische Konsequenz und Zusammenfassung des Früheren,
namentlich von selten der Gegner katholischer Lehren, bedacht
wurde. Man kann dabei nur wieder konstatieren, wie wenig
die von unkritischem Parteieifer eingegebene ' laute Tages-
polemik den Voraussetzungen und der Eigenart des Gegners
gerecht zu werden pflegt.
^ Vgl. den Aufsatz von Prälat Dr. Franz Heiner, Der neue Eid der
Theologieprofessoren. (Münchener Allgemeine Rundschau Nr. 50, 1910).
Die obigen Sperrungen stammen von mir.
Der Eid wider den Modernismus 99
Freilich glaubten manche in der Eidesformel einige Ueber-
bietungen früherer katholischer Festlegungen anzutreffen.
Namentlich in folgenden Punkten. Zunächst hinsichtlich der
sog. natürlichen Gotteserkenntnis. Hatte das vatikanische Konzil
als Dogma formuliert, daß Gott „durch das natürliche Licht
der menschlichen Vernunft sicher erkannt" werden könne
(certo cognosci posse), so fügt die Eidesformel noch hinzu:
und „daher auch bewiesen werden könne" (adeoque demon-
strari etiam posse). Dieser — von dem Vatikanum absichtlich ^
vermiedene — Zusatz aber erklärt sich sehr einfach aus der
„antimodernistischen" Grundabsicht des Eides wie der ihm
vorausgehenden Encyclica Pascendi. Letztere hatte die in der
rein subjektiven „inneren Erfahrung", im „Gefühl" wurzelnde
Gottes„erkenntnis" der Modernisten zurückgewiesen (vergl.
oben S. 84). Das vatikanische „cognosci posse" aber bedeutete eine
objektive, allgemeingültige Erkenntnis Gottes — wie die Ency-
clica Pascendi durch das gegen die entgegengesetzte Auf-
fassung gerichtete Zitat jener vatikanischen Konzilbestimmung
ausdrücklich bestätigt. Um nun die gemeinte objektive —
und als solche eben „beweisbare" — Erkenntnis unzweideutig
zum Ausdruck zu bringen, hat die Eidesformel zu dem „Er-
kennen-können" noch das „Auch-beweisen-können" hinzugefügt.
Einen besonderen Stein des Anstoßes bot ferner der vor-
letzte Satz der Formel, der von der „absoluten Wahrheit"
spricht, die „von Anfang an durch die Apostel gepredigt wurde".
Auch dieser Satz legt dem katholischen Theologen keineswegs
^ Die Absicht des Vatikanums war, den sog. Traditionalismus zu
verwerfen, der jegliches Erkennen des Daseins Gottes leugnete und
das Gottesbewußtsein lediglich auf die »Tradition", die natürliche und
kirchliche, gründete. Vgl.Granderath, Const. dogm. S.S. Con.Vatic. 1902,
p. 32n. Im übrigen braucht ja das Vatikanum selbst schon den
Ausdruck „demonstrare" (beweisen) von den „Grundlagen des
Glaubens". Dazu zählt es aber auch die „Erkenntnis" (und demnach
die „Beweisbarkeit") des Daseins Gottes. Vgl. unten S. 101, 104.
7*
100 Der Eid wider den Modemismus
eine „neue Verpflichtung" auf, noch „unterbindet er seine Be-
wegungsfreiheit" irgendwie mehr als bisher. Denn, wer auch
nur einigermaßen mit der katholischen Gedankenwelt vertraut
ist, weiß, daß in ihr stets das sog. depositum fidei, die „Hinter-
lage des Glaubens" d. h. die durch die Apostel verkündigte
Lehre, als unantastbar, aller menschlichen Kritik entzogen galt. —
Man kann diese Voraussetzung angreifen, aber auf Grund der-
selben fordert der Eid nichts, was über bisherige Verpflich-
tungen innerhalb dieser Gedankensphäre hinausginge. Beide
Dinge sind scharf auseinanderzuhalten, will man
nicht unheilvolle Konfusion in eine derartige reli-
giöse Polemik hineintragen.
Was übrigens jenen Begriff der „absoluten Wahrheit"
betrifft, so verurteilt er den katholischen Theologen nicht
schlechthin zur Untätigkeit. In einem Worte vom 14. Juni 1907
hat Pius X. in dieser Hinsicht lediglich seine und seiner Vor-
gänger amtlichen Kundgebungen erläutert, wenn er sagt, die
kirchliche Lehre solle „nicht in dem Sinne unveränderlich
bleiben, daß sie keine Fortschritte macht", sie solle vielmehr
„nach der Eigenart der Völker und Zeiten immer
offener dargelegt und in gesetzmäßiger Auslegung entwickelt
werden (evolvi)".^ (Freilich bedeutet Entwicklung hier, wie
auch sonst innerhalb des katholischen Dogmas, lediglich die
Entfaltung d. h. immer tiefere, mit den Erkenntnismitteln der
Zeiten, Völker und Individuen fortschreitende geistige Er-
fassung eines ursprünglich geoffenbarten und deshalb „ab-
soluten" Wahrheits-Kernes.)
Endlich hat noch jene Stelle der Eidesformel starke Er-
regung hervorgerufen, die dem historisch-exegetischen Theo-
logen die Entledigung „jeder vorgefaßten Meinung" (opinio
ante concepta) verbietet, ehe er an die Urkunden des Christen-
tums herantritt — als wären es „nur profane" Literatur-Denk-
^ Vgl. Mausbach a. a. O. S. 51.
Der Eid wider den Modernismus 101
mäler. Auch dieses Verbot ist kein anderes, als bereits in dem
früher erörterten Syllabus Pius X. zum Ausdruck kommt, wenn
darin die These verworfen wird: „Der Exeget muß, wenn
er den biblischen Studien mit Nutzen obliegen will, vor allem
jede vorgefaßte Meinung von einem übernatürlichen Ursprung
der Heiligen Schrift beiseite lassen und diese nicht anders
auslegen als wie die übrigen rein menschlichen Urkunden."
(Nr. 1 2.) Als positive Lehre der katholischen Kirche ergibt sich
daraus folglich der Satz: Der katholische Exeget darf die
„vorgefaßte Meinung von einem übernatürlichen Ursprung
der Heiligen Schrift nicht beiseite lassen und muß diese
anders auslegen als wie die übrigen rein menschlichen
Urkunden". Aber — man beachte! — eben der katholische
Exeget (wenn es in der soeben zitierten Stelle nur heißt „der
Exeget", so ist offensichtlich der katholische gemeint)! Also
ein solcher Exeget, der bereits auf dem allgemeinen Boden
der „katholischen Glaubensüberzeugung" steht. Daß aber die
,; Glaubensüberzeugung" nicht zuletzt wiederum auf einem
Glauben, sondern auf einem „Wissen" von der Tatsache einer
göttlichen Offenbarung beruhen soll, fanden wir gerade in
Thomas von Aquinos Lehre von den praeambula fidei oder
den motiva credibilitatis nachdrücklich gefordert. Ein Stand-
punkt, den das vatikanische Konzil in dem Satze als Dogma
anerkennt: die richtige Vernunft beweist die Grundlagen
des Glaubens. (Recta ratio fidei fundamenta demonstret.
Sess. 3, C. 4.)
Also auch der zuletzt erwähnte Punkt ist keineswegs eine
eigentümliche Neuerung des »Antimodernisteneides*, sondern
inhaltlich bereits frühere Lehre der katholischen Kirche. Weil
es sich bei jenem Punkte nun besonders um das Verhältnis
von Glauben und Wissen handelt, ist die in Rede stehende
Eidesformel gerade der äußere Tages-Anlaß geworden zu
einem Feldzuge, um nicht zu sagen Feldgeschrei, gegen die
katholische Fassung von Glauben und Wissen. Ein Geschrei,
102 Der Eid wider den Modernismus
das, wie nicht überrascht, am lautesten von den Unkundigen
angestimmt wird; nämlich von solchen, die der Meinung
sind, es würde durch diesen Eid den ihn Leistenden irgend-
ein Inhalt aufgezwungen, den sie nicht ohnehin als „gläubige
Katholiken« innerlich anerkennen müßten! Daß letzteres der
Fall ist, wurde im Vorhergehenden an entscheidenden Punkten
gezeigt und ließe sich leicht auf alle übrigen ausdehnen. Es
wirkt daher im höchsten Maße befremdend und zeugt von
seltsamer Unkenntnis dieser Dinge, wenn an politisch hoch-
bedeutsamer Stelle bereits erwogen wurde, ob man fürderhin
die durch den Eid sich verpflichtenden katholischen Lehrer
wenigstens für den Unterricht in Deutsch und Geschichte in
„staatlicher Anstellung" dulden könne. ^ Nach unseren Dar-
legungen müßte diese Erwägung ja doch auf alle katholischen
Lehrer — wenigstens für die genannten Fächer — übertragen
werden und würde schließlich konsequenterweise wieder auf
die »Kulturkampf «-Frage führen, inwieweit sich die Ueber-
zeugung eines gläubigen Katholiken mit dem «Staatsdienste"
verträgt.
In der Richtung der zuletzt angedeuteten Gedanken liegt
nun auch eine weitere Frage, die durch den Antimodernisten-
Eid wiederum zu einer aktuellen Angelegenheit geworden ist.
Abermals ist nämlich das Recht der theologischen, speziell der
katholischen Fakultäten im Organismus der Universitäten
in Frage gestellt und zu einem Gegenstande lebhafter Tages-
erörterung erhoben worden. Diese praktische Frage aber steht
in allerengstem Zusammenhange mit dem theoretischen Probleme
unseres Themas. Eine Tatsache, die schon darin ihren äußeren
1 Vgl. die kirchenpolitische Rede des Ministerpräsidenten von
Bethmann-HoUweg im Abgeordnetenhause vom 7. März ds. Js., die im
übrigen den Antimodernisteneid an sich als eine »rein innerkirchliche
Angelegenheit" betrachtet, wenn auch bei der Ausführung derartiger
päpstlicher Erlasse sich Konsequenzen ergäben, die mit dem staatlichen
Interesse zusammenhingen.
Der Eid wider den Modernismus 103
Ausdruck findet, daß Vertreter der katholischen Theologie
gerade durch den Nachweis eines prinzipiell unanfechtbaren
Verhältnisses zwischen Glauben und Wissen, Vernunft und
Offenbarung dem Vorwurfe der w Unwissenschaftlichkeit" zu
begegnen suchen, die allein die Aufhebung ihrer Fakultät
sachlich rechtfertigen würde. Daß dies der Fall sei, scheint
nun freilich nicht wenigen gerade die antimodernistische
Eidesformel zu beweisen, dieser „offene und blutige Hohn
auf die unantastbare Freiheit des Denkens, Forschens und
Lehrens«, — eine Maßnahme, die dem theologischen Hoch-
schullehrer etwas zumute, was „alles bisher Dagewesene weit
übersteige". ^
Gegenüber solchen Anklagen hat der katholische Theo-
logieprofessor Joseph Mausbach (Münster) vor kurzem eine
bedeutsame Schrift veröffentlicht unter dem Titel: «Der Eid
wider den Modernismus und die theologische Wissenschaft"
(Köln, 1911). 2 Der Verfasser stellt ebenfalls fest, daß die
Eidesformel dem Theologen nicht neue und fremde Gedanken
vorlegt, sondern zum Teil wörtliche Entlehnungen aus
den Beschlüssen des Vatikanischen Konzils, zum Teil
Anwendungen und Folgerungen aus denselben gegen den
Modernismus, die vom Standpunkte des Glaubens und
der bisherigen Theologie fast selbstverständlich erscheinen.
Die Professoren der theologischen Fakultät zu Paderborn
konnten mit Recht vor ihrer Eidesleistung schreiben: »Wir
sind der Ueberzeugung, daß mit diesem Eid eine inhaltlich
neue Verpflichtung nicht übernommen wird, die nicht schon
jetzt besteht; der Eid ist nur eine Bekräftigung dessen, wozu
* Wie der Verfasser eines Artikels in der Kölnischen Zeitung
(Nr. 1211 1910) irrigerweise meint. In der Tat ein «abschreckendes
Beispiel oberflächlicher Kritik", wie Mausbach mit Recht sagt.
- Vgl. auch: Der Modernismus, Zwei Kundgebungen des Kardinals
Mercier, Köln 1911. Ferner die soeben erschienene Schrift von Karl
Braig, Der Modernismus und die Freiheit derWissenschaft, Freiburg 1911.
104 Der Eid wider den Modernismus
eine Gewissensverpflichtung schon jetzt vorliegt." Der Grund,
weshalb die Theologieprofessoren der Staatsuniversitäten von
der Eidesleistung entbunden wurden, kann demnach nicht
in dem Gedanken liegen, «der Eid würde von ihnen als
eine Aenderung der bisherigen Grundsätze der theologischen
Wissenschaft und Forschung empfunden worden sein". „Die
faktische Ausnahme aber läßt sich durch die Absicht erklären,
der eigenartigen Lage und staatsrechtlichen Stellung der
Fakultäten gerecht zu werden und den Kirchenfeinden jeden
Anlaß zu kirchenpolitischer Agitation zu nehmen." (S. 11.)
Aus dem dann folgenden Abschnitt über den „Autoritäts-
glauben und die Forschungsfreiheit" interessieren uns hier,
historisch wie sachlich, einige prinzipielle Ausführungen, die
sich auf die Begründung des Glaubens beziehen, wie sie einer
besonderen Disziplin, der Apologetik, zufällt. Sie hat die
Aufgabe, „die Selbstbesinnung des Katholiken über das Recht
des Glaubens methodisch durchzuführen und dem die Wahr-
heit Suchenden die Gründe der Glaubwürdigkeit syste-
matisch zu entwickeln. Diese Wissenschaft verlangt von den
Draußenstehenden nicht , von vornherein' die Annahme eines
,übernatürlich Gegebenen'; sie sucht vielmehr, von den Tat-
sachen der äußeren und inneren Wirklichkeit ausgehend, eine
natürliche Ueberzeugung vom göttlichen Ursprung der
Kirche zu begründen. Der größte Teil dieses Nachweises gehört
dem Gebiete der Geschichte an; die Beweismittel, die darin
gebraucht werden, dürfen — nach dem Programm der
Apologetik und nach den deutlichen Aussprüchen desVatikanums
— nur dem Gebiete der Vernunft, nicht dem des
kirchlichen Glaubens entnommen sein — ,recta ratio
fidei fundamenta demonstret'! (sess. 3, c 4)i Die eigentliche
' Diese hochbedeutsame Bestimmung des Vatikanischen Konzils
lautet vollständig so: „Neque solum fides et ratio inter se dissidere
numquam possunt, sed opem quoque sibi mutuam ferunt, cum recta
ratio fidei fundamenta demonstret eiusque lumine illustrata
Der Eid wider den Modernismus 105
Theologie, die Dogmatik und Moral, legt allerdings das Dogma
zugrunde; aber soweit sie Wissenschaft ist, soweit sie erklärt,
widerlegt, philosophisch und historisch beweist, muß auch sie
die Gesetze der Wissenschaft befolgen, darf sie nur Einsicht
vermitteln, nicht Glauben fordern wollen." (S. 26.)
Was weiterhin „Die Eidesformel und die historische
Methode" betrifft, so erinnert Mausbach^ sowohl an die vati-
kanische Entscheidung, die jeder Wissenschaft — mithin
auch der historischen — ihre eigenen Prinzipien, Me-
thoden und Beweise zugesteht, als auch an ein Wort
Leo XIII. über die Geschichtswissenschaft, das lautet: „Besonders
ist darauf Gewicht zu legen, daß alles Erdichtete und Falsche
durch Zurückgehen zu den Quellen der Geschichte widerlegt
wird, vor allem erinnere sich der Schriftsteller, es sei das
erste Gesetz der Geschichtsschreibung, daß sie nichts
Falsches zu sagen wagt, sodann daß sie nichts Wahres zu
sagen sich scheut und im Schreiben keinen Verdacht irgend-
welcher Vorliebe oder Gegnerschaft auf sich ladet . . . Beweis-
kräftigen Gründen (firmis ad probandum argumentis) muß
notwendig die Willkür der Meinungen weichen, und die
anhaltenden Angriffe auf die Wahrheit wird überwinden und
rerum divinarum scientiam excolat, fides vero rationem ab erroribus
liberet ac tueatur eamque multiplici cognitione instruat. Qua propter
tantum abest, ut Ecclesia humanarum artium et discipli-
narum culturae obsistat, ut hanc multis modis iuvet atque
promoveat. Non enim commoda ab iis ad hominum vitam dima-
natia aut ignorat ant despicit; fatetur immo, eas quemadmodum
a Deo scientiarum Domino profectae sunt, ita, siriteper-
tractentur, ad Daum iuvante eins gratia perducere. Nee
sane ipsa vetat, ne huiusmodi disciplinae in suo quaeque ambitu
propriis utantur principiis et proprio methodo; sed iustam
hanc libertatem agnoscens id sedulo cavet, ne divinae doctrinae re-
pugnando errores in se suscipiant, aut fines proprios transgressae
ea quae sunt fidei occupent et perturbent. sess. 3. (24. Apr. 1870.)
' Vgl. auch N. Peters, Die grundsätzliche Stellung der katho-
lischen Kirche zur Bibelfoischung, Paderborn 1905.
106 Der Eid wider den Modernismus
brechen die Wahrheit selbst, die bisweilen verdunkelt, aber
nie ausgelöscht werden kann." (S. 33.)
An der Uebertragung dieser Forschungs-Methode auf die
Dogmengeschichte ändert die Eidesformel nichts. Sie will
gegenüber den „apriorischen" Konstruktionen der „moder-
nistischen" Historiker im Sinne einer „bestimmten phaenomena-
listischen, religionsphilosophischen Voraussetzung" (S. 38) ledig-
lich einschärfen, „daß der katkolische Gelehrte bei geschichtlich-
theologischen Studien das Forschungsergebnis an dem Inhalt
und den Normen des Glaubens prüft und kontrolliert". (S. 34.)
Einen solchen Anspruch erhebt die katholische Kirche in
bezug auf den Dogmenhistoriker, weil sie überzeugt ist, ,,die
legitime, organische Entfaltung jenes himmlischen, vom
Erlöser in die Welt gesenkten Senfkörnleins zu sein, den Geist
Christi für die Lösung der wesentlichen religiösen Fragen bis
heute in sich zu tragen. Muß nicht jeder Unparteiliche (— so
fragt der Verfasser - ) ihr von diesem Standpunkte aus das
Recht zuerkennen. Gewicht darauf zu legen, daß der katho-
lische Theologe bei „Interpretation" die altkirchlichen Denk-
mäler d. h. bei der vollen Erschließung ihres Sinnes
diese G lau bensvorstellung nicht ausschaltet, sondern in erster
Linie berücksichtigt? Muß er nicht sogar vom allgemein-
methodischen Standpunkte aus zugestehen, daß es auf Erden
keine Institution gibt, die mit ähnlichem Rechte behaupten kann,
in geschlossener Entwicklung aus jener Wurzel zu stammen,
den Geist, die Ideen, die Einrichtungen jener Zeit uns nahe-
zubringen? Läge nicht eine unwissenschaftliche und für den
Theologen unwürdige Bescheidenheit darin, die katholische
Auffassung nur ,, sozusagen probeweise neben Dutzend anderen
Erklärungsmöglichkeiten an die Quellen anzulegen", wo diese
anderen Möglichkeiten, seien sie aus dem subjektiven Denken
des Forschers oder aus dem supponierten Geiste der alten Zeit
geschöpft, viel eher die Gefahr einschließen, das Urteil in die
Irre zu führen? Es muß ihm vielmehr gestattet sein, bei der
Der Eid wider den Modernismus 107
Fragestellung und Vergleichung diese Möglichkeit in erster
Linie in Betracht zu ziehen, natürlich ohne den Quellen Ge-
walt anzutun oder irgendein Moment innerer Wahrscheinlich-
keit abzuschwächen." (S. 44.)
Daß aber überhaupt die durch den Antimodernisteneid
geleistete Verpflichtung zu einem Glaubensbekenntnisse «im
religiösen Leben der Gegenwart nicht etwas ganz Unerhörtes"
bedeutet, sucht der folgende Abschnitt zu zeigen. Er handelt
über die «bekenntnismäßige Verpflichtung der prote-
stantischen Theologen" und zitiert eine Reihe der bei
diesen üblichen Schwurformeln, deren Geist bis in die
Satzungen der theologischen Fakultäten der Universitäten
hineinragt. So lautet z. B. der Wortlaut des Gelübdes, das
die Theologieprofessoren der Leipziger Fakultät abzulegen
haben: »Ich gelobe vor Gott, daß ich das Evangelium von
Christo, wie dasselbe in der Heiligen Schrift enthalten und in
der ersten ungeänderten Augsburgischen Konfession und sodann
in den übrigen Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen
Kirche bezeugt ist, nach bestem Wissen und Gewissen lauter
und rein lehren und verkünden will." Aehnlich heißt es in
den Satzungen der Bonner evangelisch-theologischen Fakultät:
»Die Fakultät bekennt sich zu der unierten evangelischen
Kirche und ist verpflichtet, ihre Lehre mit den Grundsätzen
dieser Kirche, wie sie in deren anerkannten Bekenntnis-
schriften übereinstimmend und schriftgemäß aufgestellt worden
sind, in Einklang zu erhalten." (Man vergleiche damit die
folgende Bestimmung der Bonner katholisch- theologischen
Fakultät: „Der neuangestellte . . . Professor wie auch jeder
Privatdozent ist gehalten, ehe er seine Vorlesungen beginnt,
das katholische Glaubensbekenntnis nach Vorschrift des Triden-
tinischen Kirchenrats und in der in der Kirche üblichen Form
in die Hände des Dekans . . . abzulegen.")
Wenn in letzter Zeit heftige Angriffe auf derartige
„römische" Ueberreste im heutigen Protestantismus erfolgten;
108 Der Eid wider den Modernismus
wenn jene Angriffe sich dabei nicht zum wenigsten gegen die
„Umdeutungskünste und Halbheiten" der sogen, liberalen
Theologie richteten, so ist es interessant, aus dem Munde
eines material ganz anders gerichteten katholischen Theologen
dennoch die formale Anerkennungjener Angriffe zu vernehmen.
„Sollte man — schreibt Mausbach im Anschluß an die soeben
erwähnten Satzungen und Verpflichtungen — von freisinnigem
Standpunkt erwidern, diese Forderungen der evangelischen
Kirche würden nicht so streng und ernsthaft aufgefaßt und
durchgeführt wie die der katholischen, so läge darin vom
Standpunkt vollkommen freier Religiosität und
Theologie offenbar keine Rechtfertigung jener
Bindung des Glaubens und Lehrens. Im Gegenteil
müßte dann erst recht die Aufhebung jener statut-
und gesetzmäßigen Verletzung der protestantischen
Lehrfreiheit verlangt werden." (S. 56.)
Was endlich „die Stellung und Bedeutung der katholisch-
theologischen Fakultäten" angeht, so gibt Mausbach zu, daß,
abgesehen von der bei allen Fakultäten gleichen objektiven
Gebundenheit des Forschers durch den tatsächlichen Sachver-
halt seines Gebietes, doch „die subjektive Gebundenheit beim
katholischen Theologen insofern eine andere und strengere ist,
als er verpflichtet ist, die von der Offenbarung und dem
kirchlichen Lehramte verkündigte Wahrheit im Denken und
Lehren festzuhalten, seine wissenschaftliche Arbeit mit dieser
Glaubensgrundlage im Einklang zu erhalten. Gegen diese
Bindung seines Urteils, seiner inneren Beziehung zum Wissens-
stoff, richten sich insbesondere die geläufigen Anklagen. Nun
ahnen zunächst die meisten Gegner nicht, wie viele Gebiete
Tatsachen und Probleme auch in der katholischen Theologie
der freien, gelehrten Beurteilung unterstehen, nicht bloß bei
Ergründung und Auffassung des Geschichtlichen, sondern auch
bei Beurteilung dogmatischer und sittlicher Fragen." Sodann
ist zu beachten, „daß das Schlagwort von der Voraussetzungs-
Der Eid wider den Modernismus 109
losigkeit der Wissenschaft auf Verkennung zweifelloser psycho-
logischer Tatsachen beruht, und daß die Vertreter der katho-
lischen Theologie nicht nur subjektiv von der Wahrheit ihres
Glaubens überzeugt und zur wissenschaftlichen Rechtfertigung
desselben bereit sind, sondern daß sie auch in demselben
Momente, wo sie diese Ueberzeugung verlieren
würden, die Freiheit, ja die Pflicht haben, ihr Lehr-
amt aufzugeben". (S. 59.) Mit Paulsen ist Mausbach der
weiteren Meinung, daß der Staat nicht nur durch das Prinzip
der Parität gezwungen sei, auch der mit der protestantischen
verfassungsmäßig gleichberechtigten katholischen Religion an
der Universität die Möglichkeit eines wissenschaftlich vor-
gebildeten Klerus zu bieten, sondern vor allem auch im Inter-
esse des Wachstums der Kultur an dem Fortbestande der ka-
tholisch-theologischen Fakultäten im Ganzen der Hochschule
Anteil nehmen müsse. Denn gerade „die Eingliederung in
das umfassende Ganze einer Universität, die engere Be-
rührung mit den vom Staate für die Wissenschaft getroffenen
Veranstaltungen, die reichere Gelegenheit, die deutsche
Kultur unserer Zeit und die Angehörigen anderer Stämme,
Berufe und Konfessionen kennen zu lernen, bietet immerhin
sachliche Vorzüge für die Allgemeinbildung des künftigen
Geistlichen, die der moderne Kulturstaat nicht geringschätzen
kann." (S. 65.)
Es erschien angezeigt, im vorhergehenden möglichst die
Vertreter des antimodernistischen Standpunktes selbst zu Worte
kommen zu lassen. Auf diese Weise entging unsere Dar-
stellung am sichersten dem Vorwurfe mangelnder Objektivität.
Zugleich aber vermittelte sie eine lebendige Erkenntnis, in
welch' innerem Zusammenhang alle diese Kund-
gebungen mit der mittelalterlichen, speziell tho-
mistischen, Bestimmung des Verhältnisses von Theo-
logie und Philosophie stehen. Gerade dieser — wie sie
glaubt — „gesunde" Konservativismus bildet die Eigenart und
110 Das Prinzip der löblichen Unterwerfung
zugleich den Stolz der katholischen Kirche gegenüber den
kühnen „Neuerungen" - eben des Modernismus.
Wie nun im allgemeinen die antimodernistischen Erlasse
der letzten Zeit zum Stein des Anstoßes geworden sind, so
pflegen im besonderen die einzelnen Persönlichkeiten, die sich
ihnen fügen, als „Schwächlinge" und „kulturfeindliche, mittel-
alterliche Typen" gebrandmarkt zu werden. Dabei sind auf
Seiten der Gegner oftmals — um nicht zu sagen meistens —
Haß und Spott stärker als ein unbefangenes und gründliches
Verständnis des bekämpften Standpunktes. Dies ist freilich für
den keine Ueberraschung, der weiß, welche hohen sittlichen
Anforderungen der ehrliche Wille zur Wahrheit in sich schliei3t.
Gerade unsere historische Orientierung ist nun geeignet,
ein wirkliches Verständnis für die Haltung derer anzubahnen,
die sich in religiösen Fragen, insbesondere im Falle eines schein-
baren oder wirklichen Konflikts zwischen Philosophie und
Theologie auf die Seite der — wie sie historisch und philo-
sophisch in den praeambula fidei bewiesen zu haben meinen
— göttlicher Autorität entstammenden kirchlichen Lehre stellen.
Es ist das Prinzip der „löblichen Unterwerfung"
(laudabiliter se subjecitheißtesin der Sprache der Kurie), bei
dem wir angelangt sind. Um es richtig sowohl positiv wie negativ
zu würdigen, muß man folgende beiden Punkte festhalten.
Erstens. Als die entscheidende Voraussetzung der mittel-
alterlichen Lösung unseres Problems fanden wir auf allen
Etappen seiner historischen Entwicklung die Annahme, daß zu
einer bestimmten Zeit Gott selbst sich durch Propheten und
vor allem durch seinen „menschgewordenen Sohn" Jesus Christus
geoffenbart habe. „Gott selbst hat gesprochen" — lautete
die charakteristische Formulierung. Gott aber ist die „absolute
Wahrheit" und zugleich die ewige Wahrhaftigkeit selbst, die
nicht lügen noch betrügen kann. Also darf und muß der
Mensch ihr Glauben schenken. Der „Sohn Gottes" aber hat
weiterhin eine Kirche gestiftet zu dem Zwecke, seine Lehre
Das Prinzip der löblichen Unterwerfung 111
bis zum Ende der Tage unverfälscht fortzupflanzen. Also darf
und muß der Mensch auch den Lehren dieser Kirche glauben —
um der Autorität Gottes selbst willen.
Dies die Schlußkette, mit der jene „löbliche Unter-
werfung" innerlich aufs engste verknüpft ist.
Es ist hier nicht der Ort und würde die Uebersicht des
historischen Zusammenhanges stören, genauer die Haken zu
prüfen, an denen die obige Kette hängt. Um so mehr halten
wir uns gegenwärtig, daß die katholische Kirche — und
demnach auch der gläubige katholische Forscher — diese
Schlußkette als gesichert ansieht. Philosophische (vornehmlich
das Dasein eines überweltlichen „persönlichen" Gottes be-
treffende) und historische Erkenntnisse (die aus Wundern und
Weissagungen erschlossene Tatsächlichkeit einer „übernatür-
lichen" Offenbarung) gelten, wie wir genugsam hörten, als die
Wissensgrundlage des katholischen Glaubensgebäudes.
Dann aber folgt: die kirchliche Autorität als göttliche
vorausgesetzt (nicht mit Willkür, sondern auf Grund angeblich
sicherer „Beweise") bedeutet die Unterwerfung unter sie eine
unabweisbare Konsequenz. Demnach — formal ge-
nommen — nichts von vornherein Verächtliches, sondern
einen Akt höchster Sittlichkeit, weil subjektiver Wahrhaftigkeit. ^
Zweitens aber kann folgender Fall eintreten. Ange-
nommen, ein Forscher oder ein denkender Katholik überhaupt
kommt zu einem Resultate, das direkt oder indirekt in Wider-
spruch zur Kirchenlehre steht. Dann bestehen zwei Mög-
lichkeiten. Einmal kann jemand eben — solange seine
Ueberzeugung von der „göttlichen Autorität" der Kirche
bestehen bleibt — unter mehr oder minder großen inneren
Kämpfen sein eigenes, bloß „menschliches" Resultat zugunsten
der „göttlichen" Lehre preisgeben. Sodann aber kann, wie
psychologisch jeder leicht nacherleben kann, gerade eine solche
^ Vergl. J. M. Verweyen, «Wissenschaft und Ethos" (in der von
Ernst Horneffer herausg. Zeitschrift „Die Tat" II. Jahrg., Heft 8).
112 Das Prinzip der löblichen Unterwerfung
Diskrepanz zwischen eigenem Denken (vorab wenn es sich
um das methodisch geschulte des Forschers handelt) und der
Kirchenlehre zu einem erneuten Anlaß werden, die Sanktion
der kirchlichen Autorität, d. h. die bisher angenommene Tat-
sache der übernatürlichen Offenbarung und deren Identität
mit dem Dogma einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Vielleicht tritt in manchen erst bei einem solchen Konflikte
eine völlige Unbefangenheit ein gegenüber den Argumenten
für die Offenbarungs-Tatsache und die Unfehlbarkeit der
Kirchenlehre, so daß letztere nun nicht mehr genügend sank-
tioniert erscheinen, um ihnen die eigenen Forschungsresultate
zu unterwerfen. Sofern diese in ehrlicher Arbeit errungen
werden, können sie zudem manchmal ein weit „persönlicheres"
geistiges Eigentum sein als die üblichen Argumente für eine
Oifenbarungstatsache und vermögen dann leicht Zweifel an
einer solchen aufkommen zu lassen.
Erst wenn das Zentrum des geistigen Menschen — und
dazu gehört auch sein gewissenhaft errungenes Wissen — in
Konflikt gerät mit „Autoritäten", zeigt sich, inwieweit letztere wirk-
lich dem betreffenden Menschen ihre Sanktion erweisen können.
Freilich wird man auch dies nicht kurzsichtig übersehen
dürfen, daß jener Konflikt auch infolge einer selbstgefälligen
raschen Ueberschätzung der eigenen Resultate gerade eine
gewisse Befangenheit gegenüber den früher anerkannten
Gründen für die kirchliche Autorität hervorrufen kann. Ander-
seits aber ist doch wohl bei höchster Ehrlichkeit und Ge-
wissenhaftigkeit gerade ein Konflikt des eigenen Denkens
mit dem kirchlichen Dogma geeignet, jene Unbefangenheit
gegenüber den Offenbarungs-Argumenten zu erzeugen.
So wenig in dem ersten Falle der »Ungläubige" über
die »Unterwerfung« hat aber im zweiten Falle der „Gläubige"
— in formal-ethischer Hinsicht — berechtigten Grund, sich
über die Nicht-Unterwerfung sittlich zu „entrüsten".
Die katholische Lösung des Problems als Typus 113
V. Die katholische Lösung des Problems
als Typus.
Unsere Untersuchung hatte zunächst die historische Absicht,
aus den mittelalterlichen Voraussetzungen die gegenwärtige
Problemlage zu verstehen. Aber eine vertiefte geschichtliche
Betrachtung philosophischer Fragen wirft gleichzeitig noch
einen andern Ertrag ab. Sie begnügt sich nicht damit, die
Reihenfolge der Ideen in ihrem zeitlichen Aufeinander und in
ihrer etwaigen inneren Abhängigkeit aufzudecken. Die Ge-
schichte der Philosophie kann vielmehr zugleich in hohem
Maße der sachlichen Orientierung dienen, indem sie die
historisch aufgetretenen Ideen — sowie ihre Vertreter — als
Typen möglicher Lösungen und Denkweisen zu begreifen lehrt.
Wenden wir diese Methode auf unsere Frage an, so
dürfen wir folgendes sagen. Das allgemeine Problem von
Glauben und Wissen hat im Mittelalter eine ganz bestimmte,
zeitgeschichtlich bedingte Lösung erfahren. Indem man diese
zeitgeschichtlichen Faktoren von dem allgemeinen Wesen des
Problems trennt, gewinnt man leicht ein Schema, das die
Eigenart abweichender Lösungen deutlich hervortreten läßt.
Wenn das viel zitierte Wort eine erkenntnistheoretische
Wahrheit bedeutet: „Das ist das Ende aller Philosophie, zu
wissen, daß wir glauben müssen" — so fragt sich doch in
jedem Falle: woher der betreffende Glaube? und welcher
Inhalt des Glaubens? Ursprung und konkreter Inhalt des
Glaubens müssen sich auch dann noch vor dem kritischen
Forum ausweisen, wenn die allgemeine Funktion des Glaubens
überhaupt bereits gerechtfertigt ist. Denn nicht das allein ist
Verwcyen, Philosophie und Theologie im Mittelalter. 8
114 Die katholische Lösung des Problems als Typus
das Entscheidende, ob man überhaupt „glaubt", sondern auch
an welchem Punkte und in bezug auf welchen Gegenstand dies
geschieht — zugleich auf Grund welcher Voraussetzungen.
Kurz: warum man dies oder jenes glaubt. Solltees auch eines
kritischen Kopfes nicht unwürdig sein, „Geheimnisse" anzu-
nehmen, so gälte es doch stets mit Besonnenheit die Stelle,
an der - und die Motive, aus denen ein ,, Geheimnis"
Anerkennung verdient, festzulegen.
Was nun den Ursprung des Glaubens betrifft, so erblickte
ihn das Mittelalter, wie wir sahen, in einer durch die „natür-
liche Ordnung" der Dinge nicht erklärbaren „übernatürlichen"
(transcendenten) Offenbarung Gottes. Aus dem „Jenseits", ver-
suchte man zu beweisen, sind im Laufe der Geschichte durch
gottbegnadete, „vom heiligen Geiste inspirierte" Propheten, vor
allem durch die „zweite Person in der Gottheit" selbst die
wichtigsten religiösen Lehren in das „Diesseits" zu der suchen-
den und irrenden Menschheit gedrungen.
Die christliche sogen. Orthodoxie — die katholische
wie die protestantische — hält bis in unsere Tage an
diesem Ursprünge des „wahren" religiösen Glaubens unver-
rückbar fest; während die konsequente Nicht-Orthodoxie, wie
wir kurz sagen wollen, keinen ,, göttlichen" Ursprung dieser
Art kennt. Der Begriff der „übernatürlichen Offen-
barung" ist darum im tiefsten Grunde der Kardinal-
punkt, um den in der Gegenwart der Kampf um den
„religiösen Glauben" tobt.
Denn alle, die auch die religiösen Vorstellungen und
Gefühle der Menschheit einem natürlichen d. h. rein „dies-
seitig" zu fassenden Entwicklungsprozesse einordnen, sind
infolge dieses Forschungsprinzips bezw. Forschungsresultats
durch eine unüberbrückbare Kluft von denen getrennt, die
einen völlig einzigartigen, mit den Mitteln sonstiger Kausal-
analyse prinzipiell nicht faßbaren Ursprung des religiösen
Glaubens verfechten. Auf der einen Seite das Lager derer, die
Die katholische Lösung des Problems als Typus 115
alle Religionen - einschließlich der christlichen - in keinem
wesentlich anderen Sinne auf „Offenbarung" zurückführen, wie
etwa die Schöpfungen großer Künstler, die ihr Werk ja geradezu
auf eine aus den Tiefen ihres Wesens hervorquellende, zuletzt
nicht weiter analysierbare „Inspiration" zurückführen. ^ Auf der
anderen Seite jene, die in einem wesentlich verschiedenen, meta-
physischen Sinne die „Inspiration" verstanden wissen wollen
und eine völlig einzigartige, sonst nie in der Geschichte an-
zutreffende Entstehung der jüdischen und christlichen ,,Offen-
barungs"-Religionen, wie man sie im Unterschiede zu den
„bloß natürlichen" gerne nennt, annehmen.
Es wäre eine sehr zeitgemäße Untersuchung, vom Stand-
punkte unseres heutigen Wissens aus, die Gründe aufzudecken,
welche gegen eine „übernatürliche" zugunsten einer „natür-
lichen" Offenbarung sprechen. Eine solche Aufgabe würde zu-
gleich auf eine Kritik der vom Mittelalter und seinen von der
katholischen Kirche bis heute verfochtenen Argumente hinaus-
laufen. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit genüge es,
die Richtlinien einer solchen Kritik anzugeben. Im wesent-
lichen würde es sich dabei um den Nachweis handeln, daß
die angeblichen „Wunder und Weissagungen" keineswegs so
unerschütterliche Argumente bedeuten (testimonia irrefragabilia,
wie sie die Encyclica Pascendi in Uebereinstimmung mit ähn-
lichen Aeußerungen des vatikanischen Konzils und des Thomas
von Aquino nennt. (Vgl. oben S. 78.) Abgesehen von der
philosophischen Frage der Möglichkeit — und Wahrschein-
lichkeit — von „Wundern" und der durch sie zu bezeu-
genden „göttlichen Offenbarung" ist es offensichtlich die rein
historische Frage nach der Tatsächlichkeit beider, die hier
die entscheidende Instanz bildet. Somit wäre es schließlich
Sache der geschichtlichen, möglichst unvoreingenommenen,
„voraussetzungslosen" Betrachtung, über die Tatsache einer
' Man lese z. Bsp. Nietzsches Schilderung über die Zustände
seiner .Inspiration".
8*
116 Die katholische Lösung des Problems als Typus
übernatürlichen Offenbarung zu entscheiden. Nun finden
sich unter den religiösen Urkunden der Menschheit solche,
— wie eben auch die christlichen — die ihre Entstehung
unmittelbar auf „göttliche Eingebung" zurückführen und
zu ihrer Beglaubigung auf nicht „natürlich" zu erklärende
Taten und Ereignisse, die Wunder, hinweisen. Da entsteht die
hochbedeutsame Frage nach der Glaubwürdigkeit solcher
Ueberlieferungen; eine Frage, bei deren Entscheidung sowohl
historische, den Berichten selbst entnommene sog. textkritische
als auch philosophische sowie allgemeine, dem gegenwärtigen
Stande des Wissens überhaupt (z. B. der Psychologie der
Zeugenaussage oder Psychopathologie) entnommene Argumente
mitsprechen. Wer „V/under" in jenem „übernatürlichen"
Sinne aus philosophischen Erwägungen heraus für unmöglich
oder doch — was nicht minder in die Wagschale fällt — für
unwahrscheinlich hält, wird von vornherein Wunderberichten
gegenüber sich skeptisch verhalten. ^ So wird die philosophische
Weltauffassung des betreffenden Religionshistorikers von grund-
legender Bedeutung für seine Stellung zu den Urkunden dieser
Art. Es handelt sich hierbei um einen bei den verschiedenen
Forschern verschiedenen philosophischen Einschlag in
der historischen Einzelforschung, der nicht immer
scharf genug herausgearbeitet wird und darum leicht die gegen-
seitige Verständigung trübt.
Nicht unerwähnt bleibe schließlich noch, daß im 19. Jahr-
hundert — das man wohl als das saeculum historicum zu charak-
terisieren pflegt — eine ganz neue historische Disziplin sich ent-
wickelte, durch welche die Frage nach dem „übernatürlichen
Offenbarungs"-Ursprung speziell der jüdischen und christlichen
Religion in eine ganz neue Beleuchtung getreten ist. Gemeint
^ Vgl. meine demnächst erscheinende Untersuchung über »Das
Problem des Möglichen". Ferner das soeben erschienene Buch von
F. Kiefl, Die philosophischen Voraussetzungen im Kampf um die
Christusmythe, Mainz 1911.
Die katholische Lösung des Problems als Typus 117
ist die vergleichende Religionsgeschichte. Sie läßt
immer mehr von dem, was die christliche Theologie als Einzig-
artigkeit des „Christentums" behauptet hatte, als Gemeingut
vieler Religionen erkennen und ist dadurch zu einem bisher in
dieser Art unbekannten Gegner der „übernatürlichen" Offen-
barung geworden. Die vergleichende Religionswissenschaft
zeigt uns immer deutlicher die ganze JVlannigfaltigkeit der
konkreten Gestaltungen, welche die allgemeine religiöse
Grundform beiden verschiedensten Völkern angenommen hat.
Vom Standorte dieser Betrachtungsweise erscheint es dann will-
kürlich, gerade die konkrete christliche Gestalt dieser Grundform
auf eine einzigartige, „übernatürliche" Offenbarung zurückzu-
führen. „Denn wie man auch über Wunder denken möge,
jedenfalls ist es der Historie unmöglich, die christlichen Wunder
zu glauben und die nicht-christlichen zu leugnen, und, wie sehr
man in den ethischen Kräften des inneren Lebens etwas Ueber-
natürliches finden möge, es gibt kein Mittel, die Er-
hebungen des Christen über die Sinnlichkeit als
übernatürlich und die Piatons oder Epiktets als
natürlich zu konstruieren."^ Im einzelnen müßte dabei
natürlich gezeigt werden, daß eben auch die angeblichen
Besonderheiten des Urchristentums aus den verschiedensten
(historischen und philosophischen) Gründen nicht eine solche
Ausnahmestellung im Sinne eines „göttlichen" Ursprunges recht-
fertigen. —
Nunmehr gilt es auch in inhaltlicher Beziehung die
mittelalterlich-katholische Lösung des Problems als Typus zu
begreifen. Als Inhalte des religiösen Glaubens fanden wir
Lehren über Gott, seinen „menschgewordenen Sohn" Jesus
Christus und des Menschen Verhältnis zu beiden — Lehren,
die einer übernatürlichen Offenbarung, unmittelbar göttlicher
Belehrung zu entstammen, demnach über alles menschliche
^ E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religions-
geschichte, Tübingen 1Q02.
9
118 Die katholische Lösung des Problems als Typus
Wissen erhaben und die eigentliche „wahre Philosophie"
zu sein schienen, wie wir bereits in der Zeit der Patristik
vernahmen, (vgl. oben S. 1 1 ff.).
Wenn auch viele dieser Glaubenslehren als übervernünf-
tige bezeichnet wurden d. h. als solche, zu deren Auffindung
und Erkenntnis die menschliche Vernunft nicht imstande sei,
so war und ist man im Rahmen dieser Problem-Lösung doch
der Ueberzeugung, der paulinischen Forderung eines
„vernünftigen Glaubens" entsprochen zu haben. Ein
Widerspruch zwischen wirklichen und gesicherten Resultaten
des Wissens einerseits und den richtig verstandenen In-
halten des Glaubens anderseits gilt als grundsätzlich ausge-
schlossen. Dies bedeutet die prinzipielle Verfechtung einer
Harmonie zwischen zwei verschieden gearteten, aber nicht durch
einen unüberbrückbaren Gegensatz getrennten Sphären unserer
geistigen Betätigung. In anderem Bilde gesprochen: keine
dualistische Zweiweltentheorie in dem Sinne, daß die
Welt des Wissens die Existenz der Welt des Glaubens be-
drohen könnte. Vielmehr ein beständiges gegenseitiges Stützen
beider Welten: das Wissen imstande, „die Fundamente des
Glaubens zu beweisen"; der Glaube ein göttlicher Gnade
und Unterweisung entspringendes „übernatürliches Licht" (ein
lumen supranaturale), das dem „natürlichen" Wissen neue Be-
leuchtung und Vertiefung sowie zugleich Anregung zu weiteren
Spekulationen über göttliche Dinge zuteil werden läßt.
Man kann die Eigenart dieses prinzipiell har-
monisierenden Lösungsversuches unseres Problems
durch die katholische Kirche nicht genug unter-
streichen gegenüber einem Dualismus der „doppelten
Wahrheit", der Glauben und Wissen zu feindlichen
Gegensätzen stempelt.
Diese prinzipiellen Fassungen sind offensichtlich auch dann
möglich, wenn die Inhalte des Glaubens nicht die Lehren
und Dogmen der Kirche bilden.
Die katholische Lösung des Problems als Typus 119
Die übliche Sprache der christlichen Orthodoxie pflegt
solche, die nicht den christlichen Kirchen- und Dogmenglauben
teilen, schlechthin — und dazu nicht selten im verächtlichen
Sinne — als „Ungläubige" zu bezeichnen. Darin aber liegt
eine ungeheure Willkür, um nicht zu sagen, Anmaßung. Denn
in der christlichen Dogmatik findet sich zwar ein — aber
nicht „der" Glaube. Auch ein „Ungläubiger" kann, paradox
gesprochen, sehr „gläubig" sein. Denn die von allen konkreten
Inhalten unabhängige Grundform des Glaubens in dem hier
in Rede stehenden Sinne ist der zuletzt nicht rationalen,
sondern irrationalen Quellen entspringende Wille, die empirische
Wirklichkeit im Lichte einer sittlichen Idee zu betrachten und
nach Möglichkeit unter deren Einfluß umzugestalten. Von hier
aus versteht man, daß im kirchlichen Sinne Ungläubige mit
Rücksicht auf ihren starken diesseitigen „Lebensglauben" ^ nicht
auf das Recht verzichten wollen, sich Gläubige nennen zu
dürfen. Von hier aus ist auch das Wort zu verstehen: „Nur
der Mensch ohne Ideal ist der wahre Atheist und der Mensch
ohne Glauben an die Vervollkommnung seiner selbst und der
Gattung der wahrhaft Ungläubige." ^
Wer ferner in Abrede stellt, daß der in einem christ-
lichen Dogma formulierte Inhalt objektive, historische, oder
metaphysische, Wahrheit enthält — kann dennoch lebendig an
die dem Dogma zugrunde liegende Idee als an eine ethische
Macht glauben.
Wer sich als „ungläubiger Forscher" beispielsweise gegen-
über dem als historische Tatsache behaupteten „geboren aus
Maria der Jungfrau" schlechthin ungläubig verhält, kann doch
die Grundidee bejahen, die dem ex carne natum ein ex Deo
natum überordnet. Die gleiche Betrachtung ließe sich auf
alle christlichen Dogmen ausdehnen.
^ Als Beispiel diene etwa Ellen Keys Buch „Der Lebensglaube".
^ Friedrich Jodl, Wissenschaft und Religion, 1909.
9*
120 Die katholische Lösung des Problems als Typus
Nicht der christliche Dogmenglaube, sondern der Glaube
in dem allgemeineren Sinne der vertrauensvollen Hingabe an
das aufwärts steigende Leben im Gegensatze zu der „un-
gläubigen" Resignation einer matten Alltäglichkeit — dieser
Gegensatz ist es, den das viel zitierte, oft in unberechtigter
Weise gerade zur Apologie des christlichen Glaubens ausge-
beutete Wort Goethes meint: „Das eigentliche, einzige und
tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle
übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens
und Glaubens. Alle Epochen, in welchem der Glaube herrscht,
in welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herz-
erhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt."
Wie der kirchliche Glaube nur ein Spezialfall des reli-
giösen Glaubens überhaupt ist, so ist nun auch das religiöse
Problem von Glauben und Wissen nur ein Spezialfall eines
umfassenderen Problems, dessen Grundform sich an den
mannigfachsten Inhalten und Verhältnissen auswirken kann.
Welcher Art diese auch immer sein mögen: von einem höheren
Standpunkte aus gesehen verhalten sich Glauben und Wissen
zueinander wie Irrationalismus und Rationalismus, wie Instinkt
und Vernunft, wie unmittelbare Erlebnis-Gewißheit und nach-
trägliche Reflexion, wie Schauen und Beweisen. Die nähere
Begründung dieser Behauptung bleibe einer besonderen Unter-
suchung über das Wesen des Irrationalismus vorbehalten. Nur
dies sei hier noch bemerkt, daß unser geistiges Leben be-
ständig von irrationalen Wert-Elementen durchzogen wird, die
sich in weiterem Sinne als ein „Glauben" gegenüber der
kritischen Zersetzung durch das Wissen zu behaupten suchen.
In diesen Zusammenhang gehört das psychologisch außer-
ordentlich wichtige und interessante Phaenomicn des Zweifels,
das ja gerade auch in der Seele des religiösen Menschen eine
große Rolle spielt. In doppelter Weise kann der Zweifel auf-
treten: als Instinktunsicherheit d. h. als eine unmittelbare
reflexionslose Erschütterung der Glaubensgewißheit und der
Die katholische Lösung des Problems als Typus 121
in ihr festgehaltenen Eindeutigkeit einer Wertbeziehung — ■
oder als ein intellektuelles Schwanken d. h. als ein durch
rationale Ueberlegungen eintretender Zustand der intellektuellen
Ungewißheit, die sich als Mehrdeutigkeit in Gedanken an die
Möglichkeit des Auch-anders-sein-könnens äußert. Bald siegt,
wie uns aus mannigfaltigen Beispielen des täglichen Lebens
geläufig ist, die schließlich auf irrationaler Grundlage beruhende,
nicht weiter beweisbare, sondern nur erlebbare „Glaubens-
überzeugung", bald die rationale Ueberlegung. Die Stärke-
verhältnisse beider zählen im letzten Grunde zu den Geheim-
nissen der Individualität und sind überdies oft für die ver-
schiedenen Sphären unseres geistigen Seins verschieden.
Die Psyche des katholischen Christen ist nun dadurch
charakterisiert, daß sie sich gegenüber allen Zweifeln an der
Wahrheit der Dogmen immer wieder zu einem energischen
„Und dennoch !" aufschwingt, das den Grübeleien der Vernunft
zum Trotz unerschütterlich den Glauben an das „Wort Gottes"
bewahrt. Diese katholische Glaubensenergie aber ruht auf der
rationalen Basis der angeblichen Beweise, „daß Gott wirklich
gesprochen hat". So durchdringen sich Rationalismus und
Irrationalismus in eigenartiger Weise in der Seele des
Menschen, der sich die katholische Lösung unseres Problems —
sei es nur in formaler oder auch zugleich in materialer Hinsicht —
zu eigen macht.
Noch schärfere Beleuchtung gewinnt die Eigenart dieser
Lösung durch den Vergleich mit der Luthers, der dem
Irrationalismus allein das Wort redet.
„Das gerade war das Wichtigste, das Neue, das Reforma-
torische in Luthers Gedanken: praktisches Christentum war ihm
seinem eigentlichen Wesen nach nicht Annahme einer auto-
ritativ gegebenen Erkenntnis von Gott und Welt und daneben
Uebung ethischer Tugenden; es war ihm das erfahrbare
und nur durch Erfahrung erlangbare Wurzeln im
religiösen Glauben. Hinter diesem religiösen Vertrauen
122 Die katholische Lösung des Problems als Typus
auf Gottes Gnade in Christo trat das ganze Gebiet der Ethik
im engeren Sinne als das Bedingte hinter dem Bedingenden
zurück. Das Neue im Lutherschen Christentum war primär
dies religiöse Verständnis des Evangeliums."^ Der „Glaube
allein" ist es, der nach Luther „selig macht", d. h. die Zuver-
sicht (fiducia) zu der Gnade Christi, das „Vertrauen, daß wir
Gott gefallen um Christi willen". Die einzige Sünde ist
schließlich der entsprechende Unglaube: „Sündige nur tapfer,
aber glaube noch tapferer." Sogar alle sog. „guten Werke",
die ohne Glauben geschehen, sind tot und nützen nichts zur
Seligkeit. Anderseits aber bringt der lebendige Glaube von
selbst die „Werke" als Früchte hervor: Opera sunt facienda
non ut causa, sed ut fructus iustitiae. (Comm. in ep. ad.
Gal.) Extra causam iustificationis nemo potest bona opera a
Deo praecepta satis magnifice commendare. Opera vero extra
fidem peccatum peccato addunt. (1. c.) In diesem Sinne ist
auch Luthers Wort in den Tischreden zu verstehen: „Glaube
an den Herrn Jesum Christum und tue die Werke deines
Berufes"! Dem echten Christen ist bei seinem Tun und
Lassen „die lebendige Zuversicht auf Gottes Gnade so gewiß,
daß er tausendmal darüber stürbe".
Luthers Formel: Der Glaube allein (sola fides) richtet
sich aber nicht nur gegen die katholische Lehre von den
„guten Werken", sondern auch zweitens gegen die von dem
katholischen Dogma behauptete Möglichkeit eines Wissens von
der Offenbarungstatsache. Luther stellt sich in entschiedenen
Gegensatz zu der mittelalterlich-katholischen Tradition, wenn
er auch die sog. Heilstatsachen als Gegenstand eines bloßen
Fürwahrhaltens betrachtet. Die an Stelle der kirchlichen Auto-
rität tretende Autorität der Bibel als des „Wortes Gottes" ist
ihm durch ein inneres Erlebnis, durch eine unmittelbare (irra-
tionale) Gewißheit sanktioniert. Augustinus hatte bekannt:
„Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht
1 F. Loofs, Grundriß der Dogmengeschichte 4 A. S. 714.
Die katholische Lösung des Problems als Typus 123
die Autorität der katholischen Kirche dazu bewöge." Solcher
Standpunkt dünkt Luther „falsch und unchristlich; es muß ein
jeglicher allein darum glauben, daß es Gottes Wort ist und
daß er inwendig befinde, daß es Wahrheit sei". „Darum
muß dir's Gott ins Herz sagen: das ist Gottes Wort."^
Also: eine auf persönlicher Gnadenwirkung und Offenbarung
beruhende, in innerem Erleben wurzelnde Gewißheit von der
Tatsache einer historischen Kundgebung Gottes an die Mensch-
heit; — kein Versuch, diese Tatsache durch Wunder und
Weissagungen zu „beweisen", wie die katholische Theologie
es unternimmt!
Endlich drittens ist auch der „Glaube allein" das Organ
zur Erfassung des Offenbarungsinhaltes. Ein natürliches
Wissen von den Wahrheiten, die göttlicher Offenbarung ent-
stammen, gibt es nicht. Die Theologie hat lediglich die Auf-
gabe, den Sinn des Wortes Gottes zu ermitteln, ohne ihn
spekulativ weiter auszudeuten.
Man beachtet im allgemeinen noch immer nicht genug,
wie sehr Luther bei der Schätzung der natürlichen Kräfte des
Menschen von der mittelalterlich-katholischen Tradition abweicht.
Diese nannte „Natur und Gnade" nicht unversöhnliche Feinde,
sondern bekannte sich zu der klassischen Formulierung Thomas
von Aquinos, nach der die Gnade die Natur nicht zerstöre,
sondern „vollende" und ,, erhebe": gratia naturam non
destruit, sed perficit.'- Daher finden wir auch bei den
mittelalterlichen Denkern die „natürliche" Vernunft in ver-
schiedener Beziehung im Dienste des „übernatürlichen"Glaubens.
Luther dagegen schilt die „natürliche Vernunft Frau
Hulde", „die Hure des Teufels" und „Erzfeindin des Glaubens".
' a. a. O. S. 743;. vgl. zum folgenden auch S. 747,
^ Eine lehrreiche Beleuchtung dieses Grundsatzes gibt der katho-
lische Theologe A. Rademacher in seiner Schrift: Gnade und Natur,
ihre innere Harmonie im Weltlauf und Menschheitsleben, M.-Qlad-
bach 1908.
124 Die katholische Lösung des Problems als Typus
Philosophie und Theologie scheinen ihm unversöhnliche Feinde.
Aristoteles — im Mittelalter mit Stolz „der Philosoph" genannt -
gilt Luther als „die gottlose Wehr der Papisten". Die aristo-
telische Ethik sei eine pessima inimica gratiae: Aristoteles ad
theologiam est tenebrae ad lucem. Luther erkennt im Unter-
schiede von der kathoHschen Theologie das arabische Prinzip
der „doppelten Warhrheit" an und tadelt deshalb die Sorbonne:
sie habe „die höchst verwerfliche Lehre aufgestellt, daß das,
was in der Philosophie ausgemachte Wahrheit sei, auch in
der Theologie gelten müsse".
Erst unter Melanchthons Einflüsse hat Luther wenigstens
zugegeben, daß die logischen und rhetorischen Schriften des
Aristoteles nützlich sein könnten, „junge Leut zu üben, wohl
reden und predigen".
Die altprotestantische Dogmatik eines Johann Gerhard
und Ph. Melanchthon fordert einen „richtigen Gebrauch der
Philosophie" — (verus usus philosophiae). Die Philosophie
soll die Vorhalle der Theologie sein und der Schrift-
auslegung zugute kommen. Dabei wird ein Dualismus
zwischen Vernunft und Offenbarung festgehalten, „der halb
theoretisch, halb praktisch begründet ist und den Zweck hat,
sämtliche Glaubenslehren in ihrem Detail als wahr zu sichern,
die Wahrheitsfrage in dem Sinne zu lösen, daß von vorn-
herein jedes Glaubensobjekt in seiner Wahrheit garantiert ist
und der auf diese Objekte sich richtende praktische Glaube
von Hause aus aller am Detail erwachenden und von da aus
vielleicht gefährlich weitergreifenden Zweifel überhoben ist".
„Die Frage der doppelten Wahrheit hat Melanchthon hierbei
noch nicht ins Auge gefaßt. Bei seiner Ueberzeugung von
der Harmonie aller Wissenschaften in ihrem obersten Zweck
macht sie ihm keine Sorge. Ebenso hat er eine Regulierung
eventueller Einzelkonflikte nicht vorgesehen ; in seiner geschmack-
vollen sinnigen Weise nimmt er dieselbe überall unter der
Hand vor. Wohl aber hat er die Frage der doppelten Offen-
Die katholische Lösung des Problems als Typus 125
barung erwogen, die bei der Deckung so mancher Elemente
des heiligen Buches mit dem natürlichen Erkennen unvermeid-
lich war. Doch auch hier hält er sich nur an das Große.
Nicht eine Schwierigkeit findet er hierin, sondern eine köst-
liche Bestätigung des besten Inhalts der natürlichen Erkenntnis,
gerade wie die Benutzung der dialektischen Regeln durch den
heiligen Geist nur eine göttliche Bezeugung der Herrlichkeit
dieser Gottesgabe ist. Er kümmert sich nicht um Kleinig-
keiten, sondern lebt und webt in der Ueberzeugung, daß die
gereinigte Wissenschaft und das gereinigte Gottes-
wort aufs innigste verbunden sind als die beiden
gottgegebenen Wege zum irdischen und ewigen
Wohl."^ Von solchen Voraussetzungen aus wird Melanch.
thonzum Begründer der sog. protestantischen Scholastik. ^
Die Philosophie, die Luther — und anfangs auch Melanchthon —
als heidnische Verirrung aus dem Heiligtum der Theologie
gebannt wissen wollte, wird abermals zur „Dienerin" nun-
mehr des neuen Glaubens. Und wiederum entstanden neue
dogmatische Systeme, die den Inhalt der neuen Lehre be-
grifflich zu fassen suchten.
Luthers Grundgedanken über das Verhältnis von Glauben
und Wissen wurden von Kant zu Ende gedacht und dem
Systeme des Kritizismus eingeordnet. Man hat deshalb Kant den
„Philosophen des Protestantismus" genannt^ — im Gegensatze
^ E. Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard
und Melanchthon, Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen
Theologie, Göttingen 1891, S. 73 und 95. Ferner H. Maier, Melanchthon
als Philosoph (Archiv für Gesch. d. Philos,, Bd. X und XI).
- Vgl. E. Weber, Die philosophische Scholastik des deutschen
Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907.
' Vgl. F. Paulsen, Philosophia militans, Berlin 1901, S. 31 ff. (auch
Kantstudien IV (1899) und VI (1901). Bruno Bauch, Luther und Kant,
Leipzig 1903. Ernst Saenger, Kants Lehre vom Glauben, Leipzig 1903.
Rudolf Eucken, Kant und Thomas von Aquino, Ein Gegensatz zweier
Welten. Ders. : Thomas von Aquino und die Kultur der Neuzeit.
(
126 Die katholische Lösung des Problems als Typus
zu Thomas von Aquino, dem Philosophen des Katholizismus.
Für diese Charakteristik ist nicht zum wenigsten gerade die
Stellung beider Denker zu unserem Probleme maßgebend.
In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft schreibt Kant: „Ich kann Gott, Freiheit und Un-
sterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs
meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht
der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung benehme,
weil sie sich, nur zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze
bedienen muß, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegen-
stände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf
das angewandt werden, das nicht ein Gegenstand der Er-
fahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung
verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen
Vernunft für unmöglich erklären. Ich mußte also das
Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu be-
kommen, und der Dogmatismus der Metaphysik d. i. das
Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzu-
kommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität wider-
streitenden Unglaubens, der jederzeit sehr dogmatisch ist." Kants
kritisches Bemühen ist darauf gerichtet, ein anmaßendes Wissen
und den in seinem Namen auftretenden Unglauben zu besei-
tigen, um für einen kritisch fundierten Glauben Platz zu ge-
winnen und „allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion
auf sokratische Art, nämlich durch den klarsten Beweis der
Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu
machen". Eine reinliche Gebietsteilung zwischen Wissen und
Glauben soll allen unnützen Fehden dieser Art ein für allemal
vorbeugen. Kants kritisches Resultat lautet: ein dogmatisches
metaphysisches Wissen ist unmöglich. Gott, Freiheit und Un-
sterblichkeit, die vornehmsten Probleme der bisherigen Meta-
physik, sind keine Gegenstände möglichen Erkennens. Die
Transcendenz bleibt dem erkennenden Menschengeiste ewig
verschlossen. Aber als sittlich wol lendes Wesen gewinnt der
Die katholische Lösung des Problems als Typus 127
Mensch einen Zugang zu der jenseitigen Welt des Uebersinn-
lichen, zu dem mundus intelligibilis. Der kategorische Impe-
rativ, das Bewußtsein des Sollens, führt zu einem „praktischen
Vernunftglauben" an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. An
Stelle der vermeintlichen metaphysischen Erkenntnisse treten
diese drei Vernunftpostulate d. h. „theoretische, als solche aber
nicht erweisbare Sätze, sofern sie einem a priori unbedingt
geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängen". Auch
die Religion verbleibt „innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
nunft". Alles, was die historischen Religionen außer einem
guten Lebenswandel vorschreiben, ist bloßer „Afterdienst Gottes".
Die religiösen Dogmen sind lediglich Symbole sittlicher Ideen.
Der dem sittlichen Bewußtsein entsprechende praktische Vernunft-
glaube ist allein von Wert. Gänzlich wertlos dagegen ist der
Glaube in dem früheren Sinne des Fürwahrhaltens angeblich
historischer Begebenheiten und ihrer spekulativen Andeutungen,
als könnten sie metaphysische Wahrheit beanspruchen. Dies
die Grundgedanken der Kantischen Religionsphilosophie.
Zweierlei ist an ihnen für unseren Zusammenhang be-
merkenswert. Erstens: ihre augenscheinliche Uebereinstimmung
mit den Prinzipien der Reformation. Beiden scheint die Vernunft
außerstande, „Beweise" für das Dasein Gottes und die Tat-
sache einer göttlichen Offenbarung zu erbringen. Statt der
Ratio bildet ein Irrationalismus, die nicht weiter beweisbare
innere Erfahrung vom „Worte Gottes", wie Luther sagt —
von einem überindividuellen sittlichen Sollen, dem kate-
gorischen Imperativ in der Sprache Kants, die Grundlage des
Glaubens.
Damit aber hat Kant zweitens (wie Luther) die mehrfach
hervorgehobenen rationalen Fundamente der mittelalterlich-
katholischen Problemlösung preisgegeben.
Der Kantische Dualismus zwischen theoretischer und
praktischer Vernunft hat den stärksten Einfluß auf die Ent-
wicklung unseres Problems innerhalb der protestantischen
128 Die katholische Lösung des Problems als Typus
Theologie des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage gewonnen.
Einige Beispiele mögen dies erläutern.
Schleiermacher (1768—1834) war es, der nach den
abermaligen rationalistischen Versuchen Hegels i, die philoso-
phische Spekulation in die Welt des religiösen Glaubens hinein-
zutragen, wiederum auf die Kantische Trennung beider Gebiete
zurückging. Die Religion, deren Wesen sich in einer Mannig-
faltigkeit „positiver Religionen" offenbart, wohnt nach ihm in
einer von dem Erkennen völlig verschiedenen geistigen „Provinz".
Sie bedeutet „Sinn und Geschmack für das Unendliche" und
besteht in einem absoluten Abhängigkeitsgefühl gegenüber dem
Unendlichen. Da Gefühle nicht wahr oder falsch sein können,
ist der Unterschied zwischen wahrer und falscher Religion
hinfällig. Er stammt aus einer intellektualistischen Fassung der
Religion. Wissen um die Religion und die Religion selbst
sind aber gänzlich verschiedene Dinge. Der religiöse Glaube
kann deshalb seinem Wesen nach nie mit dem Wissen in
Konflikt geraten. Erst wenn die evangelische Theologie die
völlige Verschiedenheit von Glaubenssätzen und Wissenssätzen
begriffen hat, wird sie, wie Schleiermacher in der Schrift über
den christlichen Glauben ausführt, einsehen, „daß zum Bei-
spiel eine so wunderliche Frage wie die, ob derselbe Satz in
der Philosophie wahr sein könne und in der christlichen Theo-
logie falsch und umgekehrt, deswegen nicht mehr vorkommt,
weil ein Satz, so wie er in der einen ist, in der anderen keinen
Platz finden kann, sondern, wie ähnlich er auch klinge, die
Verschiedenheit doch immer vorausgesetzt werden muß". Denn
die Glaubenslehre „hat es ebenso wenig mit dem objektiven
Bewußtsein unmittelbar zu tun als die reine Wissenschaft mit
dem subjektiven". Deshalb hält Schleiermacher es für verfehlt,
wenn man die Glaubenslehre „mit wissenschaftlichen Sätzen
* Vgl. H. Hadlich, Hegels Lehren über das Verhältnis von Religion
und Philosophie. (Abhandl. z. Philos. und ihrer Geschichte, herausg.
V. B. Erdmann, Bd. 24.)
Die katholische Lösung des Problems als Typus 129
durchschießt oder sie von der Grundlage der Wissenschaft
abhängig machen will". Beweise für das Dasein Gottes sind
nach ihm für die Glaubenslehre völlig überflüssig, ja überhaupt
gar nicht möglich; denn metaphysische Erkenntnis gibt es nicht,
wie Schleiermacher im Anschluß an Kants Erkenntnistheorie
zu zeigen sucht.
In den Bahnen Kants und Schleiermachers bewegt sich
auch ein so einflußreicher Theologe wie Albrecht Ritschi
(1822-1889)1. £i- bezeichnet Glauben und Wissen, religiöse
Weltanschauung und wissenschaftliche Welterkenntnis als zwei
„heterogene Erkenntnisarten", als „entgegengesetzte Geistes-
tätigkeiten" oder „verschiedene Geistesfunktionen". Auf der
Verwechslung dieser verschiedenen Erkenntnisarten beruht die
Feindschaft zwischen Philosophie und Theologie. Beide können
nur so lange in Frieden leben, als jede in ihrem eigenen Ge-
biete bleibt.
Das religiöse Erkennen besteht nun nach Ritschi „in
selbständigen Werturteilen", während das rein theoretische Er-
kennen ganz „uninteressiert" ist. Die Wahrheit des religiösen
Erkennens besteht demnach lediglich darin, daß wir den sitt-
lichen Wert der betreffenden religiösen Vorstellungen in uns
erfahren — oder „erleben", wie die in der Gegenwart beliebte
Wendung lautet. Wer an Gott glaubt, sagt z. B. Ritschis
Schüler, der Marburger Theologieprofessor Wilhelm Herr-
mann^, hat „in seinen Erlebnissen die Spuren einer geisti-
gen Macht gefunden, durch die er sich zu völliger Hingabe
in Ehrfurcht und Vertrauen gezwungen sieht". Nicht das
^ Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung,
dargestellt von Albrecht Ritschi, Bonn L A. 1874, 2. A. 1882/83. Auch:
Theologie und Metaphysik, Bonn 1887. Vgl. dazu E. Boutroux, Wissen-
schaft und Religion in der Philosophie unserer Zeit, Leipzig 1910.
^ Die Religion in ihrem Verhältnis zum Welterkennen und zur
Sittlichkeit, 1871. — Vgl. auch Werturteile und Glaubensurteile. Eine
Untersuchung von Prof. D. Max Reischle, Halle 1900.
130 Die katholische Lösung des Problems als Typus
„Welterkennen", sondern die Sittlichkeit führt zur Religion. Das
Sittengesetz aber ist in sich selbst fest verankert. „Es steht,
wie Kant sagt, obgleich es durch alle Anstrengungen der theo-
retischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft
nicht bewiesen werden kann, dennoch für sich selbst fest."
Mit Kant ist Herrmann der Ueberzeugung, daß wir nur durch
den im Sittengesetze liegenden praktischen Glauben die Gewii3-
heit einer übersinnlichen Welt gewinnen. Ein Konflikt zwischen
„Welterkennen" und religiösem Glauben ist deshalb im letzten
Grunde gar nicht möglich. „Daß die Auffassung der Welt für
den Menschen als erkennendes Subjekt eine völlig andere sei
wie für den Menschen als sittliche Person - , diese von Kant
errungene Erkenntnis vindiziert auf der einen Seite der exakten
Wissenschaft die Pflicht der Selbständigkeit, welcher sie sich
mit reichem Erfolge unterzogen hat. Auf der anderen Seite
wird durch diese Errungenschaft Kants die Theologie
in die Freiheit entlassen, nach der sie in der Reformations-
zeit hinausgeblickt hatte."
Endlich seien noch zwei Denker der letzten Zeit erwähnt,
bei denen wir dieselbe Betonung des religiösen „Erlebnisses"
oder, wie es auch oft heißt, „Bedürfnisses" antreffen. Zunächst
H. Spitta, der Verfasser eines viel beachteten Buches „Mein
Recht auf Leben". Darin finden sich subjektivistische Sätze
wie diese: „Die Religion, der ich angehöre, habe ich nicht,
weil sie die wahre ist, wie man doch meinen sollte, sondern
sie ist die wahre, weil ich sie habe, und ich habe sie, weil sie
und insofern sie meinem Bedürfnis entspricht; das und
nichts anderes ist der wahre Sachverhalt. Es hat hiermit die
gleiche Bewandtnis wie mit der Frage nach dem „wahren"
Gott, Gott ist stets und kann nur sein irgend jemandes Gott,
ihm hilft er, darum ist er sein Gott." „Der religiöse Mensch
hat seinen Gott, — dieser sein Gott ist dann hinterher Gott
schlechthin; es sind Erfahrungstatsachen des inneren
persönlichen Lebens, um die es sich überall handeh
Die katholische Lösung des Problems als Typus 131
der fremde Mensch mag sie für sich ebenfalls an-
nehmen oder ablehnen, je nachdem, zu ändern vermag er
sie nicht."
Die an Kant und Schleiermacher orientierte Lösung
unseres Problems hat in jüngster Zeit nicht zum wenigsten
durch die Werke Friedrich Paulsens weiteste Verbreitung
gefunden. Indem er eine scharfe Grenzscheide zwischen Wissen
und Glauben zieht, schreibt er in seiner (in 15 Auflagen er-
schienenen) Einleitung in die Philosophie: „Die kritische
Philosophie zeigt die gleiche Unmöglichkeit des positiven und
des negativen Dogmatismus. Eben damit begründet sie die
Möglichkeit des Glaubens, eines Glaubens, der ohne
theoretische Beweise im Geist als wollendem,
wirkendem, Werte schaffendem und empfindendem
Wesen gesetzt ist: ich könnte nicht leben und nicht wirken
in einer Welt, die nichts als eine ungeheure, sinn- und seelen-
lose Maschine wäre, darum kann ich nicht glauben, daß es so
mit ihr sich verhält, darum glaube ich, daß sie die Offen-
barung eines Allweisen und Allguten ist, auch wenn meine
Augen ihn nicht sehen und mein Verstand ihn nicht fassen
kann." Und an anderen Stellen: „Das Evangelium ist und
hat kein System der Kosmologie und Biologie, es ist die
Predigt vom Reiche Gottes, das im Gemüt und Leben der
Menschen wirklich werden will." „Darf ich das Wort
sprechen und meinen, wie ich es verstehen und fassen kann,
dann mag ich, unbeirrt durch den Spott der Verächter und
den Haß der Hüter des Buchstabenjoches, auch heute noch
mich zum Glauben an Gott, der sich in Jesu offen-
bart hat, bekennen. In Jesu Leben und Sterben ist mir der
Sinn des Lebens, ist mir der Sinn der Dinge überhaupt auf-
gegangen, das aber nenne ich Gott und Gottes Erscheinung, was
mir das Leben möglich macht und seine Bedeutung zeigt: so
kann der aufrichtigste und frommste Mann heute so gut
als zu irgendeiner Zeit sprechen."
132 Die katholische Lösung des Problems als Typus
Schon aus den bisher angeführten Beispielen erhellt zur
Genüge, wie prinzipiell verschieden der durch Luther und
Kant eingeleitete Lösungsversuch von dem mittelalterlich-
katholischen ist. Es schien und scheint der katholischen Kirche
noch heute der religiöse Glaube in einer bewiesenen Objek-
tivität verankert, während er bei den erwähnten nachkantischen
protestantischen Theologen letzten Endes in der Subjektivität
der inneren religiösen Erfahrung, des Erlebnisses oder Be-
dürfnisses wurzelt, die dann höchstens durch die Ueberein-
stimmung in vielen Menschen eine gewisse Allgemeinheit
erlangen und zu einer kirchlichen Gemeinschaft führen können.
Es fördert in dem gegenwärtigen lebhaften Kampfe um
das religiöse Problem außerordentlich die gegenseitige
Verständigung, wenn man bei den verschiedensten — „ortho-
doxen", „liberalen" wie „freien" — religiösen Richtungen
gleichsam Jagd macht auf diesen subjektiven Erlebnis-
Faktor.
Wer sich hinter seiner inneren religiösen Erfahrungs-
Gewißheit verschanzt, dem ist schließlich gar nicht beizukommen.
Höchstens kann man dem Bekenntnis des anderen das eigene
gegenüberstellen. (Solche offene Aussprache ist zudem ge-
eignet, neues und ursprüngliches religiöses Leben zu ent-
zünden.)
Auch ist zunächst gegen die subjektive Ehrlichkeit derer
nichts einzuwenden, die sich auf ein Erlebnis berufen, das
mit den Erfahrungen der ersten Christen übereinstimmt. So-
lange das Bekenntnis nichts als ein Ausdruck innerer Vorgänge
zu sein beansprucht, ist es relativ ungefährlich. Seine unge-
heure Gefahr beginnt erst dann, wenn das B e kenntnis in die
Sphäre der objektiven E r kenntnis störend eingreift, wenn es
den Blick für objektive sachliche Beweise zu trüben beginnt.
Um dieser erfahrungsgemäß nicht geringen Gefahr zu begegnen,
ist die strengste Orientierung an den in der Wissenschaft
geübten Methoden allgemein-gültigen Erkennens geboten.
Die katholische Lösung des Problems als Typus 133
Die zuletzt besprochene Erlebnis-Theorie findet in der
katholischen Lösung unseres Problems keinen Platz. ^ Ja sie
^st es gerade, die in der Encyclica Pascendi als „mo-
dernistische" Verirrung gekennzeichnet wird.
Es ist bewundernswert, mit welcher immanenten Logik die
katholische Kirche auf Grund dieser Voraussetzungen ihr
Dogmensystem entwickelt und es gegen „allzu kühne Neue-
rungen" schützt. Der „Modernismus" strebt nun gerade jene
Voraussetzungen direkt oder indirekt zu untergraben. Kein
Wunder, daß er als der „Inbegriff aller möglichen Häresien"
mit den schärfsten Mitteln bekämpft wird. „Modernistischen"
Strömungen Tür und Tor öffnen, würde für die katholische
Kirche eine ungeheure Inkonsequenz und allmähliche Selbst-
vergiftung bedeuten.
Man braucht kein Anhänger der katholischen Glaubens-
lehren zu sein, um die antimodernistischen Bestrebungen in
unseren Tagen — so seltsam dies auch vielen Ohren klingen
mag — freudig zu begrüßen. Jeder wird dies tun müssen,
der auch auf religiösem Gebiete konsequente Durchführung der
Grundsätze als eine dringende Forderung erhebt. Gerade
in den religiösen Gärungen der Gegenwart dient es offen-
sichtlich der Klärung, wenn jede Richtung möglichst unzwei-
deutig Farbe bekennt und ihre letzten Ziele zum offenen
Ausdruck bringt. „Liberale Verwaschungspolitik" ist hier am
wenigsten heute am Platze, da die Klage der inneren Un-
wahrhaftigkeit des religiösen Lebens in seinen überkommenen
Formen eindringlich an unser Ohr tönt. -
Wer immer aber gegen eine religiöse Weltanschauung
^ Vgl. auch V. Cathrein S. J., Glauben und Wissen, Freiburg 1903
und die dort angeführte Literatur katholischer Autoren.
* Als besonders beachtenswertes Sympton unserer Zeit darf in
dieser Hinsicht die von Ernst Horneffer herausgegebene Zeitschrift
»Die Tat" genannt werden. Vgl. darin (II. Jhrg., 11. Heft) den Auf-
satz »Jesus und Nietzsche über das Unbedingte« von J. M. Verweyen.
134 Die katholische Lösung des Problems als Typus
kämpft, tut gut, die Axt an die Wurzel zu legen, statt nur
den einen oder anderen Ast abzusägen, der aus ihr mit
innerer Notwendigkeit hervorwächst. Der „Anti-Modernismus"
ist gleichsam eine solche periphere Ast-Erscheinung im heutigen
Katholizismus und weist auf das Zentrum der katholischen
Lösung des Problems von Philosophie und Theologie, Glauben
und Wissen. In der Kritik dieser Problemlösung aber bohrt
am tiefsten, wer ihre Voraussetzung ir „übernatürlichen
Offenbarung und Kirche" mit ' ' .len und erkenntnis-
theoretischen Mitteln als unzulänglich nachweist.
Inhalt 135
ii Mts- Verzeichnis.
Vorwort. Seite
Eioleltung. - Mittelalterliche Weltanschauung im allgemeinen . 7
I. Die Patristik.
l: Justin 10
2. IrenäUc 11
3. Clemens v. A. . 12
4. Tertullian 13
5. Augustinus . 14
II. Die Scholastik.
1. Eriugena 18
2. Anseimus 23
3. Abaelard • 27
4. Albertus Magnus 32
5. Thomas v. Aquino 35
6. Duns Scotus . . . . • 51
7. Bonaventura 58
8. Roger Bacon 61
9. Raymundus LuUus 64
10. Wilhelm Occam 66
1 1 . Spätere Mystiker 68
12. Zusammenfassung 72
III. Tliomas Ton Aquinos kirchliclie Bestätigung.
1. Syllabus Pius IX 75
2. Encyclica Aeterni Patris 77
3. »Neuer Syllabus" (Decret Lamentabili) 80
4. Encyclica Pascendi gregis Dominici 82
5. Motu proprio vom 18. November 1907 86
6. Modernismus 88
136 Inhalt
IT. Der Eid wider den Modernisrnns.
1. Die Eidesformel Qc
2. Ihre Uebereinstimmung mit früheren Erlassen QF
3. Mausbachs Schrift IC
4. Das Prinzip der löblichen Unterwerfung . . .
T. Die katholische Lösung des Problems als Typ^;
1. Ursprung und Inhalt des Glaube»^'
2. Richtlinien einer Kritik ~'
3. Irrationalismus und Rationalismus 2'^
4. Luther und Kant . ... 12'
5. Schleiermacher und verwandte Theologen .... 2'1
6. Die Erlebnis-Theorie oi
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