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Full text of "Philosophisches Jahrbuch"

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Philosophisches  Jahrbuch. 


Jahrgang  1913. 


PMlosopMsches  Jahrbuch. 


Auf  Veranlassung  und  mit  Unterstützung 

der 
Görres-Gesellscliaft 

unter  Mitwirkung-  von 
Dr.  Jos.  Pohle,  Dr.  Chr.  Schreiber, 

o.  ö.  Prof.  an  der  Universität  ^"^^       Prof.  an  der  phiios.-theol.  Lehranstalt 


zu  Breslau 


zu  Fulda 


herausg-eg^eben  von 

Dr.   Const.  Gutberiet, 

Professoi  an  der  philos.-theologischen  Lehranstalt  in  Fulda. 


26.  Band. 


Fulda  1913. 

Druck  und  Kommissions  -  Verlag  der  Fuldaer  Actiendruckerei. 


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Inhalt  des  Philosophischen  Jahrbuches. 

26.  Jahrgang.    1913. 


I.  Abhandlungen.  Seite 

1.  Demuth,  M.,  Friedrich  Nietzscht^s  Erkenntnistheorie    .     .  451  —  485 

2.  Endres,  J.  A.,  Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik. 

Die  Dialektik  im  11.  Jahrh.  —  Anselm  der  Peripatetiker     .  85-93 

3.  — ,  Berengar  von  Tours lüO-169 

4.  — ,  Gerard  von   Czanäd ;     .     .     .  349-359 

5.  Ettlinger,  M.,  Der  Anpassungscbarakfer  der  spezifischen 
Sinnesenergien  im  Lichte  der  vergleichenden  Psychologie  44—67 

6.  F eulin g,  D.,  Zur  Psychologie  des  Zweifels 336-348 

7.  Gemelli,  A.,  Die  Realisierung 360-379 

8.  Grünholz,  E.,  Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken 

im  Anschluss  an  die  ['cilosophie  Wilhelm  Wundts    ...  305 — 327 

9.  Gut  beriet,  C,  Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie   .     .  328 — 335 

10.  — ,  Differenzielle  Psychologie 1 — 21 

11.  — ,  Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz  421  —  450 

12.  Kopp,  Gl,   Die   erste  kathohsche  Kritik  an  Kants  Grund- 
legung zur  Metaphysik  der  Sitten 170—177 

13.  Rolfe s,  E.,  Zu  dem  Gottesbew^eise  des  IjI.  Tnomas  aus  den 

Stufen  der  Vollkommenheit 146 — 159 

14.  Rüster,  H.,  Zum  philosophischen  Schaffen  G.  v.  Hertlings  495  —  502 

15.  Rutz,  0.,  Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft      ....  68—84 

16.  Schmitfranz,  P.,  Die  Gestalt  der  platoniscnen  Ideenlehre 

in  den  Dialogen  „Parmenides"  und  „Sophistes"    ....  125  —  145 

17.  Sladeczck,  Fr.  M.,  Kants  Lehre  vom  Bewusstsein      .     .  486—494 

18.  Switalski,  W.,  Vaibingers  „Philosophie  des  Als  Ob"      .  22-43 

II.  Rezensionen  und  Referate. 

1.  Annales  de  l'Institut  Superieur  de  Philosophie  de  l'Universite 

de  Louvain  (Tome  II)  (Chr.  Schreiber) 514 — 519 

2.  Baur,  L.,  Die  philosophischen  Werke  des  Robert  Grosseteste, 
Bischofs  von  Lincoln  (M.  Wittmann) 196-198 

3.  Baeumker,  Fr.,  Die  Lehre  Anselms  von  Canlerbury  über 

den  Willen  und  seine  Wahlfreiheit  (M.  Wittmann)  .     .     .  195  f. 

4.  Christiansen,  Br.,  Von  der  Seele.    L  Teil:  Von  der  Seele 

(C.  Gutberiet) 188—192 

5.  Donat,  J.,   Summa  Philosophiae  Christianae.     IV.  Cosmo- 
logia  (Chr.  Schreiber) 503 

6.  Dreiling,  R.,  Der  Konzeptualismus  m  der  Universalienlehre 

des  Franziskanererzbischofs  Petrus  Aureoli  (P.  Minges)    .  510 — 512 

7.  Emmel,  Wundts  Stellung  zum  relig.  Problem  (R.  Stolz le)  105 


VI 

Seite 

8.  Fidler,  Fr.,  Vom  Zuge  der  Menschheit,    I.  Teil.    Die  lo- 
gische   Konstruktion    des   Hauptproblems    der    Metaphysik 

(C.  Gutberiet)       182-186 

9.  Geijer,  R.,  Die  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeits- 
felde (C.  Gutberiet) 386—390 

10.  Gemelli,  A.,  Ernesto  Haeckel,  e  A.  Brass,  Le  falsificazioni 

di  Ernesto  Haeckel  (Chr.  Schreiber) 103 

11.  -,  Piccola  biblioteca  scientiüca  della  „Rivista  di  Filosofia 
Neo-Scolastica",  1.-3.  Heft  (Chr.  Schreiber)     ....     101  f. 

12.  Gossler,  W.  v..   Die   analytische   und  .synoptische  Begriffs- 
bildung bei  Sokrates,  Piaton  und  Aristoteles  (M.  Meier)    .     506 

13.  Grabmann,  M.,  Thomas  von  Aquin  (Reifes)    .     .     .     .     391  f. 
14    Gründer,  H.,  De  ({ualitatibus  sensibilibus  (P.  Bernhard)      179  f. 

15.  Heussner,  A.,  Die  philosophischen  Weltanschauungen  und 

ihre  Hauptvertreter,  2.  Aufl.  (R.  Stölzl e) 187  f. 

16.  Jäger,  W  ,  Studien  zur  Entstehungsgeschichte  der  Meta- 
physik des  Aristoteles  (G.  Wunderle)     107—110 

17.  Kaufmann,  H.,  Die  Unsterblichkeitsbeweise  in  der  kathol. 
Literatur  (R.  Stölzle) ,     .     106 

18.  Klimke,  Fr.,  Der  Monismus  und  seine  philosophischen 
Grundlagen  (J.  Pohle) 380-385 

19.  — ,  Monistische  Einheitsbestrebungen  und  katholische  Welt- 
anschauung (G.  Gut  beriet) 96  f. 

20.  Knauth,  A.,    Die   Naturphilosophie  Joh.  Reinkes    und    ihre 
Gegner  (R.  Stölzle) 188 

21.  Koch,  E.,  Was  ist  die  Ursache  der  Bewegung,  der  Kraft, 
des  Lebens?  Woraus  besteht  die  Welt?  Gibt  es  eine  ewige 
Wahrheit?  (C.  Gutberiet) 384—386 

22.  Krebs,   E. ,   Theologie  und  Wissenschaft  nach  der  Lehre 

der  Hoch-scholastik  (Geyer)       395—399 

23.  Külpe.  0.,  Erkenntnistheorie  und  Naturwissenschaft  (R. 
Stölzle) 181 

24.  Lehmen,  A.,  Theodicee,  3.  Aufl.  (Chr.  Schreiber)     .     .     104 

25.  Meier,  M.,  Die  Lehre  des  Thomas  vonA(|uino  De  passionibus 

animae  in  (juellenanalylischer  Darstellung  (G.  Wund  er  le)  508 — 510 

26.  Needon,  P».,  Die  Leetionum  praxis  des  Magisters  Johannes 
Theill  (1.  Beihelt)  iK.  A.  Leimbach) HO 

27.  Ostler,  H.,  Die  Realität  der  Aussenwelt  (W.  Switalski)  178  f. 

28.  Pesch,  H.,  Lehrbuch  der  Nationalökonomie  (C.  Gutberiet)  512  f. 

29.  Potempa,  V.,  Der  Phaidros  in  der  Entwicklung  der  Ethik 

und  der  Reformgedanken  Piatons  (Rolf es) 390 — 392 

30.  Reiner,  J.,  Philosophisches  Wörterbuch  (R.  Stölzle)       .  112 

31.  Richarz,  F,  M.  Deutinger  als  Erkenntnistheoreliker  (R. 
Stölzle) 105  f. 

32.  Rohner,  A.,  Das  Schöpfungsproblem  bei  Moses  Maimonides, 
Albertus  Magnus  und  Thomas  von  Aquin  (C.  Gutberiet)  507  f. 

33.  Sattel,  Begriff  und  Ursprung  der  Naturgesetze  (R.  Stölzle)     104  f. 
34.' Schneider,  A.,   Die  philosophischen  Grundlagen  der  mo- 
nistischen Weltanschauungen  (S.  Aicher")    .  .     .     187 


VII 

Seite 

35.  Schneider,  W.,  Der  neuere  Geisterglaube  (Chr.  Schreiber)     504  f. 

36.  Stauden niaier,  L.,  Die  Magie  als  experimentelle  Natur- 
wissenschaft (G.  Gutberiet) 97 — 101 

37.  Steinbüchel,  Th.,   Der  Zweekgedanke  in  der  Philosophie 

des  Thomas  von  Aquino  (N.  Kaufmann) 393—395 

38.  Thomin,  E.,  Weltordnung  und  Bittgebet  (J.  Koch)     .     .     399—401 

39.  Vaissiere,  de  la,  J.,  Elements  de  psychologie  experimentale 

(J.  Fröbes) 192—195 

40.  Verworn,  M. ,   Kausale  und  konditionale  Weltanschauung 

(R.  Stölzle) 94-96 

41.  Vogt,  P.,  Die  Gesichtswahrnehmung  nach  ihren  psycho- 
physischen  Bestandteilen  (P.  Bernhard)      .     .     .     .     .     .     180  f. 

42.  Willmann,  0.,  Aus  der  Werkstatt  der  philosophia  perennis 

(R.  Stölzle) 199  f. 

43.  Wun d er le,  Die  Naturphilosophie  R.  Euckens  (R.  Stölzle) 

44.  Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts 
I.  Jahrg.  Erstes  Beiheft :  Die  Lectionum  praxis  des  Magisters 
Johannes  Theill.  Zweites  Beiheft :  Historisch-pädagogischer 
Literatur-Bericht   über  das  Jahr  1910   (K.  A.  Leimbach)     110—113 

in.  Zeitsclii'iftenschau. 

1.  Annales  de  philosophie  chretienne       412 — 414 

2.  Archiv  für  die  gesamte  Psychologie     113—115,  20Ö— 206, 

402—405,  520—524 

3.  Archiv  für  systematische  Philosophie        211 — 215 

4.  Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie       .     .  527—529 

5.  Revue  philosophique 415 — 417 

6.  Revue  Neo-Scolastique       119  f. 

7.  Rivista  di  Filosofia 221  —  224,  414  f. 

8.  Rivista  di  Filosofia  Neo-Scolastica 215—221,  524  f. 

9.  Vierteljahrsschrift    für    wissenschaftliche    Philosophie     und 
Soziologie 525 — 527 

10.  Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik       117  f.,  410-412 

11.  Zeitschrift  für  Psychologie  ■     .     .     .     115—117,    206—211,405-410 

IV.   Novitätenschau  des  Jahres  1911. 

L  Allgemeines. 

A.  Lehrbücher  der  Philosophie 225—227 

B.  Philosophische  Zeitschriften 227—233 

C.  Sammelwerke     und     einzelne    Schriften     berühmter 
Philosophen 233—239 

D.  Philosophische  Schriften  vermischten  Inhalts    .     .     .     239 — 250 
II.  Logik  und  Erkenntnistheorie. 

A.  Lehrbücher 250  f. 

B.  Beiträge  zur  Logik  und  Erkenntnistheorie    ....     251 — 254 


S7 


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Seite 

III.  Psychologie. 

A.  Lehrbücher 254—25 

B.  Beiträge  zur  empirischen  Psychologie     ......  257 — 263 

C.  Beiträge  zur  rationellen  Psychologie       263  f. 

IV.  Naturphilosophie  und  Anthropologie    .     .     .     .  264—268 
V.  Theodicee 268  f. 

VI.  Allgemeine  Metaphysik  und  Ontologie      .     .     .  269 
VII.  Ethik,    Natur-   und  Völkerrecht;    Sozial-   und 

Rechtsphilosophie.  ; 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen   ....  269 — 271 

B.  Beiträge  zur  Ethik 271—274  , 

C.  Beiträge  zur  Gesellschaftslehre  und  zum  Völkerrecht  274 — 276  j 
Vlll.  Aesthetik  und  Theorie  der  schönen  Künste       .     .  276—278  j 

IX.  Religionswissenschaft. 

A.  Religionsphilosophie 278 — 281  | 

B.  Vergleichende  Religionsgeschichte ■•     .  281 — 283 

X.  Geschichte  der  Philosophie. 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen   ....  283 Jt. 

B.  Beiträge: 

a)  Zur  antik -heidnischen  Philosophie 284 — 286 

b)  Zur  mittelalterlichen  Philosophie 286  , 

c)  Zur  neueren  Philosophie 287  f. 

d)  Zur  neuesten  Philosophie 288 — 293 

V.  Miszellen  und  Nachrichten. 

1.  Die  Funktion  der  Zirbeldrüse 121  f. 

2.  Die  Kathoden-  und  Kanalstrahlen 530—534 

3.  Die  Wandlung  im  philosophischen  Denken  Gahleo  Galileis  534 — 537 

4.  Eine  Metaphysik  der  Entwicklung 296 — 298 

5.  Eine  neue  Energetik 123  f. 

6.  Eine    neue    philosophische    Zeitschrift    „für    positivistische 
Philosophie" 419  f. 

7.  Eine  neue  Theorie  der  Erlösung 119 — 121 

8.  Grundlagen  einer  organischen  Weltanschauung      ....  298  f. 

9.  Max  Stirner  redivivus 294—296 

10.  Neueres  über  den  Hautsinn 418  f. 

1 1 .  Ueber  die  Funktion  der  Punktaugen  der  Insekten      .     .     .  122  t. 

VI.  Philosophischer  Sprechsaal. 

1.  A.  Gemelli,    Eine    neue   Richtung    in    der   scholastischen 

Philosophie       .     .     .• 300—304 

2.  E.  Thiel,  Religion  und  religiöse  Lehre        538—548 

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I. 
Philosopt  JahrbucI]  der  Görr es  -  Gesellscliaft. 

26.  Band.    1.  Heft. 


DiÄerenzielie  Psychologie. 

Von  Prof.  Dr.  C.   Gutberiet  in  Fulda. 


Was  will  diese  neue  Wissenschaft? 

Die  differenzielle  oder  spezielle  Psychologie  ist  nicht  etwas 
ganz  Neues.  Die  „Charakterologie"  hat  schon  im  griechischen  Alter- 
tum ihre  Vertreter  gefunden  (die  Temperamentenlehre  des  Galen, 
die  Charaktere  von  Theophrast)  und  ist  seitdem  nicht  ganz  ausge- 
storben. Selbst  Kant  gibt  in  seiner  Anthropologie  eine  „anthropo- 
logische Charakteristik"  von  der  Person,  dem  Geschlecht,  dem  Volke, 
der  Gattung.  Den  Namen  Charakterologie  hat  zuerst  Bahnsen  im 
vorigen  Jahrhundert  angewandt,  in  neuester  Zeit  ist  die  ditTerenzielle 
Psychologie  unter  dieser  Benennung  von  den  Franzosen  gepflegt 
worden.  Von  ihnen  ist  das  Wort  „Charakterologie"  für  differenzielle 
Psychologie  geprägt  worden. 

Von  der  differenziellen  Psychologie,  wie  sie  nun  jetzt  betrieben 
wird,  unterscheidet  sich  die  alte  Charakterschilderung  durch  den 
wenig  methodischen  Betrieb.  Es  sind  zufälhge  Beobachtungen,  ver- 
bunden mit  philosophischen  Ideen,  welche  sie  zugrunde  legt,  während 
unsere  Wissenschaft  exakte  Empirie  verlangt,  die  Methoden  der  ex- 
perimentellen Psychologie  der  Forschung  akkommodiert.  Freilich  den 
Charakter  des  Menschen  festzustellen,  hat  auch  dieser  experimentelle 
Betrieb  noch  nicht  vermocht,  dazu  sind  die  erzielten  Resultate  noch 
ungenügend,  und  man  wird  die  alte  Charakterologie  überhaupt  nicht 
gut  entbehren  können.  So  werden  z.  B.  die  „Grossen  Männer"  von 
0  s  t  w  a  1  d  auch  den  experimentierenden  Psychologen  wichtige  Dienste 
leisten  können  bei  der  Bestimmung  der  Eigenart  hervorragender 
Geister. 

Mehr  noch  als  die  Charakterologie  ist  schon  früher  die  Psy- 
chognostik  betrieben  worden,  und  zwar  als  Physiognomik,  Phreno- 
logie und  Graphologie.  So  suchte  Lavater  aus'  den  Gesichtszügen, 
Gall  aus  der  Bildung  des  Schädels,  Abbe  Michon  aus  der  Schrift 
eines  Menschen  sein  seelisches  Wesen  zu  bestimmen. 

Die  Phrenologie  oder  Kranioskopie,  von  Gall  eine  Zeit  lang 
eifrig  belriebon,  später  aber  in  argen  Misskredit  geraten,  ist  neuer- 
dings wieder  von  Mob  ins  mehr  naturwissenschaftlich  rehabilitiert 
worden,  der  z.  B.  für  mathematische  Anlage  eine  Stelle  über  dem 
Auge  massgebend  sein  lässt. 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  1 


2  C.  Gutberiet. 

KrnsIliclitT  isl  die  Graphologie  in  neuester  Zeit  wieder  ge- 
pflegt worden.  Aber  hier  kann  man  leicht  die  Probe  auf  die 
Richtigkeit  der  Deutung  einer  Handschrift  machen,  wobei  sich  nur 
im  allgemeinen  eine  Uebereinstimmung  mit  dem  Charakter  ergibt. 

Graphologische  Untersuchungen  hat  der  bekannte  experimen- 
tierende Psycholog  A.  Binet  nach  der  statistischen  Methode  ange- 
stellt, welche  nicht  besonders  günstig  für  den  Wert  dieser  Schrift- 
kund'enkunst  ausgefallen  sind.  Nicht  einmal  in  bezug  auf  das  Ge- 
schlecht des  Schreibenden,  das  noch  am  ehesten  in  der  Handschrift 
sich  ausspricht,  konnten  so  sichere  Resultate,  wie  sie  ein  gericht- 
liches Guiachten  fordert,  erzielt  werden.  B.  benutzte  die  Adressen 
von  180  Briefkouverten,  zur  Hälfte  von  Männern,  zur  Hälfte  von 
Frauen  verschiedenen  Alters  und  Bildungsgrades,  die  er  zur  Beur= 
teilung,  d.  h.  zur  Bestimmung  des  Geschlechtes,  zwei  berühmten 
französischen  Graphologen  und  auch  mehreren  Laien  vorlegte.  Der 
berühmteste  Graphologe  Crepieux-Jamin  machte  79%,  der  andere 
75%,  die  Laien  73— 66"/'o  richtige  Bestimmungen. 

Binet  selbst  teilt  die  Menschen  nach  der  Erkennbarkeit  ihrer 
Handschrift  in  drei  Kategorien:  1.  Personen,  deren  Geschlecht  aus 
der  Schrift  deutlich  erkannt  wird;  2.  deren  Schrift  das  Geschlecht 
zvveifelhalt  lässt;  3.  deren  Schrift  das  verkehrte  Geschlecht  indiziert. 

Neuerdings  will  man  nicht  die  Schrift,  sondern  das  Schreiben 
als  Kennzeichen  des  Charakters  gelten  lassen.  Nicht  einmal  lässt 
sich  die  normale  von  der  pathologischen  Handschrift  sicher  unter- 
scheiden. Denn  ,.es  kommt  zweifellos  vor,  dass  sicher  kranke  Per- 
sonen in  ihrer  Schrift  nichts  von  ihrer  abnormen  Eigenart  bekunden". 
Aber  es  gibt  ein  grosses,  „für  die  Persönlichkeitsforschung  höchst 
interessantes  und  bedeutsames  Gebiet,  auf  dem  wir  durch  eine  fort- 
schreitende Vertiefung  unseres  Wissens  vom  Bewegungsablauf  und 
aller  ihn  beeinflussenden  Faktoren  vorwärts  zu  kommen  hoffen 
dürfen"  '). 

Die  differenzielle  Psychologie,  wie  sie  jetzt  betrieben  wird,  ist 
wesentlich  exakt  experimentell,  in  dem  Sinne,  dass  sie  eine  Ab- 
zweigung der  allgemeinen  experimentellen  Psychologie  darstellt.  Diese 
erforscht  die  allgemeinen  Gesetze  des  Seelenlebens,  jene  nimmt 
gerade  die  Variation  innerhalb  des  allgemeinen  zum  Gegenstand, 
und  zwar  iiandelt  sie  vom  Wesen  der  Variation  selbst,  von  ihrer 
Ausdehnung  und  ihren  Ursachen,  von  Arten  derselben,  den  Typen 
und  Stufen,  von  der  Korrelation  der  Variationen.  Sodann  geht  sie 
aber  auf  die  einzelnen  Varietäten  selbst  ein,  auf  die  verschiedenen 
Begabungen,  Tem[)eramente,  Stände,  Alter,  Geschlechter.  Li  diesem 
Sinne  ist  sie  „spezielle  Psychologie",  aber  eben  deshalb  ist  diese 
Benennung  zu  eng  für  die  ganze  Wissenschaft.  Darum  nennt  sie 
Stern  besser  differenzielle  Psychologie.  Auch  die  anderen 
vorgeschlagenen  Benennungen,   wie  Charakterologie,   Ethologie,  sind 

')  E.  H  i  r  l  in  Arch.  f.  d.  ges.  Psych.  23.  Bd.  S.  339  ff. 


Differenzielle  Psychologie.  B 

zu  enge,  und  „individuelle  oder  Individualpsychologie"  wäre  wohl 
geeignet,  ist  aber  schon  für  die  der  „Völker"-  und  „Sozialpsycho- 
logie" entgegengesetzte  Einzel-Psychologie  fixiert. 

An  spezialpsychologischen  Untersuchungen  mit  Hilfe  des  Experi- 
mentes haben  wir  keinen  Mangel.  Es  gibt  kaum  eine  Seelentätigkeit, 
kaum  eine  Eigenschaft,  kaum  einen  Stand  usw.,  die  nicht  experimentell 
erforscht  worden  Avären.  Wir  haben  eine  sehr  reiche  Psychologie 
des  Kindes,  des  Weibes,  des  Genies,  des  Verbrechers,  der  Hyste- 
rischen, des  Gedächtnisses,  des  Gefühles  und  der  einzelnen  Gefühle, 
selbst  der  Langeweile.  Aber  das  Verdienst,  eine  eigene  Wissenschaft 
der  differenziellen  Psychologie  in  Angriff  genommen  zu  haben,  ge- 
bührt dem  rühmlichst  bekannten  Experimentalpsychologen  W.  Stern. 
In  seiner  Schrift :  „Die  differenzielle  Psychologie  in  ihren  methodischen 
Grundlagen"  ^)  gibt  er  eine  systematische  Darstellung  von  der  Me- 
thodik und  den  Problemstellungen,  den  Variationen  und  Korrelationen " 
der  seehschen  Phänomene,  von  der  Individualität, 

An  der  Hand  dieses  Werkes  wollen  wir  einen  kurzen  Ueber- 
blick  über  diese  neue  Wissenschaft  geben;  nur  hier  und  da  fügen 
wir  eine  ergänzende  Bemerkung  hinzu,  zumal  wo  es  sich  um  neueste 
Feststellungen  handelt,  die  Stern  noch  nicht  bekannt  sein  konnten. 
Denn  jeder  Tag  bringt  Neues  auf  diesem  Gebiete. 

Mit  welchem  Eifer  die  differenzielle  Psychologie  betrieben  wird, 
zeigt  „die  gemeinschaftliche  Vorbereitung"  psychologischer  Unter- 
suchungen. Zwei  von  der  Gesellschaft  für  experimentelle  Psvcho- 
logie  ausgehende  Unternehmungen:  .,die  Methodensammlung""  von 
Sommer  und  das  ..Berliner  Institut  für  angewandte  Psychologie" 
sind  auf  dieses  Ziel  gerichtet.  Sommer  trägt  Methoden,  Apparate, 
Versuchsanordnungen  zusammen  und  stellt  sie  Interessenten  zur 
Verfügung. 

Auch  das  Berliner  Institut  bietet  die  Methoden,  insbesondere  Hilfs- 
mittel der  Sammelforschung:  Fragebogen,  Personalbücher,  Tests  usw., 
es  gibt  aber  auch  allgemeine  Anweisungen  für  ständig  wiederkehrende 
Untersuchungszwecke:  Anweisungen  für  Forschungsreisende,  für 
Kinderbeobachtung,  für  Psychographie  usw^ 

Zusammengehen  ist  auf  diesem  Gebiete  schon  darum  gefordert, 
weil  die  Probleme  sich  auf  Grenzgebieten  zu  andern  Fächern, 
z.  B.  zur  Pädagogik,  zur  Ethnologie,  zur  Psychiatrie,  Soziologie  usw. 
bewegen.  Fachmänner  dieser  Wissenschaften  müssen  also  zu  Rate 
gezogen  werden.  Ferner  kann  sich  der  differenzielle  Psychologe 
nicht  mit  einer  oder  der  anderen  Methode  begnügen,  er  muss  eine 
Kombination  mehrerer  vornehmen,  der  einzelne  kann  aber  nicht  alle 
beherrschen. 

Während  der  generelle  Psycholog  mit  einigen  Versuchspersonen, 
manchmal  mit  einer,  ja  mit  sich  selbst,  wie  Ebbinghaus  bei  der 
Gedächtni.sforschung,  sich  begnügen  katm,  muss  der  differenzielle  ein 

0  Leipzig  1911,  Barth. 


4  C.  Gutberiet. 

reiches  Material,  zahlreiche  Individualitäten  untersuchen;  diese  stehen 
aber  dem  einzelnen  nicht  zu  Gebote. 

Darum  niuss  der  Psychologe  die  Erhebungen  anstellen, 
die  am  einfachsten  durch  Fragebogen  bewerkstelhgt  werden.  Doch 
ist  die  Technik  der  Fragebogen  eine  recht  mühevolle.  Fehlerquellen 
sind  bei  diesen  Fernmethoden  viel  zahlreicher  gegeben,  als  bei  den 
Ichmethoden.  Bei  diesen  können  die  Fragen,  Instruktionen  so  genau 
gestellt,  wiederholt,  die  Antworten  geprüft  werden,  dass  Missverständ- 
nisse, schiefe  Auffassungen,  Mangel  an  Aufmerksamkeit  und  Geschick- 
Uchkeit  der  Prüflinge  leicht  erkannt  und  verbessert  werden  können. 
Bei  den  Fragebogen  schieben  sich  Mittelspersonen  ein,  die  das  Resultat 
sehr  zweifelhaft  machen  können,  da  eine  so  genaue  Fassung  der 
Fragen,  dass  sie  von  jedem  Individuum  leicht  und  sicher  beantwortet 
werden  könnten,  nicht  möglich,  auch  nicht  einmal  ratsam  ist.  Denn 
dann  merkt  der  Gefragte,  was  gesucht  wird,  und  das  wirkt,  wie 
bekannt,  sehr  stark  suggestiv  auf  die  Antwort  im  Sinne  der  Frage. 
Ist  aber  die  Frage  unbestimmt,  dann  wird  in  das  Ungewisse 
hineingeraten. 

Vielfach  schieben  sich  sogar  mehrere  Mittelspersonen,  eine  ganze 
Kette  von  Vermittlungen,  ein,  und  bei  jedem  neuen  Ringe  kann  die 
Uebertragung  fehlerhafter  werden.  Wenn  z.  B.  Schüler  befragt  werden 
sollen,  so  muss  das  durch  den  Lehrer  geschehen.  Dieser  wird  aber 
durch  den  Einfluss,  den  er  auf  die  Kinder  hat,  leicht  Antworten 
erzielen,  die  seiner  Anschauung  entsprechen. 

In  grossartigem  Massstabe  wurde  die  Erhebung  von  der  Society 
for  psychical  research  in  England  angestellt,  welche  über  telepathische 
Erscheinungen,  insbesondere  Anmeldungen  Sterbender,  Gewissheit  ver- 
schaffen sollte.  Ein  ungeheueres  Material  wurde  aufgebracht,  aber 
bis  auf  den  heutigen  Tag  stehen  sich  Gläubige  und  Ungläubige  über 
diesen  Punkt  gegenüber.  Ebenso  umfassend  sind  die  Erhebungen 
des  Amerikaners  Stanley  Hall  speziell  über  die  Kindespsychologie, 
die  in  dem  pädagogischen  Seminar  der  Clark  University  zentralisiert 
sind.  Angesehene  Pädagogen  machen  ihm  sogar  den  Vorwurf  des 
Sports  auf  diesem  Gebiete.  Dies  kann  aber  der  Brauchbarkeit  der 
Methode  selbst  keinen  Abbruch  tun. 

Ganz  im  Gegensatze  zu  der  bisherigen  experimentellen  Psycho- 
logie, welche  sich  eng  an  die  naturwissenschaftlichen  Methoden  an- 
Hchloss  und  geschichtliche  Daten  missachtete,  muss  die  diffe- 
renzielle  Psychologie  historischen  Personen  besondere  Aufmerksam- 
keit schenken.  Die  Individualitäten,  welche  „geschichtlich"  geworden 
sind,  stellen  meistens  markierte,  hervorragende  Persönlichkeiten  dar. 
flie  gerade  recht  eigentlich  Objekte  dieser  Wissenschaft  sind.  Ihre 
Biographien  versuchen  meist  alle  Seiten  ihres  Wesens  zur  Darstellung 
zu  bringen.  Das  historische  Material  steht  auch  so  reich  zu  Gebote, 
ist  ohne  eigene  Bemühungen  so  leicht  zu  beschaffen,  dass  es  bei 
der  Darstellung  der  Individualitäten  nicht  unbenutzt  gelassen  werden 
darf.     Die  Geschichte   zeigt   uns   auch    unmittelbar  den  Zusammen- 


Differenzielle  Päychologie.  5 

hang  psychischer  Erscheinungen  durch  den  Verlauf  der  Ereignisse; 
manche  Probleme  können  nur  geschichtlich  gelöst  werden,  wie  z.  B. 
das  Vererbungsproblem,  das  die  Kenntnis  einer  längeren  Reihe  von 
auf  einanderfolgenden  Generationen  einer  Familie  verlangt. 

hl  neuester  Zeit  hat  man  versucht,  die  experimentelle  Methode 
mit  der  historischen  zu  verbinden,  indem  man  mit  den  Werken 
geschichthcher  Personen  experimentierte,  insbesondere  Zeichner, 
Dichterund  Musiker  „studierte".  Man  untersucht,  indem  man  die  Ein- 
fühlung benutzt,  welchen  Eindruck  ihre  Produktionen  auf  mehrere 
Personen  machen,  welche  Stimmung  sie  hervorrufen,  welche  körper- 
lichen Veränderungen  sie  hervorrufen,  und  schliesst  dann  auf  die 
gleichen  Zustände  im  Verfasser.  Am  eingehendsten  hat  Ü.  Rutz 
diese  „Resonanzmethode"  behandelt  und  inbezug  auf  Musiker 
und  dann  auch  auf  die  Dichter  angewandt.  Er  fand,  dass  beim 
Singen  verschiedener  Stücke  auch  die  Körperhaltung  eine  verschiedene, 
für  jedvO  Färbung  des  Stückes  charakteristische  ist.  So  unterscheidet 
er  drei  T^^en  von  Kunstwerken,  mit  den  entsprechenden  körper- 
liehen Veränderungen:  einen  dunkel  weichen  Typus  (Mozart, 
Schubert^,  der  wagerechte  Vorwölbung  des  Unterleibs  verlangt,  den 
hell  weichen  (Beethoven,  Weber)  mit  Vorwölbung  des  Brustkastens, 
Zurückziehen  des  Unterleibes,  den  hellharten  (Wagner),  bei  welchem 
die  Rumpfmuskeln  nach  abwärts  geschoben  und  der  Körper  gestreckt 
wird.  Auch  die  Dichter  zeigen  diese  Typen,  Goethe  den  ersten, 
Schiller  den  zweiten,  Heine  den  dritten. 

Marie  Wagner  hat  gefunden,  dass  jeder  Künstler  einen  be- 
stimmten Bewegungskomplex  bei  der  Linienführuug  ausführe.  Will 
man  sie  genau  kopieren,  so  muss  man  diese  Bewegungen  genau 
nachmachen,  und  wenn  die  Kopie  genau  ist,  zeigt  der  Kopist,  welche 
Bewegungen  dem  Künstler  eigentümhch  sind.  Bei  Raphael  sei  die 
Handbewegimg  weitausladend  in  flachen  Kreisen ;  bei  Michel  Angelo 
kurz  in  sich  geschlossenen  Kreisen.  Diese  Methode  bedarf  noch  sehr 
der  Ausbildung. 

Eine  hervorragende  Rolle  in  der  experimentellen  Psychologie,  ins- 
besondere in  der  differenziellen,  spielt  der  Test.  Bei  seiner  ersten  An- 
wendung glaubte  man  in  einigen  Minuten  die  ganze  Individualität  eines 
Menschen  erforschen  zu  können.  Dieses  Prüfungsexperiment  ist  im 
Grunde  eine  Stichprobe:  aus  einer  P^igensehaft  sucht  man  die  andere 
zu  erschliessen.  Stern  definiert  den  Test:  Er  ist  „ein  solches  Ex- 
periment, das  bestimmt  ist,  in  einem  gegebenen  Fall  die  individuelle 
psychische  Beschaffenheit  einer  Persönlichkeit  oder  eine  einzelne 
persönliche  Eigenschaft  von  ihr  festzustellen.  Es  ist  also  weniger 
Forschungs-  als  Prüfungsexperiment,  es  hat  diagnostische  Bedeutung". 

Man  setzt  dabei  voraus,  dass  man  durch  das  Experiment  eine 
Eigenschaft,  etwa  die  hitelligenz,  aus  gewissen  Aeusserungen  erkennen 
könne,  sodann  auch,  dass  der  zu  Prüfende  einer  grösseren  Klasse 
von  Individuen  angehört,  der  man  ihn  einreihen  will,  um  ihm  darin 
seinen  Platz  anzuweisen. 


6  C.  Gutberiet. 

Die  Aulänge  dieses  Experimentes  waren  noch  sehr  unvollkommen; 
es  war  nur  eine  modifizierte  Anwendung  der  herkömmlichen  experi- 
mentellen Methoden ;  hatte  man  bisher  mit  einer  Methode  mehrmals 
untersucht,  so  wandte  der  Test  mehrere  Methoden  in  einem  ein- 
maligen Verfahren  an.  So  prüfte  Cattell  dynfimometiischen  Druck, 
Maximalgeschwindigkeit  einer  Armbewegung.  Minimaldistanz  zweier 
noch  unlerscheidbarer  Reize,  Schmerzschwelle  für  Druck,  Unter- 
schiedsschwelle für  Gewichte,  Zahl  der  nach  einmaligem  Hören  be- 
haltenen Buchstaben  usw.  Aber  dies  alles  gibt  kein  Gesamtbild  der 
geistigen  hidividualität,  auch  nicht  der  besonders  in  Betracht  kom- 
menden Inlelligenz.  Einen  Fortschritt  brachten  in  Frankreich  Binet 
und  Henri  durch  die  „Testserien",  und  in  Deutschland  die  Test- 
vorschläge von  Kraepelin,  die  freilich  auch  nicht  „die  persönlichen 
Grundeigenschaften  des  Individuums",  wie  er  versprochen,  boten, 
sondern  nur  die  Dynamik  der  geistigen  Leistungsfähigkeit,  insofern  sie 
durch  Uebung,  Ermüdung,  Ruhe,  Erholung,  Alkohol  usw.  beeinflusst 
wird  und  so  bestimmt  werden  kann.  Seitdem  ist  die  Intelligenz- 
prüfung Hauptaufgabe  der  Test  geworden.  Eine  solche  wird  durch 
praktische  Zwecke  nahe  gelegt.  Die  Nachweise  der  Befähigung 
durch  Prüfung,  die  ärztliche  Begutachtung  von  Schwachsinnigen, 
die  Einrichtung  des  Unterrichts  nach  der  Begabung  lässt  eine  schnelle 
und  genaue  Prüfung  sehr  wünschenswert  erscheinen. 

Am  meisten  hat  für  die  Ausbildung  der  Testprüfung  Binet 
geleistet,  er  hat  sie  zu  seiner  Lebensaufgabe  gemacht.  Früher  hat 
man  den  Symptomwert  einer  durch  Prüfung  ermittelten  Eigenschaft 
nicht  genug  berücksichtigt,  nämlich  ihren  Zusammenhang  mit  einer 
daraus  zu  erschliessenden  Eigenschaft,  noch  weniger  den  Gesamt- 
symptomwert, von  mehreren  solcher  Eigenschaften  für  die  Er- 
schliessung einer  unbekannten  Fähigkeit,  der  unvergleichlich  grösser 
sein^wird,  als  der  der  einzelnen  Komponenten.  Dies  tut  Binet  in 
seinen  Staffelserien. 

Stern  stellt  folgende  Leitsätze  für  die  Testforschung  auf: 
,,Der?^Test  ist  nur  eine,  nicht  die  Form  der  psychologischen 
Individualilätsforschung.  Vor  allem  macht  er  die  nicht-experimentelle 
Beobachtungsmethode  nicht  überflüssig;  er  ergänzt  sie  zwar,  wird 
aber  durch  sie  ergänzt,  ist  oft  auf  sie  zur  Sicherung  und  Erweiterung 
seiner  Befunde  geradezu  angewiesen  und  muss  für  viele  Fälle  hinter 
ihr  zurücktreten". 

„Die  reine  Testprüfung  ist  nur  als  ,psychographis(lies  Minimum' 
zu  bezeichnen,  sie  dient  als  Notbehelf,  wo  Zeitmangel  oder  andere 
Umstände  ergänzende  Methoden  nicht  zulassen,  und  sie  dient  als 
Vorarbeit,  um  aus  einer  grossen  Masse  diejenigen  Individuen  heraus- 
zufinden, die  dann  für  eine  genauere  psychographische  Untersuchung 
in  Betracht  kommen". 

Folgende  Anforderungen  stellt  er  an  einen  möglichst  voll- 
kommenen Test : 


Difl'erenzielle  Psychologie.  7 

„1.  Er  soll  einen  möglichst  hohen  Symptomwert  haben,  d.h. 
ein  mögüchst  eindeutiges  Kennzeichen  für  die  zu  untersuchende 
psychische  Beschaflenheit  des  Prüflings  bilden". 

,,2.  Er  soll  einen  moghchst  breiten  Symptomwert  haben,  d.  h. 
einen  recht  grossen  Bruchteil  der  zu  untersuchenden  Eigenschaft 
repräsentieren,  so  dass,  um  die  Eigenschaft  im  ganzen  zu  charakte- 
risieren, eine  Mindestzahl  von  Tests  nötig  ist". 

„3.  Er  soll  die  Einordnung  des  Geprüften  in  eine  feststehende 
Gruppierung  oder  Rangordnung  mit  Sicherheit  gestatten". 

„4.  Er  soll  eine  möghchst  leichte  Anwendbarkeit  besitzen, 
also  die  zu  grosse  Belästigung  der  Versuchspersonen,  die  Benutzung 
empfindlicher  und  schwer  transportabler  Apparate  und  ähnUches 
nach  Kräften  vermeiden". 

,,5.  Er  soll  eine  möglichst  weite  Anwendbarkeit  haben,  d.h. 
an  sehr  vielen  und  sehr  verschiedenartigen  Personen  und  Personen- 
gruppen unter  relativ  vergleichbaren  Bedingungen  anzustellen  sein". 

Die  Intelligenzprüfung  hat  am  meisten  Interesse  bei  den  Päda- 
gogen gefunden.  Der  hervorragendste  Vertreter  der  experimentellen 
Pädagogik,  E.  Meumann,  hat  darüber  eine  sehr  instruktive  Ab- 
handlung^) geliefert,  in  der  er  zunächst  die  verschiedenen  Zwecke 
darlegt,  derentwegen  diese  Prüfung  unternommen  wird,  wobei  die 
pädagogischen  die  Hauptrolle  spielen,  daneben  kommen  eigenthch 
nur  psychiatrische  in  Betracht,  die  den  Mangel  an  der  normalen 
Intelligenz  feststellen  wollen.  Nach  ihm  gibt  es  eigentlich  keinen 
andern  Weg,  die  Intelhgenz  eines  Menschen  festzustellen,  als  den 
Test;  denn  ausserdem  müsste  man  sämthche  intellektuelle  Prozesse 
durchprüfen,  was  in  der  Praxis  schwer  ausführbar  ist.  Er  unter- 
scheidet zwei  Arten  von  mental  tests: 

1.  Man'  entnimmt  die  Probe  (test)  einer  Methode  der  experi- 
mentellen Psychologie  und  modifiziert  die  Prüfung  sinnlicher  Tätig- 
keiten so,  dass  auch  die  höheren  geistigen  Funktionen  daran  be- 
teiligt erscheinen.  Am  bekanntesten  sind  die  Messungen  der  Raum- 
schwelle durch  Aufsetzen  von  Zirkelspitzen.  Je  weiter  die  Zirkel- 
spitzen geöffnet  werden  müssen,  um  noch  zwei  Punkte  wahrzunehmen, 
um  so  geringer  wird  die  liautempfindlichkeit.  Daraus  schloss  man 
dann  auch  auf  eine  geringere  geistige  Leistungsfähigkeit,  wie  sie  zum 
Beispiel  nach  Ermüdung  eintritt. 

2.  Man  kann  aber  auch  eine  komplexe  Geistestätigkeit  zugrunde 
legen,  z.  B.  eine  Schularbeit,  und  nach  deren  Güte  beurteilen,  wie 
weit  die  Fähigkeiten  des  Kindes  reichen. 

Beide  Arten  der  Tests  haben  ihre  Vorzüge  und  Nachteile;  sie 
beide  machen  aber  zwei  Voraussetzungen,  die  festgestellt  werden 
müssen :  „1.  dass  sich  bei  jeder  geistigen  Tätigkeit  mehr  oder  weniger 
alle  Seiten  des  Bewusstseins  betätigen ;  ist  dies  der  Fall,  so  können 
wir  in  der  Tat  aus  dem  Ausfall  jeder  psychischen  Leistung  auf  die 

>)  Zeitschr.  f,  experim.  Pädagogik  1910,  U.  Bd.  S.  68  ff. 


8  C.  Gutberiet. 

Entwicklung  und  Ausbildung  aller  psychischen  Funkiiunen  schliessen; 
2.  dass  sowohl  in  der  relativen  Ausbildung  (Vollkommenheit)  als  in 
der  relativen  Entwicklung  (während  des  Kindesalters)  der  einzelnen 
geistigen  Funktionen  bestimmte  Abhängigkeiten  (Korrelationen)  be- 
stehen, auf  Grund  deren  wir  aus  der  Ausbildung  der  einen  auf  die 
Ausbildung  (Entwicklung)  anderer  schliessen  können". 

Keine  von  diesen  beiden  Voraussetzungen  ist  aber  bis  jetzt 
experhnentell  bewiesen,  und  nach  Meumann  treffen  sie  sicher  nicht 
ganz  zu.  Soll  man  sie  deshalb  aufgeben?  Nein,  sondern  die  Test- 
methoden, weil  sie  am  leichtesten,  schnellsten  zur  Intelligenzprüfung 
führen,  sind  zu  verbessern.  Dazu  macht  Meumann  folgende  Vorschläge : 

,,1.  Man  untersucht  die  Intelligenz  niemals  nur  mit  einem  oder 
wenigen  Tests,  sondern  stets  mit  Testsreihen,  Serien  von  Intelligenz- 
prüfungen (wie  de  Sanctis,  Binet  und  Simon  Goddard),  die  so  zu- 
sammengestellt werden,  dass  man  sicher  sein  kann,  möglichst  alle 
Hauptfunktionen  der  Intelligenz  geprüft  zu  haben  (wenigstens  die 
Aufmerksamkeit,  das  Behalten  und  Wiedererkennen,  das  anschau- 
hche  Darstellen,  das  Arbeiten  mit  abstrakten  Wortbedeutungen  und 
das  Denken)-'. 

„2.  —  und  dies  scheint  besonders  wichtig  —  man  gibt  die  Absicht 
auf,  mit  einigen  oder  wenigen  Tests  die  allgemeine  InteUigenz  zu 
bestimmen  (da  bei  den  Testmethoden  wohl  immer  gewisse  Seiten 
der  Intelligenz  unbestimmt  bleiben),  vielmehr  sucht  man  an  Stelle 
der  allgemeinen  Intelligenz  die  höhere  Intelligenz  zu  bestimmen, 
oder  das,  was  die  höhere  Intelligenz  im  besondern  ausmacht'-. 

Dazu  bedarf  es  allerdings  einer  Einigung  darüber,  was  wir  unter 
höherer  Begabung  verstehen. 

Manche  verstehen  darunter  die  Kombinationsgabe;  andere  die 
Fähigkeit  zur  Synthese  zerstreuter  Vorstellungen.  Meumann  versteht 
darunter  ,,die  denkende  Verarbeitung  gegebener  Eindrücke  oder  Vor- 
stellungen, samt  den  verschiedenen  Eigenschaften  derselben,  wie  der 
Schnelligkeit,  Gründlichkeit,  Allseitigkeil,  Selbständigkeit  zu  denkender 
Verarbeitung  von  Vorstellungen  oder  Eindrücken",  welche  Begriffs- 
bestimmung übrigens  mit  den  vorigen  zusammenfällt. 

„Wir  müssten  dann  also,  statt  mit  den  Tests  die  gesamte  oder 
allgemeine  Intelligenz  bestimmen  zu  wollen,  diese  so  einrichten, 
dass  wir  neben  den  wichtigsten  Elemontarfunktionen  vor  allem  die 
Kombinationsgabe  oder  Fähigkeit  zu  denkender  Verarbeitung  von 
Eindrücken  und  Vorstellungen  prüfen  und  ihre  Ausbildung  bei  dem 
Individuum  messen". 

,,Dies  erreicht  man  am  besten  durch  alle  die  Methoden,  die  das 
Arbeiten  mit  abstrakten  Elementen,  mit  leitenden  oder  Zielvor- 
stellungen, mit  Lösung  gewohnter  und  leichter  und  inhaUsrrichei- 
Anknüpfung  neuer  Vorstellungs-  (oder  Wahrnehmungs-jKombinationen 
an  die  Zielvorstellung  prüfen". 

Auch  auf  diesem  so  eifrig  gepflegten  Gebiete  der  Intelligenz- 
prüfung   durch    die  Testmethode,    welche   nach   Meumanns   Ansicht 


I 


Differenzielle  Psychologie.  ^ 

wegen  ihrer  praktischen  Brauchbarkeit  unentbehrlich  ist,  bestätigt 
sich,  was  wir  von  der  experimentellen  Pädagogik  überhaupt,  nach 
Vorgang  Wundts,  mehrfach  ausgeführt  haben,  es  muss  darin  noch 
viel  gearbeitet  werden,  um  sichere  Grundlagen  für  eine  neue  Päda- 
gogik zu  gewinnen. 

Die  Variationen 

sind  das  eigentliche  Material-Objekt  der  differenziellen  Psychologie. 
Dieselben  sind  totale,  wenn  sie  das  ganze  Subjekt  umfassen, 
partiale,  wenn  sie  einzelne  Merkmale  des  Individuums  betreffen, 
unter  den  Merkmalen  haben  allerdings  manche  eine  zentrale  Be- 
deutung, indem  sie  den  eigentlichen  Charakter  des  Individuums  be- 
stimmen. Die  Voluntaristen  z.  B.  sehen  den  Willen  als  Grundeigen- 
schaft, die  Intellektualisten  den  Intellekt  als  solche  an. 

Es  gibt  aber  nicht  bloss  Variationen  zwischen  Mensch  und 
Mensch  (Intervariation),  sondern  auch  zwischen  Zuständen  desselben 
Individuums  (Intravariation) :  diese  kann  dazu  dienen,  die  erstere 
besser  zu  verstehen.  Kraepelin  z.  B.  benutzt  die  Ermüdung  dazu, 
um  die  psvchotischen  Zustände  zu  erklären. 

Die  aligemeinste  Variation  ist  Normal,  U  eher  normal.  Unter- 
normal,  die  auch  im  gewöhnlichen  Leben  schon  erkannt  und  be- 
nannt wird.  Aber  der  Begriff  des  Normalen,  von  dem  der  des 
üeber-  und  Unternormalen  abhängt,  wird  nicht  immer  richtig  defi- 
niert. Man  kann  wohl  sagen;  Normal  ist  der  Durchschnittsmensch, 
aber  genau  ist  diese  Begriffsbestimmung  nicht.  Denn  der  Durch- 
schnittswert stellt  nur  ein^n  Punkt  dar,  die  Normalität  hat  aber  eine 
grosse  Ausdehnung.  Wahr  ist  auch,  dass  gewöhnlieh  der  grössere 
Teil  normal  ist,  aber  die  Erfahrung  lehrt,  dass  ganze  Gesellschaften 
einer  geistigen  Epidemie  anheimfallen  können. 

Der  Begriff  ist  nicht  quantitativ,  sondern  qualitativ  zu  be- 
stimmen. Normal  ist  der  Mensch,  der  für  die  Aufgaben  des  mensch- 
hchen  Lebens  ausgerüstet  ist.  Diese  Ausrüstung  und  die  speziellen 
Aufgaben  sind  aber  so  mannigfaltig,  dass  sofort  die  Breite  der 
Normalität  verständlich  wird. 

Mit  dem  Begriffe  des  Normalen  ist  der  des  Unternormalen  und 
Uebernormalen  gegeben.  Merkwürdigerweise  können  sich  beide  Be- 
griffe begegnen;  häufig  wird  das  übernormale  Genie  als  pathologisch, 
unternormal  bezeichnet,  sein  Tun  widerspricht  allerdings  dem  gewöhn- 
lichen Leben,  es  ist  an  diesem  gemessen  ebenso  zweckwidrig  wie 
das  der  Narren.  Das  Genie  hat  aber  wirkhche  höhere  Aufgaben  zu 
erfüllen;  es  muss  den  Fortschritt  über  die  Norm  hinaus  fördern, 
daher  der  Widerspruch  mit  dem  Alltäglichen. 

Man  ist  sehr  geneigt,  die  Abnormität  eines-  Merkmals  aul  die 
ganze  Individualität  auszudehnen.     Dagegen  findet  Stern: 

„Wir  haben  durchaus  kein  Recht,  aus  der  etwa  festgestellten 
Abnormität  dieser  oder  jener  Einzeleigenschaft  ohne  weiteres  einen 
Schluss  auf  die  Abnormität  ihres  Trägers  als  Individuums  abzuleiten. 


10  C.  Gutberiet. 

—  Aber  es  ist  andeibciLs  iiidit  niöglicli,  die  festgeslellle  Abiiuniiitäl 
einer  Perriönlichkeil  auf  eine  einzelne  Eigenschaft  als  alleinigen  Ur- 
(juell  zurückzuführen".  Gerade  in  unserer  Zeit  hat  man  angefangen, 
mikroskopische  Untersuchungen  der  Abnormitäten  anzustellen,  wie 
der  Phobien,  der  sexuellen  Perversitäten,  der  Spaltung  der  Persön- 
lichkeiten usw.,  und  daraus  die  Persönlichkeit  zu  erklären  versucht. 
Am  schrollsten  geschieht  dies  von  den  Freudschen  „Psychoanalyti- 
kern", die  irgend  ein  Erlebnis  des  jugendlichen  Sexuallebens  „zu 
dem  alles  durchdringenden  Fäulnisstoff  der  Persönlichkeit"  machen. 

Eine  schon  etwas  speziellere  Einteilung  der  Individualitäten 
liefern  die  psychologischen  Typen.  Stern  gibt  davon  folgende, 
nicht  besonders  klare  Definition: 

„Ein  psychologischer  Typus  ist  eine  vorwaltende  Disposition 
psychischer  oder  psychophysischer  neutraler  Art,  die  einer  Gruppe 
in  vergleichbarer  Weise  zukommt,  ohne  dass  diese  Gruppe  eindeutig 
und  allseitig  gegen  andere  Gruppen  abgegrenzt  wäre". 

Am  meisten  der  Erklärung  bedarf  der  Ausdruck  ,,psychophysisch 
neutraler  Art".  Darunter  sind  Dispositionen  zu  verstehen,  die  nicht 
rein  psychisch  und  nicht  rein  physisch  zu  fassen  sind. 

Der  Typus  darf  nicht  mit  der  „Klasse",  etwa  der  Spezies  oder 
Gattung,  verwechselt  werden.  Die  Spezies  sind  gegen  einander  scharf 
abgegrenzt.  Das  müssen  auch  die  Deszendenztheoretiker  zugeben. 
Die  jetzt  bestehenden  Arten  sind  mit  verschwindenden  Ausnahmen 
gegen  einander  abgegrenzt.  Dagegen  sind  die  Grenzen  zwischen 
Typus  und  Typus  fliessend;  die  Zwischenformen  sind  nicht  Ab- 
normitäten, sondern  sind  eher  als  die  Regel  anzusehen.  Der  Typus 
ist  eben  eine  Idealform,  der  sich  die  einzelnen  Glieder  in  zahlreichen 
Nuancen  nähern  können.  Verfehlt  ist  darum  die  Temperament- 
einteilung  Kants,  die  eine  starre  sein  soll.  Auch  Hey  man  s  glaubt 
von  102  auf  ihr  Tejnperament  untersuchten  Individuen  jedes  in  ein 
bestimmtes  Fach  einweisen  zu  können. 

Ein  weiterer  Unterschied  zwischen  Typus  und  Klasse  bestellt 
darin,  dass  ersterer  Partialvariationen,  letztere  Totalvaria- 
tionen darstellt.  Nur  inbezug  auf  ein  oder  mehrere  Einzel- 
inerkmale  gehören  die  Glieder  eines  Typus  zusammen,  inbezug  auf 
andere  gehören  sie  einem  andern  Typus  an.  Die  Eigenschaften  einer 
Art  dagegen  kommen  allen  Individuen  zu,  und  sie  fehlen  bei  andern 
Arten.  Dagegen  kommt  es  kaum  vor,  dass  alle,  welche  z.  B.  dem 
visuellen  Typus  angehören,  auch  dem  auditiven  angehören,  und  dass 
die  dem  ersleren  nicht  angehörenden  nie  in  dem  zweiten  vorkommen. 
An  die  Stelle  der  einfachen  Totalkorrelation  der  Merkmale  zu  ein- 
ander treten  bei  den  Typen  sehr  viele  verschiedene  Grade  der 
Korrelation.  Nach  dem  Grade  der  Korrelation,  dem  Zusammen- 
sein mehrerer  Typen  in  einem  Individuum,  können  zwei  Haupt- 
formen unterschieden  werden. 


Differenzielle  Psychologie.  11 

Der  Komplextypus  und  der  Typenkomplex.'  Bei 
ersterem  ist  die  Verwandtschaft  zweier  Typen  so  stark,  dass  man 
von  der  Anwesenheit  einer  Eigenschaft  auf  die  andere  schliessen 
kann.  Haben  z\vei  Typen,  die  in  einem  Individuum  vereinigt  sind, 
kein  gemeinschaftliches  Merkmal,  so  besteht  bloss  ein  Typen- 
komplex. 

Der  Komplextypus  kann  bis  zum  Totaltypus  sich  steigern  und 
dann  nähert  er  sich  der  Spezies^).  Solche  Totaltypen  sind  der 
Negertvpus,  der  Famihentypus  der  Habsburger,  der  Typus  des  Ver- 
brechers, des  Weibes.  Populäre  Darstellungen  haben  es  immer  mit 
solchen  Totaltypen  zu  tun,  sie  repräsentieren  aber  eigentlich  nur 
ideale  Formen. 

Beim  Komplextypus  unterscheidet  Stern  noch  einen  homogenen, 
wenn  die  in  einem  Individuum  verbundenen  Typen  grosse  Aehnlich- 
keit  mit  einander  haben,  und  heterogene,  wo  dies  nicht  der  Fall 
ist.  Die  Aehnhchkeit  selbst  kann  wieder  eine  inhaltliche  oder  eine 
formale  sein.  Ein  homogener  v^ürde  z.  B.  der  Typus  des  Musikali- 
schen, bei  dem  alle  Einzelfunktionen  Beziehung  auf  musikahsche 
Eindrücke  haben,  sein;  dagegen  ist  der  Typus  des  Sanguinikers, 
wenn  man  ihn  durch  Lustcharakter  der  Gefühle  und  schnellen  ilachen 
Ablauf  der  Beaktionen  konstituiert  sein  lässt,  fast  heterogen. 

Von  jeher  hat  man  eine  Gliederung  der  Typen  zunächst  nach 
allgemeinen  Theorien  versucht.  So  unterschied  Galen  nach  den 
vier  Säften:  Blut,  Schleim,  gelbe  Galle,  schwarze  Galle,  deren 
Mischung  das  menschliche  Temperament  bestimmen :  Sanguiniker, 
bei  denen  das  Blut  vorherrscht,  Phlegmatiker  (Schleim),  Choleriker, 
Melancholiker.  Plato  unterschied  nach  den  drei  Seelenteilen:  Ver- 
nunftmenschen (Philosophen),  Mutmenschen  (Krieger),  Begierde- 
menschen  (Handwerker). 

Nach  der  neueren  Theorie  von  den  drei  Seelenvermögen  unter- 
scheidet man  Verstandes-,  Willens-,  Gefühlsmenschen.  Gall  unter- 
scheidet die  Menschen  nach  dem  Vorwiegen  der  Höcker  und  Wülste 
im  Schädel.  Dürr  unterscheidet  eine  Anzahl  von  Aufmerksamkeits- 
typen nach  der  Verschiedenheit  einiger  Begleiterscheinungen  der  Auf- 
merksamkeit wie  Ermüdbarkeit  und  andere  psychophysische  Prozesse. 

M  Stern  scheint  den  Unterschied  zwischen  Typus  und  Spezies  etwas  zu 
schroff  zu  bestimmen.  Auch  in  den  bestehenden  gegenwärtigen  Arten  ist  die 
Abgrenzung  gegen  einander  nicht  immer  so  leicht.  Es  geht  eine  Art  in  die 
andere  über,  und  es  ist  oft  schwierig,  einen  festen  Markstein  anzugeben,  hn 
l^aufe  der  Zeiten  sind  die  Grenzen  manchmal  verschoben  worden.  Es  ist  oft 
Sache  des  botanischen  Taktes,  die  Spezies  von  einer  Variation,  einer  Spielart 
zu  unterscheiden,  statt  der  blossen  Varietät  eine  neue  Art  zu  statuieren.  Auch 
das  andere  Merkmal  des  Typus,  dass  er  nach  einer  Richtung  mit  dem  einen, 
nach  der  anderen  mit  einem  dritten,  vierten  Uebereinstimmung  zeigt,  findet 
sich  bei  den  Arten.  A.W  ig  and  macht  besonders  diese  Kettenverwandt- 
schaft der  Arten  gegen  eine  Abstammung  geltend.  Es  kommt  bei  der  Ab- 
grenzung sehr  auf  die  Bedeutsamkeit  der  charakterisierenden  Merkmale 
an,  die  mathematisch  sich  nicht  bestimmen  lässt. 


12  C.  Gutberiet. 

Am  berühinlesteii  ist  die  Gliederung  der  TeinperauieiiLe  von 
Kant  geworden,  der  auch  Wundt  im  wesentlichen  beisUmml.  Die 
vier  bekannten  Temperamente  von  Galen  wurden  so  psycliologisch 
"begründet.  Indem  man  die  Gegensätze:  Schwach  und  stark  mit 
den  beiden  langsam  und  schnell  in  dem  psychischen  Prozesse  sich 
kreuzen  lässt,  erhält  man  den  Sanguiniker  mit  schwachem 
schnellem  Verlauf  des  psychischen  Prozesses,  den  Choleriker  mit 
schnellen  starken,  den  Phlegmatiker  mit  langsamen  schwachen,  den 
Melancholiker  mit  langsamen  starken  Alfekten.  Andere  nehmen 
drei  Gegensätze,  indem  sie  z.  B.  Lust  und  Unlust  oder  aktiv  und 
passiv  dazu  nehmen,  und  erhalten  16  Temperamente,  Meumann 
nimmt  noch  leichte,  schwere  Gefühlserregbarkeit  hinzu,  und  kommt 
mit  zweigliederigen  Komljinationen  zu  zwölf  Temperamenten:  Lust- 
Unlust  kombiniert  er  mit  jeder  andern  der  drei  Formen. 

Schon  die  Buntscheckigkeit  der  so  konstruierten  Typen, 
noch  mehr  die  Unmöglichkeit,  wirkliche  Vertreter  dafür  zu  finden, 
zeigt,  dass  die  Theorie  mehr  wissenschaftlich  begründet  werden  muss : 
,,Die  Typenlehre  ist  ein  Gegenstand  der  differenziellen  Psychologie 
und  umss  mit  deren  eigenen  Methoden  und  Gesichtspunkten  bear- 
beitet werden". 

Damit  hat  man  auch  bereits  angefangen,  aber  auch  hier  noch 
zu  schematisch  verfahren ;  die  so  gefundene  Einteilung  z.  B.  der  Vor- 
stellungstypen in  visuelle,  auditive,  motorische  ist  zu  grob, 
jedenfalls  verallgemeinert  die  Charakterisierung  der  einzelnen  Typen 
zu  sehr. 

Es  bedarf  einer  Verbindung  von  Methoden  und  zwar :  ,,Die  Fest^ 
Stellung  von  Typen  erfolgt  durch  inter-individuellen  Vergleich  intra- 
individueller Disposition3verhaItnis.se".  Natürlich  müssen  recht  viele 
Individuen  genau  untersucht  und  dann  exakt  mit  einander  verglichen 
werden. 

So  ergibt  sich  vor  allem  ein  subjektiver  und  ein  objektiver 
Typus.  Der  Unterschied  zeigt  sich  deutlich  beim  Reagieren,  bei 
Beantwortung  eines  Reizes  mit  einer  Bewegung.  Der  eine  „erwartet 
sein  eigenes  Losbrechen",  der  andere  , .erwartet  den  Eindruck", 
„für  jenen  ist  der  Reiz  die  Auslösung,  für  diesen  die  Ursache  der 
Bewegung". 

Auch  die  psycho  physische  Messung  der  Reiz-  und  Unter- 
sfhiedsschwelle  zeigt  diese  beiden  Typen.  Die  einen  konnten  den 
Eindruck  rein  und  unverfälscht  angeben,  die  andern  waren  in  ihrem 
Urteile  stark  von  Erwartung,  Stimmung  usw.  abhängig.  Messmer 
hat  beim  Erkennen  kurz  exponierter  Reize  konstatiert,  dass 
die  einen  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  auf  den  Reiz  richten,  andere 
Muktuiercn,  den  Reiz  mit  Erinnerungsbildern  verbindend. 

Pfeiffer  hat  bei  Schülerinnen  zwei  Typen  von  Interessen- 
richtung gefunden:  bei  dem  einen  gefallen  mehr  Gedichte,  Themata 
von  subjektiver  Färbung,  etwa  lyrische  Ergüsse,  hei  dem  andern 
jnehr  objektive  Darstellungen,  Erzählungen. 


Differenzielle  Psychologie.  13 

Korrelation. 

Von  grösster  Bedeutung  für  die  differenzielle  Forschung  ist  die 
Korrelation:  der  Zusammenhang  der  verschiedenen  Eigenschaften 
eines  Individuums  unter  einander.  Mit  ihrer  Feststellung  lässt  sich 
aus  einer  beobachteten  Disposition  auf  andere  und  möglicherweise 
auf  die  ganze  IndividuaUtät  schliessen. 

Die  Korrelation  ist  systematisch  zuerst  in  England  durch  Galton, 
in  Deutschland  durch  Spearmann  behandelt  worden,  Betz  hat  das 
Thema  mathematisch  behandelt. 

Wie  lässt  sich  aber  ein  solcher  Zusammenhang  von  Eigenschaften 
feststellen?  Stern  antwortet: 

„Zwei  Merkmale  stehen  dann  in  Korrelation,  wenn  bestimmte 
Varianten  des  einen  bestimmten  Varianten  des  andern  mit  einer  ge- 
wissen Wahrscheinhchkeit  zugeordnet  sind".  Die  Variation  braucht 
nicht  gerade  in  gleicher  Richtung  bei  beiden  zu  erfolgen,  sie  brauchen 
nicht  gleichmässig  mit  einander  zu  wachsen  oder  abzunehmen,  son- 
dern es  kann  auch  mit  dem  Wachstum  der  einen  der  Rückgang 
der  andern  vorhanden  sein.  In  beiden  Fällen  aber  hat  man  bloss 
Wahrscheinhchkeit,  nicht  Gewissheit,  wie  in  der  Naturwissenschaft, 
wo  man  sicher  aus  der  gleichzeitigen  Variation  zweier  Phänomene 
auf  ihren  Zusammenhang  schUesst,  entweder  auf  Abhängigkeit  von 
einem  äusseren  Faktor  oder  auf  gegenseitige  Einwirkung  oder 
auf  Einwirkung  eines  derselben  auf  das  andere.  Hier  kann  man 
nämlich  die  beiden  Glieder  isolieren,  andere  Einflüsse  ausschalten: 
psychische  Eigenschaften  sind  aber  so  innig  in  einem  Individuum 
verwachsen,  dass  man  nicht  sicher  entscheiden  kann,  ob  nicht 
andere,  dritte  Faktoren  ihren  Einfluss  geltend  machen.  Es  gibt 
daher  mannigfache  „Korrelationsgrade",  d.  h.  Grade  der  Wahrschein- 
lichkeit des  Zusammenhanges,  die  man  selbst  mathematisch  zu  be- 
stimmen unternommen  hat". 

Man  kann  die  Variationsabhängigkeit  in  zweifacher  Weise  er- 
forschen, entweder  an  einem  einzelnen  Individuum,  an  dem  man  die 
notwendigen  Merkmalsreihen  durch  häufige  Prüfungen  erzielt  (intra- 
individuell), oder  indem  man  zwei  Merkmale  an  sehr  vielen  Individuen 
studiert  (interindividuell). 

Man  hat  übrigens  Korrelationen  gefunden,  ohne  dass  man  Kor- 
relationen direkt  aufsuchte.  So  prüften  Krueger  und  Spear- 
mann die  so  disparaten  Funktionen  der  Tonhöhenunterscheidung, 
des  Kombinierens,  der  Tastschärfe,  des  Addierens  und  des  Auswendig- 
lernens usw.  und  glaubten  zwischen  solchen  Funktionen,  die  an- 
scheinend wenig  verwandt  sind,  Korrelation  nachweisen  zu  können, 
wie  zwischen  Addieren,  Tastschärfe  und  Tonunterscheidung. 

Mehr  haben  die  Amerikaner  sich  mit  den  Korrelationen  be- 
schäftigt. Nach  Bagley  zeigen  psychische  Tests  keine  Korrelation 
mit  Klassenrang.  Brown  fand  starke  Korrelation  des  Kombinierens 
mit    mechanischem    Gedächtnis    und    mit    der  Wirkung    e'mev   geo- 


14  G.  Gutberiet. 

metrischen  Täuschung.  Wissler  fand  bei  325  Knaben  keine  Kor- 
relation zwischen  optischem  und  akustischem  Silbenlernen,  Reaktions- 
zeilen und  abstrakte  Sätze  -  lernen.  Die  physischen  Tests  zeigen 
Korrelation  unter  einander,  nicht  mit  den  psychischen, 

Kine  reiche  Ausbeute  für  Korrelationserhebungen  bieten  Cha- 
rakteristiken, die  aus  pädagogischen  oder  psychographischen 
Motiven  verfasst  werden.  Insbesondere  könnten  die  Schulzeugnisse 
sehr  gute  Dienste  tun,  weil  hier  das  Material  fast  unerschöpflich  ist. 
Am  lleissigsten  ist  bis  jetzt  die  Korrelation  zwischen  Gedächtnis  und 
Versland  erforscht  worden.  Aber  es  ist  kaum  mehr  erkannt  worden, 
als  was  man  schon  von  vorneherein  erwarten  muss:  zwischen 
mechanischem  Gedächtnis  und  InteUigenz  besteht  wenig  Zusammen- 
hang, er  ist  aber  um  so  stärker,  als  die  Gedächtnisleistungen  durch 
das  Erfassen  des  Sinnes,  Verständnis  des  Zusammenhangs  usw. 
beeinflusst  werden. 

Von  vorneherein  scheint  der  Befund  von  Brown,  dass  bei  Addi- 
tionen zwischen  Geschwindigkeit  und  Genauigkeit  des  Arbeitens  starke 
Korrelation  be.-^tehe,  wenig  wahrscheinlich,  tatsächhch  fand  Ransch- 
burg  keine  Korrelation  zwischen  Tempo  und  Richtigkeit  des  Rechnens. 

Man  nimmt  gewöhnlich  an,  und  es  scheint  auch  sehr  natürlich, 
dass  wer  „leicht  lernt,  auch  leicht  vergisst" ;  Busemanns  Versuche 
sollen  dies  widerlegen. 

Oft  ist  die  Frage  erörtert  worden,  ob  es  ein  oder  mehrere 
Gedächtnisse  gebe,  ob  die  Gedächtnisse  für  Zahlen,  Namen,  Gesichter, 
Orte  von  einander  unabhängig  sind.  Allerdings  gibt  es  markante 
Fälle,  in  denen  ein  spezielles  Gedächtnis  stark  entwickelt  ist,  aber 
es  zeigt  sich  doch  meist  die  Leistungsfähigkeit  des  Gedächtnisses 
gleichmässig  für  alle  Gebiete.  Eingehende  Untersuchungen  haben 
Spearmann  und  Krueger  über  Auswendiglernen  von  Silben  und  von 
Zahlen  angestellt  und  Korrelation  gefunden ;  andere  Forscher  haben 
die  Korrelation  erweitert  und  gefunden,  dass  die  Uebung  auf  einem 
Gebiete  das  Gedächtnis  auch  auf  andern  vervollkommnet.  Brown 
fand  starke  Korrelation  zwischen  dem  Gedächtnis  für  frühere  geo- 
metrische Lehrsätze  mit  der  gesamten  geometrischen  Begabung,  aber 
geringe  zwischen  dieser  und  rechnerischen  Leistungen. 

Der  ständige  Zusammenhang  mehrerer  Eigenschaften  muss  einen 
inneren  Grund  haben:  Man  hat  ihn  in  einer  Grundeigenschafl, 
einem  Grundfaktor,  einem  Zentrallaktor  gesucht.  Heymans  gibt  die 
Temperamente  als  solche  Grundeigenschaft  an,  weil  mit  denselben 
(;ine  grössere  Zahl  von  Eigenschaften  regelmässig  gegeben  ist.  Mit 
dieser  Frage  haben  sich  besonders  Spearmann  und  Krueger  be- 
sehältigl.  Sie  formulieren  ihre  auf  nicht  sehr  viele  Experimente 
gestützte  Hypothes-e  über  den  „Zentralfaktor"  in  folgender  Weise: 
„Die  Leistungsfähigkeiten  irgend  einer  Person  in  zahlreichen  sehr 
verschiedenen  Richtungen  (Unterscheidung  von  Tonhöhen,  Addieren 
von  Zahlen,  Ausfüllen  von  lückenhaften  Texten,  Geschwindigkeit  des 
Schreibens,   Lesens   und  Zählens)   weisen   hohe  und  konstante  Kor- 


Öifferenzielle  Psychologie.  15 

relatioiieii  unter  einander  auf  .  .  .  Nach  den  numerischen  Verhält- 
nissen aller  dieser  Korrelationen  scheint  man  berechtigt  zu  sein,  sie 
als  Wirkungen  eines  gemeinsamen  Ze  n  tralfaktors  aufzufassen. 
Die  Erklärung  scheint  psycho-physiologisch  erfolgen  zu  müssen.  Die 
bisher  gesammelten  Erfahrungen  deuten  möglicherweise  darauf  hin, 
dass  das  eine  Nervensystem  allgemein  eine  gesteigerte  plastische 
Funktion  besitzt  gegenüber  dem  andern.  Diese  funktionelle  Tüchtig- 
keit wäre  die  Bedingung  für  die  Ausgestaltung  von  präziser  und 
konstanter  funktionierenden  Leistungskomplexen,  was  sich  denn  auch 
auf  den  verschiedensten  psycho-physiologischen  Gebieten  in  einer 
grösseren  Genauigkeit  und  zugleich  Geschwindigkeit  der  Leistung 
geltend  machen  würde"  *).  Doch  stellen  sie  diese  Erklärung  noch 
mit  aller  Reserve  hin. 

Dagegen  erklärt  Lucka  die  Erforschung  der  „Grundfunktion" 
als  die  eigenthche  Aufgabe  der  „Charakterologie"  d.  h.  differenziellen 
Psychologie.  Er  führt  aus  :  Zweifel  an  der  Verwendbarkeit  elementarer 
seelischer  Funktionen  zur  Charakterisierung  von  Individuen  werden 
besonders  geteilt  von  Binel,  Henri,  Ribo  t,  Paulhan,  Fouillee; 
sie  halten  nur  die  komplexeren  Erscheinungen  des  Seelenlebens  für 
kennzeichnend ;  die  elementaren  sind  ja  auch  bloss  Abstraktionen.  Auch 
die  deutschen  Psychologen  teilen  diese  Ansicht,  so  besonders  W.  Stern 
mit  seinen  „Typen".  Die  Zahl  der  „Kästchen",  in  welchen  darnach 
die  Individuen  untergebracht  werden  müssen,  schwankt  zwischen 
20  und  800.  Diese  atomistische  Empfmdungssynthetik  kann  nur 
ein  Signalement  geben.  ,,Aber  es  ist  das  Signalement  und  der 
Steckbrief  einer  Person,  keine  Charakteristik,  psychische  Anthropo- 
metrie,  Psycho metrie,  keine  Psychologie".  Die  Charaktero- 
logie „will  von  innen  heraus  feststellen,  was  einem  Menschen 
wesentlich  ist".  „Die  Frage  nach  einer  Grundfunk tion  im 
Seelischen,  die  als  Charakteristikum  par  excellence  das  ganze  Ver- 
halten des  Individuums  bestimmt,  muss  für  eine  Charakterologie 
in  den  Mittelpunkt  gestellt  werden".  Dieselbe  muss  alle  anderen 
Funktionen  durchdringen  und  beherrschen,  sodass  man  von  ihrer 
besonderen  Gestaltung  aus  von  Individuum  zu  Individuum  in  die 
tiefsten  Verzweigungen  des  Seelischen  eindringen  kann.  Kein  einziger 
der  üblichen  Tests  leistet  dies.  Als  charakterologische  Grundfunktion 
stellt  Lucka  das  seelische  Erlebnis  auf^). 

Sicherer  sind  die  Ergebnisse  der  Experimenie,  welche  die  Ab- 
hängigkeit eines  einzigen  Merkmals  von  seinen  Ursachen  festzu- 
stellen versuchen.  Insbesondere  ist  die  Frage,  ob  Erblichkeit 
oder  Milieu  für  gewisse  Eigenschaften  von  Einfluss  sind.  Sehr 
reichhaltig  sind  in  dieser  Beziehung  die  bisherigen  Untersuchungen 
von  Galt on  und  Pearson.  Sie  fanden,  dass  das  Milieu  nur  einen 
geringen  Einfluss  übt,  den  allergrössten  die  Vererbung. 

')  Zeitschr.  f.  Psychologie  44.  Bd.  S.  50  ff. 

'-)  Archiv  f.  d.  ges.  Psych.  1907  10.  Bd.  S.  211:  E.  Lucka,  Das  Problem 
einer  Charaklerologie. 


16  C.  Gutberiet. 

Heroii  fand  bei  4000  Schulkindern,  dass  die  häuslichen  Ver- 
hältnisse keine  Korrelation  mit  der  von  den  Lehrern  beurteilten 
Intelligenz  hatten.  Elder.son  und  Pearson  wollen  sogar  gefunden 
haben,  dass  der  Alkoholismus  durchaus  nicht  die  ihm  zugemessene 
Rolle  als  Ursache  psychischer  und  physischer  Minderwertigkeit  besitzt. 
Dagegen  wies  Galton  nach,  dass  hervorragende  Begabung  in  gewissen 
Familien  erblich  ist.  In  Familien,  deren  Angehörige  in  Oxford 
studiert  hatten,  fanden  Schuster  und  Eiderson  eine  starke  Korrelation 
zwischen  Vätern  und  Söhnen,  eine  etwas  schwächere  zwischen 
Brüdern. 

Heymans  und  Wiersma  haben  eine  grosse  Anzahl  von 
Eltern  und  Kindern  untersucht  und  daraus  auf  die  hohe  Bedeutung 
der  \^ererbung  geschlossen. 

,,Die  vorliegenden  Zahlen  weisen  überall  in  unzweideutiger 
Weise  auf  die  Erblichkeit  hin;  und  fast  überall  ist  diese  Hin- 
weisung eine  durchgängige  und  ausnahmslose".  „Nicht  so  ganz 
durchsichtig  sind  die  Verhältnisse  inbezug  auf  die  Richtung  der 
Erblichkeit.  Doch  ist  die  gleichgeschlechtliche  bedeutend  frequenter 
als  die  gekreuzt  geschlechtliche".  ,,Es  scheint  sowohl  die  rein  väter- 
liche und  die  rein  mütterliche  wie  die  gleichgeschlechtliche  Erblich- 
keit in  hohem  Grade  bevorzugt  zu  sein"  ^). 

Diese  Forscher  suchen  sogar  nach  ihren  Erfahrungen  rechnerisch 
„das  Mass  zu  bestimmen,  in  welchem  einerseits  die  Geschlechts- 
anlage, abgesehen  von  allen  direkten  väterlichen  und  mütterlichen 
Erblichkeitseinflüssen,  und  in  welchem  andererseits  eben  diese  väter- 
lichen und  mütterlichen  Erbhchkeitseinflüsse  die  Entstehung  be- 
stimmter Charaktereigenschaften  bedingen"-). 

Zu  diesem  Zwecke  mussten  sie  die  charakteristischen  Eigen- 
schaften des  Mannes  und  Weibes  auf  statistischem  Wege  feststellen. 
Es  ergab  sich,  ,,dass  schmerzHche  Ereignisse  bei  Frauen  länger 
als  bei  Männern  nachwirken,  und  dass  jene  mehr  in  ihren  S^'m- 
pathien  wechseln,  mehr  veränderungssüchtig,  dagegen  weniger  für 
neue  Auffassungen  zugänglich  sind,  als  diese".  Die  Resultate  „weisen 
fast  durchgängig  auf  eine  ausgesprochene  Inferiorität  in  den 
intellektuellen  Leistungen  des  weibhchen  Geschlechtes  hin". 
Doch  ist  zu  bemerken,  „dass  die  Frauen  in  praktischem  Sinn  und 
Geist  nicht  oder  kaum  hinter  den  Männern  zurückstehen,  und  in  der 
Kunst  des  Gespräches  sowie  in  manueller  Geschicklich- 
keit dieselben  weit  hinter  sich  lassen,  während  sie  auch  für  Musik 
und  Schauspielkunst  besser  als  die  Männer  beanlagt  zu  sein 
.scheinen".  Die  Frauen  sind  „reinlicher  und  ordentlicher,  geduldiger 
bei  Krankheiten  und  in  höherem  Masse  psychischen  Störungen  aus- 
gesetzt".    Die   Grundzüge   des   Unterschiedes   der  Geschlechter  sind 


')  Zeitschr.  f.  Fsycli.    von  Ebbingbaus  190G   42.  Rd.   S.  258  ff. :   „Beiträge 
zu  einer  speziellen  Psvcliol.  auf  Grund  einer  Massenuntersucliung". 
-')  A.  a.  0.  S.  821.' 


Differenzielle  Psychologie.  17 

„die  grössere  Aktivität  und  Emotionalität,  sowie  der  geringere  Egois- 
mus der  Frauen".  --  Bei  der  älteren  Generation  findet  sieh 
„ein  stärkeres  Nachwirken  früherer  \^orstellungen  und  Gefühle".  Als 
Gesamtbild  des  Unterschiedes  zwischen  der  älteren  und  jüngeren 
Generation  stellt  sich  heraus :  „Erstens  eine  deutlich  ausgesprochene 
Tendenz  zur  Herabsetzung  der  Aktivität  und  zum  sittlichen  Rück- 
schritt bei  beiden  Geschlechtern.  Und  zweitens,  jene  erstere  Tendenz 
teilweise  kompensierend,  ein  nicht  weniger  deutlich  ausgesprochener 
Aufschwung  des  weiblichen  Geschlechtes,  zunächst  vorwiegend  auf 
intellektuellem  Gebiete  mit  auffallender  Verstärkung  aller  abstrakten 
oder  supersozialen  Neigungen  bei  den  Frauen ;  und  sodann  die  merk- 
liche Steigerung  ihres  Selbstgefühls".  „Bei  den  Männern  zeigt  die 
jüngere  Generation  eher  eine  Abnahme  der  InteUigenz,  sie  sind  in 
den  abstrakten  wie  in  den  anderen  Tugenden  zurückgegangen  .  .  . 
jene  Frauen  haben  ein  Ideal,  diese  Männer  nicht"  ^). 

Gegen  diese  Untersuchungen  hatte  eine  Dame  den  Einwand  er- 
hoben, sie  seien  nur  von  Männern  angestellt,  welche  die  Frauen 
nicht  verständen.  Darum  wurden  nun  Fragebogen  an  Frauen  ge- 
sandt, und  aus  147  Antworten  ergab  sich: 

,, Unser  früheres  Ergebnis,  dass  die  Frauen  durchschnittlich 
aktiver,  mehr  emotionell  beanlagt  und  weniger  egoistisch  sind  als 
die  Männer,  ist  auch  das  Ergebnis  der  jetzigen  Untersuchung,  und 
unsere  damals  ausgesprochene  Vermutung,  dass  die  intellektuelle 
Insuffizienz  der  Frauen  hauptsächlich  auf  ihrer  Emotionalität  und 
ihrer  Neigung  zum  Konkreten  und  Anschaulichen  beruhen  dürfte, 
findet  in  den  jetzt  vorliegenden  Resultaten  eine  sehr  erfreuliche  Be- 
stätigung" ^). 

Das  Individualitätsproblem 
wird  von  der  differenziellen  Psychologie  unter  ganz  anderen  Ge- 
sichtspunkten behandelt  als  in  der  Metaphysik.  Diese  sucht  das 
Wesen  der  Individualität:  das,  was  das  Individuum  zum  Indi- 
viduum macht,  zu  erforschen,  jene  aber  will  die  Individualitäten 
kennen  lernen.  In  der  Auffassung  mancher  Philosophen  berühren 
sich  beide  Standpunkte,  wenn  sie  z.  B.  das  Gefühl  als  das  Wesen 
der  Individualität,  der  Persönlichkeit  bezeichnen.  Wer  nun  das  Ge- 
fühl als  Zentralfaktor  aller  Eigenschaften  ansieht,  gibt  im  Grunde 
eine  differenzielle  psychologische  Antwort  auf  die  Frage :  Was  macht 
das  Wesen  der  Individualität  aus? 

Es  ist  aber  eine  weitverbreitete  Meinung,  dass  das  Individuum, 
das  einzelne,  nicht  Gegenstand  der  Wissenschaft  sein  könne,  diese 
habe  nur  allgemeine  Gesetze  zu  erforschen  und  festzustellen,  weshalb 
sie  der  Geschichte,  die  mit  Personen  und  Ereignissen  sich  beschäftigt, 

')  Zeilschr.  f.  Psych,  von  Ebbinghaus  1907  45.  Bd.  S.  1  ff. :  G.  Heymans 
luiil  E.  Wiersma,  „Beiträge  zur  speziellen  Psvchologie  anf  Grund  einer  Massen- 
untersuchung". 

■')  A.  a.  0.  1908  46.  Bd.  S.  321, 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  ^ 


18  C.  Gutberiet. 

also  einzelnes  behandelt,  den  Charakter  einer  wahren  Wissen- 
schaft abspricht.  Aber  nach  Winde  Ib and  gibt  es  neben  nomo- 
thetischen Wissenschaften  auch  idiographische,  und  Rickert 
stellt  sogar  die  Geschichte,  deren  Objekt  das  System  von  Wert- 
systemen ist,  über  die  Wissenschaften  der  Gesetzessysteme.  Auch 
das  geringste  menschliche  Individuum  in  seiner  Selbstbestimmung 
hat  einen  höheren  Wert,  als  die  ganze  materielle  Welt  mit  ihren 
starren  allgemeinen  Gesetzen ;  menschhches  Leben,  obgleich  es  fast 
ganz  von  Zufälligkeiten  gebildet  wird,  muss  unser  Interesse,  und 
damit  unseren  Forschungstrieb  mehr  anregen,  als  das  blinde  Wirken 
der  Naturkräfte. 

Die  differenzielle  Psychologie  verfolgt  aber  neben  den  rein  theo- 
retischen auch  praktische  Zwecke  für  Pädagogik,  Rechtspflege  usw. 
Damit  ist  sie  direkt  auf  das  Individuelle  angewiesen.  Die  Wissen- 
schaft des  Arztes  darf  nicht  beim  Studium  allgemeiner  physiologischer 
Gesetze  stehen  bleiben,  er  muss  den  einzelnen  Kranken  zu  beurteilen 
wissen,  wobei  ihm  die  allgemeinen  Gesetze  wohl  behilflich  sein 
können,  aber  den  besten  Teil  muss  seine  Einzelkenntnis  leisten.  So 
muss  der  Pädagoge  nicht  bloss  Pädagogik  studieren,  sondern  auch 
seine  einzelnen  Schüler  kennen  lernen,  um  sie  sachgemäss  unter- 
richten und  besonders  um  sie  erziehen  zu  können. 

Neben  der  generalisierenden  Psychologie  muss  darum  auch  der 
individualisierenden  Psychographie  ein  Platz  eingeräumt  werden. 
Dieselbe  wurde  bisher  schon  ausgiebig  in  der  Biogra})hie  ge])flegl 
und  ebenso  in  der  künstlerischen  Darstellung  von  wirklichen  oder 
erfundenen  Charakteren.  Hier  tritt  aber  die  Einheil  der  Persön- 
hchkeit  in  den  Vordergrund,  während  die  Psychographie  im 
engeren  Sinne  mehr  die  Einzelheiten  der  Persönlichkeit  ins  Auge 
fasst.     Stern  definiert: 

„Unter  , Psychographie'  verstehen  wir  im  Gegen.satz  zur  Bio- 
graphie diejenige  Methode  der  Individualitätsforschung,  welche  nicht 
von  der  Einheit,  sondern  von  der  Mannigfaltigkeit  der  im  Indi- 
viduum vorhandenen  Merkmale  ausgeht  und  diese  ausschliesslich 
oder  vorwiegend  nach  psychologischen  Gesichtspunkten  ordnet".  Ein 
.,Ps  ychogramm"  ist  die  für  irgend  eine  bestimmte  Persönlichkeit  X 
durchgeführte  Anwendung  der  psychographischen  Methode. 

Die  Psychographie  um.fasst  ein  weit  ausgedehnteres  Gebiet,  als 
die  Biographie.  Diese  behandelt  bloss  hervorragende  Persönlich- 
keiten, jene  aber  alle,  selbst  minderwertige,  wie  Verbrecher,  Psycho- 
pathen usw. 

Die  Psychographie  steckt  sich  eine  dreifache  Aufgabe.  Erstens 
sucht  sie  die  Struktur  der  Individuahtät  zu  erforschen,  die  Art 
und  Weise,  wie  die  verschiedenen  Merkmale  sich  an-,  in-  und  über- 
einunderfügen.  Zweitens  will  die  Psychographie  dem  Biographen 
in  die  Hunde  arbeiten.  Sie  zeigt  ihm  Gesichtspunkte,  die  aus  dem 
geschichtlichen  Verlaufe  nicht  zu  tage  treten.  Drittens  kann  sie 
praktischen  Zwecken  dienen.    Sie  zeigt  dem  Lehrer,  Richter  ein 


Differenzielle  Psychologie.  19 

nicht  beobachtetes  Merkmal   durch    ein  anderes,    das    als  Symptom 
von  der  Psychographie  festgestellt  ist. 

Ein  „psychographisches  Schema"  ist  eine  Liste,  welche  die  Ge- 
sichtspunkte enthält,  nach  denen  ein  Psychogramm  anzufertigen  ist. 
Stern  verlangt  ein  „Generalschema",  das  er  definiert:  „Eine  nach 
übersichthchen  Einteilungsprinzipien  geordnete  Liste  aller  derjenigen 
Merkmale,  die  für  die  Erforschung  von  Individualitäten  möglicher- 
weise in  Betracht  kommen  können,  ohne  Rücksicht  auf  apriorisch 
angenommene  ,Wesentlichkeit'  und  auf  die  besonderen  Absicliten  der 
einzelnen  hidividuahtätsuntersuchungen".  Er  selbst  hat  ein  solches 
Schema  für  das  „Institut  für  angewandte  Psychologie"  ausgearbeitet, 
und  obgleich  es  noch  sehr  unvollständig,  war,  hat  es  der  Individual- 
forschung  doch  schon  sehr  gute  Dienste  geleistet.  Später  hat  er 
ein  detaillierteres  gegeben.  Von  Vorteil  freilich  ist  es  noch,  Teil- 
schemata zugrunde  zu  legen,  wie  das  bei  dem  Psychogramm  von 
dem  Dramatiker  Holfmann  Margis  mit  Erfolg  versucht  hat. 

Dieses  ist  das  vollständigste  Psychogramm,  das  überhaupt  bis 
jetzt  geliefert  worden  ist.  Alles,  was  von  und  über  Hoffmann  zu 
erreichen  war,  wurde  herangezogen:  seine  Werke,  Handschriften, 
Zeichnungen,  Briefe,  Tagebücher,  Musikalien,  Biographien  und  Urteile 
der  Zeitgenossen.  In  diesem  Vollbilde  erscheint  Hoflfmann  vielfach 
in  neuem  Lichte;  es  werden  bisher  übersehene  psychische  Eigen- 
schaften einbezogen;  es  zeigt  sich  deuthch  die  Struktur  der  Indi- 
vidualität :  das  Spiel  und  Gegenspiel  verschiedener  Elemente  und  die 
auffallende  Verträglichkeit  sehr  verschiedener  Begabungen,  von  musi- 
kalischen, literarischen  und  zeichnerischen,  auch  tritt  das  Verhältnis 
von  Naturell  und  Leistungen  deutlich  hervor. 

Gleichen  Bestrebungen  entstammen  die  Psychogrannne  franzö- 
sischer Psychologen,  welche  Zeitgenossen  zum  Gegenstande  haben, 
Toulouse  hat  Psychögramme  von  Zola  und  Poincare  entworfen, 
die  aber  noch  auf  einer  tiefen  Stufe  der  Forschung  stehen.  Das 
Verfahren  ist  ziemlich  mechanisch,  es  werden  die  damals  (am  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts)  gebräuchUchen  Tests  über  Seh-  und  Hör- 
schärfe, Farben-,  Formen-,  Zahlen-,  Wort-  und  Satzgedächtnis, 
Pieaktionszeiten  und  Assoziationen  in  Anwendung  gebracht;  dies  alles 
hat  aber  wenig  Beziehung  zur  genialen  x\nlage,  die  erforscht  werden 
sollte.  Ganz  anders  die  Psychögramme,  die  Binet  von  hervor- 
ragenden Dramatikern  und  von  dem  jungen  Maler  Tade  Styka 
entworfen  hat.  In  einer  feinsinnigen  und  eindringenden  Analyse  des 
Dramatikers  Hervieu  sucht  er  die  ,,creation  litteraire"  in  ihren 
Bedingungen,  Dispositionen  und  Aeusserungen  darzulegen. 

Am  umfangreichsten  sind  die  schon  erwähnten  Massenunter- 
suchungen der  holländischen  Psychologen  Heymanns  und  Wiersmas, 
welche  Psychögramme  durchschnittlicher  Menschen  auf  Grund  einer 
sehr  grossen  Zahl  von  Vollpsychogrammen  der  einzelnen  unter- 
suchten Personen  zu  gewinnen  suchen.  F's  liefen  bei  ihnen  2415 
ivädi  dem  von  ihnen  entworfenen  Schema  gewonnene  Psychögramme 


20  C.  Gutberiet. 

ein:  Eigen^cbafton  wiirrlon  in  den  Zählkarten  erfragt.  Die  Psycho- 
gramme  verfolgten  allgemeinere  Ziele,  z.  B.  Verhalten  der  beiden 
Geschlechter  in  psychischer  Beziehung,  Erblichkeit  psychischer 
Eigenschaften  ^)  Dafür  mussten  sie  aber  Psychogramme  der  einzelnen 
Individuen  haben. 

Verhältnismässig  leicht  sind  psychographische  Sprach- 
statistiken zu  gewinnen,  um  so  die  Eigenart  der  Sprache  eines 
Individuums  zu  charakterisieren.  Dabei  untersucht  man  den  Umfang 
und  die  Verteilung  des  Wortschatzes,  den  Prosarhythmus,  die  Sprach- 
melodie, den  Styl  usw.  So  hat  Lutoslawski  die  „Stylometrie" 
auf  die  Dialoge  Piatons  angewandt,  um  deren  chronologische  Reihen- 
folge zu  bestimmen:  aus  dem  Vorkommen  von  gleichen  Worten  in 
zwei  oder  mehreren  Dialogen  deren  Gleichzeitigkeit  gefolgert. 

Die  Streitfrage,  ob  Bacon  von  Verulam  der  grosse  Dramen- 
dichter „Shakespeare"  sei,  glaubt  Mendelthal  sprachstatistisch  ent- 
scheiden zu  können.  Er  zählte  in  den  Dramen  die  zwei-,  drei-  und 
mehrbuchstabigen  Worte,  stellt  deren  Häufigkeiten  durch  eine  Kurve 
dar,  die  bei  Bacon  einen  andern  Verlauf  zeigt  als  bei  Shakespeare. 

Exakter  sind  die  Teilpsychogramme,  die  auf  sprachlichem  Wege 
den  T)T)us  einer  Person,  ob  auditiv  oder  visuell,  darzutun  suchen. 
So  haben  Kurt  und  Maria  Groos  die  lyrischen  Gedichte  Schillers 
auf  Ausdrücke,  die  der  Farbenwelt  und  der  Tonwelt  entnommen 
sind,  untersucht.  Sie  fanden,  dass  akustische  Ausdrücke  bei  Schiller 
in  relativ  grosser  Häuligkeit  auftreten,  weshalb  sie  aber  bloss  als 
Hypothese  die  Zugehörigkeit  Schillers  zum  auditiven  Typus  annehmen. 

Was  R.  Wagner  anlangt,  so  fanden  Ilse  Netto  und  Marie  Groos 
im  Ring  der  Nibelungen :  ,,1.  Die  Phantasie  Wagners  arbeitet  im 
,Ring'  stark  mit  optischen  Phänomenen,  während  das  Gebiet  der 
Gehörserscheinungen  nur  eine  mittelstarke  Verwertung  findet.  2.  Im 
akustischen  Gebiete  ist  das  .Sprechen'  bei  Wagner  (und  Cornelius) 
viel  stärker,  die  Rubrik  der  ,nichtsinnlichen  Geräusche'  viel  schwächer 
als  in  den  bisher  untersuchten  Gedichten  Goethes  und  Schillers  ver- 
treten" 2). 

Aus  diesem  Befunde  ersieht  man,  w^ie  zweifelhaft  der  Schluss 
von  den  Sprachmitteln  auf  auditiven  oder  visuellen  Typus  ist. 
VVagner  gehört  doch  ganz  sicher  dem  auditiven  Typus  an,  und 
doch  hat  er  mehr  optische  als  akustische  Worte.  Es  ist  ja  auch 
bekannt,  dass  der  Mensch  in  seiner  Alltagssprache  sich  natürlicher 
ausdruckt,  als  in  seinen  literarischen  W^erken;  jene  könnte  besser 
als  Grundlage  für  die  Aufstellung  eines  Typus  dienen,  jedenfalls  darf 
sie  dabei  nicht  ausgeschlossen  sein. 

Die  Bevorzugung  von  ojitischen  oder  akustischen  Bildern  wechselt 
aucii  im  Laufe  der  Jahre,  der  Typus  aber  ist  angeboren.    So  linden 

')  Neueslens  haben  sie  auf  diesem  statistischen  Wege  gefunden,  da'^s  mil 
•»iner  jeden  neuen  Generation  eine  Verbesserung;  der  psychischen  Eigenschaften 
jinlrill:  Empfehlung  der  Ehe  (Zeilschr.  f.  Psvcli.  1912  S.  1  iL). 

■■)  Archiv  f.  d.  g.  Psycli.  1911  21.  Pd.  S.  401  ff. 


Differenzielle  Psychologie.  21 

K.  und  M.  Groos:  dass  Schiller  in  seiner  Jugend  doppelt  so  viel 
optische  Ausdrücke  hat  wie  Goethe.  Später  sinkt  die  „Optik"  merk- 
lich, während  sie  bei  Goethe  mit  zunehmenden  Jahren  zunimmt. 
Bei  beiden  steigt  mit  dem  Alter  das  Grün,  sinkt  das  Rot ;  bei  beiden 
mehren  sich  die  Ausdrücke  nach  dem  Hell  hin. 

Wir  besitzen  bereits  eine  Menge  kasuistischer  Psychogramme, 
oder  doch  Ansätze  dazu,  die  weniger  im  Interesse  der  Wissenschaft 
als  aus  speziellen  Bedürfnissen  angefertigt  werden,  und  es  sind  nichl 
ausgezeichnete  Persönlichkeiten,  ihre  Objekte,  sondern  Spezialitäten, 
wie  Verbrecher,  verschiedene  Arten  von  Irren,  von  mediumistischen 
Individuen,  von  ungewöhnlich  begabten  Menschen  usw.  Es  sind 
freilich  mehr  Biographien,  wie  sie  z.  B.  der  „Neue  Pitaval"  für  Ver- 
brecher liefert.  Flournoy  hat  sehr  eingehende  Schilderungen  des 
bekannten,  von  ihm  beobachteten  Mediums  geliefert,  Schrenck- 
Notzing  von  perversen  Geschlechtsmenschen.  Besonders  interessant 
sind  die  "Psychogramme,  die  Mindersinnige  selbst  von  ihrem  Seelen- 
leben geben,  wie  die  Selbstbiographie  von  der  taubblinden  Helen 
Keller,  und  die  von  Fachpsychologen  gelieferten  Darstellungen  der- 
selben ausserordentlichen  Persönlichkeit,  wie  von  Stern,  und  von  der 
ihr  sehr  verwandten  Laura  Bridgmann  von  Jerusalem. 

Am  auffallendsten  ist  die  Begabung  der  Rechenkünstler; 
diese  haben  denn  auch  in  hervorragender  Weise  die  Aufmerksamkeit 
der  Psychologen  auf  sich  gezogen :  von  ihnen  besitzen  wir  die  meisten 
Psychogramme.  Binet  hat  eine  Psychologie  der  berühmten  Rechen- 
künstler (zugleich  von  virtuosen  blinden  Schachspielern)  Inaudi 
und  Diamanti  geschrieben,  wobei  sich  recht  auffälhg  der  Unter- 
schied zwischen  auditivem  und  visuellem  Typus  ergab.  G.E.  Müller 
hat  eingehend  den  deutschen  Rechenkünstler  Rückle  analysiert  und 
eine  Theorie  vom  Vorstellungsleben  darauf  aufgebaut.  Eine  lange 
Liste  von  bekannt  gewordenen  Rechenkünstlern  gaben  Syripture 
und  Mitchell  und  leiten  daraus  ein  (Teil-)Psychogramm  solcher 
Wundermenschen  ab. 

Viel  häufiger  als  die  Wundermenschen  sind  die  Wunder- 
kinder, von  denen  viele  eben  nur  durch  Frühreife  sich  hervor- 
tun, nicht  durch  dauernde  ausserordentliche  Begabung.  Von  ihnen 
besitzen  wir  denn  auch  ziemhch  eingehende  Beschreibungen.  So 
von  dem  in  elf  Sprachen  dichtenden  Mädchen  EUsabeth  Kulmann 
(von  Thomson),  von  einem  ungarischen  siebenjährigen  Komponisten 
(von  Revecz)  usw. 

Auch  die  unternormalen  Kinder  haben  vielfache  Beachtung  ge- 
funden, aber  am  fleissigsten  sind  bis  jetzt  die  gewöhnUchen  normalen 
Kinder  systematisch  beobachtet  und  beschrieben  worden.  Es  existiert 
bereits  eine  reichhaltige  Literatur  über  die  Psychologie  des 
Kindes,  zu  der  in  hervorragender  Weise  gerade  Stern  beigesteuert  hal. 
Wir  haben  über  dieselbe  jeweilig  im  ,Phil.  Jahrb.'  eingehend  referiert. 


\'ailiiiigers  „Philosophie  des  Als  Oh". 

Von  Universitäts-Professor  Dr.  W.  Switalski  in  Braunsberg  (Ostpr.). 


Die  Philosopliie  der  Gegenwart  ist  in  zwei  Lager  gespalten:  Auf  der 
einen  Seite  gewinnt  die  Ueberzeugung,  dass  ein  fruchtbares  Philosophieren 
ohne  Anerkennung  letzter,  unverrrückbar  fester,  apriorischer  Elemente  un- 
möglich ist,  vor  allem  seit  den  epochemachenden  Untersuchungen  Husserls 
immer  zahlreichere  Vertreter;  anderseits  sind  aber  die  Anhänger  der 
positivistischen  und  psychologislischen  Pachtung  noch  keineswegs  gewillt, 
vor  der  „reinen  Logik"  das  Feld  zu  räumen;  der  anglo-amerikanische 
Pragmatismus  schien  ja  der  empiristischen  Denkweise  neue  brauchbare 
Waffen  zu  Hefern.  Eine  eigentümliche  Sonderstellung  nimmt  der  Neu- 
kantianismus der  Marburger  Schule  ein.  Energisch  betont  er  die  Not- 
wendigkeit apriorischer,  konstruktiver  Prinzipien,  aber,  indem  er  ihre  Fest- 
stellung von  dem  steten  Flusse  des  Bewusstseinslebens  abhängig  macht, 
nähert  er  sich  doch  dem  Relativismus  der  Erfahrungsphilosophie. 

l 
Von  neuem  entbrennt  nun  der  Streit  zwischen  den  beiden  Lagern 
durch  das  gross  angelegte  Werk  de.s  bekannten  Kantinterpreten  Vaihinger, 
das  als  stolze  Devise  auf  dem  Titelblatt  das  Urteil  F.  A.  Langes  über  die  in 
ihm  enthaltenen  Untersuchungen  zeigt:  „Ich  bin  überzeugt,  dass  der  hier 
hervorgehobene  Punkt  einmal  ein  Eckstein  der  philosophischen  Erkenntnis- 
theorie werden  wird".  Von  Anhängern  des  Psychologismus  auf  das 
freudigste  begrüsst  (vgl.  z.  B.  W.  Jerusalem  in  „Zukunft"  25.  Mai  1912, 
Julius  Schultz  in  „Kantstudien"  XVII  Heft  1  und  2  S.  85  ff.)  findet 
es  auf  der  Gegenseite  eine  ebenso  entschiedene,  zum  Teil  ironische  Ab- 
lehnung (Ferd.  Jakob  Schmidt  in  „Preuss.  Jahrb."  Dezember  1911,  April 
1912),  während  objektivere  Beurteiler  eine  zum  mindesten  reservierte  Haltung 
unter  Hervorhebung  gewichtiger  kritischer  Bedenken  einnehmen  (Kurt 
Sternberg  in  „Kant.studien"  XVI  Heft  2  und  3  S.  328-338;  vgl.  auch 
die  sachliche,  im  wesentlichen  ablehnende  Stellungnahme  i\l.  Ettlingers 
im  „Hochland"  November  1911  S.  243  f.). 

')  Die  Philosophie  des  Als  Üb ;  System  der  theoretischen,  praktischen  und 
religiösen  Fiktionen  der  Menschheit  auf  Grund  eines  idealistischen  Positivismus- 
Mit  einem  Anhang  über  Kant  und  Nietzsche.  Herausgegeben  von  H.  Vaihinger. 
Berlin  1911,  Reuther  &  Reichard.    gr.  8«.    XXXV  und  804  S.  geh.  16^.,  geb.  18  J^. 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  23 

Das  Werk  hat  eine  eigentümhche  Geschichte:  Der  erste  und  zweite 
Teil  ist  in  den  Jahren  1876—78  im  Manuskript  fertiggestellt,  und  auch  der 
dritte,  historische  Teil  basiert  (mit  Ausnahme  zweier  kleinerer  Abschnitte, 
die  Kant  und  Nietzsche  betreffen)  der  Sache  nach  vollständig  auf  Kollekta- 
neen,  die  aus  den  Jahren  1875—78  stammen  (V).  So  erklärt  es  sich, 
dass  der  Verfasser  dieses  Werkes,  als  er  nach  mehr  als  dreissig  Jahren 
(im  Jahre  1911)  seine  Veröffentlichung  unternahm,  sich  nur  als  „Heraus- 
geber" bezeichnen  wollte.  Der  inzwischen  ergraute  Autor,  der  an  dem 
Werke  seiner  Jugend  im  wesenthchen  nur  redaktionelle  Aenderungen  vor- 
nahm, will  damit  andeuten,  dass  es  einer  entschwundenen  Periode  seiner 
Geistesentwicklung  entstammt,  so  sehr  er  auch  in  den  Grundzügen  durchaus 
mit  den  im  Werke  gemachten  Aufstellungen  auch  jetzt  noch  sich  einver- 
standen erklärt,  denn  „ein  philosophisches  Werk,  das  nach  dreissig  Jahren 
veraltet  ist,  ist  überhaupt  nicht  philosophisch  im  prägnanten  Sinne  des 
Wortes"  (VI). 

Den  Anlass  zur  Herausgabe  des  Werkes  gab  die  Beobachtung,  dass 
seit  den  achtziger  Jahren  immer  entschiedener  Strömungen  in  der  philo- 
sophischen Denkbewegung  sich  geltend  machten,  die  den  in  ihm  behandelten 
Problemen  und  ihrer  Lösung  in  mehr  als  einer  Hinsicht  verwandt  sind. 
Der  Verfasser  nennt  selbst  diese  Strömungen  (IX  f.) :  es  ist  zunächst  der 
Voluntarismus,  wie  wir  ihn  einerseits  bei  Paulsen  und  Wundt  und 
andererseits  in  engerem  Anschluss  an  Fichte  hei  Eucken  bzw.  bei  Windel- 
band und  Rickert  vorfinden.  An  zweiter  Stelle  führt  er  die  biologische 
Erkenntnistheorie  eines  Mach  und  Avenarius  an.  Hierzu  kommt  die  Philo- 
sophie von  Friedrich  Nietzsche  und  die  neueste  Moderichtung,  der 
Pragmatismus.  Das  sind  die  vier  wichtigen  Momente,  welche  heute 
—  nach  der  Auffassung  des  Autors  —  das  Verständnis  seines  Werkes  er- 
leichtern, „ja  seine  Einführung  überhaupt  wohl  erst  ermöglichen,  Momente, 
die  damals  im  Jahre  1877  noch  völlig  fehlten"  (IX). 

Das  Problem,  das  den  Verfasser  beschäftigt,  formuliert  er  selbst  kurz 
und  prägnant :  „Wie  kommt  es,  dass  wir  mit  bewusst  falschen  Vorstellungen 
doch  Richtiges  erreichen?"  (VII).  Den  Anstoss  zu  der  Beschäftigung  mit 
diesem  logischen  Problem  gab  ursprünglich  „eine  mehr  stilistische 
Beobachtung".  „Philologische  Studien",  so  äussert  sich  der  Verfasser 
in  der  ursprünglichen,  im  Werke  nicht  mit  abgedruckten  Vorrede  (vgl. 
Kantstudien  XVI  Heft  1  S.  109),  „hatten  mich  auf  die  Notwendigkeit  ge- 
führt, dem  logischen  Werte  der  Partikeln  besonders  nachzuforschen ; 
und  unter  den  Partikeln  reizten  insbesondere  die  zusammengesetzten 
die  Aufmerksamkeit,  vornehmlich  die  Partikel  Verbindung  -»als  ob«  oder 
>wie  weun«  war  mir  bei  der  Lektüre  häufig  aufgestossen".  „Bei  dem 
eingehenden  Studium  der  Mathematik,  der  Mechanik  und  der  Philosophie 
und  insbesondere  derjenigen  Kants  fand  ich  jene  Partikelverbindung  häufig 
angewendet".    Die  Fiktion  als  methodologisches  Prinzip  tritt  auf  diese  Weise 


24  W.  Switalski. 

dem  Verfasser  entgegen  und  regt  ihn  zu  weiterem  Nachdenken  an,  l^ic 
„logische  Theorie  der  Fiktionen",  die  hieraus  im  Geiste  des  Verfassers 
entstand,  verdankt  nach  seiner  eigenen  Angabe  mannigfache  Anregung  und 
Bestätigung  den  Ausführungen  Langes  in  seiner  „Geschichte  des  Materialis- 
nms'-  (a.  a.  0.)  und  Lotzes  geistvollen  Bemerkungen  über  das  Verhältnis 
von  Fiktion  und  Hypothese  (vgl.  VIII).  Seine  Untersuchung  nennt  er  in 
seinem  ersten  Vorwort  direkt  einen  „Versuch,  die  Forschungen  in  der 
Psychologie,  insbesondere  Steinthals  psychologische  Gesichtspunkte  mit 
den  logischen  Untersuchungen  eines  Lotze  und  Sigwart  zu  verschmelzen 
und     besonders    auf    die     erkenntnistheoretischen     Fragen     anzuwenden" 

(a.  a.  0.  112). 

Wie   aktuell    die   Darlegungen  Vaihingers   sind,    ersehen  wir    aus   der 
von  ihm  selbst  gegebenen  Uebersicht  über  parallele  Erscheinungen  in  der 
modernen  philosophischen  Literatur  (XI  ff.):    Namen  von  gutem  Klang,  so 
z.  B.  Laas,    Dilthey,  Wundt,  Meinong,    H.  Maier,  Cornehus,  Baldwin  u.  a., 
treten   uns   hier   entgegen.     Auf  dem  Gebiet   der  naturwissenschaft- 
lichen Erkenntniskritik   (Lipps,   P.  Volkmann,    Poincare,  Enriquez  a.  a.), 
der  Mathematik  (Couturat,  Russell,  F.  Klein),  der  Aesthetik  (K.  Lange, 
Groos   u.  a.),    der   Ethik  (Marchesini,    Simmel),    der    Religion s philo- 
sophio    und   Metaphysik    (Paulsen,    Lipsius,    Bergson,    der    Sym^bolo- 
Fideismus  von  Sabatier   und   der   mit   ihm   zusammenhängende  Modernis- 
mus usf.),  und  in  den  neueren  Interpretationen  der  Kantischen 
Ideenlehre    (Görland,    B.  Bauch,    0.  Ewald,    Simmel  u.  a.)    erblickt   er 
geistesverwandte  Bestrebungen.    Vaihinger  ist  der  Ueberzeugung,  dass  seine 
„Philosophie  des  Als  Ob",  die  nach  seiner  Ansicht  die  richtig  verstandene 
Doktrin  Kants    im  modernen  Gewände  bietet,    als  Konzentrationspunkt  für 
alle  genannten  Tendenzen  dienen  kann  (XIV,  XV).  Mit  einer  unserer  Meinung 
nach    bemerkenswerten    Anpassung     an    die    neu- idealistische,    aut 
Fichte,  Schelling  und  Hegel  zurückführende  Strömung  der  Gegenwart  nennt 
er  seine  Stellungnahme  zu  den  philosophischen  Problemen  nicht  mehr,  wie 
im  ursprünglichen  Vorwort  (a.  a.  0.  112),  einfach  „kritischen  Positivismus", 
er  bezeichnet    sie  jetzt  in  etwas  paradoxer  Weise  als  „idealistischen 
Positivipmus".(XIV):    „denn",   so  fügt  er  zur  Erklärung  bei,    „sie  erkennt 
ja  eben  (neben  aller  Mabnvmg  zur  kritischen  Auslese)  den  hohen  ästhetischen 
und    ethischen   Werth    der    rehgiösen    Fiktionen    an    und    tritt    für    deren 
Aiifrechterhaltung  mit  Entschiedenheit  ein". 

Man    darf   somit   gespannt    sein,    den    eigentlichen    Lehi-gchalt    dieses 
Systems  genauer  kennen  zu  lernen. 


( '.liarakteristisch  für  die  Untersuchungsmelhode  Vaihingers  ist  die  un- 
eingeschränkte Anwendung  der  biologischen  Auffassungsweise  auf  die 
Durchforschung  der  logischen  Probleme.    Er  betont  mit  Recht  (9) :  „Wenn 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  üb".  25 

man  als  Zweck  des  Denkens  die  Erkenntnis  („Theorie")  ansieht,  so  wird 
man  die  logischen  Funktionen  ganz  anders  betrachten,  als  wenn  der  Zweck 
des  Denkens  und  Erkennens  schliesslich  ins  Praktische  gesetzt  wird".  Er 
selbst  entscheidet  sich  nun  für  das  zweite  Glied  dieser  Alternative: 
Wie  die  physiologischen  Vorgänge,  wie  ferner  „die  Vorstellungsbewegung  . . . 
in  ihrer  stetigen  Abänderung  in  hohem  Grade  die  Anforderung  der  Zweck- 
mässigkeit" (2)  erfüllt,  so  gehören  auch  die  Denkprozesse  zu  den  orga- 
nischen Bildungsvorgängen.  „Die  Psyche  ist  .  .  .  eine  organische  Ge- 
staltungskraft (Steinthal),  welche  das  Aufgenommene  selbständig  zweck- 
mässig verändert  und  ebenso  sehr  das  Fremde  sich  anpasst,  wie  sie  sich 
selbst  dem  Neuen  anzupassen  vermag"  (a.  a.  0.).  „So  ist  (auch)  die  lo- 
gische Funktion  eine  Tätigkeit,  w' eiche  ihren  Zweck  passend  erfüllt 
und  zur  Erfüllung  dieses  Zweckes  sich  den  Verhältnissen 
und  den  Gegenständen  zu  akkomrnodieren,  zu  adaptieren 
versteht"  (4).  Der  Zweck  der  Denkfunktion  besteht  aber  in  der  Auf- 
gabe, aus  den  gegebenen  „Empfindungsverbänden"  „ein  solches  Weltbild" 
zu  produzieren,  ,,dass  nach  diesem  das  objektive  Geschehen  berechnet  und 
unser  handelndes  Eingreifen  in  den  Gang  der  Geschehnisse  erfolgreich  aus- 
geführt werden  könne"  (5).  Das  Denken  findet  also  seine  Bestimmung  „in 
der  Verarbeitung  und  Vermittelung  des  Empfindungsmaterials  zur  Erreichung 
eines  reicheren  und  volleren  Empfindungslebens"  (8).  All  die  „kunstreichen 
Hilfsmittel"  und  „verwickelten  Prozesse",  deren  das  entwickelte  Denken 
sich  bedient,  entstehen  „nur  durch  die  ungemein  sinnreiche  Modifikation 
und  Spezifikation  (einiger)  weniger  Grundtypen  und  Grundgesetze,  die  sich, 
teils  gedrängt  durch  die  äusseren  Voraussetzungen  und  Umstände,  teils 
getrieben  durch  immanente  Entwicklungskeime,  zu  jenem  reichen,  unend- 
lichen Wissenssysteme  entfalten,  auf  das  der  Mensch  so  stolz  ist"  (9). 
„Die  eigentUchen  Grundprozesse  verlaufen  (aber)  in  dem  Dunkel  des  Un- 
bewussten".  „Es  handelt  sich  (also)  für  die  Logik  darum,  die  dunkel 
und  unbewusst  arbeitende  Tätigkeit  des  Denkens  zu  be- 
leuchten" (10\  „Die  eigenthche  Kunst  des  Denkens  ist,  das  Sein  auf 
ganz  anderen  Wegen  zu  erreichen,  als  diejenigen  sind,  welche  das  Sein 
selbst  einschlägt"  (11,  vgl.  Lotze).  „Vom  Standpunkt  des  objektiven  Ge- 
schehens aus  betrachtet,  sind  die  Operationen  des  Denkens  oft  recht  ver- 
schlungen und  erscheinen  sogar  oft  als  unzweckmässig,  ja,  sie  sind  es 
nicht  selten  auch;  .  .  .  gerade  darin  bewährt  sich  die  organische  Natur 
der  logischen  Funktion,  dass  sie  immer  zweckmässiger,  eleganter,  spar- 
samer reagiert"  (a,  a.  0.,  vgl.  Avenarius).  „Die  Wege  des  Denkens"  dürfen 
also  nicht  „für  Abbilder  der  realen  Verhältnisse  selbst"  genommen  werden, 
aber  ihre  „Zweckmässigkeit  manifestiert  sich  darin,  „dass  die  logischen 
Funktionen,  wenn  sie  nach  ihren  eigenen  Gesetzen  arbeiten, 
schliesslich  doch  immer  wieder  mit  dem  Sein  zusammen- 
treffen" (12j. 


26  W.  Switalski. 

Wiclitig  für  das  nähere  Verständnis  dieser  „Wege  des  Denkens"  ist 
nun  die  Unterscheidung  der  „Kunst  rege  In"  und  der  „Kunstgriffe"  des 
Denkens:  „Kunstregeln  sind  das  Zusammen  aller  jener  technischen 
Operationen,  vermöge  welcher  eine  Tätigkeit  ihren  Zweck,  wenn  auch  mehr 
oder  weniger  verwickelt,  so  doch  direkt  zu  erreichen  weiss,  und  welche 
aus  der  Natur  jener  Tätigkeit  und  der  sie  reizenden  Umstände  unmittelbar 
folgen".  „Kunstgriffe  aber  sind  solche  Operationen,  welche,  einen  fast 
geheimnisvollen  Charakter  an  sich  tragend,  auf  eine  mehr  oder  weniger 
paradoxe  Weise  dem  gewöhnlichen  Verfahren  widersprechen"  und  dabei 
„Schwierigkeiten,  welche  das  bezügliche  Material  der  betreffenden  Tätigkeit 
in  den  Weg  wirft,  indirekt  zu  umgehen  wissen"  (17).  Die  „Fiktionen" 
sind  nun  solche  „Kunstgriffe",  sie  sind  „Hilfsbegriffe  und  Hilfsoperationen 
des  Denkens"  (18).  „Die  Fiktionen  sind  psychische  Gebilde.  Aus  sich 
selbst  spinnt  die  Psyche  diese  Hilfsmittel  heraus ;  denn  die  Seele  ist  er- 
finderisch: den  Schatz  an  Hilfsmitteln,  der  in  ihr  selbst  liegt,  entdeckt  sie, 
gezwungen  von  der  Not,  gereizt  von  der  Aussenwelt"  (18  f.). 

..Als  allgemeiner  Typus  der  Fiktion"  ist  „die  Formierung  solcher 
Vorstellungsgebilde"  zu  nennen,  „welche  in  der  Wirklichkeit  keinen  Ver- 
treter finden"  (24).  Von  den  eigentlichen  Fiktionen,  „welche  nicht  nur 
der  Wirklichkeit  widersprechen,  sondern  auch  in  sich  selbst  widerspruchs- 
voll sind",  sind  nun  aber  die  ,, Halbfiktionen"  zu  untersclieiden,  „Voistellungs- 
gebilde,  welche  nur  der  gegebenen  Wirklichkeit  widersprechen,  resp.  von 
ihr  abweichen,  ohne  schon  in  .sich  selbst  widerspruchsvoll  zu  sein"  (24). 
Zu  den  ersteren  rechnet  Vaihinger  den  Begriff  des  Atoms,  des  Dinges 
an  sich  u.  ä.,  während  er  als  Beispiel  der  letzteren  die  künstliche 
Einteilung;  anführt.  „Das  Denken  beginnt  zuerst  mit  leichteren  Ab- 
weichungen  von  der  Wirklichkeit  (Halbllktionen),  um  zuletzt,  immer  kühner 
geworden,  mit  solchen  Vorstellungsgebilden  zu  operieren,  welche  nicht  mehr 
bloss  dem  Gegebenen  widersprechen,  sondern  auch  in  sich  selbst  wider- 
spruchsvoll sind".  Beide  Arten  sind  also  nicht  streng  geschieden,  sondern 
durch  allmähliche  Uebergänge  verbunden  (a.  a.  O.,  vgl.  123). 

Der  Begriff  der  „Fiktion",  in  dem  „das  freigestaltende  Moment"  „das 
hervorstechendste  Merkmal"  (129)  ist,  ist  aber  noch  nicht  eindeutig  genug  fest- 
gestellt: es  gilt,  die  wissenschaftliche  Fiktion  von  anderen,  besonders 
von  den  ästhetisch-praktischen  Erdichtungen  abzugrenzen  (129  f.). 
Vaihinger  schlägt  vor,  den  Namen  „Fiktion"  für  den  wissenschaftlichen 
Kunstgriff  zu  reservieren  und  darunter  „jede  bewusste,  zweckmässige,  aber 
falsche  Annahme"  (130)  zu  verstehen.  Bei  allen  Erdichtungen  ist  „die 
Apperzeption  einer  Wahrnehmung  durch  ein  Analoges  das  Grundmotiv" 
(130,  vgl.  Steinthal).  Die  ursprünglichsten  Fiktionen  oder,  wie  Vaihinger 
sie  nennen  will,  .^Figmente"  sind  nun  die  mythologischen  ,. Gebilde, 
welche  aus  empirischen  Elementen  frei  zusammengesetzt  sind".  Von  den 
eigentlichen  „Fiktionen"  scheidet  sie    der  Mangel   jeder   Zweckbestimmung 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  27 

hinsichtlich  einer  genaueren  Anpassung  an  die  Wirkhchkeit.  Dasselbe  gilt  von 
den  „ästhetischen  Fiktionen"  (131  f.),  die  aber  insofern  mit  den  wissen- 
schaftlichen sich  vergleichen  lassen,  als  beide  „nicht  Selbstzweck,  sondern 
Mittel  zur  Erreichung  höherer  Zwecke''  sind.  Ueber  die  Auswahl  der 
„guten"  Fiktionen  entscheidet  in  der  Aesthetik  „der  gute  Geschmack",  in 
der  Wissenschatt  „der  logische  Takt"  (132  vgl.  134  f.).  „Diejenige  Vor- 
stellung ist  »wahr«,  welche  den  Zweck  alles  Denkens  am  besten  erfüllt, 
nämlich  das  Objektive  zu  berechnen,  zu  begreifen.  Diejenige  ästhetische 
Fiktion  ist  »schön«,  welche  den  Zweck  des  Dichtens,  nämlich  ästhetische 
Empfindungen  zu  erwecken,  am  besten  erfüllt"  (136).  Besonders  wertvoll 
ist  die  Abweisung  des  „reinen  Positivismus",  die  Vaihinger  in  diesem  Zu- 
sammenhange bietet:  „Nur  die  stumme  Anschauung,  die  schweigende 
Beobachtung  z.  B.  eines  Registrierapparates  oder  eines  sonstigen  In-stru- 
mentes  oder  Vorganges  ist  reiner  Positivismus"  (139).  „Selbst  der 
nüchternste  Beobachter  in  der  Wissenschaft,  der  vollendete  Positivist,  kommt 
nicht  ohne  Fiktionen  aus;  „denn  selbst  das  geringste,  nüchternste  Urteil 
(ist)  nicht  ohne  Kategorien  möghch  —  und  dies  sind  schon  Fiktionen" 
(138).  —  Wie  übrigens  die  wissenschaftliche  Fiktion  mit  der  „willkürlichen 
Annahme"  nicht  zusammenfällt  (vgl.  auch  140),  so  ist  sie  auch  von  Be- 
griffen, wie  „Irrtum"  und  „Lüge",  zu  trennen,  sofern  man  darunter  ,, über- 
flüssige und  unzweckmässige"  (141)  oder  ,, unerlaubte"  (142)  Gebilde  ver- 
steht. Allerdings  sind  diese  Begriffe  nach  Vaihinger  unter  einander  nahe 
verwandt,  so  dass  er  nicht  nur  behauptet,  das  höhere  Leben  beruhe  auf 
edlen  Täuschungen,  sondern  geradezu  das  paradoxe  Urteil  fällt,  „dass 
Wahrheit  nur  der  zweckmässigste  Irrtum  sei"  (143;  vgl.  192). 
Noch  gilt  es,  „Fiktion"  von  „Hypothese"  abzugrenzen  (143  ff.).  Beide 
sehen  sich  äusserlich  sehr  ähnlich,  aber,  während  die  Hypothese  „stets  auf 
die  Wirklichkeit  geht",  während  sie  „als  wahr,  als  wirklich,  als  realer 
Ausdruck  eines  Realen"  nachgewiesen  werden  will  (144),  beurteilen  wir 
die  Fiktion  nach  ihrer  Zweckmässigkeit  (144  Anm.).  „Hypothese  und 
Fiktion  sind  nicht  etwa  graduell  verschieden,  sie  sind  qualitativ 
anderer  Natur"  (147).  Die  Hypothese  soll  verifiziert  werden,  die  Fiktion 
dagegen,  „soweit  wir  sie  als  provisorisches  Hilfsgebilde  bezeichnet  haben, 
soll  im  Laufe  der  Zeit  wegfallen  und  der  wirklichen  Bestimmung 
Platz  machen,  soweit  sie  aber  echte  Fiktion  ist,  soll  sie  wenigstens  logisch 
ausfallen,  sobald  sie  ihre  Dienste  getan  hat"  (147;  vgl.  127,  172).  Die 
Fiktion  kann  man  „mit  einem  Balkengerüste  vergleichen,  das  nach  voll- 
endetem Bau  wieder  abgebrochen  wird,  die  Hypothese  dagegen  mit  dem 
Balkengerüste,  welches  in  dem  Bau  selbst  mit  verwertet  wird  als  inte- 
grierender Teil  des  Baues"  (148  Anm.).  „Die  Hypothese  ist  also  ein  Re- 
sultat des  Denkens,  die  Fiktion  ein  Mittel  und  eine  Methode  des- 
selben" (149).  „Die  Hypothese  will  entdecken,  die  Fiktion  erfinden" 
(a.a.O.).     „Der  Verifizierung  der  Hypothese    entspricht   die  Justifi- 


28  W.  Switalski. 

ziernng  der  Fiktion''  (150;  vgl.  610).  Trotz  dieser  Häufuujf  prägnanter 
Unterschiede  gesteht  freilich  der  Verfasser,  dass  eine  Scheidung  in  concreto 
sehr  schwierig  ist.  Die  Grenzen  beider  spielen  eben  in  einander.  „Was 
heule  Hypr.these  ist,  kann  morgen  Fiktion  sein;  ja  was  dem  einen  Fiktion 
ist,  kann  dem  andern  Hypothese  sein"  (153;  vgl.  auch  603—612). 

Die  sprachliche  Ausdrucksform  der  Fiktion  wird  für  gewöhnlich  durch 
die  Partikel  „als  ob"  oder  „wie  wenn"  (lat. :  quasi,  sicut;  engl.:  as  if; 
franz. :  comme  si,  que  si ;  griech. :  o)«,*  et  (lOGsl),  wg  ehe  [Druckfehler :  cjg  ii) 
eingeleitet  (155).  „Der  psychische  Vorgang  (des  damit  bezeichneten)  Gleich- 
ni.'T.ses  besteht  nach  Steinthal  darin,  dass  eine  Anschauung  durch  ein  Ver- 
hältnis apperzipiert  wird,  nicht  durch  den  Inhalt  einer  Vorstellungsgruppe 
also,  sondern  nur  durch  die  Form  derselben"  (a.  a.  0.).  Steinthal  über- 
sieht aber,  wie  Vaihinger  hinzufügt  (157),  dass  sich  Fiktionen  auf  ver- 
gleichende Apperzeptionen  zurückführen  lassen,  d.  h.  dass  Kompa- 
rativgruppen neu  geschaffen  werden  (155  f.):  „Wenn  nämlich  die  ver- 
gleichende Apperzeption  nicht  direkt  mögUch  ist,  weil  die  Kluft  zwi.schen 
der  Apperzeptionsmasse  und  dem  zu  Apperzipierenden  zu  gross  ist,  so  wird 
ein  i\liltelbegriff  formiert;  indem  dieser  Mittelbegriff  die  beiden  wider- 
sprechenden Elemente,  von  der  Apperzeptionsform  ein 
Element  (beim  Atom  z.  B.  Unteilbarkeit  des  unendlich  Kleinen)  und 
von  der  zu  apperzipierenden  Vorstellung  das  entgegen- 
gesetzte (beim  Atom :  ins  Unendliche  teilbare  Ausdehnung)  in  sich  ver- 
einigt, kann  er  die  Vermittel ung  ermöglichen,  indem  dann  das 
zu  Apperzipierende  zuer.st  von  dem  Mittel  begriff  und  dieser  Mittel- 
begriff selbst  dann  erst  von  der  ersten  Apperzeptionsform  apperzipiert 
wird"  (157).  „Schliesslich  kommen  alle  Fiktionen  auf  versuchte  Ver- 
gleiche hinaus"  (a.  a.  0.).  „Demnach  ist  die  Vergleichung  und  schliess- 
lich die  Verschmelzung  des  Gleichen  in  der  Seele  das  eigentliche 
psychologische  Prinzip  der  Logik  und  Erkenntnistheorie" 
(158).  Aber  die  Vergleichung  ist  bei  der  Fiktion  ganz  eigener  Art:  sie  ist 
weder  reale  Analogie,  noch  auch  ein  blosser  Tropus  (162):  Die 
Fiktion  setzt  eine  an  sich  unmögliche  Bedingung  und  fügt  die  Forderung 
bei,  trotzdem  „die  Annahme  formal  aufrecht  zu  erhalten"  (163;  z.B.  ,,die 
Materie  muss  so  betrachtet  werden,  wie  sie  zu  behandeln  wäre,  wenn 
sie  aus  Atomen  bestehen  würde"  [a.  a  0.]).  Als  Hypothese  würde  dieselbe 
Annahme  in  eine  andere  Form  zu  kleiden  sein,  etwa  so  (166):  „Nur  unter 
der  Voraussetzung,  dass  und  wenn  es  Atome  gibt,  ist  die  empirische  Er- 
scheinung der  Phänomene  erklärbar"  (zum  Sinn  der  Als  -  ob  -  Betrachtung 
vgl.  auch  578-591). 

Eine  „Aufzählung  und  Einteilung  der  wissenschaftlichen  Fiktionen" 
zeigt  uns  nun,  wie  weit  verbreifet,  ja  geradezu  das  ganze  Denken  durch- 
dringend die  Anwendung  dieses  Hilfsmittels  nach  Vaihinger  ist  (25-- 123, 
328 — 576).     Es    kann    hier    nicht    unsere    Aufgabe    sein,    alle    einzelnen 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  29 

* 

„Fiktionen"  nufzuziihlon.  Wir  beschränken  nns  vielmehr  darauf,  die  Ge- 
dankengäni^e  hervorzuheben,  die  entweder  nnpere  Zustimmung  oder  unseren 
Widerspruch  besonders  herausiordern.  Da  werden  wir  zuerst  uneingeschränkt 
die  Bemerkung  biUigen  können,  dass  „die  ideale  Isolierung  und 
Spaltung  des  Gegebenen,  die  diskursive  Trennung  desselben  in  verschiedene 
Seiten  einer  der  am  meisten  angewandten  Kunstgriffe  des 
Denkens"  ist  (34).  „Wo  wir  nicht  die  Gesamtheit  der  Verhältnisse  (bei 
der  „oft  unendlich  komplizierten  Verflochtenheit  der  Wirklichkeit"  341) 
übersehen  können,  abstrahieren  wir  von  einem  Teile  freiwillig;  wenn  wir 
das  Gesamtergebnis  vieler  gleichzeitiger  Ursachen  nicht  zu  berechnen  im 
stände  sind,  lassen  wir  einige  weg  und  vereinfachen  das  Problem"  (343). 
Diese  „neglektive  oder  abstraktive  Methode"  veranschaulicht  er  an  einem 
„Standardbeispiel"  (29;  vgl.  343  f.),  nämlich  an  der  „Art  und  Weise,  auf 
welche  Adam  Smith  die  Nationalökonomie  begründete".  „Mit  sicherem 
Takte  griff  er  die  Hauptsache  heraus,  nämlich  den  Egoismus,  und  formulierte 
seine  Annahme  so,  dass  alle  menschlichen  Handlungen  ...  so  betrachtet 
werden  können,  als  ob  ihr  treibendes  Motiv  einzig  und  allein  der  Egois- 
mus wäre".  Vaihinger  unterlässt  es  aber  auch  nicht,  das  Gebiet  zu  nennen, 
auf  dem  die  genannte  Methode  die  fruchtbai'slen  Ergebnisse  gezeitigt  hat: 
ich  meine  die  theoretische  Mechanik.  „Gerade  in  der  Berechnung 
der  mechanischen  Verhältnisse  der  Körper  werden  zur  leichteren  Austührung 
dieser  Berechnungen  Nebenursachen  vernachlässigt  und  die  ganze  mecha- 
nische Bewegung  usw.  betrachtet,  als  ob  sie  nur  von  jenen  abstrakten 
Faktoren  abhinge"  (30  f.). 

Der  Nominalismus,  dem  der  Verfasser  als  Positivist  huldigt,  zeigt  .sich 
naturgemäss  deutlich  bei  der  Betrachtung  der  abstrakten  Begriffe  und  der 
Allgemeinbegriffe  (vgl.  „Summatorische  Fiktionen"  53  f.,  399 — 417  ;  „Methode 
der  ab.strakten  Verallgemeinerung"  76 — 79,  383 — 398) :  Die  Allgemein- 
begriffe sind  „rein  summatorische  Fiktionen,  d.  h.  Ausdrücke,  in  denen 
eine  Summe  von  Phänomenen  nach  ihren  Hauptzügen  zusammengefasst 
wird".  „Die  begrenzende  Macht  für  den  oft  unbestimmten  Umkreis  und 
Inhalt  des  allgemeinen  Begriffs  ist  der  Gestalttypus,  der  den  einheit- 
lichen Charakter  vieler  Wahrnehmungen  ausmacht.  Dieser  einheitliche 
Charakter  liegt  in  den  Wahrnehmungen  selbst  und  bewirkt  eben  die  ps yc hö- 
rn echani  sc  he  Verflechtung  und  Assoziation  der  Vorstellungen"  (400). 
Der  Zweck  des  Allgemeinbegriffes,  von  dem  Vaihinger  die  AUgemein- 
vorslellung  nicht  scharf  genug  trennt  (400  f.),  beruht  in  der  Ermöglichung 
des  Klassifizierens,  Ordnens,  Begreifens,  Beweisens  und  Schliessens  (401, 
Steinthal).  So  hat  diese  reine  Fiktion  doch  eine  „positiv-praktische  Be- 
rechtigung" (401  Anm.).  „Man  kann  die  AllgemeinbegrilTe  Gleichheits- 
zentrcn  nennen,  welche  die  logische  Bewegung  der  Vorstellungen  regulieren" 
(407).  „Die  Allgemeinbegriffe  und  Allgemeingesetze  spielen  also  nur  eine 
dienende    Rolle.     Wie   der    Hebel  weggelegt  wird,    wenn    er   seine   Arbeit 


30  W.  Switalski. 

.^'etan  liat,  so  tritt  das  Allgemeine  auf  die  Seite,  nachdem  es  zur  Bestimmung 
des  Einzelnen  gedient  hat"  (408).  Zu  diesen  „summatorischen  Fiktionen" 
gehurt  nun  aber  nach  Vaihinger  auch  „der  Begriff  eines  Dinges  .  .  .,  und 
die  Redeweise,  dass  das  Ding  eine  Eigenschaft  habe,  beruht  auf  der  Hilfs- 
vorstellung, als  ob  dieses  Zusammen  noch  etwas  ausser  und  neben 
den  Eigenschaften  wäre,  wie  die  Gattung  noch  als  etwas  ausser  und  neben 
der  Vielheit  der  Einzeldinge  Existierendes  gedacht  wird"  (412:  „Abbreviatur 
vermittelst  Hilfsworten"). 

Auch  die  abstrakten  Begriffe,  die  übrigens  von  den  Allgemein- 
begriffen  wenigstens  theoretisch  scharf  zu  sondern  sind  (399,  2 :  „Isolation" 
und  „Generalisation"),  sind  „Fiktionen" :  „Die  abstrakten  Begriffe  sind  .  .  . 
Partialbegriffe,  welche  von  ihrem  Ganzen  losgerissen  sind"  (384). 
„Der  Fehler  aller  Scholastik  besteht  darin,  dass  sie  aus  diesen  Fiktionen 
selbständige  Wesen  macht"  (386).  „Man  verwechselt  Faktum,  und  Fiktum, 
...man  nimmt  das  Instrument  für  die  Sache,  zu  deren  Bear- 
l)eitung  es  dient"  (394).  „Einer  der  genialsten  Kunstgriffe  des  Denkers" 
(Denkens?)  ist  die  ,, Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung"  (78),  durch 
deren  Anwendung  „das  Bestehende,  Einzelne  allgemein  genommen  als 
Spezialfall  vieler  anderer  Möglichkeiten"  gedacht  wird  (als  Beispiele  mögen 
Begriffe  wie  der  „n-dimensionale  Raum",  das  „Bewusstsein  überhaupt" 
dienen).  Eng  verwandt  damit  ist  das  Verfahren,  das  Vaihinger  (meines 
Erafhtens  missverständlich)  „die  Methode  der  unberechtigten  Uebertragung" 
nennt  (80) :  Er  versieht  darunter  Kunstgriffe,  wie  sie  die  Mathematik  vor- 
zugsweise verwendet.  Sul)sumtion  des  Krummen  unter  das  Gerade,  des 
Kreises  unter  die  Ellipsenformel,  Anwendung  des  Infinitesimalbegriffs  zur 
rechnerischen  Bewältigung  des  Stetigen  usw.  (80—86,  451  —  571). 

Die  soeben  berührten  mathematischen  Kunstgriffe  bahnen  uns  den  Weg 
ziun  Verständnis  der  „juristischen  Fiktionen"  (46 — 49) :  Beide  sind  „reine 
Produkte  einer  freischaffenden  Tätigkeif  des  menschUchen  Geistes"  (70; 
vgl.  47)'.  ,,ln  der  fictio  juris  wird  etwas  Nicht-Geschehenes  als  geschehen 
oder  umgekehrt  betrachtet  oder  wird  ein  Fall  unter  ein  analoges  Verhältnis 
gebracht  in  einer  Weise,  die  der  Wirklichkeit  schroff  widerspricht"  (48). 

In  die  modernsten  Gedankenkämpfe  und  zugleich  in  das  Zentrum  der 
Denkweise  Vaihingers  werden  wir  bei  Betrachtung  der  ,, symbolischen 
Fiktionen"  (39  —  46)  hineinversetzt.  Das  Apperzeptionsmiltel  der  „symbo- 
lischen" Friktion  ist  ebenfalls  die  Analogie.  Mythologie  und  Poesie  sind 
die  Gebiete,  auf  denen  sie  besonders  Anwendung  findet.  Die  Auffassung 
der  religiö.sen  Lehren  als  reine  Symbole  geht,  wie  bekannt,  auf  Kanl 
zurück.  Vaihingers  Verdienst  ist  es,  erschöpfende  Queüenbelege  für  den 
religiösen  Symbolismus  Kants  beigebracht  zu  haben  (vgl.  u.  a.  638,  641, 
647-655,  683  ff.,  689  ff.,  710,  734  f.)  Instruktiv  ist  auch  die  „Nachlese 
aus  Kants  Briefen,  Vorlesungen  und  nachgelassenen  Papieren"  (711  ff.).  Als 
eifrigen  Verfechter  des  Symbolismus  in  der  Religion    und    damit  als  Fort- 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  31 

Setzer  von  Kants  echter  Lehre  nennt  Vaihinger  Forberg,  dessen  in  dieser 
Frage  grundlegender  Autsatz  über  die  „Entwicklung  des  Begriffs  der  Re- 
ligion" in  der  Philosophiegeschichte  bisher  nicht  hinreichend  gewürdigt 
wurde  (736 —753).  VonForberg  und  von  Fichte  zugleich  ist  Schleier- 
macher beeinflusst  (753;  vgl.  40  f.),  von  dem  freilich  wie  von  den  übrigen 
symbolistischen  Theologen  (De  Wette,  Biedermann,  Lipsius)  die  Grenze 
zwischen  religiösen  „Fiktionen"  und  „Hypothesen"  nicht  genügend  beachtet 
wird.  Ganz  in  die  Bahnen  der  reinen  ,, Fiktionen"  lenkt  dagegen  F.  A. 
Langes  „Standpunkt  des  Ideals"  ein  (755  ff.),  dessen  für  die  gesamte 
P'iktionstheorie  charakteristische  Ansicht  der  Verfasser  im  allgemeinen  zu- 
stimmend ausführlich  darlegt  (755  —  771;  vgl.  auch  das  über  Nietzsche 
Gesagte:  788  —  790).  Wie  für  die  symbolistische  Religionsphilosophie  Gott 
nicht  „Vater"  der  Menschen,  sondern  nur  so  zu  betrachten  ist,  „als  ob  er 
es  wäre"  (41),  so  ist  für  diese  Denker  auch  die  Metaphysik  überhaupt 
„Metabolik,  Hyperbolik,  Metaphorik"  (42).  Ja,  das  gesamte  Erkennen, 
insofern  es  nur  an  der  Hand  „analogischer  Apperzeptionen"  erreicht  wird, 
ist  eigentlich  nur  „symbolisches"  Vorstellen  (42  f.).  Allerdings  unterscheidet 
Vaihinger  zwischen  „realen"  und  „bloss  fiktiven"  Analogien  (45),  doch 
im  Rahmen  seiner  Gesamtauffassung  besteht  diese  Sonderung  schwerlich 
zu  Recht  (vgl.  z.  B.  88  —  90).  —  Wie  alle  Fiktionen,  so  haben  auch  die 
symbolischen  praktische  Bedeutung:  so  die  „Fiktion"  der  Freiheit,  der 
Unsterblichkeit  und  des  höchsten  Ideals  (59 — 69)  als  ,, fiktive  Grundlagen 
der  Sittlichkeit",  so  der  Begriff  des  „Unendlichen"  als  Hilfsgebilde  der 
Forschung  (87  ff.),  so  endlich  auch  der  Begriff  des  „Absoluten"  (114  -  116): 
,,Auf  dem  Standpunkt  des  kritischen  Positivismus  gibt  es  also  kein  Ab- 
solutes, kein  Ding  an  sich,  kein  Subjekt,  kein  Objekt;  es 
bleiben  einzig  und  allein  die  Emplindungen  übrig,  welche  da  sind,  welche 
gegeben  sind,  aus  denen  die  ganze  subjektive  Welt  aufgebaut  ist  in  ihrer 
Scheidung  physischer  und  psychischer  Komplexe". 

Wir  sind  damit  bereits  bei  den  erkenntnistheoretischen  Konse- 
q  11  e  n  z  e  n  der  „Fiktionstheorie"  angelangt.  Vaihinger  widmet  ihnen  einen 
Ijesonderen  Abschnitt :  ,,Aus  dem  Chaos  der  Empfindungen  tritt  die  ge- 
schiedene Anschauung  hervor".  „Die  Anschauung  ist  schon  ein  durch  die 
psychische  Attraktion  der  Elemente  zu  Stande  gekommener  Verband  von 
Empfindungserkenntnissen"  (286).  ,,Wenn  die  Psyche  das  ihr  dargebotene 
Material  der  Empfindungen,  also  die  ihr  einzig  und  allein  gegebene  Grund- 
lage mit  Hilfe  der  logischen  Formen  verarbeitet,  wenn  sie  das  Empfundene 
sichtet  und  von  dem  gegebenen  Empfindungsmaterial  gemäss  jenen  logischen 
Funktionen  geradezu  Teile  wegschneidet  und  andererseits  zu  dem  unmittel- 
bar Gegebenen  subjektive  Zusätze  beimischt  —  und  eben  in  diesen  Opera- 
tionen besteht  der  Erkenntnisprozess  — ,  so  entfernt  sie  sich  von  der  ihr 
gegebenen  Wirklichkeil"  (287).  Flier  setzt  die  Frage  ein:  „Wie  kommt 
es,  dass  —  trotzdem  wii'    im    Denken    mit   einer  verfälschten  Wirklichkeil 


32  W.  Switfil.^ki. 

i-eclinon  —  ilocli   Has    piaktischo  Resultat  sich  als  richtig  erweist"  (289)? 
,.Dic  richtige  (kritische)  Stimmung,  welche  wir   den   logischen   Funktionen 
und  ihren  Produkten  entgegenbringen  sollen"  (293),  wird  in  uns  durch  die 
Erwägung   hervorgebracht,    dass   „das  Denken    und   die   logische  Funktion 
nicht  der  Mittelpunkt  (ist),  in  dem  die  Radien  der  Welt  zusammenlaufen", 
dass  vielmehr    die   logische  Funktion   „im  Haushalte  der  Natur  (nur)  eine 
bescheidene  Rolle  (spielt)"  (292).     „Der   wahre  Kritizismus    oder   logische 
Positivismus   geht  vorurteilsfrei   und  kalt   an  die  Untersuchung  des  Denk- 
instrumentes" (295).     Er  ist  gewöhnt,    „in    den   Denkgebilden    zunächst 
nur  subjektive  Produkte  zu  sehen"  (a.  a.  0.)  und  ,, fordert  für  die  Annahme 
der  Realität   eines   jeden  Denkgebildes    und   jeder   logischen  Bildungsform 
einen  speziellen  Beweis"  (296).    Von    diesem  „allein  gültigen  und  brauch- 
baren Grundsatze"  aus  erscheint  nun  „die  Differenzierung  des  Empfmdungs- 
chaos   in  Dinge    und  Eigenschaften",  in  „Ganzes  und  Teile"  (wie  überhaupt 
alle  kategoriale  Einordnung)  als  „rein  subjektive  Tat"  (297).    Nur  die  Kate- 
gorie der  Zeit  scheint  eine  Ausnahme  zu  machen,  denn  wir  hören  (298): 
„Gegeben  sind  der  Seele  ausser  dem  Material  der  Empfindungen  als  solcher 
noch  die  Zeitverhältnisse,  in  welcher  (welchen?)  sie  in  dieselbe  ein- 
treten".    „Mit  der  blossen  Einfügung,  Subsumtion  der  Empfindungen  unter 
die  Kategorien  (ist)  noch  gar  keine  Erkenntnis  gewonnen"  (302). 
Die  Kategorien  haben  als  „Mittel  zu  praktischem  Handeln  sehr  hohen  Wert", 
aber  keinen  „eigentlich  wissenschaftlichen  Erkenntniswert"  (303).     Die  Er- 
kenntnis ist  „gewissermassen  nur  das  Abfallprodukt  der  logischen  Funktion" 
(307).    „Die  Kategorien  sind  nichts  als  bequeme  Hilfsmittel,  um  die 
Empfindungsmassen  zu  bewältigen".     „Begreifen  ist  ein  aus  der 
empirischen  Umsetzung  der  Empfindung  in  Kategorien  uns  wohlbekanntes 
Lustgefühl".     „Der  Wunsch,    die  Welt    zu   begreifen,    ist    nicht   bloss    ein 
unerfüllbarer,   er  ist  auch  ein  törichter  Wunsch"  (310).     „Die  Welt  selbst 
(ist)  nicht  begreiflich,  nur  wissbar"  (311).    Unter  „Wissen"  der  Welt 
versteht  dabei  Vaihinger  im  Sinne  des  Positivismus  das  Herausschälen  des 
Gegebenen   in    seiner  „nackten   Reinheit,   mit  Zerstörung  aller  subjektiven 
Auffassungsformen  und  Zutaten  und  mit  bewn.5ster  Erkenntnis  der  Fiktionen 
als  Fiktionen    d.  h.   als  notwendiger,   brauchbarer,  nützlicher  HilfsbegrilTe" 
(a.  a.  0.).     Die  Meinung,    da.ss   die  Anwendung   der  Kategorien  uns  wahre 
Erkenntnis  verschaffe,  beruhe  auf  der  „petitio  principii"  :  „was  ein  richtiges 
Handeln  ermöglicht,  .  .  .  muss  auch  objektiv  wahr  sein"  (326).    Demgegen- 
über   betont    Vaihinger    noch    einmal:    „Das    eigentlich  Wertvolle    an    den 
logischen    Formen    und    Gesetzen    ist    immer    nur    das    empiriscli 
]3eobachlete,  nämlich  das  Vorhandensein  unabänderlicher  Sukzessionen  und 
Koexistenzen,    nicht    aber    die    spezielle    Form,    in   welche    diese 
Beobachtung    gekleidet   ist",    nämlich    die    kategorialen   Aussagen 
Diese  .sind  nur  ,,Vehikel  zur  Einleitung  iirnl   Külirung   des  Pro- 
z  e  s  .s  e  s  der  \'  u  r  s  l  e  1 1  u  n  g  s  b  e  w  e  g  u  n  g"  (327). 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  ob".  33 

Die  vielseitige  Anwendung  der  „Fiktion"  im  modernen  Wissenschaits- 
betriebe  und  ihre  erkenntnistheoretische  Bedeutung  veranlasst  Vaihinger, 
die  „fiktive  Tätigkeit  der  Deduktion  und  Induktion  als  ein 
gleichberechtigtes  drittes  Glied  im  System  der  logischen  Wissenschaft" 
hinzuzufügen  (124).  Werden  doch  „durch  die  Fiktion  Vorstellungs- 
gebilde und  Formen  geschaffen  .  .  .,  welch.e  verschiedene 
einzelne  Fälle  ...  zu  vergleichen  ermöglichen...,  die  ohne 
sie  nicht  oder  nicht  so  leicht  in  Beziehung  gesetzt  werden 
könnten"  (188).  Das  „fiktive  Urteil"  bildet  eine  „Modalitätsform"  für 
sich.  Es  unterscheidet  sich  auch  von  dem  ihm  sonst  verwandten  „proble- 
matischen" Urteil :  denn  „das  (fiktive)  Urteil  wird  vollzogen  mit  gleichzeitigem 
Protest  gegen  objektive  Gültigkeit,  aber  mit  ausdrücklicher  Wahrung  der 
subjektiven  Bedeutung"  (592  f.).  Sonach  ist  das  fiktive  Urteil  eine  höchst 
eigentümliche  Komplikation,  es  ist  negativ,,  insofern  die  Gleichsetzung  von 
A  und  B  als  eine  ungültige  deutlich  ausgesprochen  wird;  es  ist  positiv, 
insofern  die  Möglichkeit,  dieses  ungültige  Urteil  doch  als  gültig  zu  behandeln, 
bejaht  wird ;  in  dieser  selben  Hinsicht  ist  es  auch  kategorisch,  während  es 
doch  andererseits  einen  hypothetischen  Bestandteil  enthält ;  ...  es  ist 
problematisch,  assertorisch,  sogar  eventuell  apodiktisch,  insofern  es  diese 
Behandlungsweise  einfach  ausspricht  oder  ihre  Möglichkeit  oder  Notwendig- 
keit besonders  hervorhebt"  (594'.  „Zwischen  dem  Handeln  als  ob  und 
dem  Meinen,  Glauben,  Wissen,  dass  —  besteht  nicht  eine  graduelle  Diffe- 
renz, sondern  eine  spezifische"  (598).  An  dieser  Eigenart  des  fiktiven 
Urteils  ändert  der  Umstand  nichts,  dass  es  oft  —  missverständlich  genug 
—  in  einfach  kategorischer  Form  ausgesprochen  wird  (^601 ;  z.  B.  „der  Kreis 
ist  ein  Polygon").  In  einer  „U  eher  sieht  der  fiktiven  Elementar- 
methoden" (116 — 123)  bietet  nun  Vaihinger  einen  ersten  Entwurf  einer 
methodologischen  Behandlung  dieses  eigenartigen  logischen  Gebildes.  Er 
versucht  durch  „Aufzählung  der  fiktiven  Grundprozesse"  den  Weg  zu  einem 
natürlichen  System  der  Fiktionen  zu  bahnen.  Als  „ersten  fiktiven 
Denkprozess"  führt  er  die  Zerlegung  an:  Das  gegebene  Wirkliche, 
aber  Unbegreifliche  wird  in  zwei  zusammengehörige  Werte  zerlegt :  man 
„erreicht  dadurch  erstens  die  Möglichkeit  praktischer  Berechnung,  zweitens 
den  Schein  der  Begreiflichkeit"  (117):  Einheit  —  Vielheit,  Ding  —  Eigen- 
schaft, Ursache  —  Wirkung,  Subjekt  —  Objekt,  überhaupt  alle  Kategorien  sind 
Beispiele  für  dieses  Denkverfahren.  Besonders  in  der  Mathematik  und 
Physik  ist  diese  Methode  gebräuchlich  (116,  118).  Aus  diesem  Verfahren 
ergibt  sich  die  Regel :  „Fiktive  Wertpaare,  in  welche  das  Wirkliche  künst- 
lich zerlegt  ist,  haben  nur  zusammen  Sinn  und  Wert"  (118).  —  „Dem  Pro- 
zess  der  Zerlegung  steht  der  entgegengesetzte  der  Zusammenfassung 
zur  Seite".  „Das  beste  Beispiel  hierfür  sind  die  Allgemeinbegriffe"  (119). 
Zusammenfassende  Ausdrücke  „ermöglichen  nicht  bloss  Beschleunigung  der 
Rechnung,   sondern   auch  leichtere  Behaltbarkeit  und  ausserdem  Verallge- 

Pliiloaophisches  JahrbucI:  1913.  " 


84  W.  Switalski. 

meinerung  der  Resultate,  Uebersichtlichkeit  der  Ausdrücke" ;  aber  auch  sie 
dürfen  nicht  für  das  Wirkliche  gehalten  werden,  sondern  nur  die  zusammen- 
gefassten  „x,  y,  z  usf."  (119  f.).  —  „Die  dritte  fiktive  Grundmethode  ist 
die  symbolische  Bezeichnung"  (120).  „Als  ein  vierter  Grund- 
prozess  ist  etwa  zu  bezeichnen  die  Isolierung"  (121),  als  fünfter  die 
.,Generalisation"  und  endlich  die  „unberechtigte  Uebertragung"  (z.  B.  Sub- 
sumtion des  „Krummen"  unter  das  „Gerade",  s.  oben).  —  Wenn  wir  nun 
aber  verstehen  wollen,  wie  wir  durch  Fiktionen,  also  durch  bewusste  Ab- 
weichungen von  dem  Tatbestande,  gleichwohl  zu  „richtigen"  Resultaten 
gelangen,  so  müssen  wir  noch  einer  Methode  gedenken,  nämlich  der 
,, Methode  der  Korrektur  willkürlich  gemachter  Differenzen"  (194—219). 
Bereits  Lotze  macht  auf  die  Notwendigkeit  aufmerksam,  die  bei  einer 
künstlichen  Einteilung  sich  ergebenden  Kombinationen  „durch 
nebenhergehende  Ueberlegung,  durch  eine  Schätzung  des  ver- 
schiedenen Wertes  der  Merkmale  .  .  .,  welche  auf  Kenntnis  der  Sache, 
auf  richtigem  Gefühl,  oder  nur  auf  einem  erratenden  Geschmack  beruhen", 
zu  berichtigen  (195  f.)  Bei  den  ahstraktiv-neglektiven  Fiktionen 
besteht  die  Korrektur  darin,  dass  „die  vernachlässigten  Elemente  .  .  .  nachher 
wieder  zu  ihrem  Rechte  kommen  (müssen),  wenn  nicht  Irrtümer  entstehen 
sollen"  (197).  In  den  Fällen,  in  welchen  „die  fiktive  Subsumtion  .  .  . 
durch  Vermittelung  eines  fiktiven  Vorstellungsgebildes  stattfindet",  muss 
der  Fehler  „rückgängig  gemacht  werden,  indem  das  fiktiv  eingeführte  Ge- 
bilde einfach  wieder  hinausgeworfen  wird.  Beruht  aber  die  Einführung 
auf  einem  logischen  Fehler,  so  kann  das  Hinauswerfen  auch  nur  durch 
einen  logischen  Fehler  stattfinden"  („Methode  der  entgegengesetzten 
Fehler",  vgl.  197  f.).  „Der  ganze  Fortschritt  des  Denkens  beruht  nur 
auf  solch  entgegengesetzten  Operationen  oder  Fehlern :  in  diesem  Hin  und 
Her  be.steht  einzig  und  allein  der  logische  Fortschritt,  der  keine  gerade 
Linie  ist,  sondern  ein  beständiges  Lavieren  gegen  einen  jn- 
günstigen  Wind"  (208).  So  ist  „das  Denken  ein  regulierter 
1  rrtum"  (217),  und  in  diesem  Sinne  nennt  Vaihinger,  wie  bereits  hervor- 
gehoben, die  Wahrheit  den  „z weckmässigsten  Irrtum"  (vgl.  noch 
192,  217),  ein  paradoxes  Wort,  mit  dem  wir  passend  die  Quintessenz  des 
Vaihingerschen  Werkes  kennzeichnen  können. 

III. 
Vaihinger  beschliesst  die  Vorrede  seines  Werkes  mit  dem  vielver- 
heissenden  Ausspruch :  ..So  wie  es  nun  ist,  mag  es  manchem  das  lösende 
Wort  in  quälenden  Problemen  bringen,  manch  anderen  aus  dogmatische)' 
Ruhe  in  neue  Zweifel  stürzen,  bei  vielen  Anstoss  erregen,  aber  hoffentUch 
auch  einigen  neue  Anstösse  geben"  (VI).  Hat  es  wirklich  das  „lösende 
Wort"  gesprochen?  Und  welcher  Art  sind  die  „Anstösse",  die  es  gibt? 
Zu  diesen  Fragen  müssen  wir  jetzt,  wenigstens  prinzipiell,  Stellung  nehmen. 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  ob".  35 

Bevor  wir  indes  an  diese  wahrlich  nicht  leichte  Aufgabe  heranziehen, 
seien  einige  Bemerkungen  betreffs  der  äusseren  Form  des  Werkes  ver- 
stattet: Der  ungeheure  Umfang  (800  Seiten)  fällt  auf.  Bei  genauerer 
Lektüre  gewinnt  man  auch  den  Eindruck,  dass  zur  gründlichen  Behandlung 
des  Problems  im  Sinne  des  Verfassers  die  Hälfte  des  Umfanges  genügt 
hätte.  Die  Ausführung  hätte  sicher  an  Klarheit  und  Durchsichtigkeit  ge- 
wonnen. So  wie  es  jetzt  vorliegt,  ist  es  überreich  an  Wiederholungen, 
die  nicht  lediglich  durch  die  uns  wenig  übersichtlich  scheinende  Disposition 
veranlasst  sind.  (Nur  nebenbei  sei  erwähnt,  dass  sich  in  dem  Buche  sehr 
viele,  zum  Teil  sinnstörende  Druckfehler  finden.  Einer  sei  hier  erwähnt: 
S.  200  letzte  Zeile  muss  es  [nach  der  Fermatschen  Formel]  (6  +  1)^ 
(9 — 6  —  1)  =  98  heissen.)  Die  Breite  und  die  dadurch  bedingte  Schwer- 
fälligkeit der  Ausführungen  scheint  mir  übrigens  zur  Genüge  erklärt  zu 
werden  durch  die  peinliche  Sorgfalt  des  „Herausgebers",  die  Arbeit  mög- 
lichst im  ursprünglichen  Zustande  zu  veröffentlichen.  Diesem  vom  Stand- 
punkte philologischer  Treue  durchaus  erwünschten  Bestreben  möchten  wir  nun 
freilich  vom  philosophischen  Standpunkte  den  Wunsch  nach  einheithcher 
Durchorganisierung  des  Stoffes  als  mindestens  gleichberechtigt  entgegenstellen. 
Um  Missverständnissen  vorzubeugen,  sei  aber  gleich  hinzugefügt,  dass  dieser 
Wunsch  nicht  etwa  der  Beobachtung  einer  zusammenhanglosen  und  in- 
konsequenten Darlegung  entsprungen  ist :  Im  Gegenteil,  es  muss  rühmend 
hervorgehoben  werden,  dass  der  Verfasser  seinen  Grundgedanken  von  An- 
fang bis  zu  Ende  in  voller  Schärfe  zur  Geltung  zu  bringen  versteht. 

Was  nun  die  Beurteilung  des  Inhalts  anbetrifft,  so  wollen  wir  die 
philosophiegeschichtlichen  Abschnitte  des  Werkes  von  vorneherein  aus- 
scheiden. Nicht  als  ob  sie  uns  unbedeutend  erschienen!  Im  Gegenteil, 
gerade  diese  reichhaltigen  Ausführungen,  die  ebenso  von  der  philologischen 
Akribie  des  Verfassers,  wie  von  der  philosophischen  Verarbeitung  des 
Materials  Zeugnis  ablegen,  gehören  zu  dem  Instruktivsten  von  allem,  was 
dieses  Werk  bietet.  Gleichwohl  wollen  wir  uns  ein  näheres  Eingehen  auf 
die  hier  gebotenen  Angaben  versagen,  indem  wir  eine  kritische  Stellung- 
nahme zu  ihnen  kompetenteren  Forschern  überlassen.  Nur  eine  Bemerkung 
sei  erwähnt :  Mit  Kurt  Sternberg  (Kantstudien  XVI  Heft  2  und  3  S.  334) 
sind  wir  der  Meinung,  dass  Kant  in  seiner  Auffassung  der  Kategorialbegriffe, 
trotz  einiger  unleugbarer  Anklänge  an  eine  rein  fiktive  Interpretation,  der 
Vaihingerschen  Ansicht  doch  nicht  so  nahe  kommt,  als  dieser  es  annimmt. 
Den  eigenthchen  Gegenstand  unserer  Kritik  soll  nun  aber  die  rein  philo- 
sophische Seite  des  Werkes,  seine  logischen  und  erkenntnistheoretischen 
Behauptungen,  bilden;  nur  um  dafür  eine  möglichst  objektive  Grundlage 
uns  zu  schaffen,  haben  wir  zunächst  eine  allerdings  selbständig  angeord- 
nete, aber  inhaltlich  znm  grössten  Teil  wortgetreue  Darstellung  der  Vaihinger- 
schen Ansichten  zu  geben  versucht.  Den  Gesamteindruck  dieser  Skizze 
können  wir  wohl   in   die  Worte  zusammenfassen,    dass  Vaihinger   uns   die 

3* 


36  W.  Switalski. 

Unmöglichkeil  aller  Erkenntnis  als  Erfassung  der  Wirklichkeit  (die  nega- 
tive Seite  seiner  Lehre)  und  die  Unentbehrlichkeit  der  logischen  Bear- 
beitung des  Erfahrungsmaterials  für  ein  richtiges  Reagieren  auf  die  Eindrücke 
der  Wirklichkeit  (positiv-praktische,  „pragmatistische"  Seite  seiner 
AuHassung)  zu  begründen  versucht  hat.  Ist  ihm  nun  dieses  Unternehmen 
gelungen? 

Forschen  wir  zunächst  nach  den  Voraussetzungen,  mit  denen  dieser 
., kritische"  Positivismus  rechnet!  Grundlegend  ist  hier  nun  die  Annahme 
einer  „Wirklichkeit",  die  von  einer  „unwandelbaren  Gesetzmässigkeit"  (289) 
beherrscht  ist,  und  einer  ,, Psyche",  deren  Denken  nur  „eine  bescheidene 
Rolle  im  Haushalt  der  Natur"  (292)  spielt,  und  die  „eine  stets  sich 
selbst  vervollkommnende  Maschine"  ist,  „welche  den  Zweck 
erfüllt,  möglichst  sicher  und  rasch  und  mit  geringstem  Kraftaufwand  die 
lebenerhaltenden  Bewegungen  des  Organismus  auszuführen"  (178). 
Die  ,, instinktive,  unbewusste  Zwecktätigkeit  der  Psyche"  wird  von  Vaihinger 
immer  von  neuem  als  treibendes  und  richtunggebendes  Agens  all  ihrer 
Lebensäusserungen  hervorgehoben.  Freilich  macht  er  gelegentlich  die  Ein- 
schränkung, dass  er  „diese  teleologische  Ableitung  nur  heuristisch  gelten 
lassen"  wolle  (320),  aber  seine  Gesamtauffassung  ist  derart  in  dieser  bio- 
logischen Anschauungsweise  verankert,  dass  wir  in  ihr  nicht  lediglich  eine 
heuristische  Annahme,  sondern  vielmehr  ein  konstitutives  Prinzip  seiner 
Lehre  sehen  müssen.  —  So  fällt  schon  recht  viel  aus  dem,  wie  es  doch 
den  Anschein  halte,  alles  umfassenden  Rahmen  der  „Fiktionen"  heraus: 
Die  Natur,  das  Gebiet  des  Seins,  das  seine  eigenen  Wege,  unbeirrt  um  das 
Denken  der  ,,P.syche",  geht,  und  dieses  Denken  selbst  mit  seiner  es  un- 
bewusst,  aber  auch  unumschränkt  beherrschenden  Zielstrebigkeit,  das 
Denken,  das  im  Dienste  des  Organismus  an  die  „Wirklichkeit"  sich  anzu- 
passen sucht,  das  „Umwege"  einschlägt  und  die  Wirklichkeit  „verfälscht", 
nur  um  besser  an  sie  heranzukommen,  und  um  den  Organismus  zur 
Selbsterhallung  und  Selbstbehauptung  immer  geschickter  zu  machen.  Wo- 
durch vergewissern  wir  uns  aber  von  der  Existenz  und  der  Beschaffenheit 
dieser  Voraussetzungen?  Doch  durch  das  Denken  selbst?  Also  kann  doch 
nicht  alles,  was  das  Denken  feststellt,  ins  Bereich  der  Fiktion  versetzt 
werden '.  Und  die  Wahrheit,  sie  ist  doch  mehr  als  der  „zweckmässigste 
Irrtum"!  --  Wir  sehen:  will  man  im  Sinne  der  relativistischen  Auffassung 
Vaihingers  jedes  absolute  Fundament  des  Erkennens  leugnen,  so  kommt 
man  um  eine  inigeheure  „petilio  principii"  nicht  herum.  Da  sind  doch 
die  transzendentalen  Idealisten,  welche  die  Wirklichkeit  aus  Setzungen  des 
reinen  Denkens  abzuleiten  versuchen,  und  die  Vertreter  der  ,, reinen"  Er- 
fahrung, welche  jede  Scheidung  in  Subjekt  und  Objekt  aus  dem  ursprüng- 
lich „Gegebenen"  eliminieren,  trotz  aller  willkürlichen  Einseitigkeit  ihrer 
T«ndenz  nach  konsequenter! 


Vaihingers  ., Philosophie  des  Als  ob".  37 

Doch,  tun  wir  Vaihinger  nicht  etwa  Unrecht?  Betont  er  nicht  aus- 
drücklich, dass  das  Wirkliche  eben  nur  die  „Empfindungen"  sind?  So 
scheint  auch  sein  Standpunkt  ein  positivistischer  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  zu  sein.  Was  heisst  aber  „Empfindung"?  Liegt  nicht  in  diesem 
Worte  selbst  die  Differenzierung  in  Subjekt  und  Objekt  bereits  enthalten? 
Vollends,  wenn  man  mit  Vaihinger  die  von  subjektiven  Einfiiissen  unab- 
hängige, der  Tätigkeit  des  psychischen  Ordnens  widerstrebende  Koordination 
und  Sukzession  der  Empfindungen  als  etwas  ihnen  selbst  Anhaftendes 
betont!  Hat  doch  der  Hauptbegriff  der  Ausführungen  Vaihingers,  der  Begriff 
der  „Fiktion"  selbst,  keinen  Sinn,  wenn  nicht  dem  „fingierten"  Gebilde 
eine  davon  abweichende  Wirklichkeit  gegenübersteht,  wie  denn  ja  auch 
Vaihinger  selbst  „reale"  Vorgänge  von  „fiktiven"  unterscheidet,  ohne  uns 
allerdings  zu  sagen,  wie  wir  von  „realen"  Vorgängen  überhaupt  sprechen 
können,  wenn  wir  in  keiner  Weise  der  Wirklichkeit  beim  Erkennen  hab- 
haft werden  können  1  Der  Unterschied  der  „Semifiktionen"  von  den  Fiktionen 
beruht  ja  nach  Vaihinger  auf  ihrer  grösseren  Annäherung  an  die  „realen" 
Verhältnisse,  und  die  „Hypothese"  vollends  tendiert  nach  ihm  (im  Gegen- 
satz zur  Fiktion)  auf  eine  direkte  Erfassung  des  Realen  hin!  Es  bleibt 
also  dabei,  das  Reale  in  seiner  gesetzmässigen  Ausstattung  und  Ordnung 
und  mit  seiner  Scheidung  in  „Wirkhchkeit"  und  „handelnde  Subjekte"  ist  die 
grundlegende,  dogmatische  Voraussetzung  des  Vaihingerschen  Systems, 
und  zwar  eine  Voraussetzung,    die  seinen  Folgerungen  direkt  widerspricht. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  „Fiktionstheorie"  selbst?  Müssen  wir  etwa 
als  Gegner  der  Grundvoraussetzung  Vaihingers  leugnen,  dass  das  Denken 
sich  überhaupt  der  Fiktionen  bedient?  Keineswegs!  Wir  sehen  es  vielmehr 
als  ein  Verdienst  der  modernen  Logik  an,  dass  sie  uns  die  oft  so  ver- 
schlungenen, mit  der  Wirklichkeit  nicht  immer  parallel  laufenden  Pfade 
des  diskursiven  Deckens  immer  klarer  zum  Bewusstsein  bringt.  Und  in 
dieser  Hinsicht  hat  gerade  Vaihinger,  wie  wir  uneingeschränkt  zugeben, 
durch  seine  tiefdringenden  Untersuchungen  über  den  Fiktionsbegriff  einen 
überaus  wertvollen  Beitrag  geliefert,  um  einer  Verwischung  der  Grenzen 
zwischen  Hypothese  und  Fiktion  und  damit  einer  verhängnisvollen  Ver- 
wirrung in  der  Abschätzung  der  Denkresultate  vorzubeugen.  Man  darf 
aber  die  Bedeutung  des  Fiktionsbegriffs  nicht  überspannen  und  in  der  Ent- 
deckerfreude nicht  überall  „Fiktionen"  finden  wollen !  Sonst  schwebt  man 
in  Gefahr,  bei  aller  Hinneigung  zum  Nominalismus  einem  eigenartigen 
Begriffsreali  smus  zu  verfallen,  für  den  die  „Fiktion"  zum  Allheilmittel  für 
alle  Erkenntnisschwierigkeiten  sich  gestaltet! 

Vaihinger  ist  vom  psycho  genetischen  Standpunkt  aus  durchaus  im 
Recht,  wenn  er  von  allmählichen  Uebe^r gangen  der  Semifiktionen 
in  echte  Fiktionen  spricht  und  auf  das  „Gesetz  der  Ideen  Verschiebung" 
(219  ff.)  aufmerksam  macht,  demzufolge  „eine  Anzahl  von  Ideen  ver- 
schiedene Stadien  der  Entwicklung   durchlaufen,    und  zwar   das 


38  W.  Switalski. 

der  Fiktion,  der  Hypothese,  des  Dogmas,  und  umgekehrt  .  .."(219V 
Vom  erkenntniskritischen  Standpunkt   indes   muss   auf  eine  exakte 
Definition  der  einschlägigen  Begriffe  Gewicht  gelegt  werden,  weil  sonst  alle 
Bestimmungen  flüssig  werden,    und    dadurch  eine  reinliche  Scheidung  und  . 
Beurteilung  der  Begriffsbedeutungen  unmöglich   gem.acht  wird;    nicht,  wie 
wir  —  auf  Umwegen   und  Irrpfaden  —  zur   Erkenntnis   gelangen,   ist  ja 
das  Grundproblem  der  Erkenntniskritik,  sie  fragt  vielmehr,  was  Erkenntnis 
ist,  und  erst  in  zweiter  Linie,  inwiefern  w  i  r  Erkenntnisse  erwerben !    Von 
diesem  Standpunkt    aus    erscheinen    uns   nun   aber  die  Begriffe  der  Halb- 
fiktion  und    der  Fiktion  nicht  erschöpfend  genug  definiert,    und  in  diesem 
Mangel   erblicken  wir   gerade   den  Grund   für  die  unseres  Erachtens  allzu 
radikale  Anwendung  des  Fiktionsbegriffs  in  der  erkenntnistheoretischen  Be- 
trachtung.    Wenn   nämlich   Vaihinger   die   Halbtiktionen  als  „Vorstellungs- 
gebilde" bezeichnet,  „welche  nur  der  gegebenen  Wirklichkeit  widersprechen, 
resp.  von  ihr  abweichen,    ohne   schon    in   sich    selbst  widerspruchsvoll  zu 
sein",  so  scheint  uns  diese  Definition  zu  negativ  zu  sein.  Das  „Abweichen" 
der    Halbfiktionen   von    der   Wirkhchkeit    setzt    doch    auch    eine    gewisse 
Uebereinstimmung  voraus.    Die  „künstliche  Einteilung"  z.  B.  enthält  ja  un- 
fraglich ein  fingiertes  Moment:    der  vom  Ordner  selbständig  gewählte  Ge- 
sichtspunkt  braucht   mit   dem    „natürlichen  System"   in   keiner  Beziehung 
zu  stehen,  und  doch:    dass  der  Ordner  von  diesem  einmal  gewählten  Ge- 
sichtspunkte aus  nur  eine  bestimmte  Anzahl  von  Objekten  und  zwar  streng 
in  einer  exakt  angebbaren  Reihenfolge  zusammenfassen  muss,    liegt   nicht 
mehr  in  seiner  Gewalt,    es    ist    in    der  Natur   der  Gegenstände  begründet. 
Und    dieses  selbe    „fundamentum   in    re"    muss  Vaihinger    selbst   bei  den 
Allgemeinbegriffen    und  bei  den  abstrakten  Begriffen   anerkennen,   ein  Zu- 
geständnis, das  aber  seinem  extremen  Nominalismus  keineswegs  günstig  ist: 
Ist  nämhch   für   die  Zusammenfassung   der  Einzelinhalte   in  den  „summa- 
torischen  Fiktionen"  (Allgemeinbegriffen)  der  in  den  Wahrnehmungen  "or- 
findliche  „Gestalttypus"  massgebend,   so  kann   eben  die  Zusammenfassung 
nicht  als  rein  fiktiv  bezeichnet  werden ;  ihr  hegt  ein  reales  Moment 
zu  Grunde,    und   so   sehr  es  wertvoll  ist,  vor  der  VerdingUchung  der  Be- 
griffe zu  warnen,  so  sehr  muss  auch  nachdrücklich  auf  dieses  realistische 
Motiv    aller   Verallgemeinerungen    hingewiesen   werden.     Das    Gleiche    gilt 
von  den  „abstrakten"  Begriffen,  die  als  solche  unfraghch  wiederum  „entia 
rationis"  sind,    aber   auch   hier  finden  wir  ein  „fundamentum  in  re":    die 
an   sich   unselbständigen  Teile   könnten   nicht   herausgelöst  werden,   wenn 
sie   nicht   in   den   konkreten  Gegenständen   enthalten  wären.     Es  ist  dem- 
nach   unberechtigt,   lediglich    aus    dem  „fiktiven"  Charakter   dieser   Denk- 
produkte erkenntnistheoretische  Konsequenzen  zu  ziehen ;  es  gilt  vielmehr, 
mit  Sorgfalt  den   in   ihnen  wirksamen  realistischen  Motiven  nachzuspüren, 
um   an  ihrer  Hand    einen    Begriff  von   der  Wirklichkeit    zu    erhalten,    der 
diese    zwar   nicht  „abbildet",   wohl    aber    zuverlässig  von   ihr  Kunde  gibt. 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  39 

Voraussetzung  ist   es  allerdings,   dass  die  das  Sein  beherrschende  Gesetz- 
mässigkeit,   die  ja  auch  Vaihinger  annimmt,   uns  nicht  völlig  transzendent 
bleibt,  oder,  anders  ausgedrückt,  dass  Denken  und  Sein,  so  sehr  ihre  Wege 
auch   im  einzelnen  auseinandergehen,  doch  in  ihrer  grundlegenden  Gesetz- 
mässigkeil    übereinstimmen.     Dass    diese    alles  wissenschaftliche   Forschen 
erst  ermöglichende  Voraussetzung  übrigens  keine  blind  hingenommene  „Ver- 
mutung" ist,  wird  uns  klar,  wenn  wir   nur  mit   Husserl  zwischen  Natur- 
und  Idealgesetzen  des  Denkens  genau  unterscheiden :  Nur  die  letzteren, 
mit  Einsicht  am  Denkgegenstand  konstatierten  Gesetzmässigkeiten  treten 
uns,    eben  weil  sie   an   ihm   festgestellt    sind,    zugleich  als  Fundamental- 
gesetze des  Gegenstandes  und  damit  alles  dessen,  was  „Gegenstand" 
ist,  entgegen,  und  diese  mit  Einsicht  zu  erfassende  Koinzidenz  zwischen  den 
Fundamentalgesetzen  des  Denkens  und  des  Seins  begründet  unsere  Ueber- 
zeugung  von  der  „Wahrheit"    d.  h.  von   der   objektiven  Gültigkeit   unserer 
Erkenntnisse.     Sie    ermöglicht    auch    die    einzig    und    allein    befriedigende 
Antwort  auf  die  Grundfrage  des  Verfassers:  „Wie  kommt  es,  dass  wir  mit 
bewusstfalschen  Vorstellungen  doch  Richtiges  erreichen  ?"  Denn  die  schliess- 
liche  Antwort  Vaihingers,  dass  die  nachträgliche  Korrektur  oder  Elimination 
der  bewusst  falschen  Voraussetzungen  eine  Anpassung  an  die  Wirklichkeit 
erklärt,  weist  selbst  über  sich  hinaus  auf  das  weitere  Problem:  Was  ver- 
stehen wir   unter   zweckmässiger  Anpassung?    Und  wie   ist   ein  derartiger 
Zweckzusammenhang  zwischen  psychischen  Gebilden  und  physischen  Vor- 
gängen denkbar  V  Beides  Fragen,  die  unseres  Erachtens  auf  jene  Koinzidenz 
von  Denken  und  Sein  zurückweisen.     Wir  sind  uns  voUbewusst,   dass  wir 
mit  diesem  „objektivistischen"  Standpunkte  von  dem  Kantischen  Kritizismus, 
wenigstens  wie  er  gemeinhin  aufgefasst  wird,  abweichen ;  wir  glauben  aber 
auch,  dass  eine  rein  subjektivistische  Deutung  Kants,    die  Auffassung  also, 
welche  die  Kluft  zwischen  Subjekt  und  Wirklichkeit   als  gegeben  und  un- 
überbrückbar ansieht,  eine  dogmatische  Voraussetzung  ist,  die  das  Erkenntnis- 
problem von  vorneherein  in  falsche,    allzu    enge    Bahnen    lenkt    und   ver- 
wirrt. —  Es  ist  nur  natürlich,  dass  für  unseren  Standpunkt  auch  die  Kate- 
gorien eine  andere  Bedeutung  gewinnen,  als  für  den  Verfasser.    Kategorien 
sind  keine  Fiktionen,  so  richtig  es  auch  ist,  dass  z.  B.  die  Scheidung  von 
„Ding"  und  „Eigenschaft"  nur  eine  nachträgliche,  durch  unser  Denken  be- 
wirkte  ist,   und   dass   die   leere   Etikettierung  der  einzelnen  Elemente  der 
Wirkhchkeit  als  „Ursachen"  oder  „Wirkungen"  uns  keinen  Schritt  auf  dem 
Erkenntniswege  weiterführt.      Die    von    uns    formulierten   Kategorien   sind 
vielmehr  Hinweise  auf  reale  Zusammenhänge  und  Gesetzmässigkeiten,  Strebe- 
pfeiler unseres  Erkenntnisgebäudes,  die  selbst  auf  einer  apriorischen  Gesetz- 
mässigkeit  des  Gedachten    gründen    und    deshalb  imstande  sind,    unserem 
stetig    sich   entwickelnden  Erkennen   festen  Halt  zu  gewähren.     Mögen  im 
Fortschritt    der  Wissenschaften    neue    Kategorien    gefunden   werden    (man 
denke  an  die  Methodologie   der  Geisteswissenschaften!),    mögen    die   alten 


40  W.  Switalski. 

eine  prägnantere  Fassung  erhalten,  —  ohne  jenes  objektive,  als  uner- 
schütterlich vorauszusetzende  Fundament  wäre  aucli  dieser  Fortschritt  nicht 
denkbar!  Und  so  bietet  die  Anwendung  der  Kategorien  auf  die  Wirklich- 
keit nicht  bloss  den  Anschein  der  Begreifiichkeit,  sondern  vollgültige 
Erkenntnis !  Wenn  wir  von  den  wahrgenommenen  Inhalten  aus  nach  der 
zu  gründe  liegenden  „Substanz"  forschen,  so  liegt  das  erkenntnisfördernde 
Moment  hier  eben  in  der  Unbefriedigung  mit  den  anscheinend  regellos 
wechselnden  Inhalten.  Und  die  konkrete  Sukzession  der  Inhalte,  die  bei 
aller  kausalen  Erklärung  nach  Vaihinger  die  eigentliche  Erkenntnis  be- 
gründen soll,  wird  doch  selbst  als  solche  nur  deshalb  erkannt,  weil  in  ihr 
die  kausale  Gesetzmässigkeit  festgestellt  wird.  Allerdings  verwenden  wir 
eine  andere  Terminologie  als  Vaihinger,  —  eine  Differenz,  die  auf  sach- 
liche Unterschiede  zurückweist:  Was  Vaihinger  „wissen"  oder  „erkennen" 
nennt,  ist  für  uns  ein  „Vorfinden"  oder  „Anerkennen",  und  nur  dem 
sachlich  bedingten  Ordnen  der  Inhalte,  ihrer  Zurückführung  auf  letzte  Gründe 
und  Gesetze  schreiben  wir  „Erkenntnis-'wert  zu.  Eine  von  diesem  Stand- 
punkt aus  berechtigte  Folgerung  ist  es  auch,  dass  wir  die  Ideen  „Gott", 
„Freiheit",  „Unsterblichkeit"  nicht  einfach  mit  Vaihinger  in  das  Gebiet  der 
„Fiktionen"  verweisen,  dass  wir  vielmehr  Handhaben  zu  besitzen  glauben, 
um  im  Fortschritt  des  Erkennens  uns  von  der  realen  Bedeutung  dieser 
Ideen  zu  vergewissern.  Dieser  Hinweis  mag  genügen.  Wir  werden  auf  den 
„Fiktions"charakter  dieser  Ideen  weiter  unten  von  einer  anderen  Seite  her 
zurückkommen. 

Den  Ausführungen  des  Verfassers  über  die  „reinen"  Fiktionen,  also 
über  die  „in  sich  selbst  widerspruchsvollen  Hilfsgebilde  des  Denkens" 
(mathematische  Fiktionen,  Fiktionen  der  Naturwissenschaft,  juristische 
Fiktionen)  können  wir  uneingeschränkter  zustimmen :  sie  können  nicht 
„verifiziert",  d.  h.  als  tatsächlich  vorhanden  konstatiert,  sondern  nur  „justi- 
fiziert",  als  brauchbare  Hilfsmittel  anerkannt  werden.  Aber  auch  hier 
erhebt  sich  ein  Bedenken:  Was  heisst  „justifizieren" V  Wofür  sollen  die 
Fiktionen  ,. brauchbar"  sein?  Man  sieht,  ihre  „praktische"  Bedeutung  ist 
nicht  eindeutig  genug  bezeichnet.  Wir  glauben  durchaus  im  Sinne  des 
Verfassers  die  Antwort  auf  die  gestellte  Frage  folgendermassen  geben  zu 
können :  Die  Fiktionen  sind  „brauchbar"  für  den  jeweiligen  Zweckzusammen- 
hang, um  dessentwillen  sie  aufgestellt  sind.  Sie  werden  ..justifiziert",  in- 
sofern ihre  Zweckdienlichkeit  anerkannt  wird.  Ihre  ,. praktische"  Bedeutung 
richtet  sich  demnach  nach  dem  Gebiet,  für  das  sie  verwendet  werden. 
Daraus  folgt,  dass  die  Fiktionen  auf  dem  wissenschaftlichen  Gebiete 
den  Zwecken  theoretischer  Erfassung  dienstbar  sind:  hier  werden  sie 
justifiziert,  insofern  sie  die  theoretische  Erfassung  ermöglichen  oder  ei'- 
leichtern. 

Indem  wir  so  die  Eigenart  des  theoretischen  Erfassens  betonen, 
Verstössen  wir  allerdings  gegen  einen  Fundamentalsatz  der  Vaihingerschen 


Vaihingens  „Philosophie  des  Als  ob".  41 

Doktrin,  die  alle  und  jede  psychische  Betätigung,  also  auch  das  Denken, 
in  den  Dienst  der  „Selbsterhaltung"  des  Organismus  stellt  und  so  rein 
praktischen  Interessen  —  mit  bevvusster  Vernachlässigung  des  theo- 
retischen Momentes  —  unterwirft.  Wir  müssen  deshalb  unsere  Unter- 
scheidung genauer  rechtfertigen.  Zu  diesem  Zwecke  ist  es  erforderlich,  sich 
wieder  den  Unterschied  der  psycho  genetisch-biologischen  und  der 
erkenntniskritischen  Betrachtungsart  zu  vergegenwärtigen.  Dass  unser 
Denken  im  Haushalt  unseres  Organismus  eine  bestimmte  dienende  Rolle 
2u  erfüllen  hat,  dass  diese  Aufgabe  des  Denkens  in  der  immer  allseitigeren 
Orientierung  innerhalb  der  Umwelt  und  in  der  Auswahl  der  zweckmässigen 
Reaktionsweisen  besteht,  und  dass  deshalb  das  praktisch  Brauchbare  und 
Fruchtbare  der  Denkbetätigung  nicht  immer  mit  der  sachlichen  und  formalen 
„Wahrheit"  der  Denkresultate  zusammenfällt  (64  f.),  —  das  alles  können 
wir  uneingeschränkt  unterschreiben.  Aber  es  ist  damit  keineswegs  erwiesen, 
dass  das  Denken  nur  diesen  Zwecken  dienen  soll,  ja,  es  ist  direkt  zu  be- 
streiten, dass  es  auf  die  Dauer  selbst  diese  Aufgabe  zweckdienlich  erfüllen 
kann,  wenn  es  sich  nicht  —  bei  seiner  Betätigung  -  immer  entschiedener 
von  allen  praktischen  Tendenzen  emanzipiert :  Wie  die  Verwertung  der 
physikalischen  Prozesse  im  Organismus  ihre  eigene  Gesetzmässigkeit  nicht 
ersetzt,  sondern  voraussetzt,  so  entscheidet  die  teleologische  Be- 
trachtung des  Denkens  nichts  über  die  immanenten  Gesetze  und  Ziele 
des  Denkens.  Diese  immanente  Struktur  des  Denkens  kann  nun  keine 
biologische  Methode  ermitteln:  logische  Analyse  und  erkenntnis- 
kritische Ausdeutung  sind  hier  allein  massgebend.  Bei  einer  derartigen 
Betrachtung  müssen  wir  aber  „Denken"  als  sachUch  bedingtes  Vergleichen, 
Unterscheiden,  Ordnen  und  „Erkennen",  als  denkendes  Erfassen  des  sach- 
lich Gegebenen  definieren,  unbeschadet  aller  transzendenten,  auf  die  Er- 
haltung des  Organismus  abzielenden  Aufgaben  des  Denkens.  Wir  sehen 
also,  die  „Theorie"  lässt  sich  nicht  restlos  auf  die  „Praxis"  zurückführen : 
sie  ist  und  bleibt  vielmehr  die  Leuchte,  die  mit  ihrem  eigenen,  nicht  von 
der  Praxis  erborgten  Lichte  auch  die  dunklen  Pfade  der  Umwelt  erhellt. 
Das  Handeln  regt  uns  zum  Denken  an,  die  Not  des  Daseins  drängt  uns 
zur  Verfeinerung  der  Denkbetätigung,  das  alles  ist  wahr,  aber  das  Denken 
bleibt  doch  seinem  idealen  Gehalte  nach  etwas  der  Praxis  gegenüber 
Selbständiges :  es  lässt  sich  nicht  als  „Instrument"  des  Handelns  definieren, 
ohne  damit  auch  diese  Bedeutung  zu  verlieren. 

Das  theoretische  Erfassen  der  Wirklichkeit,  das  wir  so  allen  pragma- 
tistischen  Reduktionsversuehen  zum  Trotz  in  seiner  Eigenart  und  in  seinem 
Eigenwert  zu  wahren  versuchen,  ist  dabei  auch  nach  unserer  Auffassung 
kein  Abbilden  der  Wirklichkeit,  kein  einfaches  Hinnehmen.  Es  .ist  ein 
Verarbeiten  der  Eindrücke,  eine  stetig  fortschreitende  Vertiefung  in  den 
Wirklichkeitsgehalt,  aber  eben  zum  Zweck  der  Eruierung  dessen,  „was  ist". 
Unser  Erkennen   ist   und  bleibt  ferner  Stückwerk,  weil  es  von  der  Schale 


42  W.  Swjtalski. 

mühsam  zum  Kern  vordringt,  und  es  bedarf  in  der  Tat  häufig  Hilfs- 
konstruktionen, die  eine  Ergänzung  bieten  für  die  Lücken  unseres  Wissens- 
gebäudes und  die  durch  stetig  neue  „Anpassung"  verbessert  oder  durch 
andere  Konstruktionen  ersetzt  werden  (vgl.  die  Ersetzung  der  „Atomhypo- 
ihese"  durch  die  „Elektronentheorie");  aber  dieser  Relativismus  unseres 
Erkennens  ist  nur  denkbar,  weil  das  zu  Erkennende  auf  fester  Basis  ruht : 
sonst  wäre  ja  ein  ..Anpassung"  ein  Widerspruch  in  sich  (vgl.  Switalski,  „Der 
Wahrheitsbegriff  des  Pragmatismus  nach  W.  James",  1910,  und  „Probleme 
der  Begriffsbildung"  Philos.  Jahrb.  Januar  1912). 

Mit  dieser  entschiedenen  Betonung  der  Eigenart  des  theoretischen  Ver- 
haltens hängt  naturgemäss  eine  von  Vaihinger  abweichende  Auffassung  des 
Wahr  hei  tsbegriffs  zusammen.  Vaihinger  unterscheidet,  obwohl  er  nur  von 
einer  „doppelten"  Wahrheit  spricht,  eigentlich  eine  dreifache:  zunächst 
die  Wahrheit  als  Feststellung  der  unabänderlichen  Sukzessionen  (die  eigent- 
lich „reale"  Wahrheit) ;  dann  die  „Wahrheit"  der  Formen  des  Denkens, 
von  der  der  Satz  gelte,  dass  „die  Wahrheit  der  zweckmässigste  Irrtum" 
sei  (192  f.),  und  endlich  die  „Wahrheit"  der  „Als-Ob"-Betrachtung  (760  ff.), 
die  nur  eine  bildliche  ist  („Wahrheit"  soll  hier  nur  den  idealen  Wert 
gewisser  Fiktionen  bezeichnen).  „Wahr"  im  ersten  Sinne  sind  nach  Vaihinger 
die  Empfindungen,  ihre  Koexistenz  und  Sukzession,  „wahr"  im  zweiten  Sinne 
die  Semifiktionen  und  Fiktionen,  sofern  sie  wissenschaftlich  brauch- 
bar sind,  „wahr"  im  dritten  Sinne  endlich  sind  für  den  Verfasser  die 
religiösen  Grundbegriffe. 

Dass  wir  die  Kluft  zwischen  den  beiden  zuerst  genannten  Bedeutungen 
der  „Wahrheit"  nicht  anerkennen  können,  ist  oben  bereits  näher  begründet. 
Hier  wollen  wir  unser  Augenmerk  auf  den  dritten  Wahrheitsbegriff,  den 
Vaihinger  im  Anschluss  an  Lange  formuliert,  richten:  Es  erscheint  uns 
zunächst  misslich  und  irreführend,  in  Anpassung  an  den  Sprachgebrauch 
von  „religiösen  Wahrheiten"  zu  sprechen,  wenn  man  ihren  Lehrgehalt 
leugnet  und  sie  nur  als  Fiktionen,  wenn  auch  als  wertvolle  Fiktionen, 
gelten  lassen  will.  —  Im  Hinblick  auf  die  Einheit  der  menschlichen  Natur 
ferner  und  auf  die  teleologische  Bedeutung  des  Denkens  im  Dienste  dieser 
Einheit  -  ein  Motiv,  das  gerade  der  biologischen  Betrachtungsweise  ent- 
nommen ist  —  muss  gegen  die  radikale  Trennung  des  W^issens  vom  Glauben, 
der  Wirklichkeit  vorn  Ideal  protestiert  werden :  ein  auf  rein  fiktiver  Grundlage 
ruhender  Glaube,  ein  erdichtetes  Ideal  ist  ein  Schemen,  das  an  sich  keine 
Motivationskraft  für  den  normalen  Menschen  hat;  nur  in  Anlehnung  an 
eine  Gesetzmässigkeit,  von  deren  Realität  man  überzeugt  ist,  können 
Fiktionen  Bedeutung  erhalten  und  insofern  das  Handeln  bestimmen :  ge- 
lrennt von  ihr  sind  es  reine  Illusionen,  denen  nur  Selbsttäuschung  Wert 
beimessen  kann.  Der  ideale  Wert  der  rehgiösen  Wahrheit  kann,  so 
wollen  wir  uns  positiv  ausdrücken,  nur  dann  aufrecht  erhalten  werden, 
wenn  sie  „Wahrheit"  im  strengen  Sinne  ist,  wenn  sie  also,  —  so  „rätsei- 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob".  43 

hafl"  auch  der  „Spiegel"  sie  wiedergibt,  in  dem  wir  sie  schauen,  — 
doch  auf  durchaus  realer  Basis  beruht  und  auf  eine  ewige  „Wahrheit" 
zurückführt. 

Wir  verhehlen  uns  nicht,  dass  wir  damit  eine  Auffassung  vertreten, 
die  der  Vaihingerschen  diametral  gegenübersteht :  Vaihinger  ist  Kantianer 
in  dem  Sinne,  dass  er  die  „Rechte"  des  Erkenntnissubjekts,  seine  „Autonomie" 
und  sein  „schöpferisches"  Verhalten  beim  Formen  der  Wahrheiten  betont. 
„Wahr"  muss  also  für  ihn  das  und  nur  das  sein,  was  den  „Bedürfnissen" 
(im  edelsten  und  umfassendsten  Sinne)  des  Subjekts  irgendwie  entspricht. 
Wer  dagegen  mit  uns  im  Hinblick  auf  die  unverrückbar  gültigen  Werte, 
an  die  der  Menschengeist  sich  gebunden  sieht,  und  auf  die  Umwelt,  von 
der  er  sich  in  vieler  Beziehung  abhängig  fühlt,  das  Subjekt  in  einen  um- 
fassenderen, weltumspannenden  Zusammenhang  hineinstellt,  für  den  behält 
die  Wahrheit  ihren  überindividuellen,  allgültigen  Charakter,  und,  was  wir 
„Wahrheit"  nennen,  ist  nur  eine  Aneignung  jener  für  sich  bestehenden 
Wahrheit,  ein  mehr  oder  minder  gelingendes  Erfassen  der  Wirklichkeit  an 
der  Hand  der  transsubjektiven  und  doch  in  unserem  Innern  herrschenden 
Idealgesetze. 

Vaihinger  konnte  somit  uns  nicht  „das  lösende  Wort  in  quälenden 
Problemen  bringen".  Aber  dankbar  erkennen  wir  an,  dass  die  von  seinem 
Werk  ausgehenden  Anregungen  vielfach  fruchtbar  sind,  Anregungen  posi- 
tiver Art,  insofern  Vaihinger  mit  Nachdruck  eine  sorgfältige  Scheidung  des 
Subjektiven  vom  Objektiven  in  unserem  Erkenntnisganzen  als  unabweisbar 
notwendig  erweist,  und  nicht  minder  wertvolle  Anregungen  in  negativer 
Hinsicht,  indem  sein  Werk  zur  kritischen  Stellungnahme  und  damit  zur 
Klärung  der  eigenen  Ansichten  geradezu  herausfordert. 


Der  Allpassungscharakter  der  spezifischen 
Sinnesenergien  im  Lichte  der  vergleichenden 

Psychologie. 

Von  Dr.  Max  Ettlinger  in  München. 


Einem  eben  erst  aufblühenden  Wissenszweig,  wie  die  Tierpsychologie 
einer  ist,  steht  es  sicherlich  am  besten  an,  zunächst  einmal  das  reich- 
zuströmende Licht  der  Tatsachen  auf  sich  wirken  zu  lassen,  die  junge 
Kraft  in  deren  Sichtung  und  sachlichen  Ordnung  vor  allem  anderen  zu 
erproben.  Die  Zahl  der  neuerkannten  Probleme  wird  auf  diesem  Gebiete 
noch  für  geraume  Zeit  grösser  bleiben  als  die  Zahl  der  befriedigenden 
theoretischen  Lösungen.  Und  doch  hiesse  es  die  Entsagung  zu  weit  treiben, 
wollte  man  denen,  die  sich  das  tierpsychologische  Tatsachenmaterial  hin- 
reichend zu  eigen  gemacht  haben,  noch  alle  und  jede  hypothetischen  Aus- 
blicke verwehren,  aus  denen  auch  für  die  weitere  empirische  Forschung, 
mag  sie  nun  zur  Bestätigung  oder  Widerlegung  führen,  neue  Antriebe  sich 
auslösen  können. 

Naturgemäss  eröffnen  sich  die  Ausblicke  zu  neuartiger  tierpsycho- 
logischer Hypothesenbildung  zuerst  nach  der  Seite,  von  wo  dem  neuen 
Spezialgebiet  alle  wichtig.sten  Anregungen,  Problemstellungen,  Analogie- 
erkenntnisse gekommen  sind  und  immer  wieder  kommen  werden,  nach 
der  Seite  der  Psychologie  und  spezieller  der  Psychophysik  des  mensch- 
lichen Seelenlebens.  Für  gar  manche  psychophysischen  Grundfragen,  die 
allein  aus  den  Forschungen  am  Menschen  ungelöst  geblieben  sind  oder 
hinsichtlich  deren  sich  wenigstens  die  gegensätzlichsten  Theorien  noch  un- 
entschieden gegenüberstehen,  vermag  die  Tierpsychologie  bereits  ihre 
erkenntnismehrende  Hilfskralt  darzubieten.  Und  wo  sie  noch  keinen  end- 
gültigen Entscheid  bringt,  räumt  sie  doch  oft  wenigstens  allzu  einseitige, 
rein  anthropozentrisch  gedachte  Hypothesen  aus  dem  Weg. 

In  diesem  Sinne  habe  ich  es  unlängst  versucht,  den  Streit  zwischen 
nalivistischen  und  empiristischen  Raumsinntheorien  schlichten  zu  helfen, 
und  in  den  „Münchener  Philosophischen  Abhandlungen"  einige  Richtlinien 
entworfen  „zur  Entwicklung  der  Raumanschauung  bei  Mensch  und  Tier" 
im    Sinne    einer    phylogenetischen    Lokalzeichentheorie  *).       In    ähnlichem 

')  „.Müiich.  Pliilo.s.  Abhr,  Lcii)/.;-  1011,  S.  77     ■.)'.). 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  45 

Sinne  Hessen  sich  bereits  auch,  wie  hier  wenigstens  angedeutet  sei,  für 
die  kontroversen  Interpretationen  des  Weber-Fechnerschen  Gesetzes  und 
des  Talbotschen  Gesetzes  mancherlei  theoretische  Aufschlüsse  daraus  ge- 
winnen, dass  beide  Gesetze  für  Reizvorgänge  an  höheren  und  niederen 
Tierorganismen  und  —  wie  Pfeffer  1884  und  Wiesner  1880  zuerst 
betonten  und  andere  neuerdings  bestätigten  M  ■ —  sogar  auch  noch  für  Reiz- 
vorgänge an  Pflanzen  sich  als  gültig  erweisen.  Auch  für  den  Entscheid 
so  wichtiger  und  kontroverser  Spezialtheorien,  wie  sie  sich  z.  B.  hinsichtlich 
der  Grundlagen  des  Farbensehens  gegenüberstehen,  lassen  sich  die  Fest- 
stellungen über  den  Farbensinn  höherer  und  niederer  Tiere  —  so  hat 
neuerdings  wieder  Minkiewicz  betont   —   nicht  länger  ignorieren. 

Hier  beschränken  sich  meine  Bemühungen  auf  ein  anderes  psycho- 
physisches  Grundgesetz,  die  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnes- 
energien, und  es  kann  hoffentlich  auch  für  solche,  die  den  vorgeschlagenen 
Lösungen  noch  grundsätzliche  Bedenken  entgegenstellen,  wenigstens  das  eine 
mit  voller  Ueberzeugungskraft  dargetan  werden,  dass  diese  Lehre  ohne  viel- 
fältige Berücksichtigung  der  tierpsychologischen  Erkenntnisse  gar  nicht  mehr 
sachentsprechend  und  zeitgemäss  formuliert  und  interpretiert  werden  kann. 

Die  Wissenslage  ist  für  uns  in  gar  mancher  Hinsicht  eine  andere  ge- 
worden, als  sie  im  Jahre  1826  war,  da  der  grosse  Forscher  und  Denker 
Johannes  Müller,  der  Begründer  eines  neuen  Zeitalters  in  der  Physio- 
logie, zuerst  seine  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien  entwickelte. 
Zwei  Voraussetzungen  von  allgemeinerem  naturphilosophischem  Inhalt 
setzte  er  grade  bei  der  Formulierung  dieser  Lehre  als  feststehend  voraus: 

Erstens  die  vitalistische  Auffassung  der  Lebensvorgänge,  zweitens  die 
Konstanz  der  Arten.  Beide  Voraussetzungen  werden  heute  lebhaft  um- 
stritten. Das  Verhältnis  zum  Vitalismus  gilt  es  hier  nur  zu  fixieren,  das 
Verhältnis  zur  Deszendenztheorie  hoffen  wir  ein  wenig  klären  zu  helfen : 
Die  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien,  dergestalt,  wie  sie  von 
Johannes  Müller  selbst  aufgestellt  wurde,  ist  ohne  Zweifel  unvereinbar  mit 
einer  Ausdehnung  des  Entwieklungsgedankens  auf  das  psychophysische 
Gebiet.  Darum  konnte  ich  noch  1908,  geblendet  von  dem  fast  unbestritten 
andauernden  Ansehen  der  Lehre  namentlich  in  physiologischen  Kreisen, 
sie  in  meinen  wesentlich  Methoden-Fragen  gewidmeten  „Untersuchungen 
über  die  Bedeutung  der  Deszendenztheorie  für  die  Psychologie'"  als  eine 
unüberbrückbare  Schranke  der  psychischen  Entwicklung  bezeichnen.  So 
war  auch  die  Lehre  von  Johannes  Müller  zweifellos  gemeint,  der  durchaus 
an  der  Unveränderlichkeit  der  Arten  festgehalten  hat  und  eine  Erklärung 
für  die  jedem  Sinnesnerven  innewohnende  spezifische  Kraft  nur  in  recht 
verschwommener  Art    durch    Rückverweis    auf   seine    vitahstische   Grund- 


')  Vgl.  G.  Fiingsheim,  Die  Reizbewegiingen  der  PHanzeii,  Berhn  1912, 

S.   Ui5  fr.,  281  ff.  u.  a. 


46  Max  Ettlinger. 

ansieht  zu  geben  wusste.  „Wir  sind  genötigt",  schreibt  Müller  einmal, 
„jedem  Sinnesnerven  bestimmte  Energien  im  Sinne  des  Aristoteles  zuzu- 
schreiben, welche  seine  vitalen  Qualitäten  (anderwärts  sagt  er  auch :  vitalen 
Potenzen.  E.)  sind"  .  .  .  „Die  Empfmdung  des  Tones  ist  .  .  .  die  eigentüm- 
liche Energie  des  Hörnerven,  die  des  Lichtes  und  der  Farben  die  Energie 
des  Gesichtsnerven"  usw.  Diese  Energien  sind  nach  Müllers  Meinung 
bei  einer  jeden  Art  von  Anfang  an  unveränderlich  gegeben  und  bestehen 
unveränderlich  fort;  eine  Vorstellung,  gegen  die  sich  aus  wesentlich 
empirisch-psychologischen  Gründen  zuerst  Hermann  Lotze  und  Adolf 
Horwicz  gewendet  haben,  während  mehr  auf  Grund  der  physiologischen 
Tatsachen  und  Theorien  Ernst  Mach  in  seiner  Wiener  Akademie-Rede 
1866  und  Ewald  Hering  1870  in  seiner  Rede  über  das  Gedächtnis  die 
Anwendung  der  Entwicklungslehre  auf  die  Theorie  der  Sinnesempfindung 
gefordert  haben.  Es  existiert  aber  bisher,  soweit  ich  sehe,  nur  ein  nam- 
hafter Versuch,  diese  Forderung  auch  in  die  Praxis  zu  übersetzen,  näm- 
lich eine  Entwicklungstheorie  der  Sinnesqualitäten  zu  geben,  ohne  dabei 
das  Gewicht  der  von  Müller  ins  Licht  gestellten  tatsächlichen  Gesetz- 
mässigkeiten zu  verkennen.  Wilhelm  Wundt  war  es,  der  bereits  1874 
in  der  ersten  Auflage  seiner  „Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie" 
anstelle  der  MüUerschen  Lehre  sein  „Prinzip  der  Anpassung  der  Sinnes- 
funktionen an  die  Reize  und  der  Sinneswerkzeuge  an  die  Funktionen"  ge- 
setzt hat.  Dieses  Prinzip  aus  tierpsychologischen  Neubefunden  empirisch 
zu  bestätigen  und  theoretisch  weiter  auszubauen,  schwebt  uns  als  not- 
wendiges und  aussichtsreiches  Endziel  vor*). 

Zunächst  gilt  es,  sich  der  Tatsachen  in  kurzem  Ueberblick  zu  er- 
innern, auf  die  Müllers  Lehre  sich  gründet,  und  denen  auch 
jeder  Ersatz  versuch  gerecht  werden  muss: 

Die  Ton  den  peripheren  Sinnesorganen  dem  nervösen  Zentralorgan 
zugeleiteten  Erregungsformen  kommen  uns  bekanntlich,  je  nach  ihrem  Ur- 
sprung, in  sehr  verschiedener  Qualität  zum  Bewusstsein.  Die  Schallreize 
auf  das  Ohr  erleben  wir  als  Töne,  die  Lichtreize  auf  das  Auge  als  Farben, 
die  Reizungen  der  Hautsinnesorgane  je  nach  ihrer  Modalität  als  Druck- 
empfmdungen,  Wärme  oder  Kälte  usf.  Hätte  es  nun  bei  diesen  Fällen 
adäquater  Reizung,  wo  also  Schallreize  auf  das  Gehörorgan,  Lichtreize  auf 
das  Sehorgan  und  ähnliches  mehr  wirken,  sein  Bewenden,  so  wäre  das 
Gesetz  der  Sinnesempfindungen  ein  sehr  einfaches.  Tatsächhch  ist  dem 
aber    bekanntlich    nicht    so,    sondern    es   werden,    wie    bereits    Aristoteles 


*)  An  Wundts  Darstellung  in  der  neuesten,  sechsten  Auflage  seiner 
„Grundzüge"  (Leipzig  1908  I  499  ff.)  wird  im  obigen  des  öfteren  angeknüpft. 
Reiches  Material  bietet  ferner  namonllich  auch  die  Schrift  von  Rudolf  Wein- 
mann, „Die  f.ehre  von  den  speziiischen  Sinnesenergien",  Hamburg  und 
Leipzig,  1895. 


i 


Der  Anpassungscharakler  der  spezifischen  Sinnesenergien.  47 

wusste,  auch  inadäquate  Reize,  die  irgend  ein  Sinnesorgan  treffen,  sofern 
sie  überhaupt  eine  Empfindung  auslösen,  nicht  nach  ihrer  eigenen  Natur, 
sondern  gemäss  der  Modalität  des  erregten  Sinnesorganes  zum  Bewusstsein 
gebracht.  So  löst  z.  B.  auch  eine  hinreichend  starke  mechanische  oder 
elektrische  Reizung  des  Auges  Lichtempfindung  aus;  ähnlich  bewirken 
mechanische  Erschütterungen  des  Schädels  oder  pathologische  Veränderungen 
im  Gehörorgan  ohne  jeden  äusseren  Schallreiz  Ohrenklingen;  mechanische 
oder  elektrische  Reizung  von  Geschmacks-  oder  Geruchswerkzeugen  erleben 
wir  unter  Umständen  als  Geschmacks-  und  Geruchsnüancen  und  ähn- 
liches mehr.  ♦ 

Aus  diesen  und  verwandten  Tatsachen  leitet  Johannes  Müller  in  einem 
nicht  nur  rein  psychophysisch,  sondern  auch  erkenntnistheoretisch  belang- 
i'eichen  Gedankengang  zunächst  für  die  Qualitäten  des  Gesichtssinnes,  für 
Helligkeiten  und  Farbigkeiten,  die  Lehre  ab,  dass  sie  nicht  als  etwas 
Fertiges  in  der  Aussenwelt  existieren,  „von  welchem  berührt  der  Sinn  nur 
die  Empfindung  desselben  hätte;  sondern  die  Sehsinnsubstanz  bringt  sich, 
von  jedwedem  Reize,  welcher  Art  er  immer  sein  mag,  aus  ihrer  Ruhe  zur 
Affektion  bewegt,  diese  ihre  Affektion  in  den  Energien  des  Lichts,  Dunklen, 
Farbigen  selbst  zur  Empfindung",  und  für  alle  Sinnesmodalitäten  formuliert 
er  es  1840  im  „Handbuch  der  Physiologie"  ganz  allgemein  gültig:  „Die 
Sinnesempfindung  ist  nicht  die  Leitung  einer  Qualität  oder  eines  Zustandes 
der  äusseren  Körper  zum  Bewusstsein,  sondern  die  Leitung  einer  Qualität, 
eines  Zustandes  des  Sinnesnerven,  zum  Bewusstsein,  veranlasst  durch  eine 
äussere  Ursache,  und  diese  Qualitäten  sind  in  den  verschiedenen  Sinnes- 
nerven verschieden,  die  Sinnesenergien". 

H  e  1  m  h  0 1 1  z  glaubte  bekanntlich  mit  seinen  Farben-  und  Tontheorien 
dieses  Gesetz  auch  noch  weiter  auf  die  einzelnen  Qualitäten  der  höheren 
Sinne,  die  verschiedenen  Farben  und  Töne,  ausdehnen  zu  können,  anderen 
gilt  die  Blix-Goldscheidersche  Entwicklung  spezifischer  Kälte-  und 
Wärmepunkte,  differenter  Geschmackspunkte  durch  Oerwall,  difierenter 
Geruchsregionen  durch  Zwarderaaker  als  neue  Bestätigung  des  Müller- 
schen  Prinzips.  Aber  in  Wahrheit  hat  diese  noch  feinere  Spezialisierung 
innerhalb  der  einzelnen  Empfindungsmodalitäten,  die  sich  keinesfalls  bis 
in  die  letzten  Einzelheiten  durchführen  lassen,  mit  dem  ursprünglichen 
Müllerschen  Prinzip  so  lange  nicht  notwendig  etwas  zu  tun,  als  nicht  der 
Tatsachennachweis  erbracht  wird,  dass  auch  innerhalb  dieser  engeren 
(irenzen  inadäquate  Reize  nur  die  spezifische  Wirkung  hervorbringen 
können.  Von  einem  solchen  Nachweis  aber  kann,  soweit  ich  sehe,  nirgends 
die  Rede  sein. 

Selbst  die  inadäquaten  Modalitätsreize,  auf  denen  die  ursprüng- 
liche Müllersche  Lehre  beruht,  begegnen  recht  ernsthaften  Einwänden 
bereits  bei  Lotze.     Namentlich  aber  hat  in  neuerer  Zeit  Max  Dessoir 


48  Max  Eltlinger. 

in  seiner  Abhandlung  über  den  Hautsinn  i)  die  Wahrscheinlichkeit  recht 
gut  begründet,  dass  sich  zu  den  primären  inadäquaten  Reizen  in  vielen 
Fällen  sekundär  auch  adäquate  Reizungen  gesellen  können.  Am  unmittel- 
barsten einleuchtend  ist  dies  wohl  bei  der  elektrischen  Reizung  der  che- 
mischen Sinne,  also  des  Geschmackes  und  Geruchs.  Hier  können  sehr 
leicht  durch  elektrolylische  Zersetzungen  des  Speichels,  bzw.  Nasenschleims 
adäquate  Reizungen  entstehen.  Man  hat  geradezu  von  einem  elektrischen 
Geschmack  als  einer  besonderen  Qualität  gesprochen,  und  eines  elektrischen 
Geruchs  glaube  ich  mich  selbst  aus  der  langwierigen  elektrolytischen  Be- 
handlung von  Nesenwucherungen  zu  erinnern.  Ebenso  erscheinen  bei 
elektrischen  Reizen  auf  das  Auge  Zersetzungen  des  Sehpurpurs,  bei  mecha- 
nischen Erschütterungen  entstehende  Schallwellen,  bei  einem  Schlag  auf 
das  Auge  entstehende  Aetherwellen  nicht  gänzlich  ausgeschlossen,  obwohl 
freilich  diese  Ausflüchte  doch  manchmal  allzu  künstlich  sind,  um  nament- 
lich für  das  optische  Gebiet  als  hinreichend  zu  gehen. 

Aber  ein  Haupteinwand  bleibt  unter  allen  Umständen  bestehen :  dass 
es  sich  nämlich  im  Vergleich  zu  den  adäquaten  Reizungen  hier  doch  um 
relativ  sehr  seltene  Fälle  handelt,  die  augenscheinlich  anormaler  Art  sind 
und  nur  durch  sehr  künstliche  gewaltsame  Eingriffe  entstehen  oder  krank- 
haften Ursprungs  sind.  Dessoir  gibt  mit  Recht  zu  bedenken,  „dass  ein 
ganzes  Menschenleben  ablaufen  kann,  ohne  dass  auch  nur  e  i  n  solcher  Fall 
zu  verzeichnen  ist.  Und  man  halte  demgegenüber  die  unendlich  vielen 
adäquaten  Reizungen,  die  die  Sinne  eines  jeden  Menschen  innerhalb  der 
kürzesten  Zeit  treffen". 

Ehe  man  aus  solchen  anormalen  Fällen  allzu  weitgehende  Schlüsse 
auf  die  allgemeine  Natur  der  Sinnesempfmdung  zieht,  müsste  man  sich 
zum  mindesten  der  Fälle  erinnern,  die  gegen  eine  völlige  Be- 
schränkung des  einzelnen  Sinnesorgans  auf  eine  bestimmte 
Empfind ungsmodalität  ins  Feld  geführt  werden  können :  da  liesse 
sich  zunächst  als  allgemeine  Gegeninstanz  anführen,  dass  die  Sicherheit, 
mit  der  wir  bei  den  sogenannten  höheren  Sinnen  die  Modalitäten  aus- 
einander halten,  mit  der  wir  z.  B.  Töne  von  Farben  unterscheiden,  für 
die  sogenannten  niederen  Sinne  keineswegs  im  gleichen  Masse  gilt.  Be- 
sonders die  Unterscheidung  von  Gerüchen  und  Geschmacksempfindungen 
bereitet  bekanntlich  oft  so  grosse  Schwierigkeiten,  dass  wir  in  dieser 
Hinsicht  häufigen  Verwechslungen  unterliegen  und  mindestens,  wie  ich 
schon  an  anderer  Stelle  betonte  2),  eine  andere  Sinnesraodalität,  näm- 
lich die  kinästhetische  Erfahrung  der  spezifischen  Einstellungsbewegungen, 
zu    deutsch :     Schnüffeln    oder    Schmatzen     zu    Hilfe    nehmen    müssen, 


';  Vgl.   M.   Dessoir,    lieber    den    Haulsinn    im   , Archiv    f.   Physiologie', 
•lahrg.  1892  S.  175  ff. 

')  Zur  Entwicklunjf  der  Raninanschauung  bei  Mensch  und  Tier.    S.  88. 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  49. 

um  eine  sichere  Modalitätsunterscheidung  zustande  zu  bringen.  Leicht 
können  auch  Temperatur-  und  Berührungsreize  von  sehr  niedriger  Intensität 
mit  einander  verwechselt  werden.  Ueberhaupt  steht  es  gerade  mit  den 
verschiedenen  Modalitäten  des  Hautsinnes  ganz  allgemein  so,  dass  sie 
wenigstens  bei  minimalen  und  maximalen  Grenzfällen  ihrer  Intensität  nicht 
leicht  und  sicher  auseinander  gehalten  werden.  Und  eine  Modalität  wenig- 
stens tritt  bekanntlich  bei  übermässiger  Reizung  sämtlicher  Sinnesorgane 
schliesslich  überall  gleichmässig  ein,  nämlich  die  Schmerzempfindung. 
Diesem  letzten  Einwand  wusste  Mfiller  nur  durch  die  ungenügende  Aus- 
flucht zu  entgehen,  dass  auch  dann  der  Schmerz  auf  den  verschiedenen 
Sinnesgebieten  eine  spezifische  Färbung  bewahre,  eine  Ausflucht,  die  keinen- 
falls  ausreicht.  Denn  damit  ist  ja  zum  mindesten  ein  erhebUches  Zurück- 
treten des  spezifischen  Charakters  zugestanden.  Einen  weiteren  allgemeinen 
Einwand  liefert  die  Entdeckung  des  sogenannten  statischen  Sinnes,  dessen 
spezifische  Empfindungsqualitäten  überhaupt  nur  äusserst  unvollkommen 
unterschieden  werden  können  und  in  dem  körperlichen  „Gemeingefühl" 
aufgehen;  am  ehesten  können  sie  noch  dann  erkannt  werden,  wenn  das 
Organ  seinen  Dienst  versagt. 

Eine  weitere  Instanz  schon  aus  der  menschlichen  Sinneserfahrung 
gegen  die  unbedingte  Geltung  der  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnes- 
energien und  für  eine  Anpassungstheorie  kann  daraus  gewonnen  werden, 
dass  wenigstens  bei  einem  höheren  Sinn  des  Menschen,  nämlich  beim 
Gehörsinn,  der  genetische  Zusammenhang  mit  der  Erschütterungswahr- 
nehmung eines  Statolithenorgans  noch  wahrnehmbar  ist.  Bei  den  tiefsten 
Tönen  mit  langsamster  Schwingung  können  nämhch  die  einzelnen  Tonstösse 
noch  einigermassen  mit  dem  Ohr  herausempfunden  werden,  während  sie 
bekanntlich  bei  den  höheren,  musikalisch  brauchbaren  Tönen  ganz  ver- 
schmolzen sind;  in  diesem  Zusammenhang  darf  auch  auf  den  Bericht  der 
bekannten  Taubstummblinden  Helen  Keller  verwiesen  werden,  die  sich, 
des  Gehörsinns  gänzlich  beraubt,  doch  noch  auf  eine  für  uns  schwer  fass- 
liche Weise  an  den  Tonerschütternngen  beim  Orgelspiel  ei'freuf. 

Neben  solche  einzelnen  psychologischen  Handhaben,  die  sich  bereits 
beim  Menschen  für  eine  Anpassungstheorie  der  Sinnesenergien  gewinnen 
lassen,  stellt  sich  gleich  bedeutsam  ein  allgemeiner  physiologischer  Tat- 
bestand: Wenn  wir  nämhch  die  einzelnen  Sinnesorgane  beim  Menschen 
daraufhin  vergleichen,  wie  sehr  bei  ihnen  die  Schutzvorrichtungen  gegen 
inadäquate  Reizeinwirkung  und  die  positiven  Hilfsvorrichtungen  für  die  er- 
leichterte Zufuhr  adäquater  Reize  ausgebildet  sind,  so  ergeben  sich  augen- 
fällige Unterschiede.  Bei  den  sogenannten  höheren  Sinnen  des  Menschen, 
bei  Ohr  und  Auge,  sind  Schutzvorrichtungen  (man  gedenke  nur  der 
tiefen  Einlagerung  der  empfindlichen  Teile)  und  Hilfsapparate  (es  genügt 
schon  der  Verweis  auf  die  Hchtsammelnde  Linse  und  die  schallverstärkende 
Ohrmuschel)   offenbar   in  viel  höherem  Grade  ausgebildet  und  spezialisiert 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  4 


50  Max  Ettlinger. 

als  bei  den  Organen  des  Geschmacks  und  Geruchs  oder  gar  des  Haut- 
sinns. Sofern  man  nicht  auf  jede  Erklärung  solcher  Verschiedenheiten 
verzichtet,  können  sie  nur  als  verschiedene  Grade  der  Anpassung  des 
Organs  an  seine  spezifische  Funktion  verstanden  werden. 

Neben  den  allgemeingültigen  Gründen  für  eine  Anpassungstheorie  aus 
der  Psychophysik  des  Menschen  dürfen  ferner,  da  auch  die  MüUersche  Lehre 
auf  so   seltene    und   anormale   Erfahrungen   des  Sinneslebens   sich   beruft, 
als    Instanzen   unserer    Auffassung    noch    einige   anormale  Fälle   hier    an- 
geführt werden.    Vor  allem  ist  an  die  sogenannten  Synästhesien  zu  denken, 
z.  B.  an  das  Farbenhören    oder   den  Farbengeschmack,  wobei   bekanntUeh 
auf  die  Reizung  eines  einzigen  Sinnesorganes  mit  Empfindungen  einer  oder 
mehrerer    anderer   Modalitäten    ganz    ursprünglich    geantwortet  wird,    also 
z.  B.    auf  die  Reizung   des  Gehörorgans   mit  Farben  („audition  coloree"), 
oder,  wie    noch   jüngst   Downey    im  „American  Journal    of    Psychology" 
(1911,  Seite  528  fl.)  berichtet  hat,  auf  die  Reizung  des  Geschmacksorgans 
mit   einer  Kombination  von   Farben-  und  Tastempfindungen.     Bei  der  Ur- 
sprünglichkeit, welche  solchen  Erscheinungen  bei  manchen  Personen  eignet, 
ist  es  verfehlt,  sie  immer  auf  indirekte  zentrale  Auslösung  zurückzuführen, 
und   die  Vermutung    in  Jodls  „Lehrbuch  der  Psychologie"    ist  keinesfalls 
von  vornherein  von  der  Hand    zu  weisen,   dass  hier  „vielleicht  Atavismus 
aus  der  Zeit  der  Gehirnentwicklung  vorliegt,  da  bei  unvollkommener  Diffe- 
renzierung der  Gehirnorgane  die  nämlichen  Zentren  Reize  von  verschiedener 
Modalität  verarbeitet    hatten".     Noch    eine    andere    anormale    Erscheinung 
kann  hier  nicht  ganz  mit  Stillschweigen  übergangen  werden,   obgleich   sie 
freilich  durch   den  Missbrauch  von   okkultistischer  Seite   in  üblen  Ruf  ge- 
kommen ist,  nämlich  die  angebliche  Verlegung  von  spezifischen  Empfindungen 
der  höheren  Sinne,  speziell  des  Gesichtes,  an  Körperstellen,  wo  nur  Haut- 
sinnesorgane in  Betracht  kommen  können.    Auch  Johannes  Müller  hat  dieser 
Fälle  gedacht  und   sie    kurzerhand  mit   den  Worten   abgefertigt:    „All  das 
Sehen  mit  der  Herzgrube  ist  Märchen  oder  Betrug".    Obwohl  ich.  wie  aus 
anderen  Publikationen  zu  ersehen,   der  Letzte  bin,    der   zu   irgendwelchen 
Zugeständnissen  an  okkultistische  Geheimniskrämerei  geneigt  ist,  muss  doch 
zugestanden  werden,  dass  die  berichteten  Fälle  nicht  mehr  so  kurzerhand 
in  das  Reich  der  Fabel  verwiesen  werden  können,  als  es  zu  Müllers  Zeiten 
noch  möglich  sein  mochte.     Wenn  man  sich  auch  kaum  für  die  Tatsäch- 
lichkeit irgend   eines   der   berichteten  Fälle  voll   einsetzen    kann,    so   lässt 
sich  doch  gerade  aus  der  Analogie  mit  tierpsychologischen  Beobachtungen 
die  Möglichkeit    solcher  Sinnesverlegungen    nicht    ganz    in  Abrede  stellen: 
denn  wie    man    bei  Hysterischen  und    bei  Hypnotisierten    neben    der  Aus- 
schaltung und  Einengung  einzelner  Sinnesbereiche  eine  erhebliche  quantita- 
tive Verschärfung  anderer  noch  funktionierender  Sinne  allgemein  zugesteht, 
z.  B.  Hyperakusie,  so  scheint  mir  auch  eine  aussergewöhnliche  qualitative 
Ausdehnung  der  Möglichkeit  nach  nicht  ausgeschlossen.     Aber  ein  solches 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  51 

ultimum  refugium  ist  glückliclierAYeise  keineswegs  nötig,  um  den  Ersatz 
der  Müllerschen  Spezifitätslehre  durch  eine  Anpassungslehre 
im  Sinne  Wundts  zu  begründen. 

Sobald  man  neben  den  Tatsachen  des  menschlichen 
Sinneslebens  auch  die  des  tierischen  ins  Auge  fasst, 
scheinen  uns  die  Gründe  für  eine  .solche  Umgestaltung  der 
Theorie  in  Fülle  zuzuströmen. 

Zunächst  fällt  hier,  rein  experimentell-technisch  gesprochen,  je  weiter 
wir  in  der  Tierreihe  nach  abwärts  steigen,  desto  mehr  die  Schwierigkeit 
hinweg,  den  tierischen  Sinnesorganen  auch  inadäquate  Reize  beizubringen. 
Wir  sehen  immer  mehr  jene  Schutzvorrichtungen  in  Wegfall  kommen, 
welche  es  uns  z.  B.  so  sehr  erschweren,  auf  die  Netzhaut  des  raensch- 
Hchen  Auges  andere  als  optische  Reize  mit  Sicherheit  einwirken  zu  lassen. 
Auch  die  Gehörorgane  sehen  wir  nicht  mehr  so  tief  eingelagert,  so  sicher 
geschützt  und  für  inadäquate  Reize  fast  unerreichbar.  Aber  nicht  nur  die 
Schutzvorrichtungen  gegen  inadäquate  Reize  kommen  immer  mehr  in  Weg- 
fall, je  weiter  wir  in  der  Tierreihe  herabsteigen,  auch  die  besonderen 
positiven  Hilfsapparate,  die  der  spezifischen  Reizart  angepasst  sind,  z.  B. 
bei  dem  Gehörorgan  die  Schnecke  samt  cortischem  Organ,  deren  Einzel- 
heiten ganz  auf  die  feinsten  Abstufungen  der  Schallwellen  abgestimmt 
sind,  machen  immer  einfacheren  Vorrichtungen  Platz  oder  kommen  ganz  in 
Wegfall,  sodass  die  Organe  immer  mehr  und  immer  allgemeiner  auch 
anderen  Reizklassen  zugänglich  werden.  Schliesslich  reduzieren  sich,  zu- 
nächst immer  noch  vom  Standpunkt  der  äusseren  anatomischen  Betrachtung 
ausgesprochen,  'die  so  fein  spezialisierten  Sinnesorgane  der  höheren  Tiere  bei 
den  niederen  gänzlich  auf  jenes  allgemeine  Hautsinnesorgan,  welches 
schon  Aristoteles  als  das  Ursinnesorgan  postuliert  hat,  und  zuallerletzt  ist 
auch  von  einer  Differenz  zwischen  Sinnesorgan  und  sonstigen  Körperorganen 
nicht  mehr  die  Rede;  bei  den  einzelligen  Protozoen  fällt  das  alles  in  eins 
zusammen. 

Es  ist  gewöhnUch  Sitte,  diese  hier  nur  rasch  angedeutete  anatomisch- 
morphologische Stufenreihe  von  Formen  der  tierischen  und  mensehUchen 
Sinnesorgane  in  der  umgekehrten  Reihenfolge  vor  Augen  zu  führen,  näm- 
lich als  einen  zwar  noch  lückenhaften,  aber  doch  in  gewissen  Grundzügen 
schon  recht  wahrscheinlich  erschlossenen  phylogenetischen  Stamm- 
baum. Und  angesichts  dieses  sicherhch  eindrucksvollen  Bildes  pflegt  man 
ohne  weiteres  den  Appell  zu  erheben:  Wie  will  man  behaupten  können, 
dass  die  spezifischen  Sinnesenergien  ungewordene  und  unveränderliche 
Potenzen  seien,  da  doch  die  Werkzeuge,  deren  sie  sich  bedienen,  so 
offenkundig  als  Ergebnisse  einer  ganz  allmählichen  Entwicklung  sich  er- 
weisen! Ganz  so  einfach,  als  es  nun  ist,  diese  Frage  zu  stellen,  vermag 
aber  die  Antwort  denn  doch  nicht  auszufallen.  Denn  diese  Frage  geht  aus 
Ton  der  irrtümlichen,    obschon   sehr  beUebten  Anschauung,   dass  man  aus 

4* 


52  Max  E 1 1 1  i  n  g  e  r. 

der  Struktur  eines  Organs  ohne  weiteres  bindende  Schlüsse  auf  die  Art 
seiner  Funktion  ziehen  könne,  sodass  dann  der  Stammbaum  der  Funktionen 
eigentlich  nur  ein  Abklatsch  vom  Stammbaum  der  Strukturen  wäre.  Tat- 
sächlich  ist  dem  aber  keineswegs  so.  Während  wir  es  nämhch  in  der  Reihe 
der  Strukturen  immer  nur  mit  quantitativen  Grössen  und  Grössenunter- 
schieden  zu  tun  haben,  haben  wir  es  bei  den  Funktionen  immer  auch  mit 
qualitativen  Unterschieden  zu  tun,  die  oft  genug  eine  allmähliche  Ableitung 
auseinander  auf  gar  keine  Weise  zulassen,  seibat  da  nicht,  wo  es  die 
Strukturenreihe  noch  so  wahrscheinlich  erscheinen  Hesse.  Gilt  diese  Un- 
reduzierbarkeit  auf  blosse  quantitative  Unterschiede  nun  schon  von  vielen 
anderen  gemeinhin  als  rein  physiologisch  bezeichneten  Funktionen  jedes 
lebenden  Organismus  (das  dürfte  der  eigentliche  Grund  sein,  weshalb  Hering, 
Rosenthal,  Verworn  u.  a.  den  Begriff  der  spezifischen  Energien  weit  über 
den  ursprünglichen  Sinn  hinausdehnenj,  so  gilt  diese  Unreduzieibarkeit  erst 
recht  und  ganz  gewiss  in  weitem  Umfang  von  den  psychophysischen 
Funktionen.  Zwischen  Tonempfindungen  und  Farbenempfindungen,  oder 
zwischen  Tastempfindungen  und  Geschmacksempfindungen  gibt  es,  wir 
mögen  sie  variieren  oder  reduzieren,  wie  wir  wollen,  keine  allmählichen 
quantitativen  Uebergänge,  sondern  eine  jede  einzelne  Empfindung  bleibt 
letzlenends  sui  generis,  eine  jede  von  ihnen  ist  in  keine  andere  Modalität 
ohne  Sprung  überführbar.  Diese  letzte  Eigenart  der  Sinnesmodali- 
täten schliesst  aber  selbstverständlich  keineswegs  aus,  dass  viele  von  ihnen 
gleichzeitig  miteinander  und  verschmolzen  miteinander  gegeben  zu  sein  pfle- 
gen, und  lerner  schliesst  diese  letzte  Eigenart  der  Sinnesmodalitäten  keines- 
wegs in  sich,  dass  nun  jede  dieser  spezifischen  Funktionen  auch  ausschliess- 
lich und  unveränderlich  an  ein  spezifisches  Organ,  an  eine  spezifische  Struktur 
gebunden  sein  muss,  und  darum  nur  bei  der  adäquaten  Erregung  gerade 
dieser  Struktur  ins  Dasein  treten  kann.  Und  eben  diese  zu  weit  gehende 
SpezialZuweisung  der  Funktionen  an  die  Strukturen  nimmt  die  MüUe'-sche 
Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien  irrtümlich  an.  Sie  erklärt  es 
wenigstens  hinsichtlich  der  Sinnesmodalitäten  für  gänzlich  ausgeschlossen, 
dass  durch  die  Erregung  desselben  Nervenelements,  derselben  Nervenfaser 
jemals  verschiedene  Modalitäten  ins  Bewusstsein  treten  können.  Nach 
Müllers  Lehre,  wenigstens  in  ihrer  eigentlichen  Form,  eignet  dem  einzelnen 
bestimmten  Nervenelement  nur  ein  einfaches  Können,  kein  mehrfaches 
Können. 

Diese  Lehre  nun,  selbst  wenn  sie  sich  für  die  Funktionsweise  des 
menschlichen  Nervensystems  aufrecht  erhalten  Hesse,  scheitert  unbedingt 
an  den  Tatsachen,  welche  die  vergleichende  Psychologie,  oder  genau  gesagt, 
die  vergleichende  Psychophysik  bei  den  Tieren  ausser  Zweifel  gestellt 
hat.  Es  mnss  genügen,  aus  der  Fülle  der  Tatsachen,  welche  hierfür 
zum  Beleg  gegeben  werden  könnten,  und  deren  Gesamtanführung  fast  schon 


Der  Anpassungscharakter  Her  spezifischen  Sinnesenergien.  53 

einen  kurzen  Abriss  der  Tierpsychologie  bedeuten  würde,  einige  besonders 
typische  und  zweckdienUche  Beispiele  herauszugreifen: 

Auf  Grund  der  Funktionen,  nicht  etwa  nur  der  Struktur,  müssen  wir 
bei  zahlreichen  Tieren  neben  den  spezifischen  Sinnesenergien  auch 
„Wechselsinnesorgane"  und  geradezu  ,, Universalsinnesorgane" 
annehmen,  die  also  nicht  etwa  nur  für  eine  bestimmte  Klasse  der  inadä- 
quaten Reize,  sondern  für  mehrere  oder  gar  für  alle  Reizklassen  empfind- 
lich sind.  Solche  Uebergangs-Sinnesorgane  hat  bereits  im  Jahre  1875  der 
Anthropologe  Johannes  Ranke,  gewiss  kein  Freund  voreiliger  Ent- 
wicklungshypothesen, angenommen^).  Neuere  und  umfassende  Belege  sind 
namentlich  von  Willibald  A.  Nagel  in  seinen  ,, Vergleichenden  physio- 
logischen und  anatomischen  Untersuchungen  über  den  Geruchsinn  und 
Geschmacksinn  und  ihre  Organe"  (Stuttgart  1894)  erbracht  worden. 
Als  Beispiel  seien  die  Hautsinnesorgane  in  den  Fühlern  und  sonstigen 
empfindlichen  Teilen  der  Weinbergschnecke  angeführt,  für  die  es 
J.  Meisenh  e  im  e  rs  Monographie  neuerdings  bestätigt^).  Das  Auf- 
treten von  spezifischen  Sinnesenergien  im  eigentlichen  Sinne  erweist 
sich  bei  solchen  vergleichenden  Untersuchungen  als  parallelgehend  zum 
Beginn  der  Ausbildung  eines  Zentralnervensystems,  also  etwa  mit  den 
Hydroidpolypen  einsetzend,  eine  Tatsache,  die  sicherlich  auch  nicht  der 
allgemeineren  psychologischen  Bedeutung  entbehrt.  Wo  noch  gar  kein 
Nervensystem  ausgebildet  ist,  mangeln  auch  alle  eigentlichen  spezifischen 
Organe,  also  vor  allem  bei  den  Protozoen.  Wohl  aber  weisen  bereits  diese 
primitivsten  aller  Lebewesen  eine  geradezu  universelle  Reizbarkeit  auf 
durch  mechanische,  chemische,  thermische,  elektrische  und  in  einem  be- 
schränkten Sinne  auch  photische  Reize.  Und  da  sie  keineswegs  jedes 
Lernens  aus  ihren  sinnlichen  Erfahrungen  entbehren,  scheint  bereits  bei 
ihnen  der  Analogieschluss  auf  irgend  welches  primitivste  Art  begleitenden 
Bewusstseins  hinreichend  fundiert  zu  sein.  Jedenfalls  ist  so  viel  Tatsache, 
dass,  wie  Max  Verworn  es  einmal  ausdrückt,  sämtliche  Reizarten,  die  bei 
höheren  Tieren  und  Menschen  Wirkungen  auslösen,  dies  auch  bei  den  Ur- 
tieren tun,  sodass  also  ihr  einzelliger  Leib  gewissermassen  zugleich  ein 
Universal-Sinnesorgan  im  umfassendsten  Sinne  darstellt. 

Es  fehlt  aber  auch  bei  diesen  ursprünglichsten  Lebewesen  keineswegs 
mehr  ganz  an  Ansätzen  zur  Ausbildung  zunächst  noch  qualitativ  unbe- 
stimmter, nur  durch  einen  höheren  Empfindlichkeitsgrad  ausgezeichneter, 
primitivster  Sinnesorgane.  Der  erste  Entwicklungsschritt  wird  also,  was 
wegen  der  theoretischen  Tragweite    hervorgehoben  sei,    nicht  durch  quali- 


1)  In  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie  Bd.  25  S.  143  ff. :  „Bei- 
träge zur  Lehre  von  den  Uebergangs-Sinnesorganen.  Das  Gehörorgan  der  Acridier 
und  das  Sehorgan  der  Hirudineen". 

■')  Leipzig  1912,  S.  39  ff. 


54  Max  Ettlinger. 

tative  Auslese,  sondern  durch  örtliche  Auslese,  durch  beginnende  Lokali- 
sierung reizbarster  Stellen  vollzogen.  H.  S.  Jennings,  heute  wohl  die 
bedeutendste  Autorität  für  das  Verhalten  der  niedersten  Organismen,  sagt 
hierüber:  „Bei  einzelligen  Organismen  ohne  Nervensystem  können  bestimmte 
Teile  des  Körpers  empfindlicher  sein,  als  die  übrigen,  und  so  eine  den 
Sinnesorganen  beim  höheren  Tier  vergleichbare  Stelle  bilden.  Ob  eine 
solche  Stelle  für  eine  Reizform  empfindlicher  und  zugleich  für  andere  un- 
empfindlich werden  kann,  wie  bei  höheren  Organismen,  scheint  nicht  fest- 
gestellt zu  sein  ')".  Bezeichend  ist  ferner  für  diese  primitivsten  Sinnes- 
organe der  Einzelligen,  als  welche  man  z.  B.  die  Wimperhärchen  (Cilien 
der  darnach  sogenannten  Ciliaten)  ansprechen  kann,  dass  sie  zugleich  noch 
andern  physiologischen  Funktionen,  vor  allem  als  Bewegungs-  und  Sekretions- 
Organe  dienen. 

Bei  den  mehrzeUigen  Tieren  begegnen  wir  sehr  bald  Sinnesorganen, 
deren  besondere  Empfindlickeit  für  einzelne  Reizklassen  ausser  Frage  steht. 
Aber  diese  ihre  Empfindlichkeit  beschränkt  sich  noch  lange  nicht  auf  eine 
einzige,  bestimmte  Reizklasse;  ihre  spezifische  Qualität  ist  also  mindestens 
eine  mehrfache  und  darum  eben  dem  MüUerschen  Begriffe  widersprechend. 
Nagel  z.  B.  unterscheidet  bei  den  Metazoen,  also  bei  den  vielzelligen 
Tieren,  ausdrücklich  „Universal-Sinnesorgane"  und  „Wechsel-Sinnesorgane". 
Als  Universal-Sinnesorgane  bezeichnet  er  diejenigen ,  mittels  deren  ein 
Lebewesen  sämtliche  Gattungen  von  Reizen  wahrnimmt,  die  für  das  Tier 
überhaupt  normaler  Weise  wahrnehmbar  sind.  „Es  gibt  Wesen",  so  schreibt 
er  zusammenfassend,  ,. welche,  mit  einerlei  Sinnesorganen  ausgestattet, 
gleichwohl  verschiedene  Sinne  besitzen,  bei  denen  eine  gewisse  Unter- 
scheidungsfähigkeit für  mehrere  Reizarten  zweifellos  vorhanden  ist,  wenn 
man  auch  annehmen  muss,  dass  Zahl  und  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Erapfindungsqualitäten  bei  diesen  Tieren  geringer  ist,  als  bei  solchen  mit 
spezifischen  Sinnesorganen".  Neben  den  Universal-Sinnesorganen  nimmt 
dann  Nagel  noch  eine  besondere  Klasse  der  Wechsel-Sinnesorgane  an,  die 
immerhin  noch  der  Wahrnehmung  mehrerer  Reizklassen,  z.  B.  der  che- 
mischen und  thermischen,  gleichzeitig  oder  wechselweise  als  Organe  dienen. 
R.  Hesse  und  F.  Doflein  in  ihrem  weit  über  populäre  Orientierung 
hinaus  fördernden  Werke  „Tierbau  und  Tierleben"  2)  bezeichnen  solche 
vielseitig  leistungsfähigen  Organe  noch  zutreffender  als  „anelektive  Sinnes- 
organe", bei  denen  also  die  beschränkende  Auslese  auf  eine  einzige  Funktion 
noch  nicht  vollendet  ist.  Solche  Organe  sitzen  z.  B.  an  den  Stielzangen 
(Pedicellarien)  der  Seeigel,  wo  sie  nach  UexküU^)  auf  mechanische  bezw. 
chemische  Reize  hin  verschieden  abgestufte  Reaktionen  einleiten. 

*)  Das  Verhalten  der  niederen  Organismen.     Deutsch.     Leipzig  und  Berhn 
1910,  S.  409. 

')  Bd.  I,  Leipzig  und  Berlin  1910. 

')  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.     Berlin  1909,  S.  112. 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  55 

Fast  noch  beweiskräftiger  für  unsere  Auffassung  als  das  Dasein  viel- 
klassiger  Reizrezeptoren  ist  eine  zweite  Tatsachenklasse,  bei  der  jede 
anderweitige  InterpretationsmögUchkeit  gänzhch  fehU,  nämUch  der  allent- 
halben bei  niederen  Tieren  nachweisbare  Tatbestand,  dass  die  Lokalisierung 
der  spezifischen  Reizbarkeit  auf  deren  schon  eigens  angepasste  Organe  noch 
keineswegs  eine  vollkommene  ist.  Zu  den  bekanntesten  Beispielen  solcher 
unvollkommenen  Lokalisierung  gehört  die  bleibende  Lichtreizbarkeit 
solcher  Tiere,  bei  denen  bereits  ziemhch  hohe  Augenformen  ausgebildet 
sind,  auch  dann  noch,  wenn  man  diese  Augen  entfernt.  Schon  Vitus 
Grab  er')  sprach  deshalb  von  einem  photodermatischen  Sinn,  neuere  nennen 
ihn  zutreffender  ,,photoskioptisch",  weil  es  sich  gesichertermassen  nicht  um 
eine  Farbenunterscheidung,  sondern  um  ein  Reagieren  auf  Helligkeitsunter- 
schiede handelt,  bei  denen  übrigens  das  Mitwirken  beträchtlicher  Wärme- 
differenzen  durch  geeignete  Versuchsanordnung  ausgeschlossen  werden  kann. 
Genannt  sei  von  neueren  Belegen  nur  F  o  r  e  1  s  Nachweis  der  Lichtreaktion 
bei  Ameisen  mit  überfirnissten  Augen '^),  oder  Hadleys  Nachweis  der  Licht- 
reaktion bei  geblendeten  Hummern^),  und  als  besonders  drastisches  Bei- 
spiel bei  Loebs  und  Parkers  geköpften  Planarien*)  oder  Eyclshymers 
geköpften  Olmen^).  Als  verwandtes  Beispiel  sei  die  Hautempfindlichkeit 
vieler  Haie  für  starke  Geschmacksreize,  z.  B.  für  Vanilin  oder  Chinin,  ausser- 
halb des  Maules  angeführt,  wie  sie  bereits  Nagel  betont  und  neuerdings 
Sheldon  beim 'Hai  6),  Parker  beim  Zwergwels'')  ermittelt  haben. 

Eine  dritte  beweiskräftige  Klasse  von  Tatsachen,  die  freilich  schon 
etwas  mehr  auch  auf  theoretischen  Boden  führt  —  aber  man  darf  sagen  auf 
bereits   recht   festen   Boden  — ,   bildet   der  sogenannte  phylogenetische 

*)  Fundamentalversuche  über  die  Helligkeits-  und  Farbenempfindlichkeit 
augenloser  und  geblendeter  Tiere,  in  den  Wiener  Akademie-Berichten.  Math.- 
naturw.  Klasse,  Bd.  87  (1883). 

'*)  Vgl.  A.  F  0  r  e  1 ,  Das  Sinnesleben  der  Insekten,  München  1910,  S.  48  ft. 
und  242. 

')  Vgl.  Fh.  B.  Hadley,  The  reaction  of  blinded  Lobsters  to  light,  im 
American  Journal  of  Physiology,  21   (1908)  180  ff'. 

*)  Vgl.  J.  Ijoeb,  Einleitung  in  die  vergleichende  Gehirnphysiologie  und 
vergleichende  Psychologie,  Leipzig  1899;  G.  H.  Parker  und  F.  L.  Burnetl 
im  American  Journal  of  Physiology,  4  (1901)  373  ff. 

5)  Vgl.  A.  G.  Eyclshymer,  The  reactions  to  light  of  the  decapited  young 
Necturus,  im  Journal  of  Comparative  Neurology  and  Psychology,  18  (1908) 
303  ff.  Zahlreiche  weitere  Beispiele  vgl.  bei  M.  F.  Washburn,  The  animal 
mind,  New-York  1908,  im  Kapitel  VII :  The  Vision  zerstreut,  ebenso  bei  S.  0.  Mast, 
Light  and  the  Behavior  of  Organisms,  New-York  1911. 

")  Vgl.  P.  E.  Sheldon,  The  reactions  of  the  Dogfish  to  cheraic»!  stimuh, 
im  Journal  of  Comparative  Neurology  and  Psychology,    19  (1909)  237  S. 

')  Vgl.  G.  H.  Parker,  On  the  Stimulation  of  the  Integumentary  Nerves 
of  Fishes  by  Light,  im  American  Journal  of  Physiology,  14  (1905)  413  IL 


56  Max  Ettlinger. 

Funktionswechsel  der  Sinnesorgane.  So  lassen  sich  z.  B.  nach  Nagel  bei 
den  Hautsinnesorganen  nahverwandter  Insektenfamilien  durchaus  homologe 
Nervenendigungsapparate  nachweisen,  deren  Strukturunterschiede  aber  doch 
schon    die  Anpassung   an  verschiedene   Funktionen   bekunden.     „Ja  selbst 
innerhalb  einer  Art   und  selbst  auf  den  symmetrisch  gelagerten  Punkten 
eines  Tieres  ist  ähnliches  möglich".     Meistens  handelt  es  sich  dabei  um 
Differenzierung   zwischen   Tastsinn    auf  der    einen    und   chemischem  Sinn, 
also  Geruch  oder  Geschmack,    auf  der  anderen   Seite.     Auch  bei  nabver- 
wandten Mollusken  sind  an  verschiedenen  geeigneten  Körper.stellen  die  Haut- 
sinnesorgane  offenbar    zu   spezifischen   Geschmacks-  oder  Geruchsorganen 
entwickelt  worden.     Ein   Beispiel    gibt   etwa    E.  Radi    in   seinen    „Unter- 
suchungen   über   den   Gehörsinn   der   Insekten"    im  „Biologischen  Zentral- 
blatt",  Band  25  (1905).     Er  fasst  die  von  Graber   als  Gehörsorgane  ange- 
sprochenen Organe  als  eine  Art  Uebergangsorgane  vom  Tastsinn  zum  Gehör- 
sinn auf.     Die  Herkunft  des  Gehörorgans    aus  einem    in    der    sogenannten 
statolithen  Form  ausgebildeten  Erschütterungsorgan  bei  niederen  Lebewesen, 
das  man  bezeichnenderweise  auch  Seismographenorgan  genannt  hat,    kann 
hier  in  ihren  wahrscheinlichen  Einzelheiten  nicht  geschildert  werden.    Man 
möge  das  etwa  bei  Arnold  Lang  in  seiner  Studie:  „Ob  die  Wassertiere 
hören"  (1902)  nachlesen.     Dass  aber  auch  bei  uns  Menschen  noch  Spuren 
dieses  üebergangs  von  Erschütterungswahrnehmungen  zu  Hörwahrnehmungen 
vorhanden  sind,  wurde  bereits  erwähnt.    Auch  bei  Tieren  lassen  sich  ähn- 
liche   üebergangserscheinungen    feststellen.     So    scheint    z.   B.    schon    bei 
Tieren,    die    nur    über    Otozysten,    aber    über    keine    Schnecke    verfügen, 
eine    Unterscheidung    der    Tonhöhe   nachweislich    zu    sein.     Dafür   spricht 
nicht  nur  die  genau  abgestufte  Länge  der  sogenannten  Hörhaare,    sondern 
auch   das   experimentelle  Ergebnis,   zu  dem  schon  Victor  Hensen  1863 
gelangt  ist,  als  er  seinem  Versuchskrebs  einzelne  Klapphorntöne  zum  besten 
gab,  wobei   die  Hörhaare   je  nach  ihrer  Länge  auf  bestimmte  Töne  durch 
Schwingungen  ihrer  Basalteile  reagierten.     Weitaus  besser  vorstellbar  sind 
uns,  wenn  auch  nicht  die  Uebergänge  zwischen  zwei  verschiedenen  Sinnes- 
modalitäten, so  doch  zwischen  den  verschiedenen  Qualitäten  einer  und  der- 
selben   Sinnesmodalität,    die    sich    aber    auch    als    verschiedenartige    Ent- 
wicklungsstufe   derselben   darstellen,    und  zwar  erschliesst  sich  uns  diese« 
Beispiel  gerade   bei   unserem  höchstentwickelten  Sinne,   dem  Gesichtssinn. 
Hier  sind  wir  nicht    auf  blosse  Analogien  und  wissenschaftliche  Ahnungen 
angewiesen,    sondern  wir   können    den  Unterschied    zwischen  Farbensehen 
und  blossem  Hell-Dunkel-Sehen  unmittelbar  im  allmählichen  Uebergang  er- 
leben.    Wir  alle  werden  bekannthch  unter  bestimmten  Umständen  farben- 
blind   und    sinken    damit    in    dieser   Hinsicht    auf    eine  Leistungsstufe    des 
Gesichtssinnes  herab,    die   bei   den  Tieren  bis  recht  hoch  hinauf,   nämlich 
bis  in  den  Bereich  der  Wirbeltiere  hinein,  verbreiteter  ist,  als  man  früher 
glaubte.    Viele  Tiere,  denen  man  nach  oberflächlichen  Beobachtungen  einen 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  57 

ausgebildeten  Farbensinn  zusprach,  unterscheiden  nach  den  Ergebnissen 
sorgfältiger  Experimente  nur  Helligkeilsstufen.  Ihr  ganzes  Auge  leidet 
also  an  dem  gleichen  Mangel,  der  bei  uns  nur  noch  dem  äussersten  Netz- 
hautumkreis anhaftet,  wie  sich  bei  ausschliesslich  seitlichem,  indirektem 
Sehen  leicht  prüfen  lässt.  Auch  für  andere  tierpsychologische  Feststellungen 
primitiver  Sehleistungen  verfügen  wir  über  ganz  entsprechende  eigene  Er- 
fahrungen. Wenn  z.  B.  für  das  Eulenauge,  wie  schon  Abelsdorff  feststellte, 
oder  für  das  Auge  der  Tanzmaus  nach  Yerkes'  schönen  Untersuchungen, 
der  blaue  Teil  des  Spektrums  einen  verhältnismässig  grösseren,  der  rote 
einen  geringeren  Reizwert  hat,  als  normalerweise  beim  Menschen,  so 
erinnert  das  unmittelbar  an  die  Verhältnisse,  die  auch  das  menschliche 
Auge  beim  Dämmerungssehen  und  im  Zustande  der  Dunkeladaptation  auf- 
weist, vor  allem  an  das  Purkinjesche  Phänomen.  Charcots  Angabe,  dass 
bei  tabischer  Optikus-Atrophie  die  Farbenunterscheidung  vor  allen  übrigen 
Gesichtsqualitäten  verloren  geht,  kann  vielleicht  auch  als  ein  Hinweis  auf 
ihren  späten  Erwerb  gedeutet  werden  '). 

Als  vierte  Tatsachengruppe,  die  sich  ebenfalls  mit  dem  Müllerschen 
Prinzip  in  seiner  alten  Fassung  nicht  in  Einklang  bringen  lässt,  sei  des 
Funktionswechsels  bestimmt  lokalisierter  Organe  im  Verlauf  der 
individuellen  Entwicklung  gedacht,  für  die  man  darum  die  Be- 
zeichnung als  Wechselsinnesorgane  am  passendsten  reserviert  hätte.  Die 
deuthchsten  Beispiele  hierfür  bieten  sich  beim  Uebergang  von  Amphibien 
aus  dem  Wasser-  zum  Landleben.  Hier  werden  nämlich,  worauf  F.  Leydig 
bereits  1857  hinwies,  die  nur  im  Wasserleben  brauchbaren,  vermutlich 
für  die  Wasserströmungen  empfindlichen  Organe  der  Seitenlinie  teils 
für  die  Zeit  des  Luftlebens  durch  überwuchernde  Verhornung  geschützt, 
teils  gehen  sie  bei  der  Metamorphose  ganz  verloren  und  werden  durch 
Tastflecke  ersetzt.  Man  darf  das  in  Parallele  setzen  zu  der  Umbildung  der 
Zungenftapillen  des  menschlichen  Säuglings,  wenn  er  von  flüssiger  Nahrung 
zu  fester  übergeht.  An  Stelle  der  langen  Fadenform  tritt  dann  durch  Ab- 
stossungen  und  Verhärtungen  die  Keulenform.  Aehnliche  Beispiele  bieten 
die  Sinnesorgane  und  speziell  Ocellen  der  Insektenlarven  mit  vollkommener 
Metamorphose. 

Eine  fünfte  Instanz  für  die  Anpassungstheorie,  bei  der  uns  der  Ent- 
wicklungszusammenhang verschiedenklassiger  Sinnesorgane  unmittelbar  vor 
Augen  tritt,  ergibt  sich  aus  einigen  Erfahrungen  bei  Regenerations- 
experimenten.    So  gelangten  z.  B.  Gurt  Herbst^)  und  T.  H.  Morgan 3) 

*)  Erinnert  sei  auch  an  die  schon  bei  Romanes  und  Frey  er  auftretende 
Hypothese,  dass  sich  der  Farbensmn  aus  dem  Temperatursinn  entwickelt  habe 

*)  Bei  Herbst,  Ueber  die  Regeneration  von  anlennenähnlichen  Organen 
an  Stelle  von  Augen,  im  Archiv  für  Entwicklungsmechanik,  II  (1896)  544  .ft., 
9  (1899)  215  ff. 

•)  Vgl.  T.  H.  Morgan,  Regeneration  and  liability  to  injury,  im  Zoological 
Bulletin  1^1898)  287  ff. 


58  Max  E 1 1 1  i  n  g  e  r. 

unabhängig  von  einander  zu  der  Feststellung,  dass  bei  verschiedenen  höheren 
Krebsarten,  wenn  man  ihnen  Auge  samt  Augenganglion  herausnahm,  an 
Stelle  dessen  föhlerähnliche  Organe,  Antennen,  also  eine  wesentlich  nie- 
drigere Form  nachgebildet  wurde.  Bei  anderen  solchen  „heteromorphen 
Regenerationen"  ist   die   atavistische  Deutung   noch  weniger  zu  bestreiten. 

Eine  letzte  verwandte  Instanz  ergibt  sich  aus  dem  vikariierenden 
Hervortreten  niederer  Sinnesorgane,  wenn  die  Funktion  höherer 
während  vieler  Generationen  ganz  oder  teilweise  unterbunden  worden  ist.  So 
stellte  z.B.  Gustav  Alexander')  am  Maulwurf,  bei  dem  die  Funktion  der 
Augen  bekanntlich  sehr  beschränkt  ist,  eine  aussergewöhnliche  Entwicklung 
des  statischen  Organs  fest,  speziell  das  Vorhandensein  der  bei  anderen  höheren 
Säugetieren  fehlenden  Macula  neglecta.  Ein  ganz  analoger  Fall  begegnet, 
worauf  ich  durch  P.  Erich  Wasmanns  gütigen  Hinweis  aufmerksam 
wurde  ^),  in  einem  ganz  anderen  Bezirk  des  Tierreichs,  nämlich  bei  unter- 
irdisch lebenden  Ameisen  aus  der  Unterfamilie  der  Dorylinen,  speziell  der 
Art  Eciton.  Hier  sind  an  Stelle  der  gänzlich  verlorenen  Netzaugen  mehr 
oder  minder  entwickelte  Ocellen  gänzlich  neugebildet  worden,  deren  höhere 
Formen  sogar  die  Färbungsunterschiede  ihrer  Ameisengäste  wahrzunehmen 
vermögen  '). 

Gerade  dieses  phylogenetische  Hervortreten  von  Ersatzorganen  verdeut- 
licht uns  in  besonders  anschaulicher  Weise  die  ursprüngliche  Einheit  und 
den  niemals  ganz  aufgehobenen  Zusammenhang  aller  spezifischen  Sinnes- 
energien, hinsichtlich  dessen  man  viel  eher  unmittelbar  auf  die  vitaiistische 
Grundvorstellung  des  organischen  Lebens  sich  stützen  darf*),  als  hinsicht- 
lich der  Unveränderlichkeit  und  Grundverschiedenheit  der  spezifischen 
Sinnesenergien. 

Auch  einem  Johannes  Müller  konnten  übrigens  trotz  seines  Festhaltens 
an  der  Konstanztheorie  die  stammesgeschichtlichen  Anpassungsvorgänge  bei 
den  Sinnesorganen  vieler  Tiere  nicht  entgehen.  Nur  hat  er  sich  leider  auf 
die  Beobachtung  der  negativen  Anpassungsvorgänge,  der  Rückbildungen  bei 
Funktionsverlust,    beschränkt,    die  ja   namentlich   bei  den  schmarotzenden 

»)  Vgl.  G.  Alexander  in  der  Zeilschrift  für  Psycholog;ie  Bd.  38  (1905) 
24  ff. 

^1  P.  Wasmann  gab  diese  Ergänzung,  als  ich  den  ersten  Teil  dieser 
Arbeit  auszugsweise  in  einer  Sektionssitzung  der  Gorresgesellschaft  zu  Freiburg 
im  Oktober  1912  vortrug.  Kine  kürzere  Zusammenfassung  gab  ich  bereits  auf 
dem  Berliner  Kongress  für  experimentelle  Psychologie,  im  April  1912  (vgl. 
Kongressbericht)  und  in  extenso  eine  früheste  Fassung  in  der  Wiener  Gesell- 
schaft für  Psychologie  im  November  1911. 

•')  Vgl.  Erich  Wasmann,  Die  psychischen  Fähigkeiten  der  Ameisen', 
Stuttgart  1909,  52  ff. 

*)  Vgl.  die  entsprechende  theoretische  Verwertung  der  Herbstschen  Ver- 
suche bei  Gustav  Wolff,  Zur  Psychologie  des  Erkennen«.     Leipaig  1897. 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  59 

Tieren  ganz  augenfäüig  sind.  In  seiner  zweiten  Mitteilung  über  die  Sinnes- 
organe der  Myxiniden  (einer  Familie  der  Rundmäuler)  hebt  er  irn  Jahre 
1836  hervor,  wie  diese  im  Innern  von  Fischen  schmarotzenden  Tiere  ihre 
Augen  rückgebildet  haben,  und  stellt  Betrachtungen  darüber  an,  wie  hier 
durch  die  Beschränkung  der  Aussenwelt  auch  die  Natur  des  Sinnesorgans 
beschränkt  wird,  was  ganz  entsprechend  dem  umgekehrten  Falle  sei,  wenn 
Menschen  durch  den  Verlust  eines  Sinnesorganes  eines  Teils  der  Aussenwelt 
verlustig  gehen.  Schade  nur,  dass  Müller  diesem  umgekehrten  Falle  fehl- 
sinniger Menschen  nicht  noch  weiter  nachgegangen  ist;  denn  gerade  sie 
hätten  ihn  darauf  hinweisen  können,  dass  dem  Verlust  auch  ein  gewisser 
Gewinn  entsprechen  kann,  da  die  dem  fehlsinnigen  Menschen  verbliebenen 
Sinnesmodalitäten  häufig  eine  erhebUche  ontogenetische  Verfeinerung  zu 
erfahren  pflegen.  Besonders  bekannt  ist  die  ausserordentliche  Verfeinerung 
des  Tastsinnes  und  des  Geruches  bei  Blinden  oder  gar  Taubstummblinden. 
Helen  Keller  z.  B.  vermag  alle  ihr  bekannten  erwachsenen  Personen  am 
mdividuellen  Geruch  zu  unterscheiden:  ebenso  die  einzelnen  Lebensalter 
unbekannter  Personen :  auch  von  einem  halben  Dutzend  Rosen  vermag  sie 
eine  jede  am  Geruch  wieder  zu  erkennen  und  ähnl.  mehr,  sodass  sich 
W.  Lubosch*)  auf  Grund  dieser  Angaben  sogar  zu  der  Annahme  veran- 
lasst findet,  es  müsse  hier  im  Gehirn  ein  Ueberspringen  des  Reizes  auf 
alle  anderen  zentralen  Sinnessphären  stattfinden,  vor  allem  auf  die  ausser 
Funktion  gesetzten  Gesichts-  und  Gehörssphären,  eine  Annahme,  die  nur 
unter  der  Voraussetzung  diskutabel  wäre,  dass  an  Stelle  der  MüUerschen 
Spezifitätslehre  eine  Anpassungstheorie  im  Sinne  Wundts  gesetzt  wird. 
Aber  auch  wenn  man  von  diesen  sehr  hypothetischen  zentralen  Ersatz- 
bildungen absieht,  muss  auf  Grund  der  ausserordentlichen  Funktionsver- 
feinerung eine  Abstufung  der  peripherischen  Erregungsvorgänge  im  Geruchs- 
organ angenommen  werden,  wie  sie  sonst  bei  diesen  niederen  Sinnen  nur 
im  Tierreich  ihre  völligen  Analogien  hat.  Wären  von  vornherein  mit  den 
Sinnesmodalitäten  auch  die  QuaUtäten  des  Geruchssinnes  in  unabänderhcher 
Weise  auf  eine  bestimmte  Anzahl  spezifischer  Energien  beschränkt,  so 
bliebe  die  ontogenetische  Fortbildung  zu  solcher  Feinheit  unbegreiflich. 

Mit  diesen  kurzen  und  lückenhaften  Andeutungen  seien  die  Tatsachen- 
gruppen beschlossen,  welche  ein  Festhalten  an  der  MüUerschen  Lehre  in 
ihrer  ursprüngUchen  Form  auszuschHessen  scheinen  und  ihren  Ersatz  durch 
eine  phylogenetische  Anpassungstheorie  erforderlich  machen.  Wenn  wir 
nun  zu  einem  ebenso  skizzenhaften  Entwurf  von  Richtlinien  einer 
solchen  Anpassungstheorie  übergehen,  so  finden  wir  in  den  bisherigen 
theoretischen  Kontroversen,  von  denen  ausser  Lotze,  Hering  und  Wundt, 
namentlich    noch   die  Zusammenfassungen  von  Weinmann    und  As  her 


*)  Vgl.  W.  L  u  b  0  s  ch,  Vergleichende  Anatomie  der  Sinnesorgane  der  Wirbel- 
tiere (Aus  Natur  und  Geiitesweh  Nr.  282,  Leipzig  1910,  S.  29). 


60  Max  Ettlinger. 

hervorgehoben  seien '),  vorwiegend  eine  Frage  ausgiebig  behandelt,  die  uns 
eigentlich  für  das  psychologische  Problem  von  minderem  Belang  erscheinen 
will,  nämlich  die  Frage  nach  dem  Sitz  der  spezifischen  Sinnes- 
energien, seien  sie  nun  ursprünglich  und  unveränderlich  gegeben,  oder 
durch  Anpassung  erworben.  Ein  kurzes  Eingehen  erscheint  aber  doch  un- 
erlässHch,  weil  Wundt  gerade  aut  diesen  Punkt  besonderes  Gewicht  legt. 

.Johannes  Müller  ist  noch  in  seinem  „Handbuch  der  Physiologie"  (1840) 
darüber  im  Zweifel,  ob  der  Sitz  der  spezifischen  Sinnesenergien  in  den 
zuleitenden  Nerven  oder  im  Gehirn  und  Rückenmark  zu  suchen  sei.  Sicher 
erscheint  ihm  nur  das  eine,  dass  die  Zentralorgane  auch  unabhängig  von 
den  Nervenleitern  der  bestimmten  Sinnesempfindung  fähig  sind.  Später 
war  man  vielfach  geneigt,  die  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien 
mit  der  Abgrenzung  der  einzelnen  Sinnessphären  auf  der  Grosshirnrinde  in 
engsten  Zusammenhang  zu  bringen  und  damit  geradezu  zu  identifizieren. 
Hermann  Munk  sieht  in  der  Lokalisationstheorie  den  ersten  faktischen 
Nachweis  der  Müllerschen  Lehre  und  sucht  bekanntlich  die  Lokalisation 
noch  erheblich  weiter  ins  einzelne  auszubauen,  hierbei  noch  vielen  Ein- 
wendungen ausgesetzt.  Wenn  Munck  z.  B.  eine  Projektion  der  Retina  in 
der  Sehsphäre  als  Repräsentation  der  einzelnen  Netzhautabschnitte  durch 
bestimmte  Teile  der  Sehsphäre  annimmt,  so  liegt  es  doch  viel  näher,  wie 
Monakow  einwendet,  diese  Beziehungen  mit  den  entsprechend  abge- 
.stuften  Augenbewegungen  als  mit  den  einzelnen  Sinneswahrnehmungen  in 
direkten  Zusammenhang  zu  bringen.  Die  phylogenetische  Lokalzeichen- 
theorie, wie  ich  sie  in  den  „Münchner  philosophischen  Abhandlungen"  zu 
entwickeln  suchte,  kann  diesen  Einwand  nur  bestärken  ^j.  Vor  allem  aber 
stehen,  abgesehen  von  solchen  theoretischen  Einwendungen,  einer  so  de- 
taillierten Lokalisation  bestimmte  Erfahrungen  im  Wege,  nach  welchen  die 
einzelnen  Beziehungen  zwischen  Peripherie-  und  Zentralorganen  überhaupt 
nicht  als  dermassen  fest  und  unveränderlich  gelten  können.  Es  gilt  gerade 
hier  das  Prinzip  ganz  zweifellos,  aus  welchem  Wundt  zum  Widerspruch 
auch  gegen  die  allgemeine  Lokalisationstheorie  in  ihrer  üblichen,  man  darf 
sagen,  dogmatischen  Form  gelangt  ist.  Dieses  von  Wundt  stark  betonte 
und  mit  der  Anpassungstheorie  in  engen  Zusammenhang  gebrachte  Prinzip 
ist  das  des  zentralen  Funktionswechsels  und  der  Stellvertretung,  oder  tatsäch- 
licher bezeichnet,  es  sind  die  von  Armin  von  Tscher mak  in  Nagels 
Handbuch  (Band  IV,  1909.  Seite  87  fl'.)  zusammengefassten  Restitutions- 
und Kompensationserscheinungen  nach  umschriebenen  und  ausgedehnteren 
Gehirnverletzungen.  Mag  man  nun  auch  den  experimentellen  Nachweis 
solcher  vikariierenden  Beziehungen  zwischen  verschiedenen  Teilen  des  Zentral- 

')  Vgl.  Leon  A  s  h  e  r ,  Das  Gesetz  der  spezihschen  Sinnesenergien  und 
seine  Beziehung  zur  Entwicklungslehre  in  der  Zeilschrift  für  Sinnesphysiologie, 
41  fl906)   157  fl. 

')  Vgl.  a.  a.  0.  S.  98  u.  ü. 


Der  Anpassiingscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  61 

Organs  noch  nicht  als  gegen  jeden  Zweifel  gesichert  ansehen,  gewisse  Zu- 
geständnisse machen  doch  auch  die  extremsten  Lokalisten  schon  dadurch, 
dass  sie  zwischen  absoluten  und  relativen  Rindenfeldern  unterscheiden, 
dass  sie  ferner,  je  tiefer  man  in  der  Tierreihe  herabsteigt,  um  so  mehr 
eine  Ersatzmöglichkeit  durch  die  subcortikalen  Zentren  zugestehen,  und 
das?  sie  schhesslich  auch  eine  teilweise  ontogenetische  Vervollkommnung 
und  feinere  Ausbildung  der  Lokalisationsbeziehungen  anerkennen ;  denn 
damit  die  spezifische  Gehirnsphäre  überhaupt  die  entsprechenden  Em- 
pfindungsmodalitäten anklingen  lassen  kann,  ist  es  in  jedem  Fall  nötig, 
dass  das  zugehörige  Organ  schon  einige  Zeit  funktioniert  hat.  Wie  könnten 
sonst  bei  Blind-  oder  Taubgeborenen  die  betreffenden  Empfindungsmodali- 
täten ganz  ausfallen,  obgleich  die  zentralen  Leitungen  bei  ihnen  ursprüng- 
lich intakt  sein  können !  Wie  könnten  sonst  bei  frühzeitigem  und  dauerndem 
Ausfall  der  peripherischen  Funktion  die  in  nächster  Beziehung  dazu 
stehenden  Partien  des  Zentralorgans  verkümmern  !  So  erscheint  es  schon 
aus  den  Beobachtungen  am  Menschen  und  an  höheren  Tieren  ganz  un- 
möglich, die  spezifischen  Sinnesenergien  allein  auf  der  Gehirnlokalisation 
beruhen  zu  lassen  und  sie  nicht  auch  mit  der  funktionellen  und  struktu- 
rellen Verschiedenheit  der  äusseren  Sinnesorgane,  über  die  wir  viel  besseren 
Bescheid  wissen,  in  engsten  Zusammenhang  zu  bringen.  Erst  recht  aber 
wird  diese  einseitige  Zurückführung  auf  die  zentrale  Lokalisation  unmög- 
lich angesichts  der  Verhältnisse  bei  den  niederen  Tieren,  bei  denen  wir  ja 
schon  vor  der  Ausbildung  eines  nervösen  Zentralorgans,  z.  B.  schon  bei 
den  sogenannten  Reflexrepubliken,  wie  Uexküll  deshalb  seine  Seeigel 
nennt,  und  noch  weiter  in  der  Reihe  herab,  spezifische  Sinnesorgane  und 
spezifische  Empfindungsmodalitäten  zu  konstatieren  haben.  Bei  den  Rippen- 
quallen z.  B.  finden  wir  den  sogenannten  Sinneskörper,  ein  statisches  Organ, 
selbst  noch  ohne  besondere  nervöse  Leitungsbahnen,  nur  durch  die  Er- 
regungsfortpflanzung von  Zelle  zu  Zelle  in  der  Flimmerrinne  funktions- 
fähig, und  wenn  wir  schliesslich  selbst  bei  den  Protozoen  schon  den  be- 
scheidensten Anfängen  spezifischer  Sinnesorganisation  begegnen,  so  begreift 
sich  gegenüber  allen  extremen  Lokalisationsthcorien  die  Mahnung  des 
Protozoen-Forschers  J  e  n  n  i  n  g  s : 

„Es  ist  zweifelhaft,  ob  das  Nervensystem  überhaupt  als  der  aus- 
schliessliche Sitz  von  irgend  etwas  angesehen  werden  darf;  seine 
Eigenschaften  sind  nur  Steigerungen  der  aUgemeinen  Eigenschaft  des 
Protoplasmas". 

Jedenfalls  wäre  das  Problem  der  spezifischen  Sinnesenergien  auf  keinen 
Fall  damit  einer  wirklichen  Lösung  wesentlich  nähergebracht,  dass  man 
irgend  einen  Sitz  der  Energien  nachweisen  würde,  mag  er  nun  in  der  Peri- 
pherie, dem  Zentrum,  in  den  Leitungsbahnen  oder  allenthalben  liegen, 
sondern  das  Grundproblem  bliebe  dann  immer  noch  das  gleiche:  wie  näm- 


62  Max  Ettlinger. 

lieh  die  Sinnesenergien  zu  diesem  Sitz  gekommen  seien; 
anders  und  besser  ausgedrückt,  wie  sich  die  Festigung  der  spezifischen 
Funktionen,  die  offenbar  in  der  Organismenreihe  eine  fortschreitende  ist, 
von  Stufe  zu  Stufe  vollzogen  hat. 

Diese  Frage  nun  kann  unmöglich  einer  Lösung  näher  gebracht  werden, 
wenn  man  nicht  aus  den  Ergebnissen  der  Tierpsychologie  im  engeren  und 
eigentlichen  Sinne,  also  aus  der  Lehre  von  den  Bewusstseinsvorgängen  bei 
den  Tieren,  zu  lernen  sucht,  was  in  dieser  Beziehung  nur  irgend  in  Er- 
fahrung gebracht  oder  mit  hinreichender  Wahrscheinlichkeit  erschlossen 
werden  kann.  So  wenig  jemals  die  Lehre  von  den  spezifischen  Gehirn- 
lokalisationen  überhaupt  hätte  erdacht  und  ausgebildet  werden  können, 
wenn  wir  nicht  aus  unmittelbarer  Selbstbeobachtung  über  die  verschiedenen 
Modalitäten  der  Sinnesempfindung  Bescheid  wüssten,  ebensowenig  ist  der 
Entwurf  einer  psychophysischen  Entwicklungsreihe  auch  nur  in  den  rohesten 
umrissen  möglich,  wenn  wir  nicht  die  Ireihch  nur  indirekt  erschliessbaren 
Bewusstseinszustände  und  Bewusstseinsdifferenzen  der  einzelnen  Tier- 
arten nach  bester  Möglichkeit  als  Aufschlussmittel  verwerten. 

Dass  wir  dabei  auf  Analogieschlüsse  angewiesen  sind,  ist  selbstverständ- 
lich und  kein  gar  so  grosses  Unglück,  als  es  von  manchen  Skeptikern 
gegen  alle  Tierpsychologie  dargestellt  wird.  Auf  den  gleichen  Analogie- 
schluss  sind  wir  ja  auch  im  Grunde  bei  allen  Bewusstseinsvorgängen  jedes 
Nebenmenschen  angewiesen,  ohne  uns  hierdurch  den  Aufbau  einer  ver- 
gleichenden, differenziellen  und  schliesslich  genetischen  Psychologie  irgend 
verwehren  und  versperren  zu  lassen.  Und  in  der  Tierpsychologie  haben 
wir  sogar  noch  den  Vorteil,  es  sicherlich  stets  mit  einfacheren  Bewusstseins- 
zuständen  zu  tun  zu  haben,  auf  die  wir  eher  von  uns  aus  Rückschlüsse 
machen  dürfen,  als  wenn  wir  es  mit  höheren  Daseinsformen  zu  tun  hätten. 
Wir  müssen  uns  nur  stets  ganz  besonders  derjenigen  Erfahrungen  und 
Beobachtungen  erinnern,  die  wir  gerade  mit  herabgesetzten  und  einfacheren 
Bewüsstseinszuständen  auch  bei  Menschen  zu  machen  in  der  Lage  sind, 
und  müssen  uns,  da  es  sich  um  Beobachtungen  des  Sinneslebens  handelt, 
ganz  vornehmlich  jener  Unterschiede  der  Ausbildungsstufen  erinnern,  die 
auch  bei  unseren  menschlichen  Sinnesmodahtäten  gegeben  sind  und  von 
jeher  zur  Unterscheidung  niederer  und  höherer  Sinne  Anlass 
gegeben  haben,  einer  Unterscheidung,  die  gerade  durch  Beiziehung  der  tier- 
p.sychologischen  Erkenntnisse  hinwiederum  einen  viel  besseren  und  klareren 
Sinn  bewirkt. 

Wenn  wir  einmal  ganz  allgemein  unsere  sogenannten  niederen  Sinne, 
also  die  Modalitäten  des  Hautsinnes,  ferner  Geruch  und  Geschmack,  mit 
den  höheren  Sinnen,  nämlich  Gesicht  und  Gehör,  vergleichen,  so  fällt  vor 
allem  zweierlei  in  die  Augen  : 

L    dass    die   höheren   Sinne    unvergleichlich   reicher   an  Qualitätsunter- 
schieden und  Kombinationsmöglichkeiten  sind. 


-M 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  63 

2.  dass  die  niederen  Sinne  in  viel  engerer  und  mittelbarer  Beziehung 
stehen  zu  dem,  was  man  am  besten  als  sinnliche  Gefühle  zu  be- 
zeichnen pflegt :  zu  Schmerz  und  Wollust. 

Bei  Geschmacks-  oder  Temperaturempfindung  z.  B.  treten  gewöhnHch 
die  genaueren  Qualitäten  weitaus  zurück  hinter  den  sogenannten  Gefühls- 
betonungen. Wir  unterscheiden  die  verschiedenen  Geschmacks-  und  Geruchs- 
nuancen  vorwiegend  als  angenehm  oder  unangenehm  und  haben  dafür  nicht 
eigene  sprachliche  Bezeichnungen,  wie  für  die  verschiedenen  Töne  oder  die 
verschiedenen  Farben.  Am  allermeisten  treten  die  sogenannten  Gefnhls- 
betonungen  vielleicht  hervor  beim  statischen  Sinn,  bei  dem  die  Bewusstseins- 
qualitäten  am  allerwenigsten  ausgebildet  sind,  und  dessen  wir  überhaupt 
nur  durch  den  Beitrag  gewahr  werden,  den  er  dem  sogenannten  Gemein- 
gefühl  des  Gesamtkörpers  zubringt.  Eine  gesonderte  Empfindungsqualität 
eignet  ihm  eigentlich  nur  bei  intensiven  Störungen,  in  der  Empfindung 
des  Schwindligwerdens,  und  auch  hier  bei  vorwiegender  unlustvoller 
Gefühlsbetonung. 

Auch  bei  den  höheren  Sinnen  ist  es,  wie  schon  früher  erwähnt,  mög- 
lich, sie  bis  zu  jener  Grenze  zu  bringen,  wo  die  besonderen  Qualitäten 
ganz  zurücktreten  und  schliesslich  in  der  Schmerzempfindung  verschwinden. 

Wenn  es  also  nach  Aussage  unseres  Bewusstseins  nicht  möglich  ist, 
die  einzelnen  Sinnesmodalitäten  und  -qualitäten  in  unmerklichen  Ueber- 
gängen  ineinander  überzuführen,  so  kann  doch  jede  von  ihnen  mehr  oder 
minder  zurücktreten,  und  sie  alle  haben  das  Schicksal  gemeinsam,  sich  in 
einer  eigenen,  nicht  mehr  spezifisch  bestimmten  Modalität  der  Schmerz- 
und  Wollustdimension  auflösen  zu  können. 

Diesem  unmittelbaren  Befund  der  Bewusstseinsanalyse  entspricht  nun 
in  grossen  Zügen  das,  was  uns  alle  funktionellen  und  strukturellen 
Analogieschlüsse  über  das  bewusste  Sinnesleben  der  Tiere  wahrschein- 
Uch  machen.  Bei  den  höchsten  Wirbeltieren  ist  es  durchaus  wahrscheinlich, 
dass  sie  alle  Empfindungsqualitäten  mit  uns  teilen,  auch  die  der  höheren 
Sinne.  Bei  ihnen  ist  der  Farbensinn  gegen  jeden  Zweifel  sichergestellt  und 
ebenso  die  Unterscheidungsfähigkeit  der  Tonhöhe.  Georg  Fr.  Nicolai  hat 
ja  mittels  der  Pawlowschen  Speichelreflexmethode  bei  Hunden  sogar  ein 
absolutes' Gehör  nachgewiesen  \).  Allerdings  ist  auch  bei  den  höheren  Tieren 
schon  das  eine  auffällig,  dass  ihre  höheren  Sinne  erst  viel  später  funktions- 
fähig werden  als  die  niederen.  Und  bei  pathologisch  reduzierten  Verhältnissen, 
wie  den  grosshirnlosen  Hunden  von  Goltz  oder  Sherrington,  bleibt  nur 
noch  die  Reaktion  auf  die  niederen  Klassen  der  Sinnesreize  unzweifelhaft ; 
wo  das  Tier  auf  Töne  zu  reagieren  scheint,  ist  die  Reaktion  auf  blossen 
Vibrationsreiz    nicht    ausgeschlossen.     Wenn   wir    in    der   Tierreihe  weiter 


*)  Vgl.  G.  F.  Nicolai,  Die  physiologische  Methodik  zur  Erforschung  der 
Tierpsyche  usw.,  im  Journal  für  Psychologie  und  Neurologie  X  (1907'>. 


Ct\  Max  Ettlinger. 

herabsteigen,  finden  wir  gerade  die  höheren  Sinne  verhältnismässig  bald 
auf  einfachere  Dimensionen  reduziert.  Der  Gesichtssinn  reduziert  sich  schon 
bei  vielen  Wirbeltieren  und  fast  bei  allen  Wirbellosen  auf  Hell-Dunkel-  und 
auf  Umrissunterscheidung. 

Bei  den  niederen  Tieren  schwindet  auch  bald,  rein  strukturell  be- 
trachtet, die  komplizierte  Zusammensetzung  des  Gehörs-  und  Gesichtsorgans, 
und  selbst  da,  wo  das  Auge  aussergewöhnlich  hoch  ausgebildet  ist,  wie  bei 
gewissen  Tintenfischen,  stammt  die  Retina  doch  nicht,  wie  bei  Wirbel- 
tieren, aus  einer  Ausbuchtung  der  Gehirnrinde.  Das  Auge  der  W^irbellosen 
kann  vielmehr  ausnahmslos  aus  dem  Hautsinn  allein  abgeleitet  werden. 
Beim  Auge  und  Ohr  der  Wirbeltiere  dagegen  handelt  es  sich  um  ein  Zu- 
sammentreten verschiedenartiger  Bestandteile,  die  ursprüngHch  auch  ver- 
schiedenen Funktionen  gedient  haben,  und  dann  erst  im  Verlaut  der 
Stammesgeschichte  zu  einer  einheitlichen  Funktion  zusammengetreten  sind, 
sodass  sich  hier  die  Auffassung  der  höheren  Sinnesmodalitäten 
als  Verschmelzungsprodukt  von  niederen  nahelegt,  wie  das  auch 
ohnehin  in  den  rein  psychologisch  fundierten  Farben-  und  Tontheorien  schon 
zum  Ausdruck  gekommen  ist. 

Da.ss  auch  bei  solcher  Auffassung  die  Entwicklungsmöglichkeit  noch 
rätselhaft  genug  bleibt,  soll  selbstverständlich  nicht  im  geringsten  in  Abrede 
gestellt  werden.  Ein  plötzliches,  mutationsartiges  Auftreten  der  neuen 
Empfindungsmodalitäten,  die  Annahme  einer  phylogenetischen 
Farbenschwelle  und  Tonschwelle  bleibt  unerlässlich,  wie  wir  denn 
überhaupt  eines  solchen  nur  teleologisch  begreiflichen  Schwellenbegriffes  *) 
bei  keiner  Art  von  Sinnesentwicklung  entbehren  können,  mögen  wir  nun 
auch  annehmen,  dass  sich  der  Funktionswechsel  noch  so  allmählich  voll- 
zogen hat,  dass  insbesondere  der  ausschliessliche  Gebrauch  für  die  neue 
Funktion  erst  stufenweise  mit  dem  beständig  wachsenden  Ausschluss  der  nun 
inadäquat  gewordenen  Reizklassen  und  der  beständig  besseren,  positiven, 
selektiven  Regelung  für  die  adäquate  Reizzufuhr  Hand  in  Hand  gegangen  ist. 

Wie  nun  auch  bei  den  niederen  Sinnen  ein  allmähliches  Zurücktreten 
der  Empfindungsqualitäten  in  der  absteigenden  Entwicklungsreihe  sich  zeigt 
und  auch  hier  die  Annahme  bestimmter  phylogenetischer  Modalitäts- 
schwellen unerlässlich  bleibt,  das  auch  nur  mit  einigen  hypothetischen 
Andeutungen  klarzustellen,  erscheint  bei  unserem  noch  so  lückenhaften 
Wissensstand  als  allzu  gewagt.  Es  mag  daher  der  Hinweis  genügen,  dass 
gerade  ein  so  spezieller  Kenner  dieser  Verhältnisse  wie  Nagel  in  seinen 
„Vergleichenden   Untersuchungen    über   Geruch-  und  Geschmacksinn"  sich 


*)  Die  teleologisc})e  Bedeutung  auch  schon  der  gewöhnlichen  psycho- 
physischen  Reizschwelle  hat  bereits  U  exküll  (Umwelt  und  Innenwelt  der 
Tiere  S.  192^  betont.  Ich  gedenke  die  Teleologie  des  Schwellenbegriffs 
noch  eigens  zu  bebandeln. 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  65 

auch  bei  den  niederen  Sinnen  noch  zu  einer  weiteren  Unterscheidung  von 
primitiven   und   abgeleiteten    Sinnen   genötigt   findet,   wobei    er   den  abge- 
leiteten Sinnen  vor  allem  den  besonderen  Vorzug  des  besseren  räumlichen 
Lokalisationsvermögens  zuschreibt.    Auf  diese  Weise  ergeben  sich  ihm  aus 
einem  primitiven,  mechanischen  Sinne  die  Ableitungen :    Tastsinn,    Gleich- 
gewichtssinn   und  Gehörsinn,   und   aus    einem    ursprünglichen,    undifferen- 
zierten,   chemischen   Sinn  die  Modalitäten :    Geruch    und  Geschmack,    von 
denen   gerade   der  Geruch   bei  vielen   niederen  Tieren   sich  durch  ein  be- 
sonderes räumliches  Lokalisationsvermögen    auszeichnet,   sodass  man  hier- 
für eigene  Ausdrücke,  wie  Riechsinn  oder  topochemischer  Sinn  zu  suchen 
nötig   fand.     Gerade  für  dieses   höhere    räumliehe   Lokalisations- 
vermögen der  von  Nagel  sogenannten    abgeleiteten  Sinne,   glaube 
ich  in  meiner  Studie  über  „Die  Entwicklung  der  Raumanschauung"  bereits 
einige   vermehrte  Verständnismöglichkeit   erschlossen  zu  haben,    da   ja  die 
höhere  Ausbildung  der  Reizlokalisation  immer  mit  bestimmten  Bewegungs- 
antworten  auf  die   Reize  zusammenhängt,    Bewegungsreaktionen,    die    bei 
den  ursprünglichsten  Lebensformen  noch  in  Ortsveränderungen  des  ganzen 
Körpers  bestehen  mussten,    aber  bei   den  höher  ausgebildeten  Organismen 
sich    alsbald    auf   sogenannte   Einstellungsbewegungen    ihrer    Sinnesorgane 
reduzieren.  Damit  trifft  nun  die  allgemeine  Beobachtung  der  vergleichenden 
Psychologie  zusammen,    dass,    je  weiter  wir    im   Tierreich   herab- 
steigen,   desto    mehr    die    Anzeichen    sich    mehren,    es    eigne 
den  Sinnesreizen    auf  psychischem  Gebiet    immer   weniger 
die   Kraft,    auch   spezifische    bewusste    Sinnesqualitäten,    eigentliche 
Sinnesbilder  auszulösen;    sondern  das   psychische  Korrelat  besteht 
immer  ausschliesslicher  nur  in  qualitativ  unbestimmbaren  Trieben,  in  irgend- 
welchem nur  etwa  kinästhetisch  noch  etwas  differenzierterem  innerem  Be- 
wegungsdrang.   Ein  solcher  Bewegungsdrang  ist  auch  unserer  menschlichen 
Sinneserfahrung    gerade  bei   unserem  primitivsten  Sinn  keineswegs  fremd, 
sondern  z.  B.  bei  den  Störungen  des  Gleichgewichts  in  dem  starken  Drang 
zur  Kompensationsbewegung  sehr  fühlbar.   Diese  kinästhetischen  Bewegungs- 
triebe  teilen   mit   jener  sinnlichen  Gefühlsmodalität,   die  wir  als  die  letzte 
und  allgemeinste  erkannten,  mit  der  Schmerz-Wollustdimension,  die  Eigen- 
schaft,  nur   eben  diese  eine  Dimension    zu  haben.     Alle  unsere  ursprüng- 
hchen  Bewegungstriebe  teilen  mit  den  Bewegungen  der  primitivsten  Lebe- 
wesen der  Protozoen  das  allgemeine  Charakteristikum,   dass   sie   entweder 
reizverstärkend   oder  reizmindernd    sind,    und  zwar    ist    diese  Bewegungs- 
richtung   offenbar    bestimmt    durch   jene    letzte   Gefühlsdifferenz    zwischen 
Schmerz  und  Wollust,  über  welche  hinaus  keine  weitere  Vereinheitlichung 
und    keine  weitere    genetische   Ableitung   mehr    möglich   ist.     Es  ist  auch 
unmöglich,  für  die  Tatsache,  dass  bei  allen  Stufen  der  Organismenwelt,  und 
gerade  bei  den  niedrigsten,  unter  normalen  Bedingungen  auf  lebensnützliche 
Reize  im  allgemeinen  mit  lustmehrenden,   positiven  Hinzubewegungen,  auf 

Philoiophischee  Jahrbuch  1013.  & 


66  Max  Ettlinger. 

lebensschädliche  Heize  aber  mit  schmerzabwendenden,  negativen  Hinweg- 
bewegungen reagiert  wird,  noch  eine  weitere  genetische  Gesamterklärung 
zu  geben.  Auch  hier  stehen  wir  wieder  vor  einer  letzten  Gesetzmässig- 
keit allen  organischen  Lebens,  die  sich  nicht  erst  allmählich  ent- 
wickelt haben  kann;  und  müssen  abermals  auf  jene  vitalistische  Grund- 
gesetzlichkeit zurückkommen,  die  Johannes  Müller  tür  die  spezifischen 
Sinnesenergien  zu  früh  in  ausschliessliche  Rechnung  gesetzt  hat. 

Freilich  ist  mit  diesen  Darlegungen  die  Entwicklung  der  spezifischen 
Sinnesenergien  erst  zu  einem  geringen  Grad  aufgehellt,  und  das  meiste 
bleibt  noch  zu  tun.  Auch  Wundt  vermag  von  hier  aus  nur  noch  einen 
kleinen  Schritt  weiter  vorwärts  zu  dringen,  indem  er  speziell  für  die 
Entstehung  des  Sehorgans  sein  sogenanntes  Prinzip  der  Farben- 
photo g  r  a  p  h  i  e  ')  entwirft,  nach  welchem  die  photochemische  Wirkung 
des  Lichtes  auf  gewisse  organische  Substanzen  die  Eigenschaft  zu  haben 
scheint,  sie  unmittelbar  durch  entsprechend  gerichtete  Zersetzungsprozesse 
zur  Produktion  eben  jenes  Farbstoffes  zu  veranlassen,  welcher  der 
QuaUtät  des  einwirkenden  Lichtes  entspricht.  In  der  Tat  gibt  es  Fälle 
ontogenetischer  Farbanpassung,  am  bekanntesten  beim  Chamäleon  2),  bei 
Schmetterhngsgruppen  und  Raupen,  und  am  besten  untersucht  von  Gamble 
und  Keeble  und  neuerdings  von  Romuald  Minkiewicz  bei  je  nach  ihrer 
Umgebung  farbwechselnden  Krebsarten  (Hippolyte  varians  bzw.  Maja),  wo 
man  diesen  Farbwechsel  mit  dem  Gesichtssinn  und  den  dauernd  auf  ihn 
einwirkenden  Farbreizen  in  gewisse  gesetzmässige  Beziehungen  bringen  kann. 
Gerade  Minkiewicz  betont,  dass  bei  den  sich  in  verschiedene  Farben  mas- 
kierenden Krebsen  (Maja)  eine  bestimmte  Art  andauernder  „chromotropischer 
Stimmung",  gewissermassen  ein  physiologisches  Gedächtnis  an  ihr  früheres 
farbiges  Milieu,  lange  über  dessen  unmittelbaren  Einfluss  hinaus  erworben 
wird,  und  bringt  die  Fortdauer  dieser  Chromotropie  mit  einer  korrelativen 
Lagerung  des  Augenpigments  in  noch  näher  aufzuklärenden,  aber  sicher 
bestehenden  Zusammenhang  '^j. 

An  diese  Verhältnisse  beim  optischen  Organ  erinnern  Zusammen- 
hänge bei  anderen  Sinnesorganen,  die  wir  allerdings  erst  in 
empirischen  Regeln  aussprechen  können;  so  darf  man  z.  B.  von  vornherein 
Gehörorgane  gerade  bei  "solchen  Tieren  vermuten,  die  auch  selbst  Töne 
hervorbringen;    ein    ausgebildeteres   Geruchsvermögen    bei  solchen  Tieren, 

')  Grundzüge  der  physiol.  Psychologie  1  C'  1908)  518  f. 

')  Hierüber  schon  Ernst  Krücke  1851  und  1852;  Neudruck  in  Oslwalds 
Klassiker  der  Naturwissenschaft  Nr.  43. 

')  Vgl.  R.  Minkiewicz,  Versuch  einer  Analyse  des  Instinktes  in  den 
Zoologischen  Jahrbücliern,  Abteilung  für  Systematik.  28  (1910)  155  fT.  —  Auch 
E.  D  e  g  n  e  r,  Leber  Bau  und  Funktion  der  Krusterchromatophoren  in  der  Zeit- 
schrift für  wi?;senschaflliche  Zoologie,  102  (1912)  1  ff.  betont,  dass  „alle  bis- 
ht-rigen  Korschiuigen  die  wichtige  Rolle  der  Augen  dargetan  haben". 


Der  Anpassungscharakter  der  spezifischen  Sinnesenergien.  67 

deren  Haut  Riechstoffe  ausscheidet  u.  dgl.  m.  ^)  Ob  es  aber  möghch  ist 
unter  Benutzung  dieser  heuristischen  Anhaltspunkte  zu  einer  weiteren  gene- 
tischen Aufklärung  der  niederen  oder  gar  der  höheren  Empfindungsenergien 
zu  gelangen,  das  muss  hier,  wie  noch  vieles  andere,  dahingestellt  bleiben. 
Jedenfalls  aber  sind  hinsichtlich  der  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnes- 
energien durch  Berücksichtigung  der  tierpsychologischen  Tatbestände  ältere 
Probleme  der  Lösung  nähergebracht  und  ganz  neue  Probleme  aufgerollt 
worden,  an  denen  man  nicht  deshalb,  weil  sie  grosse  Schwierigkeiten  be- 
reiten, vorübergehen  darf,  sondern  die  angefasst  und  besserer  Lösung 
nähergebracht  sein  wollen. 

Mag  sich  nun  aber  die  Umbildung  der  Müllerschen  Lehre  im  einzelnen 
gestalten,  wie  immer,  und  die  Wundtsche  Fassung  der  Anpassungstheorie  mehr 
oder  minder  modifizieren,  eine  wichtige  Folgerung  philosophischen 
Inhalts  scheint  sich  aus  solchem  Umbau  dieser  wichtigen,  psychophysischen 
I.  ehre  auf  alle  Fälle  zu  ergeben  :  Sie  verliert  damit  ihren  im  erkenntnis- 
theoretischen Sinne  subjektivistischen  Charakter,  welchen  schon  Du  B o i  s- 
Reymond  erkannte,  als  er  in  seiner  Gedächtnisrede  auf  Johannes  Müller 
dessen  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien  als  eine  physiologische 
Entsprechung  zu  Fichtes  subjektivem  Idealismus  bezeichnete.  Demgegenüber 
hat  gerade  die  Anpassungstheorie  zur  Voraussetzung  die  Anerkenntnis  einer 
realen  Aussenwelt  mit  realen  Qualitäten.  Sie  bedeutet,  wie  schon  Joseph 
Geyser  in  seinem  Lehrbuch  der  Psychologie  neuestens  andeutete,  eine 
Rehabilitation  aristotelischer  Grundansichten. 

Ueber  diese  erkenntnistheoretischen  Folgerungen  aus  dem  Anpassungs- 
charakter der  spezifischen  Sinnesehergien  werde  ich  mich  demnächst  an 
anderer  Stelle  eigens  des  näheren  aussprechen.  Hier  genügt  es,  zum 
Schlüsse  zu  betonen,  dass  die  fortschreitende  Ausbildung  und  Anpassung 
der  spezifischen  Sinnesenergien  nicht  als  eine  wachsende  Subjektivierung, 
sondern  im  Gegenteil  als  eine  fortschreitende  Entsubjektivierung  des  sinnlichen 
Weltbildes  sich  darstellt.  Je  höher  und  spezieller  wir  die  Sinnesorgane 
und  ihre  Funktionen  entwickelt  finden,  desto  weniger  dienen  sie  nur  erst 
zur  Weckung  von  Schmerz  und  Wollust,  die  auch  den  Wurm  bewegen ; 
desto  tauglichere  Werkzeuge  werden  sie,  um  schhesshch  in  den  Dienst 
und  unter  die  Kontrolle  jener  höheren,  geistigen  Erkenntniskräfte  zu  treten, 
die  dem  Menschen  allein  vom  Urheber  und  Lenker  aller  Entwicklung  vor- 
behalten worden  sind. 


*)  Beispiele  siehe  etwa  bei  Maas  und  Renner,  Einführung  in  die  Biologie, 
München  1912,  S.  320  und  334  f. 


Die  Seele  als  toruigestalteiide  Macht. 

Von  Dr.  Ottmar  Rutz  in  München. 


I.    Einleitung. 

Die  neue  Methode  zur  Erkenntnis  der  Gemütssphäre  und  ihrer  Vor- 
gänge nahm  ihren  Ausgangspunkt  von  den  Entdeckungen,  die  der  Vater 
des  Verfassers,  Josef  Rutz,  bei  Gesangstudien  machte :  er  bemerkte 
nach  vielen  Versuchen,  dass  sich  bei  der  Wiedergabe  von  Gesangs- 
werken, wenn  der  Sänger  sich  so  recht  in  den  Gefühlsgehalt  des  be- 
ireffenden Werkes  seelisch  versenkt,  die  ganze  Haltung  des  Körpers,  die 
„Einstellung"  gewisser  grosser  Körpermuskeln  ändere.  Es  geschah  das 
aber  nur  bei  solchen  Werken,  die  dem  Sänger  vor  dieser  Aenderung 
der  Körperhaltung,  wie  der  Sänger  zu  sagen  pflegt,  nicht  recht  „lagen", 
also  grosse  Schwierigkeiten  bei  der  Wiedergabe  bereiteten  und  sozu- 
sagen einen  inneren  Widerstand  entgegensetzten.  Bei 
anderen  Werken  war  ohne  weiteres  —  also  ohne  die  Umstellung  der 
Körpermuskeln  —  eine  vollbefriedigende  Wiedergabe  möglich.  Lediglich 
im  Wege  praktischer  Beobachtung  gelang  es  dann  Josef  Rutz,  eine  ganze 
grosse  Zahl  von  Arten  der  Körperhaltung  festzustellen,  deren  Annahme 
allein  jeweils  die  ausdrucksvollste  und  am  wenigsten  anstrengende  Wieder- 
gabe dem  Sänger  ermöglichte.  Als  Erklärung  für  diese  auffällige  Tat- 
sache führte  er  bereits  die  Gemütsart  (das  Temperament)  des  Tondichters 
an :  die  besondere,  in  dem  wiederzugebenden  Werk  ausgedrückte  Gemüts- 
art mache  die  Wiedergabe  in  einer  ganz  bestimmten  Körpereinstellung 
und  dem  davon  abhängigen  Stimmklang  nötig.  Sein  Hauptziel  bildete  die 
Verbesserung  der  praktischen  Wiedergabe  der  Tonwerke.  Nach  seinem 
vorzeitigen  Tode  war  es  seiner  Mitarbeiterin  und  Frau,  Klara  Rutz,  zu 
verdanken,  dass  die  mühsam  in  fast  80  Jahren  festgestellten  Körper- 
einstellungen und  die  Anweisungen  zu  ihrer  praktischen  Annahme  nicht 
verloren  gingen.  Von  ihr  hat  der  Verfasser  sie  erfahren  und  wurde  er  in 
ihrer  praktischen  Anv/eisung  unterrichtet.  Nach  Jahren  der  praktischen 
Arbeit  zusammen  mit  Frau  Klara  Rutz,  nach  eingehenden  Studien  des 
Verfassers,  insbesondere  auf  anatomischem,  physiologischem  und  psycho- 
logischem Gebiete,  und  weiteren  neuen  Feststellungen  sind  die  Haupt- 
ergebnisse der  Forsdiunji  nun  folgende. 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  69 

II.    Seele  und  Nerven. 

Nach  der  herrschenden  Meinung  sind  alle  wichtigen  seelischen  Funk- 
tionen an  einen  Teil  des  Gehirnes,  die  Grossgehirnrinde,  gebunden.  Dort 
ist  der  Sitz  der  Verstandes-,  wie  der  Gemütssphäre.  Alle  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen, vor  allem  aber  alles  seelische  Fiihlen  und  Denken,  ist  von 
der  Unversehrtheit  des  Gehirns  und  namentlich  des  Grossgehirns  abhängig. 
Wenn  wir  fühlen  oder  denken,  werden  bestimmte  Teile  des  Gehirns  in 
Erregung  versetzt.  Alle  Erregungen  unserer  Gemütssphäre  führen  auch  zu 
Erregungen  des  Gehirns.  Ueber  das  Gehirn  hinaus  werden  aber  —  wie 
man  schon  bisher  wusste  —  die  vom  Gehirn  zu  den  anderen  Teilen  des 
Körpers  führenden  Nerven  erregt.  Das  sind  einerseits  Nerven,  die  vom 
Gehirn  direkt  zu  den  Organen  des  Körpers  führen :  sogenannte  Gehirn- 
nerven, andererseits  Nerven,  die  erst  unter  Vermittelung  des  Rücken- 
marks die  Organe  des  Körpers  versorgen :  Rückenmarksnerven.  Die 
Gehirnnerven  versorgen  vor  allem :  Augen,  Ohren,  Nase,  Mund  und  Zunge, 
Gesichtsmuskeln,  Kehle,  Lunge  mit  Herz,  Luftröhre  und  Bronchien,  ferner 
Herz,  Herzbeutel  und  Blutgefässe.  Diesen  Organen  stehen  andere  Organe 
und  zwar  vor  allem  die  grössten  Rumpfmuskeln  gegenüber,  welche  samt 
und  sonders  durch  Rückenmarksnerven  versorgt  werden. 

Bisher  hat  man  besonders  beachtet,  dass  die  von  Gehirnnerven  ver- 
sorgten Organe  bei  Gemütserregungen  auffällige  Veränderungen  zeigen : 
die  Gesichtsmuskeln  werden  bei  Trauer  oder  Freude  und  anderen  Gefühlen 
in  bestimmter  eigenartiger  Weise  zusammengezogen  oder  gespannt.  Phy- 
siognomiker und  Bühnenkünstler  haben  schon  bisher  alle  diese  Gebärden 
studiert.  Die  Psychologie  hat  namentlich  in  neuer  Zeit,  abgesehen  von 
den  „Ausdrucksbewegungen"  des  Gesichtes,  die  Veränderungen  im  Blut- 
unilauf  und  in  der  Atmung  beachtet,  die  bei  den  verschiedenen  Gefühls- 
erregungen vor  sich  gehen. 

Alles  dies  wurde  schon  bisher  unter  den  gemeinsamen  Begriff  des 
Gemütsausdruckes,  der  Ausdrucksbewegungen,  gebracht.  Nach  den 
neuen  Forschungen,  deren  Ergebnisse  hier  in  Kürze  dargestellt  werden 
sollen,  ist  der  Bereich  des  Gemütsa.usdruckes  ein  weitaus  grösserer. 
War  man  schon  bisher  der  Ansicht,  dass  fast  jedes  seehsche  Erlebnis  eine 
intellektuelle  und  zugleich  eine  sensuelle  (gemütliche)  Seite  habe,  so  werden 
wir  an  einer  Reihe  von  Tatsachen  nachweisen,  dass  die  Erregungen  der 
Gemütssphäre  im  Menschen  zeitlich  viel  länger  dauern,  als  man  bisher 
wusste,  und  dass  sie  entsprechend  ihrer  Dauernatur  zu  dauernder  Nerven- 
erregung fuhren.  Erregt  werden  aber  durch  die  seelischen  Vorgänge 
nicht  bloss  Gehirnnerven,  sondern  vor  allem  die  Rückenmarksnerven, 
die  die  grossen  Körpermuskeln  versorgen.  Zum  grössten  Teil  bilden  diese 
Muskeln  die  Wand  des  Leibes,  zum  Teil  ziehen  sie,  Zwerchfell  genannt, 
quer  durch  den  Körper,  wodurch  die  Brusthöhle  mit  Lunge  und  Herz  von 
der  Unterleibshöhle  räumlich    getrennt  wird.     Der    Inhalt    der    Brust-    und 


70  Ottmar  Rutz. 

Bauchhhöhle  ist  im  allgemeinen  weich  und  nachgiebig  und  muss  sich  den 
Formen,  welche  die  Muskeln,  je  nach  ihrer  Anheftung  an  das  Skelett,  den 
Leibeswänden  geben,  in  jeder  Weise  anpassen. 

III.    Hauptarten   (Typen)   der   Seelen-  und   Nervenerregung. 

So  kommt  es,  dass  die  infolge  Gemütserregung  herbeigeführte  nervöse 
Erregung  der  von  Rückenmarksnerven  versorgten  grossen  Körpermuskeln 
die  Körperformen  in  gewissen  Beziehungen  gestaltet.  Das  geschieht  in 
ganz  eigenartiger  Weise.  Die  verschiedenen  Arten  der  Gemütserregung, 
die  man  schon  bisher  zum  Teil  rein  erfahrungsmässig  beobachtet  hatte  — 
es  sei  an  die  alte  Temperamentlehre  erinnert  -  haben  genau  zugehörige 
(adäquate)  Erregungsarten  der  Nerven.  Je  nach  dieser  nervösen  Erregungs- 
art werden  stets  andere  Muskelpartien  in  Erregung  versetzt  und  dem 
betrachtenden  Auge  andere  Foi-men  des  Körpers  sichtbar.  Eine  Hauptart 
der  Gemütserregung  —  es  ist  das  ungefähr  diejenige,  welche  mit  der  des 
sanguinischen  Temperaments  zusammenfallen  dürfte  —  führt  zur 
Erregung  von  Rückenmarksnerven,  die  zu  oberst  vom  Rückenmark  nach 
den  Muskeln,  die  sie  versorgen,  abzweigen.  Es  sind  das  die  sogenannten 
Halsnerven,  und  zwar  unter  ihnen  besonders  derjenige  Nervenzweig, 
welcher  die  Zwerchfellteile  versorgt.  Das  Zwerchfell  zerfällt  in  mehrere 
Teile  :  einen  Lenden-,  Rippen-  und  Brustteil,  und  jeder  dieser  Teile  wird 
von  ganz  besonderen  Nervenzweigen  versorgt,  die  unabhängig  von  einander 
in  Erregung  geraten  können.  Bei  allen  Menschen,  welche  das  sanguinische 
Temperament  oder  -  wie  die  neue  Lehre  zu  sagen  pflegt  ~  heisse  und 
zugleich  milde  Gemütserregungen  besitzen,  gewahrt  der  Betrachtende, 
dass  sie  ihren  Unterleib  ständig  vorgewölbt  halten.  Diese  ständige  Vor- 
wölbung des  Unterleibe?  ist  nur  dadurch  erklärbar,  dass  diese  Personen 
das  ganze  Zwerchfell  oder  Teile  desselben  dauernd  zusammengezogen 
halten.  Prinzipiell  muss  nämlich  eine  Zusammenziehung  des  Zwerchfells 
zur  Vorwölbung  des  Unterleibs  führen.  Denn  das  Zwerchfell  ist  derart 
zwischen  Lunge  und  Leibesinhalt  eingelagert  und  derart  in  abgespanntem 
Zustande  nach  oben  ausgewölbt,  dass  eine  Zusammenziehung,  auch  nur 
von  Teilen,  eine  Verminderung  der  Auswölbung  und  damit  eine  Ver- 
minderung des  Rauminhaltes  der  Bauchhöhle  nach  oben  zu  bewirkt.  Bei 
dauernder  Zusammenziehung  schiebt  die  infolgedessen  herabgestiegene 
Doppelkuppel  des  Zwerchfells  den  Inhalt  des  Unterleibs  notwendig  nach 
vorne. 

Die  Art  der  Gemütserregung,  das  heisse  und  weiche  Fühlen,  die  zur 
Dauererregung  des  Zwerchfells  führt,  wird  von  der  neuen  Lehre  aus 
praktischen  Gründen  in  Kürze  als  Typus  I  bezeichnet. 

Man  kann  darum  in  Kürze  vom  Typus  I  der  Gemütserregung,  wie 
auch  vom  Typus  I  der  Körperform  oder  Körperhaltung  sprechen.  Diesen 
Typus  der  Körperform :  ständige  Vorwölbung  des  Unterleibes,  unter  gleich- 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  71 

zeitiger  schwacher  Hebung  der  Brust,  verbunden  mit  einer  gewissen  Ge- 
drungenheit der  ganzen  Erscheinung,  erkennen  wir  häufig  an  Statuen, 
deren  Modelle  dem  italienischen  Volke  entstammen.  Wir  finden  sie 
z.  B.  bei  der  bekannten  Statue  Cäsars,  bei  Statuen  altrömischer  Kaiser. 
Wir  treffen  sie  auf  Gemälden  italienischer  Meister  dargestellt.  Man 
bemerkt  sie  in  ganz  gleicher  Weise  bei  Männern  wie  Frauen,  bei  Menschen 
höheren  oder  jüngeren  Alters.  Wir  gewahren  den  Typus  I  der  Körper- 
form z.  B.  auf  Gemälden  von  Tintoretto  (Susanna  im  Bade),  Michelangelo 
(Gefesselter  Sklave),  Giorgione  (Venus),  Masaccio  (Die  Vertreibung  aus  dem 
Paradies),  Tizian  (Venus  von  Madrid). 

Einen  scharfen  Gegensatz  hierzu  bilden  jene  Menschen,  deren  anders- 
geartete Gemütserregung  —  kühle  und  milde  Gefühlserregung  —  zur 
Dauererregung  anderer  Rückenmarksnerven,  nämlich  derjenigen  führt,  welche 
vor  allem  den  queren  Rumpfmuskel  versorgen.  Dieser  Muskel  umspannt 
ungefähr  wie  ein  Gürtel  den  Leib  in  Taillenhöhe.  Wenn  der  ihn  ver- 
sorgende Nerv  in  Dauererregung  versetzt  und  dadurch  der  Muskel  zusammen- 
gezogen wird,  so  bewirkt  er  eine  Verengerung  der  Unterleibshöhle  und 
einen  Druck  nach  oben.  Das  hat  zur  Folge,  dass  der  Brustkorb  sich  aus- 
weitet und  nach  vorne  gewölbt  wird :  Typus  II  der  Körperhaltung.  Wir 
finden  ihn  vor  allem  im  Bereich  des  deutschen  Volkes.  Die  Zahl  der 
Werke,  auf  denen  wir  ihn  dargestellt  finden,  ist  aus  ganz  bestimmten  Gründen 
—  infolge  des  Einflusses  der  meist  dem  Typus  I  angehörenden  Kunst  Italiens 
und  der  dem  Typus  III  (siehe  später)  angehörigen  griechischen  Kunst  — 
nicht  so  gross.  Menschliche  Körper,  die  deutlich  den  Typus  II  zeigen, 
finden  wir  auf  Gemälden  Memlings  (Letztes  Gericht,  Danzig),  Lukas  Cranachs 
(Quellnymphe).  Riemenschneider  hat  den  Körper  des  Typus  II  bei  Adam 
und  Eva  (Würzburger  Schloss),  der  Büssenden  Magdalena  dargestellt.  Zu- 
meist zeichnen  sich  die  Gestalten  mit  diesem  Typus  durch  eine  grössere 
Schlankheit  des  Körpers  aus. 

Eine  weitere  grosse  Gruppe  bilden  die  Angehörigen  des  Typus  III 
mit  dem  kühlen  und  starken  Fühlen.  Diese  Art  der  Gemütserregung 
bewirkt  eine  dauernde  Zusammenziehung  der  sogenannten  schiefen  Rumpf- 
muskeln in  der  Richtung  nach  abwärts,  was  im  allgemeinen  einer  starken 
Streckung  des  Körpers  und  zwar  notwendigerweise  nach  der  Anlage  der 
betreffenden  Muskeln  nach  rückwärts  oder  vorwärts  abwärts  entspricht. 
An  Statuen  und  auf  Gemälden  finden  wir  diesen  Typus  namentlich  bei 
den  alten  Griechen  und  den  Franzosen  dargestellt.  Ich  erinnere  da  an  die 
besonders  straff  und  schlank  erscheinenden  Körperfiguren  vom  Aegina- 
tempel,  an  die  Statuen  der  Polyklet  und  ihrer  Schüler.  Sogar  die  weib- 
lichen Gestalten  der  Griechen  erscheinen  gegenüber  den  italienischen  — 
wie    das    schon   von    anderer    Seite    bemerkt  wurde  ^)  —    gewissermassen 

')  Gaupp.    Die  äusseren  Formen  des  menschlichen  Körpers,    Jena  1911, 
S.  32  f. 


72  Ottmar  Rutz. 

energischer,  straffer.  Die  Zusammenziehung  der  nach  rückwärts  abwärts 
verlaufenden  schiefen  inneren  Rumpfmuskeln  macht  sich  in  einer  starken 
Abwinkelung  des  Rumpfes  bemerkbar.  Wir  sehen  diese  z.  B.  deutlich  auf 
einem  Relief  an  der  Kathedrale  zu  Bourges,  Dieses  wie  das  übrige  An- 
schauungsmaterial finden  wir  z.  B.  bei  Hausenstein,  Der  nackte  Mensch, 
in  reicher  Fülle.  Man  vergleiche  etwa  die  Maja  Goyas  mit  der  Venus  von 
Tizian  oder  Giorgione,  um  zu  erkennen,  wie  deutlich  sich  in  der  Form- 
gebung des  ganzen  Körpers  der  Unterschied  in  der  Gemütserregung  des 
Typus  111  und  des  Typus  I  ausdrückt. 

IV.    Seelenausdruck  im  ganzen  Körper. 

Der  Seelenausdruck  beschränkt  sich  also  nicht  bloss 
auf  das  Gesicht,  sondern  erstreckt  sich  auf  den  ganzen 
Körper.  Je  nach  der  Art  der  Seelenerregung  ist  die  Innervierung  des 
ganzen  Körpers  und  damit  Muskelspiel,  Form  des  Körpers,  Bewegungsart 
der  Arme  und  Beine  und  des  übrigen  Körpers,  Blutumlauf  und  Atmungs- 
tätigkeit eine  andere.  Die  Beobachtung  und  Erfahrung  des  täglichen  Lebens 
zeigt,  dass  ein  Mensch  regelmässig  sein  ganzes  Leben  hindurch  bei 
allen  seinen  Handlungen  und  in  jeder  Lebenslage  seine  typische  Inner- 
vierung und  Körperhaltung,  entsprechend  einer  einzigen  bestimmten 
Hauptart  seiner  Gemütserregung,  besitzt.  Es  sind  das  die  bisher  be- 
schriebenen drei  Hauptarten,  Typen.  Das  scheint  zunächst  vielleicht 
verwunderlich.  Es  enthält  aber  nicht  mehr  Verwunderliches,  als  die  Tat- 
sache, dass  —  wie  man  schon  bisher  nach  der  Temperamentlehre  annahm 
—  jeder  Mensch  ein  bestimmtes  Temperament  besitzt,  das  sein  ganzes 
Leben  hindurch  gleich  bleibt.  Dem  entsprechend  bleibt  ihm  auch  jene 
Innervierungsart,  die  vor  allem  die  Formgebung  seines  Körpers  bewirkt, 
sein  ganzes  Leben  hindurch  als  „Ausdruck  seines  Seelischen". 

Es  gelten  allerdings  einige  bestimmte  Ausnahmen.  Wie  man  schon 
bisher  wusste,  kann  der  Mensch  durch  seinen  bewussten  Willen,  also  ver- 
standesmässig,  den  Ausdruck  der  Freude  oder  der  Trauer  usw.  unter- 
drücken. Genau  so  kann  er  den  übrigen  körperlichen  Muskelausdruck 
seiner  allgemeinen  Gemütserregungsart  unterdrücken,  z.  B,  die  Zusammen- 
ziehung der  betreffenden  Muskeln,  wenn  nicht  unterlassen,  so  durch 
Zusammenziehung  anderer  Muskelpartien  ersetzen.  So  kann  es  auch  vor- 
kommen, dass  der  Träger  des  Typus  II  der  Haltung  (mit  zusammen- 
gezogenem querem  Rumpfmuskel)  absichtlich  und  bewusst  die  Muskel- 
einstellung des  Typus  I  annimmt.  Aus  besonderen  Zwecken,  nämlich 
z.  B.  dann,  wenn  er  in  Befolgung  einer  der  jetzt  vielfach  gelehrten  „Atem- 
melhoden"  sich  eine  ganz  besonders  tiefe  Atemversammlung  angewöhnen 
will,  wodurch  er  manchmal  auf  die  Haltung  des  Typus  I  kommt.  Das  ist 
nämlich  noch  eine  weitere  Besonderheit,  dass  jeder  Typus  der  Haltung 
auch  stets  die  Art  der  Atemversammlung  regelt.    Der  Typus  I  versammelt 


Die  Seele  als  forrntjestaltende  Kraft.  73 

die  Hauptmasse  der  eingeatmeten  Luft  tiefer  als  der  Angehörige  des 
Typus  II.  üm.gekehrt  kann  es  dann  vorkommen,  dass  der  Träger  des 
Typus  II,  der  recht  tief  zu  atmen  sich  bemüht,  die  Zusammenziehung  des 
queren  Rumpfmuskels  aufgibt. 

Eine  andere  Ausnahme  kann  sich  vielleicht  durch  irgend  eine  Arbeits- 
gewöhnung des  täglichen  Lebens  ergeben.  So  z.  B.,  wenn  der  Träger  des 
Typus  11  bei  vielem  gebücktem  Sitzen  sich  unwillkürlich  und  unbewusst 
eine  ganz  schlaffe  Haltung  angewöhnt,  die  auch  zu  einer  Erschlaffung 
speziell  des  queren  Rumpfmuskels  führt.  Bei  solchen  Personen  pflegt  dann 
eine  vollkommen  tonlose,  wie  erstorbene  Stimme  hörbar  zu  sein,  oder  sie 
wirken,  da  ihnen  jede  Tonfülle  fehlt,  mit  Pressen  und  Quetschen  auf  Kehle 
und  Stimmbänder  ein. 

Die  wichtigste  Ausnahme  ereignet  sich  dann,  wenn  jemand  aus  dem 
Grund  die  Haltung  seines  Typus  verlässt,  weil  er  die  Gemütserregungen 
eines  anderen  Menschen  mit  anderem  Typus  unbewusst  und  ungewollt 
seelisch  nachfühlt,  insbesondere  die  Gemütserregungen,  die  der  andere 
in  einem  Sprachwerk,  in  einer  Tondichtung,  oder  einem  Werk  der  bildenden 
Kunst  ausgedrückt  hat. 

V.    Musik-  und  Sprachwerke. 

Damit  kommen  wir  zu  dem  weiteren  grossen  Gebiet,  in  dem  sich  das 
SeeUsche  und  zwar  das  Gemütsleben  als  gestaltendes  Prinzip  er- 
weist. Das  Seelische  gestaltet  nicht  bloss  den  Körper  und  seine  Bewegungen 
durch  Dauerinnervierung.  Es  verleiht  auch  allen  Werken  der  mensch- 
lichen Tätigkeit,  namentlich  den  künstlerischen  Werken,  aber  auch  solchen 
ohne  künstlerischen  Formenwert,  eine  seiner  Art  nach  ganz  bestimmte  Ge- 
staltung. Jeder  Typus  der  Gemütserregung  hat  seine  besonderen  Form- 
merkmale. Die  Musikwerke  und  Gesänge  von  Tondichtungen  mit  Typus  I 
zeichnen  sich  durch  grosse  Gleichmässigkeit  in  Rhythmus,  glatten  Melodie- 
fluss,  stark  gewölbte  melodische  Linien  und  Neigung  zu  sehr  raschem  Tempo 
aus.  Weiterhin  vermeiden  sie  allzu  grosse  Gegensätze  in  der  Lautheit. 
Die  Werke  des  Typus  II  unterscheiden  sich  vor  allem  durch  die  Neigung 
zu  langsamerem  Tempo  und  flacherer  Melodie.  Den  stärksten  Gegensatz 
zu  den  Werken  des  Typus  I  bilden  die  des  Typus  III :  ihr  Rhythmus  ist 
ungleichmässig,  ihre  Melodien  fliessen  nicht  glatt  dahin,  sondern  eckig, 
kantig,  unter  Bevorzugung  kleinster  und  übergrosser  Intervalle.  Das  Tempo 
ist  im  allgemeinen  langsam.  Die  Gegensätze  in  der  Lautheit  sind  gross. 
Das  gilt  alles  nur  im  allgemeinen  und  nur  verhältnismässig.  Auch  die 
Werke  des  Typus  I  weisen  oft  langsame  Tempi  auf,  aber  das  langsame 
Tempo  des  Typus  I  ist  im  Verhältnis  zu  dem  langsamen  Tempo  des 
Typus  II  oder  III  doch  wieder  rascher. 

Für  Sprachwerke,    und  zwar  für  Sprachrhythnms  und  Sprachmelodie, 
also  für   das  „Sprach musikalische"    gelten   die   gleichen  Prinzipien. 


74  Ottmar  Rutz. 

Das  Spiacl)meludi.sehe,  das  erst  durch  die  Arbeiten  von  Eduard  SieversM 
und  seiner  Anhänger,  insbesondere  von  Franz  Saran^),  tatsächlich  fest- 
gestellt und  wissenschaftlich  bearbeitet  wurde,  richtet  sich  also  nach  den 
gleichen  Ausdrueksgesetzen,  wie  die  reine  Musik. 

Den  praktischen  Beweis  kann  sich  jeder  erbringen:  Nur  wenn  man 
denjenigen  Typus  der  Haltung  bei  Wiedergabe  einer  Tondichtung,  eines 
Liedes,  eines  Sprach werkes,  sei  es  auch  nur  eines  Briefes,  verwendet, 
welcher  der  Gemütsart  des  Verfassers  zugehörig  (adäquat)  ist,  kann  nian 
den  natürlichen,  sozusagen  selbstverständlichen  Ausdruck  erzielen.  Wendet 
man  einen  andern  Typus  an,  so  wird  nicht  bloss  der  natfirliche  Ausdruck 
gestört,  sondern  auch  die  technische  Anstrengung  der  Kehle  mehr  oder 
weniger  vermehrt.  In  besonderen  Fällen  kann  es  sogar  vorkommen,  dass 
der  Wiedergebende  heiser  wird  oder  sich  bei,  häufiger  Wiederholung,  wie 
das  in  der  Praxis  des  Bühnenkünstlers,  des  Lehrers  usw.  vorkommt,  sogar 
für  längere  Zeit  schädigt. 

Häufig  treibt  den  wiedergebenden  Künstler  eine  gewisse  Gleichgestinmit- 
heit  des  seelischen  Fühlens  zur  Wiedergabe  eines  bestimmten  Meisters. 
Da  deckt  sich  dann  der  Typus  des  wiedergebenden  Künstlers  mit  dem  des 
schaffenden.  Die  Rolle,  Partie,  das  Werk  ist  diesem  Wiedergebenden  so- 
zusagen auf  den  Leib  geschrieben.  Aller  natürliche  Ausdruck  des  Seelischen 
ist  dann  ohne  weiteres  ganz  gleichmässig  vorhanden.  Ist  jedoch  der 
Gefühlstypus  des  wiedergebenden  Künstlers  ein  anderer  als  der  des 
schaffenden  Künstlers,  so  vermag  sich  oft  der  wiedergebende  voll  und 
ganz  in  den  schaffenden  umzufühlen  und  körperlich  umzustellen.  Gelingt 
ihm  das  jedoch  nicht,  so  ergeben  sich  die  genannten  Konflikte :  dann  wird 
der  Typus  des  schaffenden  Künstlers  unterdrückt,  gewaltsam  umgemodelt 
und  verzerrt,  oder  es  entstehen  laue  Kompromisse.  Hier  ist  dann  auch 
der  Grund  dafür  zu  suchen,  warum  oft  einem  Künstler,  der  auf  lange 
Jahre  der  Ausbildung  zurückblickt,  gewisse  Werke,  trotzdem  er  unsägliche 
Mühe  auf  sie  verwendet,  immer  wieder,  mehr  oder  minder  missglücken. 
Der  Künstler  lässt  eben  nicht  von  den  Ausdrucksmitteln  seiner  seelischen 
Art  und  will  seine  Ausdrucksmittel  dem  Werke  aufzwingen.  Das  Werk 
aber  trägt  nach  Rhythmus  und  Melodie  die  ganz  anderen  Ausdrucks- 
iiierkniale  einer  anderen  seelischen  Art.  Will  der  Künstler  das  Werk  mit 
vollem  Seelenausdruck  und  bestem  technischem  Gelingen  wiedergeben,  so 
mu.ss  er  diejenigen  Ausdrucksmittel  anwenden,  welche  dieser  besonderen 
seelischen  Art  zugehören. 

Da  zeigt  sich  dann,  dass  die  besondere  Einstellung  der  Körpermuskeln 
stets  eine  besondere  Art  des  Stimmklanges  mit  sich  bringt.  Wie  oft 
schon    hat   der  kunstliebende  Laie,  wie   der  speziell  Gesangskundige,    eine 

')  Vgl.  z.  B.  Rhythmisch-melodische  Studien,  Heidelberg  1912,  Karl  Winter. 
')  Verslehre.   Handbuch  von  Matthias. 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  75 

auffällige  Verschiedenheit  des  Stimmcharakters  bei  verschiedenen  Völkern 
und  einzelnen  Personen  festgestellt,  Verschiedenheiten,  die  mit  Tenor-, 
Bass-  oder  Sopran-  und  Altlage,  also  mit  der  Höhe  des  Tones  nichts  zu 
tun  haben.  Diese  Verschiedenheiten  beziehen  sich  vielmehr  bald  auf  die 
Färbung,  bald  auf  den  Weichheitsgrad  der  Stimme,  auf  ihre  Grösse,  ihren 
besonderen  dramatischen  oder  mehr  lyrischen  Beiklang.  Nach  den  neuen 
Untersuchungen  und  Beobachtungen  ist  es  nun  so,  dass  zu  jeder  Art  des 
Seelischen  als  Ausdruck,  unmittelbar  bedingt  durch  die  Einstellung  des 
Körpers,  eine  besondere  Art  des  Stimmklanges  gehört.  Der  Typus  I  des 
Fülilens  (das  milde  und  zugleich  heisse)  hat  die  dunkle  und  zugleich 
weiche  Stimme  zum  Ausdruck,  der  Typus  II  des  Fühlens  (das  milde  und 
kühle)  die  helle  und  zugleich  weiche  Stimme,  der  Typus  III  des  Fühlens 
(das  energische  und  kühle)  die  helle  und  metallisch  -  harte  Stimme.  Je 
nach  der  Muskeleinstellung  wird  die  Resonanz,  vor  allem  der  in  der 
elastischen  Lunge  versammelten  Luft  wie  auch  der  angrenzenden  Leibes- 
wände, eine  andere.  Auch  die  Atemtätigkeit  und  die  Lage  der  Haupt- 
masse der  eingeatmeten  Luft  ist  je  nachdem  verschieden.  So  erkennen 
wir,  dass  die  Seele  als  gestaltende  Macht  sogar  die  Arten  der  Atmung  und 
Luftversammlung  regelt. 

VI.    Bildende  Kunst   und    Baukunst. 

Bei  Werken  der  Malerei  und  Bildhauerkunst  offenbaren  sich  die  Aus- 
drucksmerkmale der  Gemütsarten  in  der  Linienführung  in  ähnlicher  Weise, 
wie  in  der  melodischen  und  rhythmischen  Linienführung  der  Musikwerke. 
Genau  wie  das  Nachfühlen  bei  den  Sprach-  und  Musikwerken  den  reiz- 
empfindlichen Wiedergebenden  veranlassen  kann,  unbewusst  und  unwill- 
kürlich die  adäquate  Ausdruckshaltung  des  Schöpfers  anzunehmen,  so  kommt 
es  vor,  dass  der  reizempfmdliche  Betrachter  eines  Bildes  oder  einer  Statue 
die  Ausdruckshaltung  des  Schöpfers  annimmt,  wenn  er  sie  —  bei  gleicher 
Gemütsart  —  nicht  schon  besitzt.  Das  stimmt  mit  dem  schon  bisher  ge- 
lehrten Gesetz  der  Psychologie  überein,  dass  der  Ausdruck  einer  Gemüts- 
bewegung stets  die  Tendenz  in  sich  trägt,  beim  Beschauer  den  gleichen 
Ausdruck  hervorzurufen. 

Besonders  einfach  und  überzeugend  zeigt  sich  der  Ausdruck  der 
Gemütsarten  an  den  Werken  der  Baukunst.  Die  stark  gebogene  und 
geschmeidige  Linie,  als  Ausdruck  des  heissen  und  milden  Fühlens,  bringt 
der  in  Itahen,  ebenso  wie  das  Tonnengewölbe,  heimische  romanische 
Baustil.  Als  die  Eroberervölker  mit  dem  kühlen  und  starken  Fühlen 
(Araber  usw.)  auf  die  Bauten  dieses  Stiles  trafen,  da  waren  sie  bemüht, 
möglichst  die  Ausdrucksmerkmale  ihres  Fühlens  wenigstens  noch  hinzu- 
zufügen. Sie  stellten  deshalb  die  spitzigen  und  geradlinigen  Minarets  neben 
die  schon  vorhandenen  romanischen  Bauten  und  verwandelten  die  stark 
gebogene  Linie  des  romanischen  Stiles  in  die  ihrem  Fühlen  mehr  adäquate 


76  Ottmar  Rutz. 

des  Ilachen  Hufeisenbogens.  Den  Ausdruck  des  starken  und  kühlen  Fühlens, 
das  bei  den  Franzosen,  trotz  vieler  Rassenmischung,  entsprechend  dem 
keltischen  Urstamme  vorherrschend  geblieben  ist,  finden  v^ir  auch  im 
gotischen  Baustil  mit  seiner  flachgebogenen  Linienführung  und  den  Spitzen. 
Den  reinsten  Ausdruck  des  starken  und  kühlen  Fühlens  gewahren  wir 
an  den  Ausdrucksmerkmalen  der  alten  griechischen  Kunst:  da  herrscht 
stets  die  „kühle"  gerade  Linie  und  der  unmittelbar  energisch-heftige  Ueber- 
gang  in  Form  eines  spitzen  Winkels  oder  eines  rechten  Winkels.  Die 
gerade  Linie  herrscht  auch  bei  den  alten  Aegyptern.  Der  Ausdruck  des 
weichen  und  kühlen  Fühlens  findet  sich  in  den  alten  indischen  und  chine- 
sischen Bauten.  Einen  im  deutschen  Sprachgebiet  herrschenden  Baustil, 
welcher  Ausdruck  des  dort  tatsächlich  bei  den  Menschen  vorherrschenden 
weichen  und  milden  Fühlens  wäre,  hat  es  augenscheinlich  bisher  nicht 
gegeben.  Gerade  übrigens  auf  dem  Gebiet  der  Bauwerke  ist  zu  beachten, 
dass  Zweckmässigkeitsgründe  und  technische  Gesichtspunkte  vielfach  allein 
herrschen,  insbesondere  bei  blossen  Wohnbauten.  So  ist  ein  Dach,  das 
mit  Rücksicht  auf  den  besseren  Abfluss  des  Regens  möglichst  spitz winkeUg 
und  steil  gehalten  wird,  natürlich  nicht  Ausdruck  einer  besonderen  Art 
des  Fühlens.  Der  Ausdruck  des  Fühlens,  verbunden  mit  künstlerischer 
Gestaltung,  pflegt  vielmehr  erst  dann  Platz  zu  greifen,  wenn  es  sich  um 
Schaffung  von  Gebäuden  handelt,  die  einem  höheren  Zweck  dienen  sollen, 
um  Kirchen,  Staatsbauten  usw. 

Vli.  Praktische  Versuche  mit  den  Typen. 
Es  mag  wohl  den  einen  oder  anderen  Leser  interessieren,  sich  selbst 
praktisch  von  der  neuen  Sache  zu  überzeugen.  Ich  bringe  deshalb  einige 
Beispiele,  die  man  in  verschiedenen  Arten  von  Körperhaltung  und  Stimm- 
klang nach  folgenden  Anweisungen  wiedergeben  möge ').  In  erster  Linie  ist 
dabei  zu  bedenken,  dass  jeder  Wiedergebende,  mag  er  Sopran,  Alt,  Tenor 
oder  Bass  sein,  einen  der  sogenannten  drei  Typen,  eventuell  mit  bestimmten 
Unterarten,  die  innerhalb  des  Typus  bestehen,  bereits  besitzt,  und  zwar 
regelmässig,  nicht  infolge  eines  äusseren  Zufalles,  einer  Arbeitsgewöhnung, 
sondern  infolge  der  von  innen  heraus  wirkenden  Macht  seiner  seelischen  Art. 

Man  spreche  also  der  Reihe  nach  folgende  Gedichtstellen: 
L    Abend  wirds,  des  Tages  Stimmen  schweigen. 
Röter  strahlt  der  Sonne  letztes  Glühn; 
Und  hier  sitz'  ich  unter  euren  Zweigen, 
Und  das  Herz  ist  mir  so  voll,  so  kühn  ! 


■)  Wer  sich  näher  mit  der  Sache  befassen  will,  sei  auf  die  beiden  im 
Verlag  von  Oskar  Beck,  München,  erschienenen  Bücher  verwiesen :  a.  Rutz,  Neue 
Entdeckungen  von  der  Stimme,  Mk.  5 ;  b.  Rutz,  Sprache,  Gesang  und  Körper- 
hall ung,  Handbuch,  Mk.  2,80. 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  77 

Alter  Zeiten  alte  treue  Zeugen, 

Schmückt  euch  doch  des  Lebens  frisches  Grün, 

Und  der  Vorwelt  kräftige  Gestalten 

Sind  uns  noch  in  eurer  Pracht  erhalten. 

2.  Dein  Bildnis  wunderselig 
Hab  ich  im  Herzensgrund, 

Das  sieht  so  frisch  und  fröhlicii 
Mich  an  zu  jeder  Stund. 
Mein  Herz  still  in  sich  singet 
Ein  altes  schönes  Lied, 
Das  in  die  Luft  sich  schwinget 
Und  zu  dir  eilig  zieht. 

3.  In  mein  gar  zu  dunkles  Leben 
Strahlte  einst  ein  süsses  Bild ; 
Nun  das  sü.«!se  Bild  erblichen, 
Bin  ich  gänzlich  nachtumhüllt. 
Wenn  die  Kinder  sind  im  Dunkeln, 
Wird  beklommen  ihr  Gemüt, 

Und  um  ihre  Angst  zu  bannen. 
Singen  sie  ein  lautes  Lied. 
Ich,  ein  tolles  Kind,  ich  singe 
Jetzo  in  der  Dunkelheit; 
Klingt  das  Lied  auch  nicht  ergötzlich, 
Hat's  mich  doch  von  Angst  befreit. 
Wer  den  Typus  1  als  A  u  s  d  r  u  c  k  seines  Seelischen  und  also  auch  den 
seelischen   Typus  1    besitzt,    bei    dem    klingt    die    unter  Ziffer  1    genannte 
Dichterstelle    von    Körner    sozusagen    natürlich.      Für    Beispiel    2    von 
Eichendorf f   stellt   .sich    ein    übertrieben  dunkler  Klang,    für  Beispiel  S 
von    Heine    ein    übertrieben    dunkler    und    zugleich    übermässig   weicher 
Klang  ein. 

Wer  dagegen  den  Typus  11  besitzt,  bei  dem  klingt  das  erste  Beispiel 
zu  hell,  sozusagen  äusserlich  aufgefasst,  Beispiel  2  dagegen  natürlich,  Bei- 
spiel 3  zu  weichlich. 

Wer  endlich  den  Typus  III  anwendet,  bei  dem  klingt  das  erste  Bei- 
spiel unangenehm  hart  und  hell  (offen),  Beispiel  2  hart,  wenn  schon  in  der 
hellen  Färbung  entsprechend,  erst  Beispiel  3  befriedigt  im  Ausdruck 
vollkommen. 

Allerdings  kann  es  vorkommen,  dass  ein  sehr  reizempfindlicher  mit- 
fühlender Leser  unbewusst  .seinen  Typus  der  Haltung  unter  dem  Einfiuss 
des  aus  der  Dichterstelle  wirkenden  seelischen  Gehaltes  ändert  und  dadurch 
die  Eigenart  seines  eigenen  Ausdruckstypus  nach  Helligkeit  oder  Härtegrad 
der  Stimme  zugleich  ändert.    Da  wirkt  eben  dann  die  nachgefühlte  Seelen- 


7H  Ottmar  Rutz. 

pnecung  auf  seine  Rückenmarksnerven  und  daniil  auf  die  Tätigkeit  seiner 
j^rossen  Körperniuskeln  ein.  Sehr  häufig  aber  ist  das  Gegenteil,  dass  man 
von  der  Muskeleinstellung,  die  dem  eigenen  Fühlen  entspricht,  nicht 
loskommt. 

Es  wird  nun  geu^iss  auch  den  Leser  interessieren,  zu  erfahren,  wie 
man  bewusst  und  willkürlich  die  richtigen  (adäquaten)  Ausdruckshaltungeii 
zu  den  oben  genannten  Beispielen  annimmt.  Man  richte  sich  dabei  nach 
folgenden  Angaben: 

1.  Den  sogenannten  Typus  1  der  Körperhaltung,  den  wir,  um  bunt 
durcheinandergewürfelt  einige  Namen  zu  nennen,  an  Nachbildungen  Cäsars, 
römischer  Kaiser,  an  Napoleon,  Goethe,  Heyse,  Schubert,  Brückner  ge- 
wahren, kann  willkürlich  nach  der  folgenden  Anweisung  nur  derjenige  an- 
nehmen, der  ihn  nicht  schon  gewohnheitsmässig  besitzt: 

Man  schiebe  den  Unterleib  wagerecht  nach  vorne  und  behalte  diese 
Vorwölbung  bei.  Die  Stimme  erhält  hierdurch  einen  dunklen  und  weichen 
Klang.   Atem  tief  (Dauerzusammenziehung  des  Lendenteils  des  Zwerchfells). 

2.  Der  sogenannte  Typus  11  der  Körperhaltung,  den  wir  an  Friedrich 
dem  Grossen  und  regelmässig  an  den  Hohenzollern  der  Neuzeit,  an  Schiller, 
Beethoven,  Weber,  Schillings  gewahren,  wird  willkürlich  von  dem,  der  ihn 
nicht  schon  gewohnheitsmässig  besitzt,  folgendermassen  angenommen: 

Man  schiebe  die  Unterleibsmuskeln  gleich  oberhalb  der  Hüften  wage- 
recht nach  rückwärts  und  wölbe  die  Brust  vor.  Stimmklang  hell  und 
weich.  Atem  höhßr  als  bei  Typus  I  (Dauerzusammenziehung  des  queren 
Bauchmuskels). 

3.  Der  sogenannte  Typus  III  der  Haltung,  den  wir  regelmässig  an  den 
Statuen  der  alten  Griechen,  an  Liszt,  Richard  Wagner  gewahren,  wird 
willkürlich  von  dem,  der  ihn  nicht  gewohnheitsmässig  besitzt,  in  folgender 
Weise  angenommen: 

Man  schiebe  die  Muskeln  an  den  Seiten  des  Rumpfes  schräg  entweder 
abwärts  vorwärts  oder  abwärts  rückwärts.  Stimmklang  hell  und  hart, 
Atem  bei  Muskelschub  nach  vorwärts  abwärts  höher,  nach  rückwärts  ab- 
wärts tiefer  (Dauerzusammenziehung  entweder  der  äusseren  oder  der  inneren 
schiefen  Bauchmuskeln). 

Für  jeden  Fall  der  praktischen  Annahme  ist  daran  festzuhalten,  dass 
die  durch  eine  Muskelbewegung  eingeleitete  Einstellung  der  Muskeln 
dauernd  beizubehalten  ist,  ebenso  lange,  als  man  den  betreffenden  Typus 
gebrauchen  will. 

Jeder  Typus  hat  sein  allgemeines  Kennzeichen ;  Typus  I  zeichnet  sich 
durch  Erweiterung  der  Unterleibshöhle  (Bauch,  Abdomen)  aus,  Typus  II 
durch  Erweiterung  der  Oberleibshöhle  (Brust,  Thorax),  Typus  III  durch 
mit  Streckung  und  Abwinkelung  des  Körpers  verbundene  Schubrichtung 
der  Muskeln    nach   abwärts  (absteigend,   deszendent).     Nach  diesen  Merk- 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  79 

malen    lassen    sicii    die    Typen    der    Haltung    auch    kurz    als  Abdominal-, 
Thorakal-  und  Deszendenzhaltung  bezeichnen. 

Besonders  interessant  ist  es  da,  wenn  man  etwa  bewusst  den  Typus  111 
annimmt  und  zwangsweise  auf  das  Gedicht  von  Körner  anwendet. 

VIII.  Versuche  mit  Unterarten. 
Bisher  war  stets  von  den  Hauptarten,  den  Typen,  die  Rede.  Die  Natur 
ist  aber  auch  da  nicht  so  einfach,  wie  man  vielleicht  anfangs  annehmen 
möchte.  Innerhalb  des  allgemein  Typischen  bestehen  bestimmte  Unter- 
arten. Zwei  besonders  wichtige  Unterarten  werden  uns  sofort  bewusst, 
wenn  wir  den  oben  genannten  Beispielen  die  drei  folgenden  jeweils 
gegenüberstellen. 

1.  Schaff  das  Tagwerk  meiner  Hände, 
Hohes  Glück,  dass  ich's  vollende ; 
Lass,  0  lass  mich  nicht  ermatten ! 
Nein,  es  sind  nicht  leere  Träume, 
Jetzt  nur  Stangen  diese  Bäume, 
Geben  einst  noch  Frucht  und  Schatten. 

2.  In  Liebesarmen  ruht  ihr  trunken. 
Des  Lebens  Früchte  winken  euch^ 
Ein  Blick  nur  ist  auf  mich  gesunken, 
Doch  bin  ich  vor  euch  allen  reich. 
Das  Glück  der  Erde  miss  ich  gerne 
Und  blick,  ein  Märtyrer,  hinan, 
Denn  über  mir  in  goldner  Ferne 

Hat  .sich  der  Himmel  aufgetan. 

3.    0  lieb,  .so  lang  du  lieben  kannst,  o  lieb,  so  lang  du  lieben  magst! 
Die   Stunde    kommt,    die    Stunde    kommt,    wo  du   an  Gräbern  stehst 

und  klagst. 
Spricht  man  nacheinander  das  Gedicht  von  Körner  und  das  gleich 
hier  vorstehende,  unter  Ziffer  1  genannte,  so  stellen  sich,  je  nach  den 
individuellen  Besonderheiten  der  sprechenden  Versuchsperson,  folgende 
Bemerkungen  ein.  Wer  das  Gedicht  von  Körner  in  höherer  Tonlage  spricht, 
der  lässt  bei  dem  andern  Gedicht  seine  Stimme  in  tiefere  Lage  sinken. 
Wer  dagegen  umgekehrt  das  Gedicht  von  Körner  in  tiefer  Lage  zu  sprechen 
pflegt,  der  lässt  bei  dem  andern  Gedicht  seine  Stimme  noch  tiefer  sinken. 
Achtet  man  dagegen  auf  den  befriedigenden  Ausdruck,  so  stellt  sich  bei 
allen  Versuchspersonen,  die  absichthch  darauf  acht  geben,  die  Tatsache 
ein,  dass  man  -  -  von  einzelnen  Ausrufen  abgesehen  —  das  Gedicht  von 
Körner  in  tieferer  Lage  liest,  als  das  andere  Gedicht,  das  von  Goethe 
stammt.  Die  gleichen  Bemerkungen  macht  man  bei  den  anderen  Gedichten. 
Will  man  Eichendorff  im  Ausdruck  natürlich  sprechen,  so  muss  man  ihn 


80  Ottmar  Rutz. 

im  allgemeinen  tiefer  legen  als  Uhlands  Hohe  Liebe  (Beispiel  2),  Heine 
muss  man  tiefer  legen  als  Freiligrath  (Beispiel  3). 

Diese  merkwürdigen  Erscheinungen  haben  ihren  Grund  —  wenn  wir 
die  Tatsachen  zu  erklären  suchen  —  in  Gefühlsverschiedenheiten,  die 
innerhalb  des  Typus  bestehen.  Goethe,  wenn  schon  der  Hauptart 
nach  dem  heissen  und  milden  Fühlen  (Typus  I)  angehörig,  ist  etwas  kühler 
als  der  hochgradig  feurige  Körner,  der  die  wärmste  Art  innerhalb  des 
Typus  I  besitzt.  Eichendorff  fühlt  wärmer  als  ühland,  Haine  wärmer 
als  Freiligrath.  Kurz,  als  Gegensätze  bezeichne  ich  diese  zwei  Arten 
als  warme  und  kalte  Art.  Diese  Artenverschiedenheit  der  Wärme  inner- 
halb des  Typus  führt  zu  ganz  bestimmten  Nervenerregungen  und  damit 
zu  bestimmten  körperlichen  Einstellungen. 

Praktisch  nimmt  man  dieselben,  soweit  man  nicht  die  eine  oder  andere 
Art  selbst  besitzt,  folgendermassen  an: 

1.  a)  Bei  Typus  I  und  II  findet  die  Ergänzung  zur  kalten  Art 
folgendermassen  statt : 

Man  ziehe  nach  Annahme  der  typischen  Muskeleinstellung  die  Vorder- 
seite des  Leibes  in  Taillenhöhe  jeweils  3  bis  4  Finger  rechts  und  links 
von  der  Mittellinie  des  Körpers  nach  dem  Innern  des  Körpers  herein 
(Dauerzusammenziehung  des  geraden  Bauchmuskels,  der  besonders  an 
römischen  und  griechischen  Statuen  deutlich  zu  sehen  ist). 

b)  bei  Typus  I  und  II  findet  die  Ergänzung  zur  warmen  Art  folgender- 
massen statt: 

Man  ziehe  nach  Annahme  der  typischen  Muskeleinstellung  die  Vorder- 
seite des  Leibes  in  Taillenhöhe  jeweils  ungefähr  zwei  Handbreit  rechts  und 
links  von  der  Mittellinie  des  Körpers  nach  dem  Innern  des  Körpers  herein 
(Dauerzusammenziehung  eines  Teiles  des  inneren  schiefen  Bauchmuskels). 

2.  Bei  Typus  III  findet  die  Ergänzung  zur  kalten  und  zur  warmen  Art 
dadurch  statt,  dass  man,  mag  der  Muskelschub  schräg  nach  vorwärts  — 
kalte  Art  —  oder  schräg  nach  rückwärts  abwärts  —  warme  Art  —  erfolgt 
sein,  die  unter  1  b  genannten  Stellen  nach  aussen  vorwölbt  (Dauerzusammen- 
ziehung eines  kleinen  Teiles  des  Zwerchfelles).  Der  Artenunterschied 
zwischen  „warm"  und  „kalt"  ist  also  hier  gleich  durch  die  erste  Be- 
wegung schon  mit  gegeben. 

Form  des  Stimmklanges:  Bei  der  kalten  Art  ist  der  Stimmklang  in 
der  höheren  Tonlage  jedes  Menschen,  sei  er  Tenor,  Sopran,  Alt  oder  Bass, 
runder  als  in  der  tieferen  Tonlage,  wo  er  breiter  ist.  Bei  der  warmen 
Art  ist  es  gerade  umgekehrt:  da  ist  in  der  hohen  Tonlage  der  Stimm- 
klang breiter,  in  der  tieferen  runder.  Statt  „runder"  kann  man  auch 
sagen  „gedeckter",  „zusammengefasster",  .statt  breiter  „offener",  „flacher". 
Auch  diese  Klangverschiedenheiten  werden  durch  die  verschiedenen  Ein- 
stellungen der  Muskeln,  die  auf  die  Resonanz  und  die  Kehle  in  bestimmter 
Weise  einwirken,  verursacht. 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  81 

Wer  die  Einstellung  der  kalten  ArL  hat,  sprichi  iu  jedem  Typus  regel- 
mässig mit  der  runden  Form  in  hoher  Tonlage,  die  er  überhaupt  dann 
bevorzugt.  Wer  gewohnheitsmässig  die  Einstellung  der  warmen  Art  hat, 
spricht  regelmässig  mit  der  runden  Form  in  tiefer  Lage,  welch  letztere 
er  bevorzugt.  Zeitweise  kommt  es  (wohl  infolge  Störungen  in  der  Muskel- 
innervierung) vor,  dass  er  im  täglichen  Leben  die  Einstellung  der  warmen 
oder  kalten  Art  aufgibt :  es  verliert  sich  dann  der  ausgeprägte  Wechsel 
zwischen  runder  und  breiter  Form,  und  er  spricht  dann  entweder  in  allen 
Lagen  (hohen  oder  tiefen)  gleichmässig  rund  oder  gleichmässig  breit.  Bei 
der  Wiedergabe  kann  er  dann  mit  diesem  „primitiven",  nämlich  artenlosen 
Typus  die  hohen  oder  tiefen  Töne  nicht  recht  bewältigen.  Auch  stellt  sich 
beim  längeren  Sprechen  Ermüdung  ein.  Der  artenlose  (primitive)  Typus 
weist  ferner  die  Klangmerkmale  jedes  Typus  übertrieben  auf  (wenn  nicht 
gewaltsam  dagegen  eingewirkt  wird) :  der  primitive  Typus  I  klingt  ganz 
weich  und  dumpf  (dunkel),  der  primitive  Typus  II  ganz  weich  und  hell 
(flötenähnlich),  der  primitive  Typus  III  unangenehm  hart  und  hell. 

Die  Versuchsperson  muss  sich  möglichst  bald  bemühen,  festzustellen, 
ob  sie  als  Ausdruck  ihrer  Seelenart  die  warme  oder  kalte  Art  hat  oder 
am  Ende  nur  den  primitiven  Typus. 

Mancher  Leser  wird  vielleicht  im  Singen  die  Unterschiede  im  Klang- 
charakter noch  deutlicher  hören.  Ich  nenne  als  ganz  einfache  Beispiele : 
für  Typus  I  warm  die  bekannte  Hymne  „Gott  erhalte  Franz  den  Kaiser" 
von  Haydn  (auch  auf  den  Text  „Deutschland  über  alles"  gesungen),  für 
Typus  II  warm  „Heil  Dir  im  Siegeskranz"  auch  als  „Heil  unserm  König, 
Heil"  gesungen),  für  Typus  III  warm  die  Marseillaise.  Für  die  kalte  Art 
des  Typus  I  nenne  ich  das  Lied  von  Schubert  „Am  Brunnen  vor  dem 
Tore",  für  Typus  II  kalt  „Es  steht  ein  Baum  im  Odenwald",  für  Typus  III 
kalt  „Die  Uhr"  von  Löwe. 

Auch  bei  diesen  Beispielen  vertausche  man  absichtlich  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Körperhaltung  und  des  Stimmklanges  und  beachte 
dabei  aber  wohl,  dass  man  einen  Typus  und  eine  Art  regelmässig  als 
Ausdruck  seines  eigenen  Fühlens  besitzt,  in  welchen  man  ohne  weiteres 
nach  Annahme  eines  anderen  Typus  oder  einer  anderen  Art  zurückverfällt, 
sozusagen  von  selbst. 

Diese  praktischen  Versuche  zeigen  so  recht  deutlich  und  handgreif- 
lich, wie  einschneidend  die  Wirkung  des  Seelischen  ist:  Selbst  ganz  ein- 
fache Melodien  und  Wortfolgen  tragen  nach  Rhythmus  und  Melodie  so 
deutlich  die  Ausdrucksmerkmale  der  Gefühlsart  ihres  Schöpfers  in  sich, 
dass  die  zwangsweise  Wiedergabe  mittels  nichtpassender  Ausdrucksmittel 
ein  Misshngen  der  Wiedergabe  herbeiführt.  Stets  ist  da  eine  unangenehme 
Kontrastwirkung  bemerkbar :  eine  störende  Diskordanz  zwischen  der  wieder- 
gegebenen Melodie  oder  Wortfolge  mit  ihren  prägnanten  Ausdrucksmerk- 
malen  und    den    angewandten   Ausdrucksmitteln.      Die    Konkordanz    stellt 

philosophisches  Jahrbuch  1913.  6 


g2  Ottmar  R  u  t  z. 

sich  erst  ein,  wenn  man  sicli  Itörperlich  nach  Art  der  adäquaten  Ausdrucks- 
haltung umstellt. 

IX.    Zusammenfassung. 
Die  gestaltende  Macht  des  Seelischen  wird  somit  zum  Unterpfande  für 
die  Echtheit  der  Werke:    Mit    Hilfe  der  Typenlehre  können  wir  fest- 
stellen,  ob   zweifelhafte  Stellen  oder  Werke  von  einem  bestimmten  Autor 
herrühren    oder   nicht.     Das   gilt  ebenso    für  Musikwerke  wie  für  Sprach- 
dichtungen,   Prosa   wie   Poesie.      Die    bisherigen    Forschungsergebnisse    in 
dieser  Richtung  habe  ich  in  meinem  Buche  „Musik,  Wort  und  Körper  als 
Gemütsausdruck"  (Seite  684  ff.)  dargestellt.     Was  das  musikalische  Gebiet 
betrifft,  so  können  wir  nun  mit  aller  Bestimmtheit  z.  B.  das  Joh.  Sebastian 
Bach    zugeschriebene    Lied  „Willst   Du    Dein  Herz    mir    schenken"    dem 
Italiener    Giovannini    zuschreiben.      Wir    können    jetzt    die    von    Goethe 
stammenden  Gedichte   des  Buches  Suleika   aus  dem  West-östlichen  Diwan 
von   den  Gedichten   der   Freundin   Goethes,    Marianne   von  Willemer,    ab- 
sondern.   Ganz  besondere  Perspektiven  ergeben  sich  jetzt  für  die  Säuberung 
der  Gesänge  Homers  von  eingeschobenen  Stellen.     Denn  vielfach    hat  es 
der  Zufall  gefügt,  dass  der  Interpolierende  einen  anderen  Typus  oder  eine 
andere  Art  des  Gemütsausdrucks  und  damit  einen  anderen  Rhythmus  und 
eine  andere  Sprachmelodie  besitzt,  als  der  Hauptverfasser.   Nach  ähnlichen 
Gesichtspunkten  hat  .schon  Eduard  Sievers  bezüglich  mittelhochdeutscher 
Gedichte  Textkritik  getrieben  (vgl.  Seite  152  ff.  meines  Buches).     Für  die 
Bibelforschung  wird  die  Typenforschung  ebenfalls  von  nicht  zu  unter- 
schätzender Bedeutung   sein.     Einige  Beispiele  hierfür    habe  ich   ebenfalls 
in  dem  genannten  Buche  (Seite  123  ff.)  gebracht.    Da  es  sich  erst  um  den 
Anfang  einer  neuen  Wissenschaft  handelt,    so   bewegen  sich  die  Versuche 
in  dieser  Richtung  allerdings  nur  in  bescheidenen  Grenzen. 

Es  ist  nicht  möglich,  im  Rahmen  dieser  Ausführungen,  die  ledig'ich 
einen  Ueberblick  geben  sollen,  auf  Einzelheiten  einzugehen,  insbesondere 
auf  Einzelheiten  über  den  Zusammenhang  zwischen  den  seelischen  Er- 
regungen und  der  Tätigkeit  des  Kfirpers,  auf  nervenphysiologische  und 
muskelphysiologische  Fragen,  wie  andererseits  auf  Fragen  der  künstlerischen 
Wiedergabe  und  des  künstlerischen  Schaffens,  wie  der  öffentlichen  Kritik 
dieser  beiden.  In  allgemeinster  Weise  lassen  sich  jedoch  die  Ergebnisse 
der  neuen  Forschung  etwa  in  der  Weise  zusammenfassen,  wie  ich  es  auch 
in  dem  Vorwort  zu  dem  oben  genannten  Buche  getan  habe :  Von  jeher  hat 
Musik  als  die  seelenvollste  aller  Künste  gegolten.  Der  formgestaltenden 
Macht  des  Gemütslebens  untersteht  ebenso  das  Sprachrausikalische 
des  geschriebenen  und  gesprochenen  Wortes:  Rhythmus,  Tempo,  Melodie 
der  Rede  und  Dichtung,  der  Sprachwerke  schlechthin.  Der  Gemütsausdruck 
gestaltet  aber  nicht  bloss  die  hörbare  Materie,  er  beeinflusst  bestimmend 
die  sichtbare:  die  Werke  der  Malerei,  Bildhauer-  und  Baukunst.  Hand- 


Die  Seele  als  formgestaltende  Kraft.  83 

Schrift  und  Schriftarten.  Der  menschliche  Leib  selbst  tritt  uns  in  Form 
und  Gestalt  in  vieler  Beziehung  als  ein  Produkt  der  formenden  Kraft  des 
Gemütslebens,  als  Gemütsausdruck  entgegen. 

Diese  Macht  des  Gemütslebens  über  das  Körperliche,  den  menschlichen 
Leib  und  die  ihn  umgebende  Materie  ist  keine  Alleinherrschaft.  Mehr  oder 
weniger  herrschen  daneben  Verstand,  Zweckmässigkeit  und  bestimmte 
Naturgesetze.  So  gelten  daneben  die  Gesetze  der  reinen  physikalisch- 
mechanischen Verursachung  für  alle  Materie.  So  suchen  wir  meist  ver- 
geblich in  den  Werken  der  Technik  nach  Merkmalen  des  Gemütsausdrucks. 
Gerade  aber  die  Kunstwerke  besitzen  sie  im  höchsten  Grade :  Künstlerische 
Formen  gibt  es  nur  als  Aus  drucks  formen.  Darüber  hinaus  trägt  sehr 
vieles,  was  der  Mensch  schafft,  die  Ausdrucksmerkmale,  ohne  künstlerisch 
wertvoll  zu  sein.  Wo  nur  immer  das  Gemütsleben,  zumeist  neben  dem 
Intellekt,  den  Menschen  bei  seiner  Tätigkeit  bestimmend  beeinflusst,  da 
werden  ganz  bestimmte  Merkmale  des  Ausdrucks  erkennbar. 

Im  Besitze  dieser  Erkenntnis  eröffnen  sich  uns  neue  Wege  zur  Seele. 
Die  Vielgestaltigkeit  des  Gemütslebens  wird  uns  so  recht  an  dem  Reichtum 
der  hör-  und  sichtbaren  Ausdruckstatsachen  klar:  jeder  allgemeinen 
Art  des  Fühlens,  den  Stärke-  und  Hitzegraden,  den  Beweglichkeitsverschieden- 
heiten der  Gemütserregung,  Lust  und  Unlust,  sind  ganz  bestimmte  Klassen 
von  Ausdrucksmerkmalen  beigeordnet.  Zum  grossen  Teile  machen  sie  die 
Originalität  eines  Schaffenden  aus.  Denn  jede  Persönlichkeit  verwendet 
zum  originalen  Schaffen  nur  ganz  bestimmte,  „zugehörige"  (adäquate) 
Ausdrucksmittel  und  vermeidet  die  ihrer  Gefühlsart  fremden  (inadäquaten). 

Daraus  ergeben  sich  für  den  schaffenden  und  wiedergebenden  Künstler 
mannigfache  wichtige  Forderungen.  Es  gibt  keine  stilgemässe  "Aufführung 
einer  Ton-  oder  Sprachdichtung,  wenn  nicht  von  den  Wiedergebenden 
unter  gleichzeitigem  Nachfühlen  des  seelischen  Ausdrucksgehaltes  die  zu- 
gehörigen (adäquaten)  Ausdrucksmittel  nach  Körperhaltung,  Stimmklang, 
Vortragsart  und  Pantomimik  angenommen  werden.  Ein  volles  künst- 
lerisches Geniessen  ist  nicht  anders  möglich  als  auf  der  Grundlage  der 
Gleichgestimmtheit  des  Gemüts,  des  seelischen  Nachfühl ens.  Die  bis- 
herige Vernachlässigung  dieser  Fähigkeit  zum  Nachfühlen  hat  die  grössten 
Ungerechtigkeiten  gegen  Tonschöpfer,  Dichter  und  bildende  Künstler  zur 
Folge  gehabt.  Ohne  Nachfühlen  kein  Verstehen!  Ohne  die 
Pflege  des  Gemütslebens  überhaupt  keine  Kultur,  keine 
echte  Kunst!  Gerade  der  Künstler  möge  sich  immer  und  immer  dessen 
erinnern,  was  er  schon  bisher  beherrschte,  aber  oft  unter  dem  Einfluss 
rationalistischer  Tendenzen  zu  vergessen  drohte:  dass  der  Urgrund  aller 
Kunst  im  Gemütsleben,  nicht  im  Intellekt,  nicht  in  der  technischen  Uebung 
ruht.  Der  berechnende  Orchestervirtuos  der  Moderne,  für  den  es  keine 
technischen    Schwierigkeiten    gibt,    steht   weit    unter    dem    unbewusst   aus 

6* 


84  Otimar  Rutz,  Die  Seele  al^5  formgestaltende  Kraft. 

.«teinem  Gefühlsleben  schöpfenden  und  künstlerisch  gestaltenden  Tondichter 
mit  einfacher  Technik  und  schlichtem  Orchester.  Die  Ueberschätzung  der 
reinen  Vernunft,  der  Gesetze  der  Anpassung  und  Zweckmässigkeit,  ihre 
einseitige  Pflege  haben  auf  künstlerischem  Gebiet  wie  son.st  viel  geschadet 
und  systematisch  ein  Höchstes  und  Edelstes  im  Menschen  unterdrückt, 
verkümmert  und  in  der  allgemeinen  Wertschätzung  herabzusetzen  versucht: 
den  Born  des  Fühlens,  das  Gennitsleben,  das,  unbekümmert  um  die  nur 
für  die  Sphäre  des  Intellektuellen  und  die  Materie  geltenden  Gesetze  der 
Anpassung  und  Zweckmässigkeit,  in  seiner  Eigenart  durch  Jahrtausende 
gleichbleibend  von  Generation  zu  Generation  sich  vererbt  und  dadurch  zum 
vornehmsten  Merkmal  der  Rasse  wurde.  Die  allgemeine  Bildung,  die 
Schulbildung  und  Erziehung  wird  in  Zukunft  ein  Hauptgewicht  auf  die 
Pflege  des  Gemütslebens  und  seines  Ausdrucks  (der  Ex- 
pression) legen  müssen.  Die  einseitige  logische  Betrachtung  aller  Dinge 
muss  durch  diese  Pflege,  den  Expressionismus,  wenn  man  diese 
Richtung  so  bezeichnen  will,  ergänzt  werden.  Sonst  wachsen  die  nüchtern- 
logischen Pedanten  in  immer  zunehmender  Weise  in  allen  Berufen  zum 
Schaden  der  Gesamtheit  heran,  droht  der  Intellektualismus  noch  mehr 
als  schon  bisher  die  Weltanschauung  zu  verkümmern  und  in  die  Künste 
einzudringen. 

Die  Gegner  einer  rein  materialistischen  Weltanschauung  erhalten  somit 
ein  wuchtiges  Beweismaterial  dafür,  in  wie  hohem  Grade  das  Seelisch- 
Gemütliche  über  den  menschlichen  Körper  und  die  Materie  überhaupt 
herrscht. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik. 

Von  Prof.  Dr.  J.  A.  Endres  in  Regensburg. 


Die  Dialektik  im  11.  Jahrhiuidert. 

Als  die  Zeitverhältnisse  im  Verlaufe  des  11.  Jahrhunderts  wieder  einen 
Aufschwung  des  geistigen  Lebens  ermöglichten,  war  es  natürlich,  dass  sich 
derselbe  zunächst  auf  jenem  Gebiete  zeigte,  welches  seit  dem  Beginne  des 
Mittelalters  aller  höheren  Bildung  zugrunde  lag,  in  den  freien  Künsten. 
Während  aber  bisher  diese  letzteren  fast  ausschliesshch  in  den  Klöstern 
und  an  den  Domstiften  eine  Freistätte  gefunden  hatten,  womit  sich  wie 
von  selbst  die  Beziehung  zum  theologischen  Gebiete,  eine  propädeutische 
Hinordnung  auf  die  praktisch  religiösen,  insbesondere  liturgischen  Zwecke 
und  das  Schriftstudium  ergab,  trat  hierin  jetzt  allmählich  eine  Aenderung 
ein.  Schon  seit  geraumer  Zeit  waren  in  Italien  Laien  oder  Kleriker  nie- 
driger Grade  auf  eigene  Faust  als  Lehrer  aufgetreten  und  hatten  sich  mit 
Erfolg  der  Verbreitung  einer  auf  den  freien  Künsten  beruhenden  Bildung 
angenommen.  Mochten  sie  auch  manchem  ihrer  Schüler  den  Zugang  zum 
geistlichen  Stande  ebnen,  so  war  dies  doch  nicht  ihre  ausschliessliche  Ab- 
sicht. Wie  sie  selbst  in  ihrer  Lehrtätigkeit  eine  gesicherte,  angesehene 
und  einträgliche  Lebensstellung  innehatten,  so  konnten  auch  ihre  Schüler 
teils  in  der  gleichen  Lebensaufgabe,  teils  in  den  Kanzleien  der  Grossen, 
teils  auf  dem  juristischen  Forum  ein  Fortkommen  finden,  das  einst  aus- 
schhesslich  an  den  Besitz  einer  Weihe  oder  an  die  Erlangung  eines  kirch- 
lichen Amtes  gebunden  war.  Von  einigen  der  besten  Männer  der  Zeit  ist 
bekannt,  dass  sie  ursprünglich  in  der  Laufbahn  eines  Grammatikers,  Dia- 
lektikers oder  Reehtsgelehrten  gestanden  waren,  so  von  einem  Petrus 
Damiani,  Lanfrank,  Anselm  von  Aosta. 

Hiermit  war  ein  mehr  welthch  gerichteter  Wissenschaftsbetrieb  von 
selbst  gegeben,  welcher  bald  in  Lektüre,  Studium  und  Nachahmung  der 
schönen  Literatur  des  Altertums,  bald  in  dem  juristischen  oder,  wie  es 
tatsächlich  auch  der  Fall  war,  in  dem  medizinischen  Fache  sein  letztes  Ziel 
ersah.  Dieser  selbständige  Betrieb  weltlicher  Wissenszweige  wie  überhaupt 
das  Aufblühen  der  propädeutischen  Disziplinen  konnte  leicht  einen  Rück- 
schlag auf  die  Theologie  ausüben.  Mehr  als  ein  Beispiel  literarischer  Be- 
kehrung in  jener  Periode  redet  eine  deutliche  Sprache  über  den  nach- 
wirkenden Einfluss   und   eine   andauernde  Anhänglichkeit,  welche  nament- 


86  J.  A,  Endres. 

lieh  das  Trivium  bei  Klerikern  und  Mönchen  sich  erworben  hatte,  und  zwar 
auf  Kosten  des  theologischen  Studiums.  In  Italien,  wo  der  Laienunterricht 
und  das  Laienstudium  eine  bemerkenswerte  Rolle  spielte,  scheint  überhaupt 
bis  über  die  Mitte  des  IL  Jahrhunderts  hinaus  der  theologische  Betrieb 
mit  der  Pflege  der  freien  Künste  nicht  gleichen  Schritt  gehalten  zu  haben  ^). 
Hingegen  vernehmen  wir  in  Deutschland  die  Klage  über  die  Abnahme  des 
theologischen  Studiums,  über  eine  Pflege  der  Trivialfächer,  bei  der  man 
die  Theologie  vergass^). 

Indes  eine  noch  viel  belangreichere  Begleiterscheinung  trat  in  jener 
ganzen  Entwicklung  zu  Tage.  Die  bevorzugte  Pflege  der  Dialektik  ge- 
stattete allmählich  der  Vernunft,  eine  selbstbewusste  und  selbstvertrauende 
Rolle  zu  spielen.  Indem  die  Vernunft  sich  in  diese  Rolle  hineinlebte, 
begann  sie  dort,  wo  sie  das  theologische  Gebiet  betrat,  sich  das  „ius 
magisterii"  aqzumassen  ^).  Es  gab  allmählich  so  eingefleischte  Dialektiker, 
dass  sie  nur  mehr  einen  Massstab  in  der  Beurteilung  der  Offenbarungs- 
lehre gelten  lassen  wollten,  nämUch  den  der  Dialektik*).  So  wuchs  eine 
eigene,  bisher  unbekannte  Art  von  Litteratentum  heran,  über  dessen  Existenz 
wir  nicht  im  Zweifel  sein  können.  Zwar  hat  die  Zeit,  wohl  in  gerechter 
Würdigung  ihrer  Geistesprodukte,  kaum  die  eine  und  andere  Spur  von 
diesen  letzteren  bis  auf  uns  vererbt.  Vielleicht  bestand  auch  ihr  Wirken 
mehr  in  mündlichem  Vortrag  als  schriftstellerischer  Tätigkeit.  Desun- 
geachtet  dürfen  wir  ihren  Einfluss  auf  die  Zeitgenossen  nicht  unterschätzen. 
Sonst  hätten  ernste  und  bedeutende  Männer  sicher  nicht  Veranlassung 
genommen,  sich  in  ihren  Schriften  gleichsam  auf  Schritt  und  Tritt  gegen 
sie  zu  wenden. 

Das  eigentümliche  Auftreten  dieser  Dialektiker  erinnert  in  manchen 
Punkten  an  die  alte  Sophistik.  Zu  der  Kleinlichkeit  und  geringen  Bedeutung 
der  sie  beschäftigenden  Fragen  stand  der  Nachdruck,  den  sie  auf  diese 
legten,  der  Wert,  den  sie  ihnen  beimassen,  der  selbstbewusste  Ton,  mit 
dem  sie  sie  deklamierten,  in  umgekehrtem  Verhältnisse.    Die  Rolle,  welche 


')  Vgl.  Giesebrecht,  De  litterarum  studiis  apud  Italos  primis  medii 
aevi  saeculis,  Berlin  1R45,  15  und  21. 

-)  fere  omne  litterale  defecit  Studium,  solumque  avaritiae,  invidiae  et 
contentionis  remansit  exercitium.  Nam  et  si  qui  sunt,  qui  sub  scholari  ferula 
Grammaticae  et  Dialecticae  studiis  imbuuntur,  haec  sibi  sufficere  arbitrantes, 
divjnae  paginae  omnino  obliviscuntur.  Williram  von  Ebersberg  im  Prolog  zu 
seiner  Paraphrase  des  Hohen  Liedes,  Oesterr.  Vierfeljahrsschr.  f.  kath.  Theologie 
3  (1864)  96. 

*)  Vgl.  Petrus  Damiani,  Opusc.  36  De  divina  omnipotentia  etc.  c.  5 
M.  145,  603  D. 

*)  Dialecticos  quosdam  tarn  simplices  inveni,  ut  omnia  sacrae  scripturae 
dicta  iuxta  dialecticae  auclorilateni  consiringenda  osse  decernerent.  Otloh, 
Dialog,  de  tribus  quaestionibus,  Prol.,  M.  146,  60  A. 


Studien  zur  Geschichte  der  Früh«cholastik.  87 

dereinst  in  der  Sophistik  ein  übermütiger  Subjektivismus  und  Skeptizismus 
gegen  die  Vernunfterkenntnis  spielte,  übernahm  bei  ihnen  der  Rationalis- 
mus gegenüber  einem  tausendjährigen  religiösen  Glauben.  Der  dialektische 
Streit  um  des  Streites  willen  scheint  für  manchen  von  ihnen  ein  Lebens- 
element gewesen  zu  sein  und  der  höchste  Triumph,  einfache  Gemüter,  wie 
Petrus  Damiani  sich  ausdrückt,  in  die  Schhngen  ihrer  Fangschlüsse 
zu  ziehen. 

Ein  ziemlich  deuthches  Bild  von  der  Eigenart  dieser  grammatici, 
rhetores,  dialectici,  sophistae,  philosophi  oder  wie  sie  immer  heissen  mochten, 
ist  uns  in  den  Schriften  eines  Petrus  Damiani  überliefert,  an  dessen  Richtig- 
keit wir  deshalb  noch  nicht  zu  zweifeln  brauchen,  weil  Damianis  eigene 
Stellung  zu  den  freien  Künsten  nicht  von  der  rechten  Mässigung  und  Ein- 
sicht eingegeben  war. 

Das  auf  das  Aeusserliche,  rein  Formelle  gerichtete  Interesse  dieser 
„saeculares"  führt  er  einmal,  nämlich  am  Eingange  der  in  Briefform  ge- 
haltenen Abhandlung  „Ueber  das  wahre  Glück  und  die  Weisheit''  in  der 
folgenden  Weise  vor:  er  wisse  recht  wohl,  so  meint  er,  wenn  dieses 
Schreiben  in  ihre  Hände  komme,  so  werden  sie  ihr  Auge  alsbald  scharf 
auf  den  Glanz  der  Sprache  richten,  sie  werden  untersuchen,  ob  die  Dispo- 
sition richtig  durchgeführt  sei,  ob  mehr  das  kunstmässig  rhetorische  Kolorit 
hindurchschimmere,  oder  ob  das  Thema  mit  Hülfe  von  Sätzen  aus  der 
hohen  dialektischen  Kunst  durchgeführt  sei,  man  frage  überdies,  ob  kate- 
gorische oder  vielmehr  hypothetische  Syllogismen  zum  Beweisverfahren 
herangezogen  werden ').  Es  ist  begreiflich,  dass  eine  Geistesrichtung,  die 
sich  im  rein  Formellen,  Aeusserlichen,  Kleinlichen  verlor,  zur  Behandlung 
einer  Materie  von  Bedeutung  sich  nicht  emporzuschwingen  vermochte.  Als 
„scholaris  infantiae  naeniae"^)  charakterisiert  Damiani  einmal  die  sie  be- 
schäftigenden Probleme.  Diese  Bezeichnung  scheint  um  so  zutreffender 
zu  sein,  als  wir  selbst  den  erhaltenen  Proben  sonst  weiterblickender 
Geister,  da  wo  sie  sich  im  Geleise  der  gleichzeitigen  Schulweisheit  bewegen, 
kaum  ein  viel  besseres  Prädikat  zubilligen  können.  Wie  geringwertig  er- 
scheint Gerberts  von  Aurillac  „De  rational!  et  ratione  uti"  und  ungefähr 
noch  ein  Jahrhundert  später  Anselms  „De  grammatico". 

Mit  dem  tiefen  Stande  eines  derartigen  Wissenschaftsbetriebes  bringt 
Williram    von    Ebersberg    andere    Erscheinungen    in    Zusammenhang,    die 


*)  Non  ignoro,  frater,  quia  cum  mea  epistola  saecularium  manibus  traditur, 
mox  eloquentiae  nitor  curiose  perquiritur;  quam  consequens  sit  disposilionis 
ordo  tractatur;  utrum  rhetoricae  facultatis  color  eluceat,  an  sententias  argu- 
menta dialecticae  subtihtatis  involvant ;  quaeritur  etiam  utrum  categorici  an 
potius  hypothetici,  quae  proposita  sunf,  per  allegationes  inevitabiles  astruanl 
syllogismi.  Petrus  Damiani,  Üpusc.  58  De  vera  felicitate  ac  sapientia,  Prol., 
M.  145,  831  A. 

■^)  Id.,  Opusc.  36  De  div.  omnipotenlia,  etc.  c.  12,  M.  145,  615  A. 


88  J.  A.  Endres. 

herrschende  Gewinnsucht,  die  Missgunst  und  den  Streit  unter  seinen  Ver- 
tretern'), Erscheinungen,  die  in  anderweitigen  Zeugnissen  ihre  Bestätigung 
finden.  Auch  ein  Lanfrank  war  vor  seinem  Eintritte  ins  Kloster,  da  er  noch 
als  Wanderlehrer  Frankreich  und  die  Normandie  durchzog,  nicht  nur  dem 
Glänze  des  Ruhmes,  sondern  auch  einer  mehr  greifbaren  Anerkennung 
seiner  Tätigkeit  nachgegangen  2).  Die  herrschende  Missgunst  (invidia)  wird 
von  Otloh  von  St.  Emmeram  in  seinem  Dialogus  de  tribus  quaestionibus 
wiederholt  hervorgehoben''). 

Einer  besonderen  Beliebtheit  scheint  sich  bei  manchen  Dialektikern 
der  Redestreit  erfreut  zu  haben.  Sichere  Anzeichen  sprechen  dafür,  dass 
sich  die  Wander-  und  Winkellehrer  hierbei  nicht  stets  auf  dem  Boden  der 
freien  Künste  bewegten,  dass  sie  den  Streit  mit  Vorliebe  auf  das  Glaubens- 
gebiet hinüberspielten*).  Hier  war  es  dann  nicht  schwer,  einfache  Gemüter 
zu  verwirren  und  in  Verlegenheit  zu  bringen,  um  so  weniger,  als  selbst 
die  wewecktesten  Geister  der  Zeit  über  das  Verhältnis  von  Glauben  und 
Wissen  weder  klare  noch  richtige  Vorstellungen  besassen.  Mochten  die 
Dialektiker  auch  nicht  von  der  Absicht  geleitet  seirt,  direkt  gegen  das 
Christentum  anzukämpfen,  so  schmeichelte  es  doch  ihrer  Eitelkeit,  durch 
tadellos  formulierte  Syllogismen  Schwierigkeiten  zu  verursachen  und  wenig- 
stens auf  den  Widerspruch  hinzuweisen,  der  zwischen  ihren  Voraussetzungen 
und  Folgerungen  und  zwischen  dem  Glaubensgebiete  bestand.  So  richteten 
sie  ihre  Schlüsse  bald  gegen  mehr  untergeordnete  Punkte  in  Schrift  und 
Glaube,  bald  kehrten  sie  dieselben  gegen  die  Grunddogmen  des  Christen- 
tums. In  der  Art,  wie  Lanfrank  die  Stelle  1  Kor  1,  17:  Non  enim  misit 
me  Christus  baptizare  sed  evangelizare,  non  in  sapientia  verbi,  ut  non 
evacuetur  crux  Christi  erklärt,  schwebte  ihm  offenbar  seine  eigene  Zeit 
vor.  Denn  die  „sapientia  verbi"  deutet  er  auf  die  Dialektik  und  das  syllo- 

')  Fere  omne  litterale  defecit  Studium,  solumque  avaritiae,  invidiae  et 
contentionis  remansit  exercitium.  Prolog  zu  seiner  Paraphrase  des  Hohen  Liedes, 
abgedruckt  in  Oesterr.  Vierleljahrsschr.  f.  kath.  Theologie  3  (1864)  96. 

^  Chronicon  Beccensis  abbatiae,  M.  150,  642  C.  Andere  hierher  gehörige 
Beispiele  s.  bei  Giesebrecht,  De  litterarum  studiis  apud  Italos  primis  medii 
aevi  saeculis,     Berlin  1845,  17. 

*)  Otloh  sagt  von  dem  Dialoge :  sine  auctoris  titulo  volui  proferre,  ul  si 
forte  quispiara  invidiae  vel  delraclionis  peste  captus  dicta  huiusmodi  rugosa 
ut  solet  fronte  torvaque  facie  legendo  adirel,  nesciens  quem  operis  huius  auctorem 
persequeretur,  invidendo  vel  detrahendo  levius  insaniret.  Ihvidis  namque  et 
superbis  pene  erit  evitabile,  ul  cuiusqiiam  nofae  vilisque  personae  scripta  vel 
dicta  absiiue  irrisione  possint  agnoscere.  Er  ersucht  seinen  F'reund,  dafür  zu 
sorgen,  dass  nicht  ad  aedificationem  humilium  solummodo  prolata  invidorum 
et  superborum  liant  ludibria.    Dial.  de  trib.  quaestionibus,  Prol.,  M  146,  59  A. 

*)  Damiani  redet  von  sacrilegi  dogmatis  inductores:  aliis  quaestionum 
suariim  tondiculas  struunt ;  simpliriter  gradienlibus  scandala  frivolae  inquir 
sjiionis  obiciunt.     Opusc.  36  De  divina  omnipotentia  elc.    c.  5,  M.  145,  602  D. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  89 

oistische  Beweisverfahren.  Und  offenbar  brauchte  er  das  Beispiel,  womit 
er  zeigt,  wie  durch  die  Dialektik  das  Kreuz  Christi  zu  nichte  werde,  nicht 
zu  erfinden,  sondern  nur  Dialektikern  seiner  Zeit  aus  dem  Munde  zu  nehmen  •). 
Wenn  er  an  der  gleichen  Stelle  seines  Kommentars  zum  ersten  Korinther- 
brief  als  weiteren  Zielpunkt  dialektischer  Angriffe  die  Geburt  der  Jungfrau 
namhaft  macht,  so  wird  diese  Nachricht  durch  Zeitgenossen  bestätigt, 
welche  den  darauf  bezüghehen  Syllogismus  der  Dialektiker  ausdrücklich 
erwähnen 2).  Der  nämliche  Gegenstand  kehrt  bei  Lanfrank  noch  an  einer 
anderen  Stelle  wieder  und  zwar  in  Verbindung  mit  der  Menschwerdung 
und  der  Unsterblichkeit  der  Seele,  wo  allerdings  die  Bezugnahme  auf  die 
Zeit  nicht  direkt  ausgesprochen  ist,  aber  auch  nicht  völlig  ausgeschlossen 
erscheint  ^). 

Dass  indes  die  einseitige  Betonung  der  Dialektik  keineswegs  nur  stets 
dem  einen  Zwecke  diente,  schlichte  gläubige  Gemüter  in  Verlegenheit  und 
Verwirrung  zu  bringen,  sondern  dass  sie  in  der  Tat  zu  einem  weite  Kreise 
berührenden  und  erregenden  Konflikte  mit  der  traditionellen  Kirchenlehre 
führte,  dafür  ist,  um  von  dem  später  auftretenden  Roscelin  abzusehen, 
ein  bekanntes  Beispiel  der  Kampf  Berengars  gegen  die  orthodoxe  Abend- 
mahlslehre. 

Ehe  wir  uns  jedoch  jenen  Männern  zuwenden,  welche  bereits  eine 
lebhaftere  Fühlung  zwischen  Dialektik  und  Theologie  bekunden,  haben  wir 


')  Sapientiam  ibi  dialecticam  dicit,  per  quam  criix  id  est  mors  Christi  eam 
simpliciter  intelligentibus  evacuari  videtur,  quia  Deus  immortaUs,  Christus  autein 
Dens,  Christus  igitur  immortalis ;  si  autem  immortalis,  mori  non  potuit.  Sic  de 
partu  Virginis  et  quibusdam  aliis  sacramentis.    Lanfr.  In  1.  Cor.  1,  M.  150,  157  B. 

^)  Veniant  dialectici  sive  potius  ut  putantur  haeretici,  ipsi  viderint ;  veniani, 
inquam,  verba  trutinantes,  quaestiones  suas  buccis  concrepanlibus  ventilantes, 
proponentes,  assumentes  et,  ut  illis  videtur,  inevitabilia  concludentes  ac  dicant : 
Si  peperit,  concubuit;  sed  peperit;  ergo  concubuit.  Petrus  Dam.  1.  c.  c.  10, 
M.  150,  611  B.  Vgl.  Manegold  v.  Lantenbach,  Opusc.  contra  Wolfelmiim  c.  14, 
M.  155,  163  A:  Constanti  nemque  consequentia  proponebant :  Si  peperit,  cum 
viro  concubuit.  In  dem  gleichen  vorhin  angeführten  Kapitel  des  P.  Damiani 
sind  die  Dialektiker  noch  durch  folgende  zwei  Syllogismen  charakterisiert:  Si 
lignum  ardef,  profecto  uritur ;  sed  ardet ;  ergo  et  uritur.  Sed  ecce  Moyses  videl 
rubum  ardere  et  non  comburi.  Kursus:  Si  lignum  praecisum  est,  non  fructilicai ; 
sed  praecisum  est;  ergo  non  fructificat.  Sed  ecce  virga  Aaron  in  tabernaculo. 
M.  150,  610  D. 

^)  Zu  Kol  2,  8 :  Videte,  ne  quis  vos  decipiat  per  philosophiam  et  inaneni 
fallaciam  secundum  traditionem  hominum  macht  Lanfrank  die  Bemerkung : 
Tradiderunt  philosophi  (quos  homines  vocat)  creatorem  onmium  non  posse  lieri 
creaturam ;  hominem  non  potuisse  nasci  ex  virgine ;  hominem  mortuum  revi- 
vere  non  potuisse;  considerantes  elementa  raundi,  has  visibiles  crealuras,  in 
quibus  animalia,  quae  nascuntur,  ex  utriusque  sexus  commistione  generanlur  el 
in  quibus,  quidquid  morilur,  ultra  vivere  impossibile  est.   M.  150,  323  B. 


90  •'    A.  Endres. 

eines  Dialektikers  zu  gedenken,  der  sich  vorherrschend  auf  seinem  Gebiete 
bewegend  als  ein  typischer  Vertreter  der  oben  charakterisierten  Wander- 
lehrer gelten  kann,  Anselni  von  Besäte. 

Aiiselm  der  Peripatetiker. 

Von  Anselm  dem  „Peripatetiker",  wie  er  sich  selbst  nennt,  wissen  wir 
nur  so  viel,  als  er  uns  selbst  mitteilt.     Er  stammte   aus   einer  sehr  ange- 
sehenen Familie  der  Lombardei   und  widmete   sich    der  Mailänder  Kirche. 
Seine  Aeusserungen   lassen  jedoch    nicht   ersehen,    welchen  Weihegrad  er 
besass  und  welche  kirchliche   Stellung  er  einnahm.     Zu  Parma,  wo  allem 
Anscheine  nach  die  freien  Künste  damals,  in  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahr- 
hunderts,   mit    grossem    Eifer   gepflegt  wurden,    oblag   er    seinen  Studien. 
Als  seine  Lehrer   nennt   er   mit  Stolz   den   Philosophen  Drogo  von  Parma 
und  dessen  Schüler,  den  Rhetor  und  Juristen  Sichelm  von  Reggio.     Nach- 
dem er  eine  Schrift  „De  materia  artis",  wie  Dümmler  annimmt,  ein  Lehr- 
buch der  Rhetorik,   und  eine  zweite,  welche  uns  allein  noch  vorhegt,  mit 
dem  Titel  „Ret(h)orimachia",  eine  Beispielsammlung  zu  jener  ersten,  verfasst 
hatte,  begab  er  sich  mit  seinem  „Rednerkampfe"  ausgerüstet  auf  die  Wander- 
schaft durch  Italien,    Hurgund  und  Deutschland.     In  allen  Städten,    die  er 
berührte,  —  er   nennt  unter  anderem  Basel,   Augsburg,    Bamberg,   Mainz, 
—  wies  er  mit  stolzem  Selb.stbewusstsein  auf  das  kostbare  Erzeugnis  seines 
Geistes  hin,    das    die    Billigung    eines    Drogo    gefunden    hatte.     Auf  dieser 
eigenartigen  Gelehrtentournee   beseelte  ihn  nicht  nur  die  Sorge  um  Ruhm 
und  Anerkennung,  sondern  die  besondere  Absicht,   am   Hofe  Kaiser  Hein- 
richs Hl.  unter  dessen  Klerus  aufgenommen    zu  werden,    ein  Ziel,    dessen 
Erreichung   die  Anwartschaft    auf  hohe  geistliche  Würden  in  sich  schloss. 
Indes    scheint  sich    ihm    nur  jener  erste  Wunsch    erfüllt    zu  haben.     Sein 
Name  lässt  sich  wenigstens  nirgendwo  unter  den  geistlichen  Würdenträgern 
des   11.  Jahrhunderts  ausfindig  machen,    wahnscheinhch   deshalb,    weil   ihn 
ein  früher  Tod  an  einer  glänzenden  Laufbahn  hinderte,  vielleicht  auch  des- 
halb, weil  die  Zeitgenossen  seiner  Geistesart  nicht  jenen   hohen  Wert    bei- 
zumessen verstanden  wie  er  selbst. 

Die  „Retorimachia"  Anselms  ist  nicht  ohne  Bedeutung  für  die  Wür- 
digung des  geistigen  Lebens  im  11.  Jahrhundert.  Wäre  sie  uns  nicht 
erhalten,  so  könnten  wir  vielleicht  die  Auslassungen  eines  Petrus  Damiani 
über  die  Grammatiker,  Rhetoren  und  Dialektiker  seiner  Zeit  als  übertrieben 
zu  betrachten  geneigt  sein.  Sie  liefert  uns  eine  Bestätigung  der  Schilderung, 
welche  der  berühmte  Kardinal  von  jenen  seinen  Zeitgenossen  entwirft. 
Da  Damiani  zum  Teil  am  nämlichen  Orte  wie  Anselm,  in  Parma,  seine 
Ausbildung  genoss,  so  könnte  man  geradezu  zur  Vermutung  kommen,  er 
wolle  sich  zuweilen  direkt  auf  Drogo  und  seine  Schule  beziehen. 

Von  der  „Retorimachia"  erhält  man  den  Eindruck,  als  ob  sie  eine 
Maturitätsprüfungsarbeit  darstellen  sollte,  bei  welcher  es  für  den  Verfasser 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  91 

darauf  ankam,  von  den  verschiedenen  Kenntnissen  in  Grammatik,  Rhetorik 
und  Dialektik  eine  Anwendung  zu  machen  und  eine  Probe  abzulegen.  Der 
Eindruck  wird  verstärkt  durch  den  wiederholten  Hinweis  Anselms  auf  die 
Approbation  der  Schrift  durch  seinen  Lehrer  Drogo. 

Das  Thema  der  Schrift  bildet  die  Zurückweisung  ehrenrühriger  Angriffe 
eines  Gegners.  Dadurch  bekundet  sie  deutlich  das  praktische  Ziel,  in  das 
der  Trivialunterricht  Oberitaliens  damals  hauptsächlich  ausmündete,  die 
juristische  Verwertung.  Die  Ausführung  Anselms  kann  nicht  als  geschmack- 
voll bezeichnet  werden.  Als  Gegner  lässt  er  seinen  Vetter  Rolland  auf- 
treten, einen  ehrenwerten  Mann,  wie  er  selbst  gesteht,  dem  er  aber  ehren- 
rührige Aeusserungen  in  den  Mund  legt  und  den  er  schliesslich  dadurch 
besiegt,  dass  er  seine  ehrenrührigen  Aeusserungen  überbietend,  ihm  selbst 
die  schändlichsten  Verbrechen  insinuiert.  Auf  die  Darstellungsweise  passt 
ganz  genau,  was  Giesebrecht  von  der  damaligen  Literatur  Italiens  allgemein 
sagt :  „Affectatum  et  durissimum  genus  dicendi  scholam  redolet  grammati- 
cam,  et  tarn  contorta  ac  fucata  plerumque  oratio  est,  ut  Oedipus  opus  sit 
ad  Sphingis  aenigmata  solvenda"  ^). 

Doch  betrachten  wir  die  Schrift  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Dia- 
lektik. Hier  fällt  auf,  dass  er  der  Dialektik  unter  den  Fächern  des  Triviums 
die  oberste  Stelle  einräumt  und  nicht  der  Rhetorik,  wie  man  erwarten 
sollte,  eine  objektire  Wertschätzung,  die  bei  Anselm  auch  dadurch  zum 
Ausdruck  kommt,  dass  er  sich  selbst  „Peripateticus"  nennt.  Im  zweiten 
Buche  seiner  „Retorimachia"  erzählt  er  ein  Traumgesicht,  bei  dem  er  zu 
den  elysischen  Sitzen  (sedes  Helysiae)  entrückt  ward.  Schon  umfangen 
ihn  die  Heiligen  zum  Friedenskusse.  Aber  alsbald  treten  drei  wohlgestaltete 
Jungfrauen  auf  und  reklamieren  Anselm  sich  und  der  Erde.  Die  Dialektik 
ist  die  erste,  welche  ihn  anredete,  sie  ist  auch  die  imposanteste  2).  Durch 
ihr  von  der  Rhetorik  und  Grammatik  unterstütztes  Eingreifen  wird  Anselm 
der  Erde  wieder  gewonnen.  Hören  wir,  mit  welch  überzeugenden  und  für 
Anselm  zugleich  schmeichelhaften  Argumenten  die  dialektische  „Muse" 
ihren  Liebling  zurückfordert.  Sie  rühmt  ihn  als  der  Musen  Führer  (dux 
noster  inclite)  und  fragt,  warum  er  sie,  die  lange  Verlassenen  (diu  dere- 
Hctas)  im  Stiche  lassen  wolle.  Sie  bezeichnet  ihn  anbetrachts  seiner  das 
Gesamtgebiet  der  dialektischen  Kunst  umspannenden  Kenntnis  geradezu  als 
unentbehrlich.  Denn :  „Post  te  quidem  nuUus  erit,  ui  tu,  nisi  qui  fuerit  tu, 
tu  autem  aliquem  impossibile  est  fieri.  Ut  tu  igitur,  necesse  est  non  fieri, 
quia  si  impossibile  est  esse,  necesse  est  igitur  non  esse"^).  Schliesslich 
stürzen  sich  die  drei  Musen  auf  ihn.  Die  Rhetorik  umfängt  ihn  bedeutungsvoll 

^)  De  litterarum  studiis  apud  Italos.  22. 

")  Quarum  una  erat  longissima,  ut  videretur  vertice  ipsa  pulsare  sidera, 
quae,  ut  post  cognovimus,  fuit  Dialectica.  Dümmler  40  (vgl.  Boethius,  De  consol. 
philos.  1.  I,  prosa  I,  M.  63,  588  A). 

*)  Dümmler  40. 


92  J.  A.  Endres. 

am  Halse,  die  Dialektik  um  die  Brust,  die  Grammatik  an  den  Füssen. 
Jede  macht  gegenüber  den  Seligen  ihr  Recht  auf  ihn  geltend,  wobei  die 
Dialektik  insbesondere  betont,  dass  das  Körperliche  mit  dem  Unkörperlichen, 
das  Sterbliche  mit  dem  Unsterblichen  nicht  zusammen  bestehen  kann'). 

So  konsequent  versteht  nun  freilich  Anselm  das  Widerspi'uchsgesetz 
nicht  immer  festzuhalten,  wie  die  Dialektik  ihn  selbst  durch  dasselbe.  Es 
kommen  ihm  einmal  bedenkliche  Zweifel  an  einem  aristotelischen  Lehr- 
punkte. Aus  Aristoteles"  Lehre  wisse  er,  so  führt  er  aus,  dass  durch  die 
Vermischung  zweier  Spezies  keineswegs  eine  dritte  erzeugt  werde,  dass 
besonders  die  Natur  der  Dinge  zwei  konträre  Gegensätze  an  ein  und  der- 
selben Sache  nicht  dulde,  und  um  so  weniger,  dass  sie  zusammen  ein 
Wesen  hervorbringen.  Allem  Anscheine  nach  hat  hier  Anselm  das  10.  und 
11.  Kapitel  der  aristotelischen  Kategorien  im  Auge.  Der  Gedanke  einer 
„Vermischung  der  Spezies"  und  der  Erzeugung  eines  neuen  Wesens  durch 
konträre  Gegensätze  kommt  daselbst  allerdings  nicht  zum  Ausdrueke,  wohl 
aber,  dass  es  unmöglich  sei,  dass  zwei  konträre  Gegensätze  an  ein  und 
derselben  Sache  sieh  finden.  Denn  wenn  es  auch  ein  Mittleres  gebe 
zwischen  konträren  Gegensätzen,  sei  es  nun,  dass  wir  dafür  eigene  Namen 
haben,  wie  „grau"  und  „rot"  als  Mittleres  zwischen  „weiss"  und  schwarz", 
oder  nicht,  so  komme  es  doch  der  Eigenart  jenes  Mittleren  zu,  weder  das 
eine  noch  das  andere  der  Extreme  zu  sein. 

Dagegen  entdeckt  nun  unser  „Peripatetikus"  eine  Instanz.  Durch  den 
Sprung  von  der  logischen  zur  physischen  Ordnung,  —  denn  offenbar 
schwebt  ihm  der  Gedanke  der  Farbenmischung  vor  — ,  kommt  er  zu  der 
Behauptung,  dass  weiss  und  schwarz  durch  ihre  Mischung  „rot  oder  grau" 
bewirken,  dass  sonach  in  jener  Art  von  Mittlerem  tatsächlich  konträre 
Gegensätze  sich  zusammenfinden.  Ja,  indem  er  von  der  Mischung  der 
Farben  wieder  zur  Verbindung  von  Begriffen  zurückkommt,  stellt  er  die 
Erzeugung  jenes  Mittleren  kühn  unter  eine  allgemeine  Regel :  „alle  Spezies 
entslehen  durch  die  Verbindung  zweier  oder  mehr  Spezies,  wie  Mensch 
aus  vernünftig  und  sterblich"  ^). 


^)  Corporeuni  enim  cum  incorporeis,  mortale  cum  imiriortalibus  non  esse 
consistere  dixit  Diakctica.     Dümmler  41. 

')  Arislotelica  didicimus  disciplina  duarum  specierum  commistione  tertiain 
gigni  minime.  Perum  etiam  naturam  pati  omnino  non  posse,  duo  contraria 
simul  in  fodern  esse,  vel,  quod  impossibilius,  eandem  essentiam  procreare. 
Quod  verum  sit  neciie,  quaerimus.  Si  verum,  obicitur  albuni  et  nigrnm  duas 
species  sua  commistione  rubrum  palliduinve  conlicere  et  duo  contraria  simul 
in  eodeni  esse,  cum  etiam  omnes  species  coniunctione  duarum  aut  plurium 
videantur  fieri  specierum,  sicut  homo  ex  rationabili  et  morlali.  Quae  quamvis 
dicanlur  ditferentiae,  vera  tarnen  ratione,  sicut  et  alia  multa  qualia,  sunt  species 
in  sno  dienere.  Quid  ijihir?  Falsane  prit  tarn  studiosae  auctoritatis  propositioV 
Dümmler  34. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  93 

Diese  Entdeckung  inbezug  auf  das  Mittlere  zwischen  den  Gegensälzen 
war  Anselm  wertvoll.  Sie  bewahrte  ihn  und  seinen  „Rednerkampf''  auf 
seiner  dialektischen  Kunstreise  einmal  vor  einem  drohenden  Misserfolge. 
Er  selbst  berichtet  davon  seinem  Mei.ster  Drogo  in  einem  Briefe,  auf  den 
er  die  Adresse  setzt:  Drogoni  magistrissimo  et  eius  discipulissimis  Anselraus 
gratia  dei  et  vestra  imperatorius  capellanus. 

Er  erzählt,  wie  er  sein  Werk  bei  sich  getragen  und  in  allen  Städten, 
durch  die  er  kam,  als  durch  Drogo  approbiert  vorgewiesen  habe.  Ganz 
Gallien,  Burgund,  Sachsen,  selbst  das  barbarische  Franken  seien  nur  eine 
Stimme  des  Lobes  darüber  gewesen.  Nur  Mainz  war  so  undankbar,  ihm 
den  verdienten  Beifall  anfänglich  vorzuenthalten,  teils  aus  Neid  über  die 
Drogonische  Schule  und  die  italienische  Gelehrsamkeit  überhaupt,  teils  aus 
zweifelnden  Erwägungen  anbetrachts  des  jugendlichen  Verfassers  und  eines 
so  hochbedeutsamen  Werkes.  Ins  allgemeine  Lob  einzustimmen,  dazu  war 
die  Moguntia  zu  stolz,  andererseits  wäre  es  doch  zu  auffällig  gewesen,  ein 
gegenteiliges  Urteil  abzugeben.  So  stand  sie  wie  eine  Bildsäule  da,  sich 
weder  zu  einem  Ja  noch  Nein  entschhessend  ^). 

Hier  war  es,  wo  Anselm  seine  dialektische  Entdeckung  zu  Hülfe  kam. 
Er  demonstrierte  ihr  nämlich  in  einer,  wie  er  selbst  gesteht,  puerilis  non 
tamen  inutilis  disceptatio,  dass  es  unmöglich  sei,  Lob  oder  Tadel  zu  unter- 
lassen. Und  wie  gelang  ihm  das  ?  Sehr  einfach.  Die  Moguntia  teilte  mit 
ihm  die  Ansicht,  dass  es  ein  Mittleres  gebe  zwischen  Ja  und  Nein,  Lob 
und  Tadel.  Nur  war  ihr  dieses  Mittlere  keines  von  beiden  (neutrum), 
weder  Lob  noch  Tadel,  so  dass  sie  auf  diese  Weise  weder  das  eine  noch 
das  andere  zu  tun  brauchte.  Anders  Anselm.  Das  Mittlere  besteht  nach 
ihm  aus  beiden  Extremen  zugleich.  Mit  diesem  Mittleren  ist  also  beides 
zugleich  gegeben,  aber  eben  damit  auch  jedes  einzelne.  Eines  von  beiden 
muss  also  geschehen;  denn  sei  es,  dass  seine  Gegnerin  tatsächUch  nur 
eines  oder  beides  zugleich  tue,  so  sei  es  unmöglich,  eines  nicht  zu  tun, 
denn  mit  ihrem  beabsichtigtem  Medium  (=  neutrum)  käme  sie  ja  auf 
nichts  hinaus  ^). 

Wir  haben  vielleicht  Anselm  dem  Peripatetiker  zu  viel  Aufmerksam- 
keit geschenkt.  Allein  er  repräsentiert  eine  Klasse  von  Männern,  von 
denen  uns  die  Literaturdenkmäler  fehlen,  eine  Klasse,  bei  welcher  Dialektik 
und  Sophistik  nahe  verwandt,  ja  verschwistert  erscheinen.  Petrus  Damiani 
hat  für  die  von  den  Zeit-  und  Geistesgenossen  Anselms  behandelten  Fragen 
mit  Recht  kein  besseres  Wort  als  „scholaris  infantiae  naeniae". 

V  Dümmler  57. 
^)  Dümmler  57  f. 


Rezensionen  und  Referate. 


Metaphysik. 

Kausale   und  konditionale  Weltanschauung:.     Von  Max  Ver- 
worn.     Jena  1912,  G.  Fischer.     46  S.     1  A 

Verworn,  der  Bonner  Physiologe,  ist  in  philosophischen  Kreisen  als  Ver- 
treter des  Psychomonismus  bekannt.  Er  nimmt  auch  in  diesem  Vortrag  wieder 
Stellung  zu  einem  philosophischen  Problem,  zum  Problem  der  Ursache. 
Verworn  erörtert  zunächst  den  Ursache-  und  Bedingungsbegriff  und  untersucht 
dann  die  Tragweite  der  konditionalen  Betrachtungsweise  der  Dinge  für  die 
Bildung  einer  Weltanschauung. 

I.  Der  Ursachebegriff.  Die  gewöhnliche  Auffassung  unterschied  bei 
der  Erklärung  der  Erscheinungen  Ursache  und  Bedingung  und  hielt,  wenn  die 
Ursache  für  einen  Vorgang  oder  Zustand  gefunden  war,  den  Vorgang  oder 
Zustand  für  erklärt.  Diese  Auffassung  hält  Verworn  für  verfehlt.  Wenn  die 
Ursache  eines  Vorgangs  gefunden  sei,  sei  der  Vorgang  noch  lange  nicht  auf- 
geklärt, es  sei  nur  ein  einziger  Faktor  aufgedeckt,  von  dem  der  Vorgang 
bestimmt  werde,  in  Wirklichkeit  aber  sei  der  Vorgang  und  Zustand  von  zahl- 
reichen anderen  Faktoren  genau  ebenso  abhängig,  ja  es  sei  oft  sehr  schwierig, 
unter  den  bestimmenden  Faktoren  des  Vorgangs  die  Ursache  herauszufinden. 
Mit  der  kausalen  Betrachtungsweise  stehe  man  dem  wirklichen  Leben  oft  hilf- 
los gegenüber.  Mit  der  Annahme  einer  einzigen  Ursache  für  einen  Vorgang 
komme  man  nicht  aus.  Kein  Vorgang  oder  Zustand  in  der  Welt  sei  von  einem 
einzigen  Faktor  allein  abhängig.  Daher  habe  die  Naturwissenschaft  dem  Ur- 
sachenbegriff den  Bedingungsbegriff  an  die  Seite  gestellt.  Die  gewöhnliche  Auf- 
fassung eines  Vorgangs  sei  nunmehr  die.  dass  er  einerseits  von  seiner  Ursache, 
andererseits  von  einer  Reihe  von  Bedingungen  abhängig  sei.  Die  Ursache 
bringe  den  Vorgang  nur  dann  hervor,  wenn  eine  gewisse  Anzahl  von  Be- 
dingungen realisiert  sei.  Die  Frage,  ob  wir  unter  den  Faktoren,  welche  einen 
Vorgang  oder  Zustand  bestimmen,  dem  einen  eine  grössere  Bedeutung  einzu- 
räumen berechtigt  seien  als  den  andern,  und  ihn  als  ,,Ursache"  den  „Be- 
dingungen" gegenüber  zu  stellen,  verneint  Verworn.  Unter  den  zahlreichen 
Faktoren,  von  denen  der  Vorgang  abhängig  sei,  gelte  der  als  Ursache,  der 
zeitlich  zuletzt  zu  den  übrigen  hinzutrete.  Aber  man  gewinne  nichts  für  das 
Verständnis  und  die  feinere  Analyse  eines  Vorgangs,  wenn  man  den 
zuletzt  hinzutretenden  Faktor  als  seine  Ursache  bezeichne.  Er  sei  eine  Be- 
dingung wie  die  anderen  Faktoren,  von  denen  der  Vorgang  abhängig  sei.  Die 
Bedingungen,   von  denen  ein  Vorgang   oder  Zustand   abhängig  ist,   seien  völlig 


M.  Veiworn,  Kausale  und  konditionale  Weltanschauung.  95 

gleichwertig  unter  einander.  Es  sei  Mystizismus,  unter  den  Faktoren  eines 
Vorgangs  solche  von  verschiedener  Wertigkeit  wie  Ursache  und  Bedingungen 
zu  unterscheiden.  Man  müsse  endlich  den  Ursachenbegriff  als  Erklärungs- 
prinzip aus  der  wissenschafthchen  Betrachtungsweise  eliminieren  und  an  seine 
Stelle  die  streng  konditionale  Betrachtungsweise  setzen.  Das  sei  die  exakteste 
Form  der  Darstellung  aller  Gesetzmässigkeit.  Die  Aufgabe  aller  wissen- 
schaftlichen Erforschung  alles  Seins  und  Geschehens  könne 
lediglich  in  der  Ermittelung  seiner  Bedingungen  bestehen. 

II.  Nach  dieser  Darlegung  der  Hauptsätze  des  Konditionismus  prüft  Ver- 
worn  die  Frage,  wieweit  uns  die  konditionale  Betrachtungsweise  der  Dinge  bei 
der  Bildung  einer  Weltanschauung  bringe.  Verworn  glaubt,  dass  der  Kondi- 
tionisraus  etwas  mehr  sei  als  eine  abstrakte  Darstellungsmethode,  er  verwerfe 
jeden  mystischen  Faktor  und  sei  dadurch  dem  Kausalismus  unendlich  über- 
legen, besonders  aber  lasse  er  viele  Probleme  verschwinden,  die  zu  unfrucht- 
baren Diskussionen  geführt  iiaben.  Verworn  will  das  durch  Anwendung  der 
konditionalen  Betrachtungsweise  auf  einige  fundamentale  Fragen  der  Welt- 
anschauung zu  beweisen  versuchen. 

1.  Der  Konditionismus  löse  die  Frage  nach  den  Beziehungen  der 
psychischen  zu  den  materiellen  Vorgängen.  Wenn  die  sämtlichen 
Bedingungen  für  einen  Bewusstseinsvorgang  eimittell  seien,  so  sei  der  Bewussl- 
seinsvorgang  damit  wissenschaftlich  vollständig  erforscht.  Im  streng  empirischen 
Konditionismus  sei  kein  Platz  für  eine  Vorstellung  wie  die,  dass  in  einer 
materiellen  Ganglienzelle  in  irgend  einer  geheimnisvollen  Weise  mit  ihren  Atomen 
verknüpft  und  mit  deren  Bewegung  parallel  gehend  eine  immaterielle  Seele 
wohne.  Der  Konditionismus  ersetze  den  scheinbaren  Dualismus  des  naiven 
Denkens  durch  eine  rein  monistische  Auffassung. 

2.  Ebenso  löse  der  Konditionismus  die  Frage  nach  den  Prinzipien  des 
Geschehens  im  lebendigen  Organismus.  Da  sei  kein  Suchen  nach 
der  Ursache  der  Lebensäusserungen,  keine  Fiktion  vom  Walten  hypermecha- 
nischer Faktoren,  keine  Entelechien  ä  la  Driesch  nötig,  damit  verschwinde  auch 
die  unglückliche  Streitfrage  bezüglich  der  inneren  und  äusseren  Ursachen  der 
Entwicklung. 

3.  In  gleicherweise  verschwinde  vor  dem  Konditionismus  die  Lehre 
von  der  Willensfreiheit  als  Wahlmöglichkeit.  Es  gebe  für  die  Handlungen 
des  Menschen  keine  Wahlmöglichkeit,  die  Handlungen  des  Menschen  seien  immer 
der  Ausdruck  der  momentanen  konditionalen  Situation  in  den  Neuronen  seiner 
Grosshirnrinde. 

4.  Auch  das  Vererbungsproblem  löse  sich  durch  den  Konditionismus ; 
ebenso  wirke  die  konditionale  Denkweise  in  der  Pathologie  befreiend  und 
erkläre  Krankheit  und  Tod  nicht  durch  eine  einzige  Ursache,  sondern  durch 
das  ganze  Ineinandergreifen  aller  Bedingungen. 

5.  Auf  dieselbe  Weise  werde  die  Frage  nach  der  Unsterblichkeit  der 
Menschenseele  durch  die  klare  Denkweise  des  Konditionismus  gelöst.  Die  Frage 
nach  dem  Fortleben  der  Seele  sei  die  Frage  nach  dem  Fortbestehen  von  Be- 
vvusstseinsvorgängen  nach  dem  Tode  des  Individuums.  Für  eine  konditionale 
Auffassung   seien    die    Bewusstseinsakte    bedingt    durch    die    Prozesse    in    den 


96  C.  Gutberiet. 

Fiestandteilen  der  Grosshirnrinde.  Mit  dem  Forltall  itirer  Ijediugungeu  Iiüien 
diese  Bewusstseinsvorgänge  auf.     Also  kein  Fortleben  nach  dem  Tode. 

Soweit  Verworn.  Wir  bemerken  kurz :  Der  ganze  Konditionismus  ist 
lediglich  eine  Darstellungsform,  eine  von  tier  gewöhnlichen  Form  abweichende 
Bezeichnung.  Man  nennt  auch  das,  was  man  sonst  Ursache  nannte,  Bedingung 
und  liat  dann  zwar  dem  Worte  nach  keine  Ursache  mehr,  sondern  nur  Be- 
dingungen. In  Wirklichkeit  ist  aber  damit  die  Unterscheidung  von  Ursache  und 
Bedingung  nichl  aus  der  Welt  gescliafft.  Diese  Unterscheidung  ist  vielmehr 
nichts  Gleichgültiges,  sondern  etwas  sehr  Wichtiges.  Ich  kann  alle  Bedingungen 
einer  Erscheinung  aufzählen,  damit  ist  die  Erscheinung  noch  keineswegs  voll- 
kommen erklärt  und  begriffen;  dazu  ist  vielmehr  noch  eine  Ursache  nötig. 
So  mögen  die  Bedingungen  der  Bewusstseinsvorgänge  Gehirn  und  Nerven  sein, 
aber  Gehirn  und  Nerven  allein  erklären  die  Bewusstseinsvorgänge  keineswegs 
vollständig  —  wir  haben  noch  eine  geistige  Ursache,  ein  Ich,  eine  Seele  nötig, 
um  die  Bewusstseinsvorgänge  zu  begreifen.  Aehnlich  ist  es  mit  der  Willens- 
freiheit. Gewiss  ist  jede  Handlung  durch  Bedingungen  determiniert,  aber 
nicht  bloss  durch  diese;  es  ist  noch  ein  Ich  nötig  als  Ursache,  das  unter  den 
verschiedenen  Motiven  eines  zum  ausschlaggebenden  macht.  Es  geht  eben  nun 
einmal  nicht  an,  causa  und  conditio  zu  verwechseln,  oder  die  causa  zu  elimi- 
nieren, indem  man  sie  conditio  tauft.  Damit  entfallen  auch  all  die  Konse- 
quenzen für  die  Weltanschauung,  welche  Verworn  leichtherzig  ziehen  zu 
müssen  glaubt. 

Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  Stölzle. 


Monistische    Einheitsbestrebuiigen    und    katholische   Welt- 
anschauung.   Von  Fr.  Klimke.    Freiburg  i.  B.  1912,  Herder. 

Nachdem  der  VI.  in  seinem  hervorragenden  Werke :  „Der  Monismus  und 
seine  philosophischen  Grundlagen" ')  theoretisch  eine  gründliche  Abrechnung 
mit  allen  Formen  des  Monismus  gehalten,  wendet  er  das  Thema  in  vorliegendem 
Schriftchen  nach  der  praktischen  Seite.  Enthält  ja  dasselbe  einen  Vortrag,  der 
für  die  Festversammlung  der  Akademischen  Piusvereine  Deutschlands  während 
des  Katholikentages  in  Mainz  1911  bestimmt  war,  aber  wegen  Kränklichkeit  des 
Vf.s  nicht  gehalten  werden  konnte.  Er  zeigt  die  Anstrengungen,  welche  der 
Monismus,  namentlich  der  „Bund",  für  seine  Sache  macht,  gibt  aber  auch  zu- 
gleich die  Mittel  an,  welche  wir  demselben  gegenüber  mit  Energie  ins  Werk 
setzen  müssen. 

Er  zeigt  zunächst  die  Notwendigkeit,  „die  Uebertreibungen  in  der  zentri- 
petalen Tendenz  des  modernen  Monismus  aufzudecken,  sowie  die  Stellung  der 
katholischen  Weltanschauung  derartigen  Strömungen  und  Gefahren  gegenüber 
genauer  zu  formulieren". 

Es  sind  hauptsächlich  drei  starke  Uebertreibungen,  welche  der  Monismus 
sich  zu  Schulden  kommen  lässt. 


')  Eine  Rezension  dieses  bedeutenden  Werkes,  welche  die  Redaktion  be- 
stellt hat,  ist  bis  jetzt  nicht  eingegangen. 


Monistische  Einheitsbestrebungen  und  kath.  Weltanschauung.         i»7 

An  erster  Stelle  ist  „seine  Uebertreibung  des  subjektiven  Emheilsbedürf- 
nisses  mit  Hintansetzung  der  objektiven  Wirklichkeit  zu  betonen".  Die  zweite 
Uebertreibung  liegt  in  einseitiger  Betonung  „der  objektiven  Einheitsindizien 
mit  Hintansetzung  des  strengen  und  nüchternen  Kritizismus,  der  logischen  und 
ontologischen  Prinzipien".  Der  dritte  Fehler  liegt  in  der  „Uebertreibung  empi- 
rischer Gesetze  und  Faktoren  mit  Hintansetzung  transzendenter  Gesichtspunkte 
und  metaphysischer  Prinzipien". 

Die  gemeinsame  Wurzel  wird  mit  Recht  vom  Vf.  in  dem  „krank- 
haften Taumel  reiner  Diesseitigkeit",  welchem  „die  gesamte  moderne  Geistes- 
lage der  Kulturmenschheit"  entspricht,  erkannt. 

Gibt  es  bei  dieser  allgemeinen  Verwirrung  in  die  düstere  Nacht  des 
absoluten  Diesseitskultes  kein  rettender  Leuchtturm  mehr?  Ja.  .,Es  ist  imsere 
heilige  katholische  Religion". 

Aber  wir  müssen  arbeiten :  „An  erster  Stelle  bedürfen  wir  heute  mehr  als 
je  vielleicht  des  ernsleslen,  vollsten,  rückhaltlosesten  Anschlusses  an  die 
Quellen  übernatürlichen  Lebens ',  an  die  Kirche.  Und  wenn  unsere  Gegner 
sich  solidarisch  zu  gemeinsamem  Angriff  zusammenschliessen,  00  bedarf  es  von 
unserer  Seite  „noch  mehr  Zusammenschluss,  noch  mehr  Einheitlichkeit,  noch 
mehr  gemeinsame  Arbeit". 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


Naturphilosophie. 
Die  Magie  als  experimentelle  Naturwissenschaft.    Von  Dr. 

L.   Staudenmaier.      Leipzig    1912,    Akademische   Verlags- 
gesellschaft. 

Aus  dem  Titel  der  Schrift  wird  der  Leser  kaum  den  eigentlichen  Inhalt 
erkennen  können.  Er  will  sagen:  Auf  experimentellem  Wege  hat  der  Vf.  alle 
sogenannten  magischen  Erscheinungen  naturwissenschaftlich  erklären  können. 
Er  war  dazu  in  besonderer  Weise  befähigt,  da  er,  als  Professor  der  Experimenlal- 
chemie  im  Lyzeum  in  Freising  mit  den  naturwissenschaftlichen  Methoden  wohl 
vertraut,  zugleich  als  Theologe  die  sogenannten  magischen  Erscheinungen 
ziemlich  eingehend  kennen  gelernt  hatte. 

Er  betrachtet  die  Magie  nicht  als  Dilettantismus,  sondern  als  ernsten  Be- 
ruf, in  welchem  er,  wie  dies  in  jedem  andern  der  Fall  ist,  manche  Schwierig- 
keiten und  Unannehmlichkeiten  ertragen  musste.  Und  zwar  muss  es  ein  wissen- 
schaftlicher feeruf  sein,  „der  eine  entsprechende  Vorbildung  verlangt.  Der 
Magier  muss  im  Gegensatz  zu  den  meist  ungebildeten  Medien  ein  gewisses 
Mass  von  allgemeiner,  namentlich  naturwissenschafthcher  Bildung  besitzen  . . . 
Selbstverständlich  träume  ich  dabei  bereits  von  Professuren  der  Magie  an  den 
Universitäten.  Die  Magie  wird  dann  zweifellos  allmählich  eine  grosse  Be- 
deutung erlangen.  Sie  wird  für  das  Verständnis  zahlreicher  Religionen,  die  ja 
meistens  Magier  begründeten,  von  Wichtigkeit  sein".  „Spiritismus  und  Theo- 
sophie, zu  deren  wissenschaftlicher  Auffassung  die  Magie  den  Schlüssel  liefert", 
haben  eme  selbständige  Religion  mit  vielen  Millionen  Bekennern,  den  Buddhis- 
mus, begründet. 

Philosophisches  .Tahrbucli  1913  .  7 


98  G.  Gutberiet. 

„Die  Kenntnis  des  Traumlebens,  Somnambulismus,  Hypnotismus,  des  ani- 
malischen Magnetismus,  des  Mystizismus,  Spirili.snius  und  Okkultismus  über- 
liaupt  wird  durch  die  Magie  eine  mächtige;  Förderung  erfahren.  Kann  man 
doch  die  entsprechenden  Vorgänge  an  sicii  selber  mehr  oder  weniger  gut  in 
völlig  wachem  und  der  Selbstbeobachlung  fähigem  Zustande  herbeiführen". 

Begleiten  wir  den  Vf.  ein  wenig  auf  diesen  etwas  tiolperigen,  für  den 
Pfadfinder  selbst  oft  dornigen  Wegen. 

Von  einem  Freunde  gedrängt,  Experimente  über  einige  bei  den  spiritisti- 
schen Sitzungen  vorkommende  Phänomene  anzustellen  und  speziell  über  die 
Art  und  Weise,  wie  die  Geisterschriften  systematisch  eingeübt  werden,  setzte 
sich  unser  Naturforscher  mehrere  Tage  lang  ruhig  mit  Papier  und  Bleistift  hin, 
eine  Zeit  lang  wartend,  ob  nicht  die  HamI  sich  bewege  und  zu  schreiben 
beginne.  Aber  da  nichts  geschah,  gab  er  die  Sache  wieder  auf,  bis  ihm  der 
Herr  wieder  stark  zusetzte.  Er  begann  von  neuem  und  schon  nach  wenigen 
Tagen  spürte  er  einen  Zug  in  den  Fingerspitzen,  den  Bleislift  seitwärts  und 
abwärts  zu  bewegen.  Dieser  Zug  wurde  in  den  nächsten  Tagen  immer  deut- 
licher, und  er  verstärkte  ihn  durch  die  Konzentration  der  Gedanken  und  mög- 
lichst leichtes  Halten  des  Stiftes.  Nach  und  nach  ging  der  Prozess  immer 
leichter,  sodann  bewegte  sich  der  Slifl  nach  allen  Richtungen  und  beschrieb 
die  sonderbarsten  Schnörkel.  Daraus  suchte  er  eine  planmässige  Schrift  zu 
erhalten,  um  die  Urheber  der  Zeichnungen,  welche  nach  den  Spiritisten  Geister 
Verstorbener  sein  sollen,  herauszufinden. 

Als  er  eines  Abends  den  Bleislift  wieder  hielt,  begann  er  zu  schreiben: 
„Julie  Norne  ist  da".  Diesen  Namen  hatte  er  als  Geist  eines  Verstorbenen  in 
spiritistischen  Schriften  gelesen.  In  Gedanken  fragte  er,  ob  ein  Geist  da  sei, 
es  wurde  „Ja"  geschrieben.  Er  stellte  nun  mehrere  Fragen,  namentlich  aus 
der  Chemie ;  er  erfuhr  aber  nur  ihm  Bekanntes.  Da  der  Geist  ermüdet  schien, 
wurde  die  Unterhaltung  abgebrochen.  In  den  nächsten  Tagen  kam  derselbe 
Geist  wieder;  St.  hegte  aber  Zweifel  an  seiner  Realität,  weil  er  bei  den  Ant- 
worten selbst  mitdenken  musste,  und  die  Worte,  die  folgen  mussten,  immer 
schon  bei  ihm  in  Bereitschaft  waren;  der  Eindruck  freilich  war  der  wie  von 
einem  Fremden.  In  den  nächsten  Tagen  weciiselte  der  Geist  manchmal  sein 
Wesen,  es  kamen  auch  andere  und  erklärten  :  „Werner  ist  da",  „Statl'ord  ist  da", 
Namen,  die  er  bei  den  Spiritisten  gelesen  halte.  Die  Zahl  der  sich  Meldenden 
wurde  immer  grösser,  ihre  Antworten  immer  tlacher,  selbst  moralisch  defekte, 
sexuelle,  bösartige  kamen  vor.  Aus  dem  iniu-ren  Vorherwissen  entwickelte  sich 
ein  ,, inneres"  Vor  her  hören,  das  auch  nahe  dem  Uhr  lokalisiert  wurde.  Dadurch 
trat  die  Wirkung  des  Bleistiftes  mehr  zurück.  Er  fulir  mechanisch  die  einzelnen 
Buchstaben  nur  andeutend  über  das  Papier  hinweg.  Dann  legte  er  den  Stift 
weg,  horchte  nur  auf  die  innere  Stimme  und  bewegte  etwas  die  drei  Finger, 
die  den  Stift  gehalten  iialten.  Schliesslich  wurde  auch  das  überflüssig,  und  er 
konnte  auch  so  mit  den  Geistern  sich  unlerhallen. 

Aber  die  eigene  innere  Stimme  wiu'de  immer  aufdringlicher,  spöttisch, 
zänkisch.     Gegen  seinen  Willen  wurde  ein  unerträglicher  Streit  untei halten. 

Vielfach  waren  die  Angaben  der  sich  meldenden  Personen  vöUig  erlogen. 
Wenn  er  ihnen  Vorwürfe  darüber  machte,  entschuldigten  sie  sich.  Wir  können 
nicht  ganz  anders,  wir  sind  böse  Geisler,  wir  müssen  lügen.     Sie  wurden  auch 


L.  Staudenmaie r,  Die  Magie  als  experimenteile  Naturwissenschaft.       99 

grob :  „Du  kannst  mir  den  Buckel  naufsleigen,  du  Duu.mkopf,  warum  hast  du 
uns  gerufen.  Du  quälst  uns  ständig".  Schon  der  geringste  unvorsichtige  Ge- 
danke an  sein  Inneres  bewirkte  manchmal  einen  Wutausbruch  der  inneren 
Stimme.  Nach  dem  Rate  von  Spiritisten,  sich  an  einen  bestimmten  Geist  zu 
halten,  verkehrte  er  wieder  mit  Julie  Norne.  Allein  nachdem  er  eine  Zeit  lang 
mit  ihr  gesprochen  hatte,  erfolgte  mit  ihrer  oder  auch  anderer  Stimme  die 
Antwort:  „Wir  haben  dich  nur  zum  Narren  halten  wollen,  wir  haben  ge- 
logen". Die  Entartung  ging  nach  allen  Richtungen  hin,  endlos  neue  Geister 
meldeten  sich. 

Daneben  traten  auch  Gesichte  auf.  Zunächst  fühlte  er  einen  starken  Zug 
nach  den  Augen,  ähnlich  dem  in  den  Fingern  beim  mediumistischen  Schreiben, 
es  wurde  ihm  dunkler  vor  den  Augen  beim  Hören  der  Stimmen,  später  sah  er 
aber  wirkliche  Gestalten.  Als  er  eines  Nachts  in  völlig  wachem  Zustande  sich  mit 
den  inneren  sich  anmeldenden  Stimmen  unterhielt,  sah  er  beim  Umwenden  im 
Bette  neben  sich  den  Kopf  eines  hübschen,  vor  kurzem  gesehenen  Mädchens 
in  verklärter  Schönheit  hervorragen.  Da  nun  auch  eine  rauhe,  unheimliche 
Stimme  ihm  spöttisch  zuflüsterte,  merkte  er,  um  was  es  sich  handelte  und  wies 
das  Phantom  schimpfend  ab.  Später  sagte  ihm  eine  naive  freundliche  Stimme : 
„Das  Fräulein  ist  wieder  fort".  Die  sexuelle  Gefahr  bestimmte  ihn,  der  Julie 
Norne  den  Laufpass  für  immer  zu  geben. 

Dagegen  schienen  manchmal  alle  Teufel  los  zu  sein.  Teufelsfratzen  sah 
er  längere  Zeit  mit  aller  Klarheit  und  Deutlichkeit,  die  schrecklichsten  Drohungen 
wurden  von  ihnen  ausgestossen.  Einmal  hatte  er  im  Bette  deutlicli  das  Gefühl, 
als  wenn  jemand  ihm  eine  Kette  um  den  Hals  schlinge,  und  hörte  eine  innere 
unheimliche  Stimme:  „Jetzt  bist  du  mein  Gefangener.  Ich  werde  dich  nicht 
mehr  loslassen.  Ich  bin  der  Teufel".  Auch  nahm  er  einen  sehr  Übeln  Schwefel- 
wasserstoffgeruch wahr. 

In  der  Ueberzeugung,  wichtige  Entdeckungen  zu  machen,  hatte  St.  die 
Experimente  mit  grösster  Anstrengung  bis  zur  Schmerzhaftigkeit  fortgesetzt. 
Dies  ruinierte  seine  Gesundheit,  und  er  mussle  seine  Lebensweise  ändern. 
Damit  nahm  aber  auch  seine  Mediumität  ab.  Dieselbe  war  immer  am  inten- 
sivsten, wenn  er  recht  abgespannt  war. 

Auf  Anraten  des  Arztes  ging  er  auf  die  Jagd,  aber  er  konnte  die  Hallu- 
zinationen und  das  Grübeln  nicht  los  werden.  Seine  feindseligen  Geister  wurden 
immer  wütender.  Monate  lang  sass  ihm  ein  Kerl,  wenn  er  nachts  nach  Hause 
ging,  auf  dem  Nacken,  machte  spöttische  Bewegungen,  sumste.  Noch  schlimmer 
ging  es  zu  Hause.  Es  erfolgte  ein  Schlag  ans  Fenster,  auf  den  Boden,  an  die 
Wand,  auf  die  Bücher,  ein  anderes  Mal  hörte  er  einen  Knall,  ein  Krachen. 
Schon  früher  hatte  er  die  Wände  wie  mit  einem  Federwisch  abklopfen  hören, 
was  auch  seine  Mutter  Minuten  lang  wahrnahm.  Eine  in  seiner  Nähe  befind- 
liche feste  Substanz  zersprang  in  kleine  Stücke.  Die  Geister  gewannen  auch 
Einfluss  auf  seinen  Körper  und  seine  einzelnen  Organe,  z.  B.  Herz  und  Lunge, 
sodass  die  Atmung  verändert  wurde. 

Schliesslich  kam  es  zu  förmlichen  Personifikationen:  Gesichts- und 
Gehörsvorstellungen  verbanden  sich,  so  dass  die  auftretenden  Gestalten  sich 
mit  St.  unterhielten.  Besonders  charakteristisch  war  die  Vorstellung  des 
deutschen   Kaisers   und   anderer   hoher   Persönlichkeiten.     Dabei  beschlicb  ihn 

7* 


ioo  C.  Gutberiet. 

ein  erhebendes  Gefühl,  ein  grosser  Herrscher  zu  sein,  die  Brust  hob  sich,  die 
Haltung  wurdß  slrauim.  Eine  weitere  PersonifikaLion  war  das  freundlichere 
„Kind",  aber  feindselit^  der  ,.Bock-'"  und  ..Pferdeluss",  welche  speziell  den 
Darmkanal  slark  berinflussten.  Der  Bockfuss  bewirkte  ihm  einen  zu  beiden 
Seiten  eingedrücklen,  bockarliiren  Brustkasten.  Er  biegt  und  windet  den  Dick- 
darm, fühlt  verschiedene  Kunststücke  mit  ihm  aus.  Ueber  der  Nabelgegend 
im  Dickdarm  fühlte  St.  zeitweilig  ganz  scharf  kleine  rundliche  Exkremente 
eines  Geissbockes.  Der  Pferdefuss  macht  ihm  dies  nach,  lehnt  sich  dabei  aber 
an  das  Pferd  als  Urbild  an.  Die  Teufel  bewirken  überhaupt  im  Darme  un- 
natürliche Hemmungen  und  unangenehme  Störungen,  die  Vf.  durch  Turnen 
und  andere  physische  oder  psychische  Mittel  entfernen  muss. 

Nach  Angabe  der  Geister  sind  auch  die  geistigen  Gefühle  im  Darm  lokalisiert. 
,,So  liegen  die  peripheren  spezifischen  Endnerven  für  die  hoheitlichen  und 
vornehmen  Gefühle  in  der  Pylorusgegend,  diejenigen  für  die  religiösen  und 
erhabenen  in  der  oberen  Dünndarmgegend,  für  die  teuflischen,  geraeinen  und 
minder«rertigen  Gefühle  und  Triebe  zum  Teil  im  Dickdarm  (Bocksgestalten) 
und  Enddarmgebiet  (Pferdefuss).  Letzteres  macht  begreiflich,  dass  das  Stinken 
der  Teufel  in  der  Magie  eine  grosse  Rolle  spielt  .  .  .' 

Das  sind  die  wichtigsten  Phänomene,  welche  unser  Naturforscher  an  sich 
erfahren  bzw.  herbeigeführt  hat.  Dieselben  werfen  ein  helles  Licht  auf 
die  spiritistischen  und  hypnotischen  und  andere  sogenannten  magischen  Er- 
scheinungen, zeigen  deren  rein  subjektiven  Charakter.  Bei  genauer  Prüfung 
stellen  sich  dieselben  noch  subjektiver  heraus,  als  der  Vf.  zu  glauben  geneigt 
ist.  Dass  er  so  auffallende  Veränderung  im  Darme  durch  die  Geister  beobachtet, 
erklärt  sich  durch  sein  Magenleiden,  das  ihn,  wie  er  selbst  mitteilt,  20  Jahre 
lang  zwang,  sicli  nach  dieser  Richtung  zu  beobachten.  Sehr  entschieden  tritt 
dabei  ein  weitgehender  Einfluss  des  Psychischen  auf  das  Physische  zu  tage, 
auch  auf  diejenigen  Partien,  die  normal  dem  Willen  entzogen  sind.  Ich  möchte 
es  gerade  nicht  für  unmöglich  halten,  dass  sich  so,  wie  er  glaubt,  Luststellen 
ausbilden  lassen.  Dagegen  erscheint  es  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Seele  auch, 
wie  er  glaubt  beobachtet  zu  haben,  über  den  Körper  hinaus  wirken  könne. 
Die  Beeinflussung  einer  chemischen  Wage,  die  Verschiebung  leichter  Körper 
über  eine  glatte  Oberfläche  sind  dafür  keine  zureichend  glatten  Beweise. 
Jedenfalls  würden  sie  die  Poltererscheinungen,  das  Erheben  von  schweren 
Gegenständen  wie  Tische  nicht  erklären.  Die  ZuhüUenalime  von  elektrischen 
dem  Medium  entströmenden  Schwingungen  ist  doch  sehr  hypothetisch.  Ebenso 
und  noch  mehr  Bedenken  erwecken  die  feinsten  Schwingungen,  welche,  von  den 
Gedanken  im  Gehirn  ausgesandt,  eine  Gedankenübertragung  vermitteln  sollen. 
Eine  solche  soll  z.  B.  auch  zwischen  Menschen  in  verschiedenen  Weltteilen 
stattfinden.  Eine  Gedankenübertragung  ohne  irgendwelche  Signale  ist  überhaupt 
nicht  festgestellt  worden.  Die  Anmeldungen  Sterbender  werden  nicht  allgemein 
anerkannt,  selbst  nach  den  sorgfältigsten  Forschungen  der  Englischen  Gesell- 
schaft für  Psycliical  research.  Dass  sich  viellach  Briefe  von  Freunden  so 
regelmässig  kreuzen,  beweist  nicht,  dass  ihre  Entschlüsse,  sich  zu  schreiben, 
von  einander  beeinflusst  waren.  Der  Zufall  spielt  da  eine  grosse  Rolle,  sodann 
wird  der  eine  ungefähr  dieselbe  Zeit  wieder  einmal  dem  Freunde  zu  schreiben 
für  gekommen  hallen,  wie  der  andere. 


L.  Staudenmaie r,  Die  Magie  als  experimentelle  Naturwissenschaft.     101 

Sehr  problematisch  ist  auch  die  in  demselben  Sinne  versuchte  Erklärung 
der  Gesichtshalluzination,  und,  wenn  auch  wenig  aber  doch  eher  annehmbar,  der 
Gehörs-  und  Gefühlshalluzination,  die  nicht  rein  phantastisch  sein  sollen. 

.,Bei  der  lebhaften  VorsteHung  eines  optischen  Bildes  wird  die  Netzhaut 
erregt.  Diese  Erregung  teilt  sich  auch  dem  umgebenden  Aether  mit,  so  dass 
.  er  in  entsprechende  Schwingungen  gerät.  Diese  Schwingungen  aber  nennen 
wir  Licht.  Es  wird  also  auch  wirkliches  Licht  erzeugt.  Dieses  von  der  Netz- 
haut produzierte  Licht  passiert  die  brechenden  Medien  des  Auges  in  umge- 
kehrter Richtung,  als  es  beim  Sehen  der  Fall  ist,  geht  also  zunächst  durch 
Glaskörper,  dann  durch  Linse,  Pupille  usw.  nach  aussen,  und  es  wird  an  der 
Stelle,  an  welcher  man  sich  Licht  oder  ein  optisches  Bild  vorstellt,  reelles 
Licht  oder  ein  reelles  Bild   erscheinen". 

„Stellt  man  sich  nun  in  der  erwähnten  Weise  eine  Person,  einen  Gegen- 
stand, nicht  ruhend,  sondern  in  Bewegung  vor,  dann  wird  auch  das  nach  aussen 
gelangende  Bild  nicht  ruhen,  sondern  Bewegungen  ausführen,  vergleichbar  mit 
den  Produktionen  eines  Kineraatographen". 

„Aehnlich  ist  es  bei  der  Gehörhalluzination.  Die  Erregung  pflanzt  sich 
von  der  Schnecke  über  die  Gehörknöchelchen  beiderseits  bis  zum  Trommelfell 
fort.    Diese  setzen  die  umgebende  Luft  in  entsprechende  Schwingungen  .  .  ." 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Halluzinationen  rein  sub- 
jektiv sind.  Dies  zeigt  uns  ganz  deutlich  der  Traum,  der  überhaupt,  wie 
manche  pathologische  Erscheinungen,  die  besten  Anhalts-  oder  doch  Ausgangs- 
punkte für  die  Erklärung  der  magischen  Erscheinungen  bietet.  Der  Träumende 
hört  und  sieht  mit  aller  Klarheit  Personen  und  Gegenstände.  Von  der  Netzhaut, 
die  eventuell  unter  der  Bettdecke  sich  befindet,  können  die  Aetherschwingungen 
durch  das  undurchsichtige  Medium  nicht  hindurchdringen.  Freilich  auch  das 
Traumproblem  ist  noch  nicht  gelöst. 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


Piccola  biblioteca  scicntifica  deila  „Rivista  di  Filosoüa  Neo- 
Scolastica".     Firenze  1912,  Libreria  Editrice  Fiorentina. 

Nr.  1.  Recenti  Scoperte  e  recenti  Teorie  nello  studio  dell' 
origine  dell'  uonio.  Di  Agostino  Gemelli.  4''^  edizione  riveduta  ed 
aumentata.     pag.  109.     Lire  0,75. 

Nr.  2.  Le  leggi  dell'  Ereditä.  Di  G.  A.  Erlington.  pag.  51. 
Lire  0,75. 

Nr.  3.  II  Psicomonismo  o  Monismo  psicologico.  Di  Bohdan 
Rutkiewicz.     pag.  97.     Lire  0,75. 

Der  rührige  Herausgeber  der  ,,Rivisia  Neo-Scolasfica",  P.  Agostino 
Gemelli,  hat  den  Plan  gefasst,  eine  Sammlung  populär -wissenschaftlicher 
Schriftchen  zu  begründen,  in  denen  „die  modernen  Gesichtspunkte  in  einigen 
wissenschaftlichen  Fundamentalfragen  popularisiert"  werden  sollen,  im  Geiste 
der   neuscholastischen  Philosophie.     Die   Stoffwahl    für   die   bis  jetzt   vor- 


102  Chr.  Schreiber. 

Hegenden  drei  ersten  Hefte  verrät  eine  glückliche  Hand,  die  hier  behandelten 
Gegenstände  sind  in  der  Tat  von  der  höchsten  aktuellen  Bedeutung:  Evo- 
lutionismus, Monismus  und  Biologismus.  Die  Darlegungen  sind  von  wissen- 
schaftlichem Geiste  getragen.  Besonders  hervorzuheben  ist  die  eingehende 
Verwertung  der  diesbezüglichen  auch  nichtitahenischen  und  darunter  mit 
Vorzug  der  deutschen  Literatur. 

Das  erste  Heft  bespricht  die  neuen  Entdeckungen  und  die  neuen 
Theorien  über  den  Ursprung  des  Menschen.  Die  Theorie  Haeckels, 
Schwalb  es,  die  Theorie  der  indirekten  Affenabstammung  und  die  Theorie 
der  Abstammung  von  den  Protomammalen  von  St  ratz  erfahren  eine  kri- 
tische Beurteilung  und  Ablehnung. 

Gleichsam  eine  Fortsetzung  des  ersten  bildet  das  zweite  Heft.  Nach 
einer  die  in  Frage  kommenden  Begriffe  erläuternden  Einleitung  werden  in 
zwei  Kapiteln  die  Men  de  Ischen  Vererbungsgesetze  in  der  ursprünglichen 
und  in  der  erweiterten,  neueren  Fassung  dargelegt,  um  im  4.  Kapitel  zum 
Menschen  in  Beziehung  gesetzt  zu  werden.  Der  Verfasser  schliesst:  „Diese 
Tatsachen  sind,  wenngleich  fragmentarisch,  doch  von  grossem  Werte. 
Wenn  sie  uns  auch  noch  nicht  gestatten,  die  allgemeinen  Gesetze  der  Ver- 
erbung festzustellen,  so  zeigen  sie  uns  doch  zum  wenigsten,  dass  die  erb- 
liche Fortpflanzung  im  Menschen,  wie  in  den  anderen  Lebewesen,  nicht 
dem  blinden  Zufall  folgt,  und  dass  man  daher  sehr  wohl  nach  Gesetzen 
forschen  kann,  von  denen  sie  beherrscht  ist". 

Das  dritte  Heft  hat  einen  doppelten  Zweck:  einmal  die  Ideen  der 
Psychomonisten  darzulegen,  sodann  die  Unhaltbarkeit  des  Psychomonismus 
zu  beweisen.  Hierbei  werden  nicht  alle  psychomonistischen  Thesen  berück- 
sichtigt, sondern  bloss  die  hauptsächlichen.  Die  Einleitung  weist  hin  auf 
die  antimechanistische  Reaktion  in  der  mechanischen  Biologie.  Es  folgt 
im  ersten  Kapitel  eine  allgemeine  Charakteristik  des  Psychomonismus.  Das 
zweite  Kapitel  beschäftigt  sich  mit  August  Pauly  und  bespricht  des 
näheren :  die  Finalität  und  das  psychische  Faktum ;  Natur  und  Ausdehnung 
der  psychischen  Realität;  das  Problem  der  Organbildung;  der  Charakter, 
die  Bedeutung  und  die  Dynamik  des  rein  psychischen  inneren  Prozesses 
der  Hervorbringung  von  Finalität.  Im  3.,  4.  und  5.  Kapitel  werden  be- 
handelt: die  psychische  Realität  und  die  physische  Reahtät;  die  kosmische 
Ausdehnung  der  psychischen  Realität  (die  „Allbeseelung"),  der  Psycho- 
monismus und  das  Problem  des  Lebens;  der  Psychomonismus  gegenüber  der 
supraindividuellen  Finalität  und  den  Offenbarungen  eines  allgemeinen  Planes ; 
die  Unzulänglichkeit  des  Psychomonismus ;  die  Natur  der  sogenannten 
Dysteleologien  und  der  Theismus. 

Wir  wünschen  dem  neuen  Unternehmen  aufrichtig  Glück. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 


A.  Gemelli,  E.  Haeckel  et  A.  Brass,  Le  falsificaziom  di  E.  Haeckel.     103 

Ernesto  Haeckel  come  naturalista  e  come  filosofo  e  la  sua  teoria 

suir  origine  scimmiesca  dell'  uomo.   Di  Dott.  Agostino  Gemelli. 

Le    falsificazioni    di   Ernesto    Haeckel.    Di    Dott.   A.  Brass. 

2^  edizione   riveduta    ed    aumentata.     Firenze  1912,    Libreria 

editrice  Fiorentina.     p.  188. 

Mit  grosser  Energie  verfolgt  der  Herausgeber  der  „Rivista  Neo- 
Scolastica",  der  Franziskanermönch  P.  Gemelli,  das  Ziel,  die  neu- 
scholastische Philosophie  in  Italien,  mehr  als  dies  seither  geschah,  mit  den 
modernen  philosophischen  und  naturwissenschaftlichen  Strömungen  bekannt 
zu  machen  und  ihr  die  wahren  Errungenschaften  derselben  einzuverleiben, 
unter  entschiedener  Abstossung  alles  dessen,  was  diese  Strömungen  Falsches 
und  Unhaltbares  mit  sich  führen.  Als  Doktor  der  Medizin  und  Chirurgie 
und  Honorarprofessor  der  Histologie  ist  Gemelli  in  der  Lage,  namenthch 
die  naturwissenschaftlichen  und  medizinischen  Forschungen  der  Neuzeit  mit 
Sachverständnis  zu  verfolgen.  Die  Frucht  dieser  Studien  hat  P.  Gemelli 
bereits  in  zahlreichen  kleineren  und  grösseren  Schriften  niedergelegt,  die 
sich  eines  grossen  Ansehens  und  einer  weiten  Verbreitung  in  Itahen  er- 
freuen. Auch  in  der  von  ihm  herausgegebenen  Zeitschrift  behandelt  er, 
rieben  den  erkenntnistheoretischen  Problemen,  mit  Vorliebe  Fragen  der 
Naturwissenschaft  und  experimentellen  Psychologie.  Sehr  zu  statten  kommt 
ihm  hierbei  seine  Kenntnis  der  französischen,  englischen  und  deutschen 
Literatur  und  sein  wiederholter  Studienaufenthalt  an  deutschen  Universitäten. 
Gerade  die  deutsche  Wissenschaft  ist  es,  die  er  mit  Vorzug  in  seinen 
Schriften  und  Abhandlungen  berücksichtigt,  weil  er  ihr  einen  besonders 
grossen  Einfluss  auf  das  moderne  Geistesleben  zuschreibt.  Aus  dieser  Wertung 
der  deutschen  Wissenschaft  heraus  ist  die  vorliegende  Schrift  hervorgegangen, 
die  sich  im  ersten  Teil  mit  Ernst  Haeckel  als  Naturwissenschaftler  und 
Philosoph  beschäftigt  und  seine  Theorie  der  Affenabstammung  des  Menschen 
widerlegt,  und  deren  zweiter  Teil  eine  Uebersetzung  der  bekannten  Brass- 
schen  Streitschrift  gegen  Haeckel  in  der  erweiterten  zweiten  Auflage  mit 
Abbildungen  und  Tafeln  bringt. 

Geraellis  Arbeit  ist  für  italienische  Leser  besonders  dadurch  höchst 
verdienstvoll,  weil  sie  in  ausführlicher  und  trefflicher  Weise  über  die 
neuere  und  neueste  deutsche  Literatur  zur  Entwicklungsgeschichte  des 
Menschen  unterrichtet. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 


104  H.  Stölzle. 

Theodicee. 

Lehrbuch  der  Philosophie  auf  aristotelisch-scholastischer  Grund- 
lage zum  Gebrauche  an  höheren  Lehranstalten  und  zum 
Selbstunterrichte.  Von  Alfons  Lehmen  S.  J.  Dritter  Band. 
Theodicee.  Dritte,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Heraus- 
gegeben von  Peter  Beck  S.  J.  Freiburg  i.  Br.  1912,  Herder, 
gr.  8«.    XIV,  306  S.     Ji>  4.—,  geb.  J&  5.60. 

Ueber  die  zweite  Auflage  der  vorliegenden  Theodicee  haben  wir  eine 
ausfiihrliche  Besprechung  im  19.  Band  dieser  Zeitschrift  Jahrgang  1906 
Seite  199—203  veröffentlicht.  Die  neue  Auflage  ist  eine  vermehrte,  denn 
„eingefügt  wurde  eine  Abhandlung  über  den  Modernismus;  der  kosmo- 
logische  Beweis  und  die  Einwendungen  gegen  ihn  wurden  erweitert,  an 
manchen  Stellen  wurden  kleinere  Zusätze  gemacht,  die  Zitate  wurden  wohl 
alle  revidiert,  viele  früher  nicht  erwähnte  Autoren,  bei  denen  man  ein- 
gehendere Belehrung  über  die  betreffenden  Fragen  finden  kann,  wurden 
aufgenommen;  fast  keine  Seite  blieb  ohne  kleinere  oder  grössere  Ver- 
änderung sachücher  oder  stilistischer  Art"  (Vorwort  S.  VI). 

Die  Behandlung  des  Modernismus  halten  wir  für  sehr  gelungen ;  auf 
sieben  Seiten  ist  hier  das  Wichtigste  zusammengedrängt ;  es  wird  ein  guter 
Einblick  in  die  Lehren  des  Modernismus  ermöghcht  und  die  Widerlegung  ist 
sehr  klar  und  überzeugend.  Recht  dankenswert  sind  die  erweiterten 
Literaturangaben,  die  man  aber  gern  noch  allseitiger  ausgedehnt  sehen 
möchte.  Lehmens  Theodicee  ist  von  Anfang  an  eines  der  besten  dies- 
bezüglichen Lehrbücher  auf  katholischer  Seite  gewesen  und  ist  es  in  der 
dritten,  vermehrten  Auflage  noch  mehr  geworden. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 


ReligionsphllosophJe. 

Studien   zur   Philosophie   und    Religion.    Herausgegeben   von 
Dr.  R.  Stölzle.     Paderborn,  F.  Schöningh. 

7.  Heft:  Begritt'  und  Ursprung*  der  Naturgesetze.     Von  Dr. 
Sattel.   VIII  und  252  S.    191L    Jd,  6. 

Der  Verfasser,  der  sich  durch  zwei  von  mir  angeregte  Arbeiten  über 
„Deutingers  Gotteslehre"  und  „Deutinger  als  Ethiker"  bekannt  gemacht  hat,  be- 
handelt hier  auf  meine  Anregung  die  heute  viel  erörterte  Frage  nach  Begriff 
und  Ursprung  der  Naturgesetze.  Der  erste  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  dem 
Begriff  des  Naturgesetzes  und  untersucht,  ob  das  Naturgesetz  eine  ob- 
jektive Realität  oder  ein  subjektiver  Begriff  oder  ein  subjektiv- 
objektiver Begriff  sei.     Der  Vf.    entscheidet  sich    für  das  letztere  und  geht 


Studien  zur  Philosophie  und  Religion.  105 

dann  im  zweiten  Abschnitt  zur  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Natur- 
gesetzes über.  Nach  Prüfung  der  Frage,  ob  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
der  Naturgesetze  Sinn  habe,  und  ob  sie  erlaubt  sei,  wird  der  Ursprung  der 
Naturgesetze  untersucht.  Zwei  Möglichkeiten  bieten  sich  dar :  Ewige  Not- 
wendigkeil oder  das  Naturgesetz  Gedanke,  Wille  und  Alhnacht  Gottes.  Der 
Vf.  weist  die  erste  Alternative  ab  und  entscheidet  sich  für  die  zweite,  indem 
er  zeigt,  dass  Gesetzes  form,  Gesetzes  Charakter  und  Gesetzes  kraft  auf  Gott 
als  den  Urheber  der  Naturgesetze  hinweisen. 


8.  Heft :  Wuiidts  Stellung-  zum  religiösen  Problem.  Ein  Bei- 
trag zur  Religionsphilosophie  der  Gegenwart.  Von  Dr. 
F.  Emmel.    1912.    VIII  und  118  S.     Jk  3. 

Wundts  religionsphilosophische  Ideen  halten  zwar  verschiedentlich  Kritik, 
aber  keine  zusammenfassende  Würdigung  erfahren  Auf  meine  Veranlassung 
unternahm  Emmel  diese  Aufgabe.  Er  will  Wundt  gegenüber  immanente 
Kritik  üben  und  legt  das  Hauptgewicht  auf  die  pliilosophische  Beurteilung. 
Der  erste  Teil  stellt  dar:  die  Religion  als  psychologisch-genetisches 
Problem  und  behandelt  J)  individualpsychologische  Grundlagen  der  Religion, 
2)  Abweisung  der  bisherigen  und  Schaffung  einer  neuen  Religionspsychologie 
auf  völkerpsychologischer  Grundlage,  3)  Ursprung  und  Entwicklung  der  Religion, 
4)  das  psychologische  Wesen  der  Religion,  5)  kritischer  Ertrag  aus  der  ge- 
samten Wundtschen  Religionspsychologie.  Im  zweiten  Teil  kommt  die  Reli- 
gion als  metaphysisches  Problem  zur  Darstellung,  nämlich  1) 
Wundts  Metaphysik  als  Grundlage  seiner  religiösen  Anschauungen,  2)  die  reli- 
giöse Idee  als  Ergänzung  des  sittlichen  Ideals,  3)  Erkenntnisgrundlagen  der 
religiösen  Ueberzeugung,  4)  der  Inhalt  der  religiösen  Ideen,  5)  Ueberblick  und 
Schluss.  Der  Vf.  kommt  zu  dem  paradox  klingenden,  aber  scharfsinnig  heraus- 
gearbeiteten Resultat,  in  Wundls  Weltanschauung  ihrem  Wesen  nach  Theismus 
zu  sehen. 


9.  Heft:  M,  Deutinger  als  Erkenntnistlieoretiker.     Von  Dr. 

F.  Richarz.    1912.    XII  und  99  S.     A  2,80. 

Nach  einer  Einleitung,  die  über  Deutingers  Persönlichkeit  orientiert, 
legt  der  Vf.,  dessen  Abhandlung,  von  Prof.  Dyroff  angeregt,  Gastfreundschaft 
in  den  Studien  geniesst,  dar:  1)  Grundriss  der  Erkenntnislehre  Deutingers, 
2)  die  subjektive  Seite  des  Erkenntnisprozesses,  3)  das  Objekt  der  menschlichen 
Erkenntnis,  4)  Kategorienlehre,  5)  Kriterien  für  die  Annahme  transsubjektiver 
Realität,  6)  Setzung  und  Arten  der  Realität,  7)  Transposition,  8)  Die  kritischb 
Stellungnahme  zur  Philosophie  der  Vergangenheit.  Zusammenlassung  und 
Würdigung  der  Deutingerschen  Erkenntnislehre   bilden  den  Schluss  der  Arbeit. 


IU6  R.  Stölzle,    Studien  zur  Philosophie  und  Religion. 

10.  Heft:  Die  Uiisterblichkeitsb'eweise  in  der  katholischen 

Literatur,  von  1850—1900.    Von  Dr.  H.  Kaufmann. 
1912.    XII  und  352  S.     Jfe  7. 

Nachdem  ür.  Staab  auf  meine  Anregung  „die  Göttesbewe  ise  in  der 
kalholischen  deutschen  Literatur  von  1850—1900"  behandelt 
hatte  (s.  Heft  5  der  Studien ),  schien  es  angezeigt,  die  spekulative  Arbeit  zu 
würdigen,  welche  katholischerseits  dem  grossen  Problem  von  der  Unsterblich- 
keit der  Seele  zugewandt  worden  war.  Dieser  Aufgabe  unterzog  sich  auf  meine 
Veranlassung  Dr.  Kaufmann.  Im  ersten  Teil  wird  Begriff  der  Unsterblich- 
keit und  der  Seele  dargelegt,  im  zweiten  werden  die  Beweise  für  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  behandelt,  und  zwar  die  Unsterblichkeitsbeweise 
in  ihrer  Gesamtheit,  nämlich  Inhalt,  Form  und  Reihenfolge  der  Beweise, 
die  einzelnen  Unsterblichkeitsbewei^e  und  zwar  I.  die  traditionellen  Un- 
sterblichkeitsbeweise. Hier  kommen  zur  Sprache  1)  der  historische, 
2)  der  metaphysische,  3)  der  teleologische,  4)  der  moralische,  5'  der  theologische 
Beweis,  und  zwar  wird  bei  jedem  Beweis  zunächst  die  positive  Formulierung 
(Name  und  Grundgedanke,  Formulierung  und  Begründung,  Wert  und  Bedeutung : 
Erkenntniswert,  Tragweite  und  Verhältnis  zu  andern  Unsterblichkeitsbeweisen) 
vorgetragen  und  dann  die  polemische  Verteidigung,  d.  h.  was  an  Einwänden 
gegen  die  einzelnen  Beweise  vorgebracht  wurde,  gewürdigt.  Unter  II  werden 
die  Versuche,  die  Unsterblichkeit  der  Seele  auch  auf  anderen 
Wegen  dar  zu  tun,  besprochen,  nämlich  der  indirekte  Beweis  aus  den  Folgen 
der  Unsterblichkeitsleugnung,  der  empirische  und  der  astronomische  oder  kos- 
mologische  Beweis;  ausserdem  wird  die  Kritik  dargelegt,  welche  katholischer- 
seits an  dem  religionsphilosophischen,  ökonomischen,  Analogie-,  logischen  und 
mathematischen  Beweis  geübt  wurde.  Ein  Literaturverzeichnis,  Sach-  und 
Namenregister  bilden  den  Schluss  der  Arbeil,  die  eine  eingehende  Uebersichl 
über  die  Leistungen  katholischerseits  auf  diesem  Gebiete  gibt.  Im  Schluss- 
kapitel gibt  der  Vf.  eine  objektive  Würdigung  der  Arbeit,  welche  von  katho- 
lischer Seite  auf  das  Unsterblichkeilsproblem  verwendet  wurde. 

11.  Heft:    Die   Reliiii,ionsi)hilosoi)hie    R.   Euckens.     Von  Dr. 

Wund  er  le.    1912.    V  und  119  S.     M  2,30. 

Die  Literatur  über  Euckens  Philosophie  ist  heute  schon  eine  beträcht- 
liche. Während  aber  ein  grosser  Teil  der  über  Eucken  erschienenen  Schriften 
kritiklos  Kückens  Ideen  wiedergibt,  setzt  sich  der  Vf.  mit  Eucken  kritisch 
auseinander,  von  Prof.  Lang  -  Sirassburg  hierzu  angeregt.  Im  ersten  Teil 
werden  die  Grundlagen  von  Euckens  Religionsphilosophie  dargelegt,  nämlich 
Euckens  Verhältnis  zur  Philosophie  der  Vergangenheit,  seine  wissenschaftliche 
Methode,  und  der  Inhalt  von  Euckens  Lebensanschauung.  Der  zweite  Teil 
bietet  den  Aufbau  von  Euckens  Religionsphilosophie,  nämlich  1)  Begründung 
der  Religion,  2)  Inhalt  der  Religion  im  allgemeinen,  3)  Religion  und  Geistes- 
leben, 4)  die  charakteristische  Religion,  5)  Euckens  Stellung  zum  Christentum. 

Würz  bürg.  Prof.  Dr.  R.  Stölzle. 


W.  Jäger,  Studien  z.  Entstehungsgesch.  d.  Metaphysik  des  Aristoteles.     107 

Geschichte  der  Philosophie. 

Studien    zur    Entstehungsgeschichte    der    iMetaphysik    des 
Aristoteles.    Von  Dr.  Werner  Wilhelm  Jäger.    Berlin  1912, 
Weidmannsche  Buchhandlung.     8".     VI  und   198  S.     5  A 
Die   Literatur   über  Aristoteles    und  seine   Philosophie    ist    in    der   alier- 
jüngsten   Zeit   um    drei   sehr  wichtige  Werke   bereichert  worden.      Der   Genfer 
Philosophie-Professor   Charles  Werner   hat    in    seinem    Buche:    „Aristote    et 
l'idealisme  platonicien"  (Paris  1910,  Felix  Alcan)  das  Verhältnis  des  Stagiriten  zum 
System  seines  Meisters  neuerdings  untersucht  und  auf  den  platonischen  Ursprung 
der  Grundgedanken  der  ganzen  aristotelischen  Philosophie  hingewiesen  ').    Sucht 
diese  Arbeit    die    geschichtliche  Verknüpfung   des  aristotelischen   Denkens    mit 
dem  Piatonismus   zu  festigen   und   die  Stellung   des  aristotelischen  Systems  in 
der  griechischen  Philosophie  überhaupt  zu  bestimmen,  so  beschäftigen  sich  die 
beiden  anderen  Werke  mit  dem  inneren  Aufbau  des  Ganzen.   Albert  Gödecke- 
meyer  entwirft  gleichsam  den  Plan  der  Werke  des  Stagiriten  in  seiner  Studie 
über  „die  Gliederung   der   aristotelischen   Philosophie"    (Halle  a.  S.   1912,    Max 
Niemeyer).    Er  verteidigt  den  „ausgeprägt  systematischen  Charakter"  der  Werke 
des  Aristoteles  und  hält  bei  Beurteilung  derselben  die  Frage  nach  ihrer  syste- 
matischen Ordnung  für  entscheidend.     Die   uns   zur  Besprechung  vorliegenden, 
kurz  vor  Gödeckemeyers  Arbeit  erschienenen  „Studien  zur  Entstehungsgeschichte 
der    Metaphysik    des    Aristoteles"    von  Werner  Wilhelm    Jäger    vertreten    im 
Gegensatz  dazu  den  Standpunkt,  der  Stagirife  habe  keine  Systeme  der  einzelnen 
Wissenschaften  verfasst  (160',  es  sei  jede  Gesamthypothese  über  die  ursprüng- 
liche Metaphysik  und  ihre  Rekonstruktion  als  unwissenschaftlich   fernzuhalten 
(109);    denn  „die"  Metaphysik  des  Aristoteles  liabe  es  niemals  gegeben  (187), 
sondern    höchstens    eine    „primäre   auf  Aristoteles    zurückgehende"  Sammlung 
(174). 

Damit  ist  das  Programm  Jägers  schon  genugsam  angedeutet :  er  will,  wie 
das  in  der  Einleitung  (1—13)  zum  Ausdruck  kommt,  nicht  nach  Art  der  früheren 
Bearbeiter  (Brandis,  Bonitz,  Seh  wegler,  Christ,  Natorp  u.  a.)  die  aristotelische 
Metaphysik  hypothetisch  rekonstruieren,  „sondern  versuchen,  das  Vorhandene 
geschichtlich  zu  begreifen"  (13).  Man  muss  seinem  Versuch  nachrühmen,  dass 
er  mit  grossem  philologischen  und  philosophischen  Scharfsinn  durchgeführt  ist, 
wird  aber  all  seinen  Ergebnissen  nicht  mit  jener  Sicherheil  der  Ueberzeugung 
beipflichten  können,  die  Jäger  selbst  bekundet.  Es  klingt  manchmal  fast  weg- 
werfend, wie  er  die  „früheren  Bearbeiter"  und  ihre  Forschungen  bewertet  ; 
z.  B.  wird  auf  S.  5ti  eine  Auffassung  von  Bonitz  einfach  „grundfalsch"  genannt, 
S.  98  hören  wir,  dass  der  nämliche  Bonitz  sich  mit  einer  „etwas  mythisch  ge- 
wordenen Ansicht"  begnügt  habe,  die  in  Wahrheit  nichts  erkläre ;  was  Natorp 
als  „kaum  verständlich"  bezeichnet,' findet  Jäger  „von  mustergültiger  Klarheit" 
(65)  und  anderes  mehr..     Eine   grössere   Zurückhaltung   und   Selbslbescheidung. 

')  Werners  Ansicht,  dass  der  Gott  des  aristotelischen  Systems  l'äme  du 
monde  sei  (S.  319  ff.),  steht  mit  den  ausdrücklichen  Bestimmungen  des  Stagi- 
riten in  Widerspruch.  Vgl.  Zellers  Philosophie  der  Griechen  II,  2  (3.  Auflage 
1879)  422,  5;  456,  1. 


108  Georg  Wunderle. 

gegenüber  solchen  Gelehrten  hätte  der  Arbeit  Jägers  wahrhaftig  keinen  Eintrag 
getan;  der  Wert  seiner  eigenen  Untersuchungen  wäre  dadurch  nicht  geschmälert 
worden.  Gewiss  nur  um  der  neuen,  sachlichen  Verdienste  willen  hat  ihm  jüngst 
die  k.  und  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  den  1200-Kronen-Preis  der 
Bonitzstiflung  verliehen. 

Suchen  wir  die  Hauptpunkte  der  Jägerschen  Studien  festzustellen !  I  in 
ersten  Teil  (14  — 130)  wird  die  Komposition  der  Metaphysik  be- 
handelt. Besondere  Sorgfall  ist  den  sogenannten  Dubletten  zugewendet, 
d.  h.  den  doppelten  Fassungen  einzelner  Stellen  und  ganzer  Abschnitte.  Als 
kleinere  Dublette  sieht  Jäger  an  A  10  (zweite  Fassung  von  A7;  S.  19),  ferner 
E4,  1027  b25  -  1028  a3  (S.  21  ff.),  A  9,  990  b  2  —  991  b  8  und  M  4,  1078 
b  32  --  5,  1080  a  11  (S.  28  ff.) ;  als  grosse  Dublette  K  1—8  (S.  63  IT.).  Das  letzt- 
genannte Stück  will  er  im  Gegensatz  zu  Natorp  als  „vollgültige  Quelle  aristo- 
telischer Philosophie"  betrachten  (S.  86) ;  erhält  es  für  den  „Niederschlag  einer 
von  BFE  in  mancher  Beziehung  abweichenden  Vorlesung''  und  doch  für  eine 
Dublette  zu  diesen  Büchern,  die  von  Aristoteles  selbst  gerade  wegen  der  Ab- 
weichungen aufbewalirt  worden  sei  (S.  88).  —  Denjenigen  Partien  der  Meta- 
physik, die  an  dem  Ort,  wo  wir  sie  jetzt  finden,  den  Gedankengang  stören, 
widmet  Jäger  eine  eigene  Erörterung  (S.  38  ff).  Als  ,, erratische"  Stücke 
gelten  ihm:  M  9,  1086  a  21  10,  1087  a  25,  K  8,  1065  a  27  -  Schluss,  0  10, 
1051  a  34  —  1052  all,  Z  12  und  H  6;  „sie  sind  teils  von  einem  Redaktor  aus 
dem  aristotelischen  Nachlass  eingefügl,  teils  von  Aristoteles  selbst  im  Laufe 
der  Vorlesungspraxis  in  seine  Papiere  eingetragen"  (61  f.).  Die  Ein-  und  Nach- 
träge denkt  sich  Jäger  an  das  Ende  der  Rolle,  auf  der  die  einzelne  Vorlesung 
geschrieben  war.  ,,Dort  hatte  man  entweder  leeren  Raum  übrig  oder  man 
konnte  den  x"^'^Vi  ^■"'^  bequemsten  anstücken.  Jedenfalls  war  man  oft  aufs 
Rollenende  angewiesen,  wenn  die  Nachträge  umfänglicher  auslielen"  (39).  Ohne 
die  Möglichkeil  dieser  Annahme  Jägers  zu  leugnen,  glauben  wir  doch  nicht  so 
rasch  an  die  Wirklichkeit  derselben,  dazu  müsste  vor  allem  auch  der  Vor- 
gang der  Buchteilung,  wie  wir  ihn  S.  148  ff.  schildern  hören,  geschichtlich 
festgestellt  sein.  Zudem  dürften  nicht  alle  obengenannten  Partien  unter  die 
,, erratischen"  Stücke  gezählt  werden,  unseres  Erachtens  am  wenigsten  Z  12. 
Mangel  äusserer  Zeugnisse  lässt  sich  in  diesen  schwierigen  Fragen  kaum 
aufwiegen.  Von  besonderer  Bedeutung  ist  die  Erörterung  des  Verfassers  üb«r 
die  zusammenhängenden  Stücke  unserer  Metaphysik  (90—113).  Er 
selbst  fasst  das  Schlussergebnis  folgendermassen  zusammeir :  ,,An  die  historische 
Uebersicht  A  und  die  beiden  koordinierten  Einleitungen  BTE  und  K  1 — 8 
sollte  die  Ausführung,  bestehend  in  der  Lösung  der  elf  in  der  Einleitung  noch 
nicht  angerührten  Probleme,  ansetzen.  Stücke  dieses  Hauptteils  der  grossen 
Vorlesung  über  Metaphysik  sind'uns  in  IMN  erhalten.  Diese  hängen  unter 
einander  zum  Teil  nicht  zusammen  und  beweisen  durch  ihren  Inhalt,  dass  wir 
grosse  Stücke  des  Hauptteils  nicht  besitzen,  darunter  die  eigentliche  »eoloyia, 
sei  es  weil  sie  nicht  niedergeschrieben  wurden,  sei  es,  weil  sie  der  Zeit  als 
Opfer  anheimgefallen  sind  .  .  .  die  Bücher  ZH  9,  welche  in  dem  vulgären  Text 
zur  Not  mit  der  vorangehenden  Einleitung  zusammengeflickt  sind,  gehören  in 
die  erwähnte  Hauplvorlesung  ebensowenig  hinein"  wie  a,  J,  A.  ,,Sie  bilden 
eine  kleine  Vorlcsungsgruppe   für   sich.     Mit  welchen  anderen  metaphysischen 


W.  Jäger,  Studien  z.  Entstehungsgesch.  d.  Metaphysik  des  Aristoteles.     109 

Spezialun) ersuchungen  zusammen  Aristoteles  sie  gelesen  haben  kann,  oder  ob 
er  sie,  wie  er  das  so  oft  tat,  als  Einzelvorlesung  behandelt  hat,  wissen  wir 
nicht.  Ebensowenig  haben  wir  noch  eine  Vorstellung  davon,  in  welcher  Reihen- 
folge die  nach  der  Einleitung  folgenden  Stücke  der  Hauptvorlesung  sich  ordneten, 
und  ob  sie  sich  überhaupt  unmittelbar  aneinander  reihten.  Auf  keinen  Fall 
aber  dürfen  wir  sagen,  wir  besässen  einen  grossen  Teil  oder  den  grössten  Teil 
der  Hauptvorlesung  intakt,  wir  dürfen  auch  nicht  von  einer  >Hauptreihe« 
sprechen,  weil  wir  eben  die  Reihe  selbst  nicht  mehr  rekonstruieren  können. 
Bis  zur  Einleitung  geht  das  allenfalls,  von  da  nicht  mehr"  (112).  Jägers  Urteil 
scheint  uns  doch  zu  pessimistisch  zu  sein ;  solch  ein  Wirrwarr  ist  auch  die 
„vulgäre"  Metaphysik  des  Aristoteles,  wie  sie  uns  jetzt  vorliegt,  nicht.  Das 
bezeugt  ihre  Gedankengliederung,  die  sich  trotz  vieler  Sprünge  und  Unklar- 
heiten im  Grossen  und  Ganzen  deutlich  bestimmen  lässt.  Gödeckemeyers 
lichtvolle  Darstellung  (in  seiner  eingangs  erwähnten  Schrift  126  ff.)  darf  als 
neuester  Beleg  dafür  gelten.  Das  freilich  muss  zugestanden  werden :  ,,Der  Ge- 
danke von  der  ursprünglichen  Selbständigkeit  der  Bücher  aristotelischer  Schriften 
lässt  sich  mit  Erfolg  für  textkritische  Fragen  weiter  ausdehnen,  als  es  bisher 
geschehen  ist".  So  Gödeckemeyer  in  Hinnebergs  Deutscher  Literaturzeitung 
1912,  Nr.  16 ,  Sp.  982.  —  Zu  den  in  die  Metaphysik  eingedrungenen 
Büchern  gehört  nach  Jägers  Ansicht  vor  allem  «,  das  er  im  Widerspruch  mit 
Lasson  als  ein  echt  aristotelisches,  aus  dem  vnö/uvrjfja  des  Pasikles  in  die 
Metaphysik  gelangtes  nqooifjiov  zur  Naturphilosophie  erklär!  (118).  Buch  .4  soll 
durch  Andronikus  in  die  Reihe  der  Metaphysikbücher  aufgenommen  worden  sein; 
A  hält  Jäger  mit  Bonitz  für  eine  selbständige  Einzelvorlesung  zur  Begründung 
der  Fundamentalphilosophie ;  das  Buch  soll  die  schon  im  späteren  Altertum 
nicht  mehr  vorhandene  oder  überhaupt  nicht  niedergeschriebene  9eoXoy(tt  er- 
setzen.    K  9—12  ist  als  unaristotelisch  auszumerzen. 

Der  zweite  Teil  von  Jägers  Studien  (^131-188)  hat  zum 
Gegenstande  die  literarische  Stellung  und  Form  der  Meta- 
physik. Er  wird  eingeleitet  von  einer  äusserst  lehrreichen,  auch  kultur- 
geschichtlich interessanten  Untersuchung  über  die  Publikation  der  antiken 
Lehrschriften.  Die  wichtige  Frage  der  exSoaig  der  aristotelischen  Bücher 
löst  Jäger  mit  dem  begründeten  Hinweis  darauf,  dass  Aristoteles  seine  eigent- 
lichen Lehrschriften  (loyoi,  f^d9oSoi)  der  alten,  jonischen  Sitte  gemäss  durch 
Vorlesung  in  einem  bestimmten  wissenschaftlichen  Kreise  herausgegeben  habe. 
„Diese  iSyai  sollen  taw  bleiben,  im  Hause,  am  Herde  der  strengen  Wissenschaft : 
Schuleigentum"  (144);  für  die  „literarischen"  Werke  (d.h.  die  Dialoge)  ist  zur 
Veröffentlichung  das  Erscheinen  beim  ßißhonwXtj?  notwendig  (143).  „Merk- 
würdig, dass  von  Piaton  nur  Literarisches  erhalten  ist,  von  Aristoteles  nur 
Wissenschaftliches"  (147).  Unter  i^toTe^neol  XöyoL  sind  zu  verstehen  „die  nicht 
nach  aristotelisch-peripatetischer  Methode  erzeugten,  in  der  zeitgenössischen 
wie  früheren  Philosophie  gebräuchlichen  ^ö|ai,  Jicn^fafi?,  löyoi,  yvtäfiat,  kurz  das, 
was  nicht  eigentlich  der  Schule  {toI?  i'aw)  eignet.  Den  Gegensatz  zu  k^toTt^iKol 
löyoi.  machen  die  xara  (piloaocpiar  köyoi  aus  .  .  .  dies  sind  die  >nach  aristotelischer 
Methode  angestellten  Deduktionen«  (Diels),  die  sich  von  den  i^wreQtKol  Xöyoi, 
welche  vom  i'vSo^or  ihre  a<poq,u7}  nehmen  und  daraus  in  sophistisch-dialektischer 
Weise  ihre  Schlüsse  ziehen,  unterscheiden  wie  die  emaTtj/uij  von  der  Sl^a"  (134). 


110  K.  A.  Leimbach. 

—  In  der  Frage  der  B  u  c  h  t  e  i  1  u  n  g  geht  Jäger  von  einer  Voraussetzung  aus, 
die  wir  in  dieser  übertriebenen  Form  nicht  als  bewiesen  erachten  können;  er 
meint  nämlich,  dass  jedes  der  sogenannten  Melaphysikbücher  „eine  relativ  in 
sich  gesclilossene  oder  gar  absolut  für  sich  stehende  Kompositionseinheit  und 
Untersnchungseinheit  bildet"  (173).  Hiermit  wird  eine  gewiss  nicht  der  Unter- 
lage entbehrende  Hypothese  einfach  als  Tatsache  hingestellt.  Die  Folgerungen, 
die  Jäger  daraus  zieht,  sind  für  ihn  natürlich  ebenso  gewiss  wie  die  voraus- 
gesetzte Grundannahme.  Daher  die  Behauptung :  Jedes  der  Melaphysikbücher 
,, füllte  auch  eine  selbständige  Buchrolle,  mit  einziger  Ausnahme  der  Substanz- 
abhandlung, Z  und  H,  welche  sich  über  zwei  Bücher  und  ursprünglich  wohl 
drei  Rollen  ausdehnte"  (174).  „Die  Durchzählung  der  Rollen  unter  Kollektiv- 
titeln beginnt  sogleich  nach  dem  Tode  des  Philosophen  und  ist  etwa  um 
Andronikos'  Zeit  so  ziemlich  abgeschlossen.  Im  ganzen  haben  wir  in  der 
Teilung  in  Bücher,  wie  unsere  Tradition  sie  kennt,  die  Hand  des  Aristoteles 
wieder  zu  erkennen"  (163).  —  Bezüglich  der  Sammlung  muss  nach  Jäger 
,, zwischen  einer  primären,  auf  Aristoteles  zurückgehenden,  einer  sekundären, 
von  den  direkten  Nachfolgern  veranstalteten,  einer  tertiären,  von  noch  jüngeren 
Generationen  vollzogenen  Sammlung"  unterschieden  werden  (174).  Wenn  das 
alles  unbestreitbar  sicher  wäre,  dann  läge  auch  wohl  die  Vermutung  nahe,  „dass 
schon  vor  Andronikos,  also  spätestens  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.,  eine  Samm- 
lung der  Schriften  der  n^öntj  iptloaoq/ia  unter  dem  Titel  /uera  tu  (pvaixi  in  zehn 
Büchern  existiert  habe,  sei  es  im  Peripatos,  sei  es  in  Alexandrien"  (180).  Uns 
scheint  in  diesem  wie  in  so  manchem  anderen  Falle  Jägers  Material  trotz  aller 
lobenswerten  Sorgfalt  in  der  Analyse  nicht  ausreichend  zu  sein,  um  solche 
Schlüsse  zu  rechtfertigen. 

Eich  statt  i.  B.  Dr.  Georg  Wunderle. 

ZfiitscJirift  für  Gt'schichte  der  Erziehung'  und  des  Unterrichts. 

(Neue   Folge   der  „Mitteilungen   der  Gesellschaft   für   deutsche 
Erziehungs-  und  Schulgeschichte").  Erster  Jahrgang  1. — 4.  Heft. 
Berlin  1911,  Weidmannsche  Buchhandlung^). 
Erstes  Beiheft:    Die  Lectionum  praxis  des  3Iagister8  Jo- 
hannes Theill.     Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  R.  Needon. 
Zweites     Beiheft :     Historisch  -  pädagogischer    Literatur- 
Bericht  über  das  Jahr  1910. 
Zur  Einführung  bemerkt  der  mit  der  Schriftleitung  betraute  Professor 
Dr.  Max  Herrmann :  Es  sei  der  Titel  geändert  worden,   weil  weitere  Kreise, 
durch  den  Namen  irregeführt,  der  Meinung  waren,  es  handele  sich  nur  um 
Mitteilungen    über  Angelegenheiten  der  Gesellschaft,   und  die  Hefte   unauf- 
geschlagen  Hessen.     Nach  wie  vor  sollen  in  diesen  „einzelne  Probleme  der 

^)  Die  Mitglieder'erhalten  für  den  Jahresbeitrag  von  5  Mk.  die  Zeitschrift 
samt  den  Beiheften,  ausserdem  die  Monumenta  Germaniae  Paedagogica,  die  von 
der  Gesellschaft  herausgegeben  werden,  mit  25%  Rabatt.  Nichtmitglieder  be- 
ziehen die  Zeitschrift  durch  den  Buchhandel  für  8  Mk.  jährlich. 


Zeitschrift  tür  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.         111 

nicht  territorial  gerichteten,  allgemeinen  deutschen  Erziehungs-  und  Unter- 
richtsgeschichte zur  Erörterung  gebracht  werden.  Wir  wei'den  den  territorial 
gerichteten  Fragen  der  deutschen  Unterrichtsentwicklung  den  gebührenden 
Raum  zugestehen;  wir  werden  aber  Arbeiten  rein  lokalgeschiehtlichen 
Charakters  nur  dann  veröffentUchen,  wenn  sie  in  irgend  einer  Weise  das 
Typische  ihres  Materials  oder  ihrer  Ergebnisse  betonen  oder  aber  Ver- 
hältnisse beleuchten,  die  vom  Typischen  abweichen."  Eine  Neuerung  soll 
insofern  eintreten,  als  nicht,  wie  bisher,  nur  deutsche  Verhältnisse  berück- 
sichtigt werden,  sondern  ,,der  Erkenntnis  Rechnung  getragen  wird,  dass  die 
Probleme,  die  wir  behandeln,  in  ihrer  Entwicklung  nicht  nur  national,  sondern 
vielfach  auch  von  der  internationalen  Gestaltung  bedingt  sind,  und  dass  es 
ferner  gelegentlich  für  uns  wichtig  sein  kann,  hinter  das  Mittelalter  zurück- 
gehend Erziehungsfragen  des  Altertums  zu  erörtern". 

Um  ein  Bild  von  der  Reichhaltigkeit  der  Zeitschrift  zu  geben,  heben 
wir  aus  den  bisher  erschienenen  Abhandlungen  folgende  hervor : 

Montaignes  Pädagogik  im  Verhältnis  zu  seiner  Philosophie.  Es  werden 
auf  Grund  der  Essais  des  genannten  Philosophen  dessen  Anschauungen 
dargelegt  über  die  Stellung  des  Menschen  innerhalb  der  Natur,  über  ihn 
als  erkennendes  und  intellektuelles  Wesen,  über  sein  Affektleben,  über  den 
Menschen  als  handelndes  Wesen.  Darauf  kommen  zur  Darlegung  Montaignes 
pädagogische  Ansichten  über  die  Grenze  der  Macht  der  Erziehung,  über 
Einzel-  und  Privaterziehung,  über  das  Erziehungsziel,  über  Erziehungs- 
methode, über  die  Bildungsmittel  und  den  Bildungsstoff.  Das  Urteil  des 
Verfassers  geht  dahin,  dass  den  wenigen  Mängeln  und  Schwächen  zahlreiche 
Lichtseiten  gegenüberstehen ;  ,,man  wird  in  Montaigne  immer  einen  zwar 
nicht  tiefsinnigen,  aber  liebenswürdigen  und  durch  Anschaulichkeit  fesselnden 
Philosophen  und  praktisch  und  gesund  denkenden  Pädagogen  verehren". 

Von  weiteren  Aufsätzen  seien  genannt :  Alte  Rechnungen  als  Quelle  für 
die  Schulgeschichte  einer  deutschen  Reichsstadt  [Dinkelsbühl] ;  Eine  väter- 
liche Instruktion  für  den  Universitätsbesuch  aus  dem  XVII.  Jahrhundert; 
Spielzeug  vergangener  Jahrhunderte  (mit  5  Abbildungen) ;  Alfred  Heubaum 
[der  frühere  Schriftleiter  der  Gesellschaft] ;  Der  Berliner  Fröbelnachlass, 
nebst  einem  Ueberblick  über  die  Geschichte  des  Gesamtnachlasses ;  Ludwig 
Tiecks  Anschauungen  über  die  Erziehung ;  Schwarzburg-Rudolstädter  Schul- 
ordnungen aus  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  und  ihr  Verhältnis 
zu  dem  Schul-Methodus  des  Herzogs  Ernst  von  Gotha;  Die  preussische 
Schulpolitik  in  den  Provinzen  Südpreussen  und  Neuostpreussen  (1795  — 1806) ; 
Die  Industrieschulen  der  Kurmark.  —  Es  finden  sich  ferner  in  jedem  Heft 
der  Zeitschrift   noch   kleinere    Beiträge,    Bücheranzeigen    und    Nachrichten. 

Das  erste  Beiheft  bietet  als  Beitrag  zur  Geschichte  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts  in  Sachsen  „die  Lectionum  praxis  des  Magisters  Johannes 
Theill",  der  aus  Naumburg  a.  S.  stammte  und  1641-1679  Lehrer  in 
Bautzen  war. 


112  R.  Stölzle.    J.  Reiner,  Philosophisches  Wörterbuch. 

Vor  kurzem  ist  das  zweite  Beiheft  erschienen,  das  auf  843  Seiten 
in  durchweg  anziehend  geschriebenen  Abhandlungen  über  die  historisch- 
pädagogische Literatur  des  Jahres  1910  berichtet.  Autoren-,  Namen-  und 
Sachregister  sind  zur  leichteren  Benützung  beigegeben. 

Fulda.  Dr,  Leinibach. 


Verschiedenes. 

Philosophisches  Wörterbuch.   Von  Julian  Reiner.  Leipzig  1912, 
Otto  Tobias.    IV.    295  S.     Ji>  5,80. 

Der  Vf.,  der  einen  „Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie"  in  zweiter 
Auflage,  eine  Art  pliilosophisches  Lesebuch  ,,Aus  der  modernen  Weltanschauung" 
in  dritter  Auflage,  und  eine  Schrift  „Ueber  Erziehung"  verüffenllichl  hal,  gibt 
hier  ein  philosophisches  Wörterbuch.  Er  benützL  dabei  die  Wörteibücher  von 
Llaldwin,  Eisler,  Ki  rchner- Michael  is  und  will  die  Vorzüge  dieser 
Werke  weiteren  Kreisen  dienstbar  machen.  Vielfach  gibt  der  Vf.  zur  Erklärung 
der  Begriffe  einfach  Zitate  aus  philosophischen  Werken,  oft  einander  wider- 
sprechende Auffassungen  darbietend.  Wir  notieren  nur,  was  uns  unzulänglich 
oder  direkt  falsch  erscheint.  Die  Erklärung  von  Abstraktion  lässt  die  neuere 
psychologische  Auffassung  unberücksichtigt;  Achilleus:  die  Erklärung  ist 
ungenügend:  Adiaphora:  sittlich  gleichgültig,  nicht  genügende  Erklärung; 
aequipolent  statt  aequipoUenl ;  die  Erklärung  von  apodiktisch  ist  ungenügend. 
Assimilation:  die  Erklärung  des  psychologischen  Terminus  fehlt.  Auf- 
merksamkeit: nicht  entsprechend;  bamalip:  die  Folgerung  besonders 
verneinend  statt  bejahend.  —  begehren,  Begierde:  die  modern  psycho- 
logische Erklärung  fehlt.  Bewusstsein:  modern  psychologische  Erklärung 
fehlt,  datisi:  ungenügend  erklärt;  überhaupt  ist  die  Erklärung  manchmal  un- 
gleichmässig,  insofern  ein  Terminus  hier  ausführlich  erklärt,  andern  Orts  bloss 
angeführt  wird  ohne  besondere  Erklärung.  Ebenso  wären  manchmal  Beispiele 
zur  Illustration  erwünscht;  denn  ohne  solche  ist  z.  B.  die  Erklär ang  von 
„Hysteron-proteron:  logischer  Fehler,  wobei  das  Spätere  zum  Früheren 
gemacht  wird"  unverständlich.  S.  115  Z.  9  v.o.:  De  t  er  misten  statt  Deter- 
ministen ;  der  Artikel  Instinkt  ist  nicht  befriedigend.  Die  Behauptung  unter 
„Kant-Laplacesche  Hypothes e",  dass  die  von  Kant  und  Laplace  fast 
übereinstimmend  genannt  wird,  ist  falsch.  Katharsis  nach  Aristoteles  und 
Lessing  die  eigentliche  Aufgabe  der  Tragödie  bezeichnend;  aber  wir  erfahren 
nichts  über  die  Bedeutung  von  Katharsis.  Die  Charakteristik  der  Neuplato- 
niker  ist  unzulänglich,  ebenso  die  der  Neupy  t  h  ag  or  eer ;  Geulinax  statt 
Geulincx  (S.  169);  schief  ist  die  Charakteristik  der  Patristik.  Philosophie 
der  Geschichte:  unzulänglich;  im  Artikel  Skepsis  sollte  Karneades 
nicht  fehlen.  Der  Vf.  des  Wörterbuchs  zeigt  grosse  Belesenheit  in  der  philo- 
sophischen Literatur.  Sein  Buch  mag  für  eine  erste  rasche  Orientierung  gute 
Dienste  leisten. 

Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  Stölzle. 


Zeitsctiriftensehau. 


A.  Philosophische  Zeitschriften. 

IJ  Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.    Herausgegeben  von 
E.  Meumann  und  W.  Wirth.     Leipzig  1912. 

14.  Bd.,  1.  Heft:  O.  Auschütz,  Spekulative,  exakte  und  ange- 
wandte Psychologie.  S.  1.  „Die  Erfahrung  der  exakten  Psychologie 
und  ihre  Stellung  zu  andern  wissenschaftlichen  Erfahrungsweisen".  „Die 
gesamten  Betrachtungen  zeigen,  wie  sich  sämtliche  für  die  psychologische 
Forschung  in  Betracht  kommenden  Gegenstände  als  Kollektive  erwiesen, 
und  wie  sich  sowohl  die  Art  der  betreffenden  Methoden  als  auch  die  jedes- 
malige Schwierigkeit  und  das  entsprechende  Mass  von  Exaktheit  nach  der 
Weise  jener  Kollektive  bestimmen.  In  jedem  Falle  handelt  es  sich  dabei 
um  eine  umfassende  Erfahrung  .  .  .  Ferner  dürfte  einleuchten,  dass  auch 
alle  anderen  Wissenschaften  nach  dem  gleichen  Gesichtspunkt  betrachtet 
und  eingeordnet  werden  könnten".  —  W.  Benussi,  Stroboskopisclie 
Scheinbewegungen  und  geometrisch-optische  Gestalttäuschungen. 
S.  31.  Die  Auffassung  gegebener  Gestalten  ist  geeignet,  bestimmte  Formen 
von  Scheinbewegungen  vorzutäuschen.  „Die  Tatsache,  dass  die  unter 
solchen  Umständen  auftretenden  Scheinbewegungen,  zu  welchen  die  stereo- 
skopischen Phasenbilder  nicht  den  geringsten  Anlass  bieten,  nur  dann  zu 
bemerken  sind,  wenn  die  (auf  stereoskopischer  Grundlage)  sich  schein- 
bewegenden oder  ruhenden  Linien,  die  vom  Beobachter  gesehen  werden, 
einheitlich  als  eine  Gestalt  erfasst  werden,  stellt  einen  neuen  Beweis  für 
die  zentrale  Stellung  dar,  die  diesem  Momente  der  Gestaltauffassung  als 
Grundbedingung  für  das  Entstehen  sogenannter  geometrisch  -  optischer 
Täuschungen  zukommt".  —  F.  Parkes  Weber,  lieber  die  Verbindung 
von  Hysterie  und  Täuschungssucht.  S.  6.3.  Die  Hysterie  ist  eine 
pathologische  Steigerung  oder  Erkrankung  tertiärer  Geschlechtscharaktere. 
Solche  sind  alle,  welche  mit  dem  Nervensystem  in  Verbindung  stehen,  sie 
kommen  beiden  Geschlechtern,  überwiegend  dem  weiblichen  zu.  „Der 
hysterische  Gemütszustand  ist  nur  eine  Verstärkung  oder  Störung  des  ge- 
wöhnlichen weiblichen  Gemütszustandes".  —  Bericht  über  den  V.  Kou- 
gress  für  experimentelle  Psychologie  in  Berlin  vom  16. — It).  April 

Philosophisches  Jahrbuch  IWi.  o 


114  Zeitschriftenschau. 

1912.  —  Bericht  über  die  Ausstellung  des  Instituts  für  angewandte 
Psychologie   und   psychologische    Samnielforschung   auf  dem  Kon- 

gress,  —  Literaturbericht:  Zur  Psychologie  der  absoluten  und  Pro- 
grammmusik von  K.  Seeberge r.  Dur  und  Moll  von  E.  Waiblinger. 
—  Referate. 

2.  und  3.  Heft:  0.  Külpe,  Wilhelm  Wundt  zum  80.  Geburts- 
tage. S.  105.  „Als  der  berühmte  Leipziger  Philosoph  gilt  er  auch  den 
ausserhalb  der  Sphäre  seiner  Leistungen  stehenden  Kreisen,  und  so  wird 
sein  80.  Geburtstag  zweifellos  auch  dem  deutschen  Volke  ein  Ehren-  und 
Feiertag  sein  können".  „Dass  Philosophie  und  Einzelwissenschaften  sich 
zu  der  Einheit  eines  Systems  der  Wissenschaft  ergänzen,  dass  dabei  den 
Geisteswissenschaften  ebenso  eine  selbständige  Bedeutung  zukommt  wie  den 
Naturwissenschaften,  und  dass  die  Psychologie  als  Bindeglied  zwischen  beide 
gestellt  wird,  —  das  ist  die  an  den  Namen  Wundt  geknüpfte  unvergäng- 
liche Errungenschaft  unserer  Zeit".  Sein  Name  hat  da  eine  ähnhche  Be- 
deutung wie  der  Newtons  für  die  Naturwissenschaft  und  Helmholtz'  für  die 
Tonempfindungen.  Wenn  die  im  ,, Archiv"  vereinigten  Schüler  Wundts 
auch  vielfach  von  seinen  Ansichten  abweichen,  so  betrachten  sie  ihn  doch 
als  ihren  Führer  und  wissen  sich  eins  mit  seinem  Geiste.  —  G.  Anschütz, 
Spekulative,  exakte  und  angewandte  Psychologie.  S.  111.  „Die 
heutige  Psychologie  muss  sich  vor  einem  Rückfall  in  die  alte  Spekulation 
hüten,  sie  muss  sich  vor  allem  davor  zu  bewahren  wissen,  jenen  Rückfall 
durch  angebliche  Tatsachen  zu  verdecken".  —  W.  Wirth,  Ein  einheit- 
liches Präzisionsmass  der  Urteilsleistung  bei  der  Methode  der  drei 
Hauptfälle  und  seine  Beziehung  zum  mittleren  Schätzungswert. 
S.  141.  —  Th.  Erismann,  Untersuchung  über  Bewegungsempfindungen 
beim  Beugen  des  rechten  Armes  im  Ellenbogengelenk.  S.  172.  Es 
ergab  sich  unter  anderm :  Die  Unterschiedsempfindlichkeit  erwies  sich  bei 
aktiven  und  passiven  Bewegungen  von  gleicher  Grössenordnung ;  bei  ak- 
tiven ist  sie  vielleicht  etwas  grösser.  „Die  Beeinflussung  der  räumhchen 
Schätzungen  durch  die  für  die  Ausführung  der  Schätzung  gebrauchte  Zeit 
erwies  sich  bei  aktiven  Bewegungen  als  nur  sehr  gering,  bei  passiven  war 
sie  beträchtlich  grösser".  —  F.  M.  Urban,  Hilfstabelleu  für  die  Kon- 
stanzmethode.   S.  236.  —  Li teraturbe rieht. 

4  Heft :  A.  Messer,  Ueber  den  Begriff  des  „Aktes".   S.  245.    Die 

Gegner  der  sensualistischen  und  Assoziationspsychologie  nennen  Erlebnisse 
oder  Erlebniselemente,  die  nicht  in  Empfindungen  und  Assoziationen  auf- 
lösbar sind,  „Akte".  Aber  es  herrscht  keine  Uebereinstimmung  in  der  Ver- 
wendung des  Wortes :  Seine  Bedeutung  genau  zu  bestimmen,  unternimmt 
V.  d.  Pfordten  in  der  ,, Psychologie  des  Geistes"  (Heidelberg  1912).  Geist 
und  Akt  sind  synonym.  „Die  Akte  sind  das  Ich  und  die  Vorgänge  das 
Mich:  die  Akte  bilden  das  psychische  Subjekt  —  der  kontinuierliche  Fluss 


Zeitschriftenschau.  115 

des  zusammenhängenden  Geschehens  und  nicht  nur  des  Vorganges,  das 
Objekt.  Der  Akt  erleuchtet  blitzartig  auch  den  gleichzeitigen  Vorgang". 
Dagegen  sprechen  grosse  Bedenken.  —  W.  Wirth,  Zur  erkenntnis- 
theoretischen Begründung  der  Massmethoden  für  die  Unterschieds- 
schwelle. S.  277.  Ergänzung  zu  der  Abhandlung  Bd.  XX,  1  S,  52  mit 
Rücksicht  auf  die  Kritik  von  G.  F.  Lipps.  —  J.  Lorenz,  Unterschieds- 
schwellen im  Sehfelde  bei  wechselnder  Aufmerksamkeitsverteilung. 
S.  313.  Eine  der  sichersten  Konstanten  der  experimentellen  Psychologie 
ist  die  Enge  des  Bewusstseins  :  innerhalb  einer  kurzen  Zeitdauer  können 
nur  etwa  sechs  relativ  selbständige  Eindrücke  gleichzeitig  aufgefasst  werden 
(Wundt).  Vf.  fand:  „Die  Beurteilung  mehrerer  gleichzeitig  erscheinender 
Paare  von  kurzdauernden  optischen  Vergleichsreizen  ist  abhängig  von  ihrer 
Zahl,  also  von  der  Aufmerksamkeitsverteilung,  und  in  hohem  Masse  von 
Assoziationseinflüssen  seitens  der  gleichzeitig  dargebotenen  Elemente  und 
ihrer  Relationen,  die  um  so  wirksamer  werden,  je  gleichartiger  und  ähn- 
licher die  Reize  sind.  Die  Aufmerksamkeitsverteilung  und  die  anderen 
psychischen  Verhältnisse  bedingen  eine  Abnahme  in  der  Sicherheit  der 
Beurteilung,  die  sich  aber  nicht  so  sehr  in  einer  Steigerung  der  einzelnen 
Werte  der  Unterschiedsschwelle  S,  d.  h.  also  in  dem  Gleichheits-  und  Un- 
sicherheitsfalle, zeigt,  als  vielmehr  in  einer  Abnahme  der  Präzisions- 
masse. —  Knight  -  Dunlay ,  Die  Wirkung  gleichzeitiger  Reizung 
von  zentralen  und  exzentrischen  Netzhautstellen.  S.  343.  Die  gleich- 
zeitige Reizung  einer  zentralen  und  einer  exzentrischen  Netzhaulstelle  wird 
nicht  gleichzeitig  wahrgenommen.  Man  schrieb  das  der  Aufmerksamkeit 
zu,  die  mehr  auf  die  zentralen  Reize  gerichtet  ist.  Pauli  bestreitet  diese 
Erklärung.  Die  Beobachtungen  des  Vf.s  „scheinen  dafür  einen  entscheidenden 
Beweis  zu  liefern,  dass  in  diesem,  sowie  in  dem  Koniplikationsversuche 
die  Täuschung  von  der  Augenbewegung  abhängt,  oder  wenigstens,  dass 
sie  von  beständigem  Fixieren  ganz  beseitigt  wird".  —  Literaturbericht. 

2]  Zeitschrift  für  Psychologie.    Herausgegeben  von  F.  Schu- 
mann.    1912. 

63.  Bd.,  1.  und  2.  Heft:  G.  Heymans  und  E.  Wiersma,  Bei- 
träge zur  speziellen  Psychologie  auf  Grund  einer  Massenunter- 
suchung. S.  1.  Siebenter  Artikel,  g.  Die  selektoriche  Wirkung  der  Ehe. 
Unter  beiden  Geschlechtern  fanden  sich  häufiger  bei  den  Verhe i rateten 
vertreten:  „Kühlheit  und  Sachlichkeit  im  Gespräch,  Gutmütigkeit,  Neigung 
zum  Idealisieren,  Toleranz,  Heiterkeit,  ruhige  und  gleichmässige  Stimmung; 
häufiger  bei  den  Nicbtver heirateten:  Heftigkeit,  Reizbarkeit,  Lammes- 
güte,  Neigung  zum  Misstrauen,  Intoleranz,  düstere  und  abwechselnde 
Stimmung".  Eine  Nachfrage  speziell  über  das  Gefühlsleben  ergab :  „In 
beiden  Geschlechtern  finden  sich  häufiger  bei  den  Verheirateten: 
Leichtversöhnlichkeit,  Beharrlichkeit  in  Sympathien,  Zugänglichkeit  für  neue 


116  Zeitschriftenschau. 

Auffassungen,  Haften  an  Gewohnheiten,  Leben  für  die  Zukunft,  Ueberein- 
stimmung  zwischen  Denken  und  Handeln  ;  häufiger  bei  den  N  i  c  h  t  v  e  r- 
heirateten:  Schwerversöhnlichkeit,  Wechsel  in  Sympathien,  festgerichtete 
Meinungen,  Veränderungssucht,  Neigung  zum  Berufswechsel  und  zur  Pro- 
jektenmacherei,  Leben  für  die  Gegenwart  und  Widerspruch  zwischen  Denken 
und  Handeln".  „Also  durchschnittlich  pro  Generation  eine  Zunahme  sitt- 
lich wertvoller  und  eine  Abnahme  sittlich  verwerflicher  Eigenschaften  um 
etwa  1  bis  1.5  "/o".  „Es  ist  uns  also  in  der  Ehe  wohl  eine  bestimmt  ge- 
richtete, unabänderlich  auf  die  Verstärkung  wertvoller  Eigenschaften  hin- 
arbeitende Kraft  gegeben.  Darum  ist  zu  erwarten,  dass  sie  auf  die  Dauer 
die  Gesamtentwicklung  beherrschen  wird".  —  0.  von  der  Pfordten, 
Empfiudung  iiud  GefühL  S.  60.  Die  Unterschiede  zwischen  Empfindung 
und  Gefühl  sind:  „1.  Empfindung  ist  das  psychophysische  Element  des 
Seelenlebens  und  bezeichnet  den  Uebergang  vom  Reiz,  dem  rein  physischen, 
zur  Vorstellung,  dem  rein  psychischen  Vorgang  .  .  .  Ein  Komplex  von  Vor- 
stellungen (ein  Ding)  besitzt  eine  Intensität  oder  Temperatur,  die  wir  Gefühl 
nennen.  2.  Empfindungen  sind  qualitativ  verschieden,  spezifisch-charakte- 
ristisch; dagegen  gibt  es  nur  ein  Gefühl,  das  sich  in  wechselnder  Stärke 
auf  die  Vorstellungsgruppen  verteilt  und  dessen  Stärke  und  Bewegung  das 
vitale  Ich,  die  seelische  Individualität  konstituiert.  Empfindungen  sind 
einzeln,  Vorstellungen  haben  einen  Inhalt,  das  Gefühl  ist  ein  Akzidenz  der 
Vorstellungen.  Empfindungen  sind  intermittierende  Vorgänge,  Gefühl  ein 
dauernder  Zustand.  3.  Gefühle  haben  nur  Intensität  oder  Stärke,  denn 
das  Gefühl  ist  nur  Intensität.  Empfindungen  haben  Stärkegrade  und  ausser- 
dem eine  vitale  Variabele,  die  wir  mit  Lust -Schmerz  bezeichnen.  Das 
Gefühl  aber  bildet  eine  andere  Skala,  je  nachdem  sie  diese  Empfindungs- 
skala beantwortet,  diese  bezeichnen  wir  am  besten  mit  Ausdrücken,  wie 
Freude-Leid  u.  dgl.  .  .  .  Empfindungen  sind  lokalisiert  im  Körper,  Gefühl 
völlig  zentral.  4.  Empfindungen  haben  immer  Wirkungen  auf  den  Körper, 
Gefühle  prinzipiell  auch,  tatsächUch  aber  nicht  immer  .  .  .  Der  Ausdruck 
der  Gefühle  kann  nämlich  durch  den  Willen  verhindert  werden;  der 
Schmerz  dagegen  nicht ...  Affekte  nennen  wir  so  starke  Gefühle  . . .,  denen 
gegenüber  der  Wille  ziemlich  machtlos  ist;  diese  haben  dann  regelmässig 
wieder  Ausdruckssymptome  bzw.  körperliche  Wirkungen".  —  W.  Frank- 
further und  R.  Thiele,  lieber  den  Zusammenhang  zwischen  Vor- 
stelliingstypus  und  sensorisclier  Lernweise.  S.  96.  „1.  Die  Menge 
des  behaltenen  Materials  war  bei  unseren  akustischen  Versuchspersonen 
für  die  das  akustische  Element  berücksichtigenden  Einprägungsweisen  am 
grössten,  die  dem  Typus  entsprechenden  Einprägungsweisen  erweisen  sich 
also  als  die  günstigsten.  2.  In  Bezug  auf  die  subjektive  Sicherheit,  mit 
der  die  Reaktion  erfolgt,  hat  sich  gezeigt,  dass  die  dem  Sinnestyp  der 
Versuchspersonen  entsprechende  Lernweise  die  subjektiv  sichersten  Re- 
aktionen lieferte.     3.  Eine  Beziehung  zwischen  der  Reaktionszeit  oder  der 


Zeitschriftenschau.  117 

Reproduktionsbereitschaft  der  Gedächtnisvorstellungen  und  dem  Sinnestyp 
hat  sich  nicht  feststellen  lassen.  4.  Die  Sinnesqualität,  in  der  die  Re- 
produktion erfolgt,  wird  in  erster  Linie  durch  den  Typus,  in  zweiter  Linie, 
eventuell  auch  gegen  den  Typus,  durch  die  Darbietungsweise  bestimmt". 
—  0.  Selz,  Besprechung  über  A.  Michotles  und  E.  Prüms  Etüde  experi- 
mentale  sur  le  choix  voluntaire.  —  Literaturbericht. 

3.  Heft :  Auguste  Fisciier,  Neue  Versuche  über  Reproduzieren 
und  Wiedererkeunißu.  S.  461.  „Es  ist  sicher,  dass  das  Wiedererkennen 
nicht  einen  Reproduktionsprozess  von  einem  einigermassen  erheblichen 
Entwicklungsgrad  zur  Voraussetzung  hat.  Es  lässt  sich  jedoch  aus  den 
Versuchen  nichts  beibringen,  das  mit  der  Annahme  eines  sehr  geringen 
Grades  von  Reproduktion  als  notwendiger  Bedingung  zum  Zustandekommen 
des  Wiedererkennens  unvereinbar  wäre,  aber  aucli  nichts,  was  diese  An- 
nahme zur  Erklärung  unbedingt  forderte.  Sicher  ist  ferner,  dass,  selbst 
wenn  das  Wiedererkennen  an  die  Aktualisierung  eines  geringen  Grades  von 
unterschwelliger  Reproduktion  notwendig  gebunden  sein  sollte,  dieses  doch 
nicht  das  einzige  ausschlaggebende  Moment  für  das  Wiedererkennen  sein 
kann,  vielmehr  noch  einer  oder  mehrere  wesentliche  Faktoren  daran  be- 
teiligt sein  müssen,  denen  vor  allem  die  grossen  Schwankungen  in  dem 
Verhältnis  von  Reproduzieren  und  Wiedererkennen  zur  Last  fallen".  — 
Literaturbericht. 

4.  Heft :  K.  Groos,  Untersuchungen  über  dejs  Aufbau  der  Systeme. 
S.  241.  V.  Die  radikalen  Lösungen.  Die  radikale  Ueberwindung  eines 
Dualismus  besteht  darin,  dass  der  eine  des  fraglichen  Gegensatzes  aus- 
geschaltet wird,  während  der  andere  mit  dem  An.spruch,  für  sich  allein  zu 
genügen,  erhalten  bleibt.  Ein  solches  Paar  tritt  uns  am  auffälligsten  in 
der  Entwicklung  des  Spiritualismus  und  Materialismus  in  der  cartesianischen 
Weltanschauung  entgegen.  Als  erster  i-adikaler  Vertreter  des  ersteren  kann 
Berkeley,    des    zweiten  Hobbes   genannt  werden.   —  Literaturbericht. 

5.  und  6.  Heft :  W.  Köhler,  Bibliographie  S.  321  der  deutschen 
und  ausländischen  Literatur  des  .Jahres  1911  über  Psychologie,  ihre  Hülfs- 
wissenschaften  und  Grenzgebiete.     Enthält  3201  Nummern. 

3]  Zeitschrilt  .für  Philosophie  und  philosophische  Kritik, 
herausgeg.  von  H.  Schwarz.  1912. 
147.  Bd.,  1.  Heft:  Dieser  ganze  Band  ist  den  Brisprecliungen  von 
„Vaihingers  Philosophie  des  Als  Ob"  gewidmet.  —  P.  Scliwartzkopf, 
Sind  nur  Empfindungen  wirklich '?  8.  1.  „Einige  Bedenken  gegen  die 
erkenntnistheoretische  Grundlegung  von  H.  Vaihingers  idealistischem  Posi- 
tivismus". Vaihinger  hat  die  Grundgedanken  der  Kantischen  Erkenntnis- 
theorie bis  auf  einen  Punkt  geführt,  welcher  einen  Abschluss  dieser  Deijk- 
bewegung  darstellt.  Weiter  scheint  man  auf  diesem  Wege  nicht  vordringen 
zu  können.  Seinem  Werke  „kommt  eine  epochemachende  Bedeutung  für 
das  Verständnis  der  Philosophie  Kants  zu.    Hat  er  doch  durcii  eingehende 


118  Zeitschriftenschau. 

Untersuchung  der  Schriften  desselben  endgültig  festgestellt,  dass  schon 
dieser  nach  den  tiefsten  Motiven  und  Konsequenzen  seines  philosophischen 
Urteils  die  Ideen,  vor  allem  die  praktischen,  als  blosse  Fiktionen  gewertet 
hat.  Hierin  ist  Vaihinger  also  Kants  echter  Nachfolger".  „Das  Denken, 
welches  die  Vorstellungswelt  erzeugt,  bedeutet  ihm  eine  künstliche  Um- 
formung von  Empfindungen,  die  ihm  das  einzig  objektive  Wirk- 
liche sind.  So  löst  sich  die  Vorstellungswelt,  als  eine  mit  rein 
subjektiven  Mitteln  bewirkte  Transformation  von  Sensationen,  in  ,Fik- 
t  i  0  n  e  n'  auf.  Dieselben  sind  aber  zweckmässig,  obgleich  sie  der  W^irk- 
lichkeit  nicht  entsprechen,  sondern  ihr  widersprechen,  weil  sie  ein  Weltbild 
produzieren,  nach  welchem  das  objektive  Geschehen  berechnet  und  unser 
handelndes  Eingreifen  in  den  Gang  der  Geschehnisse  erfolgreich  ausgeführt 
werden  kann.  Und  zwar  gilt  dies  für  theoretisches  Forschen,  wie  für 
praktisches  Handeln  und  künstlerisches  Darstellen".  —  Vaihinger  steht  vor 
der  Danaidenarbeit,  „dass  ein  fingiertes  Subjekt  mit  bloss  fingierten  Mitteln 
eine  Welt  der  Fiktionen  ins  Dasein  setzen  soll.  .  .  Hier  muss  der  Sohn 
den  Vater  erst  erzeugen".  —  H.  Hegeuwald,  Die  Gottestatsache.  S.  44. 
„Religionsphilosophische  Erörterung  im  Anschluss  an  Vaihingers  Als-Ob- 
Philosophie  und  an  Euckens  Philosophie  des  Geisteslebens".  —  H.  Leh- 
mauu,  Glaubensbetrachtuug  und  Geschichtsforschung  in  ihren  Prin- 
zipien. S.  82.  ,,Ein  Wort  zur  Kritik  des  Historismus".  —  P.  Petersen, 
Voluntarismus  und  Intellektualismus.  S.  101.  „Kritische  Betrachtungen 
zu  E.  Meumanns  ,Intelligenz  und  Wille'."  —  Rezensionen. 

2.  Heft :  G.  Spengler,  Das  Verhältnis  der  ,, Philosophie  des 
Als-Ob"  H.  Vaihingers  zu  Meiuongs  ,, lieber  Annahmen".  S.  129. 
Vaihingers  Fiktionen  bestätigen  und  exemplifizieren  zum  Teil  die  Annahmen 
Meinongs.  —  G.  Jakoby,  Der  amerilcanische  Pragmatismus  und  die 
„Philosophie  des  Als-Ob".  S.  172.  Beide  beruhen  auf  dem  Begriff  der 
Erkenntnis  als  eines  Lebensvorganges.  „Demnach  ist  die  Philosophie  des 
Als-Ob  keine  blosse  Bestätigung  des  amerikanischen  Pragmatismus.  Sie 
geht  teilweise  andere  Wege,  und  in  diesen  anderen  Wegen  geht  sie  über 
den  amerikanischen  Betrieb  des  Pragmatismus  hinaus  .  .  .  Der  amerikanische 
Pragmatismus  ist  allgemeine  Psychologie  und  allgemeine  Logik  und  leitet 
seine  Sätze  aus  den  allgemeinsten  Voraussetzungen  der  Psychologie  und 
Logik  ab.  Dagegen  ist  die  Philosophie  des  Als-Ob  eine  Untersuchung  über 
die  Verfahrungsweisen  der  Wissenschaften  im  einzelnen  und  zieht  von  da 
aus  ihre  Schlüsse".  „Die  Philosophie  des  Als-Ob  kündigt  sich  an  als 
auf  dem  Grunde  eines  idealistischen  Positivismus  ruhend.  Auch  darin 
unterscheidet  sie  sich  wesentlich  als  , deutscher  Pragmatismus'  von  dem 
amerikanischen".  —  0.  Samuel,  lieber  diskursive  Sophismen.  S.  185. 
Gegen  B.  Urbachs  Erklärung  der  logischen  Paradoxa  durch  Relationen. 
Vf.  findet  in  allen  diesen  Sophismen  denselben  Irrtum.  „Die  Verwechslung 
der  möglichen,  mittelbaren,  mit  der  unmöglichen  , Selbstgegenständlichkeit' 
von  Urteilen  und  Begriffen".  Er  zeigt  dies  insbesondere  am  ,, Lügner".  — 
Rezensionen.  —  Programm  der  in  Berlin  neugebildeten  Gesellschaft 
für  positivistische  Philosophie. 


Miszellen  und  Nachrichten. 


Eine  neue  Theorie  der  Erlösung-  bietet  R.  0.  Koppen  in  den 
„Grundlagen  zu  einer  Philosophie  der  Relation" ').  Das  endlich  erlösende 
Wort  bietet  die  Relation.    Hören  wir  den  Vf.  darüber  selbst: 

Die  Flamme  ist  die  sichtbar  gewordene  Beziehung  zwischen  Kohlenstoff 
und  Sauerstoff.  Uebertragen  wir  dieses  Bild  auf  den  „Willen'*,  so  müssen 
wir  sagen,  dass  der  Wille  als  solcher  analog  der  Flamme  als  solcher  gar 
nichts  Positives  darstellt,  dass  er  eben  nur  als  Vorgang,  nämlich  als  der  des 
Bewusstwerdens  der  Beziehungen  zwischen  Raum  und  Zeit,  oder  anders 
ausgedrückt,  des  uns  Bewusstwerdens  vom  Wirken  der  Kausalität  begriffen 
werden  kann.  Darnach  ergibt  sich,  dass  dem  Willen  nichts  Metaphysisches 
zu  gründe  liegt,  dass  er  nicht  das  Beharrliche  ist. 

Beharrend  wäre  nur  das  Wirken  von  Zeit  und  Raum  in  ihrer  Polar- 
Identität,  und  dieses  Wirken  werde  ich  in  Zukunft  der  Einfachheit  halber 
stets  als  die  „Relation"  bezeichnen.  Ich  setze  also  die  „Relation"  als  das 
zwischen  allen  Geschehnissen  Liegende,  was  sich  nie  greifen,  aber  auch 
nie  wegdenken  lässt.  Sie  ist  mir  weder  Einheit  noch  Vielheit,  noch  irgend 
etwas  Positives,  sondern  lediglich  ein  Vorgang,  dessen  Begleiterscheinung 
die  von  uns  angeschaute  Welt  ist. 

Hier  liegt  das  grosse  Mysterium  eingeschlossen,  das  seiner  Wesenheit 
nach  weder  von  den  bisherigen  Einheitssystemen  in  ihrer  Starrheit  noch 
von  der  dualistischen  Weltanschauung  in  ihrem  unüberbrückten  Parallelis- 
mus berührt  werden  konnte.  Diesen  Philosophen  musste  notwendig  der 
„Dens"  als  etwas  Feststehendes,  Vollendetes  gelten,  wogegen  nach  meiner 
Auffassung  das  Göttliche  nur  als  ein  Vorgang,  eben  als  die  „Relation"  be- 
griffen werden  kann. 

Mit  ewiger  Magnetkraft  ist  unser  Sein,  ja  das  ganze  Sein  überhaupt 
mit  dem  Bande  der  Relation  verknüpft,  und  wir  gleiten  an  diesem  Bande 
dahin,  scheinbar  frei  schwebend,  ohne  es  jedoch  jemals  fahren  lassen  zu 
können.  Sie  ist  das  Unvernichtbare  an  jedem  Menschen,  vermöge  dessen 
er  niemals  aus  dem  Weltganzen  herausgedrängt  werden  kann. 

Unser  Wille  ist  weiter  nichts  als  die  „Hemmung",  durch  die  allein 
die  Relation  in  ihrer  Wirkung  wahrgenommen  wird.    Hemmung  ist  für  uns 


')  Leipzig  t912,  Exzelsior -Verlag. 


120  Miszellen  und  Nachrichten. 

„Zeitwahrnehmung".  Wille  und  Anschauung  sind  polaridentisch  und  machen 
ihrerseits  für  uns  die  Materie  aus.  Es  ist  also  der  Wille  gleichsam  der 
„Stromunterbrecher" ,  ohne  den  das  Wirken  der  Relation  nicht  wahr- 
genommen werden  kann.  Wir  sind  eben  gar  keine  festgegründeten  Persön- 
lichkeilen, sondern  stehen  da  als  jener  ewige  Weltvorgang  selbst,  wir  sind 
durch  und  durch  Relation,  die  uns  vermöge  ihres  Stromunterbrechers, 
dieses  Grenzpflockes  unseres  Vorstellungsvermögens,  erst  die  Idee  eines 
selbständigen  Willens,  einer  individuellen  Persönlichkeit  vortäuscht.  Mein 
mir  durch  den  Bewusstseinsvorgang  vorgetäuschtes  Ich  in  seiner  ihm  eigenen, 
sich  beständig  wandelnden  Beziehung  zur  Aussenwelt,  das  ist  meine  Seele. 

Die  Relation  bietet  auch  die  Erlösung.  Nach  Durchlaufen  und  gleich- 
zeitig in  sich  Aufnehmen  aller  voraufgegangenen  Relationsvorgänge  tritt  der 
Mensch  in  das  Stadium  des  Erkennens  ein.  Der  Erlösungsprozess 
1  i  n  d  e  i  statt.  Die  Erkenntnis  der  Wahrheit  in  jedem  einzelnen  Falle, 
das  bedeutet  für  uns  die  Erlösung.  Nicht  erst  brauchen  wir  zu  warten  auf 
eine  andere  Welt,  auf  das  Jenseits  der  Erlösung;  denn  dis  Erlösung  ist 
immer  da,  ebenso  wie  die  Verstrickung  in  die  Relation.  Himmel  und 
Hölle  tragen  wir  in  uns  zu  aller  Zeit.  Jene  ist  Unwissenheit, 
daher  Täuschung,  dieser  Erkenntnis  und  daher  Wahrheit. 

Da  aber  die  Wahrheit  unendlich  ist,  muss  auch  die  Erlösung  in  der 
Unendlichkeit  stattfinden,  d.  h.  sie  kann  nur  ausserhalb  der  Relation  statt- 
finden, nicht  etwa  als  ein  einmaliger  positiver  Akt,  was  ich  stets  von  neuem 
betone,  sondern  als  fortwährend  sich  wiederholender  und  immer  nur  einer 
bestimmten  Relationskonstellation  entspringender  transzendentaler  Vorgang, 
der  jedoch  durch  das  jeweilige  Weiterschreiten  der  Relation  innerhalb 
ihrer  unterlösten  Verkettungen  vermöge  der  intermissio  und  remissio  beständig 
neue  Unterbrechungen  erfahren  muss,  und  dessen  grosser  Segen  eben 
gerade  darin  beruht,  dass  die  in  ihm  begründete  Seligkeit  bei  gleicher  oder 
ähnlicher  Relationskonstellation  stets  von  neuem  ihren  Ewigkeitswert  offen- 
bart.   Durch  die  Erkenntnis  führt  der  Weg  zum  Heil,  nicht  durch  den  Willen. 

Nach  diesen  Aufstellungen  des  Vf.s  hat  er  zuerst  und  allein  den 
Himmel  erobert,   die  ganze  Menschheit  befand  sich  bis  jetzt  in  der  Hölle ! 

Einer  Bewertung  dieser  neuen  Erlösungslehre  ist  der  Kritiker  über- 
hoben,  der  Vf.  gibt  sie  selbst: 

„Es  ist  ein  ganz  eigentümliches  und  zugleich  erhabenes  Gefühl,  wenn 
sich  einem  die  Welt  in  Formen  entschleiert,  wie  sie  die  Philosophie  seit 
ihrem  Bestehen  wohl  noch  niemals  zum  Ausdruck  gebracht  hat,  und  die 
durch  ihr  logisches  Zusammenfallen  auf  der  metaphysischen  Grenzlinie 
wohl  auch  ein  gut  Teil  von  Wahrscheinlichkeit  für  sich  in  Anspruch 
nehmen  können". 

„Dass  ich  selbst  zum  Gefäss  wurde,  in  das  diese  Ideen  gegossen,  er- 
zeugt in  mir  eine  Art  Offenbarungsempfmdung,  die  ihrer  platonischen  Idee 
nach  einem  entsprechenden  Erlösungsvorgange  gleichkommt". 


Miszellen  und  Nachrichten.  121 

„Es  mag  sein,  dass  es  meinen  Ideen  zum  Vorteil  gereichte,  dass  ich 
unbeirrt  durch  all  die  zahlreichen  Systeme  stets  meinen  eigenen  Weg  ge- 
nommen habe,  jederzeit  nach  dem  tastend  und  suchend,  was  mir  mit 
intuitiver  Bestimmtheit,  zuerst  allerdings  in  unklaren,  verschwommenen 
Umrissen,  vorschwebte,  bis  sich  mir  in  Schopenhauer  die  Basis  bot,  die 
geeignet  war,  meinen  Ideen  den  Durchbruch  zu  erleichtern". 

„Und  als  sie  endlich  zum  Durchbruch  kamen,  da  empfand  ich  die 
wahre  Befriedigung  und  Erquickung,  die  jeden  ehrhch  Denkenden  über- 
kommen müssen,  wenn  er  für  eine  Idee,  die  sich  lange  Zeit  hindurch 
mit  aller  Kraft  an  ihn  geklammert  hielt,  ihm  Erbauung  und  Qual  zugleich 
war,  endlich  den  langersehnten  Ausdruck  gefunden  hat.  Aus  dem  embryo- 
nislischen  Gedanken  ging  ihm  die  Erkenntnis  der  wahren  Idee  auf.  Er 
atmet  Freiheit  und  Höhenluft". 

„Meine  Philosophie  hat  als  erste  den  Versuch  gewagt,  einen  gang- 
baren Weg  zu  zeigen  zu  einer  endhchen  Ueberbrückung  der  seit  altersher 
bis  auf  die  heutige  Zeit  als  unüberwindlich  betrachteten  Kluft  zwischen 
Idealitätsphilosophie  und  Naturwissenschaft,  und  es  ist  sicherHch  kein 
schlechtes  Zeichen  für  sie,  dass  sie  auf  Fragen  aus  dem  beiderseitigen 
Lager  in  gleicher  Weise  befriedigende  Antwort  geben  kann.  Sie  ist  eben 
eine  Philosophie  gerechten  Ausgleichs,  die  beweist,  dass  der  beiderseitige 
Standpunkt,  jeder  seiner  Idee  nach,  eine  Wahrheit  enthält,  die  der  anderen 
polar-identisch  ist,  und  dass  beide  Wissenschaften  ihre  Vereinigung  in  der 
Relation  und  der  Lehre  von  der  intermissio  relationis  finden  müssen". 

„Sollte  unsere  empirische  Erkenntnis,  die  durch  die  Psychologie  und 
die  Naturwissenschaften  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  ungeheure  Er- 
weiterung erfahren  hat,  auch  in  Zukunft,  was  nicht  zu  bezweifeln  ist, 
grössere  Fortschritte  machen,  so  glaube  ich,  dass  eines  Tages  meine  Idee 
von  der  intermissio,  von  dem  Willen  als  Stromunterbrecher,  auch  ihre 
empirische  Bestätigung  finden  wird,  und  dass  die  Neugestaltung  des  Idea- 
lismus über  Schopenhauer  hinaus  auf  Grund  der  von  mir  geschaffenen 
Basis  zu  einer  notwendigen  Forderung  werden  wird".  (!) 

Die  Funktion  der  Zirbeldrüse.  Ueber  die  Bedeutung  der  Zirbel- 
drüse (Hypophyse),  jenem  kleinen  Anhange  des  Gehirns  zwischen  den 
Knochen  der  Schädelbasis,  sind  sehr  verschiedene  Aufstellungen  gemacht 
worden.  Bekanntlich  fasste  sie  Descartes  wegen  ihrer  Mittelstellung  im 
Gehirn  als  Sitz  der  Seele  auf.  Andere  bestritten  ganz  ihre  funktionelle 
Bedeutung  und  Hessen  ihr  nur  die  Bedeutung  eines  verkümmerten  Organs. 
Pathologische  Erscheinungen,  mit  denen  eine  Veränderung  der  Hypophyse 
verbunden  war,  Hessen  sie  als  eine  innersekretorische  Drüse  erscheinen. 
Ihr  Produkt  wurde  neuerdings  mit  sexueHer  Erregung  in  Verbindung  ge= 
bracht :  es  solle  den  diesbezüglichen  Rausch  bewirken. 


122  Misz eilen  und  Nachrichten. 

Eine  sichere  Erklärung  ist  deshalb  so  schwer,  weil  die  Exstirpation 
sehr  schwierig  ist  und,  vielfach  an  Tieren  vorgenommen,  nicht  glückte.  B. 
Aschner  1)  hat  nun  eine  Methode  ersonnen,  die  Operation  gefahrlos  aus- 
zuführen. Die  Versuche  zeigten,  dass  junge  Hunde,  denen  im  zweiten  Monate 
die  Hypophyse  entfernt  worden,  in  ihrer  ganzen  Entwicklung  ganz  hinter 
ihren  normalen  Brüdern  aus  gleichem  Wurfe  zurückbheben.  Diese  waren 
im  Alter  von  einem  Jahre  grosse  ausgewachsene  Tiere,  während  die  ope- 
rierten noch  die  Wollbehaarung  des  Säuglings  trugen,  Milchzähne  hatten 
und  klein,  unförmlich,  fett  waren.  Sie  sassen  .stupide  in  einer  Ecke  ihres 
Käfigs,  spielen  und  bellen  nicht,  ihre  Temperatur  ist  um  1 — Vh^C.  niedriger. 

Auch  das  Skelett  behält  seine  kindlichen,  zarten  Verhältnisse,  die 
Epiphysenfugen  bleiben  offen.  Die  Schilddrüse  zeigte  sich  kolloidal  ent- 
artet, die  Rinde  der  Nebennieren  verdickt ;  das  entspricht  der  ander- 
weitigen Beobachtung,  dass  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  sich  stark  beein- 
flussen. Dieselben  scheinen  einer  Entgiftung  der  Stoffwechselprodukte  zu 
dienen.  Die  operierten  Tiere  waren  darum  weit  empfindhcher  gegen  In- 
fektionen. Der  Eiweissstoffwechsel  sank  auf  Vs — V»  des  normalen.  Die 
Geschlechtsorgane  waren  schlecht  entwickelt,  der  Geschlechtstrieb  fehlte; 
Exstirpation    der    Hypophyse    während    der    Gravidität    unterbrach    diese. 

Damit  ist  die  evolutionistische  Annahme  von  der  rudimentären  Natur 
der  Hypophyse  widerlegt. 

lieber  die  Funktiou  der  Puiiktaugen  der  Insekten  herrscht  noch 
grosse  Unsicherheit  unter  den  Zoologen.  Sehr  eingehend  sind  ihre  Facetten- 
augen untersucht,  und  ziemlich  übereinstimmend  ihre  Bedeutung  für  das 
Sehen  von  Bewegungen  bestimmt  worden.  Neben  diesen  grossen,  seit- 
lich gestellten,  aus  einer  grossen  Anzahl  von  Linsen  zusammengesetzten 
Sehorganen  besitzen  Insekten  und  Spinnen  noch  einfache  Stirnaugen,  Ozellen, 
Stemmen,  Punktaugen,  gewöhnlich  in  der  Dreizahl,  bei  den  Spinnen  2 — 8. 
Stirnauge  ist  eigentlich  nur  eines,  neben  dem  seitlich  zwei  andere  stehen. 

Neue  Untersuchungen  über  ihre  Anatomie  und  Physiologie  haben  R. 
Demell  und  L.  Scheuring  angestellt^),  und  eine  ganz  neue  Auffassung 
derselben  plausibel  gemacht.  Die  bisherigen  Erklärungen  weisen  sie  als 
unbefriedigend  zurück,  mit  Ausnahme  der  von  M.  de  Serres,  Kalbe, 
Hesse  und  Link,  nach  welchen  sie  in  Verbindung  mit  den  Facettenaugen 
schneller  Fortbewegung  dienen.  Durch  das  Zusammenwirken  beider  Systeme 
werde  ein  grösseres  Gesichtsfeld,  insbesondere  auch  nach  oben  erreicht. 
Die  speziellen  Hypothesen  dieser  Vorgänger  lehnen  die  Verfasser  aber  ab. 
So  widerlegen  sie  die  Meinung  von  Hesse  und  Link,  dass  die  Ozellen  der 
Regulation   der  Körperhaltung  beim  Fliegen  dienen,    die   guten  Flieger  er- 

')  Pflügers  Archiv  f.  Physiol.  1912  S.  1  ff.     Naturw.  Rundsch.  1912  S.  55  ff. 
2)  Zeel.  Jahrbücher  1912  Bd.  31  S.  519  ff.   Die  Bedeutung  der  Ozellen  der 
Insekten. 


Miszellenund  Nachrichten.  '  123 

leiden  weniger  Veränderung  der  Körperlage  beim  Fliegen  als  schlechte. 
Eine  Untersuchung  der  Anatomie  des  Punktauges  ergab,  dass  sie  weder 
weit-  noch  kurzsichtig  sind.  Damit  fällt  die  Hypothese  vieler,  dass  sie  dem 
Nahesehen  dienten.  Ihre  anatomisch-physiologische  Ausbildung  widerlegt 
auch  die  Behauptung,  dass  sie  bedeutungslos,  verkümmerte  Organe  seien. 
Die  Funktion  des  Dämmerungssehens  (Forel,  Lubbock  u.  a.)  ist  auszu- 
schHessen,  da  z.  B.  die  Bienen  nur  im  Sonnenlichte  gut  sehen,  nicht  in 
der  Dämmerung. 

Reaumur  hatte  beobachtet,  dass  nach  Ausschaltung  der  Facetten- 
augen die  Insekten  nicht  mehr  sehen ;  daraus  folgt  nicht,  dass  sie  funktions- 
los sind,  sondern  „dass  die  Ozellen  der  normalen  Funktion  der 
Facettenaugen  bedürfen,  wenn  ihre  eigenen  Impulse  in  geordneter 
Weise  wirken  sollen".  Da  die  Facettenaugen  räumlich  gesonderte  Bild- 
punkte (Formen)  gut  unterscheiden,  bleibt  für  die  Stemmen  nur  die  Ent- 
fernungslokalisation  als  Funktion  übrig.  Ohne  die  Ozellen  wären  die  In- 
sekten nur  innerhalb  des  binokularen  Sehraums  zur  Entfernungslokalisation 
befähigt,  so  können  sie  auch  nach  oben  lokalisieren. 

Tatsächlich  fanden  die  Verfasser,  dass  das  gesamte  Sehfeld  der  Ozellen 
in  das  Sehfeld  der  Facettenaugen  fällt.  Ferner  ist  ein  mittlerer  Ozellus 
nur  vorhanden,  wenn  der  binokulare  Sehraum  stark  ausgebildet  ist. 

Im  Gehirn  fanden  sie  eine  Verknüpfung  der  Nerven  der  Ozellen  und 
der  Facetten;  die  Ganglien  beider  Systeme  stehen  in  sehr  direkter  Ver- 
bindung. Die  Ozellen  können  also  recht  wohl  die  Entfernungslokahsation 
der  Facetten  fördern.  Allerdings  gilt  dies  alles  nur  für  die  Imagines,  nicht 
für  die  Larven,  die  ja  nicht  fliegen^). 

Eine  neue  Energetik  bietet  L.  Gilbert  in  der  Eröffnung  einer 
Reihe  wissenschaftlicher  Arbeiten  „Fundamente  des  exakten  Wissens" 2), 
die  er  selbst  „eine  mehrjährige  Hirnevolution,  eine  physiologische  Ent- 
wicklung in  einem  Individuum"  benennt.  Er  bezeichnet  es  als  das  erste 
System  der  Energetik  seit  Robert  Mayer.     Was  wird  Ostwald  dazu  sagen? 

Doch  worin  besteht  die  neue  Entdeckung? 

„Sein  Werk  stellt  über  den  Begriff  der  Arbeit  den  höheren  des  Wirkens 
und  der  Wirkungskette  auf,  krönt  das  Werk  R.  Mayers,  Helmholtz',  Joules 
und  der  anderen  ab,  indem  es  den  bisherigen  Satz  von  der  Erhaltung  der 
Energie  zu  einem  Detail  reduziert,  über  dem  zwei  grundlegendere  und  um- 
fassendere Erhaltungssätze  stehen;  Die  Grunderhaltung  und  die  Erhaltung 
der  Arbeitskette.  Es  zeigt  in  der  Grunderhaltung,  wie  alte  Werte  in  sich 
selbst  unzerstörbar  sind,  selbst  die  der  Form  und  die  seelischen,  weil  sie 
alle  nur  Anschauungsseiten  einer  einzigen  grossen  Einheit,    des  korrelären 

')  Vgl.  Naturw.  Rundschau  1912  Nr.  40  S.  510  ff. 
-)  Neue  Energetik,  Dresden  1912. 


124  Miszellen  und  Nachrichten. 

Monismus,  sind.  Es  zerstört  die  Entropiefabel  und  die  Möglichkeit  einer 
kinetischen  Theorie  in  der  Materie :  das  Märchen  von  der  rasenden  Rotation 
der  Atome  Kelvins.  Es  zeigt,  wie  aus  Gleichgewichten  und  Gegensätzen 
wieder  Gegensätze  und  Ausgleichungen  entstehen;  und  wie  diese  Aus- 
gleichungen wieder  unter  einander  streitende  Gegensätze  bedeuten,  wodurch 
das  grosse,  endlose,  ewige  Weltwirken  bedingt  ist". 

Von  dieser  angeblich  neuen  Entdeckung  verspricht  sich  der  Entdecker 
einen  vollen  Umschwung  unseres  Wissens,  es  ist  „ein  System,  das  in  sich 
die  ganze  Triebkraft  enthält  zur  endlosen  Entfaltung  unseres  Wissens  auf 
diesem  Gebiete". 

Eine  Kritik  dieses  Systems  ist  überflüssig,  nur  den  Anspruch  auf  eine 
ganz  neue  Entdeckung  kann  es  nicht  erheben;  denn  es  repristiniert  nur 
die  (flia  und  das  vEly.og  des  alten  Griechen  und  die  Identitä  des  Gegen- 
satzes von  Hegel.  Der  Verf.  behauptet  mit  diesem  ausdrücklich,  „dass  die 
identische  Gegensätzlichkeit  oder  das  Korrelat  eine  Haupt-  und  Grundformel 
alles  Denkens  bildet". 


Pllilosopli.  Jalirbfich  der  Görres-ßesellscfiaff. 

26.  Band.     2.  Heft. 


Die  Gestalt  der  platoiiisclien  Ideeiilelire  in  den 
Difilogeii  „Farmen ides''  und  .,Soi)histes". 

Von  Dr.  phil.  Paul  Schmitfranz  in  Rheine. 


Wohl  bei  keinem  bedeutenderen  Philosophen  lässt  sich  mit  ge- 
ringerer Bereclitigung  von  einem  System  sprechen  als  bei  Platoii. 
önerniüdhch  hat  er  an  dem  Gebäude  seiner  Philosophie  gearbeilel, 
bald  diesen  bald  jenen  Teil  umändernd  oder  erweiternd,  und  er  lial 
sich  auch  nicht  gescheut,  einen  Teil  niederzureissen ,  der  den 
Forderungen  seiner  eigenen  eindringenden  Kritik  nicht  mehr  ent- 
sprach. Gerade  die  Fundamente  des  stolzen  Baues  seiner  Ideen- 
lehre trugen  den  Keim  zu  schweren  Erschütterungen  in  sich.  Denn 
indem  Piaton  der  Welt  der  sinnlichen  Erscheinungen  eine  völlig 
abgesonderte  ideale  Welt  gegenüberstellte,  erwuchs  .seiner  Dialektik 
die  schwierige  Aufgabe,  die  Beziehungen  dieser  beiden  Welten  auf- 
zuhellen. Schon  dieses  eine  Grundproblem  hat  mannigfaltigejWand- 
lungen  in  Piatons  Anschauungen  hervorgerufen ').  Ist  somit  seine 
Philosophie  in  ständiger  Entwicklung  geblieben,  so  ist  es  nicht  leicht, 
bestimmte  Abschnitte  in  dieser  Entwicklung  zu  unterscheiden  und 
dementsprechend  die  Dialoge  einzuteilen.  Am  besten  scheint  es  mir 
immer  noch,  zwei  Perioden  zu  unterscheiden,  deren  erste,  die  so- 
kratische,  etwa  durch  den  „Staat"  abgeschlossen  wird,  deren  zweite, 
charakterisiert  durch  eine  Revision  der  gesamten  platonischen  Philo- 
sophie und  insbesondere  der  Ideenlehre,  durch  die  beiden  Dialoge 
Parmenides  und  Sophistes  eingeleitet  wird.  Die  in  diesen  beiden 
Dialogen  hervortretende  Neugestaltung  der  Ideenlehre  soll  der  Gegen- 
stand der  nachfolgenden  Erörterung  sein.  Bevor  ich  jedoch  in  die 
Erörterung  eintrete,  muss  ich  vorausschicken,  dass  ich  mich  der 
durch  Natorp^)  u.  a.  vertretenen  Auffassung  der  Ideenlehre  nicht 
anzuschliessen  vermag,  wenn  ich  auch  dem  Scharfsinne,  mit  dem 
Natorp  die  platonischen  Dialoge  interpretiert  hat,  meine  Bewunderung 
nicht  versagen  kann.    Aber  eine  prinzipielle  Auseinandersetzung  mit 

0  Aus  diesem  Grunde  halte  ich  es  auch  für  verfehlt,  von  einander  ab- 
weichende Anschauungen  PJatons  in  verschiedenen  Dialogen  in  Einklang  mit 
einander  bringen  zu  wollen.  Ich  habe  mich  daher  in  der  folgenden  Unter- 
suchung meistens  damit  begnügt,  abweichende  Ansichten  in  anderen  Dialogen 
lediglich  festzustellen. 

-)  P.  Nalorp,  Piatos  Ideenlehre,  Leipzig  1903. 

Philosophisches  .Jahrbuch  1913.  •' 


12G       •  Paul  Scliniilliuiiz. 

dieser  Richtung  würde  über  den  Rahmen  unserer  Untersuchung  hinaus- 
gehen Deshalb  kann  ich  auch  auf  die  sehr  ins  einzelne  gehende 
Arbeil  Harünanns  \)  nur  kurz  eingehen, 

I. 

Der  Dialog  ..Parmenides"  zerfällt  in  zwei  scharf  von  einander 
gelrennte  Hauplteile,  in  deren  erstem  Parmenides  schwerwiegende 
IJedenken  gegen  die  Ideenlehre  vorbringt.  Diese  Einwendungen  will 
ich  zunächst  der  Reihe  nach  erörtern. 

Bei  der  Kritik  der  Schrift  Zenons  hat  Sokrates  die  Ideenlehre 
als  ganz  selbstverständlich  vorausgesetzt.  Das  gibt  dem  Parmenides 
Veranlassung  zu  fragen,  ob  Sokrates  auf  allen  Gebieten  eine  Unter- 
scheidung zwischen  Ideen  und  Einzeldingen  mache,  und  er  stellt 
ihm  vier  Klassen  von  Ideen  vor,  zuerst  die  logischen  Begriffe  der 
Aehnlichkeit,  Einheit,  Vielheit  und  die  ethischen  des  Gerechten, 
Guten  und  Schönen,  dann  folgen  die  Ideen  des  Menschen,  des  Feuers 
und  des  Wassers  und  zuletzt  verachtete  und  geringfügige  Dinge  wie 
Haare.  Lehm,  Schmutz.  Flinsichtlich  der  unkörperüchen  Dinge,  also 
der  beiden  ersten  Klassen,  ist  Sokrates  ohne  weiteres  geneigt,  Ideen 
anzimehmen ;  bezüglich  der  dritten  Klasse  hat  er  oft  geschwankt, 
und  hinsichtlich  der  vierten  möchte  er  zunächst  jede  Annahme  von 
Ideen  abweisen,  wenn  er  sich  auch  oft  Gedanken  gemacht  hat,  ob 
nicht  doch  von  allen  Dingen  ohne  Unterschied  Ideen  anzunehmen 
seien.  Diese  Inkonsequenz  wird  von  Parmenides  getadelt  und  mit 
der  jugendlichen  Unreife  des  Sokrates  entschuldigt.  Dass  Piaton 
hier  seinen  Lehrer  eine  solche  Unsicherheit  hinsichtlich  des  Geltungs- 
bereichs der  Ideen  bekunden  lässt,  ist  um  so  auffallender,  als  er  im 
., Staat",  der  doch  wohl  vor  dem  „Parmenides''  geschrieben  ist.  aus- 
drücklich erklärt  hat,  dass  für  alles,  was  denselben  Namen  trüge, 
auch  Ideen  angenommen  werden  müssten  -).  Und  gleich  darauf 
spricht  Piaton  beispielsweise  von  der  Idee  eines  geringfügigen  Gegen- 
standes, einer  /Inr^.  Wenn  wir  also  die  Priorität  dieser  Stelle  des 
,, Staates"  aufrecht  erhalten  wollen,  so  erscheint  obige  Abstufung  der 
Ideen  immerhin  in  einem  etwas  seltsamen  Lichte  ^).  Vielleicht  liegt 
darin  ein  Hinweis  auf  den  Gedankengang,  den  Plalon  durchgemacht 
hat.  Der  Ausgangspunkt  seiner  Ideenlehre  liegt  ja  darin,  dass  er 
die  schon  von  Sokrates  angenommenen  allgemeinen  Begriffe  auf  das 
Gebiet  des  Seienden  übertrug.  Nun  ist  es  klar,  dass  ihm  die  All- 
gemeinheit der  Begriffe  der  Aehnlichkeit,    Einheit  und  Vielheit  oder 


')  N.  Hartman«,  l'lalos  Logik  des  Seins,  Giossen  1909. 

'■')  Polit.  X,  596a:  tiöo;  yä^  nov  7i  tv  exaoToy  (l(')9a/jey  tlS-kjOui  nSQi  exaoTa 
7«  noUiä, ;  ol;  ravcdv  ovoua  Eni(peQOfier.  —  Ich  habe  nach  der  Ausgabe  von  J. 
Burnel,  Piatonis ^opera,  Oxford  19C0— 1907  zitiert. 

*)  Diejenigen  freilich,  die  an  eine  gesonderte  Herausgabe  der  einzelnen 
Teile  des  „Staates"  glauben  und  einzelne  Abschnitte  desselben  nach  dem 
., Parmenides"  ansolzon,  werden  in  dieser  Stelle  d(s  „Staates"  leichl  eine  Ant- 
wort auf  Jenes  HcJenkcn  <les  I^armenides  sehen. 


Die  Gestalt  der  platonischen  kieenlelire  in  „Pannenidos"  n.  ,.Si))il)iste.s".     \'}7 

des  (jerechlen,  Guten  und  Schönen  eher  zum  Bewusstsein  kam  als 
die  der  BcigTÜTe  der  Substanzen,  da  er  ja  bei  diesen  erst  die  Gattung 
aufstellen  musste,  um  sie  in  das  Gebiet  der  Allgemeinheit  zu  er- 
heben ^).  Dazu  kommt  noch  ein  anderes  Moment.  Die  Ideen  der 
lügischen  und  ethischen  Begriffe  widersprachen  nicht  dem  Bilde,  das 
Piaton  sich  von  dem  idealen  Jenseits  als  einer  Welt  des  Schönen, 
Guten  und  Vollkommenen  gemacht  hatte.  Bedenklicher  war  das 
schon  hinsichtlich  der  dritten  Klasse,  und  bei  der  vierten  trat  die 
Disharmonie  vollends  zu  Tage.  Im  übrigen  deutet  der  Tadel,  den 
Parmenides  dem  Sokrates  ob  seiner  Inkonsequenz  zuteil  werden 
lässt,  vielleicht  darauf  hin,  dass  tatsächlich  Gegner  Piatons  seine 
Lehre  durch  solche  Einwände  lächerlich  zu  machen  suchten,  und 
dass  Piaton  glaubte,  sich  dieser  nicht  besser  erwehren  zu  können 
als  dadurch,  dass  er  sie  jugendlicher  Unreife  zieh. 

Grössere  Schwierigkeiten  bereitet  schon  der  nächste  Einwand 
des  Parmenides,  der  sich  auf  das  "Verhältnis  der  Einzeldinge  zu  den 
Ideen  bezieht.  Sokrates  hatte  dieses  Verhältnis  kurz  zuvor  als  ein 
Teilnehmen  oder  Teilhaben  bezeichnet  (129a -c:  /tteTaiafißdrsa, 
ftsTtxstv).  Parmenides  zeigt  nun,  dass  die  Einzeldinge  entweder  an 
der  ganzen  Idee  oder  an  einem  Teile  derselben  teilhaben  müssen. 
Im  ersten  Falle,  meint  Parmenides,  wenn  die  ganze  Idee  in  jedem 
der  vielen  gesondert  von  einander  bestehenden  Einzeldinge  vor- 
handen sei  2),  müsse  sie  notwendig  von  sich  selber  gesondert  sein. 
Diesem  Einwand  begegnet  Sokrates  nicht  ungeschickt  mit  dem  Ver- 
gleich vom  Tageslicht:  auch  der  Tag  sei  nur  einer  und  doch  an 
vielen  Orten  zugleich,  ohne  von  sich  selber  getrennt  zu  sein.  Er 
hätte,  noch  hinzufügen  können,  dass  er  auch  an  jedem  der  vielen 
Orte  ganz  sei;  denn  dadurch  hätte  er  den  weit  plumperen  Gegen- 
vergleich des  Parmenides  vom  Segeltuch  unmöglich  gemacht^).  Im 
anderen  Falle,  wenn  die  Dinge  an  einem  Teile  der  Idee  Anteil  haben, 
geht  die  von  Piaton  so  oft  betonte  Einheit  der  Idee  verloren.  Damit 
ist  Sokrates  zu  dem  Geständnis  gezwungen,  dass  er  nunmehr  nicht 
weiss,  wie  er  sich  das  Verhältnis  von  Ideen  und  Einzeldingen  er- 
klären soll.  —  Fragen  wir  uns  nun,  wie  Piaton  sonst  über  dieses 
Verhältnis  gedacht  hat,  so  ist  festzustellen,  dass  er  in  den  älteren 
Dialogen  von  einer  „Anwesenheit"  der  Ideen  in  den  Dingen  spricht, 
z.  B.  Lach.  189  e  [naQayiyveodai),  Gorg.  497  e,  498  d,  506  d  {tzuq- 
ovola^^coQsivai,  TiaQayiyvso^ai)^).    Im    Symposion   (211a -b)  wird 

>)  Vgl.  G.  Schneider,  Die  platonische  Metaphysik  auf  Grund  der  im 
Philebus  gegebenen  Prinzipien  in  ihren  wesentlichsten  Zügen  dargestellt, 
Leipzig  1884,  69. 

^)  Dass  Parmenides  hier  die  Vorstellung  vom  Vorhandensein  der  Idee  in 
den  Dingen  mit  der  von  der  Teilnahme  der  Dinge  an  der  Idee  verwechselt, 
hat  schon  Raeder  bemerkt  (Piatons  philosophische  Entwicklung,  Leipzig  1905,  303). 

=»)  Im  übrigen  wird  durch  solche  Gleichnisse,  so  gut  sie  auch  gewählt 
sein  mögen,  nichts  bewiesen. 

*)  Im  Euthyd.  301a  spottet  Dionysodoros  über  diese  naqovaia,  und  im 
Lysis  217  b  -  e  wird  nur  mit  Vorbehalt  von  ihr  gesproclion ;  vgl.  Raeder,  Piatons 
philos.  Entwicklung  166. 

9* 


li^g  Paul  Scliniil  franz. 

die  Möglichkeit  eines  solchen  VerhüUnisses  zwischen  Ideen  und  Dingen 
abgewiesen,  und  hier  findet  sich  zum  ersten  Male  die  Darstellung 
vom  Teilhaben  der  Dinge  an  der  Idee ').  Im  ,.Phädon"  (100  d)  bedient 
sich  Piaton  der  Ausdrücke  ,. Anwesenheit"  und  „Gemeinschaft",  er- 
klärt aber  zugleich,  er  wolle  kein  bestimmtes  Urteil  abgeben  -).  Kurz 
vorher  und  nachher  ündet  sich  uEitxeii  (100c),  t-iETaGyaoi^  (101), 
iiFTa/iafifiäieii'  (102  b).  Im  „Philebos"  (1 5  b;  wird  der  Schwierigkeil 
dieser  Frage  nochmals  Erwähnung  getan  ^),  ohne  dass  eine  Lösung 
gegeben  wird ;  es  wird  nur  auf  die  Dialektik  als  Mittel  zur  Lösung 
verwiesen*).  Im  ,,Timaeus"  endlich  wird  sowohl  die  Annahme  des 
Vorhandenseins  der  Ideen  in  den  Dingen  als  auch  die  der  Anteil- 
nahme der  Dinge  an  den  Ideen  als  unmöglich  zurückgewiesen  ^).  Es 
ist  nun  meines  Erachtens  nicht  zu  leugnen,  dass  hier  ein  deutlicher 
Wechsel  der  Anschauungen  sich  bemerkbar  macht.  Zuerst  ist  nur 
von  der  Anwesenheit  der  Idee  in  den  Dingen  die  Rede,  dann  wird 
unter  Ablehnung  dieser  Annahme  eine  neue  aufgestellt  von  der  Teil- 
nahme der  Dinge  an  der  Idee,  dann  soll  in  einer  Zeit  des  Zweifels 
und  der  Unsicherheit  die  Frage  unentschieden  bleiben,  und  schliess- 
lich werden  beide  Annahmen  als  unmöglich  abgelehnt^).  Jedenfalls 
sieht  man,  dass  Piaton  sich  zu  den  verschiedensten  Zeiten  mit  dieser 
Frage  beschäftigt,  und  dass  sie  ihm  anscheinend  viel  Kopfzerbrechen 
verursacht  hat.  Zu  einer  reinen  Lösung  ist  er  wohl  nie  gekommen; 
ja  man  muss  Apelt^)  recht  geben,  wenn  er  meint,  die  Grundlagen 
der  platonischen  Philosophie  hätten  eine  Aufklärung  dieses  Verhält- 
nisses überhaupt  nicht  zugelassen.  Da  nun  aber  diese  ganze  Frage 
sich  besser  im  Zusammenhang  mit  den  anderen  Einwänden  des 
Parmenides  erörtern  lässt,  will  ich  zunächst  die  beiden  noch  übrigen 
Einwände  besprechen. 

Nachdem  Parmenides  die  Einheit  der  Idee  nochmals  betont  hat. 
wendet  er  sich  zu  einem  neuen  Einwand  gegen  die  Ideenlehre,  der 
diese  Einheit  schwer  zu  erschüttern  droht.  Denkt  man  sich  Ideen 
und  Einzeldinge  von  einander  gesondert  sich  gegenüberstehen,  so 
ergibt  sich,  dass  beide  an  einer  dritten  Idee,  an  einer  Idee  höherer 


*)  Synip.  211  a:  oväinov  oy  hr  irEQU)  iivi,  .  .  .  uXV  avio  xaü^  uvzo  //f5^' 
avTov  uotoetSi;  atl  oi;  tu  öe  i^dlie  nävTa  xaiii  exeäov  «eTf;fO)'ra  tqÖttov  riva 
roLOVToy  . .  . 

^)  Phaed.  100  d :  on  oCx  ällo  ti.  noisl  «vtÖ  xa/.6y  tj  ^  ixeivov  rov  xai.ov  eXre 
■naoovfiia    tHif    xoiyioyi'a    shf     onj]    drj    xnl    onoH  TiQoaysi'Ofjsytj'     ov    yno    trt    tovto 

•')  Phileb.  15  b:  usra  Se  toZt^  ky  toZ;  yr/yojut'yOLg  av  xai  untiqoi;  elre  Sie- 
aTtanuEyrjv   xcu   noXXa    ysyoyvTay    dsre'oy,    fl'.^-'    ol>]y   aCrtjy   avTtj;   XcaQt'g. 

'  *)  Vgl.  0.  Apelt,  Beitnij;e  zur  Geschichte  der  griech.  Philosophie,  Leipzig; 
1891,  4L 

^)  Tim.  52a:  öuoXoytjiioy  'iy  fisy  dvai  i6  xaia  Tavra  eiSo;  f/O'S  aytyitjTor 
xai  ayo'de^Qoy,  ovre  eii  eavTo  flads^^öueyov  allo  aXXo'Jty  olre  avro  elg  alXo  noi  lov. 

"')  Schon  hieraus  ergibt  sich,' dass  es  nicht  angeht,  mil  Natorp  (Piatos 
Ideenlehre  228)  ilioKe  Ausdrücke  der  Teilnahme  usw.  für  blosse  Metaphern 
zu  ha'ten. 

")  Heiträge  41. 


Die  Gestalt  der  platonischen  Ideenlehi'e  in  „Parmenides"  u.  „Sophisles.".     129 

Ordnung  teilhaben,  und  dieser  Prozess  muss  bis  ins  Unendliche 
lortgesetzt  gedacht  werden,  sodass  an  die  Stelle  der  Einheit  der  Idee 
eine  unendUche  Vielheit  tritt.  Gegen  diesen  Einwand  weiss  Sokrates 
sich  nicht  anders  zu  verteidigen,  als  dass  er  die  Sonderexistenz  der 
Ideen  ganz  aufgibt  und  sie  als  blosse  Gedanken  in  der  Seele  fasst; 
auf  diese  Weise  würde  ihre  Einheit  gewahrt.  Darauf  erwidert 
Parmenides,  jeder  Gedanke  müsse  ein  Objekt  haben,  und  dieses 
Objekt  sei  eben  nichts  anderes  als  die  Idee,  wie  sie  vorher  aufge- 
fasst  wurde;  die  Schwierigkeit  bliebe  also  bestehen.  Ausserdem, 
wenn  die  Ideen  Gedanken  seien  und  die  Dinge  an  ihnen  teilnähmen, 
so  müssten  die  Dinge  entweder  aus  Gedanken  bestehen  und  somit 
denken,  oder  sie  müssten,  obwohl  sie  die  Gedanken  in  sich  auf- 
genommen hätten,  doch  nicht  denken  können.  Beides  erklärt  So- 
krates für  ungereimt  und  sucht  einen  neuen  Ausweg  darin,  dass  er 
die  Ideen  als  Musterbilder  {rcaQa(hiyi.ta%a)  setzt  und  die  Sinnendinge 
als  deren  Abbilder  (öiiiotc')f.iaTa),  sodass  die  Beziehungen  zwischen 
beiden  nur  darin  beständen,  dass  letztere  den  ersteren  ähnlich  wären. 
Parmenides  weist  diese  Annahme  zurück,  indem  er  zeigt,  dass  es 
dann  wieder  ein  gemeinsames  Drittes  geben  müsste,  dem  beide  ähn- 
lich seien,  und  so  fort  ins  Unendliche.  Es  würde  sich  also  wieder 
dieselbe  Schwierigkeit  erheben  wie  vorher. 

Dieser  Einwand  des  Parmenides  ist  unter  dem  Namen  des 
iQiTog  äv&QO)7T,os  bekannt  und  findet  sich  z.  B  auch  bei  Aristoteles 
{Metaph.  A9,  990  b).  Baeumker^)  hat  gezeigt,  dass  Polyxenos, 
ein  Schüler  des  Megarikers  Bryso,  Zeitgenosse  und  Gegner  Piatons, 
sich  dieses  Arguments  gegen  Piaton  bedient  hat.  Der  Einwand  wird 
also  von  Polyxenos  selbst  oder  aus  seiner  Umgebung  stammen, 
d.h.  er  ist  höchst  wahrscheinüch  megarischen  Ursprungs.  Die 
völlige  Subjektivierung  der  Idee,  durch  die  Sokrates  zunächst  ihre 
Einheit  zu  retten  sucht,  findet  sich  sonst  wohl  nicht  bei  Piaton. 
Dagegen  ist  es  ihm  ganz  geläufig,  das  Verhältnis  zwischen  Ideen  und 
Dingen  als  das  der  Aehnlichkeit  zu  bezeichnen  ^). 

Ich  komme  zu  dem  letzten  Einwand,  den  Parmenides  als  den 
wichtigsten  (jtiiyioTov  133  b)  bezeichnet.  Wenn  die  Welt  der  Ideen 
für  sich  besteht,  gesondert  von  der  Sinnenwelt,  wie  ist  es  dann 
möglich,  dass  der  Mensch  die  Ideen  erkennt?  Denn  dazu  gehört  die 
Erkenntnis  an  sich,  und  diese  besitzt  nicht  der  Mensch,  sondern 
nur  Gott,  der  dafür  andererseits  von  der  Erkenntnis  der  mensch- 
lichen Dinge  ausgeschlossen  ist.  Das  letztere  findet  Sokrates  wunder- 
fich,  wagt  aber  im  übrigen  keine  Widerlegung  des  Einwandes.  Im 
„Staat"  (V  476  e  —  478  d)  hielt  Piaton  es  noch  für  möglich,  dass  der 
Mensch  die  Ideen  erkenne ;  denn  dort  werden  die  Ideen  als  Objekte 
des  Wissens  bezeichnet,  die  sinnlichen  Erscheinungen  als  Objekte 
der  Vorstellung.    Aber  schon  im  „Phädr."  (247d  —  e)  wird  zwischen 

')  lieber  den  Sopliisten  Po1yxeno.s.     l^hein.  Mus.  N.  F.  XXXIV  M  (T. 
•-)  Vgl.  z.  B.  Staat  VII  514  ff.,  X  50(ib,  Phaeär.  250a,  251a,    T/waet.  ITOe, 
Tim.  28  c. 


180  Paul  Seh  mit  fr  an  X. 

dem  idealen  und  dem  Einzelwissen  unterschieden,  und  der  Einwand 
des  Parmenides  stellt  sich  nur  als  eine  weitere  Folgerung  aus  dieser 
Unterscheidung  dar. 

Sieht  man  von  der  minder  wichtigen  Erörterung  über  den  Um- 
lang  der  Ideen  ab,  so  bleiben  drei  Unklarheiten  hinsichtlich  der 
Ideenlehre  bestehen,  nämlich  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der 
Sinnenwelt  zu  der  der  Ideen,  das  Argument  vom  tquo^  äf^Qorio^: 
und  die  Frage  der  Erkennbarkeit  der  Ideen.  Bevor  ich  die  Bedeutung 
dieser  Probleme  für  Piatons  Lehre  erörtere,  wäll  ich  kurz  auf  die 
Frage  nach  ihrer  Herkunft  eingehen.  Welche  Gründe  konnten 
Piaton  veranlassen,  selbst  so  gewichtige  Bedenken  gegen  seine  Lehre 
hier  zu  äussern?  Es  wäre  ja  möglich,  dass  sie  ihm  selbst  aufge- 
slossen  seien,  und  dass  er  sie  sich  gewissermassen  von  der  Seele 
schreiben  wollte.  Wahrscheinlicher  aber  ist,  dass  sie  von  anderer 
Seite  gegen  ihn  erhoben  w'urden,  und  dass  eine  öffentliche  Erörterung 
sich  nicht  vermeiden  liess.  Nun  hatten  wir  schon  oben  gesehen, 
dass  der  Einwand  vom  tQuoL;  äri)^Qi'>no^  höchst  wahrscheinlich 
megarischen  Ursprunj^s  ist.  Dieser  Umstand  sowie  die  Tatsache, 
dass  dieser  zweite  Einwand  sow'ohl  wäe  der  erste  vor  allem  die  von 
Piaton  so  oft  betonte  Einheit  der  Idee  in  Frage  stellen,  lässt  uns 
die  Urheber  der  Angriffe  bei  den  Megarikern  suchen,  von  denen  wir 
ja  wissen,  dass  sie  von  der  sokratischen  BegrilTslehre  ausgehend 
vor  allem  die  Einheit  des  Seienden  im  Sinne  der  Eleaten  betonten. 
Zur  Begründung  ihrer  Lehre  bedienten  sie  sich  des  Zenonischen 
Verfahrens.  Dazu  würde  stimmen,  dass  Zenon  und  nachher  Par- 
menides als  Gegner  des  Sokrates  auftreten.  Gegen  diese  Annahme 
könnte  nun  sprechen,  dass  Aristoteles  an  der  oben  erwähnten  Stelle 
der  Metaphysik  das  Argument  vom  rQiTO^  ä\i)Qw7io^  ohne  Angabe 
der  Herkunft  oder  des  Urhebers  vorbringt.  Daraus  folgerte  z.  B. 
Ueberweg\),  dass  der  ,, Parmenides'-  unecht  und  erst  nach  Aristo- 
teles' Metaphysik  geschrieben  sei;  denn  sonst  müsste  Aristoteles  als 
Plagiator  gelten.  Andere  haben,  um  Aristoteles  von  diesem  Vorwurf 
zu  befreien,  angenommen,  Aristoteles  habe  den  Einwand  mündlich 
in  der  Akademie  oder  in  einer  verlorenen  Jugendschrift  zuerst  er- 
hoben und  ihn  dann  später  als  nicht  hinreichend  widerlegt  von 
neuem  vorgebracht.  Demgegenüber  haben  schon  Apelt  und  Raeder'-) 
gezeigt,  dass  alle  diese  Bedenken  bei  der  Annahme  vom  megarischen 
Ursprung  des  Einwands  fortfallen;  denn  dann  muss  man  ihn  als 
allgemein  bekannt  voraussetzen,  sodass  Aristoteles  ihn  ohne  Angabe 
der  Quelle  wiederholen  konnte  ^). 


')  Fr.  Ueberweg,  llnlersuchimgen  über  die  Echlheil  und  Zeitfolge  plalo- 
nischer  Schriften  und  über  die  Haupfmomente  aus  Piatos  Leben,  Wien  1861, 17ß  ff. 

'-')  Apelt,  Beiträge  ")4,  und  Raeder,  Piatos  philos.  Entwicklung  306. 

•')  Unerürlert  soll  hierbei  die  Frage  bleiben,  ob  man  bei  einem  Schrifl- 
steller  des  Altertums  dieselbe  Peinlichkeil  in  der  Angabc  der  Urheberschaft 
voraussetzen  darf  wio  bei  cinein  modernen  Schriftsteller, 


Die  Gestalt  der  platonischen  Ideenlehre  in  „Parmenides"  u.  „Sophistes".     131 

Es  bleibt  mir  nunmehr  die  wichtige  Frage  zu  erörtern :  Wie 
stellt  sich  Piaton  zu  den  gegen  seine  Lehre  gemachten  Einwänden? 
Hat  er  ihre  Berechtigung  anerkannt?  Meine  Ansicht  geht  dahin,  dass 
Piaton  ihre  Berechtigung  anerkannt  hat  und  für  den  Augenbhck 
nicht  imstande  war,  sie  zu  widerlegen.  Das  eine  steht  jedenfalls 
fest,  dass  Piaton  die  Schwierigkeiten  nicht  für  so  bedeutend  ansah, 
dass  sie  ihn  zum  Verzicht  auf  seine  Ideenlehre  gezwungen  hätten.  Die 
Ueberzeugung  von  der  Existenz  der  Ideen  stand  ihm  unerschütterlich 
fest,  mochte  es  seiner  Dialektik  auch  für  den  Augenblick  schwer 
fallen,  die  Beziehungen  jener  zur  sinnlichen  Welt  zu  klären.  Das 
scheint  mir  unzweifelhaft  hervorzugehen  aus  den  Worten  des  Parme- 
nides (135  b-c),  dass,  wer  auf  die  Annahme  von  Ideen  verzichtet, 
damit  die  MögUchkeit  wissenschaftlicher  Untersuchuug  völlig  ver- 
nichtet. Eine  Andeutung  dieses  Sachverhalts  kann  vielleicht  in  den 
Worten  des  Parmenides  gefunden  werden,  es  bedürfe  eines  hoch- 
begabten Mannes,  um  noch  die  Annahme  von  Ideen  aufrecht  zu  er- 
halten, aber  eines  noch  viel  bewunderungswürdigeren,  um  diese 
Annahme  anderen  in  der  richtigen  Weise  begreiflich  zu  machen 
(135  a-b).  Piatons  inneres  Gefühl  machte  also  jeden  Zweifel  an  der 
Existenz  der  Ideen  unmöglich  und  liess  ihn  vielleicht  dunkel  eine 
Lösung  der  Schwierigkeiten  ahnen,  aber  er  war  noch  nicht  zu  der 
Klarheit  durchgedrungen,  die  erforderlich  ist,  um  andere  in  einer  so 
schwierigen  Frage  zu  belehren^). 

Für  die  Annahme,  dass  Piaton  die  Berechtigung  der  Einwürfe 
gegen  seine  Lehre  anerkannte,  scheinen  mir  zunächst  zwei  äussere 
Umstände  zu  sprechen,  einmal  die  schon  oben  erwähnte  Tatsache, 
dass  Piaton  den  einen  Einwand  im  ,,Philebos"  wiederholt,  ohne  ihn 
zu  widerlegen,  dann  aber  auch  der  Umstand,  dass  Sokrates  hier  als 
junger  Mensch  die  Ideenlehre  vertritt.  Denn  als  solcher  konnte  er 
am  leichtesten  die  Zurechtweisungen  des  Parmenides  hinnehmen^). 
Wichtiger  aber  scheinen  mir  folgende  Gründe: 

Es  ist  zunächst  von  grosser  Wichtigkeit,  festzustellen,  dass 
Parmenides  ausdrücküch  die  Schwierigkeiten  der  Ideenlehre  daraus 
herleitet,  dass  die  Ideen  von  den  Sinnendingen  geso  nd  er  t  werden. 
So  sagt  er  133a:  'O^ät,-  ovi'.  fpdtai,  o)  ^o'jxQaTeg,  öat]  ?/  dnoQia, 
eäi  Tig  [log]  eidf]  oiia  avrd  xaO-'  avrä  dioQl.^t]tai;  —  Kai  fidÄa- 
Ev  Toivvv  loS^i,  ffdvai,  ort  w^'  ercog  elnelv  ovdenoj  dTirfi  avitjs  oof] 
ioTiv  rj  dnoQLa,  si  ev  sidng  exaoiov  täiv  ovrtov  dei  ri  d(fOQi^6fi€vog 
&j]Oeig.  Und  134 e  — 135 a :  Tavta  /iievroi,  w  ^cöxQatsg,  ecp]  6 
naqi^icvidi]g^  yal  en  älka  riQog  tovioig  Tidvv  no/.ld  dvayxeioi'  ey/n 
id  sidi],  El  slolv  avtat  al  Idsai  riöv  oWoj;^  y.al  OQtelzai  zig  aviö 
TL  exaofov  sldog.     Und  Parmenides  lässt  sich  diese  Sonderung  aus- 


')  Ich  bin  mir  wohl  bewusst,  dass  dem  letzten  Moment  wenn  überhaupt 
eine,  so  jedenfalls  eine  sehr  untergeordnete  Bedeutung  zukommt. 

')  Dass  sich  für  Platon  dadurch  zugleich  die  Möglichkeil  bot,  das  Gespräch 
zwischen  Parmenides  und  Sokrales  als  ein  wirklicli  erfolgtes  hinzustellen, 
kommt  meines  Erachlens  erst  in  zweiter  Linie  inbelracht. 


132  Paul  Seh niitf ranz. 

(Irücklich  von  Sokrates  bestätigen  130b:  Kai  fioi  eiie,  aviog  av 
nvio)  öii\f)7]oai  tog  '/.eycig,  y.oQig  ,«£i  sidi]  avrd  äria,  xc>(i}g  rff 
id  lovior  av  ^leTE/ßvia :  In  der  Tat  ist  es  gerade  die  scharfe 
Sonderung  der  Ideen  von  der  Welt  des  Entstehens  und  Vergehens, 
aus  welcher  der  Ideenlelue  die  Schwierigkeiten  erwachsen.  Da  gilt 
es  nun  zunächst  zu  zeigen,  dass  Piaton  in  der  Tat  diese  Trennung 
gelehrt  hat,  und  dass  die  von  Parmenides  angegrifTene  Lehre  somit 
Piatons  eigene  Lehre  ist.  Ich  will  nicht  darauf  eingehen,  dass 
Piaton  die  Ideen  stets  (besonders  im  ,,Phädon")  als  ..für  sich"'  be- 
stehend bezeichnet,  und  dass  Aristoteles  stets  gerade  gegen  diese 
Loslösung  der  Ideen  seine  Kritik  richtet;  sondern  ein  kurzer  Blick 
auf  die  Genesis  der  ideenlehre  wird  zeigen,  dass  Piaton  zu  dieser 
Sonderung  notwendig  kommen  musste.  Aus  der  Kenntnis  der 
herakliteischen  Lehre  hatte  Piaton  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass 
nicht  die  sinnlichen  Erscheinungen  in  ihrer  individuellen  Verschieden- 
heit und  beständigen  Veränderung  Gegenstand  des  Wissens  sein 
könnten^).  Aber  auch  die  sokratischen  allgemeinen  Begriffe  trugen 
den  Stempel  der  Subjektivität  an  sich,  also  auch  sie  konnten  nicht 
der  wahre  Grund  des  Seins  sein.  Es  musste  also  auf  dem  Gebiete 
des  Seins  ihnen  völlig  entsprechende  Korrelate  geben,  und  das  sind 
die  Ideen.  Sollten  diese  der  wahre  Grund  alles  Seienden,  die  stets 
sich  gleich  bleibenden  Objekte  der  Erkenntnis  sein,  so  musste  Piaton 
sie  der  Sphäre  des  Entstehens  und  Vergehens  gänzlich  entrücken, 
sie  scharf  trennen  von  der  V^elt  der  sinnlichen  Erscheinungen.  Dem 
entsprechen  denn  auch  die, Prädikate,  die  Piaton  den  Ideen  beilegt; 
sie  sind  vor  allem  einheitlich  und  unveränderlich  („Phaed.'"  78  d). 
Denn  gerade  die  bunte  Mannigfaltigkeit  und  die  beständige  Ver- 
änderung sind  es  ja,  die  die  Sinnendinge  untauglich  machen,  Gegen- 
stand des  Wissens  zu  sein/  .Die  Welten  der  Ideen  und  der  Sinnen- 
dmge  stehen  also  gewissermassen  als  selbständige  Faktoren  einander 
gegenüber,  und  in  dicjsem  Sinne  konnte  Piaton  den  letzteren  eine 
gewisse  Realität  zuerkennen,  wenn  er  sagte,  es  gebe  zwei  Arten 
des  Seienden,  die  Ideen  und  die  Dinge  („Phaed."  79  a).  Von  diesem 
Standpunkt  der  Ideenlehre  aus,  den  wir  als  den  ontologischen  be- 
zeichnen knnnfMi,  musste  es  schwer  lallen,  die  Beziehungen  zwischen 
Ideen-  und  Sinnenwelt  klarzustellen.  Eine  Teilnahme  der  Dinge  an 
der  Idee  inusste  zu  einer  Teilung  der ,t  Idee  führen.  Der  Ausweg, 
die  Ideen  als,, Gedanken  zu  fassen,  den:Platon  den  Sokrales  hier 
versuchen  lässt,  verbot  sich  schon  von  selbst  durch  die  Erwägungen, 
die  gerade  zur  Absonderung  der  Idee.^geführt  hatten.  Nicht  minder 
grosse  Schwierigkeiten  bot  bei  der  gesonderten  Stellung  der  Idee 
die  Frage  nach  ihrer  Erkennbarkeit.  Es  könnte  nun  auffallend  er- 
.scheinen,  dass  Piaton  hier  nicht  auf  den  Ausweg  verfallen  ist,  die 
Erkenntnis  auf  dväinr^aig  zurückzuführen,  wie  er  es  in  früheren 
Dialogen  getan  hat^).     Aber  von  der  diäfnt-aig  ist  in  den  späteren 

M  Vgl.  Aris!.,  Meitiphvs.  M  4.  10781.,  12  ff. 

*)  Vgl.  z.  13.  Men.  81  II.,  Phaed.  72  e  0.,  Phaedr,  249  c. 


Die  Gestall.  der  platonischen  Ideenleiire  in  „Parnienides"  u.  „Sopliistes".     loo 

Dialogen  uichl  mehr  die  Piede,  sondern  Piaton  siidil  im  ,,Philebos" 
nach  einer  anderen  Möglichkeit,  die  Erkenntnis  zu  erklären. 

Etwas  anders  liegt  die  Sache  beim  Einwand  vom  rQifog  äi  ÜQOTiog. 
Er  ist  aus  dem  nämhchen  Gedanken  heraus  geboren  wie  die  Ideen- 
lehre, nämlich  dass  das  einer  Vielheit  Gemeinsame  von  dieser  ge- 
trennt und  als  für  sich  bestehende  Wesenheit  gesetzt  wird.  Diesen 
Prozess  wollen  die  Urheber  des  Arguments  vom  rQno^  äidQuino^ 
auch  auf  den  so  entstandenen  allgemeinen  Begriff  und  die  unter 
ihm  befassten  Einzeldinge  anwenden,  was  natürlich  unmöglich  ist. 
Es  ist  nun  anzunehmen,  dass  Piaton  bald  zu  dieser  Ueberzeugung 
gelangt  ist ,  denn  im  ,,Philebos",  wo  für  den  einen  der  beiden 
anderen  Einwände  eine  Lösung  versucht  ist,  der  andere  aber  als 
noch  nicht  geklärt  wiederholt  wird,  fehlt  dieser  völlig.  Wenn  ihn 
trotzdem  i\ristoteles  wieder  vorgebracht  hat,  so  liegt  das  daran,  dass 
er  die  Idee  nicht  als  Genus  (im  Verhältnis  zum  Individuum),  sondern 
gewissermassen  nur  als  ideales  Sinnending  betrachtete  ^). 

Wenn  das  bisher  Gesagte  richtig  ist,  wenn  Piaton  für  den  Augen- 
blick nicht  imstande  war,  die  Einwände  des  Parmenides  zu  wider- 
legen, so  ergibt  sich  daraus  schon  von  selbst,  dass  der  zweite  Teil 
des  ,, Parmenides"  eine  Widerlegung  —  sei  es  direkt  oder  indirekt 
—  nicht  enthalten  kann.  Eine  andere  Frage  aber  ist  es,  ob  nicht 
die  Untersuchungen  des  zweiten  Teils  ein  Ergebnis  zeitigen,  aus  dem 
sich  Folgerungen  für  die  Ideenlehre  ziehen  lassen,  und  aus  diesem 
Grunde  will  ich  den  zweiten  Teil  kurz  besprechen.  Parmenides  gibt 
eine  Untersuchung  über  das  Eine  (lo  fV)  und  das  Andere  [id  älXa) 
und  es  wird  gezeigt,  welche  Forderungen  sich  ergeben  aus  der 
Setzimg  des  Einen  sowohl  für  das  Eine  wie  für  das  Andere  und  aus 
der  Verneinung  des  Einen  sowohl  für  das  Eine  wie  für  das  Andere. 
Da  nun  in  jedem  dieser  vier  Fälle  die  Untersuchung  jedesmal  nach 
zwei  entgegengesetzten  Fiichtungen  hin  geführt  wird,  so  ergeben  sich 
im  ganzen  acht  Abschnitte.  Will  ich  nun  die  Bedeutung  dieser 
Untersuchung  klarlegen,  so  muss  ich  zunächst  zeigen,  wie  die  Aus- 
drücke To  £1  und  id  ü'/J.a  zu  verstehen  sind.  Es  geht  meines  Er- 
achten? nicht  an,  to  cv  der  Idee  und  id  dl'/M  den  Einzeldingen 
ohne  weiteres  gleichzusetzen;  da  aber  Piaton  das  Verhältnis  der 
Idee  zu  den  Einzeldingen  als  das  der  Einheit  zur  Vielheit  auffasst, 
so  wird  man  nicht  umhin  können,  das  Resultat  der  Untersuchung 
auch  auf  die  Ideenlehre  anzuwenden.  Vorläufig  aber  wird  man  gut 
tun,  diese  Ausdrücke  dem  abstrakten  Charakter  der  Untersuchung 
entsprechend  im  weitesten  Sinne  zu  nehmen.  Worauf  sie  zielen,  das 
zeigt  der  Zweck  dieser  ganzen  Untersuchung,  den  ich  folgender- 
massen  fassen  möchte :  Piaton  erwidert  durch  den  zweiten  Teil  des 
„Parmenides"  seinen  Gegnern:  Ihr  habt  zwar  von  eurem  eleatisch- 
megarischen  Standpunkt  aus  als  Verfechter  der  Einheit  des  Seienden 
gewichtige   Bedenken   gegen   meine    Lehre  und  besonders  gegen  die 

')  Alctoph.  1> -,  '.)'t71)  ]1;  ovte  yuQ  fxfhoi  oviVfr  uXXo  i.'ioiovf  )/  itr'jQionovi 
(t'idlovi,   ovd^   ovTot    td    e'iötj   aXX"   ij   aia!irjrd   at'dtcc. 


134  Paul  Schmi  tfranz. 

Einheit  der  Idee  vorgebracht,  aber  ich  werde  euch  zeigen,  und  5;.\var 
mittels  eures  eigenen  Verfahrens,  dass  es  um  eure  Einheit  des 
Seienden  noch  viel  schlimmer  bestellt  ist,  denn  eine  Einheit  ohne 
Vielheit  lässt  sich  überhaupt  nicht  denken. 

Doch  damit  greife  ich  schon  dem  Ergebnis  der  Untersuchung 
vor ;  kehren  wir  also  zu  ihr  zurück,  lieber  den  Wert  dieser  Unter- 
suchung herrschen  bei  den  Erklärern  die  verschiedensten  Ansichten. 
Die  einen,  wie  z.H.  Ribbing'),  sehen  darin  ein  mit  logischer 
Schärfe  konsequent  durchgeführtes  Bevveisverfahren,  ein  anderer, 
Apelt-),  hält  das  Ganze  für  eine  dialektische  Spielerei;  wieder 
andere  wählen  einen  Mittelweg,  indem  sie  zwar  das  Vorhandensein 
einzelner  Sophismen  zugeben,  im  übrigen  aber  die  Untersuchung  für 
durchaus  ernstgemeint  halten.  Für  mich  würde  es  zu  weit  führen, 
die  einzelnen  Abschnitte  aul'  ihre  Folgerichtigkeit  zu  untersuchen. 
Aber  über  zweierlei,  den^e  ich,  wird  man  sich  einigen  kcinnen : 
Schon  Schleiermacher^)  hat  erkannt,  dass  die  Schlussfolgerungen, 
die  Piaton  aus  den  verwickelten  Auseinandersetzungen  zieht,  zum 
Teil  auf  viel  einfachere  Art  hätten  gefunden  werden  können,  und 
Horn^)  hat  dies  im  einzelnen  nachgewiesen^).  Die  Schlussergebnis.se 
behalten  also  aut  jeden  Fall  ihre  Richtigkeit.  Zuzweit  ist  zu  beachten, 
dass  selbst  Apelt,  der  doch  den  extremsten  Standpunkt  hinsichtlich 
der  Verwerfung  der  ganzen  Untersuchung  einnimmt,  das  wenigstens 
als  [)ositiven  Gedanken  der  Untersuchung  ansieht,  dass  der  Begriff 
des  Einen  ohne  den  des  Vielen  nicht  denkbar  ist'').  Dies  geht  be- 
sonders aus  dem  zweiten  Abschnitt  hervor,  für  den  ich  auf  die 
Ausführungen  von  Hörn  ^)  verweise.  Daraus  ergibt  sich  dann  jene 
Auffassung  des  Dialogs,  die  ich  oben  formuliert  habe.  Diese  Auf- 
fassung wird  noch  klarer,  wenn  man  aus  dem  Ergebnis  der  Unter- 
suchungen des  zweiten  Teils  die  Folgerungen  für  die  Ideenlehre 
zieht.  Denn  wenn  Piaton  diese  Folgerungen  auch  nicht  ausgesprochen 
hat,  gezogen  hat  er  sie  sicher,  und  gerade  sie  werfen  erst  ein 
klärendes  Licht  auf  die  Auffassung  des  ganzen  Dialogs  sowie  auf 
den  inneren  Zusammenhang  seiner  beiden  Teile.  Im  ersten  Teile 
des  ,,Parmenides"  hatten  die  P^leaten  gezeigt,  dass,  wenn  man  die 
Einheit  der  Idee  von  der  Vielheit  der  Erscheinungen  trennt,  d.  h. 
wenn    man    zwei    Prinzipien    annimmt,    diese    Auffassung    grossen 

^)  S.  Ribbing,  Genetische  Darstellung  der  plalonisclicn  Ideenlehre,  Leip/^ig, 
1S()3,  I  257. 

=)  Beiträge  4  f. 

•'')  Piatons  Werke  1  2.  67. 

*)  F.  llorn,  Platonsludien,  Neue  Folge,  Wien  1904,  IW  ff. 

"j  Das  gill  besonders  für  den  wicht i^'en  zweiten  Abschnrll  und  ist  auch 
von  Natorp  (Piatos  Ideenlehre  241)  wenigstens  für  diesen  Abschnitt  anerkannt. 
Wenn  aber  Flalon  gerade  hier  in  der  übermütigsten  Weise  mit  Beweismitteln 
um  sich  wirft,  so  ist  darin  jenes  mühevolle  Spiel  {n^ayjuaTBiwdTjz  naiSiä)  zu 
suchen,  von  dem  Parmenides  137  b  spriclit,  und  das  als  eine  köstliche  Ver- 
spottung der  sopliistisclien  ]")iaicklik  angesehen  werden  muss. 

")  Apelt,  Pieiträge  4ü. 

')  Platonsludien,  Neue  Folge,  124  ff. 


Die  Gestalt  der  platonischen  Ideenlchre  in  „Parmenides"  u.  „Sophistes".     135 

Schwierigkeiten  begegnet.  Demgegenüber  musste  die  eleatische  Auf- 
fassung von  der  Einheit  des  Seienden,  welche  die  Vielheit  der  Er- 
scheinungen als  nicht  wirklich  oder  als  blossen  Schein  ausschliesst, 
als  die  einzig  mögliche  erscheinen.  Nun  zeigt  Piaton,  dass  eine 
Einheit  ohne  Vielheit  nicht  denkbar  ist,  und  damit  ist  der  eleatische 
Standpunkt  abgelehnt  und  der  platonische  als  durchaus  möglich 
erwiesen. 

Nun  hat  Zell  er*)  aus  dem  Ergebnis  der  Untersuchung,  dass 
eine  Einheit  ohne  Vielheit  nicht  denkbar  sei,  weiter  geschlossen,  dass 
dann  jene  scharfe  Sönderung  von  Ideen  und  Dingen  nicht  mehr 
aufrecht  erhalten  werden  könne,  dass  vielmehr  Piaton  hier  zu  jener 
Ansicht  gekommen  sei,  die  Zeller  die  Inhärenz  der  Erscheinungen 
in  den  Ideen  nennt.  Aber  diese  Folgerung  ist  viel  zu  weitgehend 
und  wird  durch  keine  anderweitigen  Aeusserungen  Piatons  gestützt; 
denn  was  Zeller  für  seine  Auffassung  vorbringt,  hat  sich  als  unzu- 
reichend erwiesen  -). 

Wenn  nun  auch  durch  die  Untersuchungen  über  Einheit  und 
Vielheit  die  Ideenlehre  sich  als  möglich  erwiesen  hat,  so  sind  damit 
doch  immer  noch  nicht  die  Einwendungen  des  Parmenides  wider- 
legt. Es  bleibt  uns  also  die  Aufgabe,  zu  untersuchen,  ob  sich  aus 
dem  „Sophistes"  für  ihre  Beurteilung  wie  lür  die  Ideenlehre  im 
allgemeinen  etwas  gewinnen  lässt. 

II. 

Der  Dialog  ,, Sophistes"  hat  zunächst  den  Zweck,  das  Wesen 
des  Sophisten  zu  definieren.  Es  werden  zu  diesem  Zwecke  mittels 
der  diaiQsaig  eine  Reihe  Definitionen  aufgestellt.  Da  diese  aber 
nicht  befriedigen,  gelangt  man  schliesslich  dahin,  den  Sophisten  als 
einen  Menschen  zu  bezeichnen,  der  einen  blossen  Schein  des  Wissens 
ohne  Wirkhchkeit  zu  erzeugen  vermöge.  Da  erhebt  sich  denn  die 
schwierige  Frage,  was  denn  überhaupt  der  Schein  oder  das  Nicht- 
seiende  bedeute,  und  es  wird  hier  von  neuem  das  schon  im  „Theaetet" 
erörterte,  aber  noch  nicht  gelöste  Problem  gestellt :  Wie  ist  es  mög- 
lich, etwas  Falsches  auszusagen  oder  vorzustellen?  Denn  wenn 
jemand  behauptet,  dass  das  möglich  sei,  so  setzt  er  voraus,  dass  das 
Nichtseiende  sei  (236  e  -237  a).  Damit  bietet  sich  Piaton  eine  will- 
kommene Gelegenheit,  in  einer  längeren  Digression  das  Wesen  des 
Nichtseienden  zu  untersuchen.  Als  Ziel  dieser  Untersuchung  wird 
angegeben,  zu  beweisen,  dass  das  Nichtseiende  in  gewisser  Beziehung 
ist  und  das  Seiende  in  gewisser  Beziehung  nicht  ist  3). 

Bei  der  Untersuchung  über  das  Wesen  des  Nichtseienden  stellt 
sich   indessen   bald   heraus,    dass   es  nicht  geUngen  wird,  zu  einem 

0  E.  Zeller,  Platonische  Studien,  Tübingen  18^),  150  fC     Später  hat  Zeller 
hekannllicli  seine  Ansidit  wesenllicii  modiliziert. 
=)  Viil.  darüber  Aiifh,  Beiträge  37  ff. 

)   L41  d  :    TU  TS  /ur^  or  wi  f'an  xmä  n  xa\  lo  or  av  naht'  oi;  ovx  eaii  n-ij. 


13(>  Paul  Schmitf ranz.  , 

befriedigonden  Ergobnis  /u  gelangen,  bevor  das  Wesen  des  Seienden 
deliniert  ist.  Es  miiss  also  zuHcächst  die  Frage  beantwortet  werden : 
Was  ist  das  Seiende?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  sucht  Plalon 
zunächst  bei  den  anderen  philosophischen  Systemen,  und  zwar  be- 
.<chäftigt  er  sich  zuerst  mil  den  Philosophen,  die  eine  bestimmte 
Zahl ')  des  Seienden  angenommen  haben.  Er  zeigt,  dass  man,  wenn 
man  zwei  Prinzipien  annehme,  notwendig  zu  einer  Dreiheit  oder 
Einheit  gelangen  müsse  (243  e  -  244  a):  die  Annahme  der  Einheil 
dagegen  führe  in  jedem  Falle  über  die  Einheit  hinaus  zu  einer  Mehr- 
heit von  Prinzipien  (244  b  —  245  e).  Da  somit  diese  Untersuchung 
zu  grossen  Schwierigkeilen  geführt  hat,  wendet  sich  Piaton  zu  den- 
jenigen Philosophen,  die  über  die  Qualität  des  Seienden  Unter- 
suchungen angestellt  haben.  Hier  stehen  sich  zwei  Richtungen 
gegenüber:  die  einen,  die  Materialisten,  sprechen  nur  dem  Körper- 
lichen ein  wirkliches  Sein  zu,  definieren  Körper  und  Substanz  als 
identisch  (246  b:  ravToi'  ovjua  y.ai  ovoiai'  oQuouaioi):  die  anderen, 
von  Piaton  eidon  (filoi  genannt,  finden  das  wahre  Sein  nur  in  ge- 
wissen Ideen  (246b:  ror.id  äria  y.ai  docö/naja  sidrj  ßiaLÖ^isvoi  iT>r 
d'/.r^iHvrjv  ovolar  drai).  Mit  diesen  „Ideenfreunden"  müssen  wir  uns 
zunächst  beschäftigen.  Denn  für  die  Beurteilung  der  Frage,  wie 
Piaton  si'^h  im  ,,Sophistes"  zur  Ideenlehre  stellt,  ist  es  von  Be- 
deutung, zu  wissen,  wen  er  unter  diesen  eidcöv  qiloi  verstanden 
hat.  Eine  Einigung  über  diese  Frage  ist  bisher  nicht  erzielt  und 
wird  auch  wohl  nie  zustande  kommen.  Die  einen  glauben  hier  die 
Lehre  der  Megariker,  andere  Piatons  eigene  Lehre,  wieder  andere 
beide  zugleich  einer  Kritik  unterzogen.  Daneben  findet  sich  dann 
noch  die  Meinung,  die  Ideenfreunde  seien  Schüler  Piatons,  die  noch 
auf  einem  Standpunkte  der  Ideenlehre  ständen,  den  ihr  Meister 
I)ereits  verlassen  hätte,  und  endlich  die  Ansicht,  die  hier  kritisierte 
Lehre  sei  die  von  den  Megarikern  falsch  verstandene  Lehre  Piatons, 
die  dieser  hier  Von  allen  Missverständnissen  befreien  wolle  ^).  Ich 
bin  der  Ansicht,  dass  es  Piatons  eigene  bisherige  Lehre  ist,  die  hier 
zur  P>örterung  steht.  Die  Gründe,  die  gegen  diese  Annahme  ins 
Feld  geführt  werden,  laufen  zumeist  auf  zwei  von  Zeller  mehrfach  ^) 
vorgebrachte  Bedenken  hinaus.  Das  eine  lautet  dahin,  dass  Piaton 
.seine  eigene  Lehre  nicht  mit  solcher  Ironie  hätte  kritisieren  können, 
wie  er  es  246b  —  c  tut.  Demgegenüber  hat  Raeder*)  mit  Recht 
darauf  hingewiesen,  dass  es  ein  grosser  Unterschied  ist,  ob  Piaton 
selbst  oder,  wie  hier,  der  eleatische  Fremdhng  das  Wort  führt.  Wenn 
Piaton  wirklich,  wie  ich  weiter  unten  zeigen  werde,  seine  Ansichten 

»)  Vgl.  H.  Ronitz,  Plaloni.sche  Studien,  Berlin  1886,  1(51  Anm.  7. 

-)  Die  anderen  Ansichten  über  diese  Frage  kommen  wohl  nicht  mehr  in 
beliachi.  Die  ausserordentlich  reiche  Literatur  darüber  ist  verzeichnet  von 
\L  Zeller,  Philos.  der  Griecli.  II  1  *  252  ff.,  und  0.  Apelt  in  seiner  Ausgabe  des 
„Sophislos",  Leipzig  1897,  144  L 

•'i  Fhilos.  der  Griech.  II  1'  2ü?,  f.:  Sil/.un'j,sbericlite  der  jireuss.  Akad.  d. 
Wibs.  1887,  201)  L;  Archiv  für  Gesch.  der  Philos.  X,  1807,  501  f. 

■*)  Piatons  philos.  l':nlvvickl.  328. 


Ol 


Die  (iestalt  der  platunir^clieii  Ideenlelire  in  ,,PariJieiiiLle.:;"  ii,  „Si)[jlii?;Uiä".     13. 

in  etwa  geilnder-L  hat,  so  war  es  nur  nalürlich,  dass  er  nicliL  den 
Sükrates  zum  Vertreter  seiner  neuen  Anschauungen  machte,  und  dass 
er  die  neue  Hauptperson  mit  einer  gewissen  überlegenen  honie  die 
alle  Lehre  kritisieren  liess.  Das  andere  Bedenken  Zellers  macht 
geltend,  dass  die  Lehre  der  stdow  (piloi  mit  der  bisherigen  platoni- 
schen Lehre  nicht  übereinstimme.  Das  bedarf  der  näheren  Unter- 
suchung^). Piaton  sagt  zunächst  von  den  Ideenfreunden,  sie  sähen 
das  wahrhafte  Sein  in  vor-id  äzra  y.ai  daiöiiaia  dör^  (246  b).  Auch 
Zeller  bezweifelt  nicht,  dass  das  mit  dem  ülDereinstimmt,  was  Piaton 
im  ,,Phaedon"  und  „Staat"  gelehrt  hat.  Dagegen  würde  es  auf  die 
Megariker  nach  allem,  was  wir  von  ihnen  wissen  ^),  nur  schwer  zu 
beziehen  sein;  denn  deren  Lehre  war  eleatisch  und  kannte  nur  ein 
Seiendes,  aber  keine  ddi]^).  Weiter  heisst  es  von  den  Idealisten, 
dass  sie  das,  was  die  Materialisten  Sein  nennen,  als  „bewegliches 
Werden"  [yeieoiv  dvr  ovoia^  (fSQü/ieu^v,  246c)  bezeichnen.  Das 
stimmt  zu  der  Kritik,  die  Piaton  im  ,,Theaetet"  an  der  Lehre  der 
Herakliteer  übt.  Dort  wendet  er  sich  mit  scharfen  Worten  gegen 
die  Herakliteer,  die  nicht  das  eigentliche  Sein,  sondern  nur  das 
Werden,  das  „bewegliche  Sein"  [rijv  (j:i£Q0fisv7]i'  ovoiav,  179  d),  auf- 
fassen können.  Die  Ideenfreunde  lehren  ferner,  dass  man  durch  den 
Leib  mittels  der  Sinnenwahrnehmung  mit  dem  Werden,  durch  die 
Seele  mittels  des  Denkens  mit  dem  wirklichen  Sein  Gemeinschaft 
habe  i  248  a).  Diese  Lehre,  die  auf  die  Megariker  nicht  passen  würde  ^), 
stimmt  dagegen  wieder  zum  „Theaetet"  (184  {].),  wo  gezeigt  wird, 
dass  die  Ideen  (das  Sein)  von  der  Seele  selbst  ohne  die  Vermittlung 
der  Sinne  erfasst  werden,  während  die  Wahrnehmung  der  Sinne  auf 
das  Werden  zielt.  Endlich  sind  die  Ideahsten  der  Meinung,  dass 
nur  das  Werden  Teil  hat  an  der  Möglichkeit,  zu  leiden  und  zu 
wirken,  während  dem  Sein  keine  dieser  Möglichkeiten  zukommt 
(248  c).  Auch  das  ist  durchaus  platonisch.  Denn  schon  daraus,  dass 
Piaton  im  ,,Phaed."  78  d  die  Ideen  für  unveränderlich  und  unbeweghch 
erklärte,  folgt  ohne  weiteres,  dass  sie  nicht  wirken  können.  Gerade 
die  durch  ihre  Absonderung  bedingte  Starrheit  der  Ideen  machte  es 
ja  im  „Parmenides"  unmöglich,  ihr  Verhältnis  zur  Sinnenwelt  zu 
erklären.  Dass  sie  nicht  leiden  können,  hat  Piaton  ausdrücklich  im 
„Symposion"  (211b)  erklärt.  Mit  dieser  Lehre  Piatons  stehen  nun 
freilich  zwei  Aeusserungen  in  etwa  im  Widerspruch :  die  eine  im 
„Staat"  (VI  509  b),  w^o  die  Idee  des  Guten,  die  freilich  über  das  Sein 


')  Zu  den  folgenden  Ausführungen  vgl.  Räder,  Plalons  philos.  Entw.  329. 

■■')  Und  das  ist  in  der  Tat  recht  wenig,  denn  es  darf  nicht  vergessen 
werden,  dass  Zeller  seine  Darstellung  der  megarischen  Philosophie  hauptsäch- 
lich auf  unserer  Sophistesstelle  aufbaut.  Dieselbe  muss  aber  so  lange  aus- 
scheiden, bis  zweifelsfrei  bewiesen  ist,  dass  ihre  Deutung  auf  die  Megariker 
zu  Piecht  besteht. 

*)  N.  Hartmann,  Piatos  Logik  des  Seins  108  Anm.  1.  Vgl.  ferner  Ueber- 
weg,  Echtheit  platonischer  Schriften  277  f. 

*)  Vd.  C.  Ritter,  Bemerkungen  zum  Sophistes.  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos. 
XI,  1898, '22  f. 


i:?S  Paul  S.-li  Ml  i  tl'rair/. 

crliabcn  ist '),  als  die  LJrsa(.lio  des  Daseins  der  Ideen  bezeiclinet  wird ; 
die  andcsre  im  „Phaedou'-  (lOOd),  wo  es  heisst,  die  Dinge  verdankten 
ilire  Eigenschaften  den  Ideen.  Hinsichllieli  dieser  Stelle  könnte  es 
zweifelhal't  erscheinen,  ob  hier  in  der  Tat  den  Ideen  ein  Wirken 
zugesprochen  wird,  oder  ob  sie  nicht  vielmehr  als  blosse  Zvveck- 
ursachen  gekennzeichnet  seien  -).  Dies  ist  sicher  der  Fall  an  einer 
Irüheren  Stelle  des  ,,Phaedon"  (75a  —  b);  dort  sagt  Piaton,  die 
Dinge  verdankten  ihre  Entwicklung  dem  Streben  nach  der  Voll- 
kommenheit der  Ideen  ^j.  Ich  sehe  nun  besonders  in  der  obigen 
Phaedonstelle  (100 d)  eine  Annäherung  an  eine  Auffassung  der  Ideen, 
die  vielleicht  schon  länger  im  Bewusstsein  Piatons  neben  der  anderen 
eine  gewisse  Rolle  gespielt  haben  mag,  die  aber  auch  im  „Sophistes" 
nicht  bis  in  ihre  letzten  Konsequenzen  durchgedacht  wird  :  ich  meine 
die  Auffassung  der  Ideen  als  wirkender  Kräfte.  Diese  Auffassung 
tritt  zu  Tage  im  Zusammenhang  mit  einer  neuen  Definition  des  Seins. 

Diese  neue  Definition  setzt  das  Sein  als  die  Möglichkeit  (oder 
Kraft)  zu  wirken  oder  zu  leiden^).  Sie  taucht  am  Schluss  der  Kritik 
der  Materialisten  ziemUch  plötzlich  auf,  ist  weder  vorbereitet  noch 
wird  sie  begründet,  wird  aber  gleichwohl  von  den  Materialisten  an- 
genommen. Die  Idealisten  verhalten  sich  ihr  gegenüber  zunächst 
ablehnend.  Die  Art  und  Weise  nun,  wie  sie  Schritt  tür  Schritt 
nachgeben,  aber  doch  schliesslich  die  Definition  nur  bedingt  an- 
nehmen, ist  sehr  bezeichnend ;  ich  will  daher  kurz  den  Gedanken- 
gang dieses  Abschnittes  (248  a  —  249  d)  anführen.  Die  Ideenfreunde 
scheiden  Werden  und  Sein  und  behaupten,  mit  dem  Werden  hätten 
wir  Gemeinschaft  durch  den  Körper  mittels  der  Wahrnehmung,  mit 
dem  Sein  durch  die  Seele  mittels  des  Denkens.  Dieses  ,, Gemeinschaft- 
haben" aber,  so  hält  ihnen  nun  der  Eleate  entgegen,  ist  nichts 
anderes  als  eben  jenes  nddt]/iia  rj  nohj/na.  Das  w^oUen  jene  aber 
nur  hinsichtlich  des  Werdens  zugeben,  denn  das  Sein  könne  weder 
wirken  noch  leiden.  Nun  müssen  sie  aber  einräumen,  dass  das  Sein 
erkannt  werde.  Dass  nun  aber  „Erkennen"  eine  TätigkeiL  ist  und 
,, Erkanntwerden"  ein  Leiden,  w'ollen  sie  nicht  zugeben,  denn  sonst 
würden  sie  sich  selbst  widersprechen.  Wenn  aber  „Erkennen"  eine 
Tätigkeit  ist,  so  ist  „Erkanntwerden"  notwendigerweise  ein  Leiden. 
Daraus  folgt,  dass  dem  Sein,  insofern  es  erkannt  wird,  die  dviafUi; 
Tov  näoyjiv  im   Sinne   obiger  Definition  zukommt.     Diesen  Schluss 


')  509  b:  ovx  ovaia;  ovto;  tov  ayad'ov,  o/A'  kri  ETrixeiva  ttj?  ovai'a:  TTQCaßeia 
xai   övva/jti   vntqi^ovTo:. 

')  So  meint  Apelt  Beiträge  S.  VII. 

'^)  75  a  -  b  ;  OqiyEjai.  fjEv  TTavTa  Tavra  eivai  oiov  To  laov,  ^X^'  ^^  evosBOTSQU);. 
—  riavTa  TU  kr  laT:  alad^rjaeaiv  fxen'ov  te  o^t'ySTai  tov  o  fariv  i'fJo»',  xai  ctviov 
tySeeoTS^ä  eoTiv.  —  IfQoUvfjtiTat  uer  navTa  Toiavr'  elrai  oior  Exelro,  emiv  o'e 
avTOv   ipavXoTtQcc. 

■*)  247  d  —  e  :  Aiyw  Stj  ro  xa\  onoittvovv  \Tivtt\  xsxTtj/uevov  Svvaftiv  elr '  eig 
TO  noielr  freQor  onovf  nttpvxoi  tiT^  fr;  to  nad-etv  xai  a/uiXQOTaTov  vno  tov  (pavXo- 
TuTov,  xav  el  /lörot'  eis  anaS:,  irav  tovto  orrcoi  elrat'  Tt'd'Sfiai  yaq  oQor  [o^tCtiv]  la 
OTTit    oi;    f'aTtr    ovx    nXio    7«    nXrji'    Svra/n?. 


Die  Get'.laU  der  plalunisolien  Itleeiilelnt'  in  ,,Pariiiei)itles"  n.  „Supliistes".     189 

ziehL  Plalon  aber  nicht,  soudeni  er  folgert  gleicli  weiter,  indem  er 
einen  neuen  Begrill'  hineinbringt,  dass  das  Sein  ötd  i6  rccar/fiv  be- 
wegt wird.  Das  wäre  aber  unmöglich  bei  einem  Sein,  das  bisher 
als  ruhend  angesehen  wurde  (o  öi]  (paf.isy  ovx  äv  yspeaüai  718Q1  lu 
rJQPfawi'^).  Aber,  so  ruft  deshalb  der  Eleate,  sollen  wir  uns  so 
leicht  überzeugen  lassen,  dass  dem  wahrhaften  Sein  Bewegung,  Seele, 
Leben  und  Denken  wirklich  nicht  zukommen,  dass  es  weder  lebt 
noch  denkt,  sondern  hehr  und  heilig,  ohne  Verstand  und  unbewegt 
dastehe  ?  Und  nun  wird  weiter  argumentiert,  dass  das  Sein,  wenn  es 
Verstand  habe  ^),  auch  Leben  haben  müsse,  wenn  Leben,  auch  Seele, 
wenn  Seele,  auch  Bewegung,  und  dass  somit  auch  umgekehrt  die 
Bewegung  ist.  Wie  nun  aber  ohne  Bewegung  keine  Erkenntnis 
möghch  ist,  so  auch  umgekehrt  nicht,  wenn  alles  nur  Bewegung  ist, 
was  ja  schon  der  „Theaetet'  klargelegt  hatte.  Es  ergibt  sich  also, 
dass  das  Seiende  sowohl  bewegt  als  auch  unbewegt  ist. 

Was  nun  zunächst  den  Ursprung  der  neuen  Definition  angeht, 
so  herrschen  darüber  verschiedene  Meinungen.  Ausser  Piaton  hat 
man  sie  hauptsächlich  dem  Antisthenes  ^j  oder  Hippokrates  •^)  zuge- 
schrieben. Da  es  mich  zu  weit  führen  würde,  will  ich  auf  diese 
Frage  nicht  näher  eingehen;  wichtiger  ist,  zu  untersuchen,  welche 
Bedeutung  dieser  Definition  zukommt.  Wenn  ich  sie  nun  auch  nicht 
mit  Apelt  ^)  für  einen  blossen  dialektischen  Kunstgriff  halte,  so  kann 
ich  andererseits  auch  nicht  in  ihr  den  Angelpunkt  des  ganzen 
Dialogs  sehen.  Wenn  z.  B.  Horn^)  meint,  die  Definition  bilde  den 
Abschluss  der  Auseinandersetzung  Piatons  mit  früheren  Philosophen- 
schulen über  das  Wesen  des  Seienden,  so  lässt  sich  aus  dieser 
ganzen  Auseinandersetzung  nur  folgern,  dass  Piaton  zu  einem  mitt- 
leren Standpunkt  zwischen  Eleaten  und  Herakliteern  kommen,  d.  h. 
sowohl  Ruhe  als  Bewegung  als  seiend  annehmen  musste.  Aus  der 
ganzen  Auseinandersetzung  zu  folgern,  dass  das  Sein  die  Möghch- 
keit,  zu  wirken  oder  zu  leiden,  sei,  ist  ganz  unmöglich.  Diese  Defi- 
nition wird  vielmehr  ganz  unvermittelt  eingeführt.  Jedenfalls  werden 
mit  der  neuen  Definition  die  Erörterungen  über  das  Sein  nicht  ab- 
geschlossen, sondern  sie  werden  weiter  fortgesetzt,  und  zu  Beginn 
der  neuen  Erörterungen .  wird  betont,  dass  man  jetzt  erst  recht  die 
Schwierigkeit  einer  Untersuchung  über  das  Seiende  erfahren  würde 
(249  d).  Immerhin  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  Piaton  sich  hier 
auf  einen  ganz  neuen  Standpunkt  stellt,  indem  er  dem  Sein  Bewegung, 


M  Nebenbei  will  ich  bemerken,  dass  Hartmann  (Piatos  Logik  des  Seins 
111)  hier  ^^ejuelv  und  e^ijuovr  verwechselt,  wie  die  Zusammenstellung  von  x^Q'-'^ 
und  tjqe/uovv  zeigt. 

^)  Piaton  scheint  also  zu  glauben,  dass  man  ihm  diese  Eigenschaft  am 
wenigsten  absprechen  könne. 

3)  F.  Dümmler,  Antisthenica,  Halle  1882,  527. 

*)  Apelt,  Beiträge  86. 

»)  Beitrcäge  72  ff. 

«)  Piatonstudien,  N.  F.,  320  ff. 


140  Haul  Seil  in  i  t  fra  115:. 

Lel»t^ii,  S('t;le  und  Denken  zuschreibt ').     Dass  dem  wahrliaClen  Sein 
die:se  bjgenscliarten  zukoninieii,  \\ird  mit  einer  gewissen  Feierlielikeit 
versichert,    die  wohl   die   mangehide   Begründung   ersetzen  soll.     In 
welchem  Lichte   erscheinen   nun  von  diesem  neuen  Standpunkt  aus 
betrachtet  die  Bedenken,  die  im  .,Parmenides-  gegen  die  Ideenlehre 
erhoben  wurden?  Man  hätte  doch  erwarten  sollen,  dass  Platoii  mit 
Hülle  der  neuen  Auffassung  der  Idee  als  dviafu^,  das  noch  immer 
ungeklärte  Verhältnis    zwischen    Ideen    und   Einzeldingen   aufgehellt 
hätte.     Aber  gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall:   während  im  ,,Par- 
menides"   gegen   die  Erkennbarkeit  der  Ideen  berechtigte  Bedenken 
erhoben  wurden,  wird  dieselbe  hier  als  etwas  Sicheres  vorausgesetzt, 
und    erst   auf    Grund    dieser  Voraussetzung   wird    es    möghch,    die 
Ideenfreunde   zu  einer  wenn  auch  nur  bedingten  Annahme  der  De- 
finition gewissermassen  zu  zwingen.    Und  in  dem  folgenden  Abschnitt 
des  ..Sophistes"  könnte  man  höchstens  von  einer  Wirkung  der  Ideen 
unter  einander  gehandelt  finden,   von   einer  Wirkung  der  Ideen  auf 
die  Sinnendinge  ist  gar  nicht  die  Rede^).     Nun  ist  es  ja  klar,  dass 
eine  solche  Erörterung  sich  schwer  in  den  Rahmen  des  Dialogs  hätte 
einfügen  lassen,  es  ist  aber  fraglich,  ob  Piaton  sich  überhaupt  klar 
darüber  geworden  ist,  wie  bei  der  neuen  Auffassung  das  Verhältnis 
der  Ideen  zur  sinnlichen  Welt    sich  im   einzelnen    gestalten  würde. 
Jedenfalls  würde    die   konsequente   Durchführung   dieser  Auffassung 
ihn  zu  Anschauungen  geführt  haben,  die  mit  den  Grundlagen  seiner 
Ideenlehre,  wie  er  sie  bislang  dargestellt  hatte,  unvereinbar  gewesen 
wären.     Liegt  vielleicht   eine  Andeutung  dieses  Sachverhalts  in  den 
Worten,    die   unmittelbar    an    die  Aufstellung    der  neuen  Definition 
geknüpft  werden  (247  e) :  mog  yocQ  äv  slg  vöitqov  iq(.dv  te  y.ai  rovroig 
eTEQov   av  (faveii]?     Jedenfalls  wissen  die  späteren  Dialoge  nichts 
mehr   von    der   neuen   Auffassung    der    Ideenlehre.     Im  ,,Timaeus" 
sind  die  Ideen  wieder   die   unveränderlichen   Urbilder,    und   als  das 
bewegende  Prinzip  erscheint  der  Weltbildner.     Auch  im  „Philebos", 
wo  die  im  „Parmenides"  erhobenen  Bedenken,  zu  deren  Beseitigung 
die  neue  Auffassung  der  Ideen  geboren  schien,  zum  Teil  von  neuem 
vorgebracht  werden,  ist  von  einer  Auffassung  der  Ideen  als  wirkender 
Kräfte  nicht  mehr  die  Rede.     Das  alles  zeigt  uns,  dass  wir  die  Be- 
lebung der  Ideen,  wie  wir   sie  hier  im  „Sophistes"  finden,   nur   als 
einen  Versuch  auffassen  dürfen,  den  Piaton  selbst  sehr  bald  wieder 
aufgegeben  hat.     Das  lehrt  uns  auch  das  Verhalten  des  Aristoteles, 


*)  Dieser  neue  Standpunkt  wird  vielleicht  in  etwa  vorbereitet  durch 
Parni.  15fia— b,  wo  gezeigt  wird,  dass  die  Einheit  sowohl  entstehen  als  ver- 
gehen kann.  Indessen  ist  wohl  zu  beacliten,  dass  an  dieser  Stelle  zunächst 
immer  vom  eleatischen  Eins  die  Rede  ist. 

^)  Hartmann  (Piatos  Logik  des  Seins  135  f.)  behauptet,  durch  die  xoiviovia 
TiZy  yfyiöy  sei  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Ideen  und  Dingen  gelöst. 
„Indem  die  reinen  Grundbestimmungen  zu  einander  treten,  sich  mischen,  er- 
zeugen sie  den  konkreten  Gegenstand".  Davon  ist  meines  Erachtens  im 
„Sophistes"  nicht  die  mindeste  Spur  zu  finden. 


liie  Gestalt  der  plutonisclien  Tdeenlelire  in  „Parnienide.s"  u.  „Sopliisle-i".     141 

der  unseren  Dialog  gekannt  und  auf  ihn  angespielt  hat '),  aber  von 
einer  IJelebung  der  Ideen  nichts  weiss,  vielmehr  stets-;  der  Ideen- 
lehre den  Vorwurf  macht,  dass  ihr  das  bewegende  Prinzip  fehle. 

Der  Versuch  einer  Belebung  der  Ideen  bildet  aber,  wie  schon 
oben  erwähnt,  nicht  den  Angelpunkt  des  ganzen  Dialogs,  sondern 
dieser  ist  zu  suchen  in  der  Erörterung  über  die  y.oivonia  itöv  yevLÖv 
und  das  Nichtseiende.  Als  letztes  Resultat  der  Untersuchung  hatten 
wir  oben  erwähnt,  dass  das  Seiende  sowohl  bewegt  als  auch  un- 
bewegt ist.  Es  ist  aber  weder  mit  der  Bewegung  noch  mit  der 
Ruhe  identisch.  Da  erhebt  sich  denn  die  Frage,  wie  es  überhaupt 
möglich  ist,  einem  Subjekt  ein  von  ihm  verschiedenes  Prädikat  bei- 
zulegen, was  ja  Antisthenes  u.  a.  für  unmöglich  hielten.  Es  wird 
nun  gezeigt,  dass  wie  von  den  Buchstaben  manche  zusammen- 
passen, manche  nicht,  so  auch  bei  den  Begriffen  die  einen  sich  mit 
einander  verbinden  lassen,  andere  dagegen  nicht.  Wie  bei  den  Buch- 
staben die  Grammatik,  so  ist  bei  den  Begriffen  die  Dialektik  die- 
jenige Wissenschaft,  die  über  die  verschiedenen  Möglichkeiten  der 
Verbindung  Aufschluss  gibt.  Sie  ist  die  Wissenschaft  des  echten 
Philosophen.  Da  es  nun  unmöglich  ist,  die  Gemeinschaft  aller  Be- 
griffe zu  untersuchen,  werden  einige  Hauptbegriffe  ausgewählt,  und 
als  solche  hatten  sich  oben  ergeben:  Sein,  Stillstand,  Bewegung. 
Da  jeder  dieser  Begriffe  mit  sich  selbst  identisch  und  von  jedem  der 
andern  verschieden  ist,  so  erhalten  wir  noch  zwei  weitere  Haupt- 
begriffe: Identität  und  Verschiedenheit.  Der  Begriff  der  Bewegung 
wird  nun  beispielsweise  in  seinen  Beziehungen  zu  den  anderen  Be- 
griffen besprochen.  Bewegung  ist  verschieden  von  allen  anderen 
Begriffen,  also  auch  vom  Sein,  mithin  ist  sie  nichtseiend;  dasselbe 
gilt  auch  von  den  anderen  Begriffen.  Da  sie  aber  andererseits  alle 
teilhaben  am  Sein,  sind  sie  auch  wiederum  seiend.  Das  Seiende 
selbst  ist  nun  auch  verschieden  von  allen  anderen  Begriffen,  es  ist 
also  so  vielfach  nichtseiend,  als  es  von  ihm  verschiedene  Begriffe 
gibt.  Das  Seiende  ist  also  in  gewissem  Sinne  nichtseiend.  Dabei 
ist  zu  beachten,  dass  unter  diesem  Nichtseienden  nicht  der  konträre, 
sondern  der  kontradiktorische  Gegensatz  des  Seienden  zu  verstehen 
ist  3).  Das  Wesen  der  Verschiedenheit  zerfällt  nun  in  viele  Teile, 
und  einen  dieser  Teile  hat  das  Schöne  zum  Gegensatz,  nämlich  das 
Nichtschöne.  Dieses  Nichtschöne  kommt  dadurch  zum  Sein,  dass 
es  von  einer  Gattung  des  Seienden  ausgesondert  und  andererseits 
einem  Seienden  entgegengesetzt  wird,  es  ist  also  der  Gegensatz  eines 
Seienden  zu  einem  Seienden,  das  Nichtschöne  ist  also  in  nicht  ge- 
ringerem Grade  seiend  als  das  Schöne.  Was  vom  Nichtschönen 
gilt,  hat  auch  für  alle  anderen  Teile  der  Verschiedenheit  Geltung. 
Es  ist  also  der  dem  Seienden  entgegengesetzte  Teil  der  Verschieden- 

■)  z.  B.  Metaph,  A  9,  991  b,  3  ff. 
^)  z.  B.  Metaph.  N  2.  1089  a,  1  ff. 

«  \    ^,^  ■     o^ÖTorj'    ro  firi   ov  ÜyiO/uev,    lo;  soixtv,    ovx    htavTiov  Ti  liyo/iiEv  rov 

ovro;,   aXr   tre^or   iiivov. 

Philosophisches  Jahrbuch  19i;t.  10 


l42  Faul  Schill  i  l  franz. 

heil  uichl  minder  seiend  als  das  Seiende  selbst.  Dies  ist  nun  al)er 
das  Nichlseiende ;  also  ist  auch  das  Nichtseiende  seiend.  Damit  ist 
das  241  d  gesteckte  Ziel  erreicht,  nämlich  zu  beweisen,  dass  das 
Seiende  in  gewisser  Beziehung  nicht  sei  und  das  Nichtseiende  in 
gewisser  Beziehung  sei.  Es  gilt  nun  noch  das  Ergebnis  zu  verwerten, 
um  die  Möglichkeit  der  falschen  Aussage  zu  erweisen.  Zu  diesem 
Zwecke  werden  zwei  Klassen  von  Wörtern  unterschieden,  Gegen- 
standswörter (substantiva,  opouaia)  und  Aussagewörter  (verba,  (ti^- 
fiaia).  Nur  durch  die  Verbindung  beider  entsteht  die  Aussage  oder 
der  Satz  {'/.öyog).  Jeder  Satz  muss  sich  auf  ein  Objekt  beziehen 
und  eine  bestimmte  Qualität  haben.  Das  wird  an  zw^ei  Beispielen 
klargemacht,  von  denen  das  eine  ein  wahres,  das  andere  ein  falsches 
Urteil  enthält.  Der  letztere  Satz  gibt  Nichtseiendes  für  seiend  aus ; 
folglich  ist  also  eine  falsche  Aussage  diejenige,  die  Nichtseiendes 
für  seiend  ausgibt.  Diese  Definition  wird  vom  /.öyo^  auf  die  drei 
Begriffe  didioia  dö^a  qavzaöia  übertragen,  die  in  inniger  Beziehung 
zum  Aö/Os'  stehen.  Damit  ist  ein  Standpunkt  gewonnen,  von  dem 
aus  sich  das  Wesen  des  Sophisten  in  einer  endgültigen  Definition 
bestimmen  lässt. 

Dieser  Gedankengang  Piatons  weist  eine  Reihe  von  Unstimmig- 
keiten auf.  Dieselben  sind  zunächt  und  vor  allem  begründet  in  der 
Mehrdeutigkeit  des  Wörtchens  ,.sein".  Dasselbe  bezeichnet  sow^ohl 
das  Dasein  als  auch  das  Sosein.  Die  erste  Bedeutung  spielt  in  das 
metaphysische  Gebiet  hinüber,  die  letztere  ist  rein  logischer  Natur. 
Zwischen  diesen  beiden  Bedeutungen  hat  Piaton  nicht  scharf  ge- 
schieden. Demgemäss  entspricht  das  Nichtsein,  das  zum  Gattungs- 
begriff des  h'TSQov  gehört,  der  logischen  Bedeutung  des  Seins,  dem 
Sosein.  In  der  Auseinandersetzung  mit  den  übrigen  philosophischen 
Systemen  steht  noch  die  erste  Bedeutung  des  Seins  im  \'ordergrund, 
in  dem  Abschnitt  über  die  xoawit'a  t<öv  yeii'jy  werden  beide  Be- 
deutungen durcheinandergew^orfen.  Auf  ein  charakteristisches  Bei- 
spiel dafür  macht  Apelt ')  aufmerksam.  Nachdem  das  Sein  des  Nicht- 
seienden  im  Sinne  des  l'ieQoi'  erwiesen  ist  (258b),  wird  unmittelbar 
daraus  die  Unrichtigkeit  des  parmenideischen  Verses  gefolgert,  der 
von  dem  Nichtseienden  im  absoluten  Sinne  handelt  (258  d).  Man 
möchte  freilich  glauben,  dass  Piaton  der  Wahrheit  nahe  gekommen 
sei,  wenn  255c- d  geschlossen  wird,  ör  und  f'xsQov  könnten  nicht 
identisch  sein,  weil  das  o'v'  bald  absolut,  bald  relativ  sei,  während 
das  fVf(>ot  stets  relativ  sei.  Aber  jedenfalls  hat  Piaton  nicht  genau 
zwischen  den  beiden  Bedeutungen  unterschieden-).  Aehnlich  liegt, 
wie  schon  gesagt,  die  Sache  beim  ///;  öv.  Piaton  kennt  zwar  in  der 
Theorie  den  Unterschied  zwischen  konträrem  und  kontradiktorischem 


')  0.  Apelt,  Piatons  Sophistes  in  geschichtlicher  Beleuchtung,  Rhein.  Mus., 
N.  F.,  50,  1895,  429. 

'^)  Dies  ist  llorn  bei  seinen  Ausführungen  Plalonsludien  N.  F.  331  f. 
entgangen. 


Die  Gestalt  der  plat(ini??chen  I.leenlehre  in  „Parmeniiles"  ii.  „Sujjliiste.s".     14B 

(legensalz  ^) ;  das  hebt  er  ausdrücklk-h  zweimal  hervor.  257 b  und 
besonders  258  e,  wo  er  sich  ausdrücklich  dagegen  verwahrt,  dass 
man  behaupte,  er  habe  das  Nichtseiende  als  den  konträren  Gegen- 
satz des  Seienden  dargestellt;  von  diesem  will  er  überhaupt  nicht 
untersuchen,  ob  er  sei  oder  nicht,  ob  er  denkbar  oder  ganz  und 
gar  undenkbar  sei  -).  Aber  in  der  Praxis  macht  ihm  dieser  Unter- 
schied doch  noch  Schwierigkeiten.  Das  zeigt  sich  besonders  in  fol- 
gender Tatsache^):  Piaton  hatte  das  Sein  des  Nichtseienden  erwiesen, 
um  damit  die  MögUchkeit  falscher  Aussage  darzutun.  Bei  den  prak- 
tischen Beispielen  aber  (Theaetet  sitzt,  Theaetet  lüegt)  verweist  er 
zwecks  Entscheidung  darüber,  ob  diese  Urteile  richtig  oder  falsch 
sind,  an  die  Anschauung.  Hinterher  sucht  er  dann  diese  Entscheidung 
mit  dem  obigen  Ergebnis  der  Untersuchung  (dass  das  Nichtseiende 
sei)  zu  vereinigen.  Er  behauptet  (263  c-d)  von  dem  zweiten  Satz 
(Theaetet  fliegt),  er  gebe  Nichtseiendes  (d.  h.  vom  Sein  Verschiedenes) 
für  seiend  aus.  Und  doch  hatte  er  vorher  erklärt,  die  falsche  Vor- 
stellung bestehe  darin,  dass  sie  das  dem  Sein  Entgegengesetzte  vor- 
stelle*). Mit  der  Mehrdeutigkeit  des  Wortes  „sein"  hängt  endlich 
noch  ein  anderer  Umstand  zusammen,  auf  den  besonders  Apelt  ^) 
hingewiesen  hat,  der  Umstand,  dass  Piaton  zwischen  Vergleichungs- 
formeln und  wirklichen  Urteilen  nicht  unterscheidet.  So  ist  z.  B.  der 
Satz  „xlvj^ois  ist  nicht  steqoi''  blosse  A'ergleichungsformel,  die  besagt, 
dass  die  Begriffe  y.ivrioig  und  heQov  nicht  identisch  sind.  Und  so 
ist  es  mit  den  meisten  verneinenden  Sätzen  bei  Piaton,  während 
seine  bejahenden  Sätze  durchweg  wirkliche  Urteile  sind. 

Aber  trotz  dieser  Ungenauigkeiten  bedeutet  doch  die  Lehre 
Piatons  von  der  Gemeinschaft  der  Begriffe  einen  grossen  Fortschritt. 
Es  wird  hier  zum  ersten  Male  der  Versuch  der  Aufstellung  einer 
Kategorientafel  gemacht.  Dieselbe  ist  allerdings  keine  endgültige, 
denn  schon  im  „Philebos"  finden  wir  vier  andere  Kategorien,  das 
Unbegrenzte,  Begrenzung,  Mischung  und  Ursache.  Und  die  Kategorien 
des  Aristoteles  haben  bekannthch  mit  den  platonischen  nichts  gemein. 
In  welchem  Verhältnis  stehen  nun  diese  Hauptbegriffe  {^dyioTu  eidt] 
254c)  zu  den  Ideen?  Raeder^)  meint,  sie  hätten  „im  Bewusstsein 
Piatons  denselben  bedeutsamen  Platz  erhalten,  den  vorher  die  Ideen 
einnahmen.  Es  bleibt  jedoch  der  Unterschied,  dass  die  neuen  Grund- 
begriffe nicht  wie  vorher  die  Ideen  als  für  sich  {awd  xab'  avrd) 
stehend  betrachtet  werden,  wodurch  es  ja,  wie  uns  der  »Parmenides« 

J)  Im  „Protagoras"  331a  kennt  Piaton  diesen  Unterschied  noch  nicht. 

^  )  M);  tojVvv  tjuai  einjj  tj«  oti  TovvavTior  rov  ürro;  t6  ^t;  6v  ano(patr6,u£yot 
JolfÄWfxtv  Xiysiv  tu;  löTtv.  ^fxeli  yaq  ttsqI  /l4£v  evavTiov  nvo;  avrj  pfai'pfu'  TiaÄat 
IffO^Ev,   fi'r'   iOTiv  £iT£  fxrj,   loyov   ly^ov   ^  xai   navränaaw   aloyor. 

^)  Vgl.  dazu  Bonitz,  Platonisclie  Studien  208  f.,  Apelt,  Rhein.  Mus.,  N.  F., 
50,  431  ff.  und  Raeder,  Piatons  philos.  Entw.  338. 

*)   240  d :    ^pevS^;   6    aZ   Sö^a   eorat   TaravTia   toT:   ovoi   So^aLovaa. 

*)  Rhein.  xMus.,  N.  F.,  50,  421. 

'•)  Vgl.  Raeder,  Piatons  philos.  Entw.  332. 

10* 


144  Paul  Seh  m  i  l  franz. 

gelelii'l  hat,  unmöglich  gouesen  wäre,  zu  erklären,  wie  die  Dinge 
an  ihnen  teilhaben  können".  Darauf  ist  zu  erwidern,  dass  diese 
letztere  Frage  liier  überhaupt  nicht  erwähnt  wird  und  daher  völlig 
ausscheiden  muss.  Wenn  die  Untersuchung  auch  zum  Teil  einen 
vorwiegend  logischen  Charakter  trägt,  so  sind  doch  für  Piaton  Logik 
und  Metaphysik  so  eng  verbunden,  mit  andern  Worten  Begriff  und 
Idee  so  unzertreimlich,  dass  wir  die  ^leyioca  scdr^  als  Ideen  an- 
sprechen müssen.  Dafür  fehlt  es  auch  nicht  an  deutlichen  Anzeichen; 
hinsichthch  dieser  darf  ich  wohl  auf  Bonitz  ^)  verweisen.  Diese 
Ansicht  wird  aber  auch  noch  von  anderer  Seite  bestätigt.  Nachdem 
Piaton  schon  im  ..Phaedon"  (103c  ff.)  die  Lehre  von  der  y.ononia 
gestreift  hat,  finden  wir  im  ,,Theaetet"  (185  c)  zum  Teil  schon  die  hier 
aufgestellten  Kategorien.  Es  sind  dort  genannt :  Sein  und  Nichtsein, 
Aehnlichkeit  und  Unähnlichkeit,  Identität  und  Verschiedenheit.  Da 
von  diesen  behauptet  wird,  dass  sie  als  das  wahre  Wesen  der 
Dinge  von  der  Seele  unmittelbar  erfasst  würden,  findet  obige  An- 
sicht auch  hierdurch  ihre  Bestätigung. 

Ich  will  mich  nun  noch  kurz  mit  der  Erklärung  auseinander- 
setzen, die  Hartmann  ^)  dem  Abschnitt  über  die  y.oivojpia  twv  yevdjp 
gegeben  hat.  Er  hat  das  ganze  Problem  der  y.oLViovia  auf  das  tieQoy 
zurückgeführt.  Davon,  dass  das  auch  bei  Pia  ton  der  Fall  ist, 
habe  ich  mich  nicht  überzeugen  können.  Er  hat,  wie  er  selbst  zu- 
gibt, zur  Durchführung  dieses  Gedankens  bisweilen  über  das  bei 
Piaton  unmittelbar  Gegebene  hinausgehen  müssen.  Ein  Beispiel 
dafür  habe  ich  schon  oben  erwähnt.  Auch  hat  er  seine  Auffassung 
zum  Teil  durch  eine  solche  Erklärung  der  Worte  Piatons  gewonnen, 
die  ich  nicht  für  richtig  halte.  Ich  will  dafür  als  Beispiel  die  Stelle 
258  a  — b  anführen.  Gegenüber  der  Erklärung,  die  Hartmann  dieser 
Stelle  (133  f.)  gibt,  erscheint  mir  die  einzig  richtige  Auffassung  die 
Apelts '),  die  durch  die  von  Apelt  angezogenen  Worte  258  e  geradezu 
gefordert  wird. 

Werfen  wir  nun  noch  einen  Rückblick  auf  die  beiden  Dialoge 
„Parmenides"  und  „Sophistes"',  so  ergibt  sich,  dass  beide  bedeut- 
same Glieder  der  Auseinandersetzung  Piatons  mit  der  eleatischen 
Lehre  sind.  Diese  lautete,  auf  die  kürzeste  Formel  gebracht:  Nur 
das  Eine  ist  seiend.  Demgegenüber  zeigt  Piaton  im  ,, Parmenides", 
dass  neben  der  Einheit  des  Seienden  sich  die  Melheit  der  Er- 
scheinungen einstellt,  im  „Sophistes",  dass  mit  dem  Seienden  das 
Nichtseiende  untrennbar  verbunden  ist.  Damit  ist  der  Eleatismus 
endgültig  überwunden,  aber  auch  der  frühere  Standpunkt  Piatons 
einer  Revision  unterzogen.  Die  Ideenlehre  ist  damit  nicht  aufge- 
geben, wenn  sich  auch  freilich  nicht  leugnen  lässt,  dass  sie  in  den 
letzten  Dialogen  Piatons  immer  mehr  zurücktritt.     Ein  Ausblick  auf 


')  Platonisclie  Studien  193  f. 
-    Plalo-s  Logik  des  Seins  117  ff. 
')  Ausgabe  des  ,, Sophistes"  180. 


Die  Gestalt  der  platonischen  Ideenlehre  in  „Parmenides"  u.  „Sophistes".     145 

einige  dieser  späteren  Dialoge  mag  diese  Untersuchung  beschliessen. 
Ich  greife  dabei  nochmals  auf  die  Einwände  zurück,  die  im  ,, Par- 
menides" gegen  die  Ideenlehre  vorgebracht  wurden.  Wir  sahen, 
dass  das  schwierige  Problem  der  Beziehungen  zwischen  Ideen  und 
Sinnenvvelt  im  „Sophistes"  trotz  des  Versuches  einer  Belebung  der 
Ideen  nicht  gelöst  wurde.  Aber  ich  wies  schon  oben  darauf  hin. 
dass  die  nämliche  Schwierigkeit  im  ,,Philebos"  nochmals  erwähnt 
wird,  ohne  dass  eine  Lösung  gegeben  wird;  es  wird  nur  auf  die 
Dialektik  als  Mittel  zur  Lösung  hingewiesen  („Phileb."  15b  ff.) ').  Aber 
nicht  die  Dialektik  hat  uns  die  Lösung  gebracht,  sondern  die  my- 
thische Darstellung  des  „Timaeus".  Dort  (31a  — b)  stehen  die 
Ideenwelt  und  die  Sinnenwelt  einander  gegenüber,  jede  für  sich  eine 
Einheit,  die  in  eine  Vielheit  von  Einzelheiten  zerfällt-).  Als  Ver- 
mittlerin zwischen  diesen  beiden  Welten  steht  die  Seele,  die  als  das 
sich  selbst  Bewegende,  die  aQyjl]  y.ivf^osots,  der  Grund  der  Bewegung 
und  des  Lebens  der  Körperwelt  ist. 


')  Schneider  (Die  platonische  Metaphysik  51  f.)  hat  den  Versuch  gemaclit, 

die    unklare   Stelle   Phileb.    1.5  h:    elra   nw;   «v   tuvt«;,    ftiar  ixiartir   ovcrar   aec  T)jf 
avi rjv    xai    utjre    yeieoty    /U^re    oXsd^QOv    TTQoriöa^ouiit^v   outaz   tiiru    ßsßaiorara   fiiav 

ravitiv  dahin  zu  deuten,  dass  darin  die  schon  im  jji-'armenides"  erwähnte 
Aporie  hinsichtlich  der  Erkennbarkeit  der  Ideen  enthalten  sei.  Diese  Deutung 
erscheint  mir  jedocli  zum  mindesten  sehr  zweifelhaft.  Aber  andererseits  geht 
aus  dem  „Philebos"  doch  hervor,  dass  Piaton  die  Erkenntnis  der  Ideen  durch 
nva/urrjoi?  aufgegeben  hat  und  in  der  Mathematik  das  Mittel  sieht,  um  zur 
Kenntnis  der  Ideen  zu  gelangen  (vgl.  darüber  Raeder,  Platons  philos.  Entw.  373). 
-)  Vgl.  Raeder  382  f. 


Zu   (leui  (iottesbcAveisc   des   lieil.  Thomas   aus   deu 
Stufeu  der  Vollkommenheit. 

Eine  Erwiderung. 
Von  Dr.  E.  Rolfe s   in  Cöln-Lindenthal. 


Pater  Heinrich  Kirfel  C.  Ss.  R.,  Professor  am  Kollegium  des  heiligen 
Alphonsusi  in  Rom,  hat  im  4.  Heft  des  26.  Bandes  des  Jahrbuchs  fiir 
Philosophie  von  Commer  S.  454  --488  eine  Abhandlung  über  den  Goltes- 
heweis  aus  den  Seinsstufen  veröffentlicht,  in  der  er  sich  bemüht,  einmal 
die  Unzulänglichkeit  der  bisherigen  Erklärungen  dieses  Beweises,  wie  er 
bei  St.  Thomas  gelesen  wird,  zu  zeigen  und  dann  seinerseits  die  dem 
Argumente  bei  Thomas  anhaftende  Dunkelheit  wenigstens  einigermassen  zu 
beseitigen.  Förmlich  eine  neue  Erklärung  aufzustellen,  bezeichnet  er  in 
den  einleitenden  Sätzen  seiner  Untersuchung  nicht  als  seine  Absieht.  In 
dieser  berücksichtigt  er  nun  nicht  zuletzt  meine  Exegese  in  der  Schrift : 
Die  Gottesbeweise  bei  Thomas  v.  A.  und  Aristoteles,  S.  204  ff.,  und  gibt 
ihr  im  wesentlichen  ein  zweifaches  Versehen  schuld;  erstens,  dass  sie  die 
höchste  Stufe  des  Seins,  von  der  den  niederen  Stufen  die  Vollkommenheit 
zufliesse,  als  absolut  statt  als  relativ  höchste  Stufe  fasse,  zweitens,  dass 
sie  den  fraglichen  Beweis  auf  Plato  statt  auf  Aristoteles  und  die  unmittel- 
baren scholastischen  Vorgänger  des  heil.  Thomas  zurückführe.  Es  dürfte 
die  Freunde  und  vielleicht  auch  die  Gegner  der  aristotelisch-scholastischen 
Philosophie  interessieren,  zu  vernehmen,  was  ich  auf  die  Kritik  P.  Kirfel s 
zu  erwidern  habe,  und  ich  hoffe,  durch  diese  Erwiderung  auch  ein  kleines 
zur  weiteren  Aufhellung  des  schwierigen  Argumentes  beizusteuern. 

I. 

1.  Ich  will  die  Auseinandersetzung  mit  der  Offensive,  wenn  ich  so  sagen 
Süll,  beginnen,  indem  ich  die  Interpretation  Kirfels  zu  widerlegen  suche, 
und  dann  erst  mich  zur  thetischen  Behandlung  der  Sache  wenden.  Be- 
trachten wir  zunächst  das  Argument  aus  der  höchsten  Stufe  der  Wahrheit 
und  des  Seins,  wie  es  in  der  sogenannten  Summa  contra  gentiles  steht. 
..Potest  etiam  et  alia  ratio  (ad  probandum  Deum  esse)  cblligi  ex  verbis 
Aristotelis,  in  secundo  libro  metaphysicorum,  c.  I,  sub  fine.  Ostendit 
enim  ibi  quod  ea  quae  sunt  maxirnc  vera,  sunt  et  maxime  entia.  In  rpiarto 
etiam  c.  IV,   oslcndit   esse   aliquid    maxime  verum,   ex  hoc  quod  videmus 


Zu  dem  Gottesbeweise  des  h.  Thomas  aus  d.  Slufen  der  Vollkominenlieit.     147 

duorum  falsorum  unum  altero  esse  magis  falsum;  unde  oportet  ut  alterum 
sit  etiam  altero  verius.  Hoc  autem  est  secundum  approximationeni  ad  id 
quod  est  simpliciter  et  maxime  verum.  Ex  quibus  concludi  potest  ulterius 
esse  aliquid  quod  est  maxime  ens;  et  hoc  dicimus  Deum"  (I,  XIII). 

In  diesem  Text  wird  das  Dasein  Gottes  als  des  am  meisten  Seienden 
durch  folgenden  Syllogismus,  so  scheint  es  wenigstens,  bewiesen: 

Obersatz :  was  am  meisten  wahr  ist,  i.st  auch  am  meisten  seiend ; 

Untersatz :  es  gibt  ein  am  meisten  Wahres ; 

Schlusssatz :  also  gibt  es  ein  am  meisten  Seiendes. 

Schon  dieser  Syllogismus  führt,  wenn  wir  mit  Kirfel  das  Am-meisten 
oder  das  Meist  im  relativen  Sinne  nehmen,  in  unlösbare  Schwierigkeiten, 
mögen  wir  das  Meist  in  den  Vordersätzen  oder  im  Schlusssatz  betrachten. 
Denn  bei  dieser  Voraussetzung  lässt  sich  erstens  fragen,  was  der  Mittel- 
begriff des  Meist- wahren  überhaupt  will.  Er  dient  zu  nichts,  als  die  Ein- 
sicht, die  der  Schlusssatz  ausspricht,  aufzuhalten.  Der  Schlusssatz  bedeutete: 
Es  gibt  unter  den  verschiedenen  Graden  des  Seins,  die  uns  in  den  Dingen 
begegnen,  einen  höchsten.  P.  Kirfel  meint  freilich  S.  473,  der  Schritt, 
der  zu  diesem  Schlusssatze  führe,  sei  der  schwierigste  des  ganzen  Beweis- 
verfahrens beim  heil.  Thomas.  Das  kann  aber  bei  seiner  Voraussetzung 
gar  nicht  sein;  denn  da  ist  die  Behauptung  des  Schlusssatzes  ja  selbst- 
verständlich und  kann  nur  indirekt  daraus  bewiesen  werden,  dass  sonst 
alle  empirischen  Grade  einen  anderen,  höheren  über  sich  hätten,  obschon 
es  aus.ser  allen  keinen  gibt.  Wer  sollte  also  der  höhere  Grad  sein, 
der  über  allen  und  jeden  Gliedern  der  ganzen  Reihe  stände?  Oder  wird 
vielleicht  der  Gedanke,  dass  es  verschiedene  Stufen  des  Seins  und  der 
Vollkommenheii  gibt,  dadurch  verständlicher  und  anschaulicher  gemacht, 
dass  man  von  verschiedenen  Graden  der  Wahrheit  redet?  Gewiss  nicht. 
Dass  ein  Ding  besser  und  vollkommener  ist  als  das  andere,  leuchtet  ohne 
weiteres  ein,  nicht  aber,  dass  eins  wahrer  ist  als  das  andere.  Man  sucht 
aber  nicht  das  Klarere  durch  ein  minder  Klares  anschaulich  zu  machen. 
Das  ist  also  der  eine  Fehler  des  Beweisverfahrens:  Der  einfache  Satz, 
dass  es  unter  Vollkommenheiten  verschiedenen  Grades  eine  relativ  höchste 
geben  muss,  wird  in  unangemessener  Weise  begründet. 

Ein  zweiter  Fehler  liegt  aber  im  Schlusssatze  selbst :  das  Meistseiende 
wird  darin  in  dem  Sinne  erschlossen,  als  wäre  es  identisch  mit  dem 
höchsten  Wesen.  Und  doch  ist  offenbar  in  Ansehung  der  Vordersätze  nicht 
der  mindeste  Grund  vorhanden,  das  Meistseiende  anders  als  endhch,  anders 
als  die  anderen  Seinsstufen  zu  denken.  Es  braucht  die  vorausgehende 
Seinsstufe  nur  so  zu  überragen,  wie  diese  ihre  Vorgängerin.  So  kann  ich 
etwa  auch  aus  der  Tatsache,  dass  es  Körper  von  verschiedener  Schwere 
oder  spezifischem  Gewicht  gibt,  wissen,  dass  es  einen  schwersten  Körper 
gibt.  Das  hiesse  aber  in  keiner  Weise,  dass  seine  Schwere  die  absolut 
grösste  wäre,  über  die  hinaus  keine  grössere  gedacht  werden  könnte. 


148  E.  Rolfes. 

Es  zeigt  sich  also,  dass  das  Argument  aus  den  Seinsstufen  in  der 
philosophischen  Summe,  wenn  man  das  Meist  relativ  versieht,  unbefriedigt 
lässt :  es  beweist  nicht  das,  was  es  beweisen  soll,  und  schlägt  zur  Be- 
gründung dessen,  was  es  wirklich  begründet,  einen  Umweg  ein. 

2.  Sehen  wir  nun  auch  gleich,  wie  es  bei  dieser  Voraussetzung  mit  dem 
Beweis  in  der  Theologischen  Summe  bestellt  ist! 

Wir  wollen  auch  hier  der  Uebersichtlichkeit  und  der  Bequemlichkeit 
der  Leser  wegen  zuerst  den  lateinischen  Text  hersetzen :  „Quarta  via  (qua 
probatur  Deum  esse)  sumitur  ex  gradibus  qui  in  rebus  inveniuntur.  In- 
venitur  enim  in  rebus  aliquid  magis  et  minus  bonum,  et  verum,  et  nobile ; 
et  sie  de  aliis  huiusmodi.  Sed  magis  et  minus  dicuntur  de  diversis  secundum 
quod  appropinquant  diversimode  ad  alitjuid  quod  maxime  est:  sicut  magis 
calidum  est  quod  magis  appropinquat  maxime  calido.  Est  igitur  aliquid 
quod  est  verissimura,  et  optimum,  et  nobilissimum ;  et  per  consequens 
maxime  ens.  Nam  quae  sunt  maxime  vera,  sunt  maxime  entia,  ut  dicitur 
11  Metaphys.,  text  4.  Quod  aulem  dicitur  maxime  tale  in  aliquo  genere, 
est  causa  omnium  quae  sunt  illius  generis ;  sicut  ignis,  qui  est  maxime 
calidus,  est  causa  omnium  calidorum,  ut  in  eodem  libro  dicitur,  text.  eod. 
Ergo  est  aliquid  quod  est  causa  esse  et  bonitatis,  et  cuiuslibet  perfectionis 
in  rebus  omnibus,  et  hoc  dicimus  Deum"  (i,  qu.  11,  art.  III). 

Was  bei  der  Vergleichung  der  Fassung  des  Beweises  in  den  beiden 
Summen  wohl  am  meisten  auffällt,  ist  der  Umstand,  dass  der-Syllogismus 
in  der  kleinen  Summa  hier  in  der  grossen  um  einen  Syllogismus  vermehrt 
wird.  Dort  wurde  von  dem  Meistseienden  gleich  auf  Gott  geschlossen,  hier 
wird  von  dem  Meistseienden  auf  die  Ursache  alles  Seins  und  erst  von 
dieser  auf  Gott  geschlossen.  Nach  P.  Kirfels  Vermutung  hätte  der  Aquinale 
diese  Erweiterung  des  Beweises  darum  vorgenommen,  weil  ihm  der  Begriff 
des  Meistseienden  nachträglich  zu  unbestimmt  erschienen  wäre,  um  ohne 
Umstände  mit  dem  Begriffe  Gottes  gleichgesetzt  werden  zu  können.  „Es 
ist",  schreibt  er  S.  4G9,  „nicht  ohne  weiteres  klar,  dass  dem  so  (relativ) 
verstandenen  Meistseienden  auch  wirklich  gcUtliche  Eigenschaften  zukommen, 
im  Gegenteil,  es  könnte  sogar  die  Versuchung  nahe  liegen,  das  tatsäch- 
lich existierende  Meistseiende  mit  dem  erfahrungmässig  be- 
kannten höchsten  Seinsgrade,  also  mit  der  menschlichen  Natur,  zu  ver- 
wechseln und  infolgedessen  die  Göttliclikeil  des  Meislseienden  zu  bestreiten. 
Um  diesem  Einwände  vorzubeugen,  musste  es  als  geraten  erscheinen,  durch 
die  I^nfiihrung  des  Miltelbegriffes  der  Allursache  die  Identität  des  Meist- 
seienden n)it  Gott  aufzuzeigen". 

Dieser  Deutungsversuch  erscheint  nicht  besonders  glücklich.  Es  ist 
nicht  glaublich,  dass  St.  Thomas  für  einen  Gottesbeweis  nach  einer  so 
bedcnklicheu  Vermittlung  gegriffen  haben  sollte,  wie  sie  der  Begriff  des 
relativ  Meistseienden  darstellte.  Man  ist  nicht  bloss  versucht,  ein  solches 
für  endlich  zu  nehmen,  man  ist  dazu  in  gewissem  Sinne  genötigt,  da,  wie 


Zu  dein  Gottesbeweise  des  h.  Thomas  aus  d.  Stufen  der  Vollkommenheit.     149 

wir  vorhin  gezeigt  haben,  kein  Grund  vorliegt,  ein  mehreres  in  den  gedachten 
Begriff  hineinzulegen,  und  als  Ertrag  eines  Beweises  immer  nur  so  viel 
gelten  kann,  als  er  wirklich  beweist.  Wir  möchten  deshalb  eher  in  diesem 
Erklärungsversuch  des  P.  Kirfel  ein  stillschweigendes  Eingeständnis  er- 
blicken, dass  seine  Auffassung  des  Meistseienden  nicht  gut  ist.  Wenn  das 
Meistseiende  nicht  das  absolut  Meistseiende  ist,  so  ist  es  nicht  Gott,  und 
St.  Thomas  hätte  in  der  Philosophischen  Summe  seine  Leser  getäuscht, 
wenn  er  es  mit  Gott  gleichgesetzt  hätte.  Dieses  sein  Meistseiendes  aber, 
das  er  auf  grund  der  empirischen  aufsteigenden  Stufenreihe  der  Dinge 
erschliesst,  braucht  im  Zusammenhang  der  Kirfelschen  Auslegung  nie  und 
nimmer  ein  anderes  zu  sein  als  jenes,  das  die  Vollkommenheit  seines 
Vorgängers  auf  der  Seinsstufe  in  derselben  Weise,  also  in  endlichem  Ab- 
stände überholt,  wie  dieser  Vorgänger  die  Vollkommenheit  der  Stufe  vor 
ihm.  Der  wahre  Grund  für  die  Erweiterung  des  Beweises  in  der  Theol. 
Summe  wird  darum  ein  anderer  sein,  und  es  kann  auch  nicht  schwer 
fallen,  hierüber  sich  eine  annehmbare  Meinung  zu  bilden.  Der  heil.  Thomas 
wollte  etwa  von  vornherein,  wo  er  die  Wege  der  natürlichen  Gottes- 
erkenntnis beschreibt,  den  Nachweis  liefern,  dass  Gott  von  der  Vernunft 
auch  als  Schöpfer  gefunden  werden  kann.  Erst  die  Schöpfung  spricht  das 
Verhältnis  Gottes  zur  Welt  und  zum  Menschen  rein  und  vollkommen  aus, 
sie  erst  gibt  der  Religion  die  ausreichende  wissenschaftliche  Grundlage 
und  hält  jeden  Pantheismus,  welche  Gestalt  er  auch  haben  möge,  fern. 
Nun  aber  führt  die  Wahrheit,  dass  alles  Sein  ohne  Ausnahme  von  Gott 
ist,  eine  Wahrheit,  die  uns  eben  der  vierte  Gottesbeweis  erschliesst,  un- 
mittelbar auf  die  Schöpfung.  Denn  so  muss  auch  die  Materie  von  ihm  sein, 
und  so  erhellt  denn,  dass  die  Dinge  von  Gott  nicht  aus  einem  schon  vor- 
handenen Stoff,  sondern  aus  nichts  hervorgebracht  sind. 

3.  Doch  ich  höre  unseren  Kritiker  Einspruch  erheben.  Zunächst,  wird 
er  sagen,  steht  es  freilich  dahin,  ob  das  erwiesene  Meist  absolut  ist.  Aber  es 
lässt  sich  eben  zeigen,  und  es  wird  in  der  Theol.  Summe  gezeigt,  dass 
es  die  Ursache  alles  Minderderartigen  und  somit  Gott  ist.  Demnach  ist 
also  der  Beweis  in  der  Phil.  Summe  doch  ein  wirklicher  Gottesbeweis, 
wenn  auch  einer  weiteren  Ausführung  bedürftig,  und  ebenso  ist  das  Meist, 
nach  dem  wir  immer  fragen,  wirklich  absolut,  aber  als  solches  erst  nach- 
träglich erkennbar. 

Aber  diese  Einrede  kann  nur  gelten,  wenn  das  Meist,  auch  abgesehen 
davon,  ob  es  absolut  oder  relativ  ist,  sich  wirklich  als  die  Ursache  jedes 
Minder  derselben  Gattung  behaupten  lässt,  mit  anderen  Worten,  wenn  der 
zweite  Syllogismus  der  Theol.  Summe  auch  auf  gegnerischem  Standpunkte 
gültig  ist. 

Hierüber  spricht  sich  der  Kritiker,  wenn  ich  nichts  übersehen  habe, 
nur  an  der  Sielle  aus,  wo  er  sich  luii  den  Nachwris  bemüht,  dass  die 
beiden  Sätze :  Die  Ursache  aller  gleichartigen  Dinge  ist  meistderartig  und : 


150  E.  Rolf  es. 

Das  Meisldeiartige  ist  die  Ursache  aller  derartigen  Dinge,  sich  umkehren 
lassen.  „Man  braucht  sich",  so  lässt  er  sich  dort  vernehmen,  „zu  diesem 
Zwecke  (zur  Rechtfertigung  der  Urteilskonversion)  nur  an  das  goldene 
Prinzip  der  Thomas-Auslegung  zu  halten :  Formalissime  loquitur  S.  Thomas, 
und  die  Begriffe  des  Minderseienden  und  des  Meistseienden  formell  zu 
fassen.  Das  Minderseiende  kann,  insofern  es  ein  bestimmtes  Individuum 
ist,  eine  Ursache  haben,  die  auf  derselben  Seinsstufe  steht;  aber  diese 
Seinsstufe  selbst,  das  Minderseiende  als  solches,  kann  nur  verursacht  werden 
durch  ein  Mehrseiendes  und  in  letzter  Linie  durch  ein  Meistseiendes,  sonst 
wäre  es  entweder  unverursacht,  und  dagegen  spricht  seine  UnvoUkommen- 
heit  und  Beschränktheit  als  Minderseiendes,  oder  es  wäre  von  sich  selbst 
verursacht,  und  dann  müsste  es  seiner  eigenen  Existenz  vorangehen,  oder 
es  wäre  von  einem  noch  tiefer  stehenden  Sein  verursacht,  und  das  wider- 
streitet der  Forderung  einer  genügenden  und  proportionierten  Ursache. 
Umgekehrt  kann  das  Meistseiende,  wenn  es  nur  als  relatives  Meist  gefasst 
wird,  in  mehreren  Individuen  verwirklicht  gedacht  werden,  so  lange  der 
Beweis  seiner  Einzigkeit  nicht  erbracht  ist;  aber  wenn  auch  in  diesem 
Falle  nicht  alles  Minderseiende  von  einem  und  demselben  Individuum 
verursacht  gedacht  werden  müsste,  so  wird  doch  .notwendig  alles  von 
jenem  höchsten  Sein  als  solchem  verursacht.  Man  kann  also  ruhig  sagen, 
dass  einerseits  die  Ursache  aller  gleichartigen  Dinge  am  meisten  derartig 
ist,  und  dass  anderseits  das  Meistderartige  als  solches  Ursache  alles 
Minderderartigen  als  solchen  ist"  (462  f.). 

Was  ist  hierauf  zu  erwidern?  Wir  möchten,  wenn  es  nicht  etwa  ver- 
letzend lautet,  sagen,  dass  das  so  sorgfältig  formulierte  Fazit:  das  Meist- 
derartige als  solches  ist  Ursache  alles  Minderderartigen  als  solchen,  nur 
Worte  bringt.  Was  ist  denn  das  Meistderartige  als  solches?  Soll  es  abstrakt 
verslanden  werden,  als  grösste  Wärme  z.  B.  oder  als  grösste  Schwere? 
Aber  ein  solches  Abstraktum  existiert  nicht.  Die  Wärme  existiert  nur  am 
Warmen,  die  Schwere  am  Schweren.  Oder  soll  es  formell  verstanden 
werden,  so  dass  z.  B.  die  Ursache  des  Warmen  immer  ein  Warmes  oder 
Wärmeres  wäre?  Aber  das  ist  nicht  nötig.  Die  Vollkommenheit  der  W^irkung 
braucht  nicht  formell  in  der  Ursache  zu  sein,  .sie  braucht  nur  virtuell  in 
ihr  zu  sein.  Können  z.  B.  nicht  zwei  gemischte  Elemente  einen  Körper 
mit  ganz  neuen  Eigenschaften  bilden  ?  Wasserstoff  und  Sauerstoff  sind  Gase, 
in  bestimmter  Mischung  aber  Wasser.  Umgekehrt  ist  das  Schwerste  nicht 
Ursache  alles  minder  Schweren,  etwa  das  Blei,  um  vulgär  zu  reden,  Ur- 
sache aller  Schwere.  Oder  soll  endlich  das  Meistderartige  unterschiedslos 
verstanden  werden,  d.  h.  unangesehen,  ob  es  die  betreffende  Eigenschaft 
selbst  hat  oder  nur  in  anderen  hervorbringen  kann?  Dann  würde  der  Aus- 
druck gewiss  eigentümlich  gebraucht  werden,  wichtiger  aber  ist,  dass  eine 
Erschleichimg  vorläge.  Wer  sagt :  da.<  Meislderartigc  ist  Ursache  alles 
Minderderartigen,  setzt  stillschweigend  oder  ausdrücklich  voraus,  dass  nichts 


Zu  dem  Goüesbeweise  des  h.  Thomas  aus  d.  Stufen  der  Vollkommenheit.     151 

Unvollkommenes  und  Beschränktes  aus  sich  oder  unverursacht  sein  kann, 
und  doch  ist  gerade  dieses  der  Satz,  der  zu  beweisen  wäre. 

Diese  kurzen  Erwägungen  möchten  hinreichend  dartun,  dass  das  relativ 
Meistderartige  als  Ursache  des  Minderderartigen  von  dem  Kritiker  nicht 
erwiesen  ist  und  wohl  auch  nicht  erwiesen  werden  kann.  Das  war  es  aber 
ihm  zufolge,  was  der  neue  Syllogismus,  der  über  die  Phil.  Summe  hinaus- 
geht, erhärten  sollte,  und  so  scheiden  wir  denn  auch  von  seiner  Auslegung 
der  Theol.  Summe  mit  dem  Eindruck,  dass  sie  nicht  befriedigt. 

II. 

1.  Suchen  wir  nun  unsererseits  den  Sinn  des  Argumentes  aus  den  Stufen 
der  Vollkommenheit  zu  bestimmen.  Nehmen  wir  wieder  zuerst  den  Beweis 
in  der  Philosophischen  Summe  vor.  Hier  muss  vor  allem  der  Sinn  des 
maxime  verum  ermittelt  werden.  Thomas  beginnt  seinen  Beweis  mit  den 
Worten:  „Es  kann  auch  noch  ein  anderer  Beweisgrund  aus  den  Worten 
des  Aristoteles  im  zweiten  Buche  der  Metaphysik  gezogen  oder  abge- 
leitet, colligi,  werden.  Dort  zeigt  er  nämlich,  dass  das,  was  am  meisten 
wahr,  auch  am  meisten  seiend  ist".  Schlagen  wir  die  Stelle  des  Philosophen 
nach,  so  stossen  wir  auf  folgenden  Text :  „Mit  Recht  heisst  die  Philosophie 
auch  die  Wissenschaft  der  Wahrheit.  Denn  die  Wahrheit  ist  das  Ziel  der 
theoretischen  Wissenschaft  wie  das  Werk  das  der  praktischen  Wissenschaft. 
Denn  wenn  die  Praktiker  auch  betrachten,  wie  sich  ein  Ding  verhält,  so 
sehen  sie  dabei  doch  nicht  auf  das  Ewige,  sondern  darauf,  wie  sich  das 
Ding  relativ  und  momentan  verhält.  Es  gibt  aber  für  uns  kein  Wissen  um 
die  Wahrheit  ohne  die  Erkenntnis  der  Ursache.  Jedes  ist  aber,  was  es  ist 
unter  allen  am  meisten,  wenn  es  dasjenige  ist,  auf  dessen  Grund  auch  das 
andere  den  betreffenden  Namen  und  die  betreffende  Eigenschaft  hat : 
k'xaorop  de  fiähora  avro  tw^  a'/.lon\  y.ai>'  o  xal  to/^'  älloig  vnäoyjei 
rd  ovvMvvf^iov^  wie  z.  B.  das  Feuer  am  meisten  warm  ist,  weil  es  auch 
für  das  andere  die  Ursache  der  Wärme  ist.  So  ist  denn  auch  am  meisten 
wahr,  was  für  alles  Spätere  die  Ursache  ist,  dass  es  wahr  ist.  Daher 
sind  die  Prinzipien  des  immer  Seienden  notwendig  immer 
am  meisten  wahr.  Denn  sie  sind  nicht  bald  wahr  und  bald  nicht  wahr, 
und  sie  haben  keine  Ursache  des  Seins,  sondern  sind  es  für  das  andere, 
und  so  verhält  sich  denn  jegliches,  wie  bezüglich  des  Seins,  so  auch  be- 
züglich der  Wahrheit"  {Met.  II,  1,  993b  19—31). 

Dieser  Text  scheint  die  Bedeutung  des  maxime  verum  mit  einem 
Schlage  zu  beleuchten.  Nebenbei  zeigt  er  auch,  wie  das  verum  gemeint 
ist,  wenigstens  an  dieser  Stelle.  Der  höchste  Grad  der  Wahrheit,  von  dem 
die  Rede  ist,  ist  der  absolut  höchste,  die  absolute  und  höchste 
Wahrheit,  Gott,  in.sofern  er  Prinzip,  schöpferisches  Prinzip  aller 
Dinge,  auch  der  inkorruplibelen  tliinnielskörper,  ist.  Er  ist  unter  den 
Prinzipien    des   immer   Seienden    zu  verstehen,  wenn  auch  hier  von  einer 


152  E.  Rolf  es. 

Mehrheit  von  Prinzipien  geredet  wird.  Denn  es  ist  des  Aristoteles  Gewohn- 
heil, einen  Gegenstand,  den  die  Untersuchung  einschliesst,  zunächst  auch 
im  Ausdruck  unbestimmt  zu  lassen,  bis  der  Forlgang  der  Untersuchung 
Klarheit  über  ihn  bringt.  Wir  stehen  hier  im  Eingang  der  Metaphysik, 
und  erst  an  ihrem  Schluss  wird  er  erklären,  dass  die  Ursache  aller  Dinge 
nur  eine  ist.  Wenigstens  hat  Thomas,  auf  dessen  Auffassung  es  hier  an- 
kommt, die  Prinzipien  des  immer  Seienden  so  verstanden.  Er  schreibt 
im  Kommentar  zu  dieser  Stelle  lib.  11,  lect.  II:  „Die  himmlischen  Körper 
haben  eine  Ursache  nicht  nur,  sofern  sie  bewegt  sind,  wie  einige  gemeint 
haben,  sondern  auch,  sofern  sie  sind,  wie  der  Philosoph  hier  ausdrücklich 
sagt.  Und  dem  muss  so  sein,  weil  notwendig  alles  Zusammengesetzte  und 
Teilhabende  auf  das,  was  durch  seine  Wesenheit  ist,  als  auf  seine  Ur- 
sachen zurückgeführt  wird.  Nun  sind  aber  alle  körperlichen  Wesen  inso- 
fern aktuell  seiend,  als  sie  an  gewissen  Formen  teilhaben.  Daher  ist  es 
notwendig,  dass  die  (vom  Stoffe)  getrennte  Substanz,  die  durch  ihre  Wesen- 
heit Form  ist,  Prinzip  der  körperlichen  Substanz  sei". 

Fahren  wir  nun  in  der  Betrachtung  des  Textes  bei  Thomas  fort. 
.,Auch  im  vierten  Buche  der  Metaphysik  zeigt  Aristoteles,  dass  es  ein 
Meistwahres  gibt".  Es  ist  sehr  zu  bemerken,  dass  der  vorausgehende  Ab- 
schnitt, wenn  man  ihn  mit  diesen  W^orten  zusammenhält,  den  Eindruck 
einer  gewissen  Selbständigkeit  und  Abgeschlossenheit  macht.  „Es  kann", 
so  lautet  er,  „auch  noch  ein  anderer  Beweisgrund  aus  den  Worten  des 
Aristoteles  im  2.  Buch  der  Met.  entnommen  werden.  Denn  er  zeigt  daselbst 
dass,  was  am  meisten  wahr,  auch  am  meisten  seiend  ist".  Wenn  nun  fort- 
gefahren wird :  „Auch  im  4.  Buch  der  Metaph.  zeigt  er,  dass  es  ein  Meist- 
wahres gibt",  so  muss  jeder  sehen,  dass  eine  neue,  der  vorausgehenden 
nicht  subordinierte,  sondern  koordinierte  Erwägung  erfolgen  soll,  eine 
weitere  Begründung  der  in  Frage  stehenden  Wahrheit,  die  sich  im  4.  Buche 
der  Metaph.  findet,  wie  die  erste  im  2.  —  Thomas  schreibt  we'ter  (er 
zeigt,  dass  es  ein  Meistwahres  gibt):  „Daraus,  dass  wir  sehen,  wie  von 
zwei  falschen  Sätzen  der  eine  falscher  als  der  andere  ist;  daher  denn  auch 
der  andere  wahrer  als  der  andere  ist.  Das  gilt  aber  im  Verhältnis  der 
Annäherung  an  das,  was  schlechthin  und  am  meisten  wahr  ist".  Der  an- 
gezogene Text  des  Aristoteles  —  er  disputiert  in  ihm  wider  die  Skeptiker 
und  ihren  Satz,  da.ss  alles  gleich  wahr  und  gleich  falsch  ist  —  hat  folgenden 
Wortlaut:  „Es  gibt,  wenn  auch  alles  noch  so  sehr  sich  so  und  zugleich 
nicht  so  verhält,  doch  in  der  Natur  der  Dinge  ein  Mehr  oder  Minder.  Denn 
wir  werden  wohl  nicht  auf  gleiche  Weise  zwei  gerade  nennen  und  drei, 
und  nicht  auf  gleiche  Weise  irrt,  wer  vier  für  fünf  und  wer  vier  für 
tausend  hält.  Wenn  nun  nicht  jeder  von  beiden  auf  gleiche  Weise  irrt, 
so  ist  offenbar  der  eine  weniger  im  Irrtum  und  hat  und  sagt  folglich  mehr 
die  Wahrheit,  (st  nun  das  Mehr  näher,  so  wird  auch  ein  Wahres  sein, 
dem  das  Wahrere  näher  ist"  [Met.  IV,  4  Schluss). 


Zu  dein  Gotlesbeweige  des  li.Tlioinas  aus  d.  Stufen  der  Vcillkoinmenlieit.     153 

Hier  könnte  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen,  als  oh  der  Text  fälsch- 
lich mit  der  Idee  eines  Meistwahren  in  Verbindung  gebracht  würde.  Rei 
Sätzen  oder  Urteilen  gibt  es  kein  mehr  oder  minder  Wahr  in  der  Art, 
dass  der  eine  wahr  und  der  andere  noch  wahrer  wäre,  sie  sind  entweder 
schlechthin  wahr  oder  schlechthin  falsch.  Die  Sät/e :  3  ist  grade,  4  =  5, 
4  =  lOOb  sind  schlechthin  falsch,  die  Sätze :  2  ist  grade,  4  —  4  sind 
schlechthin  wahr.  Wahr  ist  ein  falscher  Satz  nur  beziehungsweise,  sofern 
er  wahrer  als  ein  noch  falscherer  Satz,  und  so  denn  doch  auch  wahr  ist. 
Nun  handelt  es  sich  aber  in  unserem  Falle  um  ein  positiv  Wahreres  und 
Wahrstes,  das  wahrer  als  anderes  Wahre  und  am  wahrsten  unter  allem 
Wahren  ist.  Ein  solches  sollte  uns  ja  auch  in  dem  Text  aus  Met.  II,  1 
vorgestellt  werden.  Denn  da  handelte  es  sich  um  ein  Wahres,  das  allem 
Wahren  Grund  der  Wahrheit  ist.  Sollte  also  nicht  Thomas  wirklich  von 
der  Stelle  im  4.  Buche  der  Met.  einen  unrechtmässigen  Gebrauch  ge- 
macht haben?  Man  findet  in  der  Tat  nicht,  wie  die  Annäherung  minder 
falscher  Sätze  an  einen  einfach  wahren  Satz  zur  Begründung  einer  Stei- 
gerung der  positiven  Wahrheit  verwandt  werden  könnte. 

Aber  wie  wäre  es,  wenn  hier  gar  keine  Begründung,  sondern  nur  eine 
Erklärung  beabsichtigt  wäre,  wenn  das  Meistwahre,  das  hier  mit  dem 
Schlechthinwahren  identifiziert  wird,  nur  zur  Beleuchtung  des  Sinnes 
herbeigezogen  wird,  den  wir  mit  dem  Meistwahren  im  2.  Buch  der  Met. 
zu  verbinden  haben?  In  der  Tat  hefert  es  einen  passenden  Vergleich. 
Wie  das  Schlechthinwahre  absolut  und  das  beziehungsweise  Wahre  nur 
relativ  wahr  ist,  so  ist  auch  das  Meistwahre  im  Sinne  des  Meistseienden 
durch  sich  und  das  Minderwahre  nur  durch  jenes  wahr.  Und  wie  das 
beziehungsweise  Wahre  mehr  oder  minder  wahr  ist,  je  nachdem  es  sich 
dem  Schlechthinwahren  mehr  oder  minder  nähert,  ihm  in  verschiedenem 
Grade  ähnlich  ist,  oder  an  ihm  teilhat,  so  ist  auch  das  absolut  Wahre 
mehr  oder  minder  wahr,  je  nachdem  es  mehr  oder  minder  an  dem  Meist- 
wahren teilhat  oder  ihm  ähnhch  ist.  So  sind  wir  z.  ß.  bedeutet  worden, 
dass  die  ewigen  Körper  wahrer  sind,  als  die  vergänglichen,  weil  diese  bald 
sind,  bald  nicht  sind,  während  jene  immer  und  insofern  ihrem  Prinzip, 
dem  Meistwahren,  ähnlicher  sind  und  vollkommener  an  ihm  teilhaben.  Wir 
tragen  kein  Bedenken,  uns  diese  Auslegung  zu  eigen  zu  machen,  da  sie 
einen  guten  Sinn  gibt,  und  wir  keine  andere  finden  können. 

St.  Thomas  endet  seine  Rede  mit  folgenden  Worten :  „Aus  diesen 
Daten  (ex  quibus)  kann  weiter  geschlossen  werden,  dass  es  etwas  gibt,  was 
am  meisten  seiend  ist,  und  dieses  nennen  wir  Gott".  —  Es  kommt  uns 
gegenwärtig  darauf  an,  den  Sinn  der  Ausführung  bei  Thomas  zu  erklären. 
Die  Frage  nach  der  Probehaltigkeit  des  ganzen  Argumentes,  und  ob  der 
Beweisgang,  wie  Thomas  ihn  andeutet,  sich  ebenso  bei  Aristoteles  findet, 
soll  erst  hernach  erörtert  werden.  Im  Vorbeigehen  möchten  wir  nur  auf 
die   so  vorsichtig  gewählten  Worte  des  Heiligen    hinweisen ;    er  sagt :    aus 


154  K.  Holfes. 

diesen  Daten  kann  geschlossen  werden,  und  uichl :  es  folgt  daraus,  wie  er 
auch  am  Anfang  geschrieben  hatte :  es  kann  noch  ein  anderer  Beweis- 
grund aus  den  Worten  des  Aristoteles  gezogen  werden,  und  er  sagt  nicht : 
ex  quo,  hieraus,  wie  wenn  er  sich  nur  auf  die  Worte :  ostendit  esse  ali- 
quid maxiine  verum  bezöge,  sondern  ex  quibus,  indem  er  sich  auf  das 
ganze  Vorausgehende  bezieht.  Für  jetzt  also  möchten  wir  noch  weitere 
Umschau  in  der  Phil.  Summe  halten,  ob  wir  nicht  noch  andere  Auf- 
schlüsse über  den  Sinn  des  so  kurz  gefassten  Argumentes  finden.  Sie 
könnten  uns  dann  vielleicht  auch  eher  zu  einem  Urteil  über  seine  Gültig- 
keit befähigen. 

Solche  Aufschlüsse  können  wir  besonders  an  zwei  Stellen  erwarten, 
erstens  da,  wo  von  der  allseitigen  vmd  höchsten  Vollkommenheit  Gottes, 
und  dann,  wo  von  der  Schöpfung  die  Rede  ist.  Auch  sie  kommt  hier  in 
Betracht,  da  wir,  abgesehen  von  dem  Argument  in  der  Theol.  Summe, 
schon  aus  der  Stelle  im  2.  Buch  der  Metaphysik  wissen,  dass  Gott  in 
unserem  Argumente  als  Ursache  alles  Wahren  und  Seienden  in  Betracht 
genommen  wird. 

Im  28.  Kapitel  des  1.  Buches  wird  der  Satz  von  der  allumfassenden 
göttlichen  Vollkommenheit  an  fünfter  und  letzter  Stelle  in  folgender  Weise 
begründet: 

„In  jeder  Gattung  gibt  es  ein  Vollkommenstes  in  der  betreffenden 
Gattung,  nach  dem  alles  jener  Gattung  Angehörige  gemessen  wird ;  denn 
dadurch  erweist  jedes  sich  als  mehr  oder  minder  vollkommen,  dass  es  dem 
Masse  seiner  Gattung  mehr  oder  minder  nahekommt ;  so  heisst  das  Weisse 
das  Mass  in  allen  Farben  und  der  Tugendhafte  das  Mass  unter  allen 
Menschen.  Das  aber,  was  das  Mass  alles  Seienden  ist,  kann  nichts  anderes 
als  Gott  sein,  der  sein  Sein  ist.  Ihm  also  mangelt  keine  von  den  Voll- 
kommenheiten, die  irgend  welchen  Dingen  eigen  sind ;  sonst  wäre  er  nicht 
das  Mass  ihrer  aller".  Es  ist  offenbar,  dass  die  Worte :  „Dadurch  erweist 
jedes  sich  als  mehr  und  minder  vollkommen,  dass  es  dem  Masse  seiner 
Gattung  mehr  und  minder  nahekommt",  den  obigen  Worten  aus  dem 
Gottesbeweis :  „das  (dass  eines  wahrer  ist  als  anderes)  gilt  im  Verhältnis 
der  Annäherung  an  das,  was  schlechthin  und  am  meisten  wahr  ist", 
parallel  smd.  Nun  möchte  aber  auch  wohl  zweifellos  sein,  dass  an  unserer 
Stelle  das  Mass  das  bedeutet,  was  das  denkbar  und  nicht  bloss  relativ 
höchste  der  Gattung,  was  gleichsam  seinem  Begriffe  nach  und  durch  sich 
das  Betreffende  ist.  Das  Weiss  ist  die  absolut  hellste  und  leuchtendste 
Farbe,  gleichsam  das  Licht,  und  der  Tugendhafte  so  viel  als  die  Tugend 
.nach  ihrem  reinen  und  voUkonmienen  Begriff,  vor  allem  aber  Gott  als 
Mass  alles  Seins  das  Sein. 

Im  15.  Kapitel  des  2.  Buches  wird  der  Satz  erhärtet:  alles,  was  ist, 
ist  von  Gott.  Hier  kommt  freilich  zunächst  der  zweite  Grund,  den  Thomas 
beibringt,    in    Betracht,    weil    aber    der   erste  Grund  für  uns  gleich  grosse 


Zu  dem  Gottesbeweise  des  h.  Thumas  aus  d.  Stufen  der  Vollkummenheit.     155 

Bedeutung  hat  und  auch  gescliielitlicli  als  Gegenstück  des  ersten  auftritt, 
so  wollen  wir  trotz  des  etwas  umfangreichen  Textes  sie  beide  hersetzen, 
wie  sie  bei  Thomas  auf  einander  folgen. 

1.  Grund:  „Alles,  was  einem  Ding  zukommt,  nicht  sofern  es  es  selbst 
ist  (secundum  quod  ipsum  est,  seinem  Selbst  nach),  kommt  ihm  durch 
eine  Ursache  zu,  wie  das  Weisse  dem  Menschen ;  denn  was  keine  Ursache 
hat,  ist  ursprünglich  und  unmittelbar;  es  ist  daher  notwendig,  dass  es 
durch  sich  sei,  und  sofern  es  es  selbst  ist.  Es  ist  aber  unmöglich,  dass 
ein  Einiges  zweien  zukoinme  und  (doch)  jedem,  sofern  es  es  selbst  ist; 
denn  das,  was  von  einem  seinem  Selbst  nach  ausgesagt  wird,  geht  nicht 
über  es  hinaus :  wie  die  Eigenschaft,  drei  Winkel  zu  haben,  die  zwei 
Rechten  gleich  sind,  über  das  Dreieck,  von  dem  sie  prädiziert  wird,  nicht 
hinausgeht,  sondern  mit  ihm  konvertibel  ist.  Wenn  etwas  daher  zweien 
zukommt,  kommt  es  nicht  beiden  ihrem  Selbst  nach  zu.  Mithin  kann  un- 
möglich ein  Einiges  von  zweien  in  der  Art  prädiziert  werden,  dass  es  von 
keinem  aufgrund  einer  Ursache  ausgesagt  wird ;  sondern  es  muss  entweder 
eines  die  Ursache  des  anderen  sein,  wie  das  Feuer  den  gemischten  Körpern 
Ursache  der  Wärme  ist,  wenn  schon  beides  warm  genannt  wird;  oder  es 
muss  ein  Drittes  Ursache  beider  sein,  wie  das  Feuer  für  zwei  Kerzen  die 
Ursache  ist,  dass  sie  leuchten.  —  Das  >Sein«  aber  wird  von  allem  aus- 
gesagt, was  ist.  Mithin  ist  es  unmöghch,  dass  zwei  Dinge  seien,  deren 
keines  eine  Ursache  des  Seins  hätte,  sondern  jedes  der  beiden  gedachten 
Dinge  muss  durch  eine  Ursache,  oder  eines  dem  anderen  Ursache  des 
Seins  sein.  Mithin  muss  von  dem,  dem  nichts  Ursache  des  Seins  ist,  alles 
das  sein,  was  irgendwie  ist.  Gott  aber  haben  wir  oben  (1,  13)  als  ein 
solches  Seiende  erwiesen,  dem  nichts  Ursache  des  Seins  ist.  Mithin  ist 
von  ihm  alles,  was  irgendwie  ist.  —  Sollte  man  aber  sagen,  das  Seiende 
sei  kein  eindeutiges  Prädikat  (univocum),  so  folgt  darum  der  vorstehende 
Schluss  doch  um  nichts  weniger;  denn  es  wird  von  dem  vielen  nicht  im 
Sinne  blosser  Namensgleichheit  ausgesagt  (aequivoce),  sondern  im  ana- 
logischen Sinne  (per  analogiam),  und  so  muss  eine  Zurückführung  auf 
eines  stattfinden". 

2.  Grund :  „Was  einem  Dinge  durch  seine  Natur  und  nicht  durch  eine 
Ursache  zukommt,  kann  nicht  vermindert  und  mangelhaft  in  ihm  sein. 
Denn  wenn  der  Natur  etwas  Wesentliches  entzogen  oder  hinzugefügt  wird, 
ist  sie  schon  eine  andere  Natur;  wie  es  auch  bei  den  Zahlen  geschieht, 
bei  denen  die  Addition  oder  Subtraktion  einer  Einheit  die  Spezies  ändert. 
Wenn  sich  aber  bei  unberührtem  Bestände  der  Natur  oder  Wesenheit  des 
Dinges  in  ihm  ein  Minderes  findet,  so  erhellt  daraus,  dass  dies  nicht 
schlechthin  von  jener  Natur  abhängt,  sondern  von  einer  anderen  Ursache, 
durch  deren  Entfernung  es  vermindert  wird.  Was  mithin  einem  Dinge 
weniger  als  anderen  zukommt,  kommt  ihm  nicht  bloss  durch  seine  Natur, 
sondern  durch  eine  andere  Ursache  zu.     Mithin  wird  das  die  Ursache  von 


ir>(;  E.  Rolf  es. 

allein  in  einer  Galtung  sein,  fleiii  das  Prädikat  jener  Gattung  am  meisten 
zukommt;  daher  wir  auch  sehen,  wie  das,  was  am  meisten  warm  ist,  die 
Ursache  der  Wärme  in  allem  Warmen  und  das,  was  am  meisten  hell  ist, 
die  Ursache  alles  Hellen  ist.  Gott  aber  ist  am  meisten  seiend,  wie  gezeigt 
worden  (1,  13).  Mithin  ist  er  die  Ursache  von  allem,  wovon  das  Seiende 
prädiziert  wird'". 

Dieser  Text  möchte  die  erwarteten  Aulschlüsse,  von  denen  wir  ge- 
sprochen haben,  in  vollkommener  Weise  bringen,  ja  unsere  Erwartungen 
noch  übertreffen,  da  er  nicht  bloss  lür  den  Sinn  des  vierten  Goltesbeweises 
von  entscheidender  Bedeutung  ist,  und  nicht  bloss  für  seine  Gültigkeit, 
sondern  beziehungsweise  selbst  für  seine  Herkunft,  wie  wir  sehen  werden. 

Als  Sinn  dieses  Beweises  lässt  er  erkennen,  dass  er  bestimmt  ist,  das 
Dasein  eines  Meistseienden  darzutun,  das  wesenhaft  seiend  ist  und  darum 
bestehen  niuss,  weil  es  Stufen  des  Seins  gibt  und  diese  sämtlich  durch 
anderes  und  nicht  aus  sich  sein  würden,  wenn  nicht  die  höchste  unter 
ihnen  aus  sich  und  mithin  wesenhaft  seiend  wäre.  Denn  alle  tieferen 
Stufen  müssen  durch  anderes  sein,  weil  sie  tiefer  sind,  wie  sich  auch  sagen 
lässt,  dass  alles  Seiende  ausser  dem  einen  wesenhaft  Seienden  durch 
anderes  sein  muss,  weil  es  ist. 

In  unserem  Text  wird  auch  ein  Scheinargument  beseitigt,  das  man  für 
die  Meinung  anführen  könnte,  als  ob  es  sich  im  vorliegenden  Gottesbeweis 
nur  um  ein  relativ  Meistseiendes  handele.  Wir  haben  Aristoteles  oben 
sagen  hören :  „Jedes  ist,  was  es  ist,  unter  allen  am  meisten,  wenn  es  das 
ist,  auf  dessen  Grund  auch  das  andere  den  betreffenden  Namen  und  die 
betreffende  Eigenschaft  hat",  oder,  wie  es  wörtlich  heisst :  „das  Synonyme 
hat".  Wenn  die  untere  Stufe  die  Eigenschaft  im  selben  Sinne  wie  die 
höchste  hat,  wie  kann  diese  sie  dann  im  absolut  höchsten  Sinne  haben? 
Aber  diesem  Einwand  begegnet  die  Darlegung  bei  Thomas  in  der  schwer- 
wiegenden Bemerkung  am  Ende  des  Wortlautes  des  ersten  Grundes :  wenn 
auch  das  Sein  beim  Geschaffenen  nicht  denselben  Sinn  hat  wie  beim  Un- 
erschaffenen,  so  wird  es  doch  mit  Bezug  auf  das  Unerschaffene  so  genannt, 
das  will  sagen :  wegen  der  Teilnahme  an  ihm  und  der  Aehnlichkeit  mit  ihm. 

Die  Rechtmässigkeit  der  beiden  wiedergegebenen  Beweisgründe  für  den 
Satz,  dass  alles,  was  ist,  von  Gott  ist,  brauchen  wir  hier  nicht  zu  erhärten. 
Es  fragt  sich,  ob  durch  sie  oder  durch  den  zweiten  von  ihnen  auch  unser 
Gotte.sbeweis  gedeckt  ist.  Zweifellos  I  Er  stützt  sich  darauf,  dass  es  ein 
Meistwahres  gibt,  und  dies  darauf,  dass  es  eine  Stufenfolge  des  Wahren 
gibt,  indem  z.  B.  das  Ewige  wahrer  ist  als  das  Vergängliche.  Gibt  es  aber 
ein  Meistwahres,  dann  auch  ein  Meistseiendes,  beides  im  Sinne  des  durch 
sich  und  folglich  wesenhaft  Wahren  und  Seienden. 

2.  Es  fragt  sich  weiter,  ob  unser  Gottesbeweis  auch  Aristoteles  angehört, 
insoweit  die  Gedanken  bei  ihm,  auf  die  sich  Thomas  bezieht,  ihn  etwa 
enthalten.     Das  kann  nicht  einfachhin  behauptet  werden.    Wir  haben  schon 


Zu  dem  (lottesbeweise  ties  li.  Thunias;  ans  d.  Stufen  der  VullkommenJjeit.     157 

angedeutet,  dass  die  Ausdrucksweise  des  heil.  Thomas  keine  direkte  aristo- 
telische Herkunft  des  Arguments  begfinstigt.  Aber  auch  die  von  ihm  an- 
gezogenen Stellen  begünstigen  sie  nicht.  Die  aus  dem  4.  Buch  der  Meta- 
physik scheint  zur  Erhärtung  eines  Meistwahren  iin  Sinne  des  Goltes- 
beweises  ganz  unbrauchbar.  Denn  dort  hat  das  Meistwahre,  das  übrigens 
dort  nicht  so  genannt  wird,  sondern  einfach  das  Wahre,  einen  ganz  anderen 
Sinn.  Die  Stelle  im  2.  Buch  aber  setzt  das  Dasein  eines  Meistseienden 
und  einer  Ursache  alles  Seienden  voraus  und  stellt  das  Meistwahre  mit  ihm 
in  Parallele.  Jedenfalls  fehlt  hier  die  förmliche  Erwä^untj,  dass  was  ver- 
schiedene  Grade  hat,  in  einem  Grade,  dem  höchsten,  wesenhaft  sein  muss. 
Da  nun  dieser  Gedanke  der  eigentliche  Nerv  des  Beweises  ist,  so  muss 
man  sagen,  dass  unser  Beweis,  so  weit  die  gedachten  Stellen  in  Betracht 
kommen,  Aristoteles  nicht  förmlich  oder  einfachhin  angehört.  Anderer- 
seits kann  man  aber  auch  nicht  schlechthin  behaupten,  dass  das  Argument 
ihm  fremd  ist.  Mit  dem  Begriffe  dessen,  was  für  alles  Spätere  die  Ursache 
der  Wahrheit  und  darum  am  meisten  wahr  ist,  hat  Aristoteles  jenes  durch 
sich  und  wesenhaft  Wahre  berührt:  denn  nur  ein  solches  kann  dem  ge- 
dachten  Begriffe  genugtun.  Ebenso  hat  er  den  ursächlichen  Zusammen- 
hang zwischen  dem  Meistwahren  und  dem  Meistseienden  berührt,  indem 
er  jenes  auf  dieses  zurückgeführt  hat.  Aber  bei  ihm  ist  das  Verfahren 
synthetisch,  er  geht  von  dem  Grunde  auf  die  Folge. 

Thomas  aber  vertauscht  es  mit  dem  analytischen  Verfahren,  indem  er 
von  der  Folge  zum  Grunde  geht.  Aristoteles  schliesst  von  dem  Seienden 
auf  das  Wahre  und  von  dem  durch  sich  Wahren  auf  das  Meistwahre. 
Thomas  schliesst  von  dem  Meistwahren  auf  das  durch  sich  Wahre  und 
von  dem  durch  sich  Wahren  auf  das  durch  sich  Seiende.  Man  kann  also 
in  gewissem  Sinne  sagen,  dass  unser  Argument  wirklich  Aristoteles  ange- 
hört, und  so  zeigt  sich  denn,  dass  der  heil.  Thomas  im  Hinblick  auf  das- 
selbe mit  gutem  Recht  geschrieben  hat:  potest  et  aha  ratio  colligi  ex 
verbis  Aristotelis. 

3.  Uebrigens  wird  die  Herkunft  des  Beweises  gleich  noch  genauer  be- 
stimmt werden.  Jetzt  nehmen  wir  zum  zweiten  Male  den  Beweis  in  der 
Theol.  Summe  vor. 

Er  hat,  wie  wir  wissen,  die  Eigentümhchkeit,  dass  das  Meistseiende 
als  Allursache  erwiesen  und  dann  erst  mit  Gott  gleich  besetzt  wird.  Da 
wir  gezeigt  haben,  dass  das  Meistseiende  ohne  weiteres  als  das  aus  sich 
und  wesenhaft  Seiende  und  somit  als  die  absolute  Vollkommenheit  gedacht 
ist,  so  darf  man  aus  der  neuen  Form  des  Beweises  nicht  schliessen,  als 
ob  es  nicht  hinreichend  als  göttlich  erkennbar  wäre.  Denn  es  versteht 
sich  durchaus  von  selbst,  dass  ein  solches  Wesen  Gott  ist. 

Man  darf  aber  auch  nicht  meinen,  dass  sich  das  Meistseiende  im 
absoluten  Sinne  nur  durch  den  Mittelbegriff  der  Allursache  finden  liesse, 
so  dass  dennoch  anzunehmen  wäre,    es  sei   im  vorliegenden    Beweise    das 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  j  1 


158  E.  Rolfes. 

Meist  zunächst  allgemein  gedacht,  unangesehen  nämlich,  ob  es  absolut  oder 
relativ  sei.  Man  muss  hier  freilich  sehr  gut  zusehen.  Es  kann  allerdings 
das  absolut  Meistseiende  für  sich  erwiesen  werden  und  der  Nachweis  seiner 
Stellung  als  Allursache  erst  folgen.  Der  Weg  und  die  Weise  dürfte  von 
uns  schon  oben  einigermassen  angezeigt  worden  sein.  Es  muss  ein  Meist- 
seiendes geben,  das  durch  sich  ist.  Denn  alles  Minderseiende  ist  nicht 
durch  sich,  sondern  durch  anderes.  Es  kann  aber  nicht  alles,  was  ist, 
durch  anderes  sein.  Es  muss  wenigstens  Eines  sein,  das  nicht  durch 
anderes,  sondern  durch  sich  ist,  und  dieses  muss  am  meisten  sein.  Nun 
kann  aber  auch  —  wir  wollen  dieses  nur  gleich  hinzufügen  —  nur  ein 
solches  sein.  Denn  was  in  zweien  oder  mehreren  gleichzeitig  ist  — r  und 
das  ist  das  Sein  in  allem  Seienden  — ,  kann  nur  Eines  durch  sich  haben: 
Dieses  Eine  muss  aber  auch  die  Ursache  alles  anderen  sein.  Denn  da  alles 
Andere  durch  Anderes  ist,  so  kann  es  nur  von  dem  sein,  das  durch  sieh  ist. 

Hieraus  sieht  man  also,  dass  man,  um  zur  tatsächlichen  Existenz  des 
Meistseienden  zu  gelangen,  nicht  nötig  hat,  wozu  man  ja  auch  nicht  befugt 
wäre  —  vgl.  bei  unserem  Kritiker  S.  465  f.  — ,  dem  zweiten  Teil  unseres 
Arguments  vorzugreifen  und  die  Erwägung  heranzuziehen,  dass  alles  Minder- 
seiende ein  Meistseiendes  als  Ursache  fordert.  Demnach  kann  es  also 
auch  von  dieser  Seite  nicht  beanstandet  werden,  wenn  man  das  Meist- 
seiende absolut  versteht.  Wir  haben  aber  auch  soeben  den  Weg  gezeigt, 
auf  dem  man  von  dem  Meistseienden  zur  Allursache  gelangt,  und  so  das 
ganze  Argument  in  der  Hauptsache  schon  erklärt. 

Doch  —  denn  dies  ist  das  andere,  was  die  Fassung  der  Theol.  Summe 
von  der  in  der  Phil.  Summe  unterscheidet  —  es  ist  auch  noch  zu  er- 
klären, warum  in  jener  viele  Arten  des  abgestuften  Seins  genannt  und 
zum  Beweise  verwandt  werden,  nicht  bloss  die  Gattung  des  Wahren  und 
des  Seienden,  auch  die  des  Guten  und  Edlen,  die  ausdrücklich  genannt 
wird,  und  ähnliche,  die  man  sich  hinzudenken  soll.  Es  hätte  doch,  um 
das  gewünschte  Ergebnis  herbeizuführen,  genügt,  einfach  von  den  Stufen 
des  Seins  zu  reden  oder  etwa  noch  der  Wahrheit,  zum  Zwecke  der  Ver- 
anschaulichung nach  Aristoteles.  Denn  die  Vermittlung  liegt,  wie  schon 
gesagt,  einzig  in  der  Ueberlegung,  dass  alles  Minderseiende  von  einem 
Meistseienden  als  aus  sich  Seiendem  ist.  Wozu  also  noch  das  Gute,  Edle 
und  dergleichen  nennen?  Die  Antwort  möchte  sein,  dass  das  Argument 
so  den  platonischen  Gedanken  nähergebracht  wird,  denen 
es,  wie  uns  auch  jetzt  noch  feststeht,  entsprungen  und  förmlich  entlehnt 
ist.  Es  soll  so  an  die  Ideen  erinnern,  an  die  Ideen,  die  das  Urbild  und 
Prinzip  alles  Erscheinenden  -sind,  das  ihre  Art  hat.  und  deren  höchste, 
die  Idee  des  Guten,  alle  anderen  umfasst.  Das  ist  jene  Idee,  die  als 
intelligible  Wesenheit  Gottes  von  ihm  geschaut  wird  und  der  er  alles  Er- 
schaffene in  verschiedenen  Abständen  nachbildet  gemäss  den  gefeierten 
Worten  des  B  o  e  t  h  i  u  s : 


Zu  dein  G-oltesbeweise  des  h.  Thomas  aus  d.  Stufen  der  Vollkomiuenlieit.     159 

Tu  cuneta  superno 
Ducis  ab  exemplo  pulchrum  pulcherrimus  ipse 
Mundum  mente  gerens  similique  ab  iinagine  forinans. 

Auf  die  Ideen  scheint  auch  in  dem  dicuntur  hingewiesen :  magis  et 
minus  dicuntur  de  diversis,  secundum  quod  appropinquant  diversi- 
mode  ad  aliquid  quod  maxime  est :  Die  Idee,  der  Begriff  ist  es,  an  den 
man  denkt,  wenn  man  von  dem  Mehr  oder  Minder  des  Dinges  spricht,  sie 
ist  das  Mass,  an  dem  es  gemessen  wird,  nicht  ein  relativ,  ein  empirisch 
Meistes,  sondern  die  vollkommene  Erfüllung  des  Begriffs.  So  misst  man 
das  Schöne  an  der  Schönheit,  das  Grosse  an  der  Grösse,  das  Runde  an 
dem  Kreis,  und  dem  heil.  Thomas  scheint  so  sehr  daran  zu  liegen,  durch 
das  dicuntur  die  Idee  zu  insinuieren,  dass  er  sich  nicht  scheut,  diesem 
Wort  zuliebe  der  Vorstellung  Raum  zu  geben,  als  ob  er  hier  von  Gedanken- 
dingen auf  wirkliche  Dinge,  von  einem  gedachten  Meist  auf  ein  wirkliches 
Meist  schlösse,  wie  denn  auch  diesem  Argument  mehr  als  einmal  der  Vor- 
wurf gemacht  worden  ist,  dass  es  nach  Art  des  ontologischen  Beweises 
den  Uebergang  aus  der  idealen  in  die  reale  Ordnung  vollzöge. 

Ob  die  eine  oder  andere  Wendung  oder  Ausdrucksweise  oder  sonstige 
Eigentümlichkeit  des  Textes  wirklich  die  gedachte  Bestimmung  hat,  an  den 
platonischen  Ursprung  des  Arguments  zu  erinnern,  mag  problematisch  sein, 
viel  weniger  problematisch  scheint  uns  dieser  Ursprung  selbst.  Wir  haben 
die  Gründe  für  unsere  Meinung  in  der  eingangs  genannten  Schrift  aus- 
führheh  entwickelt  und  finden  uns  nicht  veranlasst,  hier  noch  einmal  auf 
diese  Sache  zurückzukommen.  P.  Kirfel  bemerkt  S.  486  a.a.O.,  die 
von  mir  und  anderen  vorgetragenen  Vermutungen  über  die  Herkunft  des 
Beweises  erschienen  gegenstandslos,  sobald  man  seine  abweichende  Inter- 
pretation des  Beweises  gelten  lasse.  Wir  können  uns  also  auf  den  Stand- 
punkt stellen,  dass,  solange  diese  seine  Auslegung  den  von  uns  erhobenen 
Schwierigkeiten  nicht  gerecht  wird,  auch  gegen  unsere  Auffassung  von  der 
Provenienz  des  Beweises  nichts  vorgebracht  ist. 

Uebrigens  müssen  wir  hier  zum  Schluss  der  Diskussion  doch  bezüg- 
lich unserer  früheren  Auffassung  eine  modifizierende  Bemerkung  machen, 
die  eines  allgemeineren  Interesses  nicht  entbehren  dürfte.  Wir  erinnern 
uns,  in  den  Gottesbeweisen  eine  historische  Untersuchung  angestellt 
zu  haben,  um  womöglich  auch  das  unmittelbare  Vorbild  oder  die  Vorlage 
zu  ermitteln,  auf  die  die  besondere  Form  des  Beweises  bei  Thomas 
zurückgehe.  Jetzt  kommt  uns  diese  Untersuchung  deplaciert  vor.  Die 
Form  des  Beweises  in  der  Phil.  Summe  scheint  Thomas  ganz  selbständig 
entworfen  zu  haben,  um  den  Beweis  an  Aristoteles  anzuschliessen,  und 
die  Form  in  der  Theol.  Summe  scheint  nur  eine  ebenso  selbständige 
Erweiterung  der  ersten  Form. 

. !!• 


Studien  zur  (Tescliiehte  der  1^'rühscliolastik, 

Von  Prüf.  Dr.  J.  A.  Endres  in  Regensburg. 


Bereiigai'  von  Toms. 

Mannigfache  Andeutungen  namentlich  eines  Petrus  Daniiani  geben  zu 
erkennen,  dass  sich  die  Dialelitiker  seiner  Zeit  und  seines  Landes  nicht 
ausschhesshch  auf  dem  Boden  ihrer  vorherrschend  formalen  Kunst  bewegten. 
Sobald  sie  aber  ihren  Fuss,  wozu  die  Zeitrichtung  mehr  und  mehr  drängte, 
auf  das  theologische  Gebiet  setzten,  war  bei  ihrer  Neigung  zum  dialektischen 
Streite,  bei  den  im  Halbdunkel  eines  ungeübten  Denkens  und  einer  un- 
sicheren Erkenntnis  gedeihenden  sophistischen  Anwandlungen,  bei  der  der 
ganzen  Periode  eigenen  Unklarheit  über  das  Recht  und  die  Grenzen  beider 
Gebiete,  des  philosophischen  und  des  theologischen,  ein  Konflikt  unver- 
meidlich. Zum  offenen  Ausbruch  kam  er  jedoch  nicht  in  Italien,  aus  dessen 
Trivialschulen  die  bedeutendsten  Männer  der  Zeit  in  die  Reihen  der  kirch- 
lich gesinnten  Theologen  übertraten,  sondern  vielmehr  in  Frankreich,  wo 
die  sich  steigernde  geistige  Bewegung,  den  seit  Jahrhunderten  fortglimmenden 
Funken  rationalistischer  Denkweise  zu  neuern  Leben  entfachte. 

Als  Stimmföhrer  und  Anwalt  dieser  Denkweise  trat  gegen  die  Mitte 
des  IL  Jahrhunderts  Berengar  von  Tours  auf. 

Wenn  der  Name  dieses  Mannes,  der  doch  an  der  Grenze  der 
dunkelsten  Periode  der  Scholastik  steht  und  an  den  kirchenpolitischen 
Kämpfen  seiner  Tage  keinen  Teil  hat,  an  Beriihnitheit  hinter  den  wahrhaft 
grossen  Erscheinungen  des  Mittelalters  kaum  zurückbleibt,  so  liegt  der 
Erklärungsgrund  hiefür  weder  in  den  Geistes-  noch  Charaktereigenschaften 
Berengars.  Er  ist  vielmehr  auf  einem  andern  Gebiete  zu  suchen.  „Einen 
gewissen  Nimbus  hat  ihm  (Berengar)  ausser  der  sehr  verbreiteten,  nach 
D.  Strauss  »romantischen«,  Vorliebe  für  die  Ketzerei,  der  Umstand  gegeben, 
dass  er  der  Gegenstand  jenes  kleinen  Lessingschen  Kabinetstückes  ge- 
worden ist,  in  welchem  eine  wieder  aufgefundene  Schrift  von  ihm  der 
Welt  verkündet  wurde"  ^). 

Es    ist    dies    die   nach    1073    abgefasste  2),    gegen  Lanfrank  gerichtete 


')  J.  E.  Erdmann,  Grundriss  der  Gesch.  d.  Philosophie,  1*   (1896),   276. 
-)  Sohnilzpv.  Berengar  von  Tours,  sein  Leben  und  seine  r>ehre,   Stuttgart 
1892,  89. 


Studien  zur  Geschichte  der  Friihscholastik.  ]61 

Streitschrift  De  sacra  coena,  welche  nach  langen  Vorbereitungen  erst  im 
Jahre  1834,  soweit  erhalten,  vollständig  ans  Tageslicht  gezogen  wurde  '> 
Reste  einer  früheren  Schrift  Berengars  gegen  Lanfrank  hat  uns  letzterer 
in  seiner  Abhandlung  De  corpore  et  sanguine  Domini  überliefert 2).  Ausser- 
dem sind  noch  Briefe  von  ihm  erhalten^). 

Berengar  wurde  am  Anfange  des  11.  Jahrhunderts  zu  Tours  geboren, 
wo  er  auch  seinen  ersten  Unterricht  erhielt.  Später  besuchte  er  die  be- 
rühmte Schule  zu  Chartres,  da  ihr  noch  Fulbert  vorstand.  Zwei  Eigen- 
tümlichkeiten Berengars  erinnern  an  seinen  Aufenthalt  daselbst,  seine 
Dichtungen  in  der  Art  Fulberts^)  und  seine  Vertrautheit  mit  der  Medizin^), 
die  bekanntlich  zu  Chartres  besonders  gepflegt  wurde.  Dagegen  gestaltete 
sich  in  der  Folge  sein  Verhältnis  zur  Theologie  \  öllig  abweichend  von  den 
Traditionen  in  Chartres.  Nach  der  Rückkehr  in  seine  Vaterstadt  wurde 
Berengar  Scholastikus  (1031),  mit  welcher  Stellung  er  seit  1040  auch  das 
Amt  eines  Archidiakons  von  Anaers  verband. 

Um  1046  verbreitete  sich  die  Kunde  von  seiner  unkirchlichen  Auf- 
fassung des  heiligen  Abendmahls.  Schon  1050  wurde  Berengar  auf  einer 
Synode  zu  Rom,  der  er  selbst  nicht  anwohnte,  als  Häretiker  erklärt ;  aber 
sowohl  auf  einer  Versammlung  zu  Tours  1054,  wie  auf  einer  weiteren  zu 
Rom  1059  bekannte  er  sich  unter  einem  Eide  zur  kirchlichen  Lehre  von 
der  realen  Gegenwart  von  Fleisch  und  Blut  Jesu  Christi  nach  der  Konse- 
kration von  Brot  und  Wein.  Indes  nur  die  Furcht  vor  dem  Tode  hatte 
ihn  zu  jenem  Verhalten  vermocht.  Kaum  fühlte  er  sich  wieder  frei,  als 
er  nicht  nur  die  von  Kardinal  Humbert  1059  ihm  vorgelegte  Formel  in 
seinem  Sinne  deutete,  sondern  überhaupt  die  Beschwörung  der  Formel 
leugnete  und  in  einer  eigenen  Schrift,  jener,  von  welcher  Lanfrank  die 
wesentlichsten  Sätze  aufbewahrt  hat,  seinen  alten  Standpunkt  verfocht. 
Nunmehr  beginnt  ein  weitverzweigter  literarischer  Kampf  gegen  den 
Scholastikus  von  Tours  und  seine  Anhänger,  in  welchem  unter  anderem 
ein  Lanfrank,  Guitmond  von  Aversa  und  Alger  von  Lüttich  auftraten. 
Gegen  Lanfrank  wendet  sich  Berengar  noch  1073  mit  jener  ausführlichen 
Streitschrift  De  sacra  coena,  in  der  er  mit  aller  Leidenschaft  und  in  un- 
gezählten   ermüdenden  Wiederholungen   seinen   alten   Standpunkt  verficht. 

')  Berengarii  Turonensis  de  sacra  coena  adversus  Lanfrancum.  über 
posterior.  E  codice  Quelferbytano  primum  edideiunt  A.  F.  et  F.  Th.  Vischer, 
Berolini  1834. 

^)  Sie  sind  zusammengestellt  in  der  eben  genannten  Visclierschen  Publi- 
kation 8—11  und  wiederholt  gedruckt  in  den  Ausgaben  Lanfranks. 

')  Sudendorf,  Berengarius  Turonensis  oder  eine  Sammlung  ihn  betreffender 
Briefe,  Hamburg  und  Gotha  1850,  200  ff. 

*)  Vgl.  Clerval  78. 

')  Quis  non  miretur  tuam  in  arte  medendi,  (|ua  ipsis,  qui  se  uipdicos 
profifenlur,  praeemincs,  excellentiam  ?  Drogo  v.  Paris  an  Berengar,  Sudendorf  200. 


162  ■  J.  A.  Endres. 

Das  liinderte  ihn  nicht,  bereits  1078  und  1079  neuerdings  seine  Häresie 
abzuschwören,  um  freiUch  nur  das  alte  Schauspiel  zu  wiederholen,  näm- 
lich das  Beschworene  durch  Verdrehung  seines  Inhalts  zu  leugnen.  Im 
Jahre  1080  stand  er  zum  letzten  Male  vor  einer  Synode,  um  Rechenschaft 
von  seinem  Glauben  zu  geben.  Alsdann  zog  er  sich  von  seiner  Lehr- 
tätigkeit und  von  der  Welt  zurück,  um  seine  Tage  als  Büsser  zu  be- 
schliessen.  Nach  dem  fast  einstimmigen  Zeugnisse  der  alten  Quellen ') 
starb  er  108S  im  Frieden  mit  der  Kirche.  Viele  neuere  Geschichtsschreiber 
sind  freilich  von  der  Aufrichtigkeit  der  Bekehrung  des  Scholastikus,  der 
durch  sein  ganzes  Leben  ein  seltenes  Beispiel  von  Wankelmütigkeit  gegeben 
hat,  nicht  überzeugt'^). 

Vom  Standpunkte  der  Philosophiegeschichte  aus  hat  Berengar  von 
Tours  eine  sehr  verschiedene  Beurteiluag  erfahren.  Auf  der  einen  Seite 
wird  lediglich  seine  rationalistische  Denkweise  hervorgehoben,  so  von 
Ritter,  welcher  bezüglich  seines  Verhältnisses  zur  Universalienfrage  meint, 
die  Realität  der  allgemeinen  Begriffe  sei  bei  Berengar  vorau-sgeselzt^).  In 
der  Betonung  des  rationalistischen  Momentes  der  Berengarschen  Dialektik 
stimmen  Stöckl*)  und  Erdmann  5)  mit  Ritter  überein.  Dagegen  wird  von 
anderer  Seite  der  Nominalismus  als  die  massgebende  Norm  seiner  Ueber- 
zeugung  betrachtet.  Mit  ausdrücklicher  Verwerfung  des  auf  Realismus 
lautenden  Votums  von  Ritter  spricht  sich  Prantl  für  den  Nominalismus 
Berengars  aus*^),  dessen  Ueberzeugung  auch  Kaulich  stillschweigend  zu  der 
seinen  macht ''),  während  Ueberweg-Heinze  vorsichtiger  nur  davon  redet, 
dass  Berengar  von  einem  sensualistischen,  konsequent  zum  Nominalismus 
hindrängenden  Substanzbegrifie  ausgehe ''j.  Auf  dieser  Seite  stehen  auch 
die  Franzosen,  so  ein  Remusat,  Haurcau^)  und  neuestens  Clerval ''') ,  von 
denen  der  erste  von  einem  auf  eine  einzige  Frage  eingeschränkten  Nomi- 
nalismus, der  zweite  von  einem  unentwickelten  Konzeptualismus,  Clerval 
hinwiederum  von  einem  vielleicht  mehr  unbewussten  Nominalismus  redet. 
I..elzterem  scheint  es  kein  uuwahrschpinlicher  Gedanke  zu  sein,  dass  die 
nominalislische  Tendenz  Berengars  durch  den  Arzt  Johannes  Sophista  dem 


»)  Schnitzer  119. 
»)  Ebenda  120  f. 

=')  Gesch.  d.  Phil.  7  (1844),  301)  f. 
*)  Gesch.  d.  Phil.  H.  M.-A.  1  (18(i4),  134. 
^)  Grundriss  d.  Gesch.  d.  Phil.    1^  (18*36),  27(5. 
«)  Gesch.  d.  Logik  2  2  (1885),  75. 
^  Gesch.  d.  schol.  Phil,  Prag  1863,  5i62. 

«)  Grundriss  d.  Gesch.  d.  Phil.  2»  (1898),  167.  |; 

•M  Hist.  de  la  plül.  scoL,   Paris  1872,    1,  23:3.     Hier  findet  sich  auch  der 
Wortlaut  der  Stelle  de  R6tnusals  aus  Abelard  I,  358. 
'")  Les  ecoles  de  Chartres,  Charlres  1895,  120. 


^>i 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  163 

Hauptrepräseutanten    dieser   Richtung    von    damals,    Roszelin,    eingeimpft 
worden  sei. 

Die  Mehrzahl  der  Geschichtsschreiber  findet  dem  Gesagten  znfolge  bei 
Berengar  den  Noniinalismus.  Indes  ist  derselbe  doch  viel  mehr  in  seine 
Denkweise  hineinphilosophiert  worden,  als  aus  den  vorhandenen  schrift- 
lichen Dokumenten  tatsächlich  zu  erweisen.  Wohl  lässt  sich  unschwer 
zeigen,  wie  unter  der  Voraussetzung  einer  nominalistischen  oder  sensua- 
listischen  Denkweise  die  Leugnung  der  kirchlichen  Abendmahlslehre  nahe- 
liegt. Sind  lediglich  die  Sinne  massgebend  für  unser  Urteil,  so  kann  von 
einer  VVesensverwandlung  nicht  die  Rede  sein.  Allein  diese  Anschauungs- 
weise fällt  nicht  ausschlaggebend  in  die  Wagschale  bei  Berengar,  wenn  er 
auch  gelegentlich  das  Sinnenzeugnis  für  seine  Meinung  in  Anspruch  nimmt  ^). 
Nicht  erkenntnistheoretische,  sondern  metaphysische  Erwägungen  sind  für 
ihn  bestinunend.  Daher  müssen  notwendig  die  Versuche,  seine  nomina- 
listische  Denkweise  zu  begründen,  scheitern.  So  hat  z.  B.  Haureau  wohl 
den  angeblichen  Nominalismus  Berengars  wiederholt  behauptet  2),  aber  auch 
nicht  den  Schein  eines  Beweises  dafür  erbringen  können.  Um  nichts  glück- 
licher gestalten  sich  die  Ausführungen  Prantls.  Er  redet  davon,  dass 
Berengar  die  nominalistische  Anschauungsweise  des  Skotus  Eriugena  zu 
der  seinigen  gemacht  habe  und  dass  er  ein  Hauptgewicht  auf  die  begriff- 
liche Festigkeit  der  menschhchen  Worte  lege^,.  Allein  wenn  sich  auch 
Berengar  häufig  genug  auf  Eriugena  beruft,  so  hält  doch  die  Voraussetzung 
Prantls  ganz  und  gar  nicht  Stand,  dass  er  von  dort  aus  im  nominalistischen 
Sinne  beeinfiusst  worden  wäre.  Es  war  eine  seltsame  Schrulle  Prantls, 
dem  Hofphilosophen  Karls  des  Kahlen  Nominalismus  imputieren  zu  wollen. 
Der  ganz  in  der  platonischen  Denkweise  sich  bewegende  „Eriugena  ist 
durchaus  Realist"  *).  Die  Betonung  der  bestimmten  Bedeutung  des  sprach- 
lichen Ausdrucks  aber  ist  keineswegs  eine  spezifische  Eigentümlichkeit  des 
Nominahsmus  °). 

')  Das  Sinnenzeugnis  spielt  bei  Berengar  eine  Rolle  namentlich  in  jenem 
Beweise,  welcher  das  metaphysische  Gesetz  zum  Obersatze  macht,  dass  die 
Akzidenzien  nicht  ohne  ihre  Substanz  existieren. 

')  Toutes  ces  preuves  sont  nominalistes  et  sont  exposees  dans  le  langage 
de  Tecole ;  partout  on  rencontre  les  mots  „sujet,  predicat,  Socrate"  etc. 
A.  a.  0.  232. 

^)  Präntl  a.  a.  0.  75  IT. 

*)  Ueberweg  -  Heinze  159;  J.  Reiners,  Der  Nominahsmus  in  der  Früh- 
scholastik, Münster  1910,  5  (Beiträge  zur  Gesch.  d.  Phil.  d.  Mittelalters,  herausg. 
V.  Gl.  Baeumker  Bd.  VIII,  Heft  5). 

*)  Die  Stelle  Berengars,  welche  Prantl  S.  75  Anm.  3üO  als  Beleg  für  den 
Nominalismus  auszunutzen  versucht,  beweist  das  gerade  Gegenteil,  sofern  darin 
ausdrücklich  die  Geltung  allgemeiner  Begriffe  anerkannt  ist.  Berengar  sagt 
nämlicli :  pronuntiato  autem  eo,  quod  est  elementum,  ad  plura  i  t  ii  r,  nisi, 
imde  agas,  de  terra  an  de  aqua  aul  ceteris,  determines.* 


164  J.  A.  Endres. 

Nicht  nach  einem  noötischen  Massstabe  ist  die  Geistesrichtung  Berengars 
zu  bemessen,  sondern  nach  einem  allgemeineren.  Es  ist  Rationalist  oder, 
um  in  der  Ausdrucksweise  seiner  Zeit  zu  reden,  er  ist  Dialektiker. 

In  den  beiden  Schriften,  welche  Berengar  und  sein  bedeutendster 
Gegner  Lanfrank  gegeneinander  richten,  fehlt  es  nicht  an  Aeusserungen, 
welche  den  tieferen  Grund,  aus  dem  sich  die  Meinungsverschiedenheit  der 
beiden  Männer  ergab,  enthüllen.  Sie  sprechen  sich  beide  über  ihren 
prinzipiellen  Standpunkt  und  ihre  wissenschaftliche  Richtung  aus.  Ihre  Wege 
schieden  sich  nicht  erst  an  einem  konkreten  Punkte  des  Glaubensgebietes, 
aber  auch  nicht  verschiedene  Richtungen  inneihalb  der  Dialektik  führten 
sie  auseinander,  vielmehr  war  es  die  Bewertung  der  Dialektik  als  solcher, 
beziehungsweise  ihr  Verhältnis  zur  Glaubenslehre,  was  sie  prinzipiell  trennte. 
In  hoclifeierlicher  Weise,  indem  er  Gott  und  sein  Gewissen  zu  Zeugen 
anruft,  versichert  Lanfrank,  dass  es  seinen  Intentionen  nicht  entspricht, 
auf  theologischem  Gebiete  rein  dialektisch  zu  verfahren.  Und  wenn  sich 
'auch  zuweilen  die  Dialektik  als  Hilfsmittel  der  Theologie  darstellte,  so 
suche  er  so  weit  möglich  durch  gleichwertige,  dem  theologischen  Gedanken- 
kreise entnommene  Sätze  die  Kunst  zu  verhüllen,  um  nicht  in  höherem 
Masse  auf  die  Kunst  als  auf  die  Wahrheit  und  die  Auktorität  der  heiligen 
Väter  zu  vertrauen  zu  scheinen ').  Lanfrank  war  von  dem  richtigen  Ge- 
fühle geleitet,  dass  Vernunftwissenschaft  und  Glaubenslehre  zwei  verschiedene 
Gebiete  darstellen,  und  dass  die  Vernunft  in  ihrer  Betätigung  auf  dem 
Glaubensgebiete  inhaltlieh  von  anderen  Voraussetzungen  auszugehen  habe, 
als  auf  dem  rein  natürlichen  Gebiete. 

Hiergegen  weiss  sich  Berengar  in  vollem  Gegensatze.  Zwar  will  er 
sich  den  Vorwurf,  welchen  ihm  Lanfrank  im  Zusammenhange  mit  den 
obigen  Darlegungen  macht,  als  ob  er  die  heiligen  Auktoritäten  umgehe, 
nicht  gefallen  lassen.  In  Wahrheit  zieht  er  sie  freilich  zumeist  nur  zur 
vermeintlichen  Stütze  seiner  rationalistischen  Anschauungen  heran.  Gleich- 
wohl, so  meint  er,  steht  das  (rein)  vernunftmässige  Verfahren  bei  der  Er- 
forschung der  Wahrheit  unvergleichlich  höher'-),    als   die  Verwendung  von 


')  Teslis  mihi  deus  est  et  conscientia  mea,  quia  in  tractalu  divinaium 
lillerarum  nee  proponere  nee  ad  propositas  respondere  cupereni  dialeclicas 
quaestiones  vel  earum  solutiones.  Et  si  quando  niateria  dispiitandi  talis  esl,  ut 
per  huius  arlis  regulas  valeaf  enucleatius  explicari,  in  quanlum  possum,  per 
aequipollentias  proposilionum  lego  artem,  ne  videar  magis  arle  quam  veritale 
sanctorumque  patruni  auctorilate  coniidere.  De  corpore  et  sangine  Domini  c.  7. 
M  150,  417  A. 

^  Qnod  relinquere  me  sacras  auclorilates  non  dubitas  scribere,  mani- 
festum fiet  divinitate  propitia,  illud  de  calumnia  scribere  te,  non  de  veritate .  .  . 
quanquam  ratione  agerc  in  perceptione  verilatis  incomparabililer  superius  esse, 
quia  in  evidenti  res  .est,  sine  vecordiae  coecilate  nullus  negaveril.  De  sacra 
coena  lOU. 


V 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  165 

Auk(oritäts«,'riinden.  Wenn  er  sich  dialektischer  Worte  zur  Darlegung  der 
Wahrheit  bedient  habe,  so  sei  das  nicht  gleichbedeutend  gewesen  mit  einer 
Zufluchtnahme  zur  Dialektik,  obwohl  ihn  auch  trotz  einer  flerarfigen  Auf- 
fassung sein  Schritt  nicht  reue.  Denn  in  seinen  Augen  stehe  Gottes  Weis- 
heit selbst  und  Gottes  Kraft  nicht  im  mindesten  im  Gegen.satze  zur  Dia- 
lektik; Gott  be.?iege  vielmehr  durch  die  dialektische  Kunst  .seine  Feinde'). 
Ja,  es  sei  ein  Zeichen  grösster  Hochherzigkeit,  in  allem  zur  Dialektik  seine 
Zuflucht  zu  nehmen;  denn  zu  ihr  seine  Zuflucht  nehmen  bedeute  zur 
Vernunft  seine  Zuflucht  nehmen;  und  wer  das  nicht  tue,  der  verzichte, 
da  er  mit  Rücksicht  auf  die  Vernunft  nach  dem  Bilde  Gottes  gemacht  sei, 
auf  seine  Auszeichnung  und  könne  nicht  täghch  nach  dem  Bilde  Gottes 
erneuert  werden  2).  Alsdann  führt  er  jene  seiner  Zeit  geläufigen  Ruhmes- 
titel der  Dialektik  aus  dem  Munde  des  heiligen  Augustinus  an,  welcher 
von  der  Dialektik  gesagt  hatte,  sie  sei  die  Wissenschaff  der  Wissenschaften, 
sie  verstehe  zu  lernen  und  zu  lehren,  sie  beabsichtige  nicht  nur  das  Wissen 
mitzuteilen,  sondern  sie  tue  es  wirklich.  An  ihren  Betrieb  habe  der  hl. 
Augustinus  die  Verheissung  der  klarsten  Erkenntnis  Gottes  und  der  Seele 
geknüpft  ■^).  Und  nun  wendet  er  sich  mit  Worten,  die  anbetrachts  seines 
vor  den  kirchlichen  Behörden  an  den  Tag  gelegten  Verhaltens  geradezu 
als  Selbstironio  empfunden  werden,  an  Lanfrank :  „Du  verdienst  daher",  so 
sagt  er,  „darin,  lieber  den  Auktoritäten  in  etwas  nachzugeben,  als  der  Ver- 
nunft folgend  gegebersen  Falls  untergehen  zu  wollen,  die  Nachahmung 
keines  beherzten  Mannes'"»).  Endlich  hält  er  ihm  entgegen,  dass  Lanfrank 
in  der  Anwendung  gleichwertiger  Sätze,  in  seinem  Verleugnen  der  dialek- 
tischen Kunst,  in  den  grossen  Vorkämpfern  der  Wahrheit,  den  unbesiegten 
Verfechtern  christlicher  Lehre,  keine  Gesinnungsgenossen  habe  5). 

So  hat  also  Berengar  seinem  wissenschaftlichen  Bekenntnis  unum- 
wunden Ausdruck  gegeben.  Die  Dialektik  ist  ihm  der  Inbegriff  aller  Er- 
kenntnis. Sein  Grundsalz  lautet:  ratione  agere,  per  omnia  ad  dialecticam 
confugerc.  Die  Vernunft  stellt  für  ihn  die  Norm  und  Quelle  aller  Erkenntnis 

')  Verbis  dialecticis  ad  manifeslalionem  veritatis  agere  non  erat  ad  dia- 
lerlicam  confugium  facere,  qnancjuam  si  confugium  illiid  accipiiur,  non  nie 
poenileal,  ad  dialecticam  confugisse,  a  qua  ipsam  dei  sapientiam  et  dei  virlutem 
vidao  minime  abhorrere,  sed  suos  inimicos  arte  revincere.    1.  c.  101. 

0  Maximi  plane  cordis  est,  per  omnia  ad  dialecticam  confugere,  quia 
confugere  ad  eam  ad  rationem  est  confugere,  quo  qui  non  confugit,  cmn 
secundum  rationem  sil  faclus  ad  unaginem  dei,  suum  honorem  reliquif,  nee 
polest  renovari  de  die  in  diem  ad  imaginem  dei.    Ibid. 

'^)  Gf.  August.,  De  ordine  2,  13. 

")  Nee  sequendus  es  in  eo  ulli  cordato  homini,  ut  malit  auctorilatibus 
circa  aliqua  cedere,  quam  ratione,  si  optio  sibi  detur,  perire.    De  s.  coena  1U2. 

^)  Item  in  co,  quod  dicis,  aequipoUentia.s  luas  sequi  te  malle,  ab  arte 
dis.simulare,  non  \n  ca  Iccum  sentiunt  praeclarissimi  verilatis  propugnalores, 
dorlrinae  Clirisiianae  invictissimi  *ssertores.    Ibid. 


166  J.  A.  Endres'. 

dar.  Es  begreift  sich  daher  vollständig,  wie  er  bei  der  Rückschati  auf  die 
nähere  Vergangenheit  von  niemand  mehr  gefesselt  wurde,  als  von  dem 
grossen  Chorführer  rationalistischer  Denkweise  im  Mittelalter,  Johannes 
Skotus  Eriugena.  Bei  ihm  fand  er  den  Gedanken  von  der  Superiorität  der 
Vernunft  über  alle  Auktorität  formuliert,  begründet ')  und  praktisch  ver- 
wertet. Bei  ihm  kam  die  Ueberzeugung  von  der  Identität  zwischen  Philo- 
sophie und  Religion  zum  klaren  Ausspruche  2),  welcher  Berengar  nur  eine 
andere  Form  gibt,  wenn  er  von  der  Gegensatzlosigkeit  zwischen  der  Dia- 
lektik und  der  göttlichen  Weisheit  redet  und  davon,  dass  Gott  durch  die 
dialektische  Kunst  seine  Feinde  besiege,  wenn  er  ferner  das  confugere  ad 
rationem  zur  Bedingung  der  Erneuerung  des  Menschen  nach  dem  Ebenbilde 
Gottes,  also  der  Erlösung,  macht. 

Diese  Ueberzeugung  von  der  massgebenden  Norm  der  Vernunft  und 
der  Vernunftwissenschaft,  der  Dialektik,  beherrschte  Berengar,  als  er  sich 
der  Abendmahlslehre  zuwendete,  welche  bereits  seit  dem  9.  Jahrhunderte 
die  Geister  in  Spannung  hielt  und  in  gegensätzliche  Parteien  spaltete. 
Wenn  er  eine  eigentliche  Wesenswandlung  bei  der  Konsekration  von  Brot 
luid  Wein  und  in  der  Folge  die  reale  Gegenwart  von  Fleisch  und  Blut  des 
Herrn  unter  den  Gestalten  von  Brot  und  Wein  leugnet,  wenn  er  die  Ein- 
setzungsworte :  „Das  ist  mein  Leib,  das  ist  mein  Blut"  nur  in  tropischem 
Sinne  verstanden  wissen  will,  wenn  er  nur  eine  moralische  Vereinigung 
Christi  und  des  Empfängers  des  Sakramentes  annimmt  3),  so  lässt  er  sich 
hierbei  ausschliesslich  von  Vernunftgründen  leiten.  Und  zwar  sind  es  ganz 
allgemeine  philosophische  Argumente,  die  den  Schluss  auf  einen  dialektischen 
Parteistandpunkt  nicht  gestatten. 

Eine  besondere  Rolle  spielt  bei  der  dialektischen  Begründung  seiner 
Ansicht  das  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidens.  Berengar  kennt  die 
Unterscheidung  von  Materie  und  Form,  —  er  beruft  «ich  hierfür  ausdrück- 
lich auf  den  heiligen  Augustinus  — ;  er  kennt  auch  die  andere  von  Wesen 
und  Dasein.  Auf  beide  bezugnehmend  äussert  er  sich  folgendermassen  : 
Alles,  was  aus  Materie  und  Form  zusammengesetzt  ist,  ist  ein  anderes  in 
dem,  dass  es  ist,  ein  anderes  in  dem ,  dass  es  etwas  ist,  und  es  kann 
nicht  etwas  sein  in  dem  Falle,  dass  es  überhaupt  nicht  ist,  d.  h.  was  als 
Substanz  (subiectum)  nicht  ist,  kann  am  allerwenigsten  den  Akzidenzien 
nach  sein.  Würde  also  bei  der  Konsekration  die  Substanz  des  Brotes  ver- 
schwinden, so  könnten  auch  die  Akzidenzien  nicht  mehr  weiter  bestehen*). 

»)  Joa.  Scot.,  De  divisione  naturae  1,  69  M  122,  513 CG. 

'■')  De  div.  praedestinatione  I,  M  122,  357 CD. 

=*)  Vgl.  Schnitzer  297  ff. 

■•)  Omne  compactum  ex  materia  et  forma  aliud  est  in  eo  quod  est,  aliud 
in  CO  <|uod  aliquid  est,  nee  posse,  aliquid  esse,  si  contigerit  ipsum  non  esse, 
i.  e.  quod  secunduin  subiectum  non  sit,  luinime  posse  secunduin  accidens  esse. 
De  Sacra  coena  211,  cf.  93,  194.  Vgl.  Boiithius,  Qtiotnodo  siibstantiac  in  co 
quod  sint,  bonae  sint,  M  64,  1312  D. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  107 

Umgekehrt  schliesst  er  aus  dem  Bleiben  der  Akzidenzien  auf  die  Fortdauer 
der  Brotsubstanz.  Denn  zwischen  der  Substanz  und  ihren  Akzidenzien 
vermögen  wir  nur  durch  die  Vernunft,  nicht  durch  den  Sinn  zu  unter- 
scheiden. Das  Sehen  der  Farbe  aber  wie  überhaupt  jeglicher  Eigenschaft 
beruhe  auf  dem  Sehen  der  entsprechenden  Substanz  *).  Er  bezeichnet  es 
als  Wahnsinn,  eine  Farbe  sehen  zu  wollen,  während  das  Farbige  unsicht- 
bar bleiben  soll"'^). 

Weitere  Einwände  gegen  die  kirchliche  oder  vermeintlich  kirchliche 
Abendmahlslehre  reihen  sich  um  den  Begriff  des  Werdens.  Das  Brot, 
welches  vor  der  Konsekration  etwas  Gewöhnliches  (commune  quiddam) 
war,  werde  durch  dieselbe  der  beseligende  Leib  Christi,  aber  nicht  in  der 
Weise,  dass  es  durch  Vernichtung  zu  sein  aufhöre  und  der  Leib  Christi 
durch  Neuschaffung  nun  zu  sein  beginne ;  denn  jener  Leib,  welcher  seit 
so  langer  Zeit  sich  seliger  Unsterblichkeit  erfreue,  könne  nicht  zugleich 
jetzt  zu  sein  beginnen  ^).  Nur  eine  fleischliche  Auffassungsweise  könne  den 
Leib  Christi  dem  Entslehen  und  Vergehen  überantworten*).  Jenem  Vor- 
gange bei  der  Konsekration  misst  er  keine  andere  Bedeutung  bei  als  der 
Verarbeitung  eines  Stoffes  zu  einem  Gegenstande  menschlicher  Kunst- 
fertigkeit, etwa  der  Verarbeitung  des  Holzes  zu  einem  Tische.  Die  ursprüng- 
liche Wesensform  des  Materials  gehe  dabei  nicht  verloren.  Der  Gegenstand 
nehme  vielmehr  nur  eine  neue  Form  an  sich  ^). 

Er  beruft  sich  ferner  darauf,  dass  ein  Körper  an  sich  sichtbar  und 
greifbar  ist,  während  der  Leib  Christi  auf  dem  Altare  unsichtbar  sein  soll, 
dass  eine  gleichzeitige  Existenz  des  Leibes  Christi  im  Himmel  und  auf 
Erden  unmöghch  sei^),  lauter  Argumente,  wodurch  er  seine  Ueberzeugung 
von  dem  massgebenden  Rechte  des  natürlichen  Denkens  innerhalb  der 
Glaubenslehre  bekundet,  ohne  sich  auf  die  Seite  einer  dialektischen  Partei- 
richtung zu  neigen. 

')  Quis  videns  coloiem  marmoris  .  .  .  contendat  vecordissimus  sc  colorem 
illum  et  non  marmor  videre,  cum  causa  videndi  coloris  vel  cuiuscunque,  quod 
in  subiecto  est,  subiecli  ipsius  visio  sif,  apud  ipsam,  quae  deus  est,  veritatem 
subiecli  et  eius,  quod  in  subiecto  est,  non  sensu  sed  intellectu  solo  separabilium 
compactricem  ?     De  Sacra  coena  182. 

»)  Ibid.  190. 

')  Fit,  inquam,  panis,  quod  nunquam  ante  consecrationem  fuerat,  de  pane 
i.  e.  de  eo,  quod  antea  fuerat  commune  quiddam,  beatificum  corpus  Christi,  sed 
non  ut  ipse  panis  per  corruptionem  esse  desinat  panis,  "sed  non  ut  Corpus 
Christi  nunc  incipiat  per  generationem  sui,  quia  ante  tot  tempora  beata  conslans 
iminortalitate,  non  potest  corpus  ilkid  eliam  nunc  esse  incipere.     Ib.  97  s. 

*)  Ib.  94. 

'')...  non  amisit  ipsa  materia  formam  suam,  ut  per  corruptionem  sub- 
iecti  transiret  in  aliud,  sed  idem  siibiectum  praeter  eam,  quam  habebat,  aliam 
nulu  divino  aul  arliticis  stuiiiu  formam  accepit.     Ib.  79  s. 

")  Ib.  199  s. 


168  J.  A.  Endres. 

So  findet  in  Berengar  von  Tours  jene  Geistesrichtnng  des  11.  .lalir- 
liunderts,  welflie  die  Dialektik  auf  das  theologische  Gebiet  nicht  nur  an- 
wendet, sondern  innerhalb  desselben  über  die  Auktorität  stellt,  ihren  Haupt- 
repräsentanten.  Berengar  bestreitet  die  kirchliche  Abendmahlslehre  nicht 
im  Namen  des  Sensualismus,  sondern  als  exklusiver  Dialektiker.  Das 
Hereinspielen  der  göttlichen  Allmacht  bei  diesem  Sakramente,  den  Cha- 
rakter des  Wunderbaren,  des  Staunenswerten  will  seine  Auffassungsweise 
vöHig  beseitigt  wissen '). 

Wenn  oben  gesagt  wurde,  dass  den  Dialektikern  dieser  extremen 
Richtung  der  Beigeschmack  der  Sophistik  anhafte,  so  macht  hierin  Berengar 
keineswegs  eine  Ausnahme.  Die  erhaltenen  Reste  seiner  Schriften  liefern 
nicht  wenige  Belege  hiefür.  Ausser  den  willkürlichen  Interpretationen 
von  Vaterstellen  ist  das  bezeichnendste  Beispiel  die  Art,  wie  er  mit  der 
sogenannten  Humbertschen  Formel  verfährt  2).  Von  unserem  Gesichtspunkte 
der  Betrachtung  aus  ist  vielleicht  von  grösserem  Interesse  sein  Ver.such, 
zu  zeigen,  dass  es  logisch  unzulässig  sei,  zu  sagen:  Brot  und  Wein  sind 
der  Leib  und  das  Blut  Christi-^).  Denn  wenn  Brot  und  Wein  nach  der 
Konsekration  nicht  mehr  vorhanden  seien,  so  könne  von  ihnen  auch  nichts 
in  bejahender  Weise  au.«;gesagt  werden.  Der  Grund,  worauf  er  sich  hier 
stützt,  ist  der  Satz:  Non  enim  constare  poterit  affirmatio  omnis  parte 
subruta  =  Nicht  kann  eine  jede  Bejahung  bestehen,  wenn  von  einem  Teile 
der  Satzglieder  (Subjekt  und  Prädikat)  das  bezügliche  Substrat  nicht  mehr 
vorhanden  ist. 

In  De  Sacra  coena,  ed.  Vischer  234,  formuliert  er  den  Satz  in 
folgender  Weise :  Omnis  enuntiatio  amissa  parte  altera  utra,  praedicatum 
dico  atque  subiectum,  constare  non  poterit.  Unter  der  Voraussetzung  der 
W^esensverwandlung  sieht  er  in  der  Behauptung :  ,,Das  Brot  des  Altares  ist 
der  Leib  des  Herrn"  ein  derartiges  affirmatives  Urteil.  Indem  er  nun 
jenen  ersten  Satz :  Non  enim  constare  poterit  etc.  als  Obersatz  benützt 
und  den  Untersatz  hinzufügt:  Panis  altaris  solummodo  est  verum  corpus 
Christi  est  affirmatio  parte  subruta,  glaubt  er  zu  dem  Schlüsse  berechtigt 
zu  sein :  Ergo  affirmatio :  „Panis  altaris"  etc.  non  poterit  constare. 

Lanfrank  war  es  nicht  schwer,  ein  derartiges  Beweisverfahren  vom 
Standpunkt  der  formalen  Logik  aus  zurückzuweisen.  Denn  Berengar  operiere 
mit  einem  Syllogismus,  der  zwei  partikuläre  Prämissen  habe.  Daraus 
könne  aber  überhaupt  keine  Konklusio  abgeleitet  werden*).  Dem  gegen- 
über ist  Berengar  rasch  bei  der  Hand,  jenen  Obersatz    und  zwar  mit  Be- 

')  Per  niiraculum  dicis  ista  tieri,  admirationi  debere ;  verius  dixisses  ad 
iniuriam  et  contemptum  dei.    Ib.  96. 

-)  Ib.  80. 

"'')  Vgl.  zum  folgenden  meine  Abhandlung:  f.anfranks  Verhältnis  zur  Dia- 
lektik, Katholik  1902,  1  272  ff. 

*)  Lanfr.  1.  c.  c.  7,  M  löO,  417  D. 


Studien  zur  Geschichte  der  Friilischoiastik.  169 

rufung  auf  eine  älniliche  Ausdiuckbweise  in  der  lieiUgen  Schrift  (non 
omnis  =  nullus)  als  einen  universalen  zu  proklamieren ').  Er  bedenkt 
nicht,  dass  er  dadurch  jede  affirmative  Aussage  über  Gegenstände,  die  der 
Vergangenheit  angehören,  unmöglich  machen  würde.  Denn  wenn  auch  für 
ihn  die  Formulierung  jenes  Satzes  sicherlich  nur  Bedeutung  haben  soll  in 
Rücksicht  auf  den  vorliegenden  konkreten  Fall,  und  wenn  er  auch  nur 
verhindern  will,  dass  etwas  nicht  mehr  mit  dem  Namen  jenes  Wesens 
benannt  werde,  das  ihm  verloren  gegangen  ist,  so  reicht  doch  der  eigent- 
liche Sinn  des  Satzes  weit  über  das  hier  intendierte  Ziel  hinaus. 

Indem  Berengar  für  das  Altarsakrament  einzig  und  allein  nur  die 
Kategorie  des  Werdens  im  Sinne  der  Gestaltung  eines  vorhandenen  Stoffes 
zulässt,  leugnet  er  das  Mysterium  und  schränkt  er  sich  auf  eine  rein  natür- 
liche, also  rationalistische  Betrachtungs-  und  Erklärungsweise  ein. 

in  der  Formulierung  jenes  Satzes  aber  bekundet  er  ganz  die  gleiche 
kleinliche  und  wenig  glückliche  Originalität,  die  wir  auch  bei  seinem 
jüngeren  Zeitgenossen  Roszelin  von  Compiegne  antreffen,  wenn  dieser  es 
verwehren  will,  bei  einem  Dinge  von  Teilen  zu  reden  oder  den  Namen 
des  Ganzen  noch  anzuwenden,  wenn  ein  Gegeastand  eines  seiner  Teile, 
wie  das  Haus  des  Daches,  verlustig  gegangen  ist. 

Mit  Hartnäckigkeit  blieb  Berengar  sein  Leben  lang  bei  dem  einen 
Thema  der  Abendmahlslehre  stehen.  Für  die  Dialektik,  die  er  so  hoch 
schätzte,  konnte  er  so  nur  die  Bedeutung  gewinnen,  dass  er  auch  seine 
Gegner  teilweise  auf  dieses  Gebiet  bei  der  Behandlung  der  Glaubenslehre 
lenkte  2).  Konsequenz  war  nicht  seine  Sache,  sonst  hätte  er  seiner  kund- 
gegebenen Ueberzeugung  gemäss  alle  Autorität  gänzlich  beseitigen  und 
seinen  Rationalismus  auch  auf  die  übrigen  Glaubensdogmen  ausdehnen 
müssen. 


^)  De  s.  coena  110, 

^)  Vgl.  M,  Grabmann,    Die  Geschichte   der   scholastischen   Methode,   Frei- 
bnrg  1909,  I  222. 


Die  erste  katholiselie  Kritik  an  Kants  Grundlegung- 
zur  Metapliysik  der  Sitten. 

Von  Dr.  theol.  Cl.  Kopp  in  Paderborn. 


Im  Jahre  1785  veröffentlichte  Kant  als  erste  seiner  ethischen  Schriften 
die  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.  Schon  drei  .Jahre  später  er- 
schien von  katholischer  Seile  eine  umfassende,  332  Seiten  fällende  Kritik 
dieser  Grundlegung  aus  der  Feder  Stattlers').  Eine  Antikritik  konnte  auch 
nicht  lange  auf  sich  warten  lassen,  da  man  ohne  Zweifel  noch  nie  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  der  theozentrischen  Moral  so  brüsk  entgegen- 
getreten war.  Denn  die  christliche  Moral,  die  nach  dem  Willen  ihres 
Stifters  nie  ganz  auf  den  „Eudämonismus"  verzichten  kann,  erscheint  Kant 


')  Dr.  Stattler:  Anti-Kant.  2.  Bd.  München  1788.  Anhang  zum  Anti- 
Kant in  einer  Widerlegung  der  Kanlischen  Grundlegung  zur  Metaphysik  der 
Sitten.  —  Stattler,  der  1728  in  Kötzting  im  bayrischen  Walde  zur  Welt  kam, 
trat  1745  in  Landsberg  am  Lech  in  die  Gesellschaft  Jesu  ein.  Schon  bald  nach 
seiner  Priesterweihe  im  Jahre  1759  begann  sein  akademisches  Wirken,  zuerst 
als  Professor  der  Philosophie,  dann  der  Theologie.  Als  1773  der  Jesuitenorden 
aufgehoben  wurde,  blieb  er  allein  von  seinen  Ordensmitgliedern  als  Weltpriester 
an  dei-  Universität  Ingolstadt  im  Amte.  Als  1781  die  dortige  theologische 
Fakultät  mit  Ordensleuten  besetzt  wurde,  erhielt  er  eine  Pfarrei  in  der  Ober- 
pfalz. Da  sein  reger  Geist  aber  mit  seinen  Reformideen  in  der  Gemeinde  kein 
Verständnis  fand,  zog  er  nach  München.  Hier  entfaltete  er,  zuerst  in  gänzlich 
freier  Müsse,  dann  als  geistlicher  Rat  und  Zensurrat  tätig,  eine  sehr  fruchtbare 
literarische  Tätigkeit.  Wegen  seiner  reizbaren  Naturanlage  bat  es  Sl altler  nie 
an  persönlichen  Gegnern  gefehlt.  Weil  aber  sein  Denken  in  Philosophie  und 
Theologie  neue  Bahnen  suchte,  hatte  er  auch  viel  mit  wissenschaftlichen 
Gegnern  zu  kämpfen,  die  den  sensus  catholicus  nicht  immer  rein  in  seinen 
Lehren  wiederfinden  wollten.  Ihrem  Einflüsse  ist  es  zuzuschreiben,  dass  nach 
einem  langen  Für  und  Wider  zwei  seiner  Bücher  —  t)e  locis  theologicis  und 
Demonstratio  cathoUca  —  im  Jahre  1796  indiziert  wurden.  Nur  ein  Jahr  hat 
Stattler  diesen  Schlag  überlebt.  Wie  Sailer  berichtet,  pflegte  er  sich  m.it  den 
Worten  zu  trösten :  „Ich  hoffe,  ich  werde  meinen  Prozess  bei  Gott  besser  aus- 
fechlen,  als  auf  Erden"  (zitiert  bei  G.  Hu  her,  Benedikt  Stattler  und  sein 
Anti-Kant.  Inaugural-Dissertation.  München  1904.  Dieses  ist  die  einzige  neuere 
Schrift,  die  sich  mit  Slattler  beschäftigt.  Sie  berücksichtigt  aber  nur  die  Kritik 
Stattlers  an  Kants  transzendentaler  Aeslhetik  und  Kalegorienlehre). 


[)ie  erste  kalh.  Kiilik  an  Kanls  Giundlegung  ziir  Melapliysik  der  Sitten.     171 

deswegen  „nicht  nur  als  eine  falsche  Theorie,  sondern  als  moralische 
Perversität").  Noch  heute  bilden  recht  häufig  die  Hauptbegriffe,  wie  sie 
Kant  erstmalig  in  der  Grundlegung  ausgearbeitet  hat,  die  unantastbaren 
Dogmen  der  modernen  Ethik.  Seine  praktische  Philosophie  hat  ihn  recht 
eigentlich  zum  „Philosophen  des  Protestantismus"  gemacht.  Deswegen 
muss  es  einen  besonderen  Reiz  gewähren,  den  ersten  Anprall  der  Gegen- 
strömung auf  katholischer  Seite  zu  verfolgen. 

Unsere  Untersuchung  soll  sich  auf  die  leitenden  Gedanken  beschränken. 
Es  sind  die  Grundbegriffe,  die  jedem  auch  bei  der  oberflächlichsten  Be- 
rührung mit  der  Kantschen  Ethik  bekannt  werden.  Autonomie  und  kate- 
gorischer Imperativ  des  Willens,  Vereinigung  von  Freiheit  und  Natur- 
notwendigkeit sind  diese  Angelpunkte  der  Sittenlehre  Kants. 

Der  eine  grosse  Gedanke,  aus  dem  sich  schliesslich  die  ganze  Philo- 
sophie Kants  entwickelte,  hat  auch  auf  diese  Begriffe  geführt.  Denn  das 
war  doch  das  Ziel  Kants :  Sicherheit  vor  dem  Skeptizismus,  streng  not- 
wendige und  allgemeingültige  Grundlagen  für  den  gesamten  menschhchen 
Erkenntnisbau.  Wie  durch  die  synthetischen  Sätze  a  priori  dies  für  die 
theoretische  Philosophie  erreicht  sein  sollte,  so  beginnt  Kant  jetzt,  in  ähn- 
licher Weise  auch  das  Sittengesetz  als  eine  apriorische  Leistung  der  Ver- 
nunft darzutun.  Die  Vernunft  bringt  auch  hier  die  Form  und  damit  die 
Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  von  Haus  aus  mit,  die  Erfahrung 
liefert  auch  hier  nur  den  Stoff. 

Allerdings  stellt  sich  uns  gleich  am  Eingange  der  praktischen  Philo- 
sophie eine  ernste,  prinzipielle  Schwierigkeit  entgegen.  „Denn",  so  fragt 
Stattler  mit  Recht,  „warum  hält  doch  Herr  Kant  dafür,  oder  warum  sollen 
wir  seinen  Grundsätzen  gemäss  dafür  halten,  die  Beurteilungen  unseres 
Verstandes  und  unserer  Vernunft,  welche  im  theoretischen  so  objektiv  leer 
und  allgemein  dialektisch  sind,  so  bald  sie  sich  über  Erfahrung  hinaus- 
wagen, seien  doch  im  praktischen  richtig"  -)  ?  Aber  dieser  grundsätzliche 
Protest  ist  natürlich  nicht  das  Ende  der  Antikritik  Stattlers.  Er  rüttelt 
vielmehr  an  den  Säulen  der  Kantschen  Philosophie.  Denn  man  wird  stets 
das  Dilemma  Kants :  Erfahrung  und  damit  zufäUige  Erkenntnis  —  oder 
Apriorismus  und  damit  notwendige,  aber  phänomenale  Erkenntnis  nicht  für 
zwingend  halten.  Es  bleibt  doch  noch  die  Möglichkeit,  dass  weder  aus 
der  Erfahrung  noch  aus  der  Vernunft  allein  das  Erkennen  fliesst.  Es  können 
doch  beide,  zu  einem  tatkräftigen  Bunde  vereint,  gemeinsam  das  Erkenntnis- 
geschäft betreiben,  so  dass  die  Vernunft  vermöge  ihrer  abstrahierenden 
Tätigkeit  auf  Grund  des  Tatsachenmaterials  aus  der  Erfahrung  dem 
Menschen  eine  allgemeingültige  Erkenntnis  sichert.     Das  hat  auch  Stattler 


»)  Fr.  Paulsen,  J.  Kant  5  822. 
'')  a.  a.  0.  16. 


172  Cl.  Kopp. 

gewusst  untl  auf  die  sitlliclien  Begriffe  angewandt.  Denn,  wie  er  selireibl, 
„allgemein  werden  solche  Begriffe  nicht  weiter,  als  die  Möglichkeit  der 
Bestini nmngen,  welche  sie  enthalten,  sich  auch  auf  die  sittlichen  Hand- 
lungen anderer  Arten  von  vernünftigen  Wesen  erstrecken  kann"').  Mit 
anderen  Worten  :  Die  aus  der  Erfahrung  herausgeschälten  moraUschen  Be- 
griffe sind  dadurch  allgemein,  dass  der  sittliche  Wert  in  allen  Einzel- 
handlungen immer  unverändert  bleiht.  Diese  Möglichkeit  wird  der  strengen 
Forderung  Kants  in  der  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  durchaus 
gerecht,  dass  nämlich  das  sitthche  Gesetz  „nicht  bloss  für  Menschen, 
sondern  für  alle  vernünftigen  Wesen  überhaupt,  nicht  bloss  unter  zufälligen 
Bedingungen  und  Ausnahmen,  sondern  schlechterdings  notwendig  gellen 
müsse"  2). 

Mit  der  Einräumung,  dass  die  sittlichen  Begriffe  unabhängig  von  der 
Vernunft  ihre  Unveränderlichkeit  und  Allgemeingültigkeit  behaupten  können, 
wird  ein  anderer  Nerv  der  Kantschen  Moralphilosophie  blossgelegt.  Denn 
jetzt  tritt  die  Versuchung  an  die  Vernunft  heran,  ihre  stolze  Einsamkeit 
zu  verlassen  und  sich  mit  den  Objekten  in  freundliche  Berührung  zu  setzen. 
Damit  ist  aber  —  im  Kantschen  Sinne  —  die  Gefahr  gegeben,  dass  die 
Objekte  versuchen  werden,  bestimmend  auf  das  sittliche  Handeln  einzu- 
wirken. Und  doch  darf  nicht  der  leiseste  Stoss  von  aussen  an  den  Willen 
herantreten,  wenn  die  Vernunft  nicht  selbst  auf  den  moralischen  Wert 
ihres  Handelns  verzichten  soll.  Wenn  nun  jede  Rücksichtnahme  auf  den 
Inhalt  des  Gewollten  die  sittliche  Tat  trüben  und  fälschen  muss,  so  bleibt 
als  sittlich  berechtigter  Bestimmungsgrund  allein  das  nackte  Vernunftgesetz 
übrig,  das  keinen  andern  Befehl  an  den  W^illen  ergehen  lässt,  als:  Handle 
so,  dass  Du  auch  wollen  kannst,  Deine  Maxime  solle  ein  allgemeines  Gesetz 
werden  3).  Diese  rein  formale  Bestimmung  des  Willens  ist  die  einzigste 
und  oberste  Norm  des  sittlich  Guten  und  Bösen. 

Aber  diese  Entleerung  des  Willens  von  jeder  materiellen  Bestimmung 
hat  sich  nicht  einmal  den  ungeteilten  Beifall  der  Freunde  des  Kantianis- 
nms  erobern  können.  Denn,  so  schreibt  z.  B.  Paulsen  von  der  Lüge :  „Nicht 
darum  ist  Lügen  schlecht,  weil  es  nicht  allgemein  gesetzt  werden  kann, 
ohne  sich  selber  aufzuheben,  sondern  weil  es  ein  wesentliches  Gut,  so  viel 
an  ihm  ist,  zerstört,  nämlich  das  Vertrauen,  das  die  Grundbedingung  aller 
Gemeinschaft  unter  Menschen  ist"  *).  Worin  man  nun  auch  immer  in 
diesen  und  allen  andern  Fällen  den  Grund  der  moralischen  Verwerflich- 
keit finden  mag,  das  betonte  auch  schon  Stattler,  dass  nichts  deswegen 
gut  oder  böse  ist,  weil  es  ein  allgemeines  Gesetz  sein  kann  oder  nicht. 
Nach  ihm  sind  „die  Pflichten  gegen  sich  selbst  vielmehr  deswegen  für  alle 

')  a.  a.  0.  33. 

')  a.  a.  0.  Ausgabe  Vorländer  3  28.     Leipzig  1906. 

»)  Vgl.  Grundlegung  a.  a.  0.  20. 

*)  a.  a.  0.  348. 


Öie  erste  kath.  Kritik  an  Kants  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     173 

Menschen  allgemein,  weil  ihr  Grund  allen  Menschen  samt  dem  Wesen 
gemein  ist^).  Ebenfalls  müssen  auch  die  Pflichten  gegen  andere  „jederzeit 
aus  von  der  Allgemeinheit  selbst  verschiedenen  Gründen  erkannt  werden, 
welche,  so  oft  sie  bei  Menschen  vorhanden  sind,  allgemein  gelten,  eben 
darum,  weil  sie  hinreichend  für  sich  selbst  sind"  2). 

Die  von  dem  Willen  erstrebten  Objekte  entscheiden  also  über  die  sitt- 
hche  Güte  und  Schlechtigkeit  der  Handlung.  Sie  bilden  nach  StatÜer  aber 
auch  weiter  den  Gradmesser  des  Guten  und  Schlechten.  Denn  „je  grösser 
das  wahrhaft  Gute  ist,  das  man  will  und  durch  sein  Wollen  liebt,  je  grosse/ 
ist  die  physische  Güte  desselben  und  folgHch  auch  die  moralische  Güte, 
wenn  man  es  frei  liebt"  3). 

Die  Bestimmung,  so  zu  handeln,  dass  unsere  Tat  zugleich  ein  allge- 
meines Gesetz  sein  könnte,  tritt  nach  Kant  an  den  Menschen  kategorisch 
d.  h.  unbedingt  heran.  Und  zwar  spricht  nicht  ein  fremder  Wille  mil 
dieser  Machtfülle  in  dem  Menschen,  sondern  die  Vernunft  selbst  ist  diese 
—  autonome  —  Herrscherin.  Autonomie  und  kategorischer  Imperativ  sind 
mithin  nach  Kant  unauflösUch  mit  einander  verschwistert.  Das  ist  der 
eigentliche  Kern  der  Kantschen  Moral.  Hier  musste  daher  auch  Stattler 
seine  besten  Waffen  anlegen. 

Wiederum  tritt  er  hier  Kant  zunächst  mit  der  Kr.  d.  r.  V.  in  der  Hand 
entgegen.  Denn,  so  sagt  er,  die  ,, kategorischen  Imperative  sind  lauter  Vor- 
stellungen der  Vernunft;  und  unerachtet  Kant  in  seiner  Kritik  der  reinen 
theoretischen  Vernunft  diese  Vernunft  als  eine  reine  Betrügerin  feierlich 
erklärt  hat,  gründet  er  auf  diese  ihr  bloss  zugedichteten  Imperative  die 
ganze  gesetzliche,  ja  selbst  die  ganze  moralische  Gesetze  gebende  Kraft"*). 

Wenn  Stattler  nun  nach  dieser  grundsätzlichen  Ablehnung  auf  die 
inhaltliche  Würdigung  eingeht,  so  setzt  er  sich  gleich  in  den  denkbar 
schroffsten  Widerspruch  zu  Kant.  Denn,  so  stellt  er  fest,  wenn  der  kate- 
gorische Imperativ  wahrhaft  kategorisch  sein  soll,  wenn  er  die  Imperative 
der  Sinnlichkeit  überwinden  soll,  so  muss  er  einen  unbedingten  Zweck 
haben.  Kein  Philosoph  vermag  nun  aus  seiner  Vernunft  einen  solchen 
Zweck  aufzuweisen,  „sofern  er  nicht  nach  vorausgesetzter  vollkommener 
Gewissheit  vom  Dasein  Gottes  als  moralischen  Gesetzgebers  die  Seligkeit 
eines  künftigen  Lebens  als  den  letzten  Zweck  aller  Moralität  für  ebenso 
gewiss  annimmt,  dem  alle  moralisch  guten  Handlungen  nur  als  Mittel  unter- 
geordnet sind"^).  Wenn  nicht  Gott  uns  diese  ewige  Seligkeit  verbürgt,  so 
lösen  sich  die  kategorischen  Imperative  für  den  Menschen  in  Rauch  auf. 
Denn  „aus  welchem  Grunde  soll  er  für  die  schlaffen  Reize  der  sonst  überall 

')  a.  a.  0.  115. 

•'')  a.  a.  0.  116. 

»)  a.  a.  0.  22  f. 

*)  a.  a.  0.  78. 

*)  a.  a.  0.  81.      - 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  12 


174  Cl.  Kopp. 

nur  täuschenden  Vernunft  so  grosse  Achtung  haben,  sich  für  ihre  schwachen 
und  nur  blendenden  Gesetze  so  viel  interessieren?  Woher  soll  die  herr- 
schende Maxime  in  ihm  entstehen,  all  sein  ihm  offen  stehendes  sinnliches 
Vergnügen  der  Vorliebe  dieses  blossen  und  noch  dazu  schwachleuchtenden 
Ideals  aufzuopfern"^)?  Deswegen  wird  Stattler  auch  nicht  müde,  aut  die 
mächtigen  Motive  des  Christentums  hinzuweisen,  die  allein  jeden  Imperativ 
wahrhaft  kategorisch  machen.  Auf  der  ersten  Stufe  des  sittlichen  Ent- 
wicklungsprozesses, wenn  die  Sinnlichkeit  noch  in  ihrer  ungeschwächten 
Kraft  dasteht,  treibt  die  Hoffnung  auf  Lohn  und  die  Furcht  vor  Strafe 
mächtig  an.  Hat  die  Vernunft  mit  Hilfe  dieser  Bestimmungsgründe  sich 
allmählich  den  Fesseln  der  Sinnlichkeit  entwunden,  hat  sie  die  Befreiung 
und  Befriedigung  des  sittlich-übernatürtichen  Lebens  gekostet,  dann  bilden 
die  Heiligkeit  und  die  Güte  des  Gesetzgebers  und  seines  Gesetzes  die 
edleren,  aber  ebenso  wirksamen  Beweggründe  zur  Erfüllung  des  kate- 
gorischen Imperativs  -). 

Man  sieht,  die  scharfen  Verdikte  Kants  über  das  Ausschielen  der 
Tugend  nach  Belohnung,  über  das  Streben,  die  Tugend  als  Durchgangs- 
punkt zur  eigenen  Glückseligkeit  zu  betrachten,  haben  Stattler  nicht 
erschüttert.  Er  stellt  stolz  der  Autorität  Kants  und  seiner  Anhänger 
die  Autorität  Christi  entgegen  und  fragt:  „Warum  hat  denn  Jesus 
(^Ihristus,  dem  sie  doch  die  erste  moralische  Meisterschaft  anzustreifen 
oder  dessen  Lehrart  mit  offener  Stirne  zu  kritisieren  sich  mitten  unter 
redlichen  Christen  nicht  erfrechen  werden,  warum  hat  er,  sage  ich,  uns 
selbst  dieses  oberste  Prinzip  aller  Moralität  gegeben  :  Liebe  Gott  Deinen 
Herrn  aus  Deinem  ganzen  Herzen  und  mit  aller  Kraft  und  Stärke  Deiner 
Seele ;  Deinen  Mitmenschen  aber  wie  Dich  selbst  ?  Ich  meines  Teils  kenne 
kein  anderes  und  sehe  alle  diejenigen  für  arme  Pfuscher  in  der  Moral  an, 
die  uns  eine  andere  oder  nach  ihrem  Dünkel  erhabenere  Moral,  als  Jesus 
Christus  gelehrt  hat,  lehren  wollen"  2).  Man  muss  es  in  der  Tat  vermissen, 
dass  die  Kanlsche  Ethik  für  das  eigentliche  christliche  Moralprinzip,  die 
Liebe  Gottes,  gar  keinen  Raum  gefunden  hat.  Willmann  hält  den  Nach- 
weis Kants  für  eines  der  stärksten  Stücke  seiner  Philosophie,  „dass  die 
Aufstellung  des  götthchen  Gesetzes  als  Moralprinzip  in  dieselbe  Kategorie 
gehört  wie  das  Lustprinzip  Epikurs"  *).  Und  doch  will  auch  Stattler  nicht, 
wie  wir  hörten,    das  göttliche  Gesetz  mit  schlecht  verhehltem  Widerwillen 

»)  a.  a.  0.  83  f. 

'')  a.  a,  0   94  ff. 

■■»)  a.  a.'O.  86  f. 

■*)  0.  Will  mann,  Geschiclile  des  Idealismus  III,  Braunschweig  1897,  466. 
—  Vgl.  auch  A.  Messer,  Kants  Ethik.  Leipzig  1904.  X.Kapitel:  Das  Verhältnis 
der  Kantschen  Ethik  zum  Eudämonismus,  219  ff.  „Die  Polemik  Kants  trifft 
nur  ein  bestimmtes  materiales  Prinzip,  nämlich  den  eigentlichen  Hedonismus" 
(a.  a.  0.  224). 


Die  erste  kath.  Kritik  an  Kants  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten.     175 

um  eines  Häufleins  Erdenlust  oder  sinnlich  gedachter  Himmelsfreuden  v,  ilien 
erfüllt  haben.  Furcht  und  Hoffnung  dienen  als  Motive  nur  bei  dem  Anfänger 
in  der  schwersten  Kunst,  der  Kunst  der  sitthehen  Lebensvollendung,  um 
den  sitthehen  Imperativ  kategorisch  gegen  den  lebhaft  protestierenden  sinn- 
lichen Menschen  durchzusetzen.  Aber  allmählich  soll  alles  Egoistische  als 
trüber  Satz  zurückbleiben.  Ganz  klar  und  rein  wird  der  Wille.  Er  erfüllt 
das  Gesetz  aus  Liebe  zu  Gott,  um  dafür  eine  Glückseligkeit  einzutauschen, 
die  Gott  selber  ist.  Wenn  eben  das  —  um  mich  noch  einmal  auf  Paulsen 
zu  berufen  ^)  — ,  was  Kant  als  sein  eigentliches  Verdienst  ansieht,  nämlich 
die  Ausstossung  der  teleologischen  Betrachtung  aus  der  Moral,  sein  Grund- 
fehler ist,  dann  konnte  Stattler  keinen  tieferen  und  reineren  Endzweck 
wie  Gott  feststellen. 

Man  sieht,  wie  kategorischer  Imperativ  und  Autonomie  unvermerkt  bei 
Stattler  ineinander  geflossen  sind.  Das  Wesen  des  kategorischen  Imperativs 
hatte  für  ihn  nur  ein  recht  geringes  Interesse,  da  nach  ihm  ohne  Gott 
und  Gottanschauung  Imperative  nicht  mit  verpflichtender  Macht  auftreten 
können.  Deswegen  kennt  er  keine  autonome,  sondern  nur  heteronome 
kategorische  Imperative.  Wenn  er  deswegen  auch  schon  hier  vornehmlich 
gegen  Kants  Autonomie  focht,  so  hat  er  damit  diesen  Kampf  doch  noch 
nicht  zu  Ende  gekämpft.  Da  Stattler  mit  aller  Energie  Gott  in  den  Mittel- 
punkt der  Moral  rückt,  empfindet  er  auch  die  Selbstgesetzgebung  des 
Menschen  als  nichtig,  fast  als  lächerlich.  Zwar  war  ja  bekanntlich  Kant 
durch  seine  praktische  Philosophie  auch  zu  Gott  emporgestiegen.  Aber  er 
ist  bei  ihm  ein  vager  Begriff,  ein  blutleeres  Gebilde  geblieben.  Kant  ist 
beinahe  ängstUch,  dass  Gott  nun  mit  seiner  Würde  Ernst  machen  und  die 
Autonomie  des  Menschen  zertrümmern  könnte.  Deswegen  schreibt  er- 
„Mag  das  höchste  Gut  immer  der  ganze  Gegenstand  einer  reinen  praktischen 
Vernunft,  d.  i.  eines  reinen  Willens  sein,  so  ist  es  doch  darum  noch  nicht 
für  den  Bestimmungsgrund  desselben  zu  halten"  2).  Das  vermag  eben 
Stattler  nicht  zu  begreifen,  dass  ein  Gott  da  ist  und  doch  der  Mensch  ihn 
als  Bestimmungsgrund  nicht  gelten  lassen  darf,  ohne  untersittlich  zu 
handeln.  Immer  wieder  stellt  er,  in  oft  ausfallender  und  erregter  Sprache, 
als  oberstes  Moralprinzip  den  Satz  auf:  Liebe  Gott  über  alles,  ein  Satz, 
der  „nicht  Autonomie,  sondern  Heteronomie  des  Willens  zum  ersten  Grund 
der  Sittlichkeit  aufstellt"  3).  Nur  dadurch,  dass  der  Mensch  sich  diesem 
von  Gott  selbst  gegebenen  Gesetze  unterwirft,  gelangt  er  zur  zeithchen  und 
ewigen  Glückseligkeit.  Denn  auch  das  betont  Stattler  immer  wieder  —  fast 
möchte  man  meinen  Kant  zum  Trotze  —,  dass  die  Tugend  Glückseligkeit 
als  Zweck  hat,  eine  Glückseligkeit  freilich,  die  letzten  Endes  in  der  Ver- 
einigung mit  dem  persönlichen  Sittengesetze,  Gott,  besteht.    Das  Gegenteil 

')  a.  a.  0.  344. 

^  Kr.  d.  pr.  V.    Ansg.  Vorländer  5,    Leipzig  1906,  141. 


*)  a.  a.  0.  220. 


12* 


176  Cl.  Kopp. 

ist  ihm,  wie  er  es  nennt,  „spitzfindiger  Stolz"  ^).  Und,  wie  er  weiter 
schreibt :  „Die  Weisheit  und  Güte  Gottes  selbst  kann  nur  deswegen  Tugend 
vom  Menschen  fordern,  weil  sie  will,  dass  er  selig  werde:  das  nur  durch 
Tugend  möglich  ist"'-').  Dadurch  werden  nach  der  Ausdrucksweise  Kants 
natürlich  sämtliche  Imperative  Stattlers  hypothetisch,  da  sie  nur  Mittel  zum 
Zweck  sind.  Aber  Stattler  bestreitet  eben  mit  aller  Macht,  dass  die  auto- 
nome Vernunft  sich  wahrhaft  kategorische  Imperative  geben  könne,  denn 
er  fragt  von  diesem  Gesetze  der  Vernunft:  „woher  es  die  kategorische 
Kraft  seines  Aufgebots  des  Willens  zu  so  einer  durchgängigen  Unterwerfung 
hernehme,  wenn  in  seiner  Vorstellung  nichts  von  einem  wirkUch  gewiss 
existierenden  Gott  als  Gesetzgeber  vorkommt"  2). 

So  kann  denn  der  Mensch  nach  Stattler  in  der  Moral  ohne  Gott  nur 
kraftlose  Idole  aufstellen.  Aber  selbst  wenn  die  Kantsche  Ethik  ein  Ideal 
wäre,  so  bliebe  es  ein  unerreichbares.  Denn  eine  Moral  ist  nur  möglich, 
wenn  es  eine  Willensfreiheit  gibt.  Und  dass  die  Freiheit  des  Willens,  wie 
sie  Kant  gelten  lassen  und  beweisen  will,  nur  eine  Scheinfreiheit  ist,  sucht 
Stattler  zum  Schluss  seiner  Kritik  darzutun.  Nach  Kant  sind  Autonomie 
und  Willensfreiheit  Wechselbegriffe.  Du  kannst,  denn  du  sollst,  ist  die 
knappe  Formel,  die  von  ihm  selbst  stammt.  Schon  in  den  Antinomien 
hatte  er  eine  Kausalität  aus  Freiheit  der  Naturkausalität  gegenüber  gestellt. 
Auch  in  der  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  findet  Kant  die  Lösung 
in  ähnlicher  Weise  in  der  Unterscheidung  von  Erscheinung  und  Ding  an 
sich,  von  Sinneswelt  und  einer  intelligiblen  Welt.  Dort  herrscht  die  Not- 
wendigkeit, hier  wirkt  die  Freiheit.  Freihch  denken  sich  die  Menschen 
nur  willensfrei,  oder,  wie  er  selbst  schreibt :  „Der  Begriff  einer  Verstandes- 
welt ist  —  nur  ein  Standpunkt,  den  die  Vernunft  sich  genötigt  sieht,  ausser 
den  Erscheinungen  zu  nehmen,  um  sich  selbst  als  praktisch  zu  denken; 
welches,  wenn  die  Einflüsse  der  Sinnlichkeit  für  den  Menschen  bestimmend 
wären,  nicht  möglich  sein  würde"  *).  Die  Freiheit  ist  also  kein  Erfahrungs- 
begriff,  sondern  nur  ein  Postulat,  eine  Idee. 

Ist  es  aber  möglich,  dass  ein  und  derselbe  Mensch  als  Sinnenwesen 
unter  der  Naturkausalität  steht,  als  Vernunftwesen  aber  Freiheit  besitzt? 
ist  es  weiter  denkbar,  dass  der  Freiheitsgedanke  nur  eine  notwendige  Idee 
ist?  Diese  Fragen  drängten  sich  in  aller  Schärfe  schon  Stattler  auf.  Er 
wendet  sich  lebhaft  gegen  die  Möglichkeit,  dass  der  Mensch  frei  ist  als 
Intelligenz,  der  Notwendigkeit  aber  als  Glied  der  Sinnenwelt  unterworfen 
bleibt.  ,,Wenn  dem  also  wäre",  so  sagt  er,  „so  hätte  es  nicht  nur  den 
Schein   eines  Widerspruchs,    sondern    der  Widerspruch    stünde    gewiss    in 


')  a.  a.  0.  186. 
^.)  a.  a.  0.  186. 
=»J  a.  a.  0.  139. 
*)  Grundlegung  a.  a.  0.  88  f. 


Die  erste  kath.  Kritik  nn  Kants  Grundlegung  zur  Metaphysik  Her  Sitten.     17V 

voller  Evidenz  vor  Augen.  Denn  Notwendigkeit,  so  zu  handeln,  ist  Mangel 
alles  gleichzeitigen  Vermögens,  nicht  so  zu  handeln,  und  Freiheit,  so  zu 
handeln,  ist  gleichzeitiges  Vermögen,  nicht  so  zu  handeln"  ^).  Auf  welche 
Seite  wird  sich  nun  die  Vernunft  schlagen,  da  sie  Freiheit  und  Notwendig- 
keit unmöghch  hei  derselben  Handlung  annehmen  kann?  „Sie  wird",  so 
meint  Stattler,  „viel  eher  den  Begriff  der  Freiheit  als  ganz  leer  ansehen, 
weil  sie  doch  von  dem  Begriffe  der  Naturnotwendigkeit  in  der  Erfahrung 
Bestätigung  findet;  von  blossen  Vernunftideen  aber  schon  aus  der  Kritik 
des  Herrn  Kant  gelernt  hat,  dass  sie  nur  dialektische,  von  keinem  konsti- 
tutivem, sondern  nur  regulativem  Gebrauche  sind"  2).  Und  welche  weitere 
Folge  muss  der  ehrliche  Menschengeist  nun  ziehen?  „Ist  ohne  Freiheit 
kein  Moralgesetz  möglich,  so  ist  offenbar,  wenn  die  Freiheit  eine  proble- 
matische Idee  ist,  auch  das  Moralgesetz  eine  bloss  problematische  Idee. 
Und  dann  gute  Nacht  der  moralischen  Gesinnung  und  allem  frommen 
Glauben  an  Gott"  3), 

Das  wäre  allerdings  nur  in  grossen  Zügen  die  Antikritik  Stattlers.  So 
zeigt  sie  aber  ihre  freundUchsten  und  lichtvollsten  Seiten.  Denn  sie  krankt 
daran,  dass  sie  der  Kantschen  Schrift  fast  Satz  für  Satz  folgt.  Das  bringt 
etwas  Beklemmendes  und  Mühsames  in  seine  Schrift  hinein,  das  hat  auch 
zu  zahlreichen  Wiederholungen  geführt.  Die  entscheidenden  Punkte  sind 
oft  von  vielem  Nebensächlichem  überwuchert,  so  dass  man  häufig  manches 
störende  Rankengestrüpp  wegreissen  muss.  Der  scharfe  Gegensatz  zu  Kant 
hat  ihn  dazu  geführt,  zu  schroff  und  zu  einseitig  die  Glückseligkeit  als 
christliches  Moralprinzip  aufzustellen.  Auch  der  ganze  Ton,  auf  den  seine 
Kritik  gestimmt  ist,  klingt  uns,  die  wir  schon  infolge  des  zeitlichen  Ab- 
standes  der  Philosophie  Kants  leidenschaftsloser  gegenüberstehen,  zu  ver- 
letzend. Aber  das  grosse  Verdienst  bleibt  Stattler,  dass  er  nicht  gleich 
manchem  katholischen  Theologen  der  Aufklärungszeit  Kant  sein  Hosianna 
zugerufen  hat,  dass  er  vielmehr  als  erster  katholischer  Theologe  umfassend 
die  Kantschen  Moralprinzipien  bekämpft  hat  und  kräftig  für  den  Gedanken 
eingetreten  ist,  dass  der  persönliche  Gott  auch  der  Gott  der  Moral  war, 
ist  und  bleiben  wird. 


1)  a.  a.  0.  291. 
')  a.  a.  0.  296. 
*)  a.  a.  0.  29.5. 


Rezensionen  nnd  Referate. 


Erkenntnistheorie. 

Die  Realität  der  Anssenwelt.  Mit  einem  Beitrag  zur  Theorie 
der  Gesichtsvvahrnehmung.  Erkenntnistheoretische  und  psycho- 
logische Untersuchungen.  Von  Dr.  phil.  Heinrich  Ostler. 
Paderborn  1912,  Ferdinand  Schöningh.    8«.    XII  u.  444  S.  AS. 

Der  Gesenstand  des  vorliegenden  Werkes  —  die  Frage  nach  der 
Existenz  und  Erkennbarkeit  der  Aussenwelt  —  gilt  in  weiten  Kreisen  als 
das  Hauptproblem,  wenn  nicht  gar  als  das  einzige  Thema  der  Erkenntnis- 
kritik. 

In  origineller  Weise  sucht  nun  Ostler  dieses  Problem  zu  lösen,  indem 
er  sich  besonders  auf  die  Ergebnisse  der  modernen  Physiologie  und  Psycho- 
logie der  Sinnesfunktionen  stützt.  Die  sachkundige  Orientierung  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  psychologischen  Forschung  inbetreff  der  ein- 
schlägigen Fragen  gehört  unstreitig  zu  dem  Besten,  das  dieses  mit  vielem 
Fleiss  und  liebevoller  Hingebung  geschriebene  Werk  bietet. 

Vom  erkenntuisthecretischen  Standpunkt  aus  erheben  sich  freilich  der 
von  Ostler  gebotenen  Behandlung  des  Realitätsproblems  gegenüber  einige 
gewichtige  Bedenken:  Die  Einengung  des  Begriffs  „Realität"  auf  die  .Aussen- 
realität"  (7;  vgl.  indes  185)  lässt  von  vorneherein  eine  methodische,  all- 
seits befriedigende  Lösung  des  Problems  nicht  zu.  Das  Erkenntnissubjekt 
mit  seinen  Anlagen  wird  ja  als  gegeben  angenommen.  Die  Lösung  bewegt 
sich  deshalb  sozusagen  auf  der  Peripherie,  während  unseres  Erachtens  eine 
prinzipielle  Betrachtung  auf  einer  mit  sorgfältiger  Kritik  durchgeführten 
Scheidung  des  Subjektiven  vom  Objektiven  im  Erfahrungsbereiche  beruhen 
müsste.  Die  Realität  der  Aussenwelt  würde  dabei  viel  von  ihrem  proble- 
matischen Charakter  verlieren.  Erst  wenn  von  selten  der  Erkenntniskritik 
diese  Scheidung  gerechtfertigt  ist,  und  wenn  man  sich  auf  diesem  W^ege 
über  die  Bedeutung  der  Sinnesempfindung  für  die  Erkenntnis  ein  ab- 
schliessendes Urteil  gebildet  hat,  —  also  erst  nach  der  grundsätzlichen 
Lösung  des  Realitätsproblems  —  haben  die  lehrreichen  psychologischen 
Ausführungen  des  Verfassers  für  die  Entscheidung  realistischer  Spezial- 
probleme  ihren  Wert.  • 


H.  Ostler,  Die  Realität  der  Anssenwelt.  179 


Die  Charakteristik  des  „naiven  Realismus"  ist  anregend  und  im  allge- 
meinen zutreffend.  Bemerkenswert  ist  auch  die  gründliche,  die  Aus- 
führungen des  Gegners  sorgfältig  zergliedernde  Kritik,  die  Ostler  dem 
Standpunkt  Ed.  v.  Hartmanns  widmet :  E.  v.  Hartmanns  Widerlegung  des 
Idealismus  wird  als  inkonsequent  und  unzulänglich  zurückgewiesen. 

Der  Verfasser  steht  überhaupt  dem  transzendentalen  Realismus 
ablehnend  gegenüber.  Neuscholastische  Vertreter  dieser  Richtung  werden 
einer  eingehenden  Kritik  unterzogen,  in  der  sich  viel  Beachtenswertes  findet. 

Ostler  selbst  vertritt  den  sogenannten  „direkten"  Realismus,  der  auf 
der  These  (138)  fusst,  dass  „unser  Wahrnehmungsbild  .  .  .  selbst  etwas 
Physisches"  sei.  Es  ist  also  ein  ,, kritischer  Realismus  der  direkten  Wahr- 
nehmung". Aber  wird  damit  das  eigentliche  Problem  nicht  gewaltsam  aus 
der  Welt  geschafft  ? 

Auf  Widerspruch  dürfte  der  Verfasser  auch  mit  seiner  eigenartigen 
Auffassung  stossen,  wonach  die  „Gefühlswrahrnehmungen"  (Haut-,  Muskel-, 
Sehnen-  und  Gelenkempfindungen  sowie  Organempfindungen)  „als  zum  Ich 
gehörig  (im  Gegensatz  zu  den  Gesichtsempfindungen)  unmittelbar  gegeben" 
seien  (vgl.  232). 

Wie  denkt  sich  ferner  Ostler  die  „Gewalt  der  Psyche",  mit  der  sie 
„das  von  den  physischen  Elementen  dargebotene  Material  sozusagen  zu  jeder 
behebigen  Flächengrösse  auswalzen"  kann  (vgl.  346)'?  Und  vfie  verträgt 
sich  diese  Annahme  mit  seiner  „direkt  realistischen"  Ansicht  ? 

Ostler  beschliesst  seine  Ausführung  mit  der  seine  Ansicht  kurz  zu- 
sammenfassenden These  (433):  ,,Wir  sind  einer  Aussenwelt  unmittel- 
bar gewiss,  aber  der  Aussenwelt,  d.h.  dessen,  was  wir  gewöhnhch 
unter  Aussenwelt  verstehen,  werden  wir  erst  durch  Kausalitätsschluss 
mächtig".  Ausdrücklich  bemerkt  er,  dass  er  damit  eine  MittelsteUung  ein- 
nehmen will  zwischen  Idealismus  und  transzendentalem  ReaUsmus  einer- 
seits und  dem^  naiven  Realismus  andererseits. 

Obwohl  wir  die  von  Ostler  gebotene  Lösung  nicht  für  eine  durchweg 
einwandfreie  halten,  können  wir  das  Studium  seines  Werkes  zur  Einführung 
in  das  Reahtätsproblem  doch  warm  empfehlen. 

Braunsberg  (Ostpr.).  Prof.  Dr.  W.  Switalski. 


J)e  qualitatibus  seiisibilibus  et  in  specie  de  coloribus  et  sonis 
auetore  Huberto  Gründer  S.  J.  Fribiirgi  Brisgoviae  1911, 
Herder,  gr.  8  XII,  100.  M  2.40;  geb.  A  3.20. 

Seit  Erscheinen  dieses  Büchleins  ist  manches  wiederum  über  das 
Thema  desselben  geschrieben  worden ;  auch  das  Philosophische  Jahrbuch 
hat  sich  unlängst  (1912,  S.  151  ff.  ;  1913,  S.  44  ff)  neuerdings  mit  der 
Frage  um  die  Sinnesqualitäten  beschäftigt.      So   finden  wir    es   nicht   not- 


180  I'-  Bernhard. 

wendig,  das  Büchlein  P.  Gründers  eingehender  zu  besprechen;  denn  es 
bringt  sachlich  nichts  Neues.  Es  ist  vielmehr  dazu  bestimmt,  die  für  die 
virtuelle  Objektivität  der  Sinnesqu^litäten  herkömmlichen  Beweise  und  die 
Gegenbeweise  in  klarer  Form  einem  Leser  darzulegen,  der  die  Frage  zum 
erstenmal  etwas  eingehender,  nach  streng  scholastischer  Methode  zu 
studieren  wünscht. 

Wir  finden  die  Untersuchung  von  erkenntnistheoretischer  Seite,  .sowohl 
in  diesem  Büchlein,  wie  auch  überhaupt,  bisher   leider   noch   immer   nicht 
tiefgehend  genug.     Dies  wird  unseres  Erachtens  dann  erst    erfolgen,   wenn 
vor  allem  die  komplexe  Fragestellung  genauer  zergliedert  und  von  Schritt 
zu  Schritt  beantwortet  wird.     Die  diesbezüghchen  Vorschläge    von  Feuling 
in  diesem  Jahrbuche   (1912,  S.  151 — 170)   sind   nur   warm    zu  begrüssen. 
Sodann  ist  es  aber  sehr  wünschenswert,   dass  die   in   der  Behandlung   des 
Problems  vorkommenden  Ausdrücke  und  damit  bezeichneten  Begriffe   (wie 
Erkenntnis,   Wahrheit,    objektivgültiger  Inhalt,   Uebereinstimmungsverhältnis 
zwischen   Erkenntnisinhalt  und   Erkenntnisobjekt  usw.)   nicht  je   nach   der 
eigenen  Ansicht  angepassten  Deutung  enger  oder  weiter  gebraucht,  sondern 
methodisch  diskutiert   werden,    um    die    richtige    Schärfe,    beziehungsweise 
nötige    Korrektur   zu   erhalten.      Dann   würden    vielleicht   manche    Voraus- 
setzungen und  Verallgemeinerungen  aufgegeben.     So  z.  B.  hängt  von   der 
Weite  meines  Erkenntnisbegriffes  ab,    ob  ich   gewisse  Sinnesemptindungen, 
sagen   wir    eine   Tastempfindung,    VVärmeempfindung  oder   vielleicht    noch 
eine    Geruchsempfindung,    mit  dem   Prädikate    Erkenntnis    benennen   darf: 
ebenso  ist  es  nicht  apriori  eine  ausgemachte  Sache,  eine  wie  weitgehende 
üebereinstimmung  von  Erkenntnis  und  transzendentem  Objekt  zur  Wahrheit 
der  Erkenntnis  gefordert  werden  müsse.     Denn  auch  auf  dem  intellektuellen 
Gebiete   wird   ein   analoger  Begriff  nicht  in   gleicher    Weise   ein    ,überein- 
stimmendes   Abbild'   des  Gegenstandes   sein,   wie   ein   conceptus   proprius, 
und  folglich  wird  auch  das  Urteil,   dem  solche  Begriffe   zu  Grunde   liegen, 
nicht   in   derselben  Weise   die  Üebereinstimmung   zum   Ausdruck   bringen, 
als  ein  anderes,  und  doch  wird  seine  Wahrheit  nicht  angezweifelt. 

Diese  kurzen  Bemerkungen  sollen  darauf  hinweisen,  dass  man  in  der 
vorliegenden  erkenntnistheoretischen  Frage  die  Erfahrungstatsachen  nicht 
nur  die  PioUe  von  Einwänden  spielen  lassen,  sondern  sie  zu  der  positiven 
Arbeit  einer  präzisereu  Ausbildung  der  Grundbegriffe  der  Erkenntnistheorie 
benützen  soll.  B. 


Die  itjesichtswahrnelimuiig*  nach  ihren  psycho  -  physischen 
Bestandteilen.    Von  Profes.sor  Peter  Vogt  S.  J.  (Sammlung 
,,Natur  und  Kultur'\  Nr.  2.)  München,  Isaria- Verlag.    Jio  1. 
Das  klar  und  interessant  geschriebene  Heft  sucht  die  Projektionstheorie 

zu  verteidigen.    Der  Auktor  verheimlicht  zwar  die  vielfachen  Schwierigkeiten 


V.  Vonf,  [»le  (ip?ichls\vahni<4iiiimig  nach  ihr.  i)sycho-[)hys.  Bestanflteilen.     ISl 

dieser  Hypothese  nicht,  doch  kommt  er  zu  einem  P>gebnis,  das  wir  leider 
nicht  teilen  können.  Er  meint  nämlich,  „dass  der  Auffassung,  das  Auge 
nach  seiner  physikalischen  Seite  nicht  bloss  als  Photographie-,  sondern 
auch  als  Projektionsapparat  zu  betrachten,  keine  ernste  Schwierigkeit  im 
Wege  steht."  Doch  fehlt  die  Hauptsache  bei  diesem  Apparat:  die  ent- 
sprechende Lichtquelle.  Der  Versuch,  diese  Rolle  den  Stäbchen  der 
Netzhaut  zuzuteilen,  erscheint  minder  glücklich;  denn  abgesehen  von 
manchen  physikalischen  und  geometrischen  Schwierigkeiten,  halten  wir  es 
für  gar  nicht  wahrscheinlich,  dass  die  zarten  Stäbchen  für  so  gewaltige 
Lichteffekte  gewachsen  sein  sollen,  wie  es  z.  B.  die  intensiv  helle  Beleuchtung 
eines  weiten  Sehfeldes  bei  einem  Spaziergange  an  einem  Sommertage 
fordern  würde. 

Auch  für  die  Erklärung  der  Gesichtswahrnehmung  bringt  die  Projektions- 
theorie keinen  Vorteil.  Es  bleibt  die  ganze  psychologische  und  erkenntnis- 
theoretische Frage  noch  offen  :  wie  entsteht  der  psychische  Akt  und  was 
drückt  er  als  unmittelbares  transzendentes  Objekt  aus?  Sehe  ich  das 
projizierte  Bild,  und  zwar  dort,  wohin  es  projiziert  wurde,  so  muss  das 
Bild  die  Lichtstrahlen  in  mein  Auge  zurücksenden ;  dies  muss  sie  wiederum 
projizieren  usw. ;  entsteht  aber  der  psychische  Akt  vor  dem  Projektions- 
bild, dann  ist  dieses  für  das  Sehen  bedeutungslos  und  überflüssig.  Die 
Hypothese,  „dass  der  Mensch  mit  den  von  seinem  eigenen  belebten  Organ 
ausgehenden  Strahlen  in  ihren  Endpunkten  in  und  durch  das  mittels  der 
Strahlen  hervorgebrachte  Bild  den  wirklichen  Gegenstand  berührt  und 
erfasst"  (66),  beruht  auf  einem  weni'^  glücklichen  Vergleich.  Die  Hand 
vermag  zwar  mittelst  eines  Stäbchens  den  äusseren  Gegenstand  abzutasten, 
aber  das  Abtasten  mit  dem  Stäbchen  ist  nur  deswegen  möglich,  weil  dieses 
starr  ist  und  deswegen  als  Ganzes  der  Führung  der  Hand  folgt.  Das  Auge 
hat  aber  auf  den  ausgetretenen  Strahl  keinen  Einfluss  mehr  und  kann 
wegen  des  ganz  unstarren  Zusammenhanges  keinen  Rückeinfluss  vom 
Strahl  empfangen.  B. 


Erkenntnistheorie  und  Naturwissenschaft. 

Erkeuntiiistlieoiie  uikI  Naturwissenschaft.    Vortrag,   gehalten 
am  19.  September  1910   auf  der   82.  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  und  Aerzte  in  Königsberg  von  0.  Külpe.   Leipzig, 
Hirzel.     47  S. 
Nach  einleitenden  Bemerkungen  über  die  Annäherung  von  Naturwissen- 
schaft und  Philosophie,  speziell  auch  der  Psychologie,  und  unter  speziellem 
Hinweis  auf  Kants  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft  hebt  Külpe  zwei  Auf- 
gaben heraus,  die  Kant  nicht  erffillte,   die  systematische  Herauslösung  der 
unentbehrlichen  Voraussetzungen  aus  der  Wissenschaft,  in  der  sie  wirksam 


182  C.  Gutberlel. 

sind,  and  die  Ausdehnung  der  transzendentalen  Methode  auf  die  empirischen 
Wissenschaften.  Külpe  will  aus  den  erkenntnistheoretischen  Aufgaben,  vor 
welche  die  modernen  Krfahrungswissenschaften  den  Philosophen  stellen, 
besonders  das  Problem  der  Realität  herausgreifen.  Er  formuliert  es 
in  vier  Fragen:  1.  Ist  eine  Setzung  von  Realem  zulässig?  hier  weist  er 
den  Konszientialismus  zurück.  2.  Wie  ist  die  Setzung  von  Realem  möglich  V 
3.  Ist  eine  Bestimmung  von  Realem  zulässig'?  4.  Wie  ist  eine  Bestimmung 
von  Realem  möglich?  Der  Vf.  behandelt  die  in  Frage  2  und  4  bezeichneten 
Aufgaben  näher.  Er  lehnt  Phänomenalismus  und  Konszientialismus  mit 
überzeugenden,  wenn  auch  nicht  immer  leicht  verständlichen  Gründen  ab 
und  tritt  für  einen  kritischen  Realismus  ein.  Kurz  und  treffend  fassl 
Külpe  die  Beziehung  von  Naturwissenschaft  und  Erkenntnistheorie  so: 
„Dort  (beim  Naturforscher)  ist  die  Natur  der  Gegenstand,  hier  (beim 
Erkenntnistheoretiker)  die  Wissenschaft  von  ihr;  Erkenntnis  wird  dort  ge- 
schaffen, hier  bloss  begriffen".  Anmerkungen  bilden  den  Schluss  des  Vor- 
trages. Möge  der  Verf.  seinen  kritischen  Realismus,  mit  dem  er  gegenüber 
Phänomenalismus  und  Konszientialismus  im  Rechte  ist,  bald  eingehend 
begründet  in  einem  grösseren  Werke')  darlegen. 

Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  StöJzle. 


Metaphysik. 

Vom  Zuge  der  Menschheit.  I.  Teil :  Die  logische  Konstruktion 
des  Hauptproblems  der  3Ietaphysik.  Von  Fr.  Fidler. 
Hamburg  1912,  Bahren. 

Ein  äusserst  interessantes  Buch.  In  temperamentvoller  Sprache  bietet 
es  manche  treffliche  Gedanken,  verfolgt  auch  einen  sehr  löblichen  Zweck: 
es  sucht  der  äussersten  geistigen  Not  unserer  Zeit  zu  steuern,  indem  es  der 
theistischen  Weltanschauung  zum  Siege  verhelfen  will. 

Der  Titel  ist  etwas  rätselhaft  und  lässt  den  reichen  Inhalt  nicht  er- 
kennen.    Er  wird  vom  V{.  eigens  erklärt : 

„Man  kann  den  Gang  der  Menschheit  durch  die  Weltgeschichte  treffend 
mit  einem  gewaltigen  Heereszuge  vergleichen,  einem  Heereszuge,  in  welchem 
Truppenkörper  aller  Gattungen  und  Individuen  der  verschiedensten  Rang- 
klassen vereinigt  sind  .  .  .  Die  Strecke,  die  jeder  einzelne  zurückzulegen 
hat,  ist  sein  Lebensweg ;  der  Erfolg  dieser  Summe  vereinter  Anstrengungen 
aber  ist  das  Fortkommen  der  Gesamtheit,  der  .Fortschritt'  .  .  ."  „Dem 
Zuge  voran  leuchtet  gleichsam  die  weisse  Fahne  des  obersten  allumfassenden 
Menschheitsideals,  das  Banner  der  allgemeinen  Menschheitshoffnung  .  .  . 
Nun  ist  es  klar,  dass  der  Heereszug  der  Menschheit  der  weissen  Fahne 
nur   so   lange   unbedingte   und   freudige  Gefolgschaft  leisten  wird,    als    die 

^))  Der  erste  Band  dieses  Werkes:  „Realisierung"  belilell,  ist  vor  kurzem 
erschienen.    Eine  Analyse  desselben  behalten  wir  uns  vor. 


Fr.  Fidler,  Vom  Zuge  Her  Menschheit.  183 

einzelnen  Glieder  wirklich  fest  überzeugt  sind,  dass  der  Weg,  den  die 
weisse  Fahne  führt,  der  einzig  richtige  ist  .  .  .  Unsere  Zeit  ist  nun  offen- 
kundig eine  Zeit  der  fortschreitenden  Entwertung  und  des  Verblassens  der 
Ideale.  Die  seelische  Fahnenflucht  ist  heute  stärker  verbreitet  denn  je, 
und  die  verheerenden  Wirkungen  dieser  innerlichen  Massendesertionen 
machen  sich  mit  jedem  Tage  furchtbarer  bemerkbar.  Unsere  Gegenwart 
ist  stigmatisiert  durch  den  Abfall  vom  Ideal.  Das  .seelische  Band  freudiger 
Zuversicht,  das  den  einzelnen  an  seine  Fahne  knüpfte,  ist  schlaff  geworden, 
und  die  soziale  Ordnung  wird  weit  weniger  durch  die  neue  Macht  der 
Ueberzeugung  als  durch  die  äusseren  Machtmittel  der  Staatsgewalt  und 
durch  den  Zwang  der  äusseren  Not  des  einzelnen  aufrecht  erhalten  .  .  . 
Wie  weit  aber  dieser  geistige  Zersetzungsprozess  schon  fortgeschritten  ist, 
.  .  .  wie  viele  nur  gezwungen  innerlich  seufzen  und  ihr  Missgeschick  ver- 
wünschen —  diese  Frage  möge  sich  jeder  in  der  Stille  seines  Herzens 
selbst  beantworten". 

„Die  Welt  ist  gemütskrank :  das  ist  die  ganze  Diagnose.  Und  warum 
ist  sie  gemütskrank?  Weil  uns  eine  einheitliche  gemeinsame  Grundüber- 
zeugung fehlt,  in  deren  Anerkennung  wir  uns  alle  sicher  und  einig  wüssten. 
Aber  wir  sind  gleichsam  nicht  mehr  eine  geschlossene  Phalanx,  geschart 
um  die  heilige  Fahne  eines  gemeinsamen  Ideals,  durchweht  von  einem 
Geiste,  beseelt  von  einem  Mute  und  entschlossen,  in  unbeirrbarer  gemein- 
samer Anstrengung  einem  gemeinsamen  grossen  Ziele  zuzustreben  .  .  .  Wir 
sind  den  Galeerensklaven  vergleichbar,  die  ihr  Gescliick  zufällig  an  die- 
selbe Galeere  schmiedete". 

„Jenes  allumfassende  Band  geistiger  Gemeinschaft,  das  in  vergangenen 
Tagen  gewaltige  Gruppen  der  Menschheit  zur  seelischen  Einheit  verband, 
war  einst  die  Religion,  die  —  wie  schon  ihr  Name  besagt^ —  unser  aller 
Herzen  an  ein  gemeinsames  höchstes  Ideal,  an  eine  gemeinsame  grosse 
Hoffnung  knüpfte  —  ähnlich  wie  ein  geheimnisvolles  seelisches  Band  den 
Soldaten  an  seine  Fahne  bindet.  Dieses  Band  ist  heute  bei  Tausenden 
zerrissen,  bei  Millionen  gelockert  .  .  .  Religion  war  einst  der  Nerv  unserer 
seelischen  Einmütigkeit  und  eben  dadurch  der  Lebensnerv  unserer  inneren 
Kraft;  dieser  Nerv  i.st  heute  durchschnitten,  und  damit  ist  unsere  beste 
Kraft  gelähmt.  Aus  dieser  Lockerung  des  seelischen  Menschheitsverbandes 
ergibt  sich  aber  von  selbst  die  fortschreitende  Zersphtterung,  wieder  unsere 
Schwäche.  Das  also  ist  die  eigentliche  Grundursache  unseres  Tastens  und 
Suchens,  unseres  inneren  Unbehagens,  unserer  Unsicherheit  und  Ohnmacht  : 
uns  fehlt  die  Religion". 

„Der  Heereszug  der  Menschheit  ist  ins  Stocken  geraten  .  .  Alle  inneren 
Bande  der  Ordnung  sind  gelockert,  und  es  ist  klar,  dass  dieser  Zersetzungs- 
prozess, wenn  durch  entsprechend  lange  Zeit  fortgesetzt,  schliesshch  doch* 
trotz  aller  äusseren  Machtmittel  mit  der  allgemeinen  Auflösung  der  ganzen 
Ordnung  enden  müsste". 


Ifi4  C.  (iutbprlnl. 

„Aber  welche  geistige  Macht  hat  uns  an  den  kritischen  Punkt  heran- 
geführt, v/o  der  Zug  der  Menschheit  mehr  und  mehr  ins  Stocken  geriet? 
Zweifelsohne  d  i  e  Wissenschaft".  Darum  kann  auch  nur  die  Wissenschaft 
Hilfe  schaffen.  „An  ihr  ist  es  jetzt,  die  Führung  des  Zuges  der  Mensch- 
heit, die  bisher  von  der  Dogmatik  besorgt  wurde,  zu  übernehmen".  Diese 
Wissenschaft  kann  nur  die  Metaphysik  sein;  es  handelt  sich  um  „das 
zentrale  Hauptproblem  der  Metaphysik —  nämlich  die  grosse  Frage  nach 
dem  Dasein  oder  Nichtsein  Gottes  —  sie  ist  offenkundig  wirklich  das  höchste 
und  wichtigste  Menschheitsproblem,  die  , Frage  aller  Fragen',  , Problem  der 
Probleme',  sie  ist  das  Zentralproblem  aller  Wissenschaft  und  aller  mensch- 
licher Erkenntnis  überhaupt". 

Dagegen  „ist  es  —  um  das  Kind  einmal  beim  richtigen  Namen  zu 
nennen  —  eine  Narrheit  erster  Klasse,  mit  den  Mitteln  der  Naturwissen- 
schaft, mit  Fernrohr,  Mikroskop,  chemischer  Formel  usw.  die  Pforten  der 
Erkenntnis,  die  zu  den  Problemen  der  Metaphysik  führen,  aufsprengen  zu 
wollen ;  denn  wie  sollen  Instrumente  und  Hilfsmittel,  die  —  und  sei  ihr 
Bart  noch  so  kraus  —  uns  bestenfalls  immer  nur  über  die  physische  Be- 
schaffenheit der  körperlichen  Dinge  Aufschluss  geben  können,  imstande 
sein,  die  Riegel  der  metaphysischen  Probleme  zu  heben  V" 

„Zusehends  also  spitzt  sich  vor  unserem  Auge  die  ganze  geistige  und 
seehsche  Krisis  unserer  Zeit  mit  all  ihren  zahllosen  Problemen  und  Problem- 
chen auf  die  eine  konzentrierte  Forderung  zu,  dass  eine  neue  zeitgemässe, 
d.  h.  wissenschaftlich'  hinreichend  fest  begründete,  befriedigende  Lösung  der 
Kardinalfragen  der  Metaphysik  gefunden  werden  müsse".  Unsere  Zeit  ver- 
langt aber  einen  „empirisch  zwingenden  Beweis".  Der  könnte  in  vier- 
facher Weise  geführt  werden:  1.  Wir  kommen  durcii  unsere  Kraft  Gott  so 
nahe,  dass  wir  ihn  empirisch  feststellen  können.  2.  Gott  kommt  uns  so 
nahe,  dass  wir  ihn  erfahren.  3.  Wir  haben  solche  Kenntnis  vom  Weltall, 
dass  wir  Gott  sicher  leugnen  können.  4.  Das  Weltall  kommt  uns  so  nahe. 
dass  Gott  ausgeschlossen  werden  kann.  Der  erste  Weg  ist  offenbar  un- 
gangbar. Ebenso  der  dritte  und  vierte,  welche  Allwissenheit  verlangen. 
Die  Nichtexistenz  Gottes  ist  überhaupt  absolut  unbeweisbar. 

„Und  so  bleibt  denn  zur  Entscheidung  des  , Problems  der  Probleme' 
vermittelst  des  Wahrheitsbeweises  in  Himmel  und  Erde  nichts  anderes 
mehr  übrig,  als  der  zweite  Weg,  dass  .die  Macht  gnädig  wird  und  herab- 
kommt ins  Sichtbare'  (Nietzsche).  Dieser  Weg  des  positiven  (direkten), 
empirisch  zwingenden  Wahrheitsbeweises,  verfolgt  in  der  Richtung  vom 
beweisgebenden  Objekt  zum  beweisnehmenden  Beobachter,  ist  —  als  der 
einzige  von  allen  überhaupt  vorhandenen  Wahrheitsbeweisen !  —  denkbar. 
Nur  durch  den  direkten,  positiv  empirisch  zwingenden  Wahrheitsbeweis 
•  kann  also  laut  dem  Denkgesetze  das  ,Problem  der  Probleme'  im  Sinne  der 
Forderung  des  Zeitgeistes  zu  voller  Gewissheit  entschieden  werden!  Dieser 
Weg    des    positiven,    direkten,    empirisch    zwingenden    Wahrheitsbeweises 


.    Fr.  Fidler.   Vom  Znge  der  Men.schheit.  185 

vom  Objekt  zum  Beobachter  aber  ist  nichts  anderes  als  —  der  Wunder- 
beweis". 

Mit  diesem  Ergebnis  des  Vf.s  können  wir  uns  bis  auf  den  Schlusssatz 
einverstanden  erklären.  Gewiss  kann  die  Existenz  Gottes  nur  auf  empi- 
rischem Wege  in  dem  Sinne  bewiesen  werden,  als  wir  von  dem  Gegebenen 
der  Erfahrung  ausgehen,  und  finden,  dass  es  den  Grund  seiner  Existenz 
nicht  in  sich  haben,  sondern  von  einer  höheren  Ursache  hervorgebracht 
werden  muss.  Das  ist  keine  blosse  Forderung  des  Zeitgeistes,  sondern 
ist  immer  gegen  angeblich  aprioristische  Gottesbeweise  von  der  christlichen 
Philosophie  (nicht  Dogmatik!)  betont  werden.  Nun  kann  ja  wohl  auch 
aus  den  Wundern  das  Dasein  Gottes  geschlossen  werden;  aber  das  ist  nicht 
der  einzige,  nicht  einmal  der  beste  Beweis :  derselbe  muss  sich  auf  die  Un- 
zulänglichkeit der  Naturkräfte  stützen,  um  ein  Ereignis  auf  eine  höhere 
Macht  zurückführen  zu  können.  Aber  gerade  so  verfährt  der  herkömmliche 
teleologische,  im  Grunde  jeder  Gottesbeweis.  Es  ist  zum  mindesten  ebenso 
evident,  dass  die  Zweckmässigkeit  und  erstaunliche  Ordnung  der  Welt 
nicht  durch  blinde  Naturkräfte  hervorgebracht  werden  kann,  als  dass  Wasser 
in  Wein  verwandelt  werde.  Gegen  die  Wunder  kann  man  mehr  Einwände 
erheben,  als  z.  B.  gegen  die  Weltordnung;  da  können  die  Ungläubigen 
sich  auf  die  Unzuverlässigkeit  der  Berichterstatter  stützen,  verborgene 
Naturkräfte  vorgeben,  jedenfalls  den  persönhchen  Gott  abweisen,  der  durch 
den  teleologischen  Gottesbeweis  unmittelbar  dargetan  wird.  Wenn  der  Vf. 
sich  statt  so  viel  mit  Kant,  auch  etwas  mit  der  christlichen  Philosophie 
beschäftigt  hätte,  würde  er  so  weite  Umwege  nicht  nötig  gehabt  haben, 
auch  manche  Behauptungen,  insbesondere  die,  dass  noch  kein  stringenter 
Gottesbeweis   erbracht  worden  sei,  modifiziert  haben. 

Sein  neues  Beweisverfahren  ist  dem  Zeitgeiste  gegenüber  ganz  un- 
praktisch, denn  vor  nichts  haben  die  Modernen  mehr  Scheu  als  vor  Wundern, 
eher  lassen  sie  sich  noch  einen  Gott  gefallen,  als  ein  Wunder.  Eine  stark 
verbreitete  Richtung  glaubt  noch  an  einen  Gott,  leugnet  aber  steif  und  fest 
die  Möglichkeit  und  noch  mehr  das  Vorkommen  von  Wundern.  Vf.  gibt 
das  im  Grunde  auch  zu,  indem  er  am  Schlüsse  erklärt,  dass  er  erst  sieben 
Achtel  des  Weges  zurückgelegt,  „das  letzte  Achtel  —  allerdings  das 
schwierigste  von  allen  —  bleibt  noch  zu  bewältigen.  Es  ist  dies  die  offene 
Frage,  ob  der  empirisch  zwingende  Beweis  für  das  theistische  Grunddogma, 
nämhch  der  Wunderbeweis,  möglich  ist  oder  nicht.  Die  grösstmögliche 
Klarstellung,  wie  hier  die  Dinge  stehen,  wird  Gegenstand  des  II.  Teiles 
unserer  Gesamtuntersuchung  sein". 

Aber  jetzt  schon  kann  als  Ergebnis  der  Untersuchung  eine  frohe  Zu- 
versicht in  die  Zukunft  gehegt  werden.  „Die  Behauptung,  dass  Gott  tot 
ist,  ist  nicht  nur  eine  unbewiesene,  sie  ist  auch  eine  ewig  unbeweis- 
bare Behauptung,  eine  Behauptung  also,  die  bei  Licht  besehen,  jedes 
wissenschaftlichen  Untergrundes  gänzlich  ermangelt,   völlig   aus  der  Luft 


186         C.  Gulberlet.   Fr.  Fidler,  Vom  Zuge  der  Menschheit. 

gegriffen  ist  und  niemals  ihre  Existenzberechtigung  mit  den  Mitteln  echter 
Wissenschaft  wird  erweisen  können,  so  viel  vergebliche  Mühe  man  sich 
damit  auch  schon  gegeben  hat  oder  noch  geben  mag.  Wahr  ist  nur  das 
eine,  dass  man  Gott  totgesagt  und  in  weiten  Kreisen  auch  tatsächlich 
totgeglaubt  hat  .  .  .  den  eigentlichen  , Totenschein'  Gottes  hat  noch 
keiner  seiner  Nekrologisten  je  erbracht  und  nie  wird  ihn  einer  erbringen 
können.  Der  zwingende  Beweis  für  die  Wahrheit  des  atheistischen  Grund- 
dogmas —  in  dessen  positiver  oder  negativer  Fassung  —  wäre  dieser 
Totenschein,  und  es  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  laut  den  Normen  des 
Denkgesetzes  undenkbar,  dass  dieser  Wahrheitsbeweis  je  erbracht  werden 
könnte  .  .  .  Wer  diese  unanfechtbare  logische  Tatsache  in  ihrer  ganzen 
Tragweite  einmal  erfasst  hat  und  sie  zusammenhält  mit  der  immer  lauteren 
und  dringenderen  Forderung  des  Zeitgeistes  nach  einer  sicheren  wissen- 
schaft liehen  Lösung  des  , Problems  der  Probleme',  der  weiss  auch  unter 
dem  Druck  aller  Garantien,  die  das  Denkgesetz  irgend  zu  bieten  vermag, 
zum  voraus  mit  voller  Bestimmtheit,  dass  diese  wissenschaftliche  Arbeit 
auf  die  ,Frage  aller  Fragen'  zuverlässig  lauten  muss  und  wird :  ,Der  alte 
Gott  lebt  noch'." 

Dem  muss  man  gewiss  zustimmen,  aber  die  Atheisten  haben  dagegen 
noch  eine  Ausflucht  in  der  wissenschaftlichen  Forderung :  Causae  non  sunt 
multiplicandae  sine  necessitate.  Wenn  man  mit  natürlichen  Erklärungen 
auskommen  kann,  muss  man  übernatürhche  ablehnen.  Viele  sind  nun  der 
Ansicht,  dass  es  noch  gelingen  werde,  die  gesamte  Weltordnung  kausal 
aus  sich  selbst  erklären  zu  können. 

Das  entschuldigt  aber  keineswegs  die  Kühnheit,  mit  der  die  Atheisten 
ihr  Dogma  von  der  Leugnung  Gottes  proklamieren.  Sie  können,  wenn  sie 
sich  nicht  von  vorneherein  gegen  Gott  abschliessen  v/oUen,  wenigstens  die 
Möglichkeit  nicht  leugnen,  dass  die  Welt  von  einem  Schöpfer  hervorgebracht 
worden  ist,  dass  folglich  auch  sie  Geschöpfe  Gottes  sind.  Daraus  ergeben 
sich  aber  sehr  schwere  Pflichten  gegen  den  Urheber  unseres  Daseins.  Statt 
dessen  spotten  aber  die  Gottesleugner  über  Gott,  lästern  ihn.  Sie  setzen 
sich  also  zum  mindesten  der  Gefahr  aus,  sich  schwer  zu  verfehlen  und 
sich  selbst  unsäglich  unglücklich  zu  machen.  Sie  sollten  doch  wenigstens 
einmal  die  Gründe  für  das  Dasein  Gottes  prüfen,  eine  Wahrscheinlichkeit 
können  sie  ihm  doch  nicht  absprechen:  diese  reicht  aber  für  jeden  gewissen- 
haften und  ernst  denkenden  Menschen  hin,  die  eventuellen  Folgerungen 
daraus  zu  ziehen,  es  handelt  sich  um  die  höchste  aller  Fragen.  Statt  dessen 
stützen  sie  sich  leichtsinnig  auf  Kant,  der  ja  die  Gottesbeweise  „zermalmt'- 
hat.  Wenn  sie  auch  alle  Spekulationen  Kants  verwerfen:  hierin  heist  es: 
avzög  eqa.  Und  doch  kann  jeder  Anfänger  in  der  Logik  die  Paralogismen 
Kants  in  diesem  Punkte  aufdecken. 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


S.  Aicher.  A.  Sehn  eider,  Die  philos.  Grundlagen  d.  nionisi.Wellansch.     187 

Die  philosophischen  Grundlagen  der  monistischen  Welt- 
anschauungen. Von  Prof.  Dr.  A.  Schneider.  München,  Isaria- 
Verlag  (Sammlung  „Natur  und  Kultur",  Nr.  1).    IV,  91  S.   Jfe  1. 

In  klarer,  kurzer  Form  gibt  der  Vf.  in  diesem  kleinen  Bändchen  einen 
IJeberbliek  über  die  verschiedenen  Richtungen  des  Monismus.  Mit  Reclit 
spricht  er  geradezu  von  monistischen  Weltanschauungen,  da  die  einzelnen 
Hypothesen  —  darum  handelt  es  sich  doch  im  Grunde  —  sehr  weit  aus- 
einandergehen. Nach  einer  allgemeinen  Einleitung  folgt  die  Darstellung 
und  Kritik  der  einzelnen  Systeme  :  Materialismus,  Spiritualismus,  transzen- 
dentaler Monismus,  psychophysischer  Parallelismus  und  Wechselwirkungs- 
theorie. Besonders  gut  gelungen  scheint  die  Kritik  der  erkenntnistheo- 
retischen Voraussetzungen  des  Spiritualismus.  Ob  sieh  der  Satz :  „Dass 
Ursache  und  Wirkung  notwendig  gleichartig,  verwandter  Natur  sein  müssen, 
ist  eine  rein  subjektive  Vorslellungsgewohnheit,  welche  weder  durch  die 
Erfahrung,  noch  durch  das  Denken  irgendwelche  Bestätigung  erhalten  kann" 
(74),  in  dieser  Fassung  ganz  halten  lässt,  möchte  Ref.  bezweifeln.  Auf 
das  an  erster  Stelle  behandelte  Problem  angewandt,  würde  dieses  Prinzip 
vielleicht  zu  eigentümlichen  Resultaten  führen.  Im  Schlusswort  weist  der 
Vf.  darauf  hin,  dass  die  philosophische  Ausgestaltung  des  christlichen 
Dualismus  noch  viel  zu  wünschen  übrig  lässt. 

Tübingen.  Dr.  Sev.  Aicher. 


Die  philosophischen  Weltanschauungen  und  ihre  Haupt- 
vertreter, erste  Einführung  in  das  Verständnis  philosophischer 
Probleme.  Von  A.  Heussner.  2.  Auflage.  Göttingen  1912, 
Vandenhoeck  &  Ruprecht.     275  S.     M  3,60. 

Die  Schrift  ist  aus  Vorträgen,  welche  Heussner  im  Fortbildungs- 
kursus des  ev.  Fröbelseminars  in  Cassel  gehalten  hat,  hervorgegangen. 
Kap.  I — IV:  Die  Philosophie,  ihr  Wesen  und  ihre  Aufgabe,  der  Materiali.s- 
mus  —  die  Probleme  des  Monismus  —  Spinoza,  die  Monadologie  —  Leibniz 
behandeln  das  Weltproblem,  Kap.  V  und  VI :  Der  Kritizismus  —  J.  Kant, 
der  Ideahsmus  —  Fichte,  Schelling,  Hegel  das  Erkenntnisproblem, 
Kap.  VII — X :  Der  Pessimismus  —  Schopenhauer,  der  Realismus  —  Ed. 
v.  Hartmann,  der  Naturalismus  —  Nietzsche,  der  Dualismus  —  das  Christen- 
tum die  Lebens  Probleme.  Der  Verf.  lehnt  seine  Darstellung  und  Kritik 
der  Probleme  an  die  Hauptvertreter  der  verschiedenen  Weltanschauungen 
•an  und  gibt  einen  klaren  Einblick  in  die  einschlägigen  Fragen.  Er  huldigt 
einer  theistisch-christlichen  Weltanschauung ;  wenn  man  ihm  auch  nicht  in 
allen  Punkten  beistimmen  kann,  z.  B.  wenn  er  den  Begriff  einer  ersten 
Ursache   als   unvollziehbar   erklären  will,   wird   man   doch  im  ganzen  seil 


188  C.  Gutberiet. 

Urteil   besonnen   finden   und    seine  idealistische  Richtung  sympathisch   be- 
>en. 
Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  Stölzle. 


grussen 


Naturphilosophie. 

l)i<^   Natiiri)hilosophie  Johaiiiies   Reinkes  und   ilire  Gegner. 

Von  Dr.  A.  Knauth.  Regensburg  1912,  Verlagsanstalt. 
IX  und  207  S. 

Reinke  gehört  zu  jenen  Naturforschern,  welche,  über  die  Grenzen 
ihres  Spezialfaches  hinausblickend,  sich  zu  einer  Weltanschauung  durch- 
zuringen suchen,  und  zwar  zn  einer  teleologischen,  näher  einer  dualistischen. 
Seine  Darlegungen,  speziell  sein  Neovitalismus,  haben  vielfach  Erörterungen 
und  Widerspruch  hervorgerufen;  freilich  waren  es  nicht  immer  tiefgehende 
Ausführungen,  welche  Reinke  entgegengesetzt  wurden.  Unter  diesen  Um- 
ständen schien  es  angezeigt,  die  Frage  Reinke  einmal  gründlich  anzufassen. 
Das  geschah  auf  meine  Veranlassung  durch  Knauth.  Ich  beschränke  mich 
darauf,  eine  Inhaltsangabe  von  der  Schrift  des  mit  grosser  Selbständigkeit 
arbeitenden  Verfassers  zu  geben.  Das  Buch  zerfällt  in  drei  Teile.  Nach 
erkenntnistheoretischen  und  methodologischen  Vorfragen  werden  im  ersten 
Teil  die  Grundbegriffe  der  Naturbetrachtung  und  ihr  Verhältnis  zur  objektiv- 
realen Welt  betrachtet.  Hier  ist  die  Rede  von  Raum  und  Zeit,  von  Zweck 
und  Ursache,  Kausalität,  Gesetzhchkeit,  Zufall  und  Notwendigkeit,  Kraft, 
Energie  und  Materie  und  Richtung.  Der  zweite  Teil  gibt  Reinkes  Theorie 
des  Organischen.  Er  behandelt  das  Wesen  des  Lebens  (Finahtät  im  Reiche 
der  Organismen,  die  Maschinentheorie,  die  Dominanten),  Ursprung  des 
Lebens,  Reinkes  Stellang  zur  Entwicklungstheorie,  Psychisches,  Reinkes 
Neovitalismus.  Der  dritte  Teil  ist  der  Naturphilosophie  und  der  Gottes- 
idee gewidmet.  Ein  Namen-  und  Sachregister  bildet  den  Schluss  des  mit 
grosser  Belesenheit  gearbeiteten  Buches. 

Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  Stiilzle. 

Psychologie. 

Von  der  Seele.  Erster  Teil:  Von  der  Seele.  Von  Broder 
Christiansen.  Berlin  1912,  Behr. 
Der  Vf.,  der  durch  seine  Schriften  :  Philosophie  der  Kunst,  Erkenntnis- 
theorie und  P.sychologie  des  Erkennens,  das  Urteil  bei  Descartes,  Kant- 
kritik, sich  einen  Namen  auf  philosophischem  Gebiete  erworben  hat,  übt 
in  dieser  neuen  Schrift  scharfe  Kritik  an  den  Bewusstseins-  und  Immanenz- 
philosophen, die,  insoweit  sie  der  herrschenden  Monopohsierung  des  Be- 
wusstseins entgegentritt,  sehr  am  Platze  ist,  freilich  zu  weit  geht,  indem 
sie  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschüttet. 


Br.  Christiansen,  Von  der  Seele.  '  189 

Er  resümiert  seine  Kritik  in  folgenden  Sätzen: 

„Unser  Weg  war  gegen  die  Mythen  des  Selbstbewusstseins  gerichtet: 
gegen  das  Vorurteil,  Selbstbewusstsein  sei  unmittelbar  gegeben  und  jedem 
psychischen  Phänomen  verknüpft  -  wir  fanden  hingegen,  dass  Selbst- 
bewusstsein einer  Kette  von  Vermutungen  bedarf  und  darum  oft  ausbleibt ; 
gegen  das  Vorurteil,  das  Psychische  werde  anschaulieh  gegeben  —  wir 
fanden  an  keiner  Stelle  eine  Möglichkeit  der  Intuition,  wir  erfahren  von 
keinem  Stück  des  Seelischen  die  anschauliche  Qualität,  weder  vom  Vor- 
stellen noch  vom  Urteilen,  noch  vom  Vergleichen,  noch  vom  Wollen,  noch 
von  sonst  einer  Regung  der  Seele  selbst  erleben  wir  eine  qualitative  Be- 
stimmtheit ;  gegen  das  Vorurteil,  das  Selbstbewusstsein  sei  von  untrüglicher 
Gewissheit  —  denn  nicht  einmal  jene  berühmte  Unbezweifelbarkeit  des 
Zweifels  bleibt  bestehen,  denn  der  analytische  Satz  ,wer  zweifelt,  der 
zweifelt'  trifft  nicht  zu:  Einer  kann  zu  zweifeln  meinen  und  ist  schon  im 
Glauben,  wie  umgekehrt  einer  seine  Zweifel  überwunden  glauben  kann  und 
noch  in  ihnen  befangen  ist;  gegen  das  Vorurteil,  das  Selbstbewusstsein  sei 
das  Urbild  alles  Wissens  vom  Psychischen,  und  was  wir  als  fremde  Seele 
annehmen,  sei  nur  Nachzeichnung;  denn  wir  fanden,  dass  das  Selbst- 
bewusstsein sich  nicht  vollendet  ohne  das  Du,  dass  das  Bewusstsein  des 
Vorstellens  sich  erst  am  Fremdsubjekt  entwickelt  und  von  hier  zurück- 
getragen wird  aufs  Ich  .  .  .  das  ist  die  Summe  unserer  Negationen". 

„Dem  stellen  wir  positiv  entgegen,  dass  alles  Selbstbewusstsein,  wie 
alles  Wissen  vom  Psychischen  überhaupt,  eine  konstruierende  Erfahrung 
ist:  von  unserem  Vorstellungsleben  wissen  wir  nur,  soweit  als  wir  es 
konstruieren  nach  Massgabe  der  vorgestellten  Objekte  und  der  objekt- 
bezeichnenden Worte;  von  unserer  inneren  Aktivität  wissen  wir  nur,  so 
weit  wir  sie  konstruieren  können  nach  dem  Mass  unserer  äusseren  Hand- 
lungen oder  ihrer  Wirkungen". 

Diese  Behauptungen  sind  so  exorbitant,  dass  sie  einer  Kritik  nicht 
bedürfen.  Auffallend  aber  ist  doch,  dass  der  radikale  Reformator  die  so 
wichtige  Unterscheidung  von  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  nicht  kennt. 
Vom  Selbstbewusstsein,  welches  das  eigene  Ich  direkt  zum  Gegenstande 
hat,  kann  man  wohl  sagen,  dass  es  nicht  unmittelbar  anschaulich  gegeben 
ist,  wir  müssen  es  erst  aus  dem  Icherlebnis,  in  dem  es  eingeschlossen  ist, 
getrennt  herausheben.  Dazu  ist  aber  nicht  nötig,  es  als  Gegensatz  zum 
Du  zu  lassen,  sondern  es  reicht  der  Gegensatz  zum  Erlebnis  hin.  Be- 
stimmter wird  es  freihch  durch  das  Du.  Was  aber  das  direkte  Bewusst- 
sein anlangt,  so  ist  es  bei  jedem  bewussten  Seelenakte  sehr  anschauhch 
vorhanden,  freilich  nicht  in  dem  Sinne  einer  Farbe,  eines  Tones,  oder  eines 
.sonstigen  Objektes.  Der  Schmerz,  die  Lust,  die  Angst  stehen  doch  sehr 
anschaulich  vor  unserer  Seele,  des  Hörens,  Sehens,  Vorstellens  wird  man 
sich  als  seines  Hörens,  Sehens  inne.  Freilich  ist  die  ganze  Aufmerksamkeit 
so  auf  das  Gesehene,  Gehörte  gerichtet,  dass  wir  auf  das  damit  verbundene 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  13 


idO  G.  Gnlberlet. 

Bevvusstsein   erst   besonders    unsere  Aufmerksauikeit    richten   müssen,    um 
uns  dessen  inne  zu  werden. 

Unter  Umständen  nimmt  das  Objekt  so  ganz  und  gar  unsere  Auf- 
merksamkeit in  Anspruch,  dass  das  subjektive  Bewusstsein  ganz  ausbleibt. 
Diese  Fälle  unterscheiden  wir  aber  ganz  deutlich  von  denen,  da  wir  mit  Be- 
wu.sst.sein  uns  etwas  vorstellen,  oder  eigens  auf  das  subjektive  Moment 
achten.  Es  gibt  sogar  Fälle,  wo  das  subjektive  Bewusstsein  uns  ganz  und 
gar  in  Anspruch  nimmt,  wie  z.  B.  bei  heftigen  Schmerzen. 

Doch  hören  wir  die  Beweise  des  Vf.s,  sie  zeigen  deutlich  die  Miss- 
verständnisse inbezug  auf  das  unmittelbare  Bewusstsein,  zugleich  aber  auch, 
dass  er  nicht  das  eigentliche  Selbstbewusstsein,  sondern  das  direkte 
Bewusstwerden,  den  inneren  Sinn  versteht. 

„Wenn  ich  versuche,  mich  selbst  innerlich  wahrzunehmen,  so  finde 
ich  die  Stelle  leer,  an  der  jener  Theorie  gemäss  qualitative  Bestimmtheiten 
gegeben  sein  müssten.  Ich  treffe  wohl  sinnliche  Qualitäten,  die  aber  Eigen- 
schaften der  Aussendinge  umgeben,  nicht  der  Psyche,  vielleicht  das  Gelb 
einer  Zitrone,  das  Rot  einer  Rose ;  das  Bewusstsein  aber,  dessen  anschau- 
liche Eigenschaften  ich  suche,  ist  weder  rot  noch  gelb.  Denn  nicht  das 
Gelb,  sondern  das  Gelb-Vorstellen  ist  das  Psychische.  Ich  suche  nach 
Qualitäten,  die  das  Gelb-Vorstellen  beschreiben,  und  finde  keine.  Welches 
ist  die  anschauliche  Beschaffenheit  des  Vorstellens  ?  Wie  unterscheidet  sich 
anschaulich  das  Gelb-Vorstellen  vom  Gelb  ?  Wäre  Selbstwahrnehmung  mög- 
lich, so  müsste  ich  das  Vorstellen  anschauen  können.  Ich  müsste  eine 
Qualität  finden,  die  sich  zum  Vorstellen  so  verhält,  wie  das  Gelb  zur 
Zitrone,  solche  ist  nicht  vorhanden". 

Offenbar  nimmt  der  Vf.  anschauen  im  Sinne  von  sehen ;  allerdings 
sehen  können  wir  uns  und  unseren  subjektiven  Akt  nicht.  Versteht  man 
aber  darunter  ein  unmittelbares  Wahrnehmen,  so  ist  dasselbe  gerade  so 
gegeben,  wie  beim  Sehen  des  Rot,  des  Gelb.  Denn  es  fehlen  durchaus 
nicht  die  qualitativen  Bestimmtheiten,  wobei  freilich  die  quantitativen  eine 
wichtige  Rolle  spielen;  denn  je  intensiver  ein  psychischer  Akt,  namentlich 
ein  Gefühl,  um  so  stärker  drängt  es  sich  unserem  Bewusstsein  in  seiner 
qualitativen  Bestimmtheit  als  Angst,  Furcht,  Leid  usw.  auf;  wir  können 
freilich  keine  qualitativen  Merkmale  dieses  Bewusstseins  angeben,  wir  können 
sie  nur  erleben.  Aber  ist  es  denn  anders  mit  Gelb,  Rot?  Wir  können 
Farben  nicht  definieren,  sondern  müssen  die  Mitmenschen  auf  das  klare 
Erlebnis  verweisen,  das  bei  ihnen  ebenso  vorausgesetzt  wird  wie  bei  uns. 
Kann  es  denn  ein  bestimmteres  Wahrnehmen  geben,  als  die  unmittelbare 
Geruchs-,  Geschmacks-,  Sehmerzempfindung  V  Bei  letzterer  ist  das  Objekt 
oft  ganz  ausgeschlossen,  und  das  Ich  in  seinem  Leiden  tritt  allein  ins  Be- 
wusstsein. 

Freilich  verwechselt  der  Vf.  wieder  das  Bewusstsein  mit  dem  Selbst- 
bewusstsein, wenn  er  erklärt : 


Br.  Christiansen,  VW  der  Seele.  i9l 

„So  betonen  wir  denn,  dass  es  sich  für  uns  handelt  um  die  Genesis 
des  Selbstbewusstseins,  nicht  des  Bewusstseins.  ich  weiss  nicht,  ob  es 
überhaupt  einen  Sinn  hat,  nach  dem  Aufkommen  des  Bewusstseins  zu 
fragen;  jedenfalls  ist  es  nicht  unsere  Frage,  wir  suchen  nicht,  wie  das 
Psychische,  sondern  wie  das  Wissen  vom  Psychischen  entspringt.  Wir 
fragen,  ...  wie  hat  das  Subjekt  Bewusstsein  vom  Bewusstsein?  Und  wenn 
wir  die  AnschaubarkeiL  des  Psychischen  verneinen,  so  sagen  wir  nicht,  das 
Subjekt  habe  keine  Anschauung,  und  niclit,  die  Anschauung  sei  nicht 
psychisch,  sondern  nur  dieses,  dass  es  den  psychischen  Akt  des  Anschauens 
in  keiner  Weise  wieder  anschauen  kann,  und  dass  es  keine  Qualität  findet, 
die  das  Bewusstsein,  das  Vorstellen,  das  Anschauen  fundamental  beschreibt". 
Dass  das  Bewusstsein  vom  Bewusstsein  nicht  anschaulich  ist,  dass  wir 
die  Anschauung  nicht  wieder  anschauen  können,  geben  wir  gerne  zu,  das 
ist  aber  eine  Leistung,  die  nicht  einmal  das  Selbstbewusstsein  ver- 
langt. Denn  unser  Ich  schauen  wir  wirklich  in  unserem  Schmerz,  un- 
serem Vorstellen,  nur  nicht  für  sich,  sondern  in  dem  Komplexe  des  Ich- 
erlebnisses. Dies  bedarf  keiner  so  mähevollen  Reflexion,  wie  das  Be- 
wusstsein vom  Bewusstsein,  die  Anschauung  von  der  Anschauung.  Eine 
solche  ist  überhaupt  aussichtslos. 

Ebenso  trifft  der  Satz :  „Wer  zweifelt,  der  zweifelt"  nicht  das  Bewusst- 
sein oder  das  Selbstbewusstsein,  sondern  er  ist  ein  metaphysisches  Axiom, 
das  aber  auch  nicht  „konstruiert"  zu  werden  braucht,  sondern  unmittelbar 
evident  ist  nach  dem  Satz  der  Identität :  A  =^  A.    Mit  diesem  Satze  wider- 
legt  man  den  allgemeinen  Zweifler,    indem  man    ihm    entgegenhält,    dass, 
wenn  er  an  allem  zweifelt,   doch   dieser  Zweifel   ihm  gewiss  ist.     Dass  er 
unmittelbares,    sicheres  Bewusstsein  von    seinem  Zweifel  habe,   setzen  wir 
dabei  voraus,  indem  wir  überzeugt  sind,  dass  seine  Psyche  gerade  so  orga- 
nisiert  ist  wie   die   unsrige.     Wir   sind  von  der  Existenz  unseres  Zweifels 
unmittelbar  und  unwiderstehbar  bewusst,   ebenso  wie  wir  unmittelbar  von 
unserer  Gewissheit  überzeugt  sind,  was  Vf.  nur  im  Widerspruch  mit  sich  selbst 
in  Abrede  stellen  kann.     Denn   ihm   sind  doch  die  Aufstellungen  über  die 
Trüglichkeit  des  Selbstbewusstseins  gewiss,    das  muss  man  wenigstens  an- 
nehmen, weil  er  sie    mit    solcher    apodiktischer   Zuversicht  vorträgt.     Wie 
hat  er  diese  Gewissheit  erlangt?  Durch  Konstruktionen.    Hatte  er  von  den 
einzelnen  Momenten    dieser   Konstruktionen   unmittelbare  Gewissheit  durch 
das  Bewusstsein,  oder  mussten  wieder  Konstruktionen  helfen  ?   In  ersterem 
Falle  stösst  er  seine  Fundamentalthese  um,    im  anderen  Falle    musste  die 
Konstruktionsmethode  wieder  durch  Konstruktionen  zur  Gewissheit  gebracht 
werden  usw.     Damit  wird   ein  processus  in  infmitum,    ein  schlechthin  un- 
vollziehbarer Prozess  statuiert.'    Mit  anderen  Worten :    Ohne  Untriiglichkeit 
des  Bewusstseins  gibt  es  keine  Gewissheit. 

In  der  Herabsetzung  des  Selbstbewusstseins  gehl  der  Vf.  so  weit,  dass 
er   dasselbe    zum    Teil    von    der    Kenntnis   fremder    Seelen    ableitet;    da 

J3* 


192  Jos.  Fröbes. 

wir  durch  Anschauung  vom  Innern  unserer  Mitmenschen  absolut  nichts 
wissen  können,  beurteilen  wir  sie  nach  unseren  Erlebnissen.  Nicht  minder 
exorbitant  ist  die  Behauptung,  aus  unseren  äusseren  Handlungen  erführen 
wir  unser  Inneres.  Das  mag  bei  unüberlegten,  rein  automatisch  ablaufenden 
Prozessen  der  Fall  sein :  aber  im  Grunde  fehlt  dann  das  Bewusstsein. 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


Elements  de  Psychologie  experimeutale.  Par  J.  de  laVaissiere 
S.  J.     1912!     Paris,  Beauchesne.     XIV  und  382  S. 

Vaissiere  teilt  den  Stoff  der  experimentellen  Psychologie  in  eine  längere 
Einleitung  und  13  Kapitel.  Ein  UeberbUck  über  die  Stoffanordnung  darin 
mag  uns  zeigen,  wie  er  sein  Thema  versteht. 

Die  Einleitung  (1 — 34)  gibt  Definitionen  und  Teilungen,  einen  Ueber- 
blick  über  die  Geschichte  der  experimentellen  Psychologie  nach  Sprach- 
gebieten geordnet,  wobei  begreiflicher  Weise  der  französischen  Literatur, 
besonders  Ribot,  ein  breiterer  Raum  geboten  wird.  Recht  gut  werden  die 
allgemeinen  Methoden  der  Psychologie,  die  Selbstbeobachtung,  Fremd- 
beobaehtung,  Experimente,  Fragebogenmethode  usw.  dargelegt.  Die  An- 
gaben über  die  quantitative  Seite  der  Experimente  halten  sich  freiUch  nur 
in  Andeutungen,  aus  denen  man  deren  ganze  Bedeutung  kaum  ersehen  kann. 

Kapitel  1  behandelt  die  Tierpsychologie,  besonders  die  beiden  Fragen : 
Haben  die  Tiere  sinnliche  Erkenntnis,  haben  sie  Verstand?  Zur  Prüfung 
der  sinnlichen  Erkenntnis  wird  das  reiche  Inventar  der  Labyrinthe,  ver- 
schliessbaren  Kästen,  Dressurleistungen  herangezogen  und  gewürdigt.  Da.s 
einzige,  was  man  hier  beanstanden  könnte,  ist  die  Stellung  dieses  Kapitels 
an  den  Anfang.  So  passend  das  in  einer  spekulativen  Psychologie  ist,  wo 
die  Kenntnis  der  Tatsachen  vorausgesetzt  wird,  so  entspricht  es  der  empi- 
rischen Psychologie  wohl  eher,  sie  als  Anhang  der  allgemeinen  mensch- 
lichen Psychologie  zu  geben.  Denn  die  Erklärung  der  tierischen  Tätigkeiten 
setzt  notwendig  eine  Menge  recht  komplizierter  Begriffe  voraus,  die  in  der 
empirischen  Psychologie  vom  elementarsten  ausgehend  abgeleitet  werden 
sollen. 

Kapitel  2  ist  im  ersten  Teil  (60 — 97)  den  Sensationen  gewidmet.  Es 
behandelt  auf  diesem  kurzen  Raum  nicht  bloss  die  Empfindungen,  sondern 
auch  die  Wahrnehmungen,  die  psychologische  Methodik,  die  Psychometrie : 
also  dasjenige,  was  in  einer  experimentellen  Psychologie  oft  die  Hälfte  der 
ganzen  Abhandlung  einzunehmen  pflegt.  Aus  Einzelheiten  sei  notiert,  dass 
der  Schmerzsinn  verworfen  wird,  desgleichen  die  statischen  Empfindungen 
als  Empfindungen.  Die  Gesiehtswahrnehmung  wird  auf  4^2  Seiten  abge- 
macht. Der  Schluss  davon :  „Wir  bedienen  uns  unserer  Gesichtslinien  wie 
ein  Blinder  seines  Stabes,    um    die  Umgebung    zu    erforschen",    ist   sicher 


J.  de  la  Vaissiere,  Element?  de  psyohologie  experimentale.       193 

keine  genügende  Lösung  dieses  viel  diskutierten  Problems.  Der  Tastraum 
wird  auf  den  Gesichtsraum  zurückgeführt.  -  Betreffend  der  Intensität  der 
Empfindungen  schhesst  sich  Verfasser  Bergson  an,  dass  es  dort  ein  Mehr 
oder  Weniger  nicht  gibt,  sondern  dies  nur  vom  Reiz  ausgesagt  werden  kann. 
Noch  weniger  könne  die  Sensation  gemessen  werden.  Er  verwirft  dem- 
entsprechend die  Fechnersche  Psychophysik,  jede  Idee  einer  Massformei, 
ja  selbst  die  Möglichkeit,  das  Mittel  zwischen  zwei  Empfindungen  zu  finden. 
Betreffend  der  psychophysischen  Messungen  denkt  er  sehr  skeptisch.  Nicht 
einmal  die  Dauer  eines  psychischen  Vorganges  sei  einer  Messung  fähig. 

Der  zweite  Teil  des  Kapitels  behandelt  in  ansprechender  Weise  alle 
Fragen,  die  man  betreffend  der  Vorstellungen  aufzuwerfen  pflegt:  dass  sie 
von  den  Empfindungen  nicht  spezifisch  verschieden  sind ;  an  welchen 
Kriterien  Phantasie  und  Wirklichkeit  unterschieden  wird;  der  Sitz  der 
Empfindungen  und  Vorstellungen;  die  Aufbewahrung  der  Erfahrungen,  auf 
Grund  der  pathologischen  Erfahrungen  der  Amnesie ;  die  Veränderung  der 
Bilder  mit  der  Zeit;  die  Kriterien  des  Wiedererkennens.  Er  ist  der  Ansicht, 
es  gebe  keine  eigentlichen  Sinnestäuschungen,  da  von  uns  nur  das  Objekt 
in  der  Netzhaut  wahrgenommen  werde. 

In  einem  kurzen  Kapitel  über  die  Gefühle  wird  besonders  die  Unter- 
suchung Külpes  über  die  Unmöglichkeit  von  Gefühlsvorstellungen  besprochen. 
Das  folgende  behandelt  die  Abhängigkeit  der  Bewegung  von  den  Vor- 
stellungen, nebst  Ausblicken  auf  das  Gedankenlesen  usw. 

Lesenswert  sind  die  Ausführungen  im  5.  Kapitel  über  die  Triebe 
(196 — 240),  besonders  über  die  Instinkte  beim  Menschen,  die  Interessen 
des  Kindes,  die  Gesetze  der  Entwicklung  der  Tendenzen.  Sehr  glücklich 
werden  dabei  die  Erfahrungen  beim  Erdbeben  von  Messina  verwertet. 
Interessant  sind  auch  die  Tierexperimente  über  den  Zusammenhang  der 
Gefühle  mit  gewissen  Organempfindungen. 

Kapitel  6  (241—262)  betrifft  das  Unbewusste.  Das  Traumleben  würde 
man  unter  diesem  Titel  vielleicht  nicht  erwarten:  desto  mehr  die  Er- 
fahrungen über  doppelte  Persönlichkeit,  automatische  Schrift  und  ähnliche. 
Im  Kapitel  über  Verstandeserkenntnis  (263  —  280)  wird  der  Gegensatz  zur 
Phantasietätigkeit  erklärt,  mit  Benutzung  der  Arbeiten  der  Würzburger 
Schule.  Wenige  Seiten  sind  den  intellektuellen  Gefühlen  gewidmet.  Die 
Willensvorgänge  werden  nach  den  neuesten  Arbeiten  von  Ach  und  Michotte 
gewürdigt.  Bei  Behandlung  der  Ekstase  wird  der  Gegensatz  der  katholischen 
Mystiker  und  der  Hysteri.schen  hervorgehoben,  die  man  heute  vielfach  in 
Parallele  setzt. 

Kapitel  11  behandelt  die  „transzendenten  Phänomene",  wie  sie  der  Ver- 
fasser nennt,  d.  h.  diejenigen,  die  über  die  gewöhnlichen  bekannten  Natur- 
gesetze hinausgehen.  Die  Untersuchungen  von  James  über  die  religiöse 
Erfahrung  werden  eingehend  diskutiert.  Die  Zeugnisse  für  wahre  Tele- 
pathie erscheinen  Vaissiere    nicht   beweiskräftig,  wenigstens  nicht  zum  Er- 


194  Jos.  Fröbes. 

weis  eines  Naturgesetzes  auf  diesem  Gebiet.  Ebenso  steht  er  den  mediu- 
misfipchen  Erscheinungen  skeptisch  gegenüber.  Es  folgt  ein  kleines  Kapitel 
über  die  individuelle  Psychologie,  Charakter,  Temperament,  die  auf  diesem 
Gebiet  herrschenden  Methoden,  die  verschiedenen  Charakterteilungen,  die 
Frage  seiner  Ausbildung  usw. 

Den  Schluss  bilden  einige  recht  brauchbare  Tabellen:  eine  Einteilung 
der  Arten  der  Psychologie  nach  Titchener,  die  Intelligenzprüfung  der 
Kinder  nach  Binet,  eine  Klassifikation  der  psychischen  Funktionen  nach 
.Janet,  drei  verschiedene  Teilungen  der  Geistesstörungen  nach  Binet,  Marie 
und  Kraepelin.  Und  endlich  eine  sehr  reichhaltige  Literaturangabe  zu  den 
einzelnen  Kapiteln  (gegen  30  Seiten),  die  ermöglicht,  alle  berührten  Fragen 
zu  vertiefen. 

Wie  schon  diese  Uebersicht  erkennen  lässt,  bietet  das  Buch  ein  ausser- 
ordenthch  reiches  Material  über  die  verschiedensten  Gebiete  der  allgemeinen 
Psychologie  sowohl  wie  mancher  Anwendungsgebiete,  besonders  der  patho- 
logischen. Das  Angreifbarste  ist  wohl  der  Titel  des  Buches.  Wir  ver- 
stehen unter  experimenteller  Psychologie,  wie  die  Analogie  mit  der  experi- 
mentellen Physik  und  die  Praxis  der  besten  Lehrbücher  (Ebbinghaus, 
Titchener,  Wundt,  James,  Lehmann,  Witasek.  .  .)  zeigt,  einen  syste- 
matischen Aufbau  von  unten  an,  eine  besonders  eingehende  Behandlung 
der  Elemente,  der  Empfindungen,  Wahrnehmungen,  Assoziationen  nach  ihren 
genauen,  wenn  möglich  quantitativen  Beziehungen,  um  daraus,  so  weit  es 
möglich  ist,  die  komphzierteren  Phänomene  zu  erklären  und  abzuleiten. 
Die  pathologische  Methode  ist  eine  wertvolle  Ergänzung  dieser  Deduktion, 
aber  immer  nur  eine  sekundäre.  Die  Resultate  sind  einstweilen  elementar, 
aber,  was  den  Kenner  für  alles  andere  entschädigt,  ein  sicheres  solides 
Fundament. 

Der  Verfasser  stellt  sich  ein  anderes  Ziel.  Für  ihn  ist,  wie  das  in 
Frankreich  vielleicht  am  Platz  ist,  die  experimentelle  Psychologie  eher  eine 
medizinische,  physiologische  Psychologie  im  Sinn  von  Janet  und  besonders 
Ribot.  Die  Elemente,  Empfindungen,  Wahrnehmungen  werden  ziemlich 
flüchtig  gestreift.  Beispielsweise  kommt  das  Gesetz  der  identischen  Seh- 
richtungen, das  bei  der  Gesichtslokalisation  eine  solche  Rolle  spielt,  nicht 
einmal  dem  Namen  nach  vor;  der  Name  Herings,  des  unübertroffenen 
Meisters  der  p.-:ychologischen  Optik,  fehlt  bezeichnender  Weise  im  Index 
völlig.  Die  eigentliche  Psychophysik,  die  Intensitätsmessung  wird  wegdisku- 
tiert, die  psychologischen  Methoden  werden  nur  flüchtig  erklärt.  Von  der 
exakten  Gedächtnisforschung  der  letzten  drei  Jahrzehnte,  auf  der  heute  die 
ganze  Assoziationslehre,  das  Fundament  der  sinnhchen  Psychologie,  ruht, 
ist  so  gut  wie  keine  Rede.  Das  Schwergewicht  der  Darstellung  liegt  statt 
dessen  auf  den  komplizierteren  höheren  psychischen  Prozessen,  den  Vor- 
stellungen in  ihrer  normalen  und  pathologischen  Erscheinung,  dem  Trieb- 
leben, der  Charakterforschung,  den  transzendenten  Phänomenen  usw.     Die 


J,  de  la  Vaissiere,  Elements  de  psychologie  experirnentale.        195 

Erklärungen  sind  qualitativer  Natur,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
pathologischen  Fälle.  Es  ist  etwa  vergleichbar  einer  populären  Physik, 
welche  die  Mechanik  mit  ihren  allgemeinen  Formeln  nur  kurz  streift,  und 
das  Hauptgewicht  auf  die  anziehenderen  elektrischen  und  optischen  Er- 
scheinungen legt.  Sicher  wird  niemand  die  Existenzberechtigung  derartiger 
Darstellungen  bestreiten,  und  vielleicht  haben  manche  derselben  mehr 
Interesse  an  der  Wissenschaft  geweckt,  als  andere  hochgelehrte,  mathe- 
matisch ausgerüstete  Deduktionen.  So  mag  man  sich  auch  der  schönen, 
interessant  geschriebenen  Darstellung  de  la  Vaissieres  erfreuen  und  sie  als 
eine  wertvolle  Bereicherung  unserer  Literatur  anerkennen.  Nur  darf  man 
darin  nicht  die  experimentelle  Psychologie  sehen,  die  exakte  naturwissen- 
schafthche  Lehre,  welche  für  die  scholastische  Philosophie  als  positive 
Tatsachengrundlage  gefordert  werden  muss. 

Valkenburg  (Holland).  c  Jos.  Fröbes  S.  J. 


Geschichte  der  Philosophie. 

Die  Lehre  Anselnis  von  Caiiterbury  über  den  Willen  und 
seine  Wahlfreiheit.  Von  Dr.  Franz  Baeumker  (Beiträge 
zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.  Bd.  10  Heft  6). 
Münster  i.  W.  1912.    VIII,  78  S.    2,75  A 

Nachdem  jüngst  J.  Fischer  über  die  Willenslehre  An  sei  ms  kurze, 
aber  interessante  Mitteilungen  gemacht  hatte  ^),  musste  man  den  Wunsch 
hegen,  dass  sich  des  Gegenstandes  eine  eindringendere  Untersuchung  be- 
mächtige. Franz  Baeumker  hat  sich  dieser  dankenswerten  Aufgabe  unter- 
zogen und  ist  den  unserm  modernen  Bewusstsein  grossenteils  so  unge- 
wohnten Gedankenwegen  des  mittelalterlichen  Theologen  nach  allen  Seiten 
und  mit  grosser  Sorgfalt  gefolgt.  Interesse  weckt  vor  allem  die  Tatsache, 
dass  Anselm  vom  Willen  als  Vermögen  oder  Kraft  angestammte  Willens- 
neigungen unterscheidet.  Wie  bei  anderen  Seelenkräften  wird  zwischen 
Potenz  und  Akt  ein  drittes  Glied  eingeschaltet,  eine  aptitudo  oder  affectio, 
eine  unmittelbare  Tendenz  zur  Tätigkeit,  eine  Willensrichtung.  Als 
solche  dem  Willen  von  Natur  eigene  Tätigkeitsrichtungen  gelten  zwei,  der 
Wille  zum  Guten  und  der  zum  Angenehmen,  der  Wille  zur  Rechtschafien- 
heit  und  der  zur  Seligkeit.  Weitaus  das  Hauptaugenmerk  des  Scholastikers 
ist  jedoch  der  Freiheit  zugekehii,  welche  definiert  wird  als  Fähigkeit,  die 
Rechtschaffenheit  ihrer  selbst  willen  zu  bewahren.  Eine  auffallende  Be- 
stimmung. Klar  ist  ohne  weiteres,  dass  sie  in  keiner  Weise  an  aristo- 
telische Gedanken  erinnert,  vielmehr  Erwägungen  theologischen  Charakters 


')  Die    Erkenntnislehre    Anselms    von    Cantei'bury.     Münster    i.  W.    1912 
(„Beiträge"  Bd.  10   Heft  3). 


196  M.  W  ittinann. 

zur  Voraussetzung  haben  muss.  A.  will  besonders  jener  Auffassung 
widersprechen,  welche  die  Freiheit  in  die  Fähigkeit  zu  sündigen  legt; 
nicht  die  Fähigkeit  zu  sündigen,  macht  die  Freiheit  aus,  da  sonst  Gott 
und  die  Engel  ohne  Freiheit  wären,  sondern  umgekehrt  gerade  die  Fähig- 
keit die  Rechtschaffenheit  zu  bewahren.  Auch  noch  andere  theologische 
Reflexionen  scheinen  mitzuwirken.  Wie  einleuchtet,  ist  die  Definition  zu 
eng,  dass  aber  der  Gedanke  einer  wirklichen  Willensfreiheit  bei  A. 
vollauf  zur  Geltung  kommt,  ist  nicht  zweifelhaft.  Die  Verteidigung  der 
Willensfreiheit  gegenüber  mannigfachen  Schwierigkeiten  nimmt  einen  weiten 
Spielraum  ein.  Naturkausalität  und  Freiheit  werden  hierbei  einander  scharf 
gegenübergestellt.  Im  übrigen  sind  auch  hier  wesentlich  theologische  Ge- 
sichtspunkte massgebend,  wie  der  Gedanke  an  göttliche  Allwissenheit  und 
Vorherbestimmung. 

Was  die  Quellen  dieser  Willenslehre  angeht,  so  wird  offenbar  mit  Recht 
vor  allem  auf  Augustin  verwiesen.  Wenn  daneben  schon  Domet  de 
Vorges,  abgesehen  von  Cicero  und  Virgil,  auch  Aristoteles  an- 
führt, so  unterüegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  Berührung  mit  dessen 
Gedankenwelt  höchstens  eine  ausserordenthch  lose  und  entfernte  sein  kann. 

Geschichtliche  Bedeutung  erlangt  A.s  Willenslehre  zunächst  dadurch, 
dass  sie  auf  Honorius  Augustodunensis  starken  Einfluss  gewinnt. 
Möge  der  Verfasser  das  Vorhaben,  dieses  Verhältnis  zu  klären,  zur  Aus- 
führung bringen  und  so  bald  wieder  einen  verdienstvollen  Beitrag  zur  Er- 
forschung der  mittelalterUchen  Philosophie  liefern. 

Eich  statt.  Prof.  Dr.  M.  Wittmami. 


Die  philoso])hi8chen  Werke  des  Robert  Grosseteste,  Bischofs 
von  Lincoiii.  Von  Prof.  Dr.  Ludwig  Baur  (Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Philosophie  des  Mittelalters.  Herausgegeben  von 
Gl.  Baeumker  in  Verbindung  mit  Gg.  Frhrn.  v.  Hertling 
und  Matthias  Baum  gar tn  er).  Münster  1912,  Aschendorff. 
Bd.  IX.     XIII,  182*,   778  S. 

Hat  uns  Baur  früher  schon  mit  einem  grösseren  und  sehr  gediegenen 
Werke  zur  Philosophie  des  Mittelalters  beschenkt,  so  tritt  er  dieses  Mal 
mit  einem  ungewöhnlich  umfangreichen,  nahezu  1000  Seiten  umfassenden 
„Beitrag"  an  die  Oeffentlichkeit.  Eine  Gesamtausgabe  der  philosophischen 
Schriften  Grossetestes  wird  uns  geboten.  Lagen  einzelne  dieser  Schriften 
schon  aus  früheren  Zeiten  gedruckt  vor,  so  waren  sie  einerseits  ausser- 
ordentlich selten  geworden  und  wiesen  andererseits  äusserst  entstellte  Texte 
auf.  Die  Herstellung  einer  vollständigen  und  kritischen  Ausgabe  hat  eine 
gewaltige  Arbeit  verschlungen.  Dies  schon  deshalb,  weil  es  bisher  an 
einem     genügenden    bibliographischen    Fundamente     in    jeder    Beziehung 


Iv.  Baur,  Die  philos.  Werke  des  Robert  Grusseteste.  197 

mangelte,    für   jedes  Werk  vielmehr   der    handschriftliche  Sachverhalt  §rst 
zu  ermitteln  war.     So    oft    auch    die    vorausgehenden   Jahrhunderte    einen 
Anlauf  genommen  haben,  die  Werke  Grossetestes  zu  katalogisieren,  durch- 
weg ist  die  handschriftliche  Sicherstellung  unvollständig  geblieben.    Mehrere 
Aristoteleskomm enfare,    für   welche   G.    auf   Grund    eingehender   Fest- 
stellungen vor  allem    in  Anspruch   genommen  wird,   erweisen   den   mittel- 
alterlichen Theologen  als  guten  Kenner  des  antiken  Philosophen.    Die  Kom- 
mentare   zu    den    Handschriften    des    Pseudo-Dionysius  Areopagita   sodann 
liefern  den  Beweis,  dass  G.  des  Griechischen  so  weit  mächtig  ist,   dass  er 
den    Urtext   fortwährend    zu  Rate    zieht.     Doch  scheint  er  sich  diese  Ver- 
trautheit  mit   der   griechischen  Sprache    erst  in  späteren  Jahren  erworben 
zu  haben.     Von   Bedeutung  ist,    dass    er    für    das   Uebersetzen   ein    philo- 
logisches Programm    aufgestellt    hat,    dessen   Grundsätze  von  Roger  Bacon 
aufgenommen  und  weiter  entwickelt  wurden.     Die  Anregung   ist  also  in 
dieser  Hinsicht  nicht  von  Roger  Bacon,  sondern  von  G.  ausgegangen.    Die 
selbständigen  Schriften  Grossetestes  sind  zum  grossen  Teil  naturphilo- 
sophischen   Inhalts.     Mehrere    erfreuten    sich,    wie    die    grosse  Anzahl  der 
Handschriften   beweist,   im    Mitlelalter   einer  weiten  Verbreitung.     Der  Ab- 
handlung „lieber  das  Licht"  (oder  der  Anfang  der  Formen)  sichert  der  neu- 
platonische   Charakter,    eine  Art   dynamischer  Atomismus    und  eine  eigen- 
tümhche  Zahlenmystik,  ein  besonderes  Interesse.    In  einem  andern  Schrift- 
chen wird    einem    mathematischen  Aufbau  der  Naturphilosophie   das  Wort 
geredet.     Auch    den   metaphysischen   Fragen    ist   G.  nicht   aus  dem  Wege 
gegangen.     Zu    den    bekanntesten    und  verbreitetsten  Abhandlungen  gehört 
« in  dieser  Beziehung  der  Traktat  „De  unica  forma  ommiim".    Es  handelt 
sich  um  eine  Frage,    mit    der    sich    das  Mittelalter   im  Hinbhck    auf   pan- 
theistische  Strömungen  intensiv  beschäftigt  hat,  ob  nämlich  und  in  welchem 
Sinne    Gott    als    universelle    Form    bezeichnet  werden    kann.     G.  hält  den 
Satz,  dass  Gott  forma  et  forma  omnium  sei,  grundsätzlich  für  richtig,  deutet 
ihn   aber   ganz    im  Geiste  Augustins.     Nicht   im  Sinne  der  Pantheisten  ist 
Gott   als   Form   aller  Dinge    zu   bezeichnen,   sondern  im  Sinne  des  christ- 
hchen  Exemplarismus:    So  wie  die  künstlerische  Idee  oder  Konzeption  die 
Form  des  Kunstwerkes    bildet,    so    kann    auch  Gott    die   Form    der  Dinge 
heissen.     Der   Geist  Augustins  waltet   auch   in   „De  veritate".     Eingehend 
wird    darin   erörtert,   inwiefern    der  Wahrheitserkenntnis    auch  im  Hinblick 
auf   bloss    Tatsächliches    eine    Notwendigkeit    anhafte.      Einen    stark    neu- 
platonischen  Einschlag   wieder   hat  „De  ordine  emanandi  causatomm  a 
Deo".    Grösseren  Umfangs  ist  die  hauptsächlich  von  Augustin  und  Anselm 
beeinflusste    Schrift    über   die   Willensfreiheit,    der   in    der    Felge    Thomas 
Rradwardinus  vieles  entlehnt  hat    Bleibt  die  Autorschaft  bei  einigen  Schriften 
zweifelhaft,  so  werden  andere,  die  bisher  dem  englischen  Theologen  zuer- 
kannt wurden,  als  unecht  erwiesen ;  so  die  von  PrantI  als  echt  angesehenen 
„Syncategorematica" . 


198  R.  Stölzie. 

Eine  eigenartige  Sache  ist  es  mit  der  sehr  umfangreichen  ,,Sumina 
phüosophiae"^  welche  fast  allgemein  unter  den  Werken  Grossetestes  auf- 
gezählt, jedenfalls  immer  wo  sie  genannt  wird,  ihm  zugeteilt  wird.  Sie  ist 
eines  der  bezeichnendsten  und  interessantesten  Werke  der  Oxforder  Schule 
des  13.  Jahrhunderts.  Die  englische  Herkunft  ist  zweifellos ;  und  nicht 
wenige  bedeutsame  Umstände  weisen  auf  G.  hin.  Dennoch  kann  er,  wie 
Baur  auf  äussere  und  innere  Gründe  hin  konstatiert,  der  Verfasser  nicht 
sein.  Sehr  dankenswert  ist,  dass  das  Werk  gleichwohl  der  Oeffentlichkeit 
übergeben  wird.  Die  positive  Lösung  der  Autorfrage  wird  Baur  anders- 
wo bringen. 

Die  Handschriften,  auf  Grund  welcher  Baur  die  Texte  hergestellt  hat 
—  im  Ganzen  40  an  der  Zahl  -  ,  sind  eingehend  beschrieben  und  ge- 
würdigt ;  das  Filiationsverhältnis  wurde  durchgehends  so  weit  als  nur  immer 
möglich  verfolgt. 

So  bedeutet  das  vorhegende  Werk  in  der  Erforschung  der  mittel- 
alterlichen Philosophie  eine  hervorragende  Tat.  Ein  weiteres  Eingehen  auf 
den  Inhalt  der  veröffentlichten  Schriften  darf  um  so  mehr  unterbleiben,  als 
der  Herausgeber  selbst  eine  Untersuchung  in  Aussicht  stellt;  eine  Unter- 
suchung, die  mit  Spannung  erwartet  werden  darf  und  über  eine  besondere 
Strömung  der  scholastischen  Philosophie  sicher  ganz  neues  Licht  ver- 
breiten wird. 

Eich  statt.  Prof.  Dr.  M.  Wittmaun. 


Verschiedenes. 

Aus  der  Werkstatt  der  philosophia  peremiis,  Gesammelte 
philosophische  Schriften.  Von  Dr.  Otto  Willmann.  Freibnrg 
1912,  Herdersche "  Verlagsbuchhandlung  V  und  311  S. 
Willmann  ist  unermüdhch  an  der  Arbeit,  die  theistisch- christliche 
Weltanschauung  als  die  allein  wahre  zu  erweisen  gegenüber  dem  Chaos 
der  Privatsysteme  moderner  Philosophen.  Ueberall  geht  er  darauf  aus,  zu 
zeigen,  dass  bei  aller  Anerkennung  des  Guten,  was  moderne  Philosophen 
im  einzelnen  leisten,  die  Prinzipien  wahrer  Philosophie  nur  bei  den 
Alten,  d.  h.  bei  Plato,  Aristoteles  und  Thomas  v.  Aquin,  zu  suchen  und  zu 
finden  sind.  Das  ist  der  Grundton,  auf  den  diese  gesammelten  Aufsätze 
zur  Wissenschaftslehre,  zur  Philosophiegeschichte,  zu  den  Streitfragen  der 
Gegenwart,  zur  theoretischen  und  zur  praktischen  Philosophie  gestimmt 
sind.  Eingehende  Kenntnis  der  neuen  imd  alten  und  mittelalterlichen 
Philosophie  befähigt  den  Verf.,  überall  alte  und  neue  Philosophie  zu  ver- 
gleichen und  das  Wahre,  Haltbare  In  geistvoller  und  anziehender  Welse 
herauszustellen.  Mag  Wlllmann  die  religiöse  Grundlage  der  Wissenschaft, 
die   methodische    Empirie    als  Wegweiser    zum  Theismus,    die    katholisch« 


().  Willmann,   Aus  der  Werkstatt  der  philosophia  perennis.       199 

Wahrheit  als  Schlüssel  zur  Geschichte  der  Philosophie  betrachten,  mag  er 
christliche  Philosophie  und  modernes  Philosophieren,  Thomismus  und 
Kantianismus,  Kultur  und  Katholizismus  einander  gegenüberstellen,  oder 
mag  er  die  modernen  Gottsucher,  das  moderne  Geistesleben,  Hauptprobleme 
der  Metaphysik,  Naturrecht  und  Soziologie,  pädagogische  Psychologie  be- 
leuchten —  immer  ernten  wir  aus  der  Lektüre  dieser  auch  formschönen 
Darlegungen  reiche  Belehrung  und  Vertiefung;  Willmann  haftet  nirgends 
an  der  Oberfläche,  sondern  geht  den  Problemen  auf  den  Grund  und  findet 
Beruhigung  und  Befriedigung  für  sein  Denken  nur  im  Theismus.  Wir 
empfehlen  die  Lesung  dieser  gehaltvollen  Aufsätze  allen  philosophisch 
Interessierten. 

Würzburg.  Prof.  Dr.  R.  Stölzle. 


Zeitschriftensehau. 


A.  Philosophische  Zeitschriften. 

IJ  Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Herausgegeben  von 
E.Meumann  und  W.  Wirth.  Leipzig  1912. 
25.  Bd..  1.  und  2.  Heft :  W.  Haucker,  Ueber  LeruA  ersuche  bei 
Axolotlen.  S.  1.  „Es  wurde  versucht,  die  Frage  zu  beantworten,  ob  und 
inwieweit  sich  die  Tiere  bei  der  Nahrungsaufnahme  täuschen  lassen,  und 
ob  etwaige  üble  Erfahrungen  eine  Nachwirkung  zeigen  ?"  Es  wurden  ihnen 
4  cm  lange  Fleischstreifen  und  dazwischen  ähnliche  Holzstücke  verabreicht. 
„Es  zeigte  sich  nun  zunächst,  dass  sämtliche  erwachsene  Tiere  sich  an 
den  ersten  Versuchstagen  öfters,  zum  Teil  bis  zu  20nial  hintereinander 
durch  Holz  täuschen  liessen,  dass  sie  aber  früher  oder  später  lernten,  auf 
den  Unterschied  von  Holz  und  Fleisch  zu  achten,  und  dass,  wenn  einmal 
diese  Unterscheidung  gemacht  worden  war,  ziemlich  gleichmässig  an  ihr 
festgehalten  wurde.  Aber  es  zeigten  sich  recht  beträchtliche  individuelle 
Verschiedenheiten  sowohl  inbezug  auf  die  Zahl  der  Täuschungen  (Fleisch- 
reaktionen, positive  Holzreaktionen)  in  den  ersten  Tagen,  d.  h.  in  der  eigent- 
lichen Lernperiode,  als  auch  hinsichtlich  der  Häufigkeit  der  Rückfälle  im 
weiteren  Verlauf  des  Versuchs".  Die  individuellen  Verschiedenheiten  lassen 
sich  auf  3  Typen  zurückführen.  —  P.  Schilder,  Ueber  autokluetische 
Empfindungen.  S.  36.  Exner  hat  behauptet,  dass  die  Wahrnehmung 
von  Bewegungen  auf  einem  besonderen  psychischen  Inhalt  beruht,  und 
Lasersohn  hat  die  Gründe  dafür  zusammengestellt,  unter  anderen:  „Die 
Bewegung  eines  leuchtenden  Punktes  wird  in  der  Peripherie  der  Netzhaut 
auch  dann  als  solche  erkannt,  wenn  die  zurückgelegte  Strecke  zu  klein 
ist,  um  die  gesonderte  Wahrnehmung  zweier  an  den  Endpunkten  sitzender 
Punkte  zu  vermitteln",  Fiuppert  und  Basler  haben  dies  konstatiert. 
Werthheimer  gibt  den  eigenen  Inhalt  des  Bewegungssehens  zu,  fasst  ihn 
aber  nicht  als  Empfindung  auf.  Vf.  knüpft  an  das  schon  von  Purkinje 
und  Helmholtz  beobachtete  Wellenphänomen  an.  „Fixiert  man  im  Dunkeln 
einen  leuchtenden  Punkt,  so  beginnt  er  sich  zu  bewegen.  Ein  zweiter 
Lichtpunkt  hält  die  Scheinbewegung  nicht  hintan,  schwächt  sie  aber.  Die 
Bewegung  tritt  auch  später  ein.  Bringt  man  eine  grosse  leuchtende  Fläche 
in  die  Nähe    des  Lichtpunktes,    so   sistiert   die  Scheinbewegung,    tritt  aber 


Zeitschriftenschau.  201 

nach  längerem  Fixieren  wieder  auf,  wenn  die  leuclitenden  Flächen  unsicht- 
bar geworden  sind,  durch  langdauernde  Reizung  der  gleichen  Netzhaut- 
stellen. Die  Verringerung  der  Bewegung  betrifft  nicht  die  Schnelligkeit, 
sondern  die  Exkursionsweite.  Mit  Abnahme  der  Helligkeit  nimmt  die 
Scheinbewegung  zu.  Der  Lichtpunkt  kann  bis  zu  30 »  aus  seiner  ursprüng- 
lichen Lage  weichen".  Dieses  Phänomen  steht  in  engster  Beziehung  zum 
Wellenphänomen,  worüber  Helmholtz  berichtet:  „Ich  bemerkte  eine  auf- 
fallende Formveränderung  der  geraden  hellen  und  dunklen  Linien  ...  Die 
weissen  Streuen  erschienen  zum  Teil  wellenförmig  gekrümmt,  zum  Teil 
perlschnurförmig  mit  abwechselnd  dickeren  und  dünneren  Stellen".  Die 
Versuche  des  Vf.s  zeigten,  „dass  das  Wellenphänomen  nicht  zurückgeführt 
werden  kann  auf  Augenbewegungen  und  auch  nicht  indirekt  auf  Bewegungs- 
nachbilder, die  durch  Augenbewegungen  hervorgerufen  sind.  Ein  sehr 
wesentlicher  Teil  des  Wellenbewegungsphänomens  geht  auf  retinale  Pro- 
zesse zurück:  die  Formveränderungen,  die  dem  Phänoznen  zugrunde  liegen. 
Zentralere  Vorgänge  müssen  zunächst  nur  in  dem  Ausmasse  angenommen 
werden,  als  solche  für  das  Nachbild  postuliert  werden  müssen".  „Die  Zu- 
gehörigkeit des  von  Purkinje  und  Helmholtz  beschriebenen  Phänomens  zur 
Gruppe  der  autokinetischen  ist  unzweifelhaft".  —  J.  Sutter,  Die  Bezieliiing 
zwischen  Aufmerksamkeit  und  Atmung.  S.  78.  „Zusammenfassend 
können  wir  konstatieren,  dass  als  Folge  der  Aufmerksamkeitsspannung  in 
der  Regel  eine  Verkleinerung  der  Tnspirationsdauer  (J),  und  ausnahmslos 
eine  Verlängerung  der  Exspirationsdauer  (E)  auttrilt,  welche  von  der  eventuell 
vorhandenen  Aenderung  der  Län^e  der  betreffenden  Atemlänge  unabhängig 
ist  Die  Verkleinerung  des  Quotienten  J  :  E  ist  also  die  Folge  einer 
Aenderung  in  erster  Linie  der  Exspiration,  sodann  aber  in  der  weit  über- 
wiegenden Zahl  der  Fälle  auch  der  Inspiration,  und  zwar  in  entgegen- 
gesetzter Richtung".  Die  Atemhöhe  zeigt  nur  eine  gewisse  Tendenz  zur 
Verkleinerung  ...  Die  thorakale  und  die  abdominale  Atmung  separat  be- 
trachtet zeigen  im  allgemeinen  folgendes  Bild:  Bei  leichter  Spannung  der 
Aufmerksamkeit  neigt  die  thorakale  mehr  zur  Verkleinerung  als  die  ab- 
dominale ...  Bei  mittlerer  A-Spannung  kehrt  sich  das  Verhältnis  um.  Sehr 
gesetzmässig  ist  die  Beziehung  des  Verhältnisses  J  :  E.,  zur  Aufmerksamkeits- 
spannung. „Die  Quotientänderung  ist  eine  direkte  Begleiterscheinung  der 
Aufmerksamkeitsspannung,  und  zwar  in  fester  Grössenbeziehung  zu  der- 
selben stehend.  Die  Gesetzmässigkeit  tritt  ausnahmslos  in  Erscheinung. 
Nach  den  Kurven  ergibt  sich  als  Einfluss  der  Aufmerksamkeitsspannung: 
1.  der  Quotient  J  :  E  verkleinert  sich,  2.  die  Form  der  Inspiration  und  Ex- 
spiration vergradet  sich.  3.  Die  Uebergänge  werden  spitzer  ...  4.  Die 
Atemlänge  tendiert  bei  kleineren  Graden  der  Aufmerksamkeit  auf  Ver- 
kleinerung. 5.  Mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  kann  von  einer 
Tendenz  zur  Verkleinerung  der  Atemhöhe  gesprochen  werden".  -  Bericht 
über  den  IV.  internationalen  Kongress   für   Kunstunterricht,   Zeichneu  uud 


202  J^eitschriftenschaü. 

angewandte    Kunst,    Dresden    im    August    1913,    von    E.    Schrott  er.  — 
Literaturbericht. 

3.  und  4.  Heft :  G.  Störring,  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre 
von  den  Bewegung;«-  und  Kräfte mpfindungen.  S.  177.  Bei  den  bis- 
herigen Versuchen  hat  man  zu  wenig  die  passiven  Bewegungen  berück- 
sichtigt, bei  denen  doch  die  Kraftempfindungen  ausgeschaltet  sind.  Nach 
Ebbinghaus  und  Goldscheider  soll  die  Raumauffassung  nicht  von  den  Be- 
wegungsempfindungen abhängen.  Die  Befunde  des  Vf.s  widerlegen  ihre 
Beweisführung.  „Die  festgestellten  Tatsachen  sprechen  dafür,  dass  die 
Druckempfindungsänderungen  hier  die  erste  Rolle  spielen".  ,,Die  Druck- 
empfindungsänderungen werden  durch  Erfahrung  so  gedeutet,  dass  sich 
dann  an  sie  die  Vorstellung  einer  bestimmten  Bewegung  anschliesst".  „So 
können  Muskel-,  Sehnen-  und  Gelenkempfindungen  indirekt  feinere  Be- 
wegungsschätzungen bedingen,  als  sie  selbst  herbeizuführen  vermögen!" 
Vf.  findet,  „dass  bei  motorischer  Einstellung  eine  Unterschätzung  der  Strecke 
eintritt  gegenüber  sensorischer  Einstellung".  „Bei  Steigerung  der  Ge- 
schwindigkeit kann  man  allgemein  weder  von  Ueberschätzung  noch  von 
Unterschätzung  sprechen".  „Daraus  lässt  sich  schliessen,  dass  die  Ansicht 
falsch  ist,  dass  unsere  Bewegungsschätzungen  wesentlich  auf  Schätzung  der 
Geschwindigkeit  der  Bewegung  und  der  Dauer  derselben  beruhen".  Dies 
gilt  von  passiven  Bewegungen,  bei  aktiven  sind  die  Fehlerquellen  zahlreicher, 
daher  eine  starke  Differenz  zwischen  aktiver  und  pas.siver  Bewegung.  Eine 
Tendenz  zur  Flexion  des  Armes  lässt  überschätzen.  --  Die  bekannten 
Gewichtsversuche  von  Müller  und  Schumann  und  die  von  Dresslar  haben  zu 
der  Auffassung  geführt,  dass  für  die  Vergleichung  gehobener  Gewichte  nicht 
so  sehr  Kraftempfindungen  als  Anhaltspunkte  dienen,  als  vielmehr  die  ver- 
schiedene Geschwindigkeit,  mit  der  die  Gewichte  gehoben  werden.  Aber 
es  ergab  sich,  dass  3,7  mal  so  viel  Fehlurteile  bei  Beurteilung  nach  der 
Geschwindigkeitsänderung  zu  erwarten  gewesen,  als  wirkhch  gemacht  sind". 
„Es  ist  die  Zahl  der  Fälle  um  ein  Achtfaches  grösser,  in  denen  ein  rich- 
tiges Urteil  gefällt  wird,  obgleich  nach  der  Geschwindigkeit  ein  falsches 
zu  erwarten  gewesen  wäre,  gegenüber  den  Fällen,  wo  falsch  geurteilt 
wird  in  Uebereinstimmung  mit  der  irreführenden  Geschwindigkeitsänderung. 
Angesichts  dieser  Tatbestände  ist  die  Annahme  unmöglich,  dass  die  Ge- 
schwindigkeitsänderung den  besten  Anhaltspunkt  für  die  Vergleichung  ge- 
hobener Gewichte  abgibt.  Da  Jacoby  gezeigt  hat,  dass  die  Druck- 
empfindungen bei  der  Vergleichung  gehobener  Gewichte  den  ausschlag- 
gebenden Anhaltspunkt  nicht  abgeben  können,  so  werden  wir  als  den 
besten  Anhaltspunkt  für  die  Schätzung  die  Kraftempfindungen  selbst  in 
Anspruch  zu  nehmen  haben".  Auch  bei  Federspannungen  hängt  die 
Feinheit  der  Schätzung  nicht  von  Bewegungsempfindungen  ab.  Es  wurden 
„die  Exkursionsweiten  bei  den  verschiedenen  Federn  in  der  Normalleistung 
gleich  gemacht;    wenn    nach  Bewegungsempfindungen    geurteilt  würde,    so 


Zeitschriftenschau.  003 

wäre  bei  den  WiederherstelUingsleistungen  eine  Uebereinstimmung  der  rohen 
mittleren  Fehler  der  Skalenwerte  zu  erwarten.  Der  rohe  mittlere  Fehler 
der  Skalenwerte  war  aber  sehr  viel  kleiner  bei  der  starken  Feder  als  bei 
der  sehwachen".  —  G.  Ansehütz,  Tendenzen  im  psychologischen 
Empirismus  der  Gegenwart.  S.  189.  Eine  Erwiderung  auf  0.  Külpes 
Ausführungen:  „Psychologie  und  Medizin"  und  „lieber  die  Bedeutung  der 
modernen  Denkpsychologie".  „Um  die  Lostrennung  der  Psychologie  von 
der  Philosophie  und  ihre  Verbindung  mit  der  Medizin  zu  beweisen,  benutzt 
Külpe  einige  Arbeiten,  so  insbesondere  die  von  Binet  und  Simon,  die  dar- 
tun sollen,  wie  sehr  einerseits  den  Psychiatern  eine  bessere  Kenntnis  der 
P.«ychologie  nottut,  und  wie  wenig  andererseits  die  Psychologen  imstande 
sind,  pathologisches  Material  zu  verwerten".  Der  Beweis  ist  einseitig,  aber 
aus  demselben  ergibt  sich  jedenfalls  keine  Trennung  von  der  Philosophie. 
Ohne  Philosophie  läuft  der  empirische  Psychologe  Gefahr,  in  die  schlimm- 
sten Spekulationen  zu  verfallen.  Die  Ausführungen  Külpes  über  die  Be- 
deutung der  modernen  Denkpsychologie  zeigen  einerseits,  zu  welchen 
Konsequenzen  der  einseitig  extreme  Empirismus  führt,  andererseits  aber, 
wie  derselbe  in  sich  selbst  den  Keim  zu  seiner  Auflösung  trägt,  indem  er 
trotz  seiner  vermeinthchen  Unabhängigkeit  von  der  Philosophie  schliesslich 
auf  dieselbe  zurückleitet".  Külpe  behauptet,  dass  die  gesamte  neuere 
Psychologie  auf  seine  Denkpsychologie  hinleite.  Aber  „dass  es  schon  früher 
Versuche  gab,  die  Gedankenwelt  genauer  zu  untersuchen,  wird  nicht  er- 
wähnt. Die  bedeutendsten  Leistungen  werden  ignoriert".  Man  vermutet, 
dass  es  sich  bei  ihm  nicht  „um  die  Bedeutung  der  Denkpsychologie  handelt, 
sondern  nur  einer".  Ueber  die  Methoden  wird  nichts  gesagt,  und  das 
macht  gerade  das  Wesen  der  Denkpsychologie  aus.  „Was  hilft  aber  die 
Darlegung  der  Bedeutung  eines  nicht  streng  definierten  Etwas".  Sie  soll 
einen  günstigen  Einfluss  auf  andere  Disziplinen  ausüben;  dasselbe  ist  aber 
„fast  identisch  mit  dem  Einfluss,  den  nach  Marbe  die  Psychologie  auf 
ungefähr  alle  Wissenschaften  ausübt".  K.  weist  die  engste  Beziehung 
zwischen  Logik  und  Erkenntnistheorie  einerseits  und  Denkpsychologie 
andererseits  nach.  Und  in  der  Tat  sind  die  Probleme  der  Logik  und 
Erkenntnistheorie  in  dem  Material  der  Denkpsychologie  unmittelbar  ent- 
halten. So  ergibt  sich  also  jene  eigenartige  Diskrepanz:  Auf  der  einen 
Seite  völlige  Trennung  der  Psychologie  von  der  Philosophie,  auf  der  andern 
Seite  ihre  unmittelbare  Berührung,  ja  ihre  gegenseitige  Durchdringung. 
Wenn  die  Denkpsychologie  einen  so  überaus  aufklärenden  Einfluss  ausübt, 
worin  besteht  dann  der  eigentliche  Vorteil  ?  Wird  der  Logiker  lernen,  seine 
Wissenschaft  nur  mehr  unter  dem  psychologischen  Gesichtspunkt  zu  be- 
trachten? Oder  wird  die  Denkpsychologie  uns  nur  zeigen,  dass  es  auch 
eine  von  ihr  unabhängige  Logik  gibt  ...  Ist  es  die  Psychologie,  die  uns 
Kunde  gibt  von  einem  transzendentalen  logischen  Gegenstand  ?  Dürfen  wir 
überhaupt  von  einem  solchen  reden,  ist  er  erlebt,  postuliert,  oder  etwa  gar 


204  Zeitschriftenschau. 

nur  konstruiert  y  Ein  Vorteil,  den  pathologische  Untersuchungen  der  Denk- 
psychologie bieten  könnten,  wird  nicht  gezeigt.  Das  Material,  auf  das  Külpe 
aufbaut,  trägt  das  gewaltige  Gebäude  nicht  ...  Es  kann  nicht  genug  betont 
werden,  „dass  gerade  in  der  Psychologie  zur  Zeit  die  Strömungen  noch  zu 
verschieden  sind,  als  dass  eine  einzelne  Richtung  unternehmen  könnte, 
unter  Nichtbeachtung  der  andern  das  Gesamtgebiet  der  Forschungen  für 
sich  zu  beanspruchen".  Was  die  Methode  anlangt,  „so  ist  nicht  einzusehen, 
inwiefern  die  Entwicklung  der  Psychologie  es  mit  sich  gebracht  haben 
soll,  dass  auf  einmal  vor  gut  einem  Jahrzehnt  das  Befragen  anderer  Indi- 
viduen aufgetreten  ist".  Schon  Galton  versandte  Fragebogen  über  das 
Verhältnis  von  Vorstellen  und  Denken,  „wobei  sich  schon  längst  die  Tat- 
sache des  abstrakten  Denkens  gezeigt  hatte,  die  Külpe  erst  1901  entdeckt 
werden  lässt"  und  „es  ist  nicht  erkenntlich,  wie  die  Versuche  von  Müller 
und  Schumann  über  das  Vergleichen  von  Gewichten  Vorläufer  derjenigen 
Untersuchungen  gewesen  sein  sollen,  die  Marbe  1901  mit  seinen  ,Experi- 
mentellen  Untersuchungen  über  das  Urteil'  inaugurierte.  Das  Verfahren, 
wie  wir  es  bei  jenen  Autoren  finden,  steht  durchaus  im  Einklang  mit  den 
psychophysischen  Methoden,  wie  sie  von  Weber,  Fechner  und  Volkmann 
angebahnt  waren.  Das  neue  Verfahren,  das  prinzipiell  jedoch  schon  seit 
Galton  bestand,  steht  aber  keineswegs  in  der  gleichen  Entwicklungs- 
richtung". Die  spekulative  Richtung  hat  vielmehr  nach  Wundt  die  Frage- 
methode geschaffen..  Was  ihren  Wert  selbst  anlangt,  so  ist  noch  längst 
nicht  entschieden,  dass  jener  Weg  der  unter  Zuhilfenahme  der  Selbst- 
beobachtungen anderer  Individuen  und  unter  Verwendung  des  so  gewonnenen 
Materials  als  alleiniger  Grundlage  für  die  Einsicht  in  die  psychischen  Tat- 
bestände notwendig  der  einzige  sei,  der  zur  Erforschung  der  Denkvorgänge 
führt.  Ja,  es  i.st  vorläufig  nicht  einmal  erwiesen,  dass  er  hat  betreten 
werden  müssen  ...  Es  bleibt  für  die  Betrachtung  nur  ein  Anhaltspunkt: 
jenes  Verfahren  schien  offenbar  aussichtsvoller  und  vor  allem  bei  weitem 
einfacher.  Aber  man  vergass  dabei,  dass  die  Resultate  Gefahr  liefen,  ein 
gar  zu  wankendes  Fundament  zu  erhalten.  Wundt  konnte  daher  jene 
Versuche  als  ,Scheinexperimente'  ansehen.  Die  neue  Methode  „stützt  sich 
auf  Behauptungen  von  anderen  Personen,  deren  Wert  wir  selten  kontro- 
Ueren  können",  was  schon  Wundt  und  Titchener  hervorgehoben  haben. 
Külpes  betreffende  Schriften  werden  von  Hellpach  für  „eine  Tat  der  deut- 
schen Psychologie"  erklärt  mit ,, schlüssiger  Beweisführung"  und  einer  „um- 
fassenden theoretischen  Rechtfertigung'.  Aber  „da  die  Zeiten  vorüber  sind, 
in  denen  der  Dogmatismus  herrschte,  so  seien  unsere  Ausführungen  als 
Erwiderung  auf  Külpes  .Kundgebung'  dem  Leser  unterbreitet.  —  W.  Poppel- 
reuter,  Ueber  die  Ordnung  des  Vorstelliingsverlaufes.  S.  208. 
Revision  der  hauptsächhchsten  elementaren  Gesetze  der  Assoziation  und 
Reproduktion.  „Die  direkte  qualitative  und  quantitative  Grundlage  der 
Assoziation  und  Reproduktion  ist  nicht  die  Empfindung,  sondern  dasjenige 


Zeitschriftenschau.  205 

Erlebnis,  welches  erst  seinerseits  durch  die  Empfindung  produziert  wird. 
Dass   jede    Empfindung    unter    normalen  Verhältnissen    die    entsprechende 
Vorstellung    (sekundäres    Element)    hervorruft,    welche    die    Andauer    der 
Empfindung  überdauert,   ist  eine  elementare  Tatsache.     Die  eventuelle  Er- 
neuerung dieser  , Sekundärwirkung'  ist  die  Reproduktion.   Da  ein  Sekundär- 
erlebnis   sowohl   bei  einer  simultanen,    als   auch  sukzessiven  Mehrheit  von 
primären  Elementen  einer  simultanen  Totalvorstellung  entsteht,  von  einem 
Umfange,    der   durch    die  Andauer   der  Sekundärvvirkung  bestimmt  ist,    so 
geht  bei  Wiedererleben  eines  Teils  die  Reproduktionstendenz  auf  möglichste 
Wiederherstellung  des  ganzen   Sekundärerlebnisses,   also   auf  die  Totalität, 
nicht  von  Glied  zu  Glied  .  . .  Was  ich  hier  als  ,Sekundärerlebnis'  bezeichne, 
findet  man  in  der  Literatur  als  ,primäres  Gedächtnisbild'  (Fechner),  ,un- 
mittelbares  Gedächtnis'  (Wolf,  Meumann),    ,unmittelbare   Merkfähigkeit' 
(Wer nicke),  ,Perseveration'  (G.  E.  Müller),   ,Reproduktion  nach  Aehn- 
hchkeit'    (Höffding),    ,psychische    Präsenzzeit'    (Stern),    ,Komplexion, 
(Witasek),  ,Umfang  des  Bewusstseins'  (Wundt)  und  noch  andere  Namen". 
„Unbestritten   ist,   dass   in   all   den  Fällen,  wo  nachweisbare  Assoziationen 
gestiftet  werden,    die  Empfindungen    entsprechende  Sekundärerlebnisse  zur 
Folge  haben".     „Die   Reproduktion   ist   eine  Wiedererneuerung   desjenigen 
Sekundärerlebnisses,  welches  erst  durch  die  Perzeptionen  produziert  wurde. 
Es  fand  sich,   dass   bei   der    Reproduktion  agglutinierter  Totalvorstellungen 
bzw.  agglutinierter  Sekundärerlebnisse  die  Teile  grösserer  Reproduzibilität, 
also   die  oft  wiederholten  alten  Teile,    noch  reproduziert  werden,  während 
die   früher   aktuellen    und  von  hohem  Bewusstseinsgrade   gewesenen  Teile 
bereits    nicht    mehr    reproduziert   sind".    —    R.    Feilgenhaiier,    Uuter- 
suchuiigen     über     die     Geschwindigkeit     der    Aufmerksamkeits- 
wanderung.    S.  350.     „1.  Die  Grösse  des  kleinsten  aktiven  Aufmerksam- 
keitsschrittes   beträgt    im    Durchschnitt    rund    300  a.     2.    Die  Grenzen  der 
beobachteten  Geschwindigkeit  liegen  bei  262  und  394  a.     3.    Bei  den  ver- 
schiedenen Reizarten   ergibt  sich   keine  hervorragende  Abweichung  in  den 
Werten ;  nur  bei  vorausgehenden  optischen  Reizen  tritt  eine  Erhöhung  von 
35  ff  ein.     4.    Der  Uebergang  der  Aufmerksamkeit  von  einem  zum  andern 
Reiz  ist  auf  demselben  Sinnesgebiet  ein  gleitender ;  sie  bleibt  auf  derselben 
Höhe.     Bei  disparaten  Reizen  ist  er  ein  sprunghafter.     5.  bie  Geschwindig- 
keit der  Aufmerksamkeitswanderung  kann  mit  Willkür  nicht  über  obiges 
Mass  beschleunigt  werden,  wohl  aber  kann  man  sie  verlangsamen.    6.  Man 
ist  nicht  imstande,  die  Aufmerksamkeit  mit  der  grösstmöglichen  Geschwindig- 
keit wandern  zu  lassen.     7.  Die  Geschwindigkeit  hängt  ab  von  der  Person 
des  Beobachters.     8.  Bei  optischen  Reizen  hat  die  Lage  der  Reize  keinen 
Einfiuss  auf  die  Geschwindigkeit.     9.  Ebensowenig  beeinflusst  die  Richtung 
der  Wanderung  bei  optischen  Reizen  den  Aufmerksamkeitsschritt.    10.  Der- 
selbe ist  auch  unabhängig   von    dem  Gesichtswinkel,    unter  dem  das  Auge 
die  Reize  auffasst.     11.    Die  Vermehrung  der  Reize   trägt  weder  zu  einer 

Philooiphisches  Jahrbuch  1913.  14 


206  Zeitschriftenschau. 

Erlahmung  noch  zu  einer  grösseren  Geschwindigkeit  bei,  sie  bleibt  sich  bei 
akustischen  und  taktilen  Reizen  ganz  gleich.  Dagegen  tritt  bei  optischen 
individuell  eine  Verlangsamung  ein.  12.  Erkrankung  und  Ermüdung  be- 
nehmen die  Möglichkeit,  die  Wanderung  in  gewohnter  Geschwindigkeit 
erfolgen  zu  lassen.  13.  Die  beste  Disposition  sowie  die  schärfste  Einstellung 
bei  dem  geübtesten  Beobachter  vermögen  keine  grössere  Geschwindigkeit 
als  eine  solche  zu  erzeugen,  die  nach  den  angestellten  Versuchen  für  den 
Betreffenden  als  normal  anzusehen  ist.  14.  Die  Präzision  in  der  Beurteilung 
der  Aufmerksamkeitswanderung  nimmt  zu  mit  der  Vermehrung  der  Reize. 
15.  Sie  ist  bei  scharf  abgegrenzten  (taktilen)  am  grössten,  bei  nach- 
wirkenden (optischen)  am  geringsten ;  die  akustischen  stehen  in  der  Mitte. 
Bei  Reizen  eines  und  desselben  Sinnesgebietes  ist  sie  jedoch  stets  grösser 
als  bei  disparaten  Reizen.  16.  Die  Aufmerksamkeitswanderung  erfolgt 
zwischen  disparaten  Reizen  im  allgemeinen  mit  derselben  Geschwindigkeit 
wie  auch  zwischen  Reizen  desselben  Sinnesgebietes.  Wie  aber  bei  opti- 
schen Reizpaaren  sich  ein  Anwachsen  um  35  a  zeigt,  so  ist  dies  auch  bei 
disparaten  Reizen  zu  konstatieren,  wenn  der  optische  Reiz  vorausgeht. 
17.  Die  individuellen  Unterschiede  der  Beobachter  sowohl  hinsichthch  des 
Aufmerksamkeitsschrittes  als  auch  in  der  Präzision  der  Beurteilung  treten 
bei  disparaten  Reizen  viel  deutlicher  hervor.  18.  Die  Präzision  der  Be- 
urteilung ist  grösseren  Schwankungen  bei  disparaten  Reizverbindungen 
unterworfen  und  hängt  nicht  von  dem  ersten  Reize  ab".  Wundt  hatte 
behauptet,  es  sei  möglich,  innerhalb  0,1 "  die  Aufmerksamkeit  wandern  zu 
lassen,  ja,  dass  die  abnorm  lange  Dauer  des  Nachbildes,  die  er  bei  0,1  " 
Expositionsdauer  auf  0,15"  schätzt,  die  Möglichkeit  offen  lasse,  dass  ein 
mehrfaches  Wandern  der  Aufmerksamkeit  stattgefunden  habe.  Diese  von 
Erdmann  und  Dodge  und  auch  von  Becher  bestrittene  Behauptung  ist  nun 
endgültig  widerlegt;  „denn  selbst  die  kürzesten,  von  mir  bei  meinen 
Versuchen  beobachteten  Aufmerksamkeitsschritte  lassen  ein  , mehrfaches' 
Wandern  als  völlig  ausgeschlossen  erscheinen".  Ein  Wandern  der  Auf- 
merksamkeit beim  Lesen  überhaupt  soll  damit  nicht  in  Abrede  gestellt 
werden.  —  Literaturbericht  über  Jugendkunde  von  E.  Meumann. 

2]  Zeitschrift  für  Psychologie.  Herausgegeben  von  F.  Schu- 
mann. 1912. 
64.  Bd.,  1.  und  2.  Heft:  H.  Lipinauu,  Zur  Lokalisatiou  der 
Hirnfunktioneu  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Beteiligung 
der  heiden  Hemisphären  an  den  Gedächtnislei.stungeu,  S.  1.  Die 
Ueberlegenheit  der  linken  Hemisphäre  beim  Rechthänder  ist  bekannt.  Die 
Ueberlegenheit  der  rechten  Hand  ist  angeboren;  auch  die  angestrengteste 
Uebung  überwindet  meistens  nicht  die  Schwäche  der  linken  Hand.  Auch 
das  Brotschneiden  besorgt  instinktiv  auch  dann  die  rechte  Hand.  Der  linken 
Hemisphäre  kommt  ein  Uebergewichl  beim  Sprechen,  Lesen  und  Schreiben 


i' 


Zeitschriftenschau.  207 

zu.  Der  Grund  Hegt  in  der  geringeren  Qualifikation  der  rechten  Hemi- 
sphäre, Bewegungen  „frei  aus  dem  Gedächtnis"  auszuführen.  —  0.  Yertes, 
Das  Wortgedächtnis  im  Schulkiuderalter.  S.  19.  „Einer  je  höheren 
Klasse  das  Kind  angehört,  um  so  grösser  ist  der  Umfang  des  unmittel- 
baren Gedächtnisses".    ,.Der  Umfang  des  unmittelbaren  Gedächtnisses  wächst 

—  innerhalb  des  6.  — 11.  Jahres  —  im  geraden  Verhältnisse  zu  de.m  Alter". 
„Das  unmittelbare  Gedächtnis  des  besseren  Schülers  hat  einen  grösseren, 
das  des  schwächeren  einen  kleineren  Umfang".  Der  Umfang  des  unmittel- 
baren Gedächtnisses  ist  bei  Mädchen  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit 
grösser  als  bei  Knaben.  Das  fmden  auch  Lobsien,  Netzschajeff  und  Pohl- 
mann. Er  ist  grösser  bei  wohlhabenden  6—11  jährigen  Schulkindern  als 
bei  notleidenden.  Die  Zeitdauer  der  Reproduktion  ist  verschieden  von 
1,2"— 3,1".  Der  Durchschnitt  braucht  nach  einer  Pause  von  6  Sekunden 
1,4 — 2,2",  um  die  soeben  gehörten  Wortpaare  mit  Hilfe  des  Reizwortes 
zu  reproduzieren.  „Die  Zeitdauer  des  unmittelbaren  Gedächtnisses  sinkt 
parallel  mit  der  Höhe  der  Klassen".  „Der  Gedächtnisumfang,  die  Zeitdauer 
und  Leistungsfähigkeit  der  Knaben  wächst  mit  dem  Alter,  während  diese 
Faktoren  bei  den  Mädchen  im  Alter  von  10 — 11  Jahren  einen  Rückfall 
aufweisen".  „Der  allgemeine  Schulfortschritt  und  die  Zeitdauer  des  unmittel- 
baren Gedächtnisses  befinden  sich  in  geradem  Verhältnisse  zu  einander". 
Die  Mädchen  reproduzieren  schneller  als  die  Knaben,  die  wohlhabenderen 
Schüler  schneller  als  die  armen.  Aus  kurzer  Zeitdauer  kann  man  auf 
grossen  Umfang,  aber  nicht  immer  umgekehrt  schliessen.  Mit  Ausnahme  des 
Alters  steht  Umfang  und  Zeitdauer  im  umgekehrten  Verhältnisse  zu  ein- 
ander. Daher  die  Formel  von  Ranschburg :  M(emona)  =  A(niplitudo)  durch 
T(empus):M=  rp.  „Der  Zeitwert  der  fehlerhaften  Assoziationen  nimmt 
mit  den  steigenden  höheren  Klassen  zu.  Die  durchschnittliche  Zeitdauer  der 
Fehlreproduktionen  ist  schlechter  (bedeutend  grösser)  als  die  der  präzisen 
Reaktionen"  ;  noch  länger  ist  der  Zeitwert  der  Nullreproduktionen.  „Aus 
einer  grossen  Zahl  von  Korrekturen  können  wir  immer  auf  eine  kleine  Zahl 
der  Nullproduktionen  schliessen",  aber  nicht  umgekehrt ;  dagegen  „aus  einer 
grossen  Anzahl  von  Nullproduktionen  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  auf 
geringe  oder  gar  keine  Korrekturen".  Mit  zunehmenden  Klassen  und  Alter 
wachsen  die  Fehlproduktionen,  nehmen  die  Nullproduktionen  ab.  Die  Zahl 
der  Fehler    steht   im    umgekehrten  Verhältnisse   zu   den  Nullproduktionen. 

—  Literaturbericht. 

3  Heft :  A.  Guttmaun,  Zur  Psychophysik  des  Gesanges.  S.  161. 

Viel  umstritten  ist  die  Frage  des  Registers.  „Unter  Register  versteht  man 
beim  Gesang  eine  fortlaufende  Reihe  von  Tonhöhen  einer  Stimme,  die  sich 
durch  eine  bestimmte  einheitliche  eigentümliche  Klangfarbe  charakteri- 
sieren. Die  Extremen  auf  der  einen  Seite  nehmen  an,  es  gebe  nur  zwei 
Register    der    menschhchen    Stimme,    das  ,Brustregister'   imd  das  ,Falsett- 

14* 


208  Zeitscl)  rif  I  enschau. 

register'.     Ersteres  allein  sei  für  den  Gesang  brauchbar,   letzleres  (falsetto 

—  falsch)  sei  für  den  Gesang  unbrauchbar.  Auf  der  anderen  Seite  nehmen 
manche  Autoreri  folgende  Register  an:  1.  Strohbass  (Kehlbass),  2.  Brust- 
stimme, 3.  Mittelstimme  (Voix  mixte),  4.  Falsett,  5.  Fistel,  6.  Pfeifregister. 
„Stiinmphysiologisch  und  stimmpädagogisch  gibt  es  kein  Einregister"  ,.Es 
zeigt  sowohl  die  optische  Analyse  (der  Muskeln),  wie  die  akustische  Wahr- 
nehmung, dass  ein  allmählicher  Uebergang  aus  dem  Brustregister  in  das 
Kopfregister  (resp.  Falsett)  wirklich  stattfindet".  Durch  einen  „Ausgleich" 
der  Register  werden  die  Grenztöne  je  zweier  Register  einander  ähnlich, 
„so  dass  für  das  Ohr  ein  unmerklicher  Uebergang  von  einem  Register  zum 
andern  stattfindet.  Für  unsere  akustische  Wahrnehmung  besteht  dann  in 
der  Tat  ein  Einregister.  Und  in  diesem  Sinne  kann  man  musikpsycho- 
logisch und  im  Sinne  des  Endziels  .  jeder  Gesangpädagogik  vom  idealen 
, Einregister'  sprechen".  —  L.  Klages,  ßegriif  und  Tatbestand  der 
Handschrift.  S.  177.  Auch  das  Zeichnen  ist  Handschrift,  aber  „die  Be- 
w^fcgung  des  Zeichnens  ist  richtungsfrei  und  zusammensetzend,  die  des 
Schreibens  einzügig  und  richtungsbestimmt".  Das  Besondere  einer  Schrift, 
das  sie  zur  Handschrift  macht,  ist  ein  zur  schreibenden  Person  Gehöriges 
oder  kurz  ein  persönlich  Besonderes.  Da  aber  die  Schrift  überhaupt 
durch  Schreiben  entsteht,  so  müsste  dieser  Tätigkeit  schon  das  persönhch 
Besondere  anhaften,  vermöge  dessen  die  Schritt  den  Charakter  der  Hand- 
schriftlichkeit gewänne :  Die  Handschrift  wäre  das  Ergebnis  der  persönlichen 
Schreibtätigkeit.  „Sinnfällige  Gesetzüberschreitung  bei  intendierter  Gesetz- 
erlüUung  ist  ein  unerlässlicher  Zug  des  Handschriftlichen.  An  der  Einzig- 
artigkeit .  des  einzelnen  Lebensvorganges  partizipiert  auch  der  lebende 
Organismus".  „Auch  im  Persönlichen,  als  der  geistigen  Form  des  Lebendigen, 
steckt  diese  Lebenseinheit,  fähig,  seinen  Aeusserungen  ein  qualitativ  unter- 
scheidendes Merkmal  zu  verleihen:  die  persönliche  Schreibbewegung  hat 
demzufolge  notwendig  den  Charakter  der  Einzigkeit".  Aber  „jeder 
Zug  der  Handschrift  spielt  innerhalb  einer  spezifischen  Schwenkungsbreite 

—  das  ist  das  zweite  Grundmerkmal  des  Handschriftlichen".  Vf.  unter- 
scheidet: L  Künsthche  Schrift:  1.  Verstellte,  2.  Schönschrift,  erstere  zer- 
füllt wieder  a)  in  verdeckte,  b)  gefälschte  Schrift.  Die  Schönschrift :  a)  in 
schulmässige  (kalligraphische),  b)  individuelle  (künstlerische,  ornamentale). 
IL  Natürliche  Handschrift:  a)  mehr  willkürhche,  b)  mehr  unwillkürliche, 
a)  zerfällt  in  a)  beherrschter,  ß)  gehemmter  Typus ;  b)  zerfällt  in  «)  er- 
worbener, ß)  ursprünglicher  Typus ;  «)  wieder  in  aa)  schnörkelhafte,  ßß)  sti- 
lisierte Hand.schrift.    -  -   Literaturbericht. 

4.  und  5.  Heft  :  G.  Hej  maus,  In  Sachen  des  psychischen  Mo- 
nismus. S.  241.  Der  psychische  Monismus  nimmt  an,  dass,  soweit  unsere 
Daten  reichen,  nur  Psychisches  existiert,  während  alles  Physische  nichts 
weiter  ist,  als  die  Art  und  Weise,  wie  Psychisches  wahrgenommen  wird. 
Für  die  Begründung   kommen   hauptsächlich  zwei  Gruppen  von  Tatsachen 


Zeitschriftensehau.  209 

in  Betracht:  „1.  Die  Tatsachen,  welche  für  eine  eindeutige  Zuordnung 
zwischen  den  einem  Menschen  gegebenen  Bewusstseinsprozessen  und  den 
gleichzeitig  von  einem  andern  inbezug  auf  den  ersteren  zu  handhabenden 
Hirnprozesswahrnehmungen  sprechen.  Die  Ueberlegung,  dass  jenem  ersteren 
seine  Bewusstseinsprozesse  direkt  gegeben  sind,  während  sich  diesem 
anderen  seine  Hirnprozesswahrnehmungen  evident  als  die  indirekte  Wirkung 
eines  aussor  ihm  befindlichen  darbieten,  führt  zur  Vermutung,  dass  dieses 
ausser  ihm  Befindliehe  mit  den  jenen  ersteren  direkt  gegebenen  Bewusst- 
seinsprozessen identisch  sei;  und  diese  Vermutung  erweist  sich  als  aus- 
reichend, um  von  allen  vorliegenden  gesetzlichen  Verhältnissen  Rechenschaft 
zu  geben.  2.  Die  anderen  Tatsachen,  welche  es  wahrscheinlich  machen, 
dass  jene  Hirnprozesswahrnehmungen  nicht  nur  mit  den  sonstigen  Natur- 
erscheinungen kontinuierlich  zusammenhängen,  sondern  auch,  wenn  voll- 
ständig gegeben,  die  gleiche  Gesetzmässigkeit  wie  diese,  nur  in  viel  grösserer 
Komplikation,  würden  erkennen  lassen.  Woraus  dann  gefolgert  wird,  dass 
vermutlich  auch  die  Wirklichkeit,  welche  in  diesen  sonstigen  Natur- 
erscheinungen zur  Wahrnehmung  gelangt,  von  derjenigen,  welche  in  den 
Gehirnerscheinungen  zur  Wahrnehmung  gelangt,  also  nach  1.  vom  mensch- 
lichen Bewusstsein,  nicht  dem  Wesen,  sondern  nur  der  Komplikation 
nach  unterschieden  wird".  —  P.  v.  Liebernianu  und  G.  Revesz,  Ex- 
perimentelle Beiträge  zur  Ortliosyiuphonie  und  zum  Falscliliören. 
S.  286.  Die  Verfasser  fanden  früher,  dass  ein  Zweiklang  oder  Akkord 
trotz  des  P^'alschhörens  von  Komponenten  desselben  richtig  gehört  wird,  und 
nannten  die  Erscheinung  Orthosymphonie.  Später  stellte  sich  heraus,  dass 
dies  nicht  immer  der  Fall  ist.  Diese  Abweichungen  sollten  auf  ihren  Grund 
untersucht  werden.  Es  fand  sich  zunächst,  dass  die  abweichenden  Urteile 
im  Sinne  des  falschen  Tones  ausfielen.  Das  Interwall  wurde  wohl  analy- 
siert uud  der  starke  Falschton  herausgehört.  Das  Ohrenleiden  wechselt 
auch,  die  Orthosymphonie  beruht  nicht  auf  ungefälschter  Wahrnehmung 
der  Schwebungen,  da  sie  auch  bei  obertonfreien  Tönen  auftrat.  Der 
„Korrektionseindruck"  ist  eine  Illusion.  Beim  Zusammenklingen  para- 
kustischur  Töne  ist  die  Verschmelzungsstufe  normal.  Nach  Stumpf  soll 
die  Orthosymphonie  auf  sekundären  Kriterien  beruhen,  spezieil  auf  Gefühlen; 
aber  bei  L.  ist  der  Eindruck  ganz  derselbe  wie  bei  normalen  Verhält- 
nissen. Wie  soUin  auch  die  spezifischen  Gefühle  erhalten  sein,  wenn  die 
anderen  Merkmale  verloren  sein  sollen?  Zur  Theorie  heben  die  Verfasser 
hervor,  „dass  die  parakustischen  Töne  eines  ihrer  beiden  musikalischen 
Merkmale,  die  Höhe  -  im  Gegensatz  zur  Qualität  —  normal  erhalten 
haben,  wovon  wir  in  dieser  Arbeit  den  Nachweis  liefern.  Es  kann  dies 
ein  Zeichen  dafür  sein,  dass  von  den  psychophysischen  Prozessen,  die  ein 
Tonreiz  hervorruft,  die  normal  erhalten  sind,  von  denen  das  Spezifische 
des  Zusammenklangs,  der  Verschmelzungsgrad  abhängt  ...  Da  die  Höhe 
der  Töne  des  Pseudogebietes  an  beiden  Ohren  normal  ist,   so  muss  ein 


210  Zeitschriftenschau. 

Ton,  wenn  er  den  beiden  Ohren  sukzessiv  vorgeführt  wird,  zwei  Ton- 
empfindungen  von  gleicher  Höhe  hören.  Ist  nun  eine  ,simultane  Prime* 
als  ein  Zusammenklang  zweier  Töne  von  gleicher  Höhe  anzusehen,  so 
müssen  wir,  wenn  wir  nun  den  Ton  beiden  Ohren  gleichzeitig  zuführen, 
einen  besonderen  Fall  der  Orthosymphonie  erhalten:  es  muss  immer  der 
Eindruck  der  Prime  entstehen,  unabhängig  vom  Qualitätsunterschiede  der 
beiden  Ohren  .  .  .  Das  Urteil  lautet  stets :  Ein  T  o  n".  Das  absolute  Gehör 
erkennt  die  Töne  normalerweise  meist  nach  der  Klangfarbe.  Der  Patient 
urteilte  hierin  doppelt,  einmal  auf  Grund  der  Quahtät  und  anders  nach  der 
Höhe.  Die  Versuche  lehrten,  dass  die  Fälschung  der  Tonqualität  auch 
vom  absoluten  Gehör  bestätigt  wird,  wie  auch  die  Unverändertheit  der 
Tonhöhe.  Schlussergebnis:  „Es  werden  experimentelle  Beweise  erbracht 
für  die  Theorie  von  Revesz,  nach  der  die  Tonempfindung  mindestens 
zwei  musikalische  Merkmale  hat.  Es  dient  dazu,  die  Beurteilung  patho- 
logischer Töne  nach  den  beiden  Arten  des  absoluten  Gehörs  —  nach 
Qualität  und  nach  Höhe,  und  die  Beurteilung  von  Intervallen  in  doppelter 
Weise :  naiv  und  nach  Distanz"  zu  vollziehen.  Naiv  wird  nach  der  Klangfarbe 
das  Intervall  beurteilt,  und  es  ist  oft  falsch,  während  nach  Distanz  es  richtig 
ausfällt.  —  Dieselben,  Ueber  eine  besondere  Form  des  Falschhörens 
in  tiefen  Lagen.  S.  325.  „Bei  Liebermann  nehmen  1.  die  Töne  c'  und  c 
oft  g-Qualität  an.  Diese  Qualität  ist  sehr  labil  und  hängt  zum  Unterschied 
von  Pseudotönen  vom  Vergleichston  ab,  mit  dem  der  geprüfte  Ton  ein 
Intervall  zu  bilden  hat.  2.  In  jeder  anderen  Beziehung  erscheinen  diese 
Töne  normal,  die  Abnormität  stört  das  Musikmachen  gar  nicht.  Insbesondere 
bleibt  die  Höhe  dieser  Töne  erhalten,  was  als  neues  Argument  für  die 
Unabhängigkeit  der  beiden  musikalischen  Merkmale  dient.  3.  Das  ganze 
Verhalten  machl  den  Eindruck  einer  Abweichung,  nicht  den  einer  Krank- 
heit zum  Unterschied  von  der  Parakuse.  Wir  halten  es  für  eine  zentrale 
Erscheinung".  Für  letzteres  spricht  der  Umstand,  dass  sich  die  Fälschung 
auf  die  Qualität  bezieht,  auf  die  Eigenschaft  also,  die  den  Namen  des  Tones 
bestimmt.  Vollkommen  normal  bleiben  dagegen  die  Intensität,  die  Klang- 
farbe und  die  Höhe.  Von  dem  Pseudoton  ist  diese  Fälschung  verschieden, 
da  jener  in  allen  Lagen  vorkommt,  dieser  nur  in  den  tiefsten  Lagen,  wo 
Liebermann  die  sukzessive  Oktave  c — c^  oft  als  Quarte  auffasst.  —  Lite- 
raturbericht. Tierpsychologie.  M.  Ettlinger,  Dritter  Sammelbericht.  Es 
werden  53  Schriften  bzw.  Abhandlungen  angeführt.  —  Kleinere  Be- 
sprechungen. 

6.  Heft:  K.  FodoroflF,  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Beziehung 
zwischen  Text  und  Komposition.  S.  401.  „1.  Es  besteht  eine  Beziehung 
zwischen  Versrhythmus  und  relativer  Tondauer.  Die  mittlere  Tondauer  der 
betonten  Silben  ist  stets  grösser  als  die  mittlere  Tondauer  der  unbetonten 
Silben.  2.  Der  Unterschied  in  der  Dauer  der  betonten  und  unbetonten 
Silben  ist  im  Kunstlied  grösser  als  im  Volkslied.    3.  Auch  in  den  Kompo- 


Zeitschriftenschau.  211 

sitionen  von  Prosatexten  haben  die  betonten  Silben  eine  längere  mittlere 
Tondauer  als  die  unbetonten  Silben.  4.  In  den  Kompositionen  von  Prosa- 
texten entspricht  den  einsilbigen  Wörtern  meistens  im  Durchschnitt  eine 
längere  Tondauer  als  der  einzelnen  Silbe  im  mehrsilbigen  Worte.  5.  Ton- 
dauerbewegungen, deren  Wert  von  1  verschieden  ist,  sind  um  so  weniger 
häufig,  je  grösser  diese  Verschiedenheit  ist.  Dieser  Satz  gilt  sowohl  für 
Lieder  als  für  Rezitation  in  Prosa.  6.  Die  Häufigkeit  der  Tondauer- 
bewegung verläuft  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Häufigkeitskurve  der  Vokal- 
dauerbewegung in  der  Sprache.  7.  Die  betonten  Silben  der  Lieder  haben 
meistens  eine  grössere  mittlere  Tonhöhe  als  die  unbetonten  Silben.  8.  Die 
musikalisch  betonten  Taktteile  der  Lieder  haben  meistens  eine  grössere 
mittlere  Tonhöhe  als  die  musikalisch  unbetonten  Taktteile.  9.  In  den 
Kompositionen  von  Prosatexten  haben  die  betonten  Silben  fast  stets  eine 
grössere  Tonhöhe  als  die  unbetonten.  10.  Die  Häufigkeit  der  Tonhöhen- 
bewegungen ist  eine  um  so  geringere,  je  mehr  sich  ihr  Wert  vom  Werte  1 
nach  der  einen  oder  anderen  Richtung  entfernt.  11.  Auch  beim  Sprechen 
sind  die  Tonhöhenbewegungen,  die  dem  Werte  1  nahe  liegen,  am  häufigsten, 
während  die  grösseren  und  kleineren  Werte  der  Tonhöhenbewegung  mit 
der  Zunahme  vom  Werte  1  im  allgemeinen  abnehmen".  —  A.  Schack- 
vvitz,  Apparat  zur  Aufzeiclimiug  der  Augenbewegung-en  beim  zu- 
saiinueuhäiigenden  Lese«.  (Nystagmograpk).  Die  seitherigen  Veran- 
staltungen zeigen  Mängel.  „Der  Apparat  muss  empfindlich  genug  sein, 
die  kleinen  ruckweisen  Bewegungen  der  Augen  beim  Lesen  auf  ein  Re- 
gistriersystem zu  übertragen.  Kopf-  und  Lidbewegungen  dürfen  keinen 
Einfluss  haben  oder  müssen  so  mit  registriert  werden,  dass  sie  sicher  von 
den  registrierten  Augenbewegungen  zu  unterscheiden  sind".  Dies  und  noch 
andere  praktische  Vorteile  bietet  der  neue  Apparat.  —  Literaturbericht. 

3]  Archiv  für  systematische  Philosophie.  Herausgegeben  von 
L.  Stein.  Berlin  1912,  Reimer. 
XVin.  Bd.,  1,  Heft:  B.  Zalai,  Uiitersuchii  gen  zur  Gegenstauds- 
theorie.  S.  1.  II.  „Ein  Inhalt,  dessen  zeitliches  Ende  mit  dem  Anfange 
eines  andern  Inhalts  zusammenfällt,  bestimmt  mit  seinem  Gegenstande  den 
folgenden  in  einer  Weise,  die  im  Seelenleben  eine  unendliche  qualitative 
und  quantitative  Abstufung  hat.  Dieses  Bestimmen,  sei  es  auch  nur  eine 
einfache  Aussonderung  des  , Andern',  ist  die  Erfüllung  der  Funktion  des 
Gegenstandes".  Wir  besitzen  „die  Bürgschaft  (die  man  so  viel  sucht  und 
die  so  vermisst  wird),  dass  das  logische  Denken  nicht  nur  eine  Ordnung 
unserer  Erfahrungen,  sondern  selbst  unsere  Erfahrung  ist".  —  H.  Werner, 
Skizze  zu  einer  Begriffstafel  auf  geuetischer  Grundlage.  S.  45. 
A.  Sinnliche,  B.  unsinnliche  Reflexionsbegriffe.  Erstere  zerfallen  in  Em- 
pfindungs-  und  Gefühlsbegriffe,  letztere  in  dynamische  und  statische,  er.stere 
in  praktische  und  ästhetische,    letztere   in  apperzeptierte  und  abstrahierte. 


212  Zeii  sclnif  tenschau. 

Die  Gefühlsbegriffe  sind  entweder  moralische  oder  ästhetische.  Die  Re- 
flexionsbegriffe werden  nicht  weiter  eingeteilt.  —  J.  Iljin,  Die  Begriffe 
von  Recht  und  Macht.  S.  63.  .,Vor  allem  wollen  wir  feststellen,  dass 
der  Begriff  der  Macht  stets  in  der  realen  Reihe  liegt,  stets  eine  ontologische 
Bedeutung  hat,  während  der  Begriff  des  Rechts  auch  ausserhalb  der  realen 
Reihe  liegen  kann,  und  das  Merkmal  des  Seins,  so  oder  anders  konstruiert, 
unter  seinen  Prädikaten  fehlen  kann".  „Das  Recht  als  Satz  und  als  Norm 
und  das  Recht  als  Macht,  sind  Begriffe,  welche  in  methodologisch  in- 
differenten Reihen  liegen".  „Eine  rechtliche  Erscheinung  ist  für  den  So- 
ziologen eine  Beziehung  zwischen  den  Menschen,  wie  sie  sich  herausstellt 
nach  der  Anwendung  der  Rechtsnorm  auf  sie  und  während  des  ganzen 
Verlaufs  des  realen  Wirkens  der  letzteren".  —  W.  Bloch,  Das  leli- 
erlebnis.  S.  89.  ,,Das  Icherlebnis,  der  subjektive  Faktor  oder  dergleichen 
darf  also  nicht  anders  gefasst  werden,  denn  als  Unterscheidung  in  der 
Reflexion  meiner  Erlebnisse  von  denen  anderer".  —    Rezensionen. 

2.  Heft:   J.  Iljeu,  Die  Begriffe  von  Macht  und  Recht.    S.  125. 
Man   darf  nicht   fragen,    ob  Macht   Recht  oder  Recht   Macht  sei,    sondern 
eine  methodologische  Untersuchnng   stellt   das  Problem :    „Darf  das  Recht 
als   Macht   aufgefasst  werden,    und    kann    nicht    die   Unzulässigkeit    seiner 
Konfundierung    mit   der  Macht  in  gewissem  Sinne  behauptet  werden"?  — 
Fr.   L.  Denckuianu,    Energien.    S.  145.     „Auf  unserer  winzigen  Erde 
machen  wir  die  Erfahrung,    dass   die  Naturkräfte    mit   einer   Energie   aus- 
gerüstet sind,  und  dass  die  Energie  des  höchsten,  in  einem  unbeschränkten 
Sein   stehenden  Wesens  das  All   geschaffen  hat,    und    dass    die    Seele  des 
Menschen,  die  in  einem  beschränkten  Sein  steht,  im  Besitze  einer  Energie 
ist".  —  J.  Cl.  Kreibig,  üeber  den  Begriff  des  „objektiven  Wertes". 
S.  159.     „Was  mit  dem  landläufigen  Namen  ,objektiver  Wert'  rechtmässig 
zum  Ausdruck  kommen  soll,   ist   der  Wert   eines  Gegenstandes  nach  dem 
Urteil  eines  Idealsubjektes,  welches  bei  vollendeter  Kenntnis  der  Seinsstufe, 
der  Bestimmtheiten   und   Beziehungen    jenes  Gegenstandes,    alle  der  Ideal- 
psyche möglichen  Gefühlsreaktionen  ohne  zeitliches  Schwanken  vollzieht". 
—  A.  E,  Haas,  Ist  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  unendlich?    S.  Iß". 
Eine  Reihe  grosser  Schwierigkeiten  erheben  sich  dagegen.  —  E.  Müller, 
Henri  Bergson.    S.  1S5.     Bergson  „geht  auf  nichts  Geringeres  aus,   als 
eine  neue  Metaphysik,  einen  neuen  Spiritualismus  zu  vertreten.  Seine  Werke 
zeigen   die   offenbare  Tendenz,   von  Zweifel  und  Negation   abgewandt,    bis 
an  die  Dinge,  gewissermassen  sogar  an  ,die  letzten  Dinge'  heranzukommen. 
Und  dies  geschieht  in  einer  durchaus  individuellen  Art".     In  der  Intuition 
findet  er   den  Kernpunkt    aller  Erkenntnistheorie.     „Im  Hintergrunde  steht 
der  monistische  Gedanke,  dass  es  ,dieselbe  Bewegung'  ist,  welche  hier  die 
,Materialität  der  Dinge'  und  dort  die  ,Intellektualität  des  Geistes,   d.  h.  die 
Erkenntnis  der  Dinge  hervorgebracht  hat".  -   E.  Hurwicz,  Ludwig  Knapps 
,, System  der  Rechtsphilosophie",   S.  195.    Das  Denksystem  von  Knapp 


Zei  tsch  fif  1  ensch  a  u.  213 

sehliesst  sich  eng  an  die  Feuerbachsche  Philosophie  an  und  ist  aus  ihr 
hervorgegangen.  -  Th.  Leasing,  Ps>yclioIog'ie  in  der  Ahnung.  S.  209. 
Die  „Einfühlung"  ist  ein  „wunderliches  Modewort".  „Was  mit  dem  Worte 
bezeichnet  wird,  ist  ein  konipHziertes  Vielerlei  p.sychischer  Tatsachen, 
welche  der  exakten  psychologischen  Analyse  sich  entziehen".  „Wir  arg- 
wöhnen, dass  in  dem  grossen  Einheilstopf  Einfühking  zusammengeworfen 
wird,  was  nicht  mehr  mit  einander  gemein  hat,  als  eben  dies,  dass  es  sich 
um  Vorgänge  handelt,  von  denen  —  wir  noch  nichts  wissen".  Anders 
„Ahnen"  und  „Ahnung".  ,,So  nenne  ich  jede  seelische  Aktivität,  in 
welcher  mein  Ich  in  gebundener  Marschroute  funktioniert,  gemäss  Nötigungen 
einer  ,Aussenwelt' ".  —  Rezensionen. 

3.  Heft:  J.  ZahlfleJsch,  Ist  die  Lüge  erlaubt?  S.  241.  „Der 
Ausdruck  ,Liige'  erscheint  als  ein  mit  einem  Janusgesicht  ausgestattetes 
Wort  wie  alle  anderen,  und  will  nur  eine  Idee  bezeichnen,  deren  Realisierung 
uns  nicht  leicht  fällt,  wenn  Avir  die  aus  un.serer  Zergliederung  des  Sach- 
verhaltes sich  ergebenden  Folgerungen  ziehen.  Man  hat  sich  dieser  letzteren 
durch  Einführung  der  Worte :  Notlüge,  Scherzlüge,  Witz,  Sarkasmus,  Satire, 
Ironie,  Persiflage,  Karikatur  entziehen  wollen".  Aber  ohne  Erfolg.  —  V. 
C.  Franze,  Grundlage  der  Erkenntnisgewinnung-,  S.  252.  Wahres 
Erkennen  oder  Urteilen  beruht  auf  Evidenz  oder  Einleuchten.  Es  gibt 
Evidenz  der  Gewissheit  und  der  Wahrscheinlichkeit.  —  P,  v.  Recheuberg- 
Linten,  Unmittelbares  Icli-Bv'wusstsein  und  der  Tod.  S.  264.  „Muss 
mein  unmittelbares  Ich-Bewusstsein  durch  die  Auflösung  meines  Körpers 
vernichtet  werden?"  „Die  mit  der  Empfindung  verknüpften  ,inneren  Triebe' 
und  das  aus  dieser  Verknüpfung  entstehende  Wollen  und  Denken  sind  un- 
mittelbar gegebene  und  durch  sich  selbst  wahrgenommene  Wirklichkeiten. 
Diese  Wirkhchkeiten  nenne  ich  in  ihrer  unmittelbar  gegebenen  Verknüpfung 
mein  ,Ich'.  Die  Tatsache  dieser  unmittelbar  durch  .sich  selb.st  erfolgenden 
Wahrnehmung  meines  ,Ich'  drücke  ich  dadurch  aus,  dass  ich  sage,  dass 
mein  ,Ich'  ein  unmittelbares  Bewusstsein  von  sich  hat,  oder  indem  ich  von 
einem  unmittelbaren  , Ich-Bewusstsein'  spreche.  Von  dem,  was  ich  meinen 
Körper  nenne,  sagt  mir  dieses  unmittelbare  Ich-Bewusstsein  unmittelbar 
nichts.  Erst  au.-^  festgesetzten,  nicht  aus  meinem  unmittelbaren  Ich-Be- 
wusstsein stammenden  Einwirkungen  auf  meine  Empfindung  schliesse  ich, 
dass  ,ich'  mit  einem  Körper  verbunden  ist.  Daraus  folgt  aber,  dass  mir 
mein  Körper  das  unmittelbare  Ich-Bewusstsein  nicht  gegeben  hat.  Daraus 
folgt  aber  weiter,  dass  mein  , unmittelbares  Ich-Bewusstsein',  da  es  nicht 
aus  meinem  Körper  stammt  oder  eine  Funktion  des  Körpers  ist,  -  •  auch 
nicht  durch  die  Auflösung  des  Körpers  vernichtet  werden  kann".  -•-  W, 
Schlegel,  üeber  die  Form  des  Menschen.  S,  285.  „Erkenntnis.  Wille. 
Der  Mensch  als  Einheit  und  Einzelwesen.  Der  Mensch  als  Mehrheit  und 
fJeselle.  Formbildung  und  Formerneuerung  durch  Teilung  und  Vereinigung". 
-   K.  Beruhart,  Die  Relativität  der  Zeit.   S.  311.     „Die  Zeit  ist  der 


214  Zeitschriftenschau. 

Grund,    der  Faktor   und  daher  die  Bedingung,   die  Voraussetzung  und  das 
Medium  der  Widersprüche  im  Räume",  oder  da  wir  nun  die  Widersprüche 
als  solche,  gleichviel  wie,  beseitigt  haben,  „der  Verschiedenheit  im  Räume '. 
—  E.  Wilkeu,  Psycliologische  Vernuuftkritik.  S.  324.    „Eine  kritische 
Untersuchung    zum    Methodenproblem    in   der   Philosophie'-.     Die    psycho- 
logische Vernunftkritik  von  Fries  ist  durch  Nelson  erneuert,  von  den  Neu- 
kantianern  heftig   bekämpft  worden.     Ihre  Gründe    sind    nicht    stichhaltig. 
Die    Behauptung    K.  Fischers,    die    psychologische  Vernunftkritik    sei    eine 
contradictio  in  adiecto  ist  gründlich  widerlegt  worden.     Und  was  bis  jetzt 
gegen  Nelson  vorgebracht  worden   ist,   widerlegt   ihn    nicht.     Dagegen  will 
Vf.  zeigen,    „dass  in  der  Tat  der  auf  den  psychologischen  Grundlagen  er- 
richtete   methodische   Bau   innerUch  widerspruchsvoll    und  unhaltbar   ist". 
„Der  höchste  Punkt  der  psychologischen  Vernunftkritik,  die  Prämisse,    die 
als  Obersatz    aller   metaphysischen  Beweise    und   transzendentalen  Deduk- 
tionen   fungiert,    ist    der    Grundsatz   des   Selbstvertrauens    der    Vernunft". 
Aber  die  Vernunft  kann,  „nachdem  sie  die  unmittelbar  nicht  anschauliche 
Erkenntnis    als    Dogma    entlarvt    hat,     ebenfalls    nicht    zu    deren    Inhalt 
Vertrauen    haben.      Sie    würde    umgekehrt    damit    ein    Misstrauensvotum 
gegen  sich  aussprechen".  —  H.  H.  Kerler,  Kategorienprobleme.  S.  344. 
Im  Anschluss    an  E.  Lasks  „Logik    der  Philosophie".     Lask   hat   eine  be- 
deutungsvolle Entdeckung  gemacht.     Der    bisherigen   Erkenntnistheorie    ist 
ein  Problem  von  kardinaler  Bedeutung  entgangen,     Kants  Transzendental- 
philosophie  hat  nur   das  naturwissenschaftliche  Erkennen  untersucht.     Sie 
hat  sich  aber  „nicht  einfallen  lassen",    auf   das    transzendentale  Erkennen 
ihre  eigenen  Prinzipien  anzuwenden.     Lasks  Ansicht  ist  es  nun,  „die  Uni- 
versaUtät    des    Herrschaftsbereiches    des    Logischen    zum    Bewusstsein    zu 
bringen :  Nicht  nur  die  sinnlichen  Gegebenheiten,  auch  die  metaphysischen 
Gegenstände,   und   das  Logische  selbst   in  seiner  logischen  Form".     Zu- 
nächst  behandelt  er   die  Kategorien   des  Seins,    neben  welchen  aber  nach 
Lotze  auch  die  des  Geltens,  und  nach  Meinong  noch  die  des  Bestehens  hinzu- 
genommen werden  müssen.    Die  strenge  Scheidung  von  Geltungsgehalt  und 
Bestand    fehlt   bei   ihm.     „Die  Zweiweltentheorie   braucht  sich  meines  Er- 
achtens  durch  die  Argumentation  Lasks  keineswegs  als  abgetan  zu  betrachten. 
Insbesondere  ist  die  Position  Husserls  nicht  im  geringsten  erschüttert".  — 
Rezension.  —  Die   neuesten   Erscheinungen    auf   dem   Gebiete    der   syste- 
matischen Philosophie.  —  Systematische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 
4.  Heft :  J.  Fischer,  Die  Entstehuug  des  Geschmacks  und  seiue 
Bedeutung  für  unsere  Erkenntnis  der  Dinge.  S.  367.    Die  Entstehung 
des  Geschmacks    ist    empirisch    zu    erklären;    er  „vermittelt  das  objektive 
Erkennen    der  Einzeldinge    mit    ihren    Fehlern  und  Veränderungen".     „An 
dem    Gegensalze    des   Geschmacksurteils    zur    sinnlichen  Vorstellung,    des 
inneren  begrifflichen  Bildes  zum  äusseren  sinnlichen  Bilde  der  Wirklichkeit 
erwächst    erst    das    Bewu.sstsein    der  Wirklichkeit.     Wir  konnten   also 


Zeitschriftenschau.  215 

und  mussten  sagen,  dass  der  Geschmack  das  Bewusstsein  vermittelt,  dass 
er  die  Wuklichkeit  dem  erkennenden  Denken  vermittelt''.  —  Fr.  Boden, 
Der  Glaube  an  das  Böse.  S.  394.  „Der  Glaube  an  das  Böse  ist  keines- 
wegs unter  allen  Umständen  als  ungünstig  zu  beurteilen.  In  gewissen  Zeit- 
läuften ist  die  Energie  der  Reaktion  ungleich  wichtiger  als  ihre  Differenziert- 
heit und  Angepasstheit",  Die  Rechtswissenschaft  glaubt  noch  mehr  an  die 
Beeinflussung  der  Intelligenz  als  die  Psychologie ;  „in  der  letzteren  hat  die 
Erfahrung  den  Glauben  an  das  Böse  schon  stärker  zersetzt  als  in  der 
offiziellen  Wissenschaft".  —  M.  Siems,  Die  ethischen  Probleme  unter 
strikter  Logik.  S.  412,  „Wenn  man  trotz  der  vielen  Fehlschläge  auch 
heute  noch  ziemlich  allgemein  a  priori  an  die  Möglichkeit  einer  wahrhaft 
wissenschattlichen  Ethik  glaubt,  so  sollte  doch  der  Ethiker  stets  beachten, 
dass  neben  der  wissenschaftlichen  Beantwortung  der  ethischen  Probleme 
ohne  jeden  Zweifel  und  in  jedem  Falle  auch  noch  eine  anderweitige 
Stellungnahme  möglich  ist,  nämlich  eine  rein  persönhche.  Denn  so  viel 
ist  klar:  Ist  es  ein  allgemein  gültiger  wissenschaftlicher  Satz,  dass  das 
moralisch  Gute  die  Nächstenliebe  sei,  so  hindert  mich  die  anerkannte 
Richtigkeit  dieses  Satzes  durchaus  nicht,  die  Nächstenliebe  mehr  oder 
minder  verächtlich  zu  finden  und  mich  persönlich  zum  Standpunkte 
Nietzsches  zu  bekennen".  „Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  eine  Philosophie, 
die  da  behauptet,  dass  das  eine  gut,  ein  anderes  Pflicht  und  wieder  ein 
drittes  das  einzig  Vernünftige  sei,  in  jeder  Beziehung  , unbefriedigend'  ist".  — 
K.  Bernhard,  Die  Relativität  des  Solipsismus.  S.  422.  „Wir  kommen 
zu  dem  Ergebnis :  der  SoUpsismus  ist  unbeweisbar,  aber  unwiderlegbar". 
„In  Wahrheit  hat  das  ,lch'  keinen  Sinn  ohne  die  Aussenwelt,  ebensowenig 
wie  die  Aussenwelt  ohne  das  Ich".  —  H.  Werner,  Ein  Beitrag  zur 
Lehre  logischer  Substitution.  S.  431.  Die  gewöhnliche  Begriffsbildung 
ist  synthetisch-induktiv,  die  wissenschaftliche  analysierend-deduktiv ;  erstere 
quantitativ,  letztere  qualitativ.  „Die  Negativbegriffe  substituieren  einander 
in  umgekehrter  Richtung  wie  die  analogen  Positivbegriffe".  „Die  qualita- 
tive Substitution  zweier  Begriffe  ist  der  der  quantitativen  entgegengesetzt". 
„Die  Substitution  qualitativer  Positivbegriffe  ist  der  Substitution  analoger 
Negativbegriffe  entgegengesetzt".  —  Rezensionen. 

4]  Rivista,    di   Filosofia   Neo-Scolastica.      Diretta   dal  Doli. 

Agostino    Gemelli.      Direzione:    Milano,    Via    Maroncelli    23. 

Amministrazione :  Firenze,  Libreria  Editrice  Fiorentina.  Erscheint 

alle    zwei   Monate    in    Heften    zu   je   wenigstens    120   Seiten. 

Abonnement:  Italien  10  Z,.,  Ausland  12,50  L 
Anno  IV,  No.  3-4  (20  Giugno  1912):    C.  Huit,  II  platonismo 
in  Francia  nel  secolo  XIX.    p.  321.     Uebersicht   über  die  platonische 
Bewegung  in  Frankreich  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  in  Hin- 
sicht auf  den  mittelbaren  oder  unmittelbaren  Einfluss,   der  von   den  Ideen 


216  Zeitschriftenschau. 

Piatons  auf  Kunst,  Philosophie  und  soziales  Leben  ausge'ibt  wurde,  und  in 
Hinsicht  auf  die  hauptsächlichen  Arbeiten,  die  vom  Studium  Piatons  ein- 
gegeben oder  der  Erörterung  seiner  Lehren  gewidmet  sind.  —  A.  Padoa, 
Aualisi  della  sillogistica.  p.  337.  Die  Anwendung  der  mathematischen 
Logik  auf  die  einzelnen  Syllogisformen  und  -Figuren  der  deduktiven  tradi- 
tionellen (^ogik  zeigt  die  teilweise  Falschheit  oder  Unbeholfenheit  der 
Syllogistik ;  die  deduktive  Logik  wird  durch  die  mathematische  Logik 
um  viele  und  sehr  bemerkenswerte  Urteilsformen  bereich.ert.  —  A.  Gemelli, 
Psicopatie  e  moralitä.  p.  346,  Der  Vf.  behandelt  das  Verhältnis 
zwischen  Psychopathologie  und  Ethik,  zwischen  psychischer  Anormalität 
und  moralischer  Verantwortlichkeit.  Er  stellt  fest:  1,  Die  Aequivalenz 
zwischen  Krankheit  und  moralischer  Anomalie   ist  nicht  erwiesen  worden. 

2.  Nichts  Stichhaltiges  hat  sich  gegen- die  Willensfreiheit  vorbringen  lassen. 

3.  Die  „moralische  Narrheit"  ist  in  sich  nicht  eine  khnische  Form,  ein 
besonderer  pathologischer  Fall.  4.  Indem  die  Psychopathologie  gezeigt  hat, 
dass  zwischen  Krankheit  und  Normalität  es  keine  streng  geschiedenen 
Grenzen  gibt,  hat  sie  dem  Begriff  der  stufen  weisen  Verantwortlichkeit 
eine  Begründung  gegeben.  5.  Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  für  den 
Ethiker  die  Notwendigkeit  einer  ausgedehnten  Kenntnis  der  Ergebnisse 
der  modernen  Psychopathologie  und  für  den  Psychopathologen  die  Pflicht 
der  Beachtung  derjenigen  Grenzen,  über  die  hinaus  seine  Methoden  keine 
Geltung  mehr  besitzen.  —  Fr.  Olgiati,  Note  sul  problenia  della 
couosceuza.  p.  382.  Haltlos  ist  die  erkenntnistheoretische  Stellung  von 
G.  Fonsegrive,  weil  pragmatistisch  und  bergsonianiseh,  richtig  ist  die 
Behauptung  Nardis,  dass  man  bei  einem  Pielativisraus  der  Erkenntnis 
nicht  stehen  bleiben  darf,  sondern  entweder  vorwärts  oder  rückwärts  gehen 
muss,  im  übrigen  aber  bringt  auch  Nardi  nicht  die  Lösung;  ebensowenig 
Mercier  und  die  Gegner  desselben:  Du  Roussaux  und  Tredici.  Es 
bleibt  die  Frage  offen :  Ist  es  wahi-  oder  ist  es  nicht  wahr,  dass,  wer  den 
spontanen  Dogmatismus  nicht  annimmt,  P  den  Kantianismus  nicht  über- 
winden kann,  vielmehr  2*"  logisch  gezwungen  ist,  dem  absoluten  Idealismus 
sich  in  die  Arme  zu  werfen?  Diesen  Darlegungen  fügt  die  Redaktion 
einige  Bemerkungen  eines  die  aussersinnliche  formelle  Realität  der  sekun- 
dären Sinnesqualitäten  bestreitenden  Mitarbeiters  hinzu.  —  G.  Mattiussi, 
Esseuza  ed  essere.  p.  305,  Gegen  Marxuach  (Aprilheft  der  „/?rä. 
Neo-Scol.'-'')  wird  der  reale  Unterschied  zwischen  Wesenheit  und  Dasein 
aufrecht  erhalten.  —  A.  Galli,  Nnovi  .stiuli  sperimentali  sulL  atto 
voluutario.  p.  404.  Der  Vf.  trägt  die  wichtigsten  Ergebnisse  zusammen, 
die  ßoyd  Barrett  und  M  i c  h  o  1 1  e  -  P  r  ü  m  neuestens  über  den  Wahlakt 
des  ireien  Willens  und  dessen  unmittelbare  Voraussetzungen  auf  experi- 
mentellem Wege  gewonnen  haben.  —  E.  Chioochetti,  Per  studiare 
Cartesio.  p.  411.  Einige  Gesichtspunkte  zum  richtigen  Verständnis  des 
Descartes    und    eine    lebhafte  Aufforderung   zum    nachdenkenden   Studium 


Zeilschrif  tenschau.  217 

seiner   philosophischen  Werke.  —  A.  Gemelli,    Alle   fouti   della    vita. 

p.  415.  Im  Anschluss  an  die  Analyse  und  die  Kritik  der  beiden  das 
Lebensprobleui  behandelnden  Schriften:  Bohdan  Rutkiewicz,  II  psico- 
monismo  o  monismo  biologico  (1912),  und  William  Mackenzie,  Alle  fonti 
della  vita  (1912),  spricht  sich  der  Vf.  über  die  Haltlosigkeit  des  Psycho- 
nionismus  aus.  —  M.  de  Wulf,  Scolastica  vecchia  e  nuova.  p.  425. 
Der  Vf.  verteidigt  gegen  Nardi  seine  Klassifikation  der  mitlelallerlichen 
Systeme  (in  scholastische  und  antischolastischej  und  seinen  Begriff  der  mittel- 
alterlichen Scholastik,  desgl.  seine  Auffassung  über  das  Verhältnis  zwischen 
Theologie  und  Philosophie,  historfsche  Kritik  und  Philosophie  der  Geschichte ; 
ferner  über  den  Niedergang  der  mittelalterlichen  Scholastik  —  Sprech- 
saal. --  P.ezensionen.  —  Zeitschriften-  und  Bücherschau.  —  Nachrichten 
(der  5.  Kongress  für  experimentelle  Psychologie  in  Berlin  vom  16. — 29. 
April  1912). 

Aimo  IV,  No.  5  J20  Ottobie  1012):  D.  Laima,  La  dottrina 
guoseologica  di  S.  Tomaso  nel  momento  attuale  della  coscieuza 
fliosofica.  p.  513,  Ein  Kapitel  aus  dem  preisgekrönten  Werke  des  Vf.s 
über  die  ,, Theorie  der  Erkenntnis  nach  dem  hl.  Thomas".  Es  wird  ge- 
zeigt, wie  die  Erkenntnistheorie  des  hl.  Thomas  in  ihren  Grundzügen  den 
Anforderungen  auch  des  modernen  Denkens  genügt  und  eine  sichere  Weg- 
weiserin in  den  neuen  Errungenschaften  des  philosophischen  Fortschritts 
ist.  —  A.  Geaielli,  Psicologia  e  patologia.  p.  537.  Der  Wert  der 
pathologischen  Methode  in  der  Psychologie ;  die  gegen  dieselbe  erhobenen 
Einwände.  „Bei  aller  Anerkennung  des  Gewichtes  dieser  Ausstellungen, 
die  den  von  einigen  Schulen  unternommenen  übermässigen  Gebrauch 
treffen,  bleibt  es  dennoch  wahr,  dass  die  pathopsychologisehen  Unter- 
.suehungea  von  der  grössten  Bedeutung  sind  tür  den  Fortschritt  der  Psycho- 
logie, eben  als  Hilfsuntersuchungen  entweder  für  die  Fälle,  in  denen  eine 
Anwendung  der  anderen  Methoden  unmöglich  ist,  oder  doch  als  Kontroll- 
mittel". —  F.  Palhories,  Diea  daus  la  philosophie  de  St.  Boua- 
venture.  p.  562.  Die  Erkennbarkeit  Gottes,  die  Art  der  Gotteserkenntnis, 
die  Eigenschaften  Gottes,  insbesondere  sein  Wille,  die  Schöpfung  durch 
Gott  nach  ihrem  Wesen  und  ihrem  Zeitpunkte  in  der  Philosophie  des  hl. 
Bonaventura.  —  E.  Chiocchetti,  La  filosofia  di  Beuedetto  Croce. 
p.  590.  Der  Vf.  fährt  fort,  das  philosophische  System  des  in  hegelianischen 
Bahnen  wandelnden  Philosophen  B.  Croce  darzulegen,  und  behandelt  im 
vorliegenden  Aufsatz  „Immanenz  und  Geist"  im  System  Croces.  —  A. 
Geinells,  La  moderna  psicologia  «lel  peiisiero,  secoudo  0.  Külpe. 
p.  609.  Analyse  und  Kritik  des  Vortrages,  den  0.  Külpe  auf  dem  letzten 
Kongress  für  experimentelle  Psychologie  in  Berlin  über  „die  moderne 
Psychologie  des  Denkens"  gehalten  und  in  der  ,Internationalen  Monats- 
schrift für  Wissenschaft,  Kunst  und  Technik'  veröffentlicht  hat.  —  Be, 
B.  (Jrüc.e  e  i  presupposti  della  gnoseologia  Vicliiaua.    p.  618.    Der 


218  Zeitschriftenschau. 

Vf.  hatte  das  Buch  „La  filosofia  di  Qian  BattistaVico"  von  Croce  in 
der  ,,Riv.  N.  Scol.''  (Nr.  3—4,  1912,  S.  500)  einer  Kritik  unterzogen,  die 
für  wahrscheinlich  hielt,  dass  Vico  —  entgegen  der  Darstellung  Groces  — 
keine  idealistische,  sondern  eher  einer  der  Scholastik  nahe  kommende 
philosophische  Richtung  gehabt  habe.  Croce  lehnt  in  seinem  Schriftchen  „Le 
fonti  della  gnoseologla  vichiana"  diese  Kritik  ab ;  der  Verfasser  sucht  in 
dem  vorliegenden  Artikel  die  Berechtigung  seiner  Auffassung  erneut  dar- 
zutun. —  B.  Nardi.  La  vecchia  Scolastica  secondo  uno  scolastico 
uuovo.  p.  626.  Antwort  Nardis  auf  die  Ausfährungen  de  Wulfs  in  der 
,Mv.  N.  Scol.''  4.  Heft,  1912,  S.  425  ff.  -  Fr.  Olgiati,  L'idealisnio 
della  „Scuola  di  3Iarbiirgo".  p.  636.  An  der  Hand  von  Natorps 
Vortrag  „Kant  und  die  Marburger  Schule"  (gehalten  in  der  Sitzung  der 
Kantgesellschaft  zu  Halle  a  S.  am  27.  April  1912)  und  der  anderen  Auf- 
sätze, die  in  dem  (Cohen  zugeeigneten)  3.  Heft  des  17.  Bandes  der  Kant- 
studien sowie  in  anderen  diesbezüglichen  Veröffentlichungen  für  und  wider 
erschienen  sind,  entwirft  der  Vf.  ein  Bild  der  durch  die  Marburger  Schule 
begründeten  philosophischen  Bewegung  und  deutet  programmatisch  kurz 
die  Aufgaben  an,  die  der  Neuscholastik  gegenüber  dem  aufstrebenden 
Idealismus  erwachsen.  —  A.  Masuovo,  II  prof.  Geutile  e  il  Tomismo 
italiauo  dal  1850  al  1900.  p.  646.  Der  Vf.  beschliesst  seine  Artikel- 
serie über  die  mangelhafte  und  teilweise  falsche  Darstellung,  die  Gentile  in 
seiner  Geschichte  des  Thomismus  nach  1850  von  der  thomistischen  Be- 
wegung überhaupt  und  von  Taparelli,  Liberatore  und  Sanseverino  ins- 
besondere —  von  letzteren  ausschliesslich  handelt  der  vorliegende  Aufsatz 
—  gegeben  hat.  In  einem  „Anhang"  hat  der  Vf.  den  Wortlaut  der  Fragen 
angefügt,  welche  die  Kommission  für  den  öffentlichen  Unterricht,  zum  Voll- 
zug des  königlichen  Dekretes  vom  23.  Oktober  1849,  den  Professoren  an 
den  wissenschafthchen  Unterrichtsanstalten  zugehen  liess,  um  über  das 
Verhältnis  ihrer  wissenschaftlichen  Anschauungen  zur  Religion  Aufschluss 
zu  erhalten.  —  Rezensionen  usw. 

Anno  IV,  No.  6  (20  Dicembre  1912).  P.  Rotta,  Socialismo  e 
lilosofla.  p.  705.  Der  Vf.  bespricht  die  verschiedenen  Versuche,  den 
Sozialismus  an  dieses  oder  jenes  philosophische  System,  insbesondere  an 
den  Materialismus,  Determinismus,  Positivismus,  Evolutionismus,  Idealismus, 
Immanentismus  und  Intuitionismus,  anzulehnen.  Diese  Versuche  müssen 
fehlschlagen,  so  lange  als  der  Sozialismus  nur  den  homo  oeconomicus 
kennt  und  keine  Rücksicht  nimmt  auf  die  geistigen  und  insbesondere  mo- 
ralischen Bedürfnisse  des  Menschen.  —  B.  Nardi,  La  teoria  dell'  anima 
c  la  generazione  delle  forme  secondo  Pietro  d'Abano.  p.  723. 
Auf  Grund  einer  Anzahl  mit  einander  verglichener  Handschriften  (woron 
er  eine  zu  Bonn  vorfand)  des  „Conciliator  differentiarum  philosophorum  et 
praecipue  medicorum"  stellt  der  Vf.  fest,  dass  S.  Ferrari  in  seinem  Buche 
„i  tempi,  la  vita,  le  dottrine  di  Pietro  d'Abano"  (Genua  1900)  den  mittel- 


Zeitschriftenschau.  219 

alterUchen    Arzt-Philosophen    Petrus    von    Abano    mit    Unrecht    zu    einem 
Averroisten    gestempelt   hat.     Seine    Lehre   von    der   Seele    und    von    der 
Hervorbringung   der   Formen   ist   vielmehr  aristotelisch -thomistisch.  —  C. 
Huit,   II  Platonismo  in  Francia  nel  secolo  XIX.    p.  738.    In  Fort- 
setzung seiner  Darstellung  des  Piatonismus  in  Frankreich  im  19.  Jahi hundert 
spricht   der  Vf.  von   den   Schülern  V.  Cousins.     „Die  vorstehenden  Seiten 
zeigen,    wie   in    dem  Zeitraum  zwischen  1835  und  1855  Piaton  in  Frank- 
reich  lebhafte   Sympathien  erweckt   hatte.     Wie  viel  verschiedene  Werke, 
ungleich  an  Wert  und  Wichtigkeit,    aber   alle   beseelt   von   dem  Wunsche, 
einen  besonderen  Punkt  von  Piatons  Lehre    oder  seinen  Einfluss  ins  Licht 
zu  stellen!    Darf   ich    es    trotzdem    bekennen?     Die  Schüler  Cousins  sind 
sichtlich   stehen   geblieben   vor   der  Aufgabe,   die   ihren  Lehrer  erschreckt 
hatte!    Auch    nach    all    den    Studien,    die    ich    erwähnt    habe,   war    man 
weit   davon  entfernt,   eine  vollständige    und   abgeschlossene  Darlegung  des 
platonischen  Systems    in    seiner   Gesamtheit   vor    sich  zu  haben.    Ausser- 
dem hatten  die  Authentizitätsfragen,    die    in    Deutschland    so    lebhaft    von 
Schleiermacher,  Ast  und  Socher  behandelt  wurden,   nicht  bloss  kein  Echo 
in  Frankreich  gefunden,   sondern  man  schien  nicht  einmal  deren  Existenz 
vorauszusetzen.    Hieraus  ergibt  sich  eine  doppelte  und  beträchtliche  Lagune 
in  der  platonischen  Exegese"  (754  f.).  —  A.  Dyroff,  Una  lettera  inedita 
di  Vincenzo  Gioberti.   p.  756.    Mit  einem  kurzen  historischen  Vorworte 
veröffentlicht  Prof.  Dyroff  in  Bonn  einen  ihm  vom  General  Clemens,   dem 
Sohne   des  bekannten  Philosophen   Fr.  Fr.  J.  Clemens,  zur  Verfügung  ge- 
stellten  (und   jetzt   der  Autographensammlung  der  Bonner  Universität  ein- 
verleibten)   Brief   Giobertis    (Paris  4.  Oktober  1847)    an    den    Philosophen 
Clemens,  —  A.  Aiidin,   A  proposito  della  demonstrazione  tomistica 
deir  esistenza    di  Dio.     p.  758.     Die  „fünf  Wege",   auf  denen  der  hl. 
Thomas  in  seiner  Theologischen  Summe  (p.  1,  q.  2,  a  3)  die  Existenz  Gottes 
bewiesen  hat,  sind  nicht  fünf  verschiedene  Wege,  vielmehr  bilden  die  ersten 
drei  Wege    einen    einzigen    Gottesbeweis.     Der    vierte  Weg    ist    nicht    ein 
eigentlicher  Beweis  für  die  Existenz  Gottes,    sondern   fügt  eine  Ergänzung 
hinzu  zum  Begriffe  jener  ersten  und  notwendigen  Ursache,   deren  Realität 
schon    auf   dem    zweiten   und  dritten  Wege  feststeht.     Der  fünfte  Weg  ist 
bloss   eine   Entwicklung   im   Begriff  der  ersten  Ursache,    nicht  in  deren 
Erweis.     So    sind    die  „fünf  Wege"  nichts   anderes    als   Sektionen   einer 
und   derselben  Hauptstrasse,  —  Fr.  Olgiati,    II  positivismo  integral«. 
p.  769.     Der    Vf.    sucht    die    Haltlosigkeit   des    von    E.  Troilo    in    seinen 
Schriften  so  warm  verteidigten  Positivismus  darzutun.  —  Rezensionen  usw. 
Anno  V,  Xo.  1  (20  Febbraio  1913):  M  BrusadelH,  G.  G.  Rousseau 
nel  secondo  ceutenario  deHa  sua  nascita.  p.  1.    Hauptzüge  der  Per- 
sönlichkeit und  des  Denkens  Rousseaus.    Rousseau  als  Soziologe  in  seinen 
„Discours"   und    in  seinem  „Contrat  social"    (Forts,  folgt).  —  L,  Necchi, 
1  limiti  deir  oggettivitä  dei  sensi  esteiiii.  p.  33.     „1.  Um  sich  einen 


220  Zeitschriften  schau. 

exakten  Begriff  von  dem  Weil  und  von  der  Bedeutung  der  Tätigkeit  der 
äusseren  Sinne  bilden  zu  können,  muss  man  diese  Tätigkeit  studieren 
dort,  wo  sie  sich  äussert  in  der  Abwehr  vor  dem  Einflasse  äusserer 
Ursachen  und  Energien.  2  Die  sensitive  Tätigkeit  des  Menschen, 
fundamental,  insofern  sie  in  den  Dienst  höherer  psychischer  Tätigkeiten 
gestellt  ist,  stellt  einen  partikulären  Fall  dar,  die  einzige  Ausnahme 
im  Tierreich.  3,  Daher  die  Notwendigkeit,  die  Untersuchung  über  die 
sensitive  Erkenntnis  nicht  beim  Menschen  (Ausnahme)  beginnen  zu  lassen, 
sondern  bei  den  Tieren  (Regel).  4.  Bei  den  Tieren  hat  und  kann  die 
Funktion  der  äusseren  Sinne  nur  eine  praktische  Wichtigkeit  und  Be- 
deutung haben.  5.  Für  diesen  Zweck  ist  die  Existenz  von  sekundären 
spezifischen  Qualitäten  in  der  Natur,  die  den  Perzeptionen  (der  Farbe,  des 
Tones  usv;-.)  gegenüberstehen,  nicht  gerade  gefordert;  und  da  gegen  die- 
selbe starke  experimentelle  Gründe  sprechen,  so  muss  man  notwendig  auf 
sie  verzichten,  und  dieser  Verzicht  schliesst  durchaus  keine  Unverträglich- 
keit mit  dem  spezifischen  Charakter  der  Sensation  ein.  6.  Absolut  not- 
wendig hingegen,  gerade  für  die  praktische  Funktion  der  sensitiven  Er- 
kenntnis, ist  ein  Minimum  von  Objektivität,  welches  die  Qualität  der 
primären  Beziehungen  oder  Qualitäten  von  Zeit,  Zahl,  Raum  fordert.  7.  Die 
sensitive  Erkenntnis  des  Menschen  nimmt  natürhch  Anteil  an  diesem  Mi- 
nimum von  Objektivität.  8.  Dieses  Minimum  erweist  sich  als  notwendiges 
und  ausreichendes  Element,  um  als  Fundament  dienen  zu  können  für  dis 
Errichtung  eines  theoretischen  Gebäudes  von  wahrliaft  objektivem  Wert" 
(S.  57).  -  S.  Beimond,  La  Ihigua  della  teodicea  secondo  G.  Duus 
Scoto.  p.  58.  „Duns  Skotus  hat  sich  angelegentlich  mit  der  Frage  be- 
schäftigt, ob  das  Sein  Gottes  übersetzbar  sei  in  die  Formeln  der  Sprache, 
und  welcher  objektive  Definitionswert  diesen  Ausdrücken  zugeschrieben 
werden  darf.  Es  ist  nun  meine  Absicht,  zu  beweisen,  dass  er  der  zweiten 
Frage  eine  verschiedene  Lösung  gibt,  je  nachdem  Gott  benannt  wird  in 
seinem  Sein  und  in  .seinen  unendlichen  Attributen,  oder  nur  in  seinen 
Beziehungen  zu  den  Geschöpfen.  Noch  mehr :  je  nachdem  die  menschliche 
Formel  koordiniert  ist  der  transzendentalen  Wesenheit,  oder  Eigenschaften, 
die  sich  gleicherweise,  aber  in  einem  beschränkten  Grade  und  in  einer 
anderen  Weise,  in  den  Kreaturen  finden,  wird  Duns  Skotus  bestimmt,  die 
genauen  Grenzen  des  Begriffes  der  Eindeutigkeil  in  der  Theodicee  zu 
präzisieren"  (S.  58).  „Duns  Skotus  unterscheidet  in  der  Theodicee  zwei 
Kategorien  von  Namen:  solche,  die  sich  beziehen  auf  das,  was  Gott  ist 
(Wesenheit,  Eigenschaften),  und  solche,  die  Beziehungen  der  Schöpfimg  zu 
Gott  au.sdrücken.  Nur  die  Namen  der  ersten  Kategorie  haben  einen  ob- 
jektiven Definitionswert"  (S.  62).  Der  Vf.  handelt  zunächst  von  den  Namen 
der  ersten  Kategorie  (Forts,  folgt)  —  G.  Mattiu,ssi,  Sülle  „ciuque  vie" 
di  S.  Tomaso.  p.  67.  Die  „fünf  Wege"  des  hl.  Thomas  sind  wirklich 
fünf    verschiedene   Guttesbeweise.     „Der    hl.  Thomas    hat    in  'der   Summa 


Zeitschriftenschau.  221 

fünf  allgemeine  Grundbestimmungen  der  geschöpfliehen  Dinge  betrachtet, 
um  aus  jeder  derselben,  unter  einer  verschiedenen  Rücksicht,  die  Existenz 
eines  Ersten  darzutun,  das  jegliche  Vollkommenheit  ist"  (S.  72).  — 
Varisco  gegen  Tredicis  Kritik  über  sein  Buch  „Gonosci  te  stesso".  — 
Rezensionen  usw. 

5]  Rivista  di  Filosofia.  Continuazione  della  Rivista  filosofica 
e  della  Rivista  di  Filosofia  e  Scienze  affini.     Organo 
della  societä  filosofica  italiana.     Rologna,  Formiggini.    1911. 
Auno  m,  Fase.  IV  (Luglio-Ottobre  1911) :    G.  Marchesini,  La 
filosofia  del   „come  se".    p.  465.     Ueber  Vaihingers   „Philosophie  des 
Als  ob».  —  A.  Zucca,  Le  lotte  dell'  individuo.    p.  472.    Die  Kämpfe 
des  Individuums  in  der  physischen,    intellektuellen,  ethischen,  ästhetischen 
Ordnung.   Der  Gegensatz  zwischen  dem  Individuum  und  dem  Unendlichen. 
Sinn  und  Wert  des  Lebens  und  der  Realität.  —  G.  Salvador!,  II  signi- 
ficato  filosofico  deir  evoluzione.    p.  493.    Der  Sinn  der  Entwicklung. 
„Die  einzige  möghche  Lösung,  die  einen  Ausweg  zulässt  aus  den  unüber- 
windbaren  Schwierigkeiten  des  MateriaUsmus,   des  Spiritualismus  und  des 
Dualismus,  liegt  in  der  Annahme  einer  psycho-physischen  Realität,   in  der 
die  psychologischen  Prozesse  und  die  mechanischen  Prozesse   einfach   die 
zwei  Ansichten,  die  zwei  Seiten,  die  zwei  Formen  von  innerer  und  äusserer 
Tätigkeit  eines  identischen  Seins  darstellen"  (p.  499).    Entwicklung  ist,  wie 
Giordano   Bruno    richtig   gesehen   hat,    die   Entwicklung    des   universalen 
Geistes.  —  M.  Vecehi,  La  logic  a  secondo  le  vedute  di  F.  Enriques, 
p.  500.     Besprechung   des   Kapitels  von  der  Logik   in    dem  in  2.  Auflage 
erschienenen  Buche  „Problemi  della  scienza"  von  F.  Enriques.  —  A.  Pa- 
gano,  Positivitä,  j?iuridicitä,  eticitä.   p.  508.    Positives  Recht,  Gesetz, 
Ethik.  —  A.  Poggi,    Socialismo   e   religione.    p.  517.     Die  Stellung 
der   einzelnen    geschichtUchen  Formen    des  Sozialismus  zur  Rehgion.    Die 
Rehgion    des    Sozialismus     ist    und     muss    sein     die    Menschenhebe.   — 
Rezensionen  usw. 

Anno  III,    Fase.  V   (Novembre  -  Dicembre    1911):    B.  Donati, 
Dottrina  pittogorica  e  aristotelica  della  giustizia.   p.  599.    An  der 

Hand  der  Quellen  untersucht  der  Vf.  in  eingehender  und  tiefgründiger 
Weise  den  Begriff  der  Gerechtigkeit  in  ihren  verschiedenen  Formen  bei  den 
Pythagoräern  und  den  Aristotelikern  für  sich  und  im  gegenseitigen  Ver- 
hältnis. —  P.  Rotta,  Ancora  della  filosofia  di  F.  Paulsen.  p.  672. 
Eine  Charakteristik  der  Philosophie  Paulsens  im  Anschluss  an  die  neue 
Uebersetzung  seiner  „Einleitung  in  die  Philosophie"  ins  Italienische.  — 
P.  Ragnisco,  La  caratteristica  della  filosofia  italiana.  p.  698. 
„Hat  die  italienische  Philosophie  (in  ihrer  seitherigen  Entwicklung)  eine 
eigentümliche  Eigenart  gehabt,  die  sie  von  derjenigen  der  anderen  Nationen 
unterscheidet?  Diese  ihre  Eigenart  muss  erhalten  bleiben  und  immer  mehr 

Hhilogophischet  Jahrbuch  1913.  15 


222  Zeitschrift  enschau. 

zur  Ausgestaltung  kommen"  (p.  698).  Die  italienische  Philosophie  muss 
zurückkehren  zum  heiteren  Naturalismus  der  Renaissance,  zu  jener  glück- 
lichen Lösung  zwischen  Materialismus  und  Spiritualismus  in  der  Ueber- 
windung  des  Dualismus.  —  L.  M.  Billia,  Rorapicapi  del  Parinenide 
e  la  tragedia  del  pensiero.  p.  706.  An  einigen  Beispielen  wird  gezeigt, 
wie  die  ,, kopfzerbrechenden"  Dialoge  im  Parmenides  des  Piaton  keine 
Scherze,  Wortspiele,  Subtilitäten  sind,  sondern  die  Einkleidung  schwer- 
wiegender Gedanken.  —  F.  Bellooi-Filippi,  Ancora  sul  teiua  :  ,,E  il 
Buddhismo  uua  religione  o  una  filosofia?  p.  713.  Der  Buddhismus 
der  Quellen  ist  eine  Religion.  -  A.  Fag-gi,  Un  moralista  dimenticato. 
p.  719.  Analyse  und  Kritik  des  im  Jahre  1878  unter  den  Zeichen  P.  G. 
S.  D.  B.  erschienenen  dreibändigen  Werkes  „Etica  razionale"  (der  Vf.  ist 
Pietro  Giovanni  Stefano  Dalla  Balla).  —  Rezensionen  usw. 

Anno  IV',  Fase.  II  (Marzo-Aprile  1912) :  G.  Zuccante,  I  Cire- 
uaici.  p.  157.  Ueber  Aristipp  und  die  Kyrenaiker.  —  F.  Weiss,  II 
pensiero  di  Giainbattista  Vico.  p.  180.  Kritische  Nachträge  zu  der 
jüngst  erschienenen  Schrift  „La  Filosofia  di  G.  Vico"  von  Croce.  —  M. 
Losacco,  La  filosofia  dell'  organismo.  p.  193.  Ueber  Hans  Driesch, 
Die  Philosophie  des  Organischen  (Leipzig  1909,  zwei  Bände).  —  V. 
Macchioro,  La  ricerca  del  simbolo  nelle  arti  figurative.  p.  210. 
„Mit  dieser  Studie  .  .  .  lege  ich  ein  neues  System  vor,  das  uns  ermög- 
licht, mit  grösserer  Strenge  die  bildenden  Künste,  insofern  sie  Erzeugnisse 
von  Bewusstseinszuständen  sind,  zu  bewerten.  Nicht  ein  ästhetisches  System, 
sondern  ein  hermeneutisches :  auf  empirischen  Grundlagen  a  posteriori" 
(S.  21Ö),  „Mein  System  teilt  also  die  ganze  Kunst  ein  in  bewusste 
Symbolik  und  unbewusste  Symbolik;  diese  Unterscheidung  wird 
bewerkstelligt  mit  Hilfe  dreier  Kriterien:  Grösse,  Lage  und  Physiognomie" 
(p.  225).  —  L.  Visconti,  Evoliizione  e  dissoluzione  della  coscienza 
religiosa.  p.  231.  „Die  vorliegende  Untersuchung  bezielt  das  Studium 
der  verschiedenen  Formen  und  verschiedenen  Haltungen  des  religiösen  Be- 
wusstseins,  sowie  die  Phasen  jenes  Phänomens,  das  sich  die  Auflösung  des 
religiösen  Bewusstseins  nennt"  (p.  231).  —  A.  Bonucci,  Libertä  di  volare 
e  libertä  politiea.  p.  231.  Der  Vf.  tritt  ein  für  grösste  Freiheit  des 
Individuums  im  staatUchen  Leben.  —  Rezensionen  usw. 

Anno  IV,  Fase.  III  (Maggio-Giugno  1912):  G.  Tarozzi,  Empi- 
rismo  filosofico.  p.  305.  1.  Mannigfache  Bedeutungen  und  verschiedene 
geschichtliche  Gestaltungen  des  Empirismus.  2.  Der  „eingeschlafene  Riese" 
Euckens  und  das  unaussprechliche  Individuum.  3.  Der  Empirismus  und 
die  Kritik  des  Reduktionsbegriffes.  4.  Der  Begriff  des  Seins  und  die 
Tätigkeit.  5,  Fassungen  des  Empirismus  bei  W.  James.  Das  chronologische 
Verhältnis  in  der  Analyse  der  Erkenntnis.  6.  Die  theoretischen  Grundlagen 
des  Empirismus  und  der  Begriff  des  Universums.  7.  Der  philosophische 
Empirismus   und    die    Psychologie.     8.    Der  Empirismus    und  das  logische, 


Zeitschriftenschau.  223 

epistomologische  Problem  der  Wissenschaft.  9.  Der  Empirismus  und  die 
induktiven  Grundlagen  der  humanitären  Ethik,  10.  Das  ästhetische  Gefühl 
als  synthetische  Offenbarung  von  Humanität.  11,  Die  empirische  Haltung 
im  religiösen  Denken.  12.  Empirismus  und  Humanität.  —  A.  Faggi,  II 
pensiero.  p,  335.  Das  Wesen  des  Gedankens  bzw.  des  Denkens.  —  G. 
Paladiuo,  Per  l'edizione  critica  della  ,,Cittä  del  Sole"  di  Tomaso 
Carapanella.  p.  347.  Abdruck  der  Vorrede  zur  kritischen,  vom  Vf.  be- 
sorgten Ausgabe  der  „Civitas  solis"  des  Th.  Campanella.  —  F.  Belloni- 
Filippi,  II  ,,Paticcasamuppäda".  p.  361.  Philologische  und  kritische 
Richtigstellungen  und  Ergänzungen  zur  italienischen,  von  dem  Florentiner 
Sinologen  Puini  hergestellten  Uebertragung  der  chinesischen  Uebersetzung 
des  Mahäparinibbänasutta  (Dighanikäya),  „auf  den  die  Nachrichten  über  die 
letzten  drei  Monate  des  Lebens  Buddhas  zurückgehen"  (p.  361).  —  A. 
Mieli,  Scienziati  e  pensatori  di  Kyrene.  p.  367.  In  Ergänzung  des 
Aufsatzes  von  Zuccante  (Riv.  di  Kilos.  IV  2  [1912]  157  ff.),  der  die  Philo- 
sophen der  Kyrenaischen  Schule  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  besprach,  be- 
handelt der  Vf.  die  verschiedenen  Literaten  und  Denker,  „die  aus  der  alten 
Hauptstadt  des  Gebietes,  das  Italien  im  gegenwärtigen  Augenblick  zu  er- 
obern im  Begriffe  steht",  in  den  vorchristlichen  und  in  den  ersten  christ- 
lichen Jahrhunderten  hervorgegangen  sind.  —  Rezensionen  usw. 

Anno  IV,  Fase.  IV  (Luglio-Ottobre  1912)  :  A.  Calcaguo,  Henri 
Bergson  e  la  cultiira  contemporanea.  p.  407.  „H.  Bergson  tasst  in 
seiner  Philosophie  persönlich  und  kraftvoll  die  Tendenz,  welche  die  tiefste 
Charakteristik  der  aktuellen  philosophischen  Bewegung  bildet,  zusammen 
zu  einer  Wiederverbindung  der  Natur  und  des  Geistes  durch  eine  Total- 
synthese des  Lebens  hindurch"  (S.  407).  —  P.  Carabellese,  II  fatto 
educativo.  p.  432.  1.  Die  „erzieherische  Tatsache".  2.  Zweck  und 
Bewusstsein  in  der  erzieherischen  Beziehung.  3.  Die  Einheit  der  „er- 
zieherischen Tatsache".  4.  Das  erzieherische  Wissen  und  seine  Funda- 
mentalprobleme. —  B.  Bertini  Calosso,  L'autonomia  scientiflca  della 
Storia  dell'  arte.  p.  467.  Der  Vf.  legt  dar,  dass  die  Geschichte  der 
Kunst  als  ein  selbständiger  Wissenszweig  anzusehen  ist.  --  C.  Ranzoli, 
La  concezione  del  caso  conie  ignoranza.  p.  475.  „Der  Begriff  des 
Zufalls  als  Unkenntnis  der  Ursache,  der  den  meisten  deterministischen 
Systemen  eigentümlich  ist,  hat  seinen  Ursprung  in  dem  vorgefassten  Streben, 
die  Allgemeinheit  des  Kausalitätsprinzips  zu  retten,  und  setzt  mithin  voraus, 
dass  der  Zufall  objektiv  verstanden  werden  kann  nur  im  vulgären  Sinne 
des  Fehlens  der  Kausalität"  (S.  489).  —  V.  Neppi,  La  gnerra  di  fronte 
alla  ragione.  p.  490.  1.  Die  Unzulänglichkeit  eines  Naturrechts  für  den 
Krieg.  2.  Bestätigung  unserer  Behauptung;  a.  Die  Schlussfolgerungen  einer 
neuen  Schrift  des  Professors  G.  del  Vecchio ;  b.  das  Kriegsrecht.  3.  Unsere 
Schlussfolgerung  (Abschaffung  des  Krieges).  —  Rezensionen  usw. 


224  •  Zeitschriftenschau. 

Anno  IV,  Fase.  V  (Novembre-Dicenibre  1912)  :  R.  Ardigö,  Le 
forme  ascendenti  della  realitä  eome  cosa  e  eonie  azione  e  i  diritti 
veri  dello  spirito.  p.  555.  „Auf  Grund  dessen,  was  wir  soeben  bewiesen 
haben,  können  wir  beschliessend  sagen:  Im  Schosse  des  All  und  durch 
die  Kraft,  die  in  demselben  ungeschieden  ist,  erscheinen  und  folgen  sich 
die  Geschiedenen,  Ding  und  Tätigkeit  zugleich,  in  aufsteigender  Reihe, 
vom  imgestalteten  Materiellen  zum  Organismus,  dem  vegetativen  zuerst, 
dann  dem  animalischen  bis  zum  Menschen,  unter  dem  statischen  Aspekt; 
und  physische  Tätigkeit  zuerst,  dann  physiologische,  dann  psychische,  die 
sich  der  Geist  des  Menschen  nennt,  unter  dynamischem  Aspekt;  und 
indem  sich  die  Kratt  in  dieser  Weise  immer  mehr  oftenbart,  wird  sie  selber 
alles"  (S.  580).  —  A.  Aliotta,  I  gradi  della  libertä  morale.  p  581. 
Weder  der  absolute  Determinismus,  noch  der  absolute  Indeterminismus,  noch 
der  absolute  Idealismus,  noch  Kants  Auffassung,  noch  die  spiritualistische 
Lehre  in  der  Form  des  arbitrmmi  indifferentiae  erklären  die  Grade  der 
Freiheit  und  Verantwortlichkeit ;  wohl  aber  jener  Spiritualismus,  der  im 
Einklang  steht  mit  den  Tatsachen  der  Erfahrung.  —  B.  Ginliano,  II 
pensiero  e  l'AssoIuto.  p.  587.  Im  Anschluss  an  das  Werk  von  Varisco, 
Conosci  te  sesso,  behandelt  der  Vf. :  1.  „Erkenne  Dich  selbst".  2.  Die 
Einheit  der  Phänomene  und  des  Bewusstseins.  3.  Die  absolute  Realität 
nach  Varisco.  4.  Transzendenz  und  Immanenz  des  Absoluten.  —  B.  Do- 
nati, II  valore  della  guerra  e  la  filosofia  di  Eraclito.  p.  600,  Der 
Krieg  als  Schule  der  Tüchtigkeit,  als  Gewalttat,  der  Krieg  und  die  her- 
kömmliche Rechtfertigung  in  Erwägung  seiner  Ursachen  und  Zwecke,  der 
unmittelbare  objektive  Zweck  des  Krieges :  der  Friede  ...  die  Lehre 
Heraklits  über  den  Krieg  und  seine  Philosophie.  —  Note  critlche  alla 
„Filosofia  dello  spirito"  di  Benedetto  Croce.  p.  652.  Die  Logik 
Croces  verglichen  mit  derjenigen  Hegels  inbezug  auf  die  Theorie  des  Be- 
griffs und   auf  die  Klassifikation  der  Wissenschaften.  —  Rezens-onen  usw. 


Novitätenscliau. 


Eine  Bibliographie  der  philosophischen  Erscheinungen 

des  Jahres  1912. 


Zusammengestellt  von 
Prof.  Dr.  Pohle  in  Breslau   und   Prof.  Dr.  Ed.  Hartmann   in   Fulda 

Die  mit  einem  *  bezeichneten  Werke  gehören  dem  Jahre  1911  an. 


I.  Allgemeines. 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen. 

Ambrosi,  L.,  II  primo  passo  alla  filosofia.  I.  Psicologia.  5*  ed.  Roma 
Soc.  Dante  Alij^hieri. 

*Basto8,  J,  de,  R.,  Filosofia  populär,  Pensiamentos,  maximos  y  pro- 
verbios.     Trad.  de  la  cuarta  edicion  portugesa.     Barcelona,  Gili. 

Bilharz,  A.,  Philosophie  als  üniversalwissenschaft.  Deduktorisch  dar- 
gestellt.    Wiesbaden,  Bergmann.     8.     VII,  127  S.     M.  2,80. 

Braun,  0.,  Grundriss  einer  Philosophie  des  Schaffens  als  Kulturphilo- 
sophie. Einführung  in  die  Philosophie  als  Weltanschauungslehre. 
Leipzig,  Göschen.     8,  262  S.     Ji  4,50. 

Brochard,  V.,  Etudes  de  philosophie  ancienne  et  de  philosophie  mo- 
derne.    Paris,  Alcan. 

Calkins,  M.  W.,  Persistent  Problems  of  Philosophy.  3'^  edition.  New 
York,  Macmillan. 

Cohen,  H.,  System  der  Philosophie.  3.  (Schlus8)-Teil  Awstbetik  des 
reinen  Gefühls.  2  Bände.  Berlin,  Cassirer.  gr.  8.  XXV,  401  und 
XV,  477  S.     M.  18. 

Gorrea,  J.  A.,  Philosophie  divine  et  humaine.  Paris,  Aillaud,  Alves  &^ie. 

Dalman  y  Gratacös,  F.,  Elementos  de  filosofia.  Psicologia.  Barce- 
lona, Gili.     432  p.     Pes.  7,50. 

Driesch,  H.,  Ordnungslehre.  Ein  System  des  nicht -metaphysischen 
Teiles  der  Philosophie.  Mit  besonderer  Berücksichtigung  vom  Wer- 
den.    Jena,  Diederichs.     gr.  8.     355  S.     Ji  8. 

Dubray,  Ch.  A.,  Introductory  Philosophy.  A  Textbook  for  Colleges 
and  Schools.     London,  Longmans.     8.     Sh.  10  6. 

Egger,  Fr.,  Propaedeutica  philosophico-theologica.  Septima  editio  re- 
cognita  curis  F.  Scbmid      Brixen,  Weger. 

Eisler,  J.,  Lehrbuch  der  Philosophie.     Wien,  Eisenstein. 


226  Novitätenschau. 

Encyclopädie  der  philosophischen  Wissenschaften.   In  Verbindung  mit 
W.  Windelband,  herausgegeben  von  A.  Rüge.  Tübingen,  Mohr.  Lex.  8. 

1.  Band.     Logik.  2  Hälften.     VIII,  275  S.     M.  7. 

Fague  t,  E.,  Initiation  into  Philosophy.    From  the  French  by  H.  Gordon. 

London,  Williams  &  Norgate.     8.     XI,  197  p.     Sh.  2/1. 
Gredt,    J.,    Elementa    philosophiae    aristotflico- thomisticae.      Vol.    II. 

Metaphysica.    Ethica.    Ed.  altera,  aucta  et  emendata.    Freiburg  i.  B., 

Herder,     gr.  8.     XIX,  447  S.     M.  6,80. 
Häberlin,  P.,  Wissenschaft  und  Philosophie.    Ihr  Wesen  und  Verhältnis. 

2.  Bd.  Philosophie.     Basel,  Kober.     8.     427  S.     M.  1. 
Herbertz,  R.,  Die  philosophische  Literatur.   Ein  Studienführer.    Stutt- 
gart, Spemann.     gr.  8.     IV,  222  S.     M.  5. 

Heussner,  A.,  Die  philosophischen  Weltanschauungen  und  ihre  Haupt- 
vertreter.     Erste    Einfuhrung    in    das    Verständnis    philosophischer 

Probleme.      2.,     durchgesehene    Auflage.       Göttingen,    Vandenhoeck 

&  Ruprecht.     8.     IV,  276  S.     Jk  3,60. 
Joel,  K.,  Seele  nnd  Welt.    Versuch  einer  organischen  Auffassung.    Jena, 

Diederichs.     8.     VII,  426  S.     Ji  8. 
Lasplasas,  Dincurso  sobre  la  filosofia.    Resumen  de  „Mi  Concepto  del 

Mundo".     Barcelona,  Imprenta  Arolas. 
Lechamy,  Precis  de  philosophie.     Paris,  Hatier. 
Lehmen,    A.,   Lehrbuch  der  Philosophie  auf  aristotelisch-scholastischer 

Grundlage  zum  Gebrauche  an  höheren  Lehranstalten  und  zum  Selbst- 
unterricht.   3.  Band.  Theodizee.    3.,  verbesserte  u.  vermehrte  Auflage. 

Herausgegeben    von    P.  Beck.     Freiburg  i.  B.,   Herder,     gr.  8.     XIII, 

315  S.     Jk  4. 
Levesque,  Precis  de  philosophie.  I.Psychologie.  Paris,  de  Gigord.  8.  595p. 
Lottini,  J.,  Compendium  Philosophiae  scholasticae  et  ment^m  S.  Thomae 

Aquinatis.     Editio  III.     Vol.  II.     Cosmologia  et  Anthropologia. 

Vol.  III:  Theologia  naturalis  et  philosophia  moralis.     Roma,  Pustet. 
Meixner,  M,  F.,  Reflexionen.    Grundstriche  zu  einer  realen  Philosophie. 

1.  Band.     Wien,  Frick.     8.     XV,  409  S.     M.  6,60. 
Mercier,    D.,    Nys,    D.,    Arendt,  A.,    Halleux,  J.,    De  Wulf,    M., 

Simons,  G.,  Traite  elementaire  de  Philosophie  ä  l'usage  des  classes. 

2  vol.  4^  ed.     Louvain,  Institut  superieur  de  Philosophie. 
Paulsen,  F.,  Einleitung  in  die  Philosophie.    24.  Aufl.    Stuttgart,  Gotta 

Nachfolger,     yr.  8.     XVI,  466  S.     M.  4,50. 
Perry,  R   B.,    Present  Philosophical   Tendencies.     A  Critical   Survey  of 

Naturalism,  Idealism,  Pragmatism  and  Realism.    London,  Longmans. 

8.     Sh.  10/1. 
Pctresen,  N.,  Zur  Begriffsbestimmung  der  Philosophie.    Eine  kritische 

,  Erörterung.     Berlin,  Simion.     8.     92  S.     M.  2. 
Petzoldt,  J,   Das  Weltproblem  vom  Standpunkte  des  relativistischen 

Fositivismus  aus  historisch-kritisch    dargestellt.     2.  vermehrte  Aufl. 

Nr.  XIV  der  Sammlung  Wissenschaft  u.  Hypothese.    Leipzig,  Teubner. 

8.     XII,  210  S.     M.  3. 
Pfordten,  0.  v.  d.,    Konformismus.     Eine  Philosophie   der    normativen 

Werte.    2.  Teil.    Psychologie  des  Geistes.    Heidelberg,  Winter,    gr.  8. 

X,  249  S.     A  6. 
Philosophie,  Die  der  Gegenwart.    Eine  internationale  Jahresübersicht, 

herausgegeben   von   Arnold   Rüge.     II.  Literatur    1910.     Heidelberg, 

Weiss,     gr.  8.     X,  306  S.     M.  17,50. 


Novit,  ätftnschau.  227 

Reiner,  J.,  Aus  der  modernen  Weltanschauung.  Leitmotive  für  denkende 

Menschten.     3.  Auflage.     Leipzig,  Tobias.     8.     VII,  262  S.     M.  5. 
— ,  Philosophisches  Wörterbuch.     Leipzig,  Tobias.    8.    IV,  295  S.    M.  5. 
Kichert,  H.,   Philosophie.     Ihr  Wesen,    ihre  Probleme,    ihre   Literatur. 

2.  Aufl.    Nr.  186  aus  der  Sammlung  Natur  und  Geisteswelt.    Leipzig, 

Teubnei.     8.     VI,  142  S.     M.   1,25. 
Rignano,  E.,  Essai  de  synthese  scientifique.     Paris,  Alcan.     8.     XXX, 

295  p. 

Rüssel,  B.,    The  Problems  of  Philosophy.     London,  Williams  and  Nor- 

gate.     12.     255  p.     Sh.  1. 
Schmidt,  F.  J.,  Der  philosophische  Sinn,    Programm  des  energetischen 

Idealismus.     Nr.  2    der  Wege   zur  Philosophie.     Göttingen,   Vanden- 

hoeck  &  Ruprecht.     8.     IV,  104  S.     M.  1,50. 
Schmidt,    H.,    Philosophisches   Wörterbuch.     Leipzig,    Kröner      kl    8 

106  S.     A  1.  ^    ^' 

Schneider,  A.,  Die  philosophischen  Grundlagen  der  monistischen 
Weltanschauungen.  Nr.  1  der  Sammlung  Natur  und  Kultur. 
München,  Isaria-Verlag.     8.     IV,  91   S.     Ji   1. 

Schneider,  H.,    Philosophie  vom  Zweck  aus.     1.  Religion    und   Philo- 
sophie.    Ihr  Wesen  und  ihre  Aufgaben  in  der  Gegenwart.     Leipzig 
H.nrichs.     gr.  8.     13,  232  S.     J(,  b. 

Sortais,  G.,     Traite  de  Philosophie,  3  vol.     Paris,  Lethielleux. 

Steinilber,  E.,  Essai  critique  sur  les  idees  philosophiques  contempo- 
raines.     Paris,  Gauthier-Villars. 

Stewart,  H.  L.,  Questions  of  the  Day  in  Philosophy  and  Psychology 
London,  Arnold.     8.     296  p.     Sh.  10/6. 

Stock),  A.,  Lehrbuch  der  Philosophie.  Neubearbeitet  von  G.  Wohl- 
muth.  2.  Bd.  Lehrbuch  der  allgemeinen  Metaphysik  (Ontotogie.) 
8.  Aufl.     Mainz,  Kiecbheim.     gr.  8.     XI,  457  S.     M.  6. 

Will  mann,  0.,  Aus  der  Werkstatt  der  Philosophia  perennis.  Gesam- 
melte philosophische  Schriften.  Freiburg,  Herder,  gr.  8.  IX,  311  S. 
M  5,50. 

B.  Philosophische  Zeitschriften. 

American  Journal  of  Psychology.  Edited  by  G.  Stanley-Hall,  E. 
C.  Sanford  and  E.  B.  Titchener.  Baltimore,  Murrey.  gr.  8.  Jährlich 
4  Hefte.    $  5. 

Anales  di  Psicologia.  Ingegnieros,  Mercante  etc.  Buenos-Aires, 
Etchepareborda. 

Anima.    Direttori :  Amendola  e  Papini.    Firenze,  ViaBardi  6.   12  Hefte 
L  7,50. 

Annalen  der  Naturphilosophie.  Herausgegeben  von  W.  Ostwald. 
Leipzig,  Veit  &  Co.     M.  14. 

Annales  de  Philosophie  ehretienne.  Revue  mensuelle.  Directeur: 
L.  Laberthonniere.     84^  annee.     Paris,  Bloud.     Fr.  22. 

Annales  des  Sciences  psychiques.  Recueil  d'observations  et  d'ex- 
penences.  Directeur:  Dar ieux.  Paraissant  tous  les  deux  mois.  Paris, 
Alcan.    ly.  12. 

Ann6e  philosophique.    Publiee  sous  la  direction  de  F.  Pillon.  22«  ann6e 
1911.     Paris,  Alcan.     286  p.     Fr.  ö. 


228  Novitätenschau. 

Annee  psychologique.  Publiee  par  A.  Binet  avec  la  collaboration  de 
Larguier  des  Bancels,  Th.  Simon,  Maigre,  Plateau,  Ruyssen,  Stern. 
18^  annee.     19 iL     Paris,  Masson.     8.     Fr.  15. 

Annee  sociologique.  Periodique  annuel,  publie  sous  la  direction  de 
E.  Durkheim.    15^  annee  (I9lü— 1911).    Paris,  Alcan.    8.    i'r.  12,50. 

Archives  de  Psychologie.  Publiees  par  Th.  Flournoy  et  E.  Clapa- 
rede.     Nr.  4t — 45.     Geneve,  Kündig  (Paris,  Lemoigne). 

Archives  of  Philosophy,  Psychology  and  scientifics  Methods. 
Edited  byCattel  and  Woodbridge.  New- York,  Sub  Station  84. 1  vol.  %  5. 

Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Unter  Mitwirkung  von 
H.  Hööding,  F,  Jodl,  A.  Kirschmann,  E.  Kräpelin,  0  Külpe,  A.  Leh- 
mann, Th.  Lipps,  G.  Mai  tius,  G.  Störring  und  W.  Wandt  herausgegeben 
von  E.  Meumann  und  W.  Wirt h.  Leipzig,  Enftelmann.  Erscheint 
in  Heften,  deren  vier  einen  Band  von  etwa  40  Bogen  bilden. 

Archiv  für  Philosophie  in  zwei  Abteilungen,  nämlich 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.  In  Gemeinschaft  mit 
W.  Dilthey,  B.  Erdmann  und  P.  Natorp  herausgegeben  von 
L.  Stein.     XVIIL  Bd.    1—4.     Berlin,  Reimer,     gr.  8.     M.   1. 

Archiv  für  systematische  Philosophie,  Herausgegeben  von  W. 
Dilthey,  B.  Erdmann,  P.  Natorp  und  L.  Stein.  Neue  Folge 
der  philosophischen  Monatshefte.  Berlin,  Beimer.  gr.  8.  Bd.  XVIII. 
1-4.     Jtl2. 

Archiv  für  Rechts-  und  Wirtschaftsphilosophie  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  Gesetzgebrungsfragen.  Herausgegeben  von 
J.  Kohl  er  und  Fr.  Berolsheimer.  Berlin- Wilmersdorf,  Rothschild, 
gr.  8. 

Athenaeum.     Szerkeszti  Dr.  Pauer,  Budapest.     8.     4  Hefte. 

Bölcseleti  Folyöirat  (Philosophische  Blätter'.  Scerkeszti  es  kiadja 
Dr.  Kiss.     Budapest,     gr.  8.     4  Hefte.     Fl.h. 

British  Journal  of  Psychology.  Edited  by  Warren  and  W. 
H.  Rivers,     Cambridge,  Üniversity-Press.     1  vol.     Sh.  15. 

Bulletin  de  la  Societe  fran9aise  de  Philosophie.  Administrateur : 
M.  X.  Leon,  Secretaire  general:  M.  A.  Lalande.  11^  annee. 
Chaque  annee  8  numeros.     Fr.  8  (Union  postale  Fr.  10). 

Bulletin  de  l'Institut  general  psychologique.  Administrateur: 
Courtier.     6  fois  par  an.     Paris,  rue  de  Coade  14.     Fr.  20. 

Bulletin  delaSociete  libre  pour  l'etude  psy  chol  ogique  de 
l'enfant.  Administrateur :  Boitel.  Paris,  Schleicher.  4  fasc.  par  an. 
Fr.  3. 

Bulletin  de  la  Sociöte  d'etudes  deMarseille.  Administrateur: 
Anastay.    Tous  les  deux  mois.    Marseille,  rue  de  Rome  41.  Fr.'i,. 

Bulletin  de  la  Societe  d'etudes  psychiques  de  Nancy.  Ad- 
ministratur:  Thomas.  Tous  les  deux  mois.  Nancy,  rue  de  Faubourg 
St.  Jean  25.    Fr.  6. 

Bulletin  mensuel  de  l'Institut  de  Sociologie.  Editeurs:  Misch 
et  Thron.  Chaque  annee  un  fort  volume  de  plus  de  1500  pages  de 
texte  serre.     Paris,  Riviere.     Fr.  10. 

Cultura  filosofica.  Direttore:  Sarlo.  Firenze,  Via  Manzoni.  Esce 
ogni  mese.     L.  12. 

Experimentelle  Pädagogik.  Organ  der  Arbeitsgemeinschaft  für  ex- 
perimentelle Pädagogik  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  experi- 
mentellen Didaktik  und  der  Erziehung  Schwachbegabter  und  abnormer 


Novitätenschau.  229 

Kinder.     Begründet  und  herausgegeben  von  W.  A.  Lay  und  E.  Meu- 
mann.     Leipzig,  Nemnich.     gr.  8.     Jährlich  2  Bände  ä  Ji  6,50. 

Fortschritte  der  Psychologie  und  ihrer  Anwendungen.  Unter  Mitwirkung 
von  W.  Peters  herausgegeben  von  K.  Marbe.  Leipzig,  Teubner.  gr.  8. 
1  Band  6  Hefte.     M.  12. 

Hibbert  Journal.    Edited  by  Jacks.    London,  Williams  &  Norgate.   $  10. 

Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie.  Heraus- 
gegeben von  E.  Gommer.  Paderborn,  Schöningh.  26.  Jahrgang. 
4  Hefte,     gr.  4.     ,M.  9. 

Jahrhundert,  Das  monistische.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Welt- 
anschauung und  Kulturpolitik  (6,  Jahrgang  der  Zeitschrift  des  deutschen 
Monistenbundes).  Im  Auftrage  des  deutschen  Monistenbundes  heraus- 
gegeben von  W.  Ostwald.     München,  Reinhardt.     18  Hefte.     Ji  8. 

Imago.  Zeitschrift  für  Anwendung  der  Psychoanalyse  auf  die  Geistes- 
wissenschaften. Herausgegeben  von  S.  Freud.  Schriftleitung:  0. 
Rank  und  H.  Sachs.     1.  Jahrg.    Wien,  Heller.    6  Hefte.    M.  15. 

Internationale  Zeitschrift  für  wisseiischaftliche  Synthese. 
Redigiert  von  G.  Bruiii,  A.  Dionisi,  F.  Enriques,  A.  Giardina 
und  E.  R  i  g  n  a  n  0.  Leipzig,  Engelmann.  Jährlich  4  Lieferungen  von  je 
150  bis  200  S.     M.  20. 

Journal  de  Psychologie  normale  et  pathologique.  Dirige  par 
P.  Jan  et  et  G.  Dumas.  IX^  annee.  Paris,  Alcan.  Parait  tous  les 
deux  mois.     Un  an  Fr.  14. 

Journal  für  Psychologie  und  Neurologie.  Herausgegeben  von 
A.  Forel  und  0.  Vogt.  Redigiert  von  K.  Brodmann.  Leipzig, 
Barth.  In  zwanglosen  Heften  erscheinend.  6  Hefte  bilden  einen  Band, 
der  20  M  kostet. 

Journal  of  abnormal  Psychology.  Edited  by  Prince.  Bimonthly 
Boston,  The  Old  Corner  Bookstore.     $  3. 

Journal  of  comparative  Neurology  and  Psychology.  Editors: 
C.  L.  Herrick,  C.  J.  Herr  ick,  R.  M.  Yerkes.  On  volume  of  six 
numbers  each  year.  Adress  Subscriptions  G.  J.  Herrick,  Denison 
University,  Granville,  Ohio.     $  4,30. 

Journal  of  Philosophy,  Psychology  and  Scientific  Methods. 
Edited  by  Woodbridge.     Bimens.     Lancaster,  Scientific  Press.    $  3. 

K  a  n  t  st  u  d  i  e  n.  Philosophische  Zeitschrift.  Unter  Mitwirkung  von  E.  Adickes, 
E.  Boutroux,  J.  E.  Creighton,  B.  Erdmann,  R.  Eucken,  P.  Menzer, 
A.  Riehl  und  W.  Windelband  herausgegeben  von  H.  Vaihinger  und 
Br.  Bauch.  Die  Kantstudien  erscheinen  in  zwanglosen  Heften,  die 
zu  Bänden  von  ungefähr  500  Seiten  zusammengefasst  werden.  Berlin, 
Reuther  &  Reichard.     Preis  des  Bandes  Jk  12. 

Leben,  Das.  Zeitschrift  einer  universal  neuen  Wehanschauung.  Heraus- 
gegeben von  P.  Becker.  2.  Jahrgang.  Magdeburg,  Verlag  der  Zeit- 
schrift „das  Leben".     26  Nummern.     M.  2.80. 

Lebensreform,  Die.  Herausgegeben  von  E.  W.  Trojan.  19.  Jahr- 
gang.   Schöneberg-Berhn,  Verlag  „Lebensreform",    24  Nummern.    M.  4. 

Leonardo,  Rivista  d'idee.  Direttore  Papini.  Esce  ogni  due  mesi. 
Firenze,  Borgo  Albizi.     Fr.  7,50. 

Logos.  Internationale  Zeitschrift  für  Philosophie  der  Kultur.  Unter  Mit- 
wirkung von  R.  Eucken,  0.  Gierke,  E.  Husserl,  Fr.  Meinecke. 
H.  Rickert,   G.  Simmel,   E.  Troeltsch,   M.  Weber,  W.  Windel- 


*230  Novitätenschau. 

band  und  H.  Wölfflin  herausgegeben  von  G.  Mehlis.  Tübingen,  Mohr. 
Lex.-8.     Jähdich  J(>.  9. 

Mendel  Journal.     Edited  by  Taylor,  Garnett,  Evans.    London. 

Menschenkenner,  Der.  Monatsschrift  für  praktische  Psychologie.  Heraus- 
gegeben von  F.  Dumstrey  und  M.  Thumm  Kintzel.  5.  Jahrgang. 
12  Nummern.     Leipzig,  Wigand.     gr.  8,     Jährlich  JL  6. 

M e ns ch he its ziele.  Eine  Rundschau  für  wissenschaftlich  begründete 
Weltanschauung  und  Gesellschaftsrelorm.  Herausgegeben  von  H.  Mo- 
lenaar.    Leipzig,  Wigand.    4  Hefte  M.6  (einzelne  Hefte  M.  1,80). 

Mind.  A  quaterly  Review  of  P.sychology  and  Philosophy.  Edited  by  G. 
F.  Stoot.    Vol.  XXL    London,  Williams  &  Norgate.     Yeavly  Sh.  12. 

Mitteilungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  psychische  Forschung. 
Schriftleiter :  G.  Kaleta.  Leipzig,  Theosoph.  Verlagshaus.  12  Hefte.  M.  5. 

Monatsschrift  für  Soziologie.  Herausgegeben  von  Eleutheropulos 
und  R.  von  Engelhardt.    Leipzig,  Eckardt.    Jährlich  12  Hefte  Jd.  20. 

Monismus,  Der,  Zeitschrift  für  einheitliche  Weltanschauung  und  Kultur- 
pohtik.  Blätter  des  deutschen  Monistenbundes.  Herausgegeben  von 
J.  Unold.  Redaktion:  A.  v.  Hügel.  München,  Verlag  des  deutschen 
Monistenbundes.      JährHch    12    Nummern.     M.  3. 

Monist.  Edited  by  Carus.  Devoted  to  the  etablishment  and  Illustration 
of  the  principles  of  Monisme  in  Science,  Philosophy,  Religion  and 
Sociology.     Chicago,  Open  Court.     $  2. 

Monist.  Halbmonatsschrift  zur  Förderung  einer  vernünftigen  Einheits- 
Weltanschauung.  Herausgegeben  von  A.  Teich  mann.  7.  Jahrgang. 
Leipzig,  Teichmann.     24  Nummern  Ji.  6. 

Nuovo  risorgimento.  Rivista  di  filosofia,  scienze,  lettere,  educazione 
e  studi  sociali.     Torino,  Bocca.     12  Hefte. 

Philosophical  Review.  Edited  by  J.  G.  Schurmann.  Boston, 
Ginn  &  Co.     $  3. 

Philosophie  de  l'avenir.  Revue  de  Socialisme  rationel,  paraissant 
tous les  deux  mois.  Fondee  par  F.  B orde.  Bruxelles, Manceau.  8.  Fr.  6. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Auf  Veranlassung  und  mit  Unter- 
stützung der  Görresgesellschaft  unter  Mitwirkung  von  J.  Pohle  und 
Chr.  Schreiber  herausgegeben  von  C.  Gutberiet.  XXVL  Jahrgang. 
4  Hefte.  Fulda,  Actiendruckerei.  gr.  8.  M  9. 
Dazu  ein  Register  zu  Bd.  1—20  (Jahrgang  1888—1907).  Bearbeitet  von 
Dr.  Chr.  Schreiber.    Fulda,  Actiendruckerei.    gr.  8.  VI,  208  S.  M>.  4. 

Philosophische  Wochenschrift  und  Literatur -Zeitung. 
Unter  Mitwirkung  hervorragender  Fachgelehrter  herausgegeben  von 
Jerusalem,  Kinkel  und  H.  Renner.  Leipzig,  H.  Rohde.  Jähr- 
lich M.  12. 

Piaton  ist.     Edited  by  Th.  Johnson.     4  Hefte.     Osceola,  Missouri. 

Proceedings  of  the  AristotelianSociety  forthe  systematic  Study 
of  Philosophy.     London,  Williams  and  Norgate.     8.     Sh.  2/6. 

Proceedings  of  the  Society  of  Psychical  Research.  London,  Trübner  &  Co. 

Psychische  Studien.  Herausgegeben  und  redigiert  von  A.  Aksakow. 
Leipzig,  Mutze,     gr.  8.     Halbjährlich  JC  5. 

Psychological  Review.  Edited  by  J.  M.  Baldwin,  H.  C.  Warren. 
New-York,  Macmillan.  The  Review  is  issued  in  two  sections:  the 
Article  Section  appears  bimonthly,  the  Liter ary  Section 
(Psychological  Bulletin)  appears  on  the  fifteenth  of  eaeh  month. 
Annuel  Subscription  to  Both  Sections  «  4  (Postal  Union  $  4,30). 


Novitätenschau.  231 

In  Coniiection  with  the  Review  is  published  annualy: 

Psychological    Index.     Index    and    Review.     $  4,50   (Postal    Union 

«  4,85).     Index  alone  75  (Postal  Unione)  Cents. 
Psychologische  Studien.     Herausgegeben  von  W.  Wundt.     Neue 
Folge    der    Philosophischen    Studien,     Die    Psychologischen   Studien 
erscheinen  in  Heften  zu  je  4—6  Bogen,  von  denen  je  6  einen  Band 
bilden.     Leipzig,  Engelmann. 
Psyke.     Tidakrift  for  psykologisk  forskning.     Herausgegeben  von  Syd- 
ney Alrutz.  Unter  Mitwirkung  von  H.  Höffding,  A.  Grotenfeld 
et  M.  Vold.     Stockholm,  Bonnier. 
Publications  of  the  üniversity  of  Pennsylvania.    Philosophical 
Senes,  edited  by  G.  St.  Fullerton  and  J.  Mc.  Keen.    Philadelphia 
Umversity  of  Pennsylvania,  Press  Publishers. 
Rassegna  critica  di  Filosofia,  Scienze  e  Lettere.    Foodata  dal  Prof 
A.  Anguilli.    Anno  XXXI.  Nuova  Serie.    Direttori:  G.  A,  Golozza 
et  E.  D.  Marin  is.     12  Hefte.     Napoli.     L.  7. 
Religion   und   Geisteskultur.     Herausgegeben  von   Steinmann. 

GöttiDgen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht.     4  Hefte.     M.  6. 
Review  of  Theology  and  Philosophy.    Edited  by  Allan  Menzies. 

Edmgburgh,  Schnitze  &  Co.     Yearly  Subscription   Sh.  15. 
Revue  de  l'Hypnotisme  et  de  la  Psychologie  physiologique 

Dirigee  par  Berillon.     19^  annee.     Paris. 
Revue  de  Metaphysique  et  de  Morale.    Seerefaire  de  la  Redaction: 
X.  Leon.    Paraissant  tous  les  deux  mois.    20^  annee.    Paris,  Colin 
gr.  8.    Un  an  (6  numeros):  Fr.  11.    Union  postale  Fr.  15 
Revue  de  Philosophie.   Directeur:  E.  Peillaube.  13«  annee.  Parait 
tous  les  mois.   Prix  de  Tabonnement :  Fr.  20.    Union  postale  Fr.  25. 
Revue   des  Etudes   psychiques.     Directeur:    D.  Vesme.     Paris 
Passage  Saulnier  23.     Fr.  8.  ' 

Revue  des  idees.     ]&tudes  de  critique  generale.    Paraissant  le  quince 
de    chaque    mois.      Directeur:    E.    Dujardin.     Prix    du    numero: 
Mr.  1,40.     France  un  an  Fr.  16.     Union  postale  Fr.  18.     Admini- 
stration:   Paris,  rue  du  Vingtneuf  Juillet  7. 
Revue  des  sciences  philosophiques  et  theologiques    Paris 

Lecoffre.  4  Hefte  ä  14  Bogen.  Fr.  12. 
Revue  generale  des  sciences  psychiques.  Directeur:  E.  Bosc. 
Pubhee  tous  les  mois.  Paris,  Daragon.  Abonnement  annuel  Fr.  10. 
Revue  internationale  de  Psychologie  comparative  Direc- 
teur: A.  Mailloux.  Editeurs:  V.  Giard  etE.  Briere.  Parait  deux 
fois  par  mois.  Paris,  rue  du  Soufflot  15.  Fr.  15.  Union  postale 
jPr.  18.  '^ 

Revuemensuelledel'Ecole  d'Ant hropologie  de  Paris.    Dirigee 

par  les  professeurs  de  cette  ecole.     Ir.  10. 
Revue  Neo-Scolastique.    Publiee   per  la  Societe  philosophique  de 

Louvain.    Fondateur :  D.  Mercier.    Louvain,  Institut  superieur  de 

Philosophie.     19e  annee,  4  numeros.    Ir.  10.    Union  postale  Fr.  12. 
Revue  philosophique  de  la  France   et  de  l'Etranger.    Parait 

tous  les  mois.  Directeur:  Th.  Ribot.  37<=  annee.   Paris,  Alcan.   gr.  8. 

Fr.  30.     Pour  l'Etrang.  Fr.  33.  .  6  •    . 

Revue  psychologique.     Directeur:  M.  Joteiko.    Un  fasc.  par  tri- 

mestre.     Bruxelles  (rue  Madeleine  42).     Un  an  Fr.  10. 


232  Novitätenschau. 

Revue  scientifique  et  morale  du  Spiritisme.     Directeur:  De- 

lanne.     16^  annee.     Parait  lous  le3  mois.     Paris,    Boulevard  Grel- 

mans  40.     Fr.  10.      ' 
Revue  Thomiste.     Directeur:    R.  P.  Coconnier.    0.  P.     20«  annee. 

Parait  tous  les  deux  mois.    Paris,  Faubourgh  St.  Honore  22.    Fr.  14. 
Rivista  di  Filosofia.     Direttori:  A.  Faggi,  F.  Juvalta,  A.  Levi, 

G.  Marchesini,    L.  Valli,    B.  Varisco.     Die  Zeitschrift  bildet 

die  Fortsetzung  der  Rivista  Filosofica   und   der  Rivista  di  Filosofia 

e  Scieuze  affini.     Modena,  A.  F.  Formiggini. 
Rivista    di    F  ilosof  ia  Neo-scolastica.     Segretari   di  Redazione: 

G.  Canella  et  A.  A.  Gemelli.    4  Hefte.    Florenz.     Libreria  editr. 

Fiorentina.     Fr.  9. 
Rivista    di    Psicologia  applicata  alla  Pedagogia  ed  alla  Psicopato- 

logia.    Publicata  da  G.  C.  Ferrari.    Bologna.    Esce  ogni  due  niesi. 

L'abonnamento  annuo  L.  8.     Per  l'Estero  L.  10. 
Rivista  italiana   di  Sociologia.     Consiglio  direttivo :  A.  Bosco, 

G.  Gavaglieri,  G.  Sergi,  V.  Tangorra,  E.  Tedeschi.    Roma. 

Abonnamento  acnuo.     L.  10  (Unione  postale  L.  15). 
Rivista  mensile  di  Filosofia  scientifica,    Dircttore:  Morselli. 

Genova,  Via  Assarotti  46. 
Rundschau,  Ethische  Moaatsschrift  zur  Läuterung  und  Vertiefung  der 

ethischen  Anschauungen  und  zur  Förderung  ethischer  Bestrebungen. 

Herausgegeben  und  redigiert  von  M.  Schwuntje.    Berlin,  Schwantje. 

12  Hefte.     M.  3. 
Rundschau,    Neue    metaphysische.     Monatsschrift    für  philosophische, 

psychologische  und  okkulte  Forschungen  in  Wissenschaft,  Kunst  und 

Religion.     Herausgegeben  und  redigiert  von  P.  Zillmann.     Berlin- 
Lichterfelde,  Zillmann.    gr.  8,    6  Hefte.    M.  6. 
Seien tia.     Revue    internationale    de   synthese  scientifique.     Direction : 

(i.  Bruni,  A.  Dionisi,  F.Enriques,  A.  Giardina,  E.  Rignano. 

Editeurs:    Zanichelli  Bologna,    Alcan  Paris,    Engelmann   in   Leipzig, 

Williams  &  Norgate  Londres.     4  numeros    par  an,    de  200 — 300  p. 

chacun.     Prix  de  Tabonnement:  25  Fr.,  20  J^.,  20  Sh. 
Studies    in   Psycholog y.     Edited  by  Seashore.     New- York,  Mac- 

millan.     $  1. 
Studies   from    the  Yale   Psychological   Laboratory.     Edited 

by  Judd.     New-Vork,  Macmillan.     %1. 
Tijdschrift    voor  W ijsbegeerte.      Herausgegeben    von    Bierens 

de  Haan,    J.  deBoer,    Grondys,    Kohnstamm,    Meyer  und 

Pen.     Amsterdam. 
Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  und 

Soziologie.     Gegründet  von   R.  Avenarius.  In  Verbindung  mit 

Fr.  Jodl  und  A.  Rhiel  herausgegeben  von  P.  Barth.     36.  Jahrgang. 

4  Hefte.     Leipzig,  Reialand.     M.  12. 
Weg    zum    Licht,       Monatsschrift     zur    Förderung    geistiger    Welt- 
anschauung.    Schriftleiter:    G.  Zawadzki.     4.  Jahrgang.     Leipzig, 

Theosoph.  Verlagshaus.     12  Nummern.     M.  6. 

Weltanschauung,  Neue.  Monatsschrift  für  Kulturfortschritt  auf 
naturwissenschaftlicher  Grundlage.  Redigiert  von  W.  Breitenbach. 
Stuttgart,  Lohmann.     12  Hefte.     M.  4. 


\ 


Novitätenschau.  233 

Wissen  und  Wollen,  Organ  des  Schafferlogenbundes  für  neupsycho- 
logische Persönlichkeitskultur  und  Gesellschaftsveredelung.  2.  Jahrg. 
Leipzig,  Excelsior-Verlag.     gr.  8.     12  Nummern.     M>.  4. 

Zeitschrift  für  Aesthetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft. 
Herausgegeben  von  M.  Dessoir.     Stuttgart,  Enke.     Lex.-8.     Jk  10. 

Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische 
Sammelforschung.  Zugleich  Organ  des  Instituts  für  angewandte 
Psychologie  und  psychologische  Sammelforschung.  Herausgegeben 
von  W.Stern  und  0.  Lipmann.  Erweiterte  Fortäetzung  der  Bei- 
träge zur  Psychologie  der  Aussage.     Leipzig;  Barth,    gr.  8.     M.  20. 

Zeitschrift  für  experimentelle  Pädagogik,  psychologische 
und  pathologische  Kinderforschung  mit  Berücksichtigung  der 
Sozialpädagogik  und  Schulhygiene.  Herausgegeben  von  E.  Meumann. 
Leipzig,  Nemnich.     6  Hefte,     gr.  8.     Ji  12. 

Zeitschrift  für  immanente  Philosophie.  Unter  Mitwirkung 
von  W.  Schuppe  und  R.  v.  Schubert-Soldern  herausgegeben  von 
B.  R.  Kaufmann.    4  Hefte.    Berlin,  Phil.-histor.  Verlag.    Jk  10. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  Hygiene. 
Begründet  von  F.  Kenisies,  herausg.  von  M.  Brahn,  G.  Deuchler, 
0.  Scheibner.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer,    gr.  8.    12  Hefte.    Ji  10. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  Pädagogik.  Herausgegeben 
von  0.  Flügel  und  W.  Rain.  Langensalza,  Beyer  &  Söhne.  8. 
6  Hefte.    Ji  6. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik. 
Vormals  Fichte -Ulricische  Zeitschrift.  Im  Verein  mit  H.  Siebeck, 
J.  Volkelt  und  R,  Falckenberg  herausgegeben  und  redigiert  von 
H.  Schwarz.     12  Hefte.     Leipzig,  Voigtländer.     Lex.-8.     Ji.  6. 

Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnes- 
organe. In  Gemeinschaft  mit  S.  Exner,  J.  v.  Kries,  Th.  Lipps, 
A.  Meinong,  G.  E.  Müller,  C.  Pelmann,  L.  Stumpf,  Th.  Ziehen  heraus- 
gegeben von  F.  Schumann  und  J.  R.  Ewald.  Leipzig,  Barth. 
Jährlich  erscheinen  2 — 3  Bände,    jeder  zu  6  Heften.     1  Band  M.  15. 

Zeitschrift  für  Religionspsychologie.  Grenzfragen  der  Theo- 
logie und  Medizin.  Herausgegeben  von  G.  Runze,  0.  Klemm, 
J.  Bresler.    Leipzig,  Barth,    gr.  8.    Monatl.  2 — 3  Bog.    Jährl.  Ji  10. 

C.  Sammelwerke  und  einzelne  Werke  berühmter  Philosophen. 

Alembert,  de,    Einleitung  in  die  französische  Enzyklopädie   von  1751. 

Herausgegeben  von  E.  Hirschberg.    I.Teil:  Text.    Band  140a  der 

Philosophischen  Bibliothek.  Leipzig,  Meiner.  8.  XXIII,  164  S.  Ji  2,50. 
Aristotelis    Ethica    Nicomachea.     Edidit  Fr.  Susemihl,   Ed.  tertia. 

Leipzig,  Teubner. 
Aristotele,   Dell'  anima,  passi  scelti  e  comm.  da  V.  Allmayer,  Bari, 

Laterza. 
Aristo te.  La  methaphysique,  livre  Jer.  Traduction  et  commentaire  par 

G.  Colle.    Louvain,  Institut  superieur  de  Philosophie.    8.    VI,  171  p. 
Aristo tle's  Constitution  of  Athens.    A  Revised  Text  by  J.  E.  Sandys. 

London,  Macmillan.     8.     Sh.  12/6. 
Jamblichos,    Theurgia,  or  the  Egyptian  Mysteries.     Translated    from 

the  Greek  by  A.  Wilder.     London,  Rider.    gr.  8.    284  p.     Sh.  7/6. 


234  NoTitätenschau. 

Averroes,  D.,  Metaphysik.  Nach  dem  Arab.  übersetzt  von  M.Horten. 
36.  Heft  der  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte. 
Halle,  Niemeyer.     8.     XIV,  238  S.     Ji.  7. 

Berkeley,  Versuch  einer  neuen  Theorie  der  Gesichtswahrnehmung,  ver- 
teidigt und  erläutert.  Uebersetzt  und  mit  Anmerkungen  versehen 
von  R.  S chmidt ,  durchgesehen  und  durch  Vorwort  eingeführt  von 
P.  Barth.  143.  Band  der  Philosophischen  Bibliothek.  Leipzig,  Meiner. 
8,     Xn,  152  S.     A  2,80. 

Bois-Reymond,  Emil  du,  Reden.  In  2  Bänden.  2,  vervollständigte 
Auflage.  Herausgegeben  von  E.  du  Bois-Reymond.  Leipzig,  Veit. 
8.    XXXVIII,  677  S.     M.  18. 

Rolin,  W.,  Ewiges  L^ben.  Hauptinhalt  der  Gedanken  über  Tod  und 
Unsterblichkeit  von  L.  Feuerbach.  In  freier  Wiedergabe  mit  Ein- 
leitung.    Leipzig,  Engelmann.     8.     IV,  106  S.     M.  1. 

Bossuet.     CEuvres  choisies,  par  J.  Calvet.     Paris,  Bloud. 

Carlyle  et  Emerson,  Correspondance.  Traduction  frangaise.  Paris, 
Goliü.     X,  318  p. 

Carlyle,  Th.,  Arbeiten  und  nicht  verzweifeln.  Auszüge.  Deutsch  von 
M.  Kühn  und  Kretzschmar.  Düsseldorf,  Langewiesche.  8. 
217  S.     M.  1,80. 

Cherfils,  Gh.,  Systeme  de  politique  positive  ou  Traite  de  sociologie 
d'A.  Comte.     Paris,  Giard  et  Briere.     8.     VIII,  635  p. 

Comte,  A,  Pages  choisies.  Notices  et  commentaires  par  R.  Picard. 
Paris,  Cres.     16.     388  p. 

*Comte,  A.,  Philosophie  positive.     4  vol.     Paris,  Flammarion. 

Cournot,  A,  Essai  sur  les  fondements  de  nos  connaissances  et  sur  les 
caracteres  de  la  critique  philosophique.  Nouvelle  edition.  Paris, 
Hachette.     8.     VII,  614  p 

Descartes,  Philosophical  Works.  Rendered  into  English  by  E.  Haidane 
and  G.  R.  T.  Boss.    Cambridge,  üniversity  Press.   8.   388  p.    Sh.  10/6. 

— ,  R.,  Meditationes  de  prima  philosophia.  Im  Anschluss  an  die  Pariser 
Jubiläumsausgabe  nach  dem  zweiten  Amsterdamer  Drucke  und  der 
ersten  französischen  üebersetzung  mit  Anmerkungen,  neu  heraus- 
gegeben von  C.  Gut 1 1er.  2.  Auflage.  München,  Beck.  8.  XH, 
296  S.     M.  5. 

Eckehardt's  Schriften  und  Predigten.  Aus  dem  Mittelhochdeutschen 
übersetzt  und  herausgegeben  von  H.  Büttner.  1.  Band.  2.  Auflage. 
Jena,  Diederichs.     8.     LIX,  241  S.     M  5. 

Emerson.  Les  forces  eternelles  et  autres  essais.  Traduit  de  l'anglais 
par  K.  Johnston.     Paris,  Mercure  de  France.     8.     241  p. 

— ,  Society  and  Solitude  and  other  Essays.     New- York,  Dent. 

Engelhardt,  E.,  Lebende  Worte.  Aus  L.  N.  ToLstojs  Werken  ausge- 
wählt.    Regensburg,  Wunderling.     16      VII,    131  S.     A  1,50. 

*Engels,  F.,  Philosophie,  economie,  politique.  Trad.  par  E.  Laskine. 
Paris,  Giard  et  Briere.     8.     CXIV,  420  p. 

Ficht  e's  Reden  an  die  deutsche  Nation.  Herausgegeben  von  A.  Liebert. 
Berlin,  Deutsche  Bibliothek,     kl.  8.     XVIII,  268  S.     Ji.  1. 

Fichte,  J.  G.,  Die  Anweisung  zum  seligen  Leben.  Herausgegeben  von 
H.Scholz.    Berlin,  Deutsche  Bibliothek,    kl.  8.    LIX,  234  S.    M.  l. 

— ,  Die  Staatslehre  oder  über  das  Verhältnis  des  Urstaates  zum  Ver- 
nuuftreiche.  Neu  herausgegeben  von  F.  Medicus.  Band  132  c. 
der  Philosophischen  Bibliothek.    Berlin,  Simion.   8.  iV,  209  S.    M.  3. 


Novitätenschau.  2B5 

Fichte,  J.  G.,  System  der  Sittenlehre  (1812).  Transzendentale  Logik. 
Staatslehre  oder  über  das  Verhältnis  des  Urstaates  zum  Vernunft- 
reiche. 6.  Band  der  Werke  Fichtes,  herausgegeben  und  eingeleitet 
von  F.  Medicus.     Leipzig,  Meiner.     8,     V,  680  S.     M,.  7. 

— ,  Transzendentale  Logik.  Neu  herausgegeben  von  F.  Medicus.  Band 
132  b.  der  Philosophischen  Bibliothek.  Berlin,  Simion.  gr.  8.  V. 
298  S.     M.  4. 

Fragmente,  Die,  der  Vorsokratiker.  Griechisch  und  Deutsch  von 
H.  Di  eis,  3.  Autlage.  2  Bände.  Berlin,  Weidmann,  gr.  8.  I.Band 
XVI,  434  S.     M.  11.     2.  Band  VII,  345  S.     M.  9. 

Grosseteste,  des  Rob.,  Bischofs  von  Lincoln,  philosophische  Werke. 
Zum  erstenmal  vollständig  in  kritischer  Ausgabe  besorgt  von  Dr.  L. 
Baur.  IX.  Band  der  Beiträge  zur  Geschichte  des  Mittelalters. 
Münstej-,  Aschendorff.     gr.  8.     XIII,  181  u.  778  S.  mit  Fig.     M.  30. 

He  gel- Archiv.  Herausgegeben  von  G.  Lasson.  1.  Heft.  Hegels  Ent- 
würfe zur  Enzyklopädie  und  Propädeutik  nach  den  Handschriften 
der  Harvard -Universität.  Mit  einer  Handschriftprobe.  Heraus- 
gegeben von  J.  Löwenherz.  Leipzig,  Meiner,  gr.  8.  XXIV, 
58  S.     M.  3,50. 

Hegel's  Doctrine  of  Formal  Logik.  Being  a  Translation  of  the  First 
Section  of  the  Subjective  Logic.  With  Introduction  and  Notes  by 
Macran.     London,  Frowde,     8.     316  p.     Sh.  7/6. 

Hegel.  Neue  Briefe  und  Verwandtes.  Mit  Beiträgen  der  Herren 
Dr.  E,  Crous,  Fr.  Meyer,  H.  Nohl  herausgegeben  v.  G.  Lasson. 
Leipzig,  F.  Meiner. 

Hamster huis,  F.,  Philosophische  Schriften  von  J.  Hilss.  Karlsruhe, 
Dreililien-Verlag.     8.     XXX,  209  S.     M.  10 

Her  hart,  J.  F.,  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie.  4.  Aufl. 
Mit  Einführung  herausgegeben  von  K.  Häntscb.  146.  Band  der 
Philosoph.  Bibliothek.    Leipzig,  Meiner.     8      LXXVII,  388  S.     M.  5. 

— ,  Pensieri  di  pedagogia  e  di  varia  filosofia.  Tradotti  ed  ordinati  da 
A  Tom  ei.     Roma. 

Horten,  M.,  Die  Philosophie  der  Erleuchtung  nach  Suhrawardi 
(1191  t),  übersetzt  und  erläutert.  88.  Heft  der  Abhandlungen  zur 
Philosophie   und   ihrer    Geschichte.     Halle,   Niemeyer,      gr.   8.     XI, 

— ,  Mystische  Texte  aus  dem  Islam.  Drei  Gedichte  des  Arabi  1240. 
Aus  dem  Arabischen  übersetzt  und  erläutert  (Kleine  Texte  für  Vor- 
lesungen und  Uebungen  herausgegeben  von  H.  Lietzmann).  Bonn, 
A.  Marcus  u.  E.  Webers  Verlag. 

Höver,  H,  Roger  Bacons  Hylomorphismus  als  Grundlage  seiner 
philosophischen  Anschauungen.  Mit  unedierten  Texten  aus  den 
Communia  naturalium  Fr.  RogeriBacon  u.  6  erläuternde  Tabellen. 
Limburger  Antiquariat  und  Verlag.     8.     VII,  264  S.     M.  6. 

Hume,  D.,  (Euvres  philosophiques  choisies.  Tome  II.  Traite  de  la 
nature  humaine.  De  l'entendement.  Trad.  de  l'anglais  par  M.  David. 
Paris,  Alcan.     8.     342  p. 

— ,  Traktat  über  die  menschliche  Natur  (treatise  on  human  nature). 
Ein  Versuch,  die  Methode  der  Erfahrungen  in  die  Geisteswissen- 
schaften einzuführen.  In  deutscher  Bearbeitung  mit  Anmerkungen 
und  einem  Sachregister.  Herausgegeben  von  Th.  Lipps.  Leipzig, 
Voss.     gr.  8.     VIII,  380  S.     M.  6. 


'2SG  Nnvitätenschau, 

Jakobi's  Spinoza-Büchlein.  Nebst  Replik  und  Duplik.  Herausgegeben 
von  F.  Mauthner.  2.  Band  der  1.  Reihe  der  Bibliothek  der  Philo- 
sophen.    München,  Müller.     8,     27,  344  S.     Ji.  4,50. 

*Jame.s,   W.,    Memories   and  Studies.     London,    Longmans    and   Green. 

Justinus'  des  Philosophen  und  Märtyrers  Apologien.  Herausgegeben 
und  erklärt  von  M.  Ff  attisch.   I.  Teil.   Text.    Münster,  Aschendorff, 

Kant,  I.,  Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  5.  Aufl.  Heraus- 
gegeben, eingeleitet  und  mit  Personen-  und  Sachregister  versehen 
von  K.  Vorländer.  44.  Band  der  Philosophischen  Bibliothek.  Leipzig, 
Meiner.     8.     XX,  338  S.     M  3,80. 

— ,  Briefwechsel.  In  3  Bänden.  Herausgegeben  von  H.  E.  Fischer. 
1.  Band  der  L  Reihe  der  Bibliothek  der  Philosophen.  München, 
Müller.     8.     15,  294  S.     M.  5. 

— ,  Critique  de  la  raison  pure.  Traduction  nouvelle  avec  introduciion 
et  notes,  par  A.  Tremesaygues  et  B.  Pacoud.  3®  ed.  Paris, 
Alcan. 

— ,  Critique  de  la  raison  pratique.  Traduction  nouvelle  avec  intro- 
duction  et  notes  par  Fr.  Picavet.     4^  ed.     Paris,  Alcan. 

* — ,  Fondements  de  la  metaphysique  des  mceurs.  Tradition  nouvelle 
par  H.  Lachelier.     2«  ed.     Paris. 

— ,  gesammelte  Schriften.  Herausgegeben  von  der  königlich  preussischen 
Akademie  der  Wissenschaften.  H.  Band,  L  Abteilung:  Werke.  4.  Band 
Kritik  der  reinen  Vernunft.  Prolegomena.  Grundlegung  zur  Meta- 
physik der  Sitten.  Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissen- 
schaft.    Berlin,  Reiner,     gr.  8.     XHI,  655  S.     M.  12. 

— ,  sämtliche  Werke  in  6  Bänden.  1.  Band,  herausgegeben  von  F.  Gross. 
Leipzig,  Insel-Verlag,     kl.  8.     680  S.     M  6. 

— ,  Werke.     In  Gemeinschaft  mit  H.  Cohen,  A.  Buchenau,  0.  Buek, 

A.   Görland,    B.    Kellermann    herausgegeben    von    E.    Cassirer. 

1.  Vorkritische  Schriften.  I.Band.  Herausgegeben  von  A.  Buchenau. 

Berlin,  Cassirer.     gr.  8.     541  S.     Ji  9. 
Kierkegaard,  S.,  Gesammelte  Werke.   5.  Band.    Der  Begriff  der  Angst. 

Uebersetzt  von  Chr.  Schrempf.    9.  Bd.   Einübung  im  Christentum. 

Jena,  Diederichs.     8.     174  u.  243  S.     M  3  v.  3,50. 

Krebs,  E.,  Scholastische  Texte.  I.Thomas  von  Aquin.  Texte  zum 
Gottesbeweis.  Ausgewählt  und  chronologisch  geordnet.  Bonn, 
Marcus  &  Weber.     8      63  S.     Ji  1,50. 

Locke,  John,  Educational  Writings.  Edited  by  J.  W.  A  d  amson.  London, 
Arnold.     8.     284  p.     Sh.  4/6. 

Lotze,  H.,  System  der  Philosophie.  I.Teil:  Drei  Bücher  vom  Denken, 
vom  Untersuchen  und  vom  Erkennen.  2.  Teil:  Metaphysik.  Drei 
Bücher:  Ontologie,  Kosmologie  und  Psychologie.  Mit  einem  Anhang: 
Die  Prinzipien  der  Ethik,  einem  Namen-  und  Sachregister.  Heraus- 
gegeben von  G.  Misch.  141.  und  142.  Band  der  Philosophischen 
Bibliothek.  Leipzig,  Meiner.  8.  CXXVIII,  632  und  VIII,  644  S. 
M.  7,50  u.  8,50, 

Lucrece,  Morceaux  choisis,  publies  par  R.  Pichon,    4^  edition.   Parip. 

Lulle,  Raymond.  Dialogues  et  cantiques  d'amour  entre  l'ami  et  l'aime, 
composes  en  catalau  par  le  Docteur  illumine  et  martyr  Raymond 
Lulle,  et  traduits  pour  la  I^^^  fois  en  francais  par  A.  Marius. 
Bruxelles.     61  p. 


Novitätenschan.  237 

Maimonides,  Ethics  (Shemonah  Perattin).  Eight  Chapters,  A  Psy- 
chological  and  Ethical  Treatise.  Edited,  annotated  and  tianslatßd 
by  J.  Gorfinkl.     London,  Frowde.     gr.  8.     Sh.  8/6. 

Maimon,  S.,  Versuch  einer  neuen  Logik  oder  Theorio  des  Denkens. 
Nebst  angehängten  Briefen  des  Philalethes  an  Aenesidemus.  Besorgt 
von  B.K.  Engel.  3.  Band  der  Sammlung  Neudrucke  seltener  philo- 
sophischer Werke.  Berlin,  Reuther  &  Reichard.  gr.  8.  XXXVIII, 
445  S.     M  7,50. 

*Meredith,  J.  C,  Kants  Critique  of  Aesthetih  Judgment,  with  Intro- 
ductory  Essay.     Oxford,  Clarendon  Press. 

Mendelssohn,  M.,  Eine  Auswahl  aus  seinen  Briefen.  Frankfurt  a.  M., 
Kauffmann, 

Montaigne,  M.  de,  Les  essais.     Vol.  4  et  5.     London,  Dent. 

Nietzsche,  Fr.,  Werke.  15.  Bd.  Nachgelassene  Werke.  Ecce  homo. 
Der  Wille  zur  Macht.  1.  u.  2.  Bach.  2.,  völlig  neugestaltete  und 
vermehrte  Ausgabe  des  Willens  zur  Macht.  —  16.  Bd.  Der  Wille 
zur  Macht.  3.  u.  4.  Buch.  2.,  völlig  neugestaltete  und  vermehrte 
Ausgabe.  —  18.  Bd.  Philologica.  2.  Bach.  Unveröffentlichtes  zur 
Literaturgeschichte,  Rhetorik  und  Rhythmik.  Leipzig,  Kröner.  8. 
XLVII,  502 ;  XI,  574  u.  XIV,  340  S.     M  7,  7  u.  9. 

Pegues,  Tb.,  Commentaire  francais  litteral  de  la  Somme  theologique 
de  Saint  Thomas  d'Aquin.  Tome  VI.  Toulouse,  Privat.  8.  VIII, 
655  p.     Tome  VII.     572  p. 

PetriCompostellani  de  consolatione  rationis  libri  II.  E  codice 
biblioth.-reg.  monast.  escorialeusis  piimum  edidit  prolegomensisque 
instruxit  P.  Petrus  Blanco  Soto.  4.  Heft  des  VIII.  Bandes  der 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.  Münster, 
Aschendorö.     gr.  8.     151  S.     M.  5. 

*Pascal,  B.,  Pensees  choisies.    Preface  d'E.  Boutroux.    New-York,  Dent. 

Plato,  Die  Verteidigung  des  Sokrates.  Kriton.  Uebertragung  und  Er- 
läuterungen von  E.  Müller.  Nr.  9.  Der  Insel-Bücherei.  Leipzig, 
Insel-Verlag.     8.     78  S.     M.  0,50. 

— ,  Jon.  With  Introduction  and  Notes  by  J.  M.  Macgregor.  Cambridge, 
Univ.  Press.     12.     70  p. 

Piaton,  Apologie  de  Socrate.   Trad.,  par  E.  Tal  bot.    Paris,  Hachette. 

— ,  Apologie  und  Kriton  nebst  Abschnitten  aus  dem  Phaidon  und  Sym- 
posion. Herausgegeben  von  F.  Rosiger.  Kommentar.  2.  Auflage. 
Leipzig,  Teubner.     8.     IV,  86  S.     Ji  0.90. 

—  Dialog  Philebos.    Uebersetzt  und  erläutert  von  0.  Apelt.    145.  Band 

der  Philosophischen  Bibliothek.  Leipzig,  Meiner.  8.  III,  157  S.  M.  2,80. 

—  Gastmahl.     Neu   übertragen   und    eingeleitet   von   K.  Hildebr'andt. 

81.    Band    der    Philosophischen    Bibliothek.      Leipzig,    Meiner.      8. 
128  S.     Ji.  2. 

—  Apologie  and  Crito.    A  new  Translation  by  Marson.     London,  Mel- 

rose.     8.     176  p.     Sh.  3/6. 

—  Phaedo.  Edited  with  Introduction  and  Notes  by  John.  B  um  et.  Oxford, 

Clarendon  Press. 
Rashdall,  H.,   Fratris  Roger ii  Bacon  compendium   studii  theologiae. 

Aberdoniae,  Typis  Academicis. 
Renoavier,    Ch.,    Essais    de    critique   generale.      1.  Traite    de   logique 

generale  et  de  logique  formelle.     2  vol.     8.     397,  386  p.     2.  Traite 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  16 


^38  Novitätenschau. 

de  psychologio   rationnelle.     2  vol.     398,   386  p.     Edition   nouvel'e. 
3.  Les  principes  de  la  nature.     8.     LXV,  444  p.     Paris,  Colin. 

Rosmini,  S.A.,  Theodicy :  Essays  on  Divine  Provideuce.  Translaled 
with  some  Omissions  from  the  Italian.  3  vols.  London,  Long- 
mans.     gr.  8.     Sh.  21. 

Rousseau,  J.  J.,  Kulturideale.  Eine  Zusammenstellung  aus  seinen 
Werken  mit  Einführungen  von  E.  Spranger.  Uebersetzt  von 
H.  Jahn.     2.  Auflage.     Jena,  Diederichs.     8.     334  S.     M  3. 

Ruysbroeck,  J.,  De  la  vraie  contemplation.  Trad.  litterale  du  texte 
flamand-latin  en  fran^ais.     Paris,  Chamenal. 

—  l'Admirable.  (Euvres,  I.  Traduction  du  Flaraand  par  les  Beuedictins 
de  Saint-Paul  de  Wisques.     Bruxelles,  Vromant. 

Saint  Simon,  Neues  Christentum.  Uebers.  und  mit  einer  einleitenden 
Abhandlung  „Die  Ursprünge  der  christlich -sozialen  Ideen"  von 
Dr.  Fried.  Muckle.  Hauptwerke  des  Sozialismus  und  der  Sozial- 
politik.    Neue  Folge,  Heft  1.     Leipzig,  C  L.  Hirschfeld. 

Sehe  Hing,  F.  W.  J.,  Vom  Ich  als  Prinzip  der  Philosophie.  Heraus- 
gegeben von  0.  Weiss.  Band  133a  der  Philosophischen  Bibliothek. 
Leipzig,  Meiner.     8.     96  S.     M.  2. 

— ,  Ideen  zu  einer  Philosophie  dm*  Natur.  Band  133  b.  Ebenda,  gr.  8. 
S.  97-439.     M.  5,40. 

— ,  Von  der  Weltseele.    Band  133  c.    Ebenda,    gr.  8.  S.  441— 579.  ^.4,40. 

— ,  Einleiiung  zu  dem  Entwurf  eine.?  Systems  der  Naturphilosophie.  All- 
gemeine Deduktion  des  dynamischen  Prozesses.  Band  133  d.  S.  681 
bis  816.     M  2,40. 

— ,  System  des  transzendentalen  Idealismus.    Band  134  a.    308  S.    M.  5. 

— ,  Darstellung  eines  Systems  der  Philosophie,    Band  134  b.    S.  309—416. 

— ,  Bruno  oder  über  das  göttliche  und  natürliche  Prinzip  der  Dinge. 
Band.  134  c.     S.  417—536.     Ji.  2,40. 

— ,  Vorlesungen  über  die  Methode  des  akademischen  Studiums.  Bd.  134  d. 
S.  537-682. 

— ,  Schriften   zur  Philosophie  der  Kunst.     Bd.  135  a.     425  S.     M.  5,40. 

— ,  Ueber  das  Wesen  der  menschlichen  Freiheit.    Bd.  135  b.    S.  427—512. 

— ,  Positive  Philosophie  in  Auswahl.     Band  135  c.     S.  513—856.     M.  5. 

Schleiermacher,  F.,  Ueber  die  Religion.  Reden  an  die  Gebildeten 
unter  ihren  Verächtern.  Herausgegeben  von  M.  Rade  Berlin, 
Deutsche  Bibliothek. 

Schopenhauer,  A.,  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  Herausgegeben 
von  Dr.  H.  Schmitt.  (Kröners  Volksau.sgabe).  2  Bände.  Leipzig, 
Kröner.     gr.  8.     XV,  323  und  IV,  358  S.     je  M.  1. 

— ,  Die  W^elt  als  Wille  und  Vorstellung.  Herausgegeben  von  L.  B  er  ndl. 
1.  Band.  3.  Band  der  Bibliothek  der  Philosophen.  München,  W. 
Müller      8.     XXX,  725  S.     M  6. 

— ,  Essai  sur  1*"S  apparitions  et  opuscules  divers.  Essai  sur  les  appa- 
ritions  et  les  faits  qui  s'y  rattachent.  Du  bruit  et  du  vacarme,  etc. 
Paris,  Alcan,     16.     202  p. 

— ,  Fragments  sur  l'histoire  de  philosophie.  Trad.  par  Dietrich.  Paris, 
Alcan.     16.     198  p. 

— ,  Gedanken  und  Aussprüche.    Leipzig,  Zeitler.  kl.  8.  XVIII,  311  S.  M.  b. 

— ,  sämtliche  Werke.  Herausgegeben  von  P.  Deussen.  3.  Band.  Der 
Satz  vom  Grunde.  Ueber  den  Willen  in  der  Natur.  Die  beiden 
Grnndprobleme  der  Ethik.    München,  Pieper,   gr.  8.  IX,  881  S.  M.  8. 


Novitäten  schau.  239 

Seneca,  Vom  glückseligen  Leben.  Herausgegeben  von  A.  v.  Gleichen- 
Rusawurm.     Berlin,  Deutsche  Bibliothek,    kl.  8.    IX,  306  S,    Ji  1. 

Sexti  Empirici  opera  recensuit  H.  Mutschmann.  Vol.  I.  ttvqqo)— 
vfuov  vTiOTvncoouov   libros  tres  continens.     Leipzig,  Teubner. 

S.  Thoraae  Aquinatis  quaestiones  disputatae.  De  anima.  Edition 
nouvelle  avec  introduction  et  notes  par  M.  l'abbe  F.  Hedde.  Fri- 
bourg  et  Paris,  Librairie  de  Saint-Paul  et  Gabalda.  48,  348  p.  Fr.  3,50. 

Vanini,  G.  C,  Le  opere  tradotte  per  la  prima  volta  in  italiano  con 
prefazione  di  G.  Forzo.    Lecce. 

*Voltaire,  F.  M.  A.,  Philosophie,  extraits.     New-York,  Dent. 

— ,  (Euvres  completes.  T.  17.  Dictionnaire  philosophique.    Paris,  Hachette. 

D.   Philosophische  Schriften  vermischten  Inhalts. 

Abhandlungen,  Philosophische,  Hermann  Cohen  zum  70.  Geburtstag 
dargebracht.     Berlin,  Oassirer.     gr.  8.     VIII,  359  S.     M.  9. 

Adams,  J.,  The  Evolution  of  Educational  Theory.  London,  Macmillan. 
8,     420  p.     Sh.  10. 

Aigner,  D,  Die  Entwicklungslehre  in  ihrem  Verhältnis  zum  Christen- 
tum. Nr.  3  der  Sammlung  Natur  und  Kultur.  München,  Verlag 
„Natur  und  Kultur«.     8.     141  S.     Ji  1,20. 

Alimena,  B,,  Note  filosofiche  .di  un  criminalista.     Modena. 

Am  mann,  D.,  Die  Macht  des  Gebetes.  Praktische  Pneumatologie. 
Leipzig,  Mazdaznan-Verlag.     8.     19  S.     M.  0,50. 

Asslanyi,  D.,  Weltverjüngung.  Sechs  Essays.  Leipzig,  Xenien-Verlag. 
8.     160  S.     M.  2,50. 

Baeumker,  C,  Der  Anteil  des  Elsass  an  den  geistigen  Bewegungen  des 
Mittelalter?.  Kaisersgeburtstags -Rede.  Strassburg,  Heitz.  gr.  8. 
59  S.     M.  2. 

Bakur,  A.,  Unterricht  in  den  Weisheitsschulen  des  Ostens.  Rama- 
krischna  -  Vivekananda  -  Aschtabakra  -  Kaiser  -  Akbar.  Schmiedeberg, 
Baumanu.     8.     80  S.     M.  l. 

Balfour,  A.  J.,  As  Philosopher  and  Thinker.  Ä  Collection  of  the  More 
important  Passages  in  His  Non-political  Writings  etc.  London, 
Longmans.     8.     564  p.     Sh.  7/1. 

Balmforth,  R.,  The  Ethical  and  Religious  Value  of  the  Novel.  London, 
Allen.     8.     24  p.     Sh.  5. 

Bartsch,  M.,  Populäre  Philosophie.  2.  (Schlus.s)-Teil.  Los  von  Kant? 
Breslau,  Schimmel.     8.     55  S,     M.  1,50. 

Bax,  E.  B,  Problems  of  Men,  Mind  and  Morals.  London,  Richard,  8. 
294  p.     Sh.  6. 

Bayler,  H.,  The  Lost  Language  of  Symbolism.  London,  Williams  et 
Norgate. 

Becker,  Fr.,  Die  Magie  der  Güte.  Die  Freude,  ein  notwendiger  Faktor 
zur   menschlichen   Harmonie.     Lorcb,   Rohm.      8.     15   S.     M.   0,20. 

Becker,  C,  Vom  geistigen  Leben  und  Schaffen.  Berlin,  Steinitz.  8. 
164  S.     M.  1,50. 

Beilage,  Wissenschaftliche,  zum  24.  Jahresbericht  1911  der  philo- 
sophischen Gesellschaft  an  der  Universität  Wien.  Vorträge:  Rei- 
niger, R.,  Kants  kritischer  Idealismus  in  seiner  erkenntnistheore- 
tischen Bedeutung.  K  reib  ig,  J.  K.,  Zur  Lehre  von  der  Wahr- 
nehmung.    Schrott  er,  K.,    Zur  Psychologie  und  Logik  der  Lüge. 

16* 


240  Novit  ätenschan. 

Stöhr,  Ä,  Gehirn  und  Vorstellungsreiz.  Ewald,  0.,  Zur  Analyse 
des  Unsterblichkeitsproblems.    Leipzig,  Barth.    8.    III,  111  S.    M.  4. 

Bertheau,  F.  R.,  Chronologie  zur  Geschichte  der  geistigen  Bildung 
und  des  Unterrichtswesens  in  Hamburg  von  831  bis  1912.  Bear- 
beitet, zusammengestellt  und  mit  Literaturnachweisen  versehen. 
Hamburg,  Gräfe.     Lex.  8.     XI,  279  S.     Ji  5,50. 

Berthonneau,  M. ;  Bianconi,  A. ;  Bourgin,  H.  etc.,  La  methode 
positive    dans  l'enseignement  primaire   et  secondaire.     Paris,  Alcan. 

*Besant,  A.,  The  Riddle  of  Life  and  how  Theosophy  answers  it. 
London,  Theosophical  publishing  Company. 

— ,  Das  Rätsel  des  Lebens  im  Lichte  der  Theosophie.  Aus  dem  Eng- 
lischen übersetzt  und  herausgegeben  von  der  Gesellschaft  zur  Ver- 
breitung der  Theosophie,  Düsseldorf.  Entnommen  dem  Theosophist. 
Düsseldorf,  E.  Pieper,  Ringverlag.     8.     60  S.     M.  0,50. 

— ,  Welt,  Religion  und  unsere  nahe  Zukunft.  Vorträge.  Uebersetzungen 
herausgegeben  von  Hübbe-Schleiden.  Leipzig,  Altmann.  8.  VII, 
166  S.     M  2,50 

Beseligende,  Das  von  Jnon.    Wien,  Braumüller,     kl.  8.    VHS.     Ji  ö. 

Bessmer.  J.,  Philosophie  und  Theologie  des  Modernismus.  Freiburg, 
Herder.     8.     XH,  611   S.     Ji  1. 

Biskoff,  E.,  Volkserziehung.  I.Teil.  Zeitprobleme-Erziehungsprobleme. 
Leipzig,  Wörner.     8.     40  S.     Ji  1. 

Bit  hörn,  W.,  Lebensfragen  und  Lebensbilder.  Beiträge  zur  Lebens- 
vertiefung.    Merseburg,  Stollberg.     8.     VIl,  224  S.     M.  3. 

Blau,  P.,  Lebensziele.  Ein  Wegweiser  zu  kraftvollem  Werden.  Ham- 
burg, Agentur  des  rauhen  Hauses.     8.     78  S.     JL  1. 

Block,  H.,  Die  erkenntnistheoretische  Rolle  des  Aethers  in  der  Ent- 
wicklung des  Elektromagnetismus.   Bonn,  Georgi.   gr.  8.    97  S.  M.  2. 

Brandler-Fracht,  K.,  Die  Neugedankenlehre.  Leipzig,  Theosophisches 
Verlagshaus.     8.     32  S.     M.  1. 

— ,  Lehrbuch  der  okkulten  Kräfte  im  Menschen.  2.  vermehrte  Auflage. 
Leipzig,  Altmann.     8.     VII,  256  S.     M.  4. 

Brass,  A.  e,  Gemelli,  A.,  Le  falsificazioni  di  Ernesto  Ha e  ekel,  2^ 
ed.  Firenze,  Libreria  Editrice  Fiorentina. 

Breuil,  H.  et  Bouyssonie,  A.  et  J,  Homme.  Extrait  du  Dictionnaire 
apologetique  de  la  Foi  catholique.     Paris,  Gabriel  Beauchesne. 

Breysig,  K.,  Von  Gegenwart  und  von  Zukunft  des  deutschen  Menschen. 
Berlin,  Bondi.     8.     VII,  232  S.     Ji.  4. 

Brockdorff,  v.,  Die  Philosophie  in  der  Pädagogik.  Eine  Einführungs- 
schrift.    Osterwieck,  Zieckfeld. 

Brodbeck,  A.,  Die  Welt  der  Irrtümer.  100  Irrtümer  aus  den  Gebieten 
der  Philosophie,  Mathematik,  Astronomie,  Naturgeschichte,  Medizin, 
Weltgeschichte,  Aesthetik,  Moral,  Sozialwissenschaft  und  Religion. 
Zusammengestellt  und  erörtert.  5.  Auflage.  Leipzig,  Altmann.  8. 
Vn,  122  S.     Ji.   l. 

Brunschvicg,  L,  Les  etapes  de  la  philosophie  mathematique.  Paris, 
Alcan.     8.     .\I,  591  p. 

Buchenau,  A,  Die  philosophische  Entwicklungsgeschichte  der  mathe- 
matischen Naturwissenschaft  bis  auf  Newton.  Aus:  Blätter  für  die 
Fortbildung  des  Lehrers  und  der  Lehrerin.     Berlin,  Zehlendorf. 

Carpenter,  E.,  The  Drama  of  Love  and  Death.  A  Study  of  Human 
Evolution  and  Transfiguration.     London,  Allen.     8.     308  p.     Sh.  5. 


Novitätenschau.  241 

Carvallo,  E.,    Le   calcul   des  probabilites   et  ses    applications.     Paris. 

Chadwick,  H.  M.,  The  Heroic  Age.  Cambridge,  University  Press.  8. 
486  p.     Sh.  12. 

Chamberlain,  H.  St.,  Die  Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts.  10.  Aufl. 
Volksausgabe.     München,  Bruckuaann.     8.     XXI,  1240  S.     Jd.  6. 

— ,  Arische  Weltanschauung.     2.  Aufl.    Ebenda,    kl.  8.     87  S.     M.  1,50. 

— ,  Wehr  und  Gegenwehr.  Vorworte  zur  3.  und  zur  4.  Auflage  der 
Grundlagen  des  19   Jahrhunderts.     Ebenda.     8.     VII,  108  S.    Ji  1. 

*Chamier,  G.,  War  and  Pessimism  and  other  Studies.    London,  Watts. 

Chiapelli,  A.,    Idee  e  figure  moderne.    Ancona,  Puccini.    175  p. 

*Classen,  J.,  Was  ist  Wahrheit?  Wahrer  und  falscher  Idealismus. 
Nr.  64  der  Sammlung  Urban's  christliche  Volksbücher.  Striegau, 
Urban.     kl.  8.     48  S.     Ji  0,30. 

Cohausz,  0.,  Der  Atheismus  und  die  soziale  Gefahr.  Ein  ernstes  Wort 
an  di«  deutsche  Nation.    Warendorf,  Schnell,    kl.  8.    26  S.    Ji  0,40. 

*Colin,  J.,  Les  transformations  de  la  guerre.     Paris. 

Colozza,  G.  A.,  11  metodo  attivo  nell'  Emilio  Saggi.  Palermo,  Tri- 
marchi.     12.     206  p. 

Colville,  W.  J.,  Creative  Tought.  Being  Essays  in  the  Art  of  Self- 
Unfoldment.     London,  Rider.     8.     X,  296  p.     Sh.  3/6. 

Cooke,  Harold,  Maurice  the  Philosopher  (a  Dialogue);  or  Happines,  Love 
and  the  Good.  With  an  Introduction  by  F.  C.  S.  Schiller.  Cam- 
bridge.    8.     XIII,  107  p.     Sh.  2/6. 

Cotta,  J.,  Die  Oase.     Leipzig,  Gerstenberg.     8.     190  S.     Ji  2,50. 

*Cross,  F.,  A  Little  Book  ofEffort:  for  Strengthening  of  the  Character 
and  the  Record  of  Achievement.     London,  Simpkin. 

Dallago,  K.,  Philister.    Innsbruck,  Brenner-Verlag.    8.    37  S.    J^.  0,70. 

Darboux,  G.,  Eloges  academiques  et  discours.  Volume  publie  par  le 
Comite  du  Jubile  scientifique  de  M.  Gaston  Darboux.  Paris,  A.  Her- 
mann.    16,     525  p. 

*Dawson,  J.,  The  Biologie  of  Physics.     New-York,  Holt. 

Dennert,  Die  neue  Gottheit  des  kürzlich  eröffneten  ^.monistischen  Jahr- 
hunderts". 8.  Heft  der  Schriften  des  Kepplerbundes.  Godesberg, 
Naturwissenschaftlicher  Verlag.     8.     16  S.     Ji.  0,20. 

— ,  Monistenwafien !  Ein  Bericht  für  die  Freunde  des  Kepplerbundes 
und  ein  Appell  an  seine  ehrlichen  Gegner.  2.  Auflage.  6.  Heft  der 
Schriften  des  Kepplerbundes.  Godesberg,  Naturwissenschaftlicher 
Verlag.     8.     119  S.     Ji.  1. 

Dresser,  H.  W.,  Human  Efficiency.  A  Psychological-Study  of  Modern 
Problems.     London,  Putnam.     8.     Sh.  5. 

Dubois,  P.,  Selbsterziehung.  11. — 15.  Tausend.  Bern,  Francke.  kl.  8. 
265  S.     Ji  4. 

— ,  The  Education  of  Seif.  Transl.  by  Edward  G.  Richards.  London, 
Funck  and  Wagnalls  Co. 

Du  gas,  L.,  L'education  du  caractere.     Paris,  Alcan,     8.     258  p. 

Dumesnil,  G.,  La  sophistique  contemporaine.  Petit  examen  de  la 
Philosophie  de  mon  temps.     Paris,  Beauchesne.     116  p. 

Durville,  H.,  Der  Fluidalkörper  des  lebenden  Menschen.  Experi- 
mentelle Untersuchungen  über  seine  Anatomie  und  Psychologie. 
Uebertragen  von  Fr.  Feerhow.  Leipzig,  Altmann.  gr.  8.  X,  260  S. 
Ji  4,50. 

Du  ring,  E.,  Gesammelte  Vorträge.     Tübingen,  Mohr. 


242  Novitäteischau. 

E belle,  W.,   Soonenkinder.     Ein   aufrichtiges  Wort   au   alle   Menschen 

der    Erde.     3.  vermehrte   Auflage.     Dresden,    Eberbach  Selbstverlag. 

kl.  8.     80  S.     M.  0,50. 
Engelhaid,  R.,   Garten  der  Göttinnen.     Erhebungen   des  Herzeus   auf 

dem    Wege   zum    Wesen.     Leipzig,    Wunderlich.     8.     IG2   S.     M.  2. 
Erhardt,  F.,    Tatsachen,    Gesetze,   Ursachen.     Rede.     Rostock,    Stiller. 

gr.  8.     24  S.     M  0,40. 
*Eymieu,  A.,    Le  naturalisme  devant   la   science.     Paris,    Perrin.     12. 

365  p. 
Faguet,    E.,    The   Initiation    into   Philosophy.      Trans,    by    Sir    Home 

Gordon.  London,  Williams  and  Norgate. 
— ,  L'initiation  philosophique.  Paris,  Hachette. 
Falke,    K.,    Drei   Essays.     Aus   Raschers    Jahrbuch.      Zürich,   Rascher. 

8.     23  S.     M.  0,80. 
Fay,  A.,  Die  Idee.     Leipzig,  Teichmann.     8.     23  S.     M.  0,50. 
Feerhow,  Fr.,    Der  Einfluss  der  erdmagnetischen  Zonen  auf  den  Men- 
schen.    Mit   einer  Theorie   des   Nordlichtes.     Leipzig,   Altmann.     8. 

99  S.     M.  1,20. 
— ,  N-Strahlen   und  Od.     Ein  Beitrag   zum  Problem    der    Fiadioaktivität 

des  Menschen.     Leipzig,  Altmann.     8.     VII,  155  S.     Ji  1,50. 
Finot,  J.,  Der  Unfug  des  Alterns.  Aus  dem  Französischen  von  A.  Fried. 

Berlin,  Dietzsch.     8.     64  S.     M.   l. 
— ,  Das  Leben  im  Sarge.     Ebenda.     48  S.     M.  1. 
— ,  Tod,  du  bezwingst  mich  nicht.     Ebenda.     48  S.     Ji   1. 
— ,  Das  Leben  als  künstliche  Schöpfung.     Ebenda.     49  S.     Jk  1. 
*Flournay,  Th.,  Spiritism  and  Psychology.  Trauslat.  by  H.  Car  ring  ton. 

London,  Harper  &  Brothers. 
Forestier,  J.,   Examen  de  conscience  philosophique.     Rodez,  Carrere. 
Fournier,  A.  C.  E.,  et  Thouvenin,  M.,  Le  materialisme  et  la  science. 

Erreurs  et  prejuges  ä  detruire.     Paris,  Beauchesne 
Francken,  C.  J.,  Wynaends.  Het  spiritisme.  Een  critische  bcschouwing. 

Haalem,  F.  Bohn. 
Franze,  P.Chr.,    Das   höchste  Gut.     Führer    auf  den  Pfaden  der  Vol- 
lendung.    Berlin,  Simion. 
Freimark,  H,,  Die  okkultistische  Bewegung.     Eine  Aufklärungsschrift. 

Leipzig  Heims.     8.     79  S.     M.  1,50. 
— ,  Moderne  Theosophen  und  ihre  Theosophie.    Ebenda.  8.   72  S.    Ji  1,25. 
— ,  Wege  und  Umwege  zur  Theosophie.     Ebenda.     12.     61  S.     Ji  0,75. 
Frey  tag,  G.,   Deutsche   Lebensführung.      Lebensbilder    und   Leitworte. 

Gesammelt  und  herausgegeben  von  W.  Rudeck.     Leipzig,   Fiedler. 

8.     VIII,  411  S.     M.  b. 
Friedel,  E.,  Ecce  poeta.     Berlin,  Fischer.     8.     268  S.     Ji.  4. 
Friedrich,    K.,    Vergeude   keine   Lebenskraft.     2.   vermehrte  Auflage. 

München,  Reinhardt,     gr.  8.     IV,  105  S.     Ji  1. 
Füll  er  ton,  G.  St.,  The  VVorld  we  Live  in.     New-York,  Macmillan. 
Galiani,    Die    Bibliographie    Galianis.      Aus   dem  Französischen    über- 
tragen und  eingeleitet  von  F.  Blei.  München,  Müller.  8.  288  S.  Ji  8,50. 
Gedanken  und  Winke.     Von  N.  P.     Berlin,  Simion.     8.     119  S.     Ji  2. 
Gerling,  R.,   Die   Kunst    der   Konzentration.     In    10  Briefen.     Berlin, 

Anthropos-Verlag.     kl.  8.     Ji.  7.50. 
Gersuny,  R.,  Bodensatz  des  Lebens.     Zugleich  ein  Meikbuch.    2.  Aufl. 

Wien,  Heller. 


Novitätenschau.  243 

Gillet,  0  P.,  Herzensbildung,  üebersetzt  von  F.  Muszynski.  Pader- 
born, Sctöuingb.     8.     XII,  303  S.     M.  3,50. 

Godaid,  A.,  Christian  Positivism.  5*^*^  ed.  London,  Walker,  gr.  8.  Sh.  8,6. 

üotthardt,  J.,  Alte  und  moderne  Bildungsideale.  Eine  Antwort  auf 
akute  Gegenwartsfragen.  2  Bände.  Arnsberg,  Stahl.  8.  XXIV, 
884  und  415  S.  a— o.     M.  10. 

Gott  mit  uns!     101. — 104.  Heft.     Scbmiegeberg,  Baumann,    je  J^.  0.50. 

Grabowsky,  N.,  Die  Bestimmung  und  Vorbereitung  des  Menschen  für 
das  Leben  nach  dem  Tode.  Ein  Handbuch  praktischer  Religion  oder 
wahrer  menschlichen  Vervollkomnung  ohne  Grundlage  konfessioneller 
Dogmen.  4.  umgearbeitete  Auflage.  Leipzig,  M.  Spohr.  gr.  8.  XV, 
140  S.     M.  2,50. 

•Green,  T.  und  Niemand,  J.,  Briefe,  die  mir  geholfen  haben.  Aus 
dem  Englischen.     Berlin,  Raatz.     8.     134  S.     M.  250. 

Groddeck,  G.,  Hin  zur  Gottnatur.  3.  Auflage.  Leipzig,  Hirzel.  8. 
147  S.     M  1,80. 

Groot,  J.  V.  de,  Eenige  beschouwingen  over  „Lapsing  Intelligence". 
Amsterdam,  J.  Müller. 

Groth,  H.,  Pbysikalifcche  Piinzipien  der  Naturlehre  und  Isaak  Newtons 
mathematischen  Prinzipien.  Kiel,  Lipsius  &  Tischer,  8.  IV,  156  S.  .^.  4. 

Guastela,  C,  L'infinito.     Palermo,  Reber.     8.     172  p. 

*  Guibert,  J.,  Der  Charakter  Ein  Büchlein  zur  Aufmunterung,  üeber- 
setzt von  M.  Schaller.     Würzburg,  Ott.     8.     112  S.     M  2. 

Günther,  S.,  Arbeitsteilung  und  wissenschaftliche  Allgemeinbildung. 
Festrede.     München,  Lindauer.     Lex.  8.     24.  S.     M  0,60. 

Günzel,  J.,  Die  Gebeimwissenschaft  als  V^eltanschauung  und  Religion. 
Apologetische  Beiträge  zur  theosophischen  Bewegung  mit  besonderem 
Hinweis  auf  Swedenborg.  Leipzig,  Theosophisches  Verlagshaus, 
gr.  8.     II,  144  S.     M.  2. 

Haas,  R.,  Eine  Einführung  in  seine  Schriften  mit  einer  Skizze  seines 
Lebens.     Leipzig,  Hinrichs.     gr.  8.     Jd.  0,30. 

Hais  er,  F.,  Die  Krisis  des  Intellektualismus.  Ein  Beitrag  zu  den  neu- 
deutschen Kulturbestrebungen.  Vortrag,  nebst  einem  Anhang  von 
Aufsätzen.  Hildburghausen,  Thüringische  Verlags-Anstalt.  8.  81  S. 
M.  1. 

Haidane,  Lord,  Die  idealistische  Lebensarbeit.  Üebersetzt  von  W.Henkel. 
Dresden,  Rühtmann.     8.     VH,  156  S.     M.  2,50. 

Hamilton,  Lord  E.,  Involution.  London,  Mills  &  Boon.  8.  384  p.  Sh.  7/6. 

Hart  wich,  0.,  Rhythmische  Gedanken,  Bremen,  Leuwer.  kl.  8.  56  S. 
M   1,20. 

Hasenauer,  H.,  So  sollst  du  lieben !  Plaudereien  eines  Stillvergnügten. 
Karlsruhe,  Verlag  „Die  Quelle«.     8.     107  S.     Ji  3. 

*Hatvany,  L,,  Die  Wissenschaft  des  nicht  Wissenswerten,  Ein  Kol- 
legienheft. 2.,  vermehrte  und  veränderte  Aufl.  Berlin,  Konkordia. 
8.     114  S.     M.  1, 

Haupt,  0.,  Die  Wiedergeburt  der  Tragödie.  Wien,  Holder.  8.  86  S. 
M.  2,60. 

Heiberg,  J.  L,,  Naturwissenschaften  und  Mathematik  im  klassischen 
Altertum.     Leipzig,  Teubner. 

Heinichen,  0.,  Die  Grundgedanken  der  Freimaurerei  im  Lichte  der 
Philosophie,     Berlin,  Unger.     8.     83  S.     M  2. 

*Herrera,  J.,  Peusiamentos  Filosoficos.  La  Paz,  Imprenta  boliviana.  28p. 


1' 


244  Novitätenschau. 

Hoffmann,  A.,  Die  gegenseitige  Verantwortung  der  Geschlechter.  Referat. 

Chemnitz,  Koezle. 
H  out  in,  A.,  Histoire  du  modernisme  catholique.    Paris,  Chez  l'auteur, 

18  rue  Ciivier. 
Hübbe-Schleiden,    Die  Botschaft  des  Friedens.     Vortrag.     Anhang: 

Theosophen  und  Anthroposophen.  Leipzig,  Altmann.  8.  42  S.  Ji  0,50. 
— ,    Das    Morgenrot    der    Zukunft.      Vortrag.      Kultur-Programm.      Der 

kommende  Weltherr.  Weltreligion.  Leipzig,  Altmann.  8.  28.  S.  J6. 0,50. 
Hübner,ü.,  Ascendismus,  der  Glaube  an  den  Lebensaufstieg.    Populär- 
philosophisch  dargestellt.     Leipzig,  Eckhardt.     8.     114  S.     M>.  1,50. 
H  uch,  W',  Dies  und  das  und  anderes.  München,  Müller.  8.  V,  373  S.  Ji  A. 
Hunzinger,  A.  W.,  Das  Wunder.    Eine  dogmatisch-apologetische  Studie. 

Leipzig,  Quelle  &  Meyer.     8.     VIII,  165  S.     M  3. 
Imoda,  E.,  Fotografie  di  fantasmi.     Torino,  ßocca.     254  p.     Fr.  25. 
*  Jovine,  D.,  The  Metaphysicals  Rudiments  of  Liberalis^m.  London,  Wattn. 
Jacoby,  C,    Okkultismus   und    medizinische  Wissenschaft.      Stuttgart, 

Enke. 
Jahuke,    R.,    Aus    der  Mappe    eines    Glücklichen.     3.   Auflage.      3. —  8. 

Tausend.     Leipzig,  Teubner.     8.     III,   120  S.     M.  1,80. 

Jahrbuch  der  philosophischen  Gesell.«chaft  an  der  Universität  zu  Wien. 
1912.  Vorträge:  Reininger,  R.,  Ueber  H.  Vaihingers  „Philosophie 
des  Als  Ob".  —  Schrötter,K.,  Die  Wurzeln  der  Phantasie.  — 
Kornfeld,  S.,  Ueber  das  Rechtsgefühl.  —  Neurath,  0.,  Das 
Problem  des  Lustmaximums.    Leipzig,  Barth,    gr.  8.    111,  100  S.    M.  3. 

James,  W.,  Ou  Some  of  Life's  Ideals;  on  a  Certain  Blindness  in  human 
Beings;  What  makes  Life  so  Significant.     New-York. 

Jatakam.  üebersetzt  von  J.  Dutoit.  19.  Lieferung.  Leipzig,  Radelli  & 
Hille.     M.  4. 

Johnsen,  W.,  Homo  sapiens.  Das  Menschenproblem,  beleuchtet. 
Gütersloh,  Bertelsmann. 

Jordan,  W.,  Der  Wille  zur  Macht  —  über  sich  selbst!  Individuelle 
Probleme  und  Möglichkeiten.   Leipzig,  Lotus-Verlag.   8.    107  S.  M  2. 

Josua.  Ein  frohes  Evangelium  aus  künftigen  Tagen.  Wien,  Brau- 
müller,    kl.  8.     65  S.     Ji  1. 

Kassner,  R.,  Der  indische  Gedanke.  Leipzig,  Insel-Verlag.  8.  49  S. 
M.  2,50. 

Kelly,  M.,  Hegel's  Charlatanisra  Exposed.  London,  Allen.  8.  167  p. 
&h.  2,6. 

Keeler,    W.  F.,    Construktive   Tkinking.     London,   Fowler.     8.     Sh.  1. 

Kerschensteiner,  G.,  Charakterbegriff  und  Charaktererziehung. 
Leipzig,  Teubner.     8.     IX,  207  S.     M.  2,40. 

King,  J.,  Social  Aspects  of  Education.     Nev^-York. 

Kirkhara,  S.D.,  Outdoor  Philosophie :  the  Meditations  of  a  Naturalist. 
London,  Putnara.     8.     Sh.  5. 

Klatzkin,  G.,  Das  Problem  der  Bewegung  in  methodischer  Bedeutung 
(Berner  Studien  zur  Philosophie  u.  ihrer  Geschichte).   Bern,  Scheitlin. 

Klimke,  F.,  Monistische  Einheitsbestrebungen  und  katholische  Welt- 
anschauung.    Freiburg,  Herder.     8.     III,  26  S.     M.  4. 

Kneller,  K.  A.,  Das  Christentum  und  die  Vertreter  der  neueren  Natur- 
wissenschaft. 3.  und  4.  verb.  u.  verm.  Auflage.  Freiburg,  Herder, 
8.     III,  523  S.     M.  5,20. 


Novitäten  schau.  245 

Kramer,  G.,   Voll<stiiiriliche  Fieidecteiechiiffer.      Rla^'dtburg    (lapptl- 

allee  18),  Selbstvprlag.     8.     M  10. 
Kunze,  0.,  Der  Wille,  eine  überwältigende  Kraft.     Selbsterziehuug  zur 

Willensstärke.     Leipzig,  Koch.     8.     50  S.     M.   1,50. 
Labert  h  onn  iere  ,  L.,  Le  temoignage  des  Martyrs.   Paris,  Bloud.    64  p. 
— ,  Sur  le  chemin  du  Caiholifit-me.     FaiJs,  Bloud.     64  p. 
Lacaze-Duthiers,  G.,  La  liberie  de  la  pensee.     Pari.«,  Alcan. 

*Ladd,  G.  Tr.,    The  Teacher's    Fractical   Philosophy.     New-York,    Fuuk 

and  Wagnalls. 
Lamprecht,    K.,     Einführung    in    das    historische    Denken.      Leipzig, 

Voigtländer. 
Lao-Tse:    Die  Bahn  und  der    rechte  Weg.     Der  chinesischen  Urschrift 

nachgedacht  von  A.  Ular.    2.  Auflage.    Leipzig,  Insel-Verlag,    gr.  8. 

117  S.     M.  4. 
Lardeur,  J.  B.,    La    verite   psychologique    et    morale   dans    les  romans 

de  M.Paul  Bourget.     Paris,  Fontemang. 
Leadbeater,  C.  W.,  A  Textbook  of  Theotophy.    London,  Theosophist 

Office.     8.     221  p.     Sh.  1/6. 
— ,  Träume.      Eine    theosopbische    Studie.     2.  vermehrte   Aufl.     Autoris. 

Uebersetzung  von  G.  Wagner.     Leipzig,  Altmann.    8.    60  S.    Ji  1. 
Lenoble,  E.,  Recueil  de  compositions  philosophiques.    Paris,  de  Gigord. 

16.     712  p. 
Leo,  0.,  Weltanschauung  und  Seele.    Kassel,  Lometsch.  8.  21  S.  M.  0,30. 

Ijeporin,  V,  Waium  quälen  sich  die  Menschen?  Baupläne  zum 
Menschheitsdom.  Berlin,  Eisenach  (Marienthal)  Selbstverlag.  8. 
223  S.     M.  2.50. 

Le  Seur,  P.,  Vom  Geheimnis  des  Glücks.  Berlin,  Warneck.  8.  15  S. 
M  0,20. 

— ,  Vom  Weg  zu  persönlichem  Leben.     Ebenda.     8.     15  S.     M.  0,20, 

Levinstein,  G.,  Philosophische  Betrachtungen.  Fragmente  aus  dem 
literarischen    Nachlass.     Berlin,    Simion.     8.     VIII,   99  S.     M>.    1,80 

Lexis,  W.,  Die  allgemeinen  Grundlagen  der  Kultur  der  Gegenwart. 
Leipzig,  Teubner. 

Lhotzky,  H.,  Das  Buch  der  Ehe.  Düsseldorf,  Langewiesche.  8. 
211  S.     M.  1,80. 

Licht  von  seinem  Licht,  Kraft  von  seiner  Kraft  oder  die  symbolische 
Bedeutung  der  Bibel.  Enthüllungen,  Erklärungen  und  Auslegungen 
einps  Erleuchteten  der  Neuzeit.  Umgesetzt  und  ausgeführt  durch 
„Tihrylahdohmyh".  Leipzig,  Theosophisches  Verlagshaus.  8.  XXIV, 
832  S.     M.  4. 

Liesenberg,  K,  Persönliche,  gesellschaftliche,  politische  Reklame. 
Lehrbuch  -der  Reklamekunst,  deren  Wesen,  Bedeutung  und  Konse- 
quenzen. Neustadt,  Pfälzische  Verlagsanstalt,  gr.  8.  VIII,  288  S. 
M  7,50. 

Lindsay,  J.,  New  Essays,  Literary  and  Philosophical.  Edinburgh  and 
London,  W.  Blackwood  and  Sons. 

Lipps,  Th.,  Worte  zur  „Psychologie"  und  „Philosophie".  Das  Cogito 
ergo  sum.  Gefühlsqualitäten.  1.  Heft  der  psychologischen  Unter- 
suchungen,    Leipzig,  Engelmann.     110  S.     M.  5. 

Livingstone,  R.  W.,  The  Greek  Genius  and  its  Meaning  tu  Ua. 
London,  Clarendon  Press.     8.     250  p.     Sh,  6. 


246  Novitätenscbau. 

Long  in  US,  F.,  üeber  Seelenwarderung.  Gedanken  eines  Laien.  Leipzig, 
Graubner.     kl.  8.     V,  58  S.     M.  0,60. 

Lubac,  J.,    La    valeur   du   spiritualisme.     Paris,  Grasset.     16.     314  p. 

Macfarland,  CS.,  Spiritual  Culture  and  Social  Service.  London, 
Revell.     8.     Sh.  3/6. 

MacVannel,  J.  A.,  Outline  of  a  Course  in  the  Philosophy  of  Edu- 
cation.     London,  Macmillan.     8.     Sh.  4. 

Mai  nage,  R.  F.,  L'heure  des  ämes.  V^  seri?:  Albert  de  Ruville,  Miss 
Baker,  Job.  Joergensen.     Paris,  Lethielleux. 

Mann,  G.  A.,  The  Development  of  the  Will -Power  by  the  Scientific 
Training  of  the  Mind.     London. 

Mar  den.  0.  S.,  Das  Geheimnis  des  Vollbringens.  Aus  dem  Englischen 
von  G.Bauer.     Stuttgart,  Kohlhammer.     8.     III,  370  S.     M  2,20. 

— ,  Der  Sieg  im  Lebenskampf.  Aus  dem  Euglisch-n  von  L.  Frank. 
Ebenda.     8.     III,  284  S.     M.  220. 

Marsili,  E.,  La  educazione  dei  sensi  con  prefazione  di  B.  Varisco. 
Cittä  di  Castello. 

Maurenbrecher,  M.,  Das  Leid.  Eine  Auseinandersetzung  mit  der 
Religion.     1.  Bd.     Jena,  Diederichs.     8.     184  S.     Ji  3. 

Melcheis,  0.,  Durch  Sehnsucht  und  Wollen  zu  echtem  Glück!  Bremen, 
Röpke.     kl.  8.     72  S.     Mi. 

Mengin,  U.,  Croyaaces.     Paris,  Fischbacher. 

Merzbach,  C,  Unmoderne  Gedanken  eines  Einsiedlers.  Leipzig,  Mo- 
dernes Verlagsbureau.     8,     200  S.     Ji  3. 

Meyer,  E.,  Histoire  dd  l'antiquite.  Tom.  I.  Introduction  ä  l'etude  des 
societes  ancienne?.  Trad.  par  M.  David.   Paris,  Geuthner.   8.   284  p. 

Molteni,  G.,    JI  materialismo  storico  e  la  nuova  storigrafia.     Firenze. 

Momery,  A.  W.,  Personality,  the  Beginning  and  End  of  M^thaphysics 
and  a  Necessary  Assumption  in  ali  Positive  Philosophy.  London, 
Allenson.     8.     89  p. 

Mühlenhardt,  K.,  Agni-Christus  der  Feuergott!  Eine  philosophische 
Betrachtung.  Berlin- Wilmersdorf,  Theisaiusverlag.  gr,  8.  20  S.  JiO,bO. 

Müller,  J.,  Die  Kt^uschheitsideen  io  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung 
und  praktischen  Bedeutung.  2.,  ganz  neu  bearbeitete  Aufl.  Strass- 
burg,  Bougard.     gr.  8.     VIII,  298  S.     M.  4. 

Nasemann,  0.,  Ewiges  und  Alltägliches.  Gedanken  und  Erfahrungen. 
4.  wohlfeile  Ausgabe.    2  Bände.    Halle,  Karras.    8.  III,  447  S.    Ji  6. 

Nowak,  A.,  Die  Kunst,  glücklich  zu  werden.  Populäre,  gemeinver- 
ständliche Abhandlungen  über  die  wichtigste  Frage  des  Lebens. 
1.  Band:  Kritik  der  modernen  Philosophie  und  Begründung  der 
Möglichkeit,  sich  eine  zufriedene  Existenz  aufzubauen.  Berlin, 
Steinitz.     8.     288  S.     Ji.  3,50. 

Orelli,  K.,  Die  philosophischen  Anschauungen  des  Mitleids.  Bonn, 
Marcus. 

Ostwald,  W.,  Der  energetische  Imperativ.  1.  Reihe.  Leipzig,  Aka- 
demische Verlagsgesellschaft,     gr.  8.     544  S.     Ji.  9,60. 

— ,  Der  Monismus  als  Kultiirziel.  Vortrag.  2.  Heft  der  Schriften  des 
Monistenbundes  in  Oesterreich.  Wien,  Brüder  Suschitzky.  8.  39  S. 
Ji  0,50. 

— ,  Monistische  Sonntagsprodigten.  2.  Reihe.  Leipzig,  Akademische  Ver- 
lagsgesellschaft,    gr.  8.     IV,  209-416  S.     Ji  3. 

*Fapini,  G.,  L'altra  meta:  saggio  di  hlosofia  mefistofelica.  Ancona,  Puccini. 


Novitätenschau.  247 

Pappalardo,  A.,  La  telepatia  (transmissione  del  pensiero).  3^  edizione. 

Milaiio,  Hoepli. 
Papus,  La  leiucarnation.     Paris,  Dorbon. 
*Pareto,  V.,   Le   mythe   vertuiste   et   la   Utterature   immorale.     Paris, 

Riviere.     16.     186  p. 
Paquerie,  L.  de  la,  Elementa  d'apologetique.     IIL  Objections  et  pro- 

blemes.     Paris,  Bloud. 
Paulsen,  F.,    Phüosophia  militans.     Gegen  Klerikalismus  und  Natura- 
lismus.    4.  Auflage.     Berliü,  Pieutlier  &  Reichatd. 
Paulseo,  F.,  üesammelte  pädagogische  Abhandlungen.    Herausgegeben 

und  eingeleitet  von  E.  Spränge  r.  Stuttgart,  Cotta. 
Pearson,  K,,  La  grammaire  de  la  science.  Paris,  Alcan. 
Peisker,  M.,  Die  Freiheit  der  Wissenschaft  in  Theorie  und  Praxis  der 

römisch-katholischen   Kirche   dargestellt    und    beurteilt.      Gütersloh, 

Bertelsmann.     8.     125  S.     M.  2,50, 
Penzig,  R.,  Laienpredigten  von  neuem  Menschentum.   Sonntagsvorträge. 

10.  Das  kommende  Heil  der  Menschheit.    Berlin,  Verlag  für  ethische 

Kultur.     8.     20  S.     Jk  0,30. 
*Perry,  R.  B.,  Present  Philosophical  Tendencies.    London,  Longman  & 

Green. 
Pf  e  ilsticke  r ,   R.,    Beiträge    zur    Entwicklung    der    Lebensauffassung. 

Berlin,  Breüenbach.     8.     174  S.     Ji  2,50. 
Poincare,   H.,    Calcul    des    probabilites.      Redaction    de    A.  Quinquet. 

2c  ed.  levue  et  augmeutee  par  l'auteur.     Paris. 
Planck,    K.  Gh.,   Te.stau;ent    eines    Deuischen.     Philosophie    der   Natur 

und  Menschheit.     Herausgegeben    von  K.  Köstlin.     2.  (Titel-) Aus- 
gabe.    Jena,  Diederichs.     gr.  8.     IX,  XIV,  695  S.     M  6. 
Pollack,    W.,    Perspektive    und    Symbol    in    Philosophie    und    R^chts- 

wissenschaft.  Berlin-Wilmersdorf,  Rothschild,  gr.  8.  XVI,  533  S.  Ji  16. 
Prel,   A.  du.    Die  Magie  als  Naturwissenschaft.     1.  Teil:    Die  magische 

Physik.  2.  Auflage.  Leipzig,  Altmann.  gr.  8.  XII,  209  S.  M.  5. 
Ranzol,  C.,  II  linguaggio  dei  filosofi.  Padova,  Drücker.  12.  251  p. 
Raschid  Bey,  Omar  al,  Das  hohe  Ziel  der  Erkenntnis.    Herausgegeben 

von   Helene   Bö  hl  au  al   Raschid    Bey.     München,    Pieper.      Lex.  8. 

XV,  173  S.     M.  6. 
Rathenau,  W.,  Zur  Kritik  der  Zeit.     Berlin,  Fischer,     gr.  8.     260  S. 

M.  3.50. 
Redgrove,  H.  St.,  A  Mathematical  Theory  of  Spirit,  being  an  Attempt 

to   Employ   Certain    Mathematical  Principles   in    the  Elucidation    of 

some  Metaphysical  Problems      London,  Rider. 
Reimpell,  E.,   Menschheitsbildung   und   Menschheitserziehung.     Berlin, 

Scheffer. 
Rie.ss,  L.,    Historik.     Ein  Organon   geschichtlichen   Denkens    und   For- 
schen?.    Bd.  I.     Berlin,  Göschen. 
Rignano,  E.,  Essais  de  synthese  scientifique.     Paris,  Alcan. 
Ritter,  H.,  Durch  Erkenntnis  zum  Seelenfrieden.     Aus  dem  Leben  für 

das  Leben.     Berlin,  Wunder.     8.     120  S.     M.  1,50. 
Rudert,  Th.,  „Ein  Fleisch",    Ein  alter  und  doch  recht  neuer  Weg  zur 

Echtheit   in  Ehe   und   Menschentum.     Berlin,    Haleusee,     Verlag  für 

aktuelle  Philosophie,     gr.  8.     80  S.     Ji  1,80. 
— ,  Hausbuch  der  geistigen  Gesundheitspflege.     Ebenda,     gr.  8.     131  S. 

M.  3,50. 


248  Novitätenschau. 

Rueff,   P.  R.,    Egoismus    als   Ursache    aller  menschlichen    Handlungen. 

Philosophische    Betrachtungen.     Colmar,  Lang    &   Rasch.     8,     7   S. 

M.  0,60. 

Saintives,  La  Simulation  du  merveilleux.  Paris,  Flamajarion. 

Schafheitl  in,  A.,  Der  grosse  Ironiker  und  sein  Werk.  4.  Teil.  Das 
Mysterium  des  Demiurgos.  2.  Band.  Ergänzungen  in  4  Büchern. 
Berlin,  Rosenbaum.     8.     XVIII,     294  S.     M.  3. 

Schalk,  K.,  Die  moderne  Theosophie,  eine  Gefahr  für  unser  Geistesleben. 
Leipzig,  Heims.     8.     64  S.     Ji  1. 

Schildecker,  A.,  Religion  und  Naturwissenschaft.  103.  Heft  der 
Volksschriften  zur  Umwälzung  der  Geister.  Bamberg,  Handels- 
druckerei.    16.     60  S.     M.  0,20. 

Schlatter,  Dora,  Aus  unserm  Kreis.  Ein  Büchlein  für  Frauen.  3.  AuH. 
Lengerich,  Bischof  &  Klein.     8.     124  S.     Ji  1,40. 

Schlüter,  W.,  Mut  und  Macht.  Eine  Einführung  in  die  Philosophie 
des  Könnens.  Nr.  2.  der  deutscheu  Bücherei.  Herausgegeben  von 
A.  Reimann.  Neue  Auflage.  Berlin,  Verlag  deutsche  Bücherei, 
kl.  8.     31  S.     M.  0,40. 

Schnitzer,  J.,  Katholizismus  und  Modernismus.  Vortrag  mit  einem 
Nachwort.  München,  Verlag  der  Krausgesellschaft.  8.  IV,  49  S. 
M.  0,30. 

Schreiner,  E.,  Was  das  Leben  neugestaltet.  Chemnitz,  Koezle.  8. 
40  S.     M.  1. 

Schrenck-Notzing,  Die  Phänomene  des  Mediums  Linda  Gazerra. 
13  Abbildungen.     Leipzig,  0.  Mutze.     8.     41  S.     M.  1,50. 

Schroeder,  C,  Auf^^ätze  über  die  christliche  Wissenschaft  einschliess- 
lich einer  Biographie  der  Entdeckerin.  Hannover,  Deutscher  Verlag 
der  christlichen  Wissenschaft,     gr.  8.     II,  111,  S.     M  2,20. 

Schwarz,  Ed.,  Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur.  Erste  Reihe. 
4.  Aufl.     Leipzig,  Teubner. 

Schwarz,  H.,  Grundfragen  der  Weltanschauung.  2.  erweiterte  Auflage 
der  Schrift  „Der  Materialismus  als  Weltanschauung  und  Geschichts- 
prinzip",  nebst  Abhandlungen  über  die  Willensfreiheit  und  das 
Gottesproblem.     Leipzig,  Dietericb.     gr.  8.     XII,  298  S.     M  6. 

Seh  Wien  er,  F.  P.,  Nichts  ist  unmöglich  oder  vom  effektiv  letzten 
Grunde.     Strassburg,  Singer,     8.     184  S.     M  2. 

Seher,  K.,  Der  Kampf  um  die  Persönlichkeit.  Chemnitz,  Koezle.  gr.  8. 
28  S.     M  0,50. 

Seitz,  A.,  Modernistische  Grundprobleme  in  den  dogmengeschichtlichen 
Untersuchungen  von  Schnitzer  und  Koch,  kritisch  beleuchtet. 
Köln,  Bachern,     gr.  8.     VII,  90  S.     M  1,60. 

Siemens,  0.,  Selbstbefreiung  vom  Uebel !  Selbsterziehung  durch  Auto- 
suggestion 5.  Band  der  Bibliothek :  Ein  neuer  Mensch  im  Denken, 
Fühlen,  Handeln.     Leipzig,  Ficket's  Verlag.     8.     72  S.     M.  1. 

Silacara,  B,  Die  fünf  Gelübde  (The  five  silas).  Ein  Vortrag  über 
Buddhismus.  Uebersetzt  von  Vangiso.  Breslau,  Markgraf,  gr.  8. 
31  S.     M  0,20. 

Stanton,  St.  B.,  Seele  und  Welt.  Uebertragen  von  0.  Knapp.  Stutt- 
gart, Hoffmann.     8.     223  S.     M.  3. 

Sta  udenmaier ,  L.,  Die  Magie  als  experimentelle  Naturwissenschaft. 
Leipzig,   Akadem.  Verlagsgesellschaft,     gr.  8.     IV,   184  S.     JH>  4,50. 


No  vitiit  eriHnh  au.  249 

Steiner,  R.,    Der  Hüter  der   Schwelle.      Seelenvorgänge    in  sceniseben 

Bildern.     Berlin,    Philosophisch-theosophischer   Verlag,     gr.  8.     VII, 

102  S.     Ji  2,50. 
— ,    Die   Prüfung   der    Seele.      Scenisches   Lebensbild    als    Nachspiel    zur 

„Pforte  der  Einweihung".     2.  Auflage.     Ebenda,     gr.  8.     IV,  105  S. 

M  2,50. 
— ,  Ein  Weg    zur   Selbsterkenntnis  des   Menschen.     In    8  Meditationen. 

Ebenda.     8.     VII,  76  S.     JL  2. 
Stirner,  M.,  Das  unwahre  Prinzip  unserer  Erziehung  oder  der  Humanis- 
mus   und    Realismus.      Charlottenburg    (Berlinerstrasse),     Mackay. 

Lex.  8.     25  S.     M  5. 
Stock,  S.  G.,  English  Thought  for  Eugli-sh  Thiükers.    London,  Constable. 
Susman,  M.,  Vom  Sinn  der  Liebe.     1. — 2.  Tausend.    Jena,  Diederichs. 

8.     142  S.     M  2,50. 
Tannery,  P.,    Memoires   scientifiques,    publies   par   J.  L.  Heiberg  et 

H.  G.  Zeuthen.  I.  Sciences  exactes  dans  l'antiquite,  1876 — 1884,  1. 1. 

Paris,  Gauthier-Villars. 
Taschenkalender,    Monistischer.      1913.      3.    Jahrgang.      München, 

Reinhardt.     8.     128  S.     M>  0,60. 
Tarkowsky,    F.,    Philosophie   des    Vegetarismus.     Eine  philosophische 

Grundlegung  und  eine  philosophische  Betrachtung  des  Vegetarismus 

und  seiner  Probleme  in  Natur,  Ethik,    Religion  und  Kunst.     Berlin, 

Salle.     gr.  8.     XVI,  314  S.     J(>  4. 
^Thompson,  J.  A  ,  Introduction  to  Science.  London,  Williams  &  Norgate, 
Tolstoi,  L.,   Der  Lebensweg.     Ein  Buch  für  VVahrheitssucher.    Deutsch 

von  A.  Hess.     Leipzig,  Schulze.     8.     XII,  508  S.     M.  5. 
Traub,  Th.,  Umgang.    Aus  „Handreichungen  für  Glauben  und  Leben", 

Halle,  Mühlmann.     gr.  8.     33  S.     M  0,60. 
Trine,  R.  W.,  In  Harmonie  mit  dem  Unendlichen,    Aus  dem  Englischen 

von    M.  Christ  lieb.      Stuttgart,    Engelhorns    Nachfolger,      gr.   8. 

224  S.     M.  3,50. 
—  ,  Was  dir  gegeben,    bring  es    zum    Leben!     Aus    dem  Englischen    von 

M.  Christ  lieb.     Ebenda.     8.     V,  241  S.     Ji  4. 
Trcilo,  E.,  11  positivismo  e  i  diritti  dello  spirito.     Torino,  Bocca. 
UUinger,  M.,  Studien  und  Gedanken.    M.-Gladbach,  Hilbringen,  Selb.st- 

verlag.     8.     51  S.     J^   1. 
Vermeersch,  A.,  La  tolerance.     Louvain,  Uystpruyst. 
*Vial,  L.  C,  La  machine  humaine.     Paris,  chez  l'auteur. 
Vigne,  P.,  Le  droit  naturel  et  le  droit  chretien  dans  l'education.    Paris, 

Lethielleux.     16.     196  p. 
Voss,  E.,  Glaube,  Hoffnung,  Liebe.    Strassburg,  Singer.    8    67  S.  ife  1,50. 
Vowinkel,    E.,    Beiträge    zur    Philosophie    und    Pädagogik.      Berlin, 

Simion  Nf.     8.     255  S.     M  4. 
Wagner,  E.,    Der   Freund.     Innere    Zwiegespräche.     Aus    dem  Franzö- 
sischen   von   F.  Fliedner.     2.  Auflage.     Leipzig,    Quelle    &  Meyer. 

8     XVI,  341  S.     M  4. 
— ,  Schlichtes  Leben.    Aus  dem  Französischen  von  F.  Fliedner.    Ebenda. 

8.     XVI,  341  S.     JK,  4. 
— ,  Männlich  und  stark.    Aus  dem  Französischen  von  R,  Reme.   Ebenda. 

8.     264  S.     M  4. 
— ,  Die  Seele    der  Dinge,     Aus    dem    Französischen    von   F.  Fliedner. 

5.  Auflage.     Ebenda.     8.     X,  292  S.     M  4. 


250  Novitäten  seh  an. 

Wanderer,  R.,  Glück.     Eine  Regleiterscheinung   des  Wachsens.     Fünf 

philosophische  Gespiäche.  München,  Reinhardt.  8.  VIH,  13GS.  .^^  1,80. 
Weber,  S.,   Theologie   als   freie    Wissenschaft   und    die   wahren   Feinde 

wiswensehaftlicher   Freiheit'.      Ein   Wort    zum   Streit   um    den    Anli- 

modernisteneid.     Freiburg  i.  B,,  Herder,    gr.  8.    VII,  75  S.    M  1,20. 
Weiniger,    0.,    Ueber    die   letzten    Dinge       Mit    einem    biographischen 

Vorwort   von   M.  Rappaport.     Wien,    Braumöller,     gr.  8.     XXV, 

178  S.     M.  2. 
Weisheit,   Die,   der  Völker.     Jean    Pauls  Weisheit.     Herausgegeben 

von  W.  Jensen.     Minden,  BruDS.     kl.  8.     VIII,  320  S.     .*  2,50. 
Weiss,   B,    Die    Zukunft   der   Menschheit.      2    gänzlich   umgearbeitete 

Auflage.     Leipzig,  Härtel.     gr.  8      VII,  98  S.     M   1. 
Welby,  V.,    Sigoifics    and   Language :    the  Articulate  Form  of  our  Ex- 
pressive and  luterpretive  Resources.     London,  Macraillan. 
Werkmeister,  J.  Th.  J.,  Tempel  der  Unsterblichkeit.    Eine  Anthologie 

der  erhabensten  Gedanken  und  Aussprüche  berühmter  und  bekannter 

Forscher,  Denker  und  Dichter  über  Fortdauer  und  Wiedersehen,  mit 

vielen  Anmerkungen.     Leipzig,  Mutze.     8.     III,  124  S.     M.  2. 
Werner,   R.,    Der  Höhe  zu!     Betrachtungen.      Dresden,  die  Sonne.     8. 

132  S.     ^  3. 
Whateley,  A.  R.,  The  Inner  Light.    With  Introductory  Note  by  A.  Cal- 

decott.     London,  Allen. 
Whetham,   W.,  Heredity  and  Society.    London,  Longmans.     8.    198  p. 

Sh.  6. 
Whitaker,   Th.,   Priests,    Philosophers  and  Prophets.     London,  Black. 
Wibbelt,  A.,   Ein   Sonnenbuch.     1.— 6.  Tausend.     Warendorf,   Schnell. 

8.     352  S.     M.  5. 
Wijck,  B.  H.    van  der,  Gestalten  en  Gedachten.     Haarlem,  Bohn. 
Wirz,  H.,   Die  Erlösung.     Eine  Studie   über   die  Frage:    Wie  wird  das 

Leben  lebbar?     Leipzig,  Hinricbs  Verlag.     8,     IV,  160  S.     M  3. 
Wöbrie,    E.,    Die    Wiederherstellung    des    psychischen    Tempels.      Den 

Schülern    des   Gral-Ordens   gewidmet.      5.  Heft   der   Bausteine   zum 

Graltempel.     Schmiedeberg,  Baumann.     8      11  S.     M  0,25. 
Wolfram,  E.,   Psychologie   in   Märchengestalt.      Dornröschen,    Schnee- 

witchen,    Rotkäppchen,    Hans    im    Glück.      Leipzig,    Altmann.      8, 
.    45  S.     M  0,75. 
Zellen,  H.,  Indische  Renaissance.    Ein  Essay  über  unsere  Zeit.   Leipzig, 

Modernes  Verlagsbureau.     8.     61  S.     M  2,50. 
Ziegler,  I,  Die  Geistesreligion  und  das  jüdische  Religionsgesetz.   Berlin, 

Reimer. 
Ziese,  E.,    Wachstum   und   Entwicklung.     Gedanken   über   das  All,    die 

Welt  und  das  Ich.    Petersburg,  Elbing.     gr,  8.     188  S.    M  5. 
Zschimmer,  G.  E,  Frei  und  offen.     Leipzig,   Teichmann.     gr.  8.     HI, 

116  S.     M  2,40. 

II.  Logik  und  Erkenntnistheorie. 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen. 

Ambika  Charan  Mitra,    The  Principles  of  Logic  Deductive  and  In- 

ductive,     Calcutta,  S.  R.  Lahiri. 
Avenarius,  R.,  Der  menschliche  Weltbegriff.    3.  Auflage,  vermehrt  um 

den  Abdruck   von  W.  Schuppe,    Offener  Brief  an  Avenarius   über 


Novitätenschau.  251 

die  „Bestätigung  des  naiven  Realismus"    und   von  R.  Avenarius  Be- 
merkungen zum  Begriff  des  Gegenstandes  der  Psychologie,     l.eipzig, 

Reisland.     gr.  8.     XXVI,  274  S.     M  8. 
Borsiezkey,  A.,  Logicae  pars  piima  criticae.  De  conceptu.  Endrerg.  69p. 
Bosanquet,  B.,  Logic.     Or  the  Moiphology  of  Knowledge.     2'*  edition 

revised  and  enlarged,  2  vols.     Oxford,  Clarendon  Press. 
Coffey,  P.,    The  Science   of  Logic.     An  Inquiry    into    the  Principles  of 

Accurate  Thought  and  Scientific  Method.     2  Vols.     London,    Long- 

mans.     8.     Sh.  15. 
Döring,  A.,  Grundlinien  der  Logik  als  einer  Methodenlehre  universeller 

sachlicher  Ordnung  unserer  Vorstellungen.    Ein  Versuch,  die  Logik  auf 

neuer  Grundlage  zu  gestalten.   Leipzig,  Meiner.  8.  XII,  181  S.   Ji  2,50. 
Hamilton,  E.  J.,   Erkennen    und  Schliessen.     Eine  theoretische  Logik 

auf    der    Grundlage    des    Perzeptionalismus    und   Modalismus.     Mit 

kurzem    Lebensabriss    des  Verfassers    von   M.  Klose.     Nr.  30    der 

Philosophisch  soziologischen  Bücherei.     Leipzig,  Klinkhardt.     gr.  8. 

XII,  299  S.     M>  8. 
Hoff  mann,  J.,  Grundlehren  der  Logik.     2.,   vollständig   umgearbeitete 

Auflage.     Wi^^n,  Braumüller,     gr.  8.     IV,  128  S.     M  2. 
Horst,  E.,  Grundlagen  einer  genetischen  Erkenntnistheorie.    6.  Heft  der 

Humboldt-Bibliothek.     Brackwede,    Breitenbach.     8.     116   S.     M.   2. 
Jeanniere,    R.,    Criteriologia    vel    critica    cognitionis    certae.      Paris, 

Beauchesne.     16      616  p. 
Lipps,  Th.,  Grundzüge  der  Logik.   Leipzig,  Voss    8.   VI,  233  S.  .-fi  3,60. 
Lossky,  N,  Vvedenie  v  filossofüu,    tchast  i,   vvedenie  v  teorüu  znania 

(Introduction   ä   la   philosophie,    premiere   partie,   introduction  ä  la 

connaissance),     Saint-Petersbourg. 
Mercier,  Gh.,  A  New  Logic.     London,  Heinemann.    8.    450  p.    Sh.  10. 
Morando,  G.,  Logica.     Voghera. 
Padoa,  A.,    La  logique  deductive  dans  sa  derniere  phase  de  developpe- 

meat.     Paris. 
Philip,  A.,  The  Dynamic  Foundation  of  KnowlefJge.    London,  Trübner. 
Schiller,   F.  C.  S.,   Formal    Logic.     A  Sci-^ntific   and   Social    Problem. 

London,  Macmillan.     8.     442  p.     Sh.  10. 
— ,  Humanism.     Philosophical  Essays.     Ebenda.     8.     414  p.     Sh.  10. 
— ,  Studies  in  Humanism.     Ebenda.     8.     512  p.     Sh.  10. 
Stadler,   A.,    Logik.     Leipzig,  Voigtländer,     gr.  8.     V,   256    S.     M.  4. 
Vent,  F.,  Programmatische  Hrkenntnistheorie.     Stettin,  Hiller. 
Vvedensky,  A.,  Loguika  kak  tchast  teorii  poznaniia  (La  logique  comme 

partie  de  la  theoriede  la  connaissance).  2^  edition.  Saint-Petersbourg, 
Waller,  A.  D.,  A  Contribution  to  the  Psychology  of  Logic,  considered 

from  a  Physiological  Standpoint.     London,  Hodder.     8.     Sh.  3/6. 
Westaway,  F.  W.,  Scientific  Method.    Its  Philosophy  and  its  Practice. 

London,  ßlackie.     8.     462  p.     Sh.  6. 
Wh  et  h  am,    Science  and   the  Human  Mind.     A  Critical  and  Historical 

Account  of  the  Development  of  Natural  Knowledge.    London,  Long- 

mans.     8.     316  p.     Sh.  5. 

B.  Beiträge  zur  Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Aars,  Kr.,  Die  Idee.  Zum  Ursprung  des  Gedankens,  zur  Theorie  der 
Begrifie,  zur  Kritik  der  Vernunft.  Kristiania,  Dybwad.  Lex.  8. 
in,  163  S.     M  5. 


252  Novitäten  seh  an. 

Aliotta,  A.,  La  reazion«  idealistica  contro  la  scienza.    Palermo,  Edit. 

Optima.     8.     XVI,  526  p.     L.  12. 
Avelling,  F.,  Op  the  Consciousnes  of  the  Universal  and  the  Individual. 

A  Contrijbution    in    the  Phenomenology    of  ihe    Thought  Proceöses. 

London,  Macmillan.     12.     X,  256  p. 
Bäcker,  K.,  Wahrheit  und  Wahrscheinlichkeit.  Vortrag.  Stauen,  Eckler. 

8.     32  S.     M  0,50. 
ßenda,  J.,    Le  Bergsonisme  ou  une  philosophie  de  la  mobilite.     Paris, 

Mercure  de  France. 

*  Boden,  F.,  Die  Instinktbedingtheit  der  Wahrheit  und  Erfahrung.    Bei- 

lage zu  Heft  4  des  Archivs  für  systematische  Philosophie.     1.  Band 

der  philosophischen  Bibliothek,  Berlin,  Siniion,   gr.  8.   80  S.   M  2,50. 
Borel,  E.,  De  la  methode  dans  les  sciences.     Paris,  Alcan, 
Brieu,  T.,   La  methode  generale   et  scientifique  et    les  methodes  ratio- 

nalistes  et  fideistes.     Paris,  Sansot. 
Brunschvicg,   M.,   Les  etapes  de  la  philo-'ophie  mathematique.  Paris, 

Alcan.     8.     XII,  591  p. 

*  De  IIa  Seta,  U.,  La  dottrina  del  sillogismo  in  Aristotele  et  le  obbie- 

zioni  cui  fu  fatto  segno  incominciando  dagli  scettici  antichi  sino 
ai  logici  moderni  specialmente  inglesi.     Roma. 

Ercole,  De  P,,  La  logica  aristotelica,  la  logica  liantiana  et  hegeliana  e  la 
logica  matematica,  con  accenno  alla  logica  indiana.    Torino,  V.  Bona. 

Fehr,  H.,  Enquete  de  l'Eseignement  mathematique  sur  la  methode  de 
travail  des  mathematiciens.     Paris,  Gauthier-Villars.     8.     137  p. 

Fortyth,  P.  T.,  The  Principle  of  Authority  in  relation  to  Certainty, 
Sanctity  and  Society.  Lectures.  London,  Hoddcr.  8.  486  p,  Sh.  10  6, 

Fournier,  A.C.  E.  et  Thou  venin,  M.,  Le  materialisme  et  la  science. 
Erreurs  et  prejuges  ä  detruire.     Paris,  Beauchesne, 

Frischeisen-Köhler,  M.,  Das  Realität.'-probkm.  Nr.  1  und  2  der 
Philosophischen  Vorträge,  veröffentlicht  von  der  Kantgesellschaft. 
Berlin,  Reuther  &  Reichard.     gr.  8.     98  S.     M  2. 

— ,  Wissenschaft  und  Wirklichkeit.  Nr.  XV  der  Sammlung  Wissenschaft 
und  Hypothese.     Leipzig,  Teubner.     8.     VIII,  478  p.     M>  8. 

Gagnebin,  La  philosophie  de  l'intuition.  Saint-Blaise,  Foyer  Solida- 
riste.    8.     240  p. 

Gallinger,  A.,  Das  Problem  der  objektiven  Möglichkeit.  Eine  Be- 
deutungsanalyse. 16.  Heft  der  Schriften  der  Gesellschaft  für  psycho- 
logische Forschung.     Leipzig,  Barth      gr.  8.     VII,  126  S.     <M  4. 

*Gardeil,  A.,  La  certitude  probable.     Paris,  Gabalda. 

Gehler,  Chr.  P.,  Das  Erscheinungsbild.  Eine  philosophisch-perspektivische 
Studie.  Zugleich  eine  kritische  Beleuchtung  der  subjektiven  Per- 
spektive Haucks.  Anhang:  Erscheinungswelt  und  wirkliche  Welt. 
Die  Begründung  einer  neuen  kritisch-philosophischen  Weltauffassung. 
Zugleich  eine  kritische  Beleuchtung  des  kantischen  Kritizismus. 
Grimma,  Lorenz,     gr.  8.     VIII,  260  S.     M  2,40. 

Henning,  H.,  Irrgarten  der  Erkenntnistheorie.  Strassburg,  Bongard. 
gr.  8.     35  S.     M.  2. 

Holt,  E.  B.,  Mar V in,  W.  T.,  ect.,  The  New  Realism.  Cooperative  Studies 
on  Philosophy.     London,  Macmillan. 

Hünigswald,  R.,  Zum  Streit  über  die  Grundlagen  der  Mathematik. 
Eine  erkenntnistheoretische  Studie.  2.  Heft  der  Beiträge  zur  Philo- 
sophie.    Heidelberg,  Winter,     gr.  8.     106  S.     M,  2,60. 


"£3^ 


Novitätenscha  u.  253 

James,  W.,  Essays  in  Radical  Empirism.    London,  Longmans  &  Green, 
Kerler,  D.  H.,   Kategorien- Problnme.      Eine   Studie   im    Ansch'uss   an 
Emil  Lask's  „Logik  der  Piiilosophie".     Ulm,  Kerler.     sr.  8.    14  S 
M  0,60.  r       .  ,  ö 

Klatzkin,  J.,  Das  Problem  der  Bewegung  in  methodischer  Bedeutung. 

Erkenntnis-theoretische    Studie.     L  Teil.    Die  Motive    des   Problems. 

74.  Band  der  Berner  Studien   zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte. 

Bern,  Scheitlin.     gr.  8.     40  S.     M   1. 
Koch,  E.,  Gibt  es  eine  Wahrheit  ?     Neue  wissenschaftliche  Anregungen. 

Freystadt,  Selbstverlag.     8.     30  S.     M  0,60. 
Koppin,  R.  0,  Grundlagen  zu  ein^r  Philosophie  der  Relation.    Leipzig, 

Excelsior-Vnrlag.     gr.  8.     VI,  48  S.     M  1,40 
Külpe,  0.,    Die  Realisierung.     Ein  Beitrag    zur  Grundlegung    der  Real- 
wissenschaften.    Leipzig,  Hirzel.     gr.  8.     X,  257  S.     Ji  6. 
Lanz,  H.,  Das  Problem  der  Gegenständlichkeit  in  der  modernen  Logik. 

Nr.  26    der    Ergänzungshefte    der   Kantstudien.      Berlin,    Reuther  & 

Reichard.     gr.  8.     IH,   166  S.     M>  5,50. 
Lask,  E.,   Die  Lehre  vom  Urteil.     Tübingen,  Mohr.     gr.  8.     VIL  208  S 

Ji  4,50. 
Levi,  A.,  La  filosofia  dell'esperienza.     Bologna. 
Linke,  P.  F.,   Phänomentale  Sphäre   und   das   reale    Bewusstsein.      Eine 

Studie  zur  phänomenologischen  Betrachtungsweise.    Halle,  Niemeyer 

8.     V,  50  S.     ^  2.  . 

Lipsius,  Fr.  R.,  Einheit  der  Erkenntnis  und  Einheit  des  Seins.   Leipzig, 

Kröner.     gr.  8      XI,  318  S.     M.  6. 
*Ma8ci,  F.,  Intellettualismo  e  pragmatismo.  Napoli,  Sangiovanni.  8.  66  p. 
Murray,    D.  L.,   Pragmatism.     London,    Constable.     12.     88  p.     Sh.  1. 
Ostler,  H.,  Die  Realität  der  Aussenwelt.    Mit  einem  B-itrag  zur  Theorie 

der     Gesichtswahrnehmung.       Erkenntnistheoretische    und     psycho- 
logische Untersuchung.   Paderborn,  Schöningh.  gr.  8.  XII,  444  S.  M  8. 
Park  hurst,  F.  A.,  Applied  Methods  of  Scientific  Management.    London 

Chapman.     8.     Sh.  8/6. 
Pichter,  H.,   Möglichkeit   und   Widerspruchslosigkeit.     Leipzig.    Barth 

gr.  8.     III,  72  S.     M.  2,40. 
Piat,  Gl,  Insuffi.sance  des  philosophies  de  l'intuition.     Paris,  Alcan. 
Poincare,  H.,  Les  sciences  et  les  humanites.     Paris,  Fayard. 
Rickert,  H.,    Die  Grenzen    der   naturwissenschaftliehen    Begriff^bildung. 

Eine  logisch«  Einleitung  in  die  historischen  Wissenschaften.  2.  Aufl. 

Tübingen,  Mohr. 
Rieh],  A.,    Beiträge    zur    Logik.      2.,  durchgesehene  Auflage.      Leipzig 

Reissland.     gr.  8.     III,  68  S.     M   1,20. 
Robertson,  J.   M.,  Rationalism.     London,  Constable.    12.    88  p.    Sh.  1. 
Robinson,  A.  T.,   The  Applications   of  Logic.     A  Textbook  for  College 

Students.     London,   Longmans.     8.     Sh.  4/6. 
Sheffield,  A.  D.,  Grammar  and  Thinking.    A  Study  of  the  Working  Con- 

eeptions  in  Syntax.     London,  Putnam.     8.     Sh.  6. 
Simmel,  G.,  Melanges  de  philosophie  relativiste.  Trad.  par.  A.  Guillain 

Paris,  Alcan.     8.     268  p 

Skeat,  W.  W.,  The  Science  of  Etymology.    London,  Frowde.    8.    260  p. 

Sh.  4  6. 
Spruijt,  C.  B.,    Geschiftdenis   der  wijsbegeerte,    bewerkt   door   Kohn- 

stamm.     Haarlem,  F.  ßohn. 
Philosophisches  Jahrbuch  1918.  17 


254  Novitätenschau. 

Suini,  A.,  Dissertazione  sopra  la  possibilita  di  piu  geometrie  fra  loro 
antagonistiche  e  sul  carattere  empirico  della  geometria  ordinaria. 
Studio  di  filosofia  matematica.     Piaceoza,  Porta. 

Tannery,  J.,  Science  et  philosophie.     Paris,  Alcao.     16.     XVI,  336  p. 

Verworn,  M.,  Kausale  und  konditionale  Weltanschauung.  Jena,  Fischer, 
gr.  8.     46  S.     M  1. 

Westaway,  F.  W.,  Scientific  Method,  its  Philosophy  and  its  Practica. 
London. 

Whetham,  W.  C.  D.,  Science  and  the  Human  Mind :  a  Critical  and 
Historical  Account  of  the  Development  of  Natural  Knowledge.  New- 
York,  Longmans  &  Green. 

— ,  The  foundations  of  scienc.     New-York. 

*Wipple,  L.  E.,  True  and  False  Conception  of  Mental  Science.  New-York. 

Whitehead,  A.,  N.  and  Russell,  B.,  Principia  mathematica,  vol.  II. 
Cambridge,  üniversity  Pre!>s. 

Windelband,  W.,  üeber  Sinn  und  Wert  des  Phänomenalismus.  Fest- 
rede. 9.  Abhandlung  der  Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie 
der  Wissenschaften.     Heidelberg,  Winter,     gr.  8.     26  S.     M.  1. 

ill.  Psychologie. 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen. 

Ambrosi,  L.     S.  u.  I,  Ä. 

Arnaiz,   Los   fenomenos    p.sicologicos.     Cuestiones   de   psicologia  con- 

temporanea.     Madrid,  Saenz  de  Jubera. 
Baratono,    A.,    Psicologia    sintetica:    il    soggetto,    la    sensibilita,    la 

memoria,  il  pensiero,  il  volere.     Genova,  Casa  Ed.  Stenotjrafica. 
Becks,  J.,    Gruijdriss  der  empirischen  Pt-ythologie  und  Logik.     Neube- 
arbeitet von  J.  Fürst.     20  Auflage.     Stuttgart,  Metzler.    8.    XIII, 

199  S.     M  2,40. 
Bibliographie  der  deutschen  und  ausländischen  Literatur  des  Jahres 

1911  über  Psychologie,  ihre  Hilfswissenschaft en  und  Grenzgebiete,  mit 

Unterstützung  von  H.  C.  Warren  zusammengestellt  von  W.  Köhler. 

Leipzig,  Bartb. 
Brierley,  J.,  The  Life  of  the  Soul.     London,  J.  Clarke. 
Calkins,  M.  W.,  A  First  Book  in  Psychology.    Spedition.     New-York, 

Macmillan. 
Christiansen,  B,    Von   der  Seele.     1.  Teil.   Vom  Selbst-Bewusstsein. 

Berlin  (Steglitz),  Behrs.     gr.  8.     87  S.     M,  2,40. 
Claparede,    Ed.,    Psicologia    del    fanciuHo.      Pedagogia    sperimentale. 

1*  traduz.  italiana  sulla  4*  francese  con  prefazione  del  Dott.  Berto- 

lotti.     Pavia,  Mattei  et  Sp-roni. 
Cyon,  E.V.,   Gott   und    die  Wi.ssenschaft.     2.  Band.     Neue   Grundlagen 

ein^r   wissenschaftlichen    Psychologie.     Deutsthe  Au.sgabe   mit   zwei 

anatomischen  Tafeln.     L^-ipz-ig,  Veit.     gr.  8.     VI,  240  S.     Ji  4. 
Dimmler,  H.,  System  der  Pt<ychologie,  Leitfaden  für  das  Studium  der 

Psychologie.     München,  Gais.     gr.  8.     VI[,  133  S.     M>.  3,80. 
D  o  n  i  8  e  1 1  i ,  C,  Fisiologia  e  psicologia  pedagogica.    A  prolusione  al  corso 

di  psicologia  sperimentale.     Miiano,  Coop    Ed.  Libreria. 
Dumville,  B,   The  Fundamentals   of  Paychology.     London,    Clive.     8. 

394  p.     Sh.  4/6. 


Novitätenschau.  255 

Dunlap,  K.,  A  System  of  Psychology.    New-York,  Cb.  Scribner's  Sons. 
Dyroff,  A.,   Einführung    in    die  Psychologie.     2.  Auflage.     Nr.  37   der 

Sammlung    Wissenschaft   und    Bildung.      Leipzig,   Quelle    &    Meyer. 

8.     144  S.     M  1. 
Ebbinghaus,  H.,  Abriss  der  Psychologie.     4.  Auflage.     Leipzig,   Veit. 

gr.  8.     208  S.     M.  3. 
— ,  Grundzüge  der  Psychologie.     IL  Band,   herausgegeben   von  E.  Dürr. 

Ebenda. 
— ,  Precis  de  psychologie.  Trad.  sur  la  2«  ed.  allemande  par  G.  Raphael, 

revu  sur  la  3®  ed.  allemande  par  G.  Revault  d'Allonnes.   2®  ed. 

Paris,  Alcan.     322  p.     Fr.  5. 
Elsenhans,  T.,   Lehrbuch  der  Psychologie.     Tübingen,   Mohr.     Lex.  8. 

23,  434  S.    M  15. 
Formiggini,  S.  E.,    La  psicologia  del   fanciullo  normale  ed  anormale. 

2*  edizione.     Genova,  Formiggini.     16.     XVI,  364  p.     L.  6,50. 
Gaupp,   R.,   Psychologie    des   Kindes.     213.  Bändchen    der    Sammlung 

Aus  Natur  und  Geist«swelt.    Leipzig,  Teubner.   8.   VIII,  163  S.    M.  1. 
Gemelli,  A.,   Nüovi   metodi  ed  orizonti  della   psicologia   sperimentale. 

Esposizione  e  critica.     Firenze,  Libreria  Editrice  Fiorentina. 
— ,  Psicologia  e  filosofia.    3*  ed.     Firenze,  Libreria  Edit.     Fiorentina. 
Geyser,  J.,   Lehrbuch    der   allgemeinen  Psychologie.     2.,  gänzlich  um- 
gearbeitete und  bedeutend  vermehrte  Auflage.    Münster,  Schöningh. 

gr.  8.     XIX,  750  S.    M  9,60. 
Gruender,  H.,   Psychology  without   a    Soul.     A   Criticism.      London, 

Herder. 
Habrich,   L,    Psychologie    pedagogique    appliquee    ä    l'education:    La 

faculte  cognitive.    Trad.  par  G   Simeons  et  Fr.  De  Ho  vre.    Liege, 

H.  Dessain;  Kempten,  J.  Kösel. 
*Herrero  Bahillo,  F.,  Nociones  de  psicologia  moderna,     Lerida. 
*In^egnieros,    J.,  Psicologia  genetica      Historia  natural  de    las  fun- 

ciones  psiquicas.     Buenos-Aires.     354  p. 
Jerusalem,  W.,  Lehrbuch  der  Psychologie.     5.  Auflage.     Wien,  Brau- 
müller,    gr.  8.     XII,  217  S.     M  3,60. 
La  Vaissiere,  De   J.,   S.  J.,    Elements   de   psychologie  experimentale. 

Paris,  Beauchesne. 
Lay,  W.  A.,   Experimentelle   Pädagogik   mit   besonderer  Rücksicht   auf 

die  Erziehung  durch  die  Tat.    2.,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 

Nr.  224  der  Sammlung  Aus  Natur  und  Geisteswelt.   Leipzig,  Teubner. 

8.     VII,  137  S.     M  1. 
— ,  Lehrbuch  der  Pädagogik      I,  Teil.     Psychologie  nebst  Logik  und  Er- 
kenntnislehre.    Gotha,  Thienemann. 
Lehmann,  A,  Grundzüjj;e  der  Psychophysiologie.    Eine  Darstellung  der 

normalen,   generellen  und   individuellen  Psychologie.     Leipzig,  Reis- 
land,    gr.  8.     X,  742  S.     M  20. 
Levesque,     S.  u.  I,  A. 
Lipps,  Th.,  Grundtatsachen   des  Seelenlebens.     Bonn,    Cohen.     Lex.  8. 

VÜI,  709  S.     M.  12. 
Lossky,  N.,    Osnovnya  outchenia   psychologii   s   totchki    zrenia  volun- 

tarizma  (L^s  doctrines  fondamentales  de  la  psychologie  du  point  de 

vue  volontariste).     St  Petersbourg. 
Loveday,  T.  and  Green,  J.  A.,  An  Introduction  to  Psychology.    London, 

Frowde.    8.     272  p.     Sh.  3/6. 


256  Novitätenschau. 

Lynch,  A.,   Psychology.     A    new  System    based    on    the  Study   of   the 

Fundamental  Piocesses  of  the  Human  Mind.    2.  Vols.    London,  Swift. 

8.     854  p.     Sk.  21. 
Mäher,    M.,    Psychology     Empirical    and    Rational.      1^^  ed.      London, 

Longmans  &  Green. 
Marbe,  Die  Bedeutung  der  Psychologie  für  die  übrigen  Wissenschaften. 

Leipzig,  Teuboer. 
Mc  Dougall,  W.,    P.^yohology.     The   Study   of  Behaviour    (Home  üni- 

versity  Library  of  Modern  Knowledge).  Londons,  WilliamH  &  Norgate. 
Mellone,  S.  H.,  &Drumond,  M.,  Elements  of  Psychology.  2^^  edition. 

London,   Bhckwood. 
Mercier,  D,,  Psychologie.    2  vol.    9^  edit.    Louvain,  Institut  Superieur. 

de  Philosophie. 
Meunier,  R.,  Les  sciences  psychologiques,  leurs  methodes,  leurs  appli- 

cations.     Paris,   Bloud. 
Natorp,  P.,  Allg^^meine  Psychologie  nach  kritischer  Methode.    1.  Buch. 

Object    und    Methode    der   Psychologie.     Tübingen,    Mohr.     8.     XII, 

332  S.     M   9. 
Preyer,  W.,    Die  Seele   des  Kindes.     Beobachtungen  über  die  geistige 

Entwicklung    des    Menschen    in    den    ersten   Lebensjahren,     Leipzig, 

Grieben,     gr.  8.     XVI,  424  S.     Jt  8. 
*Pyle,  W.  H.,    The    Outlines    of    Educationel    Psychology.      An    Intro- 

duction  in  the  Science  of  Education.     Baltimore. 
Radhakrishnan,  Essentials  of  Psychology,  London,  Frowde.  12.  \  Rupee. 
Rand,  B.,  The  Classical  Paychologists.    Sniections  from  Anaxagoras  to 

Wundt.     London,  Constable.     8.     756  p.     Sh.   10/6. 
*  Rons  tan,  D.,  Lecons  de  philosophie,     Psychologie.     Paris,  Delagrave. 

8.     520  p. 
Schmied-Kowarzik,  W.,    ümriss    einer    neuen  analytischen  Psycho- 
logie   und    ihr    Verhältnis    zur    empirischen    P.>-ychologie.      Leipzig, 

Barth,     gr.  8.     VI,  318  S.     M  7. 
Surbled,  G.,  Physiologie  de  l'esprit.     Paris,  Maloine.     8,     279  p. 
Titchener,  E,  Lehrbuch  der  Psychologie,    üebersetzt  von  0.  Klemm. 

2.  Teil.     Leipzig,  Barth,     gr.  8.     III- IX  und  303-561  S.     M.  5. 
Verworn,  M.,  Die  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes.    Ein  Vortrag. 

2.  Auflage,  Jena,  Fischer,     gr.  8.     IV,  55  S.     M   1. 
*Villa,  G.,    La  psicologia  cootemporanea  2.  ediz.     Torino,  Bocca. 
Walsemann,    H,    Anfänge   und   Entwicklung    des   Seelenlebens.      Für 

den   grundlegenden  Unterricht    in  der  P.syehologie    dargestellt.     Mit 

einem  Anhang:  Kinderpsychologische  Experimente  von  E.  Meumann. 

Hannover,  Meyer,     gr.  8.     VIII,  267  S.     M  3,50. 
Wirth,  W.,    Psychophysik.     Darstellung    der  Methoden    der  experimen- 
tellen   Psychologie.     Leipzig,    Hirzel.     Lex.  8.     VIII,   522  S.  mit  63 

Figuren.     M   18. 
Wundt,    W.,    An    Introduction   to    Psychology.      Translated    from    the 

German  by  R.  Pintner.     London,  Allen.    8.    XI,   198  p.     aSä.  3  6. 
— ,  Elemente  der  Völkerpsychologie.     Grundlinien  einer    psychologischen 

Entwicklungsgeschichte    der    Menschheit.      Leipzig,   Kröner.      gr.  8. 

XII,  523  S.     M   12. 
— ,  Völkerpsychologie.    Eine  Untersuchung  der  Entwicklungsgesetze  von 

Sprache,    Mythus    und    Sitte.     II.  Band.    Die   Sprache.     3.,  neu  be- 
arbeitete Auflage.    2.  Teil.  Leipzig,  Engelmann.   gr.  8.  X,  678  S.  M  13. 


Novitätenschau.  257 

Wandt,  W.,    Grundziige    der    physiologischen    Psychologie.      III.  Band. 

Leipzig,  Eagelmann. 
Zimmermann,  R.,  Seelenkunde.     Leipzig,  Wallmann. 
Zühl-sdorff,  E.,  Die  Psychologie  als  Fundamentalwissenschaft  der  Päda- 
gogik in  ihren  Gruodzügen  dargestellt.     2.  Aufl.     Hannover,  Meyer. 

B.    Beiträge  zur  empirischen  Psychologie. 

Ach,  N.,  Eine  Serienmethode  für  Reaktionsversuche.    Bemerkungpn  zur 

Untersuchung  des  Willens.    5.  Heft  der  Untersuchungen  zur  Psycho- 
logie und  Philosophie.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer,     gr.  8.     V,  49  S. 

M  1,65. 
Adams,  J.,  The  Evolution  of  Educational  Theory.    London,  Macmillan. 
Agabiti,   A.,    I    dati    dell'ipnotismo    al    problema    dell'anima.      Roma, 

Voghera. 
Alexander,  Frz.,  Die  Temperamente.     Gotha. 
Alfonso,  N.  R.,  Speculative  Psychology  and  the  Unity  of  Races.    Rom, 

Loe.scher. 
Andrews,  C.  B.,  An  Introduction  to  the  Study  of  Adolescent  Education. 

London. 
Angel  1,  J.  R.,  Cbapters  from  Modern  Psychology.    London,  Longmans. 

8.     Sh.  6. 
Ash,  E.  L.,   Faith  and  Suggestion.     Including   an  Account    of   the    re- 

markable  Experiencps  of  D.  Kerin.  Illustr.  London,  Herbert  &  Daniel. 

8.     XVT,  153  p.     Sk.  3/6. 
— ,  Hypnotism  and  Suggestion.    A  Practical  Handbook.    London,  Rider. 

8.     150  p.     Sh.  1. 
Bai  res,  C,  Teoria  de  l'Amor.     Buenos-Ayres,  Aisina. 
Balzac,  H.,    Physiologie   des  Alltagslebens.     Unveröffentlichte   Aufsätze. 

Eingeleitet  und  herausgegeben  von  W.  Fred.    München,  Müller.    8. 

V,  312  S.     M  4. 
Bergmann,  W.,    Hypnose    und  Willensfreiheit    im  Lichte    der    neueren 

Forschung.    Nr.  4  der  Frankfurter  zeitgemässen  Broschüren.  Hamm, 

Beer  &  Tbieraann.     gr.  8.     28  S.     Ji  0,50. 
Biervliet,  J.  J.  van,  Esquisse    d'une  education    de    l'attention.     Paris, 

Alcan. 
Bin  et,  A.,    Die   neuen    Gedanken    über   das    Schulkind.      Deutsche   Be- 
arbeitung   von    G.  Anschütz    und    W.  G.  ßuttmann.     Leipzig, 

Wunderlich. 
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Biuso,  C,  Prolegomeni  ad  una  Psicodinamica.    Roma,  Societa  Editrice 

Dante  Alighieri  di  Albriyhi. 
BlancoySanchez,   R.,   Pedagogia.    Vol.  1.  Teoria   de  la    educaciön. 

Vol.  II.  El  nino  y  sus  educadores.    Teoria  de  la  ensenanza.    Madrid, 

Imp.  de  la  Rev.  de  Arcbivos. 
Bohn,  G.,  Die  neue  Tierpsychologie.  Uebersetzt  von  R.  Thesing.  Leipzig, 

Veit.     8.     VIII,  183  S.     Ji  3. 
Boirac,  E.,    La  Psychologie    inconnue.     Introduction  et  contribution  ä 

l'etude   experimentale   des    sciences    psychiques.     2^  edition.     Paris, 

Alcan. 
Bonhomme,  J.,  Les  desequilibres  insociables.     Paris,  Steinheil. 


258  Novitätenschau. 

Bourdeau,  J.,  La  philosophie  affective.     Paris,  Alcan. 

Brent,  Ch,  H.,   The    Sixtii   Sense,   its  Caltivation   and   Use.      London, 

tlees.     8.     106  p.     Sh.  2  6 
Bruce,  H.  Ä.,    Scientific    Mental    Healing.     London,    Gay   &   Hancock. 

8.     Sh.  4  6. 
Gab  an,  J.,  Zur  Kritik  des  Geniebegriffs.    73.  Band   der  B^rner  Studien 

zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  Bern,  Scheitlin.     gr.  8.     64  S. 

.H,  1. 
Caillet,  A.,   Traitement    mental    et  culture   spirituelle.     Paris,  Vigot. 

18.     400  p. 
Cali,  A.,  Caratteri  psicologici  dei  fianciulli  poveri.    Nicosia,  Tip.  Ed.  del 

Lavoro. 
Cartault,  A.,  Les  sentim^nts  genereux.     Paris,  Alcan.     8.     314  p. 
Carus,  P.,  Personality,  with  special  Reference  to  Superpersonalities  and 

the  Impersonal  Character  of  Ideas.     Chicago. 
Catandella,  F.,  Educabilitä  infantile  e  psicologia  moderna.    Parte  IV: 

La  pedologia,    sezione    prima    (Sentimento    o    sentire    psicologico). 

Spaccaforno,  Gozzo. 
Colvin,  St.  Sh.,  The  Learning  Process.     New-York. 
Contributi  psicologici  del  laboratorio  di  p>'icologia  sperimentale  della 

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Cyon,  E.  de,   L'oreille,    organe   de    l'orientation  dans  le  temps  et  dans 

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Dauzat,  La  philosophie  du  langage.     Paris,  Flammarion. 
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Dinsmore,  J.  W.,  The  Training  of  Children.    New-York,  The  American 

Book  Co. 
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dam, Van  Rossen. 
Ebbinghaus,    H.,    Ueber   eine   neue   Methode    zur    Prüfung   geistiger 

Fähigkeiten  und  ihre  Anwendung  bei  Schulkindern.     Erweitert  nach 

einem    auf   dem    3.   internationalen    Kongress    für   Psychologie    zu 

Manchen    gehaltenen    Vortrag.      Hamburg,    Leipzig,    Voss.      gr.    8. 

62  S.     M  1. 
Emerson,  R.  W.,  Natural  History  of  Intellect.    London,  Routledge.   8. 

360  p.    Sh.  1. 
*Fleuriau,  A.  de.,   L'activite   reflechie.     Essai   sur   la   vie   Interieure. 

Paris,  Grasset. 
Fossi,  M.,  Fra  i  bimbi.    Studio  di  psicologia  infantile.    Milano,  Vallardi. 
Francken,  C.  J.  W.,  De  Psychologie  van  het  dromen.    Harlem,  F.  Bohn. 
Freud,  S.,  Der  Witz  und  seine  Böziehungen  zum  ünbewussten.    2.  Aufl. 

Wien,  Deut  icke. 
— ,  Der  Wahn  und  die  Träume  in  W.  Jensens  Gradiva.     2.  Anfl.  1.  Heft 

d«r    Schriften    zur    angewandten    Seelenkunde.      Daselbst,      gr.   8. 

87  S.     M  2,50. 
Garban,  L.,  Lhs  deviations  morbides  du  sentiment  religieux  ä  l'origine 

et  au  cours  de  la  psychastenie.     These,  Paris. 
Geijer,  R,  Die  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeitsfeld.    Berlin, 

Simion  Nf. 
Gemelli,   A.,   La  dottrina  somalica  delle  emozioni.    Firenze,  Libreria 

Edit.  Fiorentina. 


Noritätenschau.  259 

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Libr^ria  Edit.  Fiorentina. 

Gesell,  A.  L.  and  Beatrice,  C,  The  normal  Child  and  primary 
Education.     New- York,  Ginn  &  Co. 

Giachetti,  C,  La  fantasia.     Turin,  Bocca.     12,  304  p. 

Gleichen-Russwurm,  A.,  Freundschaft.  Eine  psychologische  For- 
schungsreise.    Stuttgart,  Hüfimann.     8.     XI,  488  S,     Ji  8,50. 

Gnesotto,  A.,  II  piacere  nel  fatto  della  compassione.     Padova. 

Gold  stein,  K.,  Die  Halluzination,  ihre  Entstehung,  ihre  Ursache  und 
ihre  Realität.     Wiesbaden,  Bergmann. 

Hachet-Souplet,  P.,  La  genese  des  instincts.  fitude  experimentale. 
Paris,  Flammarion.     327  p. 

Hart,  B.,  The  Psychology  of  Insanity.  Cambridge,  üniversity  Press. 
12      156  p.     Sk.  l. 

Heil  mann,  K.,  Psychologie  und  Logik  mit  Anwendung  auf  Erziehung 
und  Unterricht.  Mit  Mitwirkung  von  Jahn  herausgegeben.  14.  Aufl. 
B-'rlin,  Union. 

Hennig,  R.,  Die  Entwicklung  des  Naturgeföhls.  Das  Wesen  der  In- 
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Forschung.    Leipzig,  Barth,     gr.  8.     VII,  160  S.     M.  5. 

Hillgruber,  A.,  Fortlaufende  Arbeit  und  Willensbetätigung.  6.  Heft 
der  Untersuchungen  für  Psychologie  und  Philosophie.  Leipzig, 
Quelle  &  Mnyer.     gr.  8.     III,  50  S.     M  1,65. 

Hirschfeld,  M.,  Naturgesetze  der  Lieb«.  Eine  gemeinverständliche 
Untersuchung  über  den  Liebes-Eindruck,  Liebes-Drang  und  Liebes- 
Ausdruck.     B'-rlin,  Pulvermacher.     8      281  S      M  4. 

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8.     Sh.  12. 

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Hört  er,  F.  H.,  Die  Methode  in  Erich  Wasmanns  Tit^rpsychologie. 
12.  Heft  der  Studien  zur  Philosophie  und  Reliyion.  H-^rausgegeben 
von  R.  Stölzl e.     Paderborn,  Scböningh.     8.     XII,  104  S.     M  2. 

Jacoby,  G.  W.,  Suggestion  and  Psychotherapy.  London,  Unwin.  8. 
370  p.     Sh.  7/6. 

Jael,  M.,  La  resonance  du  toucher.     Paris,  Alcan.     8.     XV,  162  p. 

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Josefovioi,  Die  psychische  Vererbung.     Leipzig,  Eogelmann. 

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M   1,20. 

Kauffmann,  M.,  Die  Psychologie  des  Verbrechens.  Eine  Kritik.  Berlin, 
Springer,     gr.  8.     VIII,  344  S.     M  10. 

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Kern,  B,  Ueber  den  Ursprung  der  geistigen  Fähigkeiten  des  Menschen. 
Berlin,  Renth^'r  &  Reichard. 

Koffka,  R.,  Zur  Analyse  der  Vorstellungen  und  ihrer  Gesetze.  Eine 
experimentell«  Untersuchung.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  gr.  8.  X, 
392  S.     Ji.  12,50. 

Kretzschmar,  Entwicklungspsychologie  und  Erziehungswissenschaft. 
Leipzig,  Wunderlich 

Külpe,  0.,  Psychologie  und  Medizin.  Leipzig,  Engelmann.  gr.  8,  VI, 
81  S.    Ji  1,50. 


260  Novitätenschau. 

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Lancelot,  A.  E.,  Faith  and  Suggestion.    Including  an  Account  of  the 

Remarkable  Experiences  of  Uorothy  Kerin,  the  Subject  of  the  „Herme 
Hill  Miracle"  Gase.     London,  Herbert  &  Daniel, 
LarguierdesBancels,    L.,    Le   gout  et   l'odorat.     Paris,    Hermann. 

8.     X,  94  p. 
Larson,  C,  Business  Psychology.     Los  Angeles. 
— ,  C.  D.,  The  Mind  Cure.     London,  Fowler.     12.     Sh.  2. 
Latour,  M,    Premiers  Principes    d'une   theorie   generale  des   emotions 

Paris,  Alcan.     Jt>   12,50. 
Le  Bon,  G.,  La  Revolution  fran9aise  et  la  psychologie  des  revolutions. 

Paris,  Flammarion. 
— ,  Psychologie  der  Massen.     Uebersetzt  von  R.  Eisler.     2.  verbesserte 

Auflage.     Nr.  2  der  Philosophisch-soziologischen  Bücherei.    Leipzig, 

Klinkhardt.     XV,   157  S.     MB. 
Lehmann,   A.,   Die   körperlichen    Aeusserungen   psychischer    Zustände. 

uebersetzt  von  F.  Ben  d  ixen.     Leipzig,  Reisland. 
Leuba,  J.  H.,  A  Psychological  Study  of  Religion.    New-York,  Macmillan. 
*Ley  et  Menzerath,   L'association  des   idees  dans  les  maladies  men- 
tales.    Gand.     200  p. 
Low,    A.  M.,    The  American  People,    a  Study   in    National    Psychology. 

Boston. 
Lugan,  A.,  L'egoisme  humain.     Paris,  Tralin. 

Macken  na,  E    J,  Ensayos  psicolojicos  y  literarios.     Roma,    Cuggiani. 
Maday,  S.  de,  Psychologie  des  Pferdes  und  der  Dressur.    Berlin,  Parey. 

349  S.     Ji  8. 
Mann,  G.  A.,  Cosmogony  and  Thought- Force.  London,  Fowler.  8.  Sh.  7/6. 
— ,  The  Development   of   the  Will-Power   by   the   Scientific   Training   of 

the  Mind.     London,  Fowler.     8.     Sh.  7.  6. 
Marechal,  J.,  Science  empirique  et  p-^ycbologie  religieuse.     Paris. 
Marie,  A.,   Traite    international   de   Psychologie   pathologique.     T.  IIL 

Paris,  Alcan.     8.     VII,   1086  p. 
Martin,  L.  J.,    Die    Projektionsraethode   und    die  Lokalisation  visueller 

und  anderer  Vorstellungsbilder.   Leipzig,  Barth,   gr  8.    231  S    ^  6. 
*  Maxwell,  J.,   Psychologie   sociale    contemporaine.      Paris,   Alcan.      8. 

VIII,  363  p. 
Meumann,    E.,    Oekonomie    und    Technik    des   Gedächtnisses.     Experi- 
mentelle  Untersuchung   über   das   Merken    und    Behalten.      3.,    sehr 

vermehrte   Anfinge   der  Schrift:    üeber  O'^konomie  und  Technik    des 

Lernens.     Leipzig,  Klinkhardt.     gr.  8.     280  S.     M  4,20. 
Miller,  H.  C,    Hypnotism   and    Disease.     A  Plea   for  Rational   Psycho- 

therapy.     London,  Unwin.     8.     252  p.     Sh.  5. 
Mills,  A.  W.,  Practical  Metaphysics  for  Healing  and  Self-Culture.  London, 

Fowler.     8.     Sh.  3  6. 
Moll,  A.    The  Sexaal  Life    of  the   Child    Transl.  from    the  German  by 

Eden  Paul.     London,  Allen. 
*Monestier,    Des  rapports  de  la  melancolie,  de  la  neurasthenie  et  de 

la  paralysie  generale.     Toulouse. 
*Montheuis,  G.,  La  jalou.sie.     2^  ed.     Paris,  Gabalda. 
Morgan,  C.  L.,  Instinct  and  Experience.    London,  Methuen.    8.    318  p. 

Sh.  5. 


Novitäten  schau.  261 

Müller,  K.  J.,    Das   Traumleben   der   Seele   und    die  Traumdeutungen. 

Vortrag.     Berlin,  Froben.     gr.  8.     29  S      M>  0,75. 
Münsterberg,  H.,  Psycholot;ie  und  Wirtschaftsleben.     Ein  Beitrag  zur 

ant,'ewandt«n  Expeiimental-Psychologie.    Leipzig,  Barth,    gr.  8.    VIII, 

192  S.     Ji.  2,80. 
Nagy,  L.,    Psychologie  des  kindlichen  Interesses.     Uebersetzt  von  K.  G. 

Szidon.     Leipzig,  Nemnich. 
Neuberg,  C,    Beziehungen   des  Lebens   zum  Licht.     Berlin,  Allgemeine 

Medizinische  Veriagsanstalt. 
Nisbet,    J.  F.,    The   Insanity   of   Genius.     6^^  ed.      London,    Paul.     8. 

384  p.     Sh   5. 
Orelli,  K.  v.,    Die   philosophischen   Auffassungen    des   Mitleids.     Bonn, 

Marcus  &  Weber,     gr.  8.     IV,  219  S.     M  6. 
Ostermann,   W.,    Das    Interesse.      Eine   psychologische   Untersuchung 

mit  pädagogischen  Nutzanwendungen.    3.  Aufl.    Oldenburg,  Schulze. 

8.     Vill,  280  S.     M  2,80. 
Patrizi,    M.    L.,    I    componiraenti    somatici    della    sensazione    e    della 

rappresentazione.    Contributo  sperimentale.     Bologna,    Stab.  Poligr. 

Emiliano. 
Paul h an,   F.,    L'activite    mentale   et   les    elements    de   l'esprit.     2^  ed. 

Paris,  Alcan. 
Perrier,  L.,   Le   sentiment   religieux  a-t-il    une   origine   pathologique? 

Paris,  Fischbacher. 
Pfennigsdorf,    E.,    Religionspsychologie    und    Apologetik.      Leipzig, 

Deichert.     gr.  8.     IV,  96  S.     M  2. 
Poblmann,  H.,    Beitrag   zur    Psychologie   des   Schulkindes   auf   Grund 

systematisch-empirischer  Untersuchungen  über  die  Entwicklung   des 

Wortverständnisses  und  damit  zusammenhängender  sprachlicher  und 

psychoIo}iischer    Probleme   bei  Kindern   im  Alter    von  5 — 14  Jahren. 

Leipzig,  Nemnich. 
Preyer,  W,  Zar  Psychologie  des  Schreibens,  mit  besonderer  Rücksicht 

auf    individuelle    Verschiedeuheiten    der    Handschriften.      2.    unver- 
änderte Auflage.     Mit    mehr    als   200   Schriftproben    im  Text.     (Mit 

einem   Nachtrag   von  H.Busse    „Notizen   und  Verbesserunyen   des 

Autors    in    seinem  Handexemplar).      Leipzig,    Voss.      Lex.    8.      VlI. 

234  S.     M  10. 
Provenzal,  D.,  Sonno  e  sogni   Note  di  psicologia  introspectiva.  Bologna, 

Stab.  Tip.  Emiliano. 
*Ranschburg,  F.,  Das  kranke  Gedächtnis.    Ergebnisse  und  Methoden 

der    experimentellen    Erforschung    der    alltäglichen    Falschleistungen 

und    der  Pathologie    des    Gedächtnisses.      Leipzig,    Barth.      8.      IX, 

138  S.     Ji  4,50. 
Reim  pell,   E.,    Menschheitsbildung  und  Menschheitserziehung.     Sprach- 
entwicklung und  Kindersprache  und  ihre  psychologische  Erforschung. 

Aus  Aufzeichnungen.     Berlin-Grosslichterfelde,  Scheffer.     8.     103  S. 

M  1,80. 
Reinhardt,  Gh.,  Science  and  the  Soul  or  the  Faith  that  Heals.    Ijondon, 

Stead.     gr.  8.     288  p.     Sh.  2. 
*  Rette,  A,  Notes  sur  la  psychologie  de  la  conversion.    Paris,  Gabalda. 
R  e  V  a  u  1 1  d'A  1 1  o  n  n  e  s ,  G,,  L'affaiblissement  intellectuel  chez  les  dements. 

Paris,  Alcan.     288  p.     Fr.  5. 


262  Novitätenschau. 

Rignano,  E.,    De   l'attention,     IT.  Vividite   et   connexion.      Extrait    de 

Scientia  XI.     Bologna,  N.  Zanichelli. 
Robinson,  A.  R.,  Memory  and  the  Executive  Mind.     Chicago. 
*Roniano,  A.,  II  problema  dell'insenescenza  del  senso  e  del  dinamismo 

psichico  degli  stadi  mentali  involutivi.     Napoli. 
Rosenthal,  M.,    Die  Liebe,    ihr  Wea^-n   und   ihr  Wert,    mit   einem  An- 
hang:    Die    Liebe    in    der   Philosophie.     Breslau,    Preuss  &  Jünger. 

gr.  8.     X,  161  S.     M  2,50. 
Roum  a,  G.,  Le  langage  graphique  de  l'enfant.  Bruxelles,  Misch  &  Thron. 

304  p.    Fr.  15. 
Rusk,  R,  latroductioD  to  Experimental  Education.    London,  Longmans 

and  Green. 
Sadler,  W,  S.,    The    Physiology    of   Faith    and   Fear,    or   the  Mind  in 

Health  and  Dis*^ase.     London,  Paul.     8.     602  p.     Sh.  6. 
Saint-Paul,  G.,    L'art    de   parier    en  public,    l'aphasie  et   le   langage 

mental.     Paris,  Doin.     432  p.     Fr.  5. 
Santamaria,  E.,  La  psycologia  del  fanciullo  normale  et  anormale  con 

speciale  riguardo  alla  educazione.     2*  ed.     Modena,  Formiggini. 
Sarjant.^  L.  G.,  Is  the  Mind  a  Coherer?  London,  Allen.    8.   304  p.   Sh.  6. 
Seh  n  eider,  K.  C,  Tierpsychologisches  Praktikum  in  Dialogform.  Leipzig, 

Veit  &  Co. 
Schreiner,  0.,  Oreams  and  Dream  Life  an  Real  Life.    London,  Unwin. 

8.     232  p.     Sh.  2/6. 
Seguin,  S.  E.,  Die  Idiotie.     Wien,  Gräser.     222  S.     Kr.  6. 
Seidemann,  W.,  Di«  modernen  psychologischen  Systeme  und  ihre  Be- 
deutung für  die  Pädagogik.     Lnipzig. 
Sighinolfi,  M.,  La  psicologia  diff^renziativa  nella  scuola.   Studio  teorico 

pratico  di  podagogia.     ModHua. 
*Smith,  S.  G.,  Social  Pathology.     London,  Macmillan. 
Stewart,  H.  L.,    Qu^stions   of  the  day  in  Philosophy  and  Psychology. 

London,  Arnold.     8.     296  p.     Sh.  10. 
Taplin,  A.  B.,    Hypnotism.     London,   Simpkin.     12.     144  p.     Sh.  1/6. 
Tardieu,  E.,  LVnoui.     Etüde  psychologique.     2^  6d.     Paris,  Alcan. 
Taylor,  J.  W.,  Applied  Psychology  or  Faculties  of  the  Mind.    Illustr, 

London,  Fowler.     8.     27 i  p.     Sh.  5. 
Tracy,  F.  u.  Stimpel,  J.,  Psychologie  der  Kindheit.    4.  Aufl.    Leipzig, 

Wunderlich. 
Traite  international  de  psychologie  pathologique,  public  sous  la  direction 

da  A.Marie.    Tome  III:  Psychopathologie  appliquee.    Paris,  Alcan. 
Trömner,  E.,  Das  Problem  des  Schlafes.    Biologisch  und  psychologisch 

betrachtet.     Wiesbadt'n,  B-'rgmann. 
Urban,  Die  Praxis  der  Konstanzmethode.     Leipzig,  Engelmann.     gr.  8. 

26  S.     M  1. 
Van  Velsen,  P.,  Hypnotisme,  Suggestion,  psychotherapie.     Paris. 
*Vaschide,  M  ,  Le  sommeil  et  les  reves.  Paris,  Flammarion.    18.   305  p. 
Vecchia,  P.,    II  valore  del  sentimento    nella   formazione  del    carattere. 

Roma. 
''Visser,  H.  L.  A„  De  Psyche  der  Menigte.     Bijdrage  tot  de  studie  der 

collectipf- psychologische    verschijnselen.      Harlem,    T.  Willinck.      8. 

XII,  232  p. 
Vladoff,  D.,  L'bomicide  en  pathulogie  mentale.    Paris,  Maloine. 


NoYitätenschau.  263 

Vogt,  P,,  Die  GesichtswahrnehmuDg  nach  ihren  psycho-physischen  Be- 
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München,  Isaria-Verlag,     kl.  8.     IV,  91  S.     M.  1. 

Vold,  J.,  Heber  den  Traum.  Experimental-psychologische  Untersuch- 
ungen. Herausgegeben  von  0.  Klemm.  2.  (fc5chluss-)Band.  Leipzig, 
Barth,    gr.  8.     VI,  449—879  S.     M.  11. 

Walsh,  J.  J.,  Psychotherapy.     8.     New-York,  Appleton.     Sh.  25. 

Wattson,  The  Interpretation  of  Religious  Experience.  2  vol.  Glasgow, 
Maclehose.     8.     375  et  372  p, 

Wolfram,  E.,  Psychologie  in  Märchengestalt.     Leipzig,  Altmann 

Wres  ebner,  A.,  Die  Sprache  des  Kindes.     Zürich,  Füssli. 

— ,  Vergleichende  Psychologie  der  Geschlechter.  Zürich,  Füssli.  8.  40  S. 
jK,  0,80. 

Wunderle,  G.,  Die  Entwicklung  des  Gefühlslebens  mit  besonderer  Be- 
tonung der  religiösen  Gefühle.     Kempten,  Kösel.    8.    37  S.    M.  0,30. 

Ziegler,  Th.,  Das  G-^fahl.  Eine  psychologische  Untersuchung.  5,  n^u 
durchgesehene  Auflage.    Berlin,  Göschen.     8.     VIII,  402  S.    M.  4,20. 

Ziehen,  Th.,  üeber  die  allgemeinen  Beziehungen  zwischen  Gehirn  und 
Seelenleben,     3.,   umgearbeitete   Auflage.     Leipzig,  Barth.     Ji  2,20. 

Zingaropoli,  F.,  Telepatia  e  sogno.     Napoli,  Soc.  Ed.  Partenopea. 

C.    Beiträge  zur  rationellen  Psychologie. 

Barbens,  F.  de,  El  cerebro,  los  nervios  y  el  alma  en  sus  mutuas  rela- 

ciones.     Barcelona,  Gili.     16.    448  p. 
Benezech,  A„  Les  phenomenes  psychiques  et  la  question  de  Tau  delä. 

Paris,  Fiscbbacher. 
Charles,  R.  H.,  Immortality.    London,  Frowde.    8.     Sh.  1. 
Cohen,  Gh.,  Determinism  or  Free- Will?    London,  W.  Scott.    8.    110  p. 

Sh.  1. 
Dearmer,  F.,  Body  and  Soul.    London,  Pitman.    gr.  8.    416  p.  Sh.  2/6. 
Frazer,  J.  G.,  The  Belief  in  Immortality.     London,  Macmillan, 
Home,    H.  H.,    Freewill    and    Human  Responsibility.     A.  Philosophical 

Argument.     London,  Macmillan.     8.     Sh.  6  6. 
König,    R.,    Leben   nach  dem  Tode.     Beweise  für  die  Fortexistenz  der 

Menschenseele   über    das   Grab   hinaus.     2.,    neu  durchgesehene  und 

erweiterte  Auflage.  Bremen,  Verlag  des  Traktathauses.  8.  95  S.  M.  1. 
Lipps,  G.  F.,  Das  Pioblem  der  Willensfreiheit.     Nr.  383  der  Sammlung 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.    Leipzig,  Teubner.     M  1,20. 
Lodge,  0.,  La  survivance  humaine.    Etudes  des  facultes  non  encore  re- 

connues.    Traduit  par  H.  deBourbon.    Paris,  Alcan.    V,  267  p. 
Lutoslawski,  W.,  Volonte  et  liberte.     Paris,  Alcan. 
•Mac  Dougall,  W.,  Body  and  Mind.     New-York,  Macmillan. 
Meric,  E..  L'autre  vie.     2  vo'.     13^  ed.     Paris,  Tequi. 
Pascal,  Le  credenze  d'oltretomba.     Cattania,  Battiato. 
Robertson,  W.  P. ,    Immortality    and    Life    Eternal.     A  Study    in  tha 

Christian  Contribution    to    a  Universal  Hope.     London,  Skeffiugton. 

8.     232  p.     Sh.  3/ti. 
Schneider,  Mgr.  W. ,    Preuves    de  Timmortalite  de  l'äme.     Adapte  de 

l'allemand  par  G.  Gazagnol.     Paris,  Bloud. 
Schrimpf,   M.,    „Eppur  si  muove".     Eine  Sammlung   neuester  authen- 
tischer Beweise   des  Weiterlebens   nach   dem  Tode.    Leipzig,  Mutze. 

8.    IV,  122  S.    Ji.  3. 


26-4  Novitätenschau. 

Schultze,   E,,   Tod    und  Leben.     Untersuchungen   über   das  Fortleben 

nach  dem  Tode.     Basnl,  Reinhardt.     8.     199  S.     M.  2,40. 
Shaw,  F.  G.,  Our  Future  Existence,  or  the  D-^ath-Survivin^j  Consciousness 

of  Man.     London,  Paul.     8.     XVIII,  4^7  p.     Sh.  10  6. 
Stuba,  B.,  Tod  und  Unsterblichkeit.    Was  Denker  und  Dichter  darüber 

sagen,     üütersloh,  Bertelsmann.     8.     160  S.     Ji  2. 
Sulz  er,  G.,  Die  Willensfreiheit  oder  der  ichbewuHste  menschliche  Wille 

und  seine  Entwicklung.     Leipzig,  Mutze,    gr.  8.    IV,  139  S,    M.  2,50. 
Taylor,  D. ,    The  Composition    of   Matter    and  the  Evolution  of  Mind: 

Immortality  a  Scientific  Certainty.   London,  Scott.  8.   176  p.  Sh.  3/6. 
Wachtelborn,    K,    Hat   der   Mensch   eine  Seele?    Leipzig,  Theosoph. 

Verlagshaus.     8.    VII,  105  S.    M.  1. 

IV.  Naturphilosophie  und  Anthropologie. 

Ärrhenius,  S.,   Conferences  sur  quelques  themes  choisis  de  la  chimie 

phy.sique  pure  et  appliquee,   faites   ä  l'Universite  de  Paris  du  6  au 

13  mars   1911      Paris,  Hermann. 
Aszlanyi,  D.,   Welterotik.     Naturphilosophie.     Leipzig,  Xenien-Verlag. 
Avebury,    The  Origin   of  Civilisation    and   the  Primitive  Condition    of 

Man.     7th  ed.     London,  Longmans.     8.     482  p.     Sh.  7/6. 
Baratsch,    W.,   Kosmologische   Gedanken.      Leipzig,    Wigand.     8.     II, 

63  S.     M.  1,75. 
— ,  Kosmologische  Gedanken.     2.  (Titel-)Auflage.      Leipzig,    Fischer.     8. 

55  u.  63  S.     M.  1,50. 
Bardonnet,  L  ,  L'univers-organisme.    2.  vol.    Paris,  Ficker.    380  et  510  p. 
•Bastian,  H.,    The  Origin  of  Life.     Being  an  Account  of  Experiments 

with    Sn.perheated   Saline   Solutions   in  Hermetically  Sealed  Vessels. 

New-York. 
ßergson,  H,  Schöpferische  Entwicklung.     1.  — 3.  Tausend.     Uebt^rsetzt 

von  G.  Kantorowicz.     J^na,  Diederichs.     gr.  8.     373  S.     M.  6. 
*Boas,  F.,  The  Mind  of  Primitive  Man.     N^-w-York,  Macmillan. 
Capesius,  J.,   Die  naturwiss^-nschaftlichen  Grundlagen   und  der  philo- 
sophische   Ausbau    des    Monismus.      Ein    Vortrag.      Hermannstadt, 

Michaelis.     8.     32  S.     Jk  0,50. 
Cassuto,  L.,  Lo  stato  coUoidale  della  materia.     Pisa. 
*Castagna,  G.,  L^nimma  dell'universo     Origine  della  materia.  Foligno. 
Curchward,  A.,   The  Origin  and  Evolution    of    Primitive  Man.     With 

Plates.     London,  Allen.     8.     83  p.     Sh.  5. 
Colman,  S.,  Nature's  Harmonie  Unity.    Edited  by  A.  Co  an.    London, 

Put  n  am.     4.     Sh.  12/6. 
Conn,  H.  W.,  The  Story  of  Life's  Mechanism.     Now-York,  Hodder. 
Davenport,    Ch     B.,     H-^redity   in   Relation     to    Eugenics.      London, 

Williams  &  Norgate. 
Dendy,  A.,  Oatlm-'s  of  Evolutionary  Biology.     London,   Constable.     8. 

468  p.     Sh.  12/6. 
Driesch,  H.,  II  vitalismo.     Palermo. 
Duckworth,  W.  L.  H.,  Prehistoric  Man.     Cambridge,  University  Press. 

12.     164  p.     Sh.  1. 
Dutilh,  C,   Nouveau  Systeme  du   monde  en  Opposition  au  Systeme  du 

monde  de  Laplace.     Toulouse. 
Elrington,  G.  A.,  L^' leggi  dell'eredita.    Firenze,  Libreria  Editrice  Fio- 

rentina.     49  p.    Fr.  0,75. 


Novitätenschau.  265 

Faust,  J.,  Die  beseelte  Natur  als  Weltanschauung.  Schlachtensee, 
Volkserzieher-Verlag.     kl.  8.     64  S.     M  1. 

Finot,  I.,  Das  hohe  Lied  der  Frau.  Eine  Lebensharmonie  der  beiden 
Geschlechter.  Deutsch  von  E.  und  H,  Warlich.  Stuttgart,  Hufi- 
mann.     8.     XII,  306  S.     Jk  16. 

— ,  Prejuge  et  probleme  des  sexHs.  Entre  Thomme  et  la  femme.  L'evo- 
lution  des  sexes.  La  femme  devant  la  science.  La  naissaace  de 
la  femme  nouvelle.  La  philosophie  du  mouvement  feministe.  Paris, 
Alcao. 

Frank,  K.,  The  Theory  of  Evolution  in  the  Light  of  Facts.  London, 
K.  Paul.     8.     Sh.  5. 

French,  J.  F.  M.,  Prehistoric  Faith  and  Worship.  Glinipses  of  Äncient 
Irish  Life.     London,  Nutt.     8.     224  p.     Sk.  3/6. 

Freund,  E.,  Die  Zukunft  des  Menschengeschlechts  im  Lichte  der 
Wissenschaft.  Naturwissenschaftlich -philosophische  Studie.  Den 
Wissenden  und  Hoff^^nden  gewidmet.  Wien,  Verlagsanstalt  Pallas, 
gr.  8      94  S.     M.  2,50. 

Gemelli,  Ä.,  L'enigma  della  vita.  Introduzione  alle  scienze  2*  edizione. 
Firenze,  Libreria  Edit  Fiorentina. 

— ,  Recenti  scoperte  e  recenti  teorie  nello  studio  dell'origine  dell'uomo 
Ebenda.     8.     109  p.     Fr.  0,75. 

Gilbert,  L.,  Neue  Energetik.  Fundamente  des  exakten  Wissens.  Bd.  I. 
Dresden,  ßeissner, 

Grasset,  Idees  paramedicales  et  medico-sociales.  Paris,  Plön.   16.  370  p. 

Hartmann,  N.,  Philosophische  Grundfragen  der  Biologie,  Nr.  6  der 
Wege  zur  Philosophie.  Schriften  zur  Einfuhrung  in  das  philo- 
sophische Denken.  Göttingen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht.  8.  III, 
172  S.     M.  2,40. 

Herter,  CA.,  Biological  Aspects  of  Human  Problems.  London,  Mac- 
millan.     gr.  8.     &h.  6/6. 

Ho  er  n  es,  M.,  Kultur  d^r  Urzeit.  I.  Steinzeit.  Nr.  564  der  Sammlung 
Göschen.     Berlin,  Göschen,     gr.  8.     147  S.     M.  0,80. 

Holbrook,  F.,  Cave  Mound  and  Lake  Dwellera  and  other  Primitive 
People.     London.  Heath.     8.     138  p.     Sh.  1,6. 

Houghton,  CA.,  Problems  of  Life.     New- York. 

James,  W.,  Essays  on  the  Philosophie  of  Life.     London,  Macmillan. 

Johnston,  H.,  Views  and  Reviews  from  the  Outlock  of  an  Anthro- 
pologist.    London,  Williams. 

Joussain,  A.,  Esquisse  d'une  philosophie  de  la  nature.     Paris,  Alean. 
16      200  p. 
Karl,    E.   F.,    Die    Welt    als    Harmonie    und    Logik.      Charlottenburg, 
Brückner.     Lex.  8      174  S      jK,.  3,60. 

Keller,  A.,  Das  Wesen  des  Seins  und  Nichtseins.  Eine  naturwissen- 
schaftliche Studie  für  jeden  (Gebildeten.  Gross-Licbteifelde,  ünver- 
verdorben.     8.     32  S.     M.  1. 

*Kelly,  E.,  Gouvernment  or  Human  Evolution.  2  vol.  London,  Long- 
mans  &  Green. 

Kleinsorgen,  F.,  Zum  Denkproblem  der  Tiere  nebst  Anhang.  Apho- 
rismen und  Gedanken  über  Denken  und  Verwandtes.  Ülberfeld, 
Erd-Verlag.     8      24  S.     M.  0,80. 

Knipe,  H.  R.,  Evolution  in  the  Past.  Illustr.  London,  Herbert.  4. 
268  p.     Sh.  12/6. 


* 


266  Novitätenschau. 

Koch,  E.,  Was  ist  die  Ursache  der  Bewegung,  der  Kraft,  des  Lebens? 
Eine  neue  Weltanschauung.    Frey^tadt,  Selbstverlag.   8.    104  S.  M.2. 

— ,  Woraus  besteht  die  Welt?  Naturphilosopliische  Betrachtung.  Frey- 
stadt, Koch.     8.     21  S.     Ji  0,40. 

Krall,  K.,  Denkende  Tiere.  Beiträge  zur  Tierseelenkunde  auf  Grund 
eigener  Versuche.  Der  kluge  Hans  und  meine  Pferde  Muhamed  und 
Zarif.     Leipzig,  Engelmann.     gr.  8.     VI,  532  S.     M.  9. 

*Kuckuck,  M.,  L'uuivers,  etre  vivant.  La  Solution  des  probl^mes  de 
la  matiere   et   de   la  vie   a  l'aide  de   la  biologie  universelle.     Paris. 

Kurella,  H.,  Anthropologie  und  Strafrecht.  2  Vorträge.  Würzburg, 
Kabitzsch.     8.     VII,  91  S.     Ji  2. 

*Lanöke,  E.,  Die  Polarisation  der  Gesellschaft.  Ein  kulturpolitisches 
System.     Leipzig-Kohlis,  Raschwitz,  Volger.     8,     111  S.     Jd.  2. 

Leclerc  du  Sarion,  Les  incertitudes  de  la  biologie.  Paris,  Flammarion. 

Lodge,  Sir  0.,  Man  and  the  Universe.     Pop.  ed.     London,  Methuen. 

Loeb,  J.,  The  Mechanistic  Conception  of  Life.  Chicago,  University  Press. 

Lottini,  J.,  S.  u.  I,  A. 

Maas,  0.,  et  Renner,  0.,  Einführung  in  die  Biologie.  München, 
Oldenburg. 

Mac  Gabe,  J,   The  Story  of  Evolution.     Hutchinson. 

Macfie,  R.  C.,  Heredity,  Evolution  and  Vitalism.  London,  Sirapkin. 
8.     310  p.     Sh.  6. 

Mackenzie,  W.,  Alle  fonti  della  vita.  Prolegomena  di  scienza  e  d'arte 
per  una  filosoBa  della  natura.     Genova,  Formiggini.     8.     387  p. 

Mar  ett,  R.  R.,  Änthropology.  London,  Williams  &  Nurgate.  12.  256  p.  Sk.  1. 

Martello,  T.,  L'econonaia  politica  e  la  odierna  crisi  del  darwinismo 
Bari,  Laterza. 

Meyer,  E.,  Histoire  de  l'antiquite.  Tom.  I.  Introduction  ä  l'etude  des 
socieies  anciennes.  Evolution  des  groupements  bumains.  Trad.  par. 
M    David      Paris  Geuthner.     8.     VII,  281  p. 

Morgan,  L.,  Instinct  and  Experience.    London,  Methuen.    299  p.    Sh.  6. 

Müller,  P.  J.,  Die  Welträtsel  im  Lichte  der  neueren  physikalisch- 
chemischen  und  astronomischen  For.schung.  Betrachtungen  eines 
modernen  Naturforschers.     Teschen,    Prochaska.     8.     291  S.     M.  3 

Nayrac,  J.  P,  La  medecine  fran9aise  et  la  theorie  physiologique  des 
emotions.     Lyon.     8.     31  p. 

Uli  vier,  J.  v.,  Die  urwirkenden  Kräfte.  Die  Unrichtigkeit  d«r  Gesetze 
der  Bewegung  von  Newton.  Menschliches  Erkennen.  Menschliche 
Ziele.     München,  Reinhardt,    gr.  8.     V,  89  p.     M.  2, 

üstwald,   W.,  Die  Energie.     2.  Auflage.     Leipzig,  Barth. 

Piciocchi,  A.,  Pensieri,  centri  psichici  e  uomo  primitive.     Verona. 

*Pouchet,  F.  A.,  The  Univerae  or  the  infinitely  Great  and  the  in- 
finitely  Little.  A  Sketch  of  Contrasts  in  Creation  and  Marvels  Re- 
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*Quenot,  L.,  La  genese  des  especes  aniniale.s.  Paris,  Alcan.  8.  III,  496  p. 

Quiggin,  A.  K.,  Piimeval  Man.  The  Stone  Age  in  Western  Europe. 
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*Randall,  J.,  A  New  Philosophy  of  Life.'  New-York. 

Ranke,  J.,  Der  Mensch.  2  Bde.  3.  Aufl.  Leipzig  u.  Wien,  Biblio- 
graphisches Institut, 

Rawitz,  B.,  Der  Mensch.  Eine  fundamental  -  philosophische  Unter- 
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Novitätenschau.  267 

♦Richard,    P.,    L'ether    vivant    et   le    realieme    supranerveux.      Paris, 

Biblioth.  de  Synthese  Philos. 
Rivage,  P.,   Les    psychismes   inferieur   et   superieur  et   le  polygone  de 

Grasset.     Rouen. 

Roberty,  E.  de,  Les  concepts  de  la  raison  et  les  lois  de  l'anivers. 
Paris,  Alcan. 

Roland  de  Brun,  Du  progres  final  de  Thomme  par  la  selection  phy- 
sique,     Paris. 

Rudolph,  H,  Die  Stellung  der  Physik  und  Naturphilosophie  zur  Welt- 
ätherfrage.    Bwrlin,  Allgem.  Medizinische  Verlagsaostalt. 

Schlegel,  E.,  Das  Heilproblem.  Einführung  der  Homaeopathie.  2.  Heft 
der  Annalen  der  Naturphilosophie.  Leipzig,  Akademische  V«rlags- 
gesellschaft.     gr.  8.     III,  52  S.     M.  2,50. 

Seher,  C,  Degeneration  und  Vererbung  und  der  Kampf  ums  Dasein. 
Chemnitz,  Koezle.     8.     29  S.     M.  0,50. 

*Sermyn,  W.  de,  Contribution  ä  l'etude  de  quelques  facultes  cerebrales 
meconnues.     Paris,  Alcan.     8.     612  p. 

Smith,  Vibration  and  Life.     Boston. 

Smurthwaite,  T.  E.,  Piactical  Anthropolopy.  London,  Watts.  8.  Sh.Bß. 

Soddy,  F.,  Matter  and  Energy  (Home  üniversity  Library  of  modern 
Knowledge).     London,  Williams  and  Norgate. 

Solvay,  E.,  La  gravito-materialistique.     Bruxelles,  Bothy, 

*Steinmann,  G.,  Die  Abstammungslehre.  Was  sie  bieten  kann  und 
was  sie  bietet.   Vortrag.    Leipzig,  Engelmann.    gr.  8.    17  S.    Jü  0,60. 

Stern,  B.,  Werden  und  Wesen  der  Persönlichkeit.  Biologische  und 
historische  Untersuchungen  über  menschliche  Individualität.  Wien, 
Hartleben,     kl.  8.     V,  2l5  S.     A  3. 

Trenar,  R.  E.,  Die  Einheit  der  Natur.  Umrisse  eines  Weltbildes.  Strass- 
burg,  Singer.     8.     257  S.     M.  3. 

Tschulok,  S.,  Entwicklungstheorie  (Darwins  Lehre).  Gemeinverständ- 
lich dargestellt.     Stuttgart,  Dietz.     8.     VU,  312  S.     M.  2,50. 

Ude,  G.,  11  darvinismo  e  la  vita  intellettuale.     Roma. 

Vaissiere,  J.  de  la,  Cursus  philosophiae  naturalis.  De  inorganicis, 
de  vita  vegetativa,  de  vita  sensitiva,  de  vita  intellectuali,  de  com- 
posito  humano,  de  mundo  universo.  2  Vol.  Paris,  G.  Beauchesne. 
16.     343  et  399  p. 

Vogt,  J.  G.,  Der  absolute  Monismus.  Eine  mechanistische  Weltanschau- 
ung auf  Grund  des  pyknotischen  Substanzbegriffes.  Mit  erläutern- 
den Illustrationen.  Hildburghausen,  Thüringische  Verlagsanstalt. 
Lex.  8.    XIII,  613  S.     M  6. 

Wallace,  A.  R.,  Man's  Place  in  the  üniverse.  London,  Chapman  & 
Hall.     12.     292  p.     Sh.  1. 

Wasmann,  E.,  The  Berlin  Discussion  of  the  Problems  of  Evolution. 
London,  Paul.     8.     282  p.     Sh.  6. 

Weininger,  0.,  Geschlecht  und  Charakter.  Eine  prinzipielle  Unter- 
suchung. 13.,  unveränderte  Auflage.  Wien,  Braumüller,  gr.  8. 
XXII,  608  S.     A  5. 

— ,  Sesso  e  caractere.  Traduzione  del  G.  Feneglio.    Torino,  Bocca. 

Weir,  J.,  The  Energy,  System  of  Matter:  a  Deduction  from  Terrestrial 
Energy  Phenomena.  London,  Longmans  &  Green. 


268  Novitätenschau. 

Werner,  0.,  Kraft  und  Stoff,  Bewusstsein  und  Leben.  3  Aufsätze,  ge- 
stützt auf  fremd«  und  eigene  Experimente.  2.  Aufl.  Gotha,  Perthes. 
8.     131  S.     Ji.  2,50, 

Whetham,  W.  C.  D.,  Heredity  and  Society.  London,  Longmans  &  Green. 

Witt  mann,  F.,  Das  Pioblem  der  Weltentwicklung.  Die  Entwicklung 
der  Welt  als  Folgeerscheinung  der  Gesetze  von  der  Trägheit  der 
Gleichgewichts-Systeme  und  der  St»-llung  des  Menschen  im  Aufbau 
der  Welt.     Marburg,  Elwerts  Verlag.     8.     98  S.     M.  1,50. 

Worms,  R.,  La  s^xualite  et  la  nai.ssance  feminine.     Paris,  Giard. 

Ziese,  E.,  Wachstum  und  Entwicklung.     Elbing,  Ackt. 

Zimmermann,  R.,  Seelenkunde.  Ein  Versuch,  eine  begriffliche  Dar- 
stellung vom  Wesen  des  Menschen  zu  geben  nach  Geist,  Seele  und 
Leib.     Leipzig,  Wallmann.     8.     64  S.     M.  0,50. 

V.   Theodicee. 

Abelaon,  J.,  The  Immanence  of  God  in  Rabbinical  Literature.  London, 
Macmillan.     8.     402  p.     Sh'  10. 

Bach,  H.,  Zwei  philosophische  Beweise  für  das  Dasein  eines  über-  und 
ausserweltlichen  Gottes.  Ein  neuer,  zeitgemässer,  vorwiegend  geistes- 
wissenschaftlicher Versuch.    Strassburg,  Singer.    8.    82  S.  M  1,50. 

Ballard,  Fr.,  Why  does  not  God  Intervene?  and  other  Queations. 
London,  Hodder.     8.     360  p.     Sh.  5. 

Fidler,  F.,  Vom  Zuge  der  Menschheit.  1.  Teil:  Die  logische  Kon- 
struktion des  Hauptproblems  der  Metaphysik.  Hamburg,  Behrens, 
gr.  8.     298  S.     M.  3. 

Gott-Finder,  Der,  Die  Lehre  von  Gott.  Das  neueste  Testament.  Die 
Philosophie  der  Erlösung.  R^-Iigionsphilosophische  B-!trachtungen 
von  N.  N.     Schmiedeberg,  ßaumann.     8.     103  S.     Ml. 

Hill,  L. ,  The  two  Great  Queations:  the  Existence  of  God  and  thß 
Immortality  of  the  Soul.     London,  Laurie.     8.     322  p.    6"^.  7/6. 

Hocking,  W.  E.,  The  M-^aning  of  God  in  Human  Experience.  London, 
Frowde.     8.    620  p.    Sh.  16/6. 

Hugon,  H.,  Ya-t-il  un  Dieu  ?  Ya-t-il  survie  de  l'äme  apres  la  mort? 
Paris,  Tequi.    16.    207  p.    Fr.  2. 

Lehmen,  A.,  S.  u.  1,  A. 

Lhotzky,  H.,  Der  Weg  zum  Vater.  Ein  Buch  vom  Gott-Erleben.  7.  Aufl. 
8.    IV,  347  S.     M.  4,50. 

Lotti  ni,  J.,  S.  u.  I,  A. 

Michel  et,  G.,  Dieu  et  l'agnosticisme  contemporain.  3^  edition.  Paris, 
Gabalda. 

Murat,  L.  et  P.,  L'idee  de  Dieu  dans  les  Sciences  contemporaines. 
Les  merveilles  du  corps  humain.  Pari«,  P.  Tequi.  8.  CXXXVIII,  752  p. 

Rein  hold,  G.,  Die  Welt  als  Führerin  zur  Gottheit,  Kurze  Darntellung 
der  von  der  neueren  Apologetik  vorgelegten  Gottesbeweise.  2.  Aufl. 
Mergrntheim,  Oiilinger.     8.     VI,  222  S.     M.  2. 

Ritter,  A.,  Der  wahre  Gott  und  seine  Tafeln.  Leipzig,  Dieterichsche 
Verlagsbuchhandlung. 

Römer,  A.,  Der  Gottesbegriff  Franks.  Eine  Studie  über  Gottes  Absolut- 
heit und   Persönlichkeit.    Halle.  Niemeyer,    gr.  8.     VIII,  78  S.    Ji.  2. 

Tunzelmann,  G.  W.,  God  and  the  üniverse.  A  Physical  Basis  for 
Religion  and  Ethics.     London,  S.  P,  C.  K.     8.     256  p.     Sh.  4. 


NoTitätenschau.  269 

Wais,  K.,  Dbrona  Rpligii  katolickiej.  Tom.  II.  Czy  i  jaki  Jest  Bog? 
(Utrum  et  qualis  Deus  sit?)  PrzemysI,  A.  Juszinskiego. 

Zimmermann,  0.,  Ohne  Grenzen  und  Enden,  Gedanken  über  den  un- 
endlichen Gott.  Drtn  Gebildeten  dargelegt.  2.  und  3.  Auflage  Frei- 
burg, Herder.    8.    VII,  208  S.     Ji.  2. 

VI.   Allgemeine  Metaphysik  und  Ontologie. 

Apelt,  E.  F.  Metaphysik.    Neuherausgegeben  von  R.  Otto.     Halle  a.  S, 

Hendel,     kl.  8.     770  p.     M.  3,45. 
Atkinson,  W.  W.,  Thoughts  are  Things.     London,  Fowler.    16.    100  p 

Sh.  1. 

Aveling,  Fr..  On  the  Consciousness  of  the  Universal  and  the  Individual. 

A  Contribution    to    the  Phenomenology   of   the   Thought  Processes. 

London,  Macmillan.     8.     266  p.     Sh.  5. 
Badulescu-Mortu,  Elemente  de  metaphizica.     Bucarest. 
Bergson,  H.,  An  Introduction  to  Metaphysics.   Transl.  by  T.  E.  Hulme. 

London,  Stephen  Swift. 
~,  Einführung  in  die  Metaphysik.    2.  und  3.  Tausend.    Jena,  Diederichs. 

gr.  8.    58  S.     Ji.  1,50. 

Deussen,  P.,  Gli  elementi  della  metafisica.  Versione  italiana  di  L.  Sauli. 
Pavia. 

Eucken,  R.,  Naturalism  or  Idealism  ?  The  Nobel  Lecture  delivered 
at  Stockholm  1909.  Translated  by  A.  G.  Widgery.  Cambridge 
Keffer.     8.    XUI,  SO  o.    Sh.  1. 

Gredt,  J.,  S.  u.  I,  A. 

Le  Dantec,  F.,  Contre  la  Metaphysique.     Paris,  Alcan.     8.     256  p. 

Lucas,  E,  The  Essence  of  the  Universe.     London,  Author.    10.    339  d 
Sh.  5.  ^ 

Marvin,  W,  T.,  A  First  Book  in  Metaphysics.     London,  Macmillan.    8. 

Sh.  6/6 
Meyerson,   E.,   Identite  et  realite.     2«  edition  revue  et  augm      Paris, 

Alcan.    8.     XIV,  542  p. 
Mir  ab  au  d,    R.,    L'un-multiple.    Esquisse    d'une    metaphysique.     Paris, 

Alcan.     16.    102  p. 
Petronievics,    B.,    Prinzipien   der  Metaphysik.     1.  Band.     Die  realen 

Kategorien  und  die  letzten  Prinzipien.     Heidelberg,  Winter.    Lex.-8. 

XXXVIII,  572  S.     M.  16. 
Redgrove,  H.  St.,  A  Mathematical  Theory  of  Spirit.   Being  an  Attempt 

to   employ    certain   Mathematical  Principles    in   the   Elucidation   of 

some    Metaphysical    Problems.      With    Uiagrams.      London,    Rider. 

8.     125  p.     Sh.  2/6. 
Stock],  A.,  S.  u.  I,  A. 

VII.  Ethik,  Natur-  und  Völkerrecht,  Sozial-  und 
Rechtsphilosophie. 

A.   Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen. 

Ackenheil,  F.,  Sollen,  Werten  und  Wollen.    Untersuchungen  zur  Kritik 

der  praktischen  Vernunft.     Berlin.  Mayer  &  Müller. 
Ambika  Charan  Mitra,  The  Elements  of  Morals.    Calcutta.  S.  K.  Lahiri. 
Barillari,  M.,  Diritto  e  filosofia.  II.  Criteri  gnoscologici.   Napoli, Pierro. 

Pbilogopbiscbts  Jahrbuch  1913.  18 


270  Novitätenschau. 

Cosentini,  Fr,  Sociologia.    Genesi  ed  avoluzione  dei  fenomeni  social). 

Torino,  Unione  Tip.-Editr. 
Dupreel,    Le  rapport  social.     Essai    sur    l'objet   et   la   methode    de  la 

sociologie.     Paris,  Alcan.     8.     IV.  304  p.     Fr.  5. 
Eisler,  J.,  Lehrbuch  der  allgemeinen  Ethik.    2.  Aufl.    Wien,  Eisenstein. 

gr.  8.     VI,  X,  74  S.     M.  1,50. 
Essai    d'une   philosophie   de  la  solidarite.     Conferences  faites  k  l'licole 

des  Hautes  fitudes  Sociales  et  discussions,  presidees  par  L.  Bourgeois 

et  A.  Croiset.    2«  edition.     Paris,  Alcan. 
Eucken,    R.,     Erkennen    und    Leben.      Leipzig,     Quelle   &   Meyer.     8. 

V,  165  S.     Jk.  3. 
—  Le  sens    et  la  valeur  de  la  vie.     Trad.    de  l'allemand    sur    le   3^  ed. 

par  M.  A.  Hulles  et  A.  Leicht.     Paris,  Alcan,     16.     202  p. 
— ,  Lifes  Basis  and  Lifes  Ideal.    The  Foundamentals  of  a  new  Philosophy 

of  Life.     London,  Black, 
— ,  Der  Sinn   und  Wert    des   Lebens.     3.,    umgearbeitete  und  erweiterte 

Auflage.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer,     gr.  8.    V,  184  S.     M.  3,60. 
— ,  The  Problem  of  Human  Life.    Transl.  by  Williston  S.  Hough  and 

W.  R.  Boyce  Gibson.     New-York,  Charles  Scribnera  Sons. 
Fo erster.  Fr.  W.,  Lebensführung.    Neue  Ausgabe.     Bariin,  Reimer.    8. 

VIII.  385  S.     M.  6. 
Gerkrath,  E..    Grundlinien  der  Ethik.     Charlottenburg,  Glaue-Verlag. 

8.    III,  139  S.    A  2. 
Gredt,  J.,  S.  u.  1,  A. 
Guibert,  J.,  Cours  de  morale  theorique  et  pratique,  redige  conforrae- 

ment  aux  plus  recents  programmes.     Paris,  de  Gigord. 
Hensel,  P.,  Hauptprobleme  der  Ethik.  9  Vorträge.    2.  Auflage.    Leipzig, 

Teubner.     8.     VII,  128  S.     M.  1,80. 
Kleinsorgen,  VV.,  Cellular-Ethik  als  moderne  Nachfolge  Christi.  Grund- 
linien eines  neuen  Lebensinhaltes.    Leipzig,  Kröner.  gr.  8.  VII,  200  S. 

M.   o. 
Koppelmann,  W.,   Kritik  des  sittlichen  Bewusstseins  vom  philosophi- 
schen und  historischen  Staudpunkt.    Berlin,  Reuther  &  Reichard. 
Legrand,    G.,    Precis    d'economie    sociale.      Louvain,    Uyatpruyst.     8. 

360  p.     Fr.  4. 
Lipps,  Th.,  Die  ethischen  Grundfragen,    10  Vorträge.    3.  Aufl     Leipzig, 

Voss.    gr.  8.    IV,  327  S.     M.  6. 
Lottini,  J.,  S.  u.  1,  A. 

Maupas,    L.,    Caracteies  y  Critica  de  la  Sociologia.     Paris,  OUendorff. 
Moore,  G.  E.,    Ethics.    London,  Williams  &  Norgate.    12.    256  p.    Sh.  l . 
Pelletier,  M..  Philosophie  sociale.     Paris,  Giard  &  Briere. 
Rappoport,  Ch.  et  Compere-Morel,  Origines,  doctrines  et  methodes 

socialistes.     Paris,  Quillet.     8.     524  p. 
Richard,    C,    La  sociologie   generale   et  lea  lois  sociologiques,     Paris, 

Doin.     18.     396  p. 
Schwalm,  R.  P.,    Le9ons  de  philosophie  sociale.     T.  II.     Paris,  Bloud. 

16.     530  p. 
Steffen,    G,    Die    Grundlage    der    Sociologie.     Ein  Programm    zu    der 

Methode    der    Gesellschaftswissenschaft    und   Naturforschung.     Jena, 

Diederichs. 
Stern,  V.,    Einführung   in   die  Probleme  und  die  Geschichte  der  Ethik. 

Leipzig,  Heller.     8.     89  S.     M.  3. 


Novitfttenschau.  271 

Steudel,  Fr.,  Alte  und  neue  Tafeln.  Kritik  des  mosaischen  Dekalogs 
und  Grundlegung  einer  neuen  Ethik.  Berlin,  Frowein.  8.  VII,  191  S. 
M  3. 

Sturm,  A.,  Das  Recht  auf  Frieden.   Eine  völkerrechtliche  Reformschrift 
mit  Wertung   der   Idee   Andrew  Carnegies   und  der  Abschluas  einer 
allgemeinen  Rechtslehre.     9.  H^ft   des  Archivs   für  aktuelle  Reform- 
bewegung  auf  jeglichem  Gebiete   des   praktischen  Lebens.     Leipzig 
Damme,     gr.  8.     40  S.     M.  1,50. 

Tönnies,  F.,  Gemeinschaft  und  Gesellschaft.     Grundbegriffe  der  reinen 
Soziologie.    2.,  erbeblich  veränderte  und  vermehrte  Auflage.    Berlin 
Curtius.     gr.  8.     XIV,  312  S.     Ji.  7,50. 

Ude,  J.,  Ethik,  Leitfaden  der  natürlich-vernünftigen  Sittenlehre.  Frei- 
burg, Herder,     gr.  8.     XIX,  164  S.     Jk  2,40. 

Vau t hier,  M.,  Essais  de  philosophie  sociale.     Paris,  Alcan.     8.    413  p. 

Witherspoon,  J.,  Lectures  on  moral  Pnilosophy.  Princeton,  üniversity 
Press.     13.     XXIX,  144  p. 

Wundt,  W.,    Ethik.     Eine    Untersuchung    der   Tatsachen    und    Gesetze 
des  sittlichen  Lebens.    4.,  umgearbeitete  Auflage.    3.  (Schluss-)  Band. 
Die   Prinzipien    der    Sittlichkeit    und    die    sittlichen    Lebensgebiete 
Stuttgart,  Enke.     Lex.-8.     IV,  360  p.     JL  13,60. 

B.  Beiträge  zur  Ethik. 

Airaudi,    J.,    Comment    vivre?      Preface    par    A.  D.   Sertillanges. 

Paris,  de  Gigord.     16.     XIV,  264  p. 
D'Arcy,  Ch.  F.,  A  Short  Study  of  Ethics.   London,  Macmillan.   8.    Sk.  b. 
— ,    Christian    Ethics    and    Modern    Thought.      London,    Lonsmans.      8 

128  p.     Sh.  1. 
*Baldwin,  J.  M.,  Le  Darwinisme  dans  les  sciences  morales.    Trad.  de 

la  2e  Edition  anglaise  par  G.  L.  Duprat.   Paris,  Alcan.  12.  VII,  163  p. 
Barucci-Pezza,    A.,    L'educazione    del  carattere.     Citta  di  Castello, 

Soc.  Tip.  Leonardo  da  Vinci. 
Bauer,  A.,    La   conscience   collective  et   la  morale.     Paris,  Alcan.     16. 

160  p.    Fr.  2. 
Bax,  E.  B.,  Problem  of  Men,  Mind  and  Morals.    London,  Grant  Richards. 
Bayet,  A.,  Le  mirage  de  la  vertu.     Paris,  Colin. 
Berolzheimer,   F.,   The  World's   Legal   Philosophies.     Modern    Legal 

Philosophy,    vol.  IL     Transl.  by  S.  Jastrow.     Boston,    The    Boston 

Book. 
Ca  bot,  E.,  Alltagsethik.     Aus  dem  Englischen  von  H.  Scheu-Ries  z. 

Stuttgart,  Engelhorns  Nachf.     8.     VIII,  245  S,     M  4, 
— ,    Character    Training.      A    Suggestive    Series   of   Lessons    in   Ethics. 

London,  Harrap.     8.     384  p.     Sk.  3/6. 
Clous  ton,  Th.,  Morals  and  Brain.    Cassell. 
Croce,  B.,  Philosophie   de   la   pratique.     Economie   et    ethique.     Trad. 

par  H.  Buriol  et  Jankel  evitch.     Paris,  Alcan.     8.     371  p. 
— ,  Economic  and  Ethic.     Translated  from  Italian  by  Douglas  Ainslie. 

London,  Macmillan. 
Dio8  Trias  y  Giro,  J.  de,   Los  progressos  internacionales  y   la  etica 

cristiana.    Discurso.    Barcelona,  Tip.  *La  Academia«  de  Serra  Her- 

manos  y  Rusell. 
Duprat,  La  Morale:  theorie  psycho-sociologique.     Paris,  Dein. 

19* 


272  Novitätenschau. 

Eberle,  F.  Z.,  Arbeitsmotive  im  Lichte  der  christlichen  Ethik.    München, 

Lentner.     gr.  8.     112  S.     A  2. 
Education  morale.     Memoires    preseotes   au  Congres    international   de 

La    Haye   (acut  19 12),    publies   par    les   soins    de  M^«  Dyserinck. 

Paris,  Alcan. 
Elkanah   ben  Ä.,    Die    moralische    Weltordnung    und    das    Gesetz    der 

Menschengeschicke.     Leipzig,  Wigand.     8.     153  u.  144  S.  M>.  2. 
Flügel,  0.,    Das   Ich    und   die   sittlichen  Ideen    im    Leb^n   der    Völker. 

5.  Auflage.    Langensalza,  Bt^yer  &  Söhne,    gr.  8.   VIII,  285  S.  A  4,50. 
Foerster,  F.  W.,  Pour  former  le  caractere.    Traduit  par  C.  Thirion 

et  M.Paris.     2«  ed.     Paris,  Fiscbbacher.     483  p. 
— ,  Schuld  und  Sühne.    Einige  psychologische  und  pädagogische  Grund- 
fragen  des  Verbrecherproblems   und  der  Jugendfürsorge.     München, 

Beck. 
Forsyth,   P.  T.,    Marriage,   its  Ethic   and   Religion.      London,  Hodder. 

8.     160  p.     Sh.  2/6. 
Fraedrich,    G.,    üeber    monistische    Ethik.      Eine   Abwehr.      Vortrag. 

Marburg,  Verlag  der  christlichen  Welt,     8.     IV,  55  S.     Ji.  0,80. 
Franze,  P.  C,    Das   höchste  Gut.     Führer   auf  den  Pfaden  der  Vollen- 
dung.    Berlin,  Simion.     gr.  8.     195  S.     M.  4. 
Furtmüller,   R.,   Psychoanalyse   und   Ethik.      Eine   rorläufige   Unter- 
suchung.    Nr.  1    der  Schriften   des   Monistenbundes  in   Oesterreich. 

Wien,  Brüder  Suschitzky.     8.     VII,  34  S.     M.  1. 
Gennari,  C,  Questions  de  morale,    de  droit  canocique  et  de   liturgie. 

6  vol.  l^e  Partie:  Morale.     Traduit  de  l'italien  par  l'abbe  A.  ßou- 

dinhon.     Paris,  Lethinlleux. 
Gillet,  M.  S.,  La  valeur  educative  de  la  morale  catholique.   2«  edition. 

Paris,  Gabalda. 
Gn  es  Otto,  A.,  Sul  fine-motivo  dell'atto  morale.     Firenze. 
Gommer,  Ä.  de,  L'obligation  morale  raisonnee.    Ses  conditions.    Paris, 

Alcan. 
Haake,  A.,    Die  Freundschaft  als   sittliches  Problem.     Eine  Sammlung 

von  Maximen.     Leipzig,  Eckardt.     8.     183  S.     M.  2,50. 
Harper,  J.W,  Christian  Ethics  and  social  Progress.     London,  Nisbet. 
Hoff  ding,   H.,    Personlighetsprincipeu    i   Filosofin   (Le    principe    de    la 

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HoTnka,  G.,  Versuch  zu  einer  psychologischen  Grundlegung  der  Moral- 
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gr.  8.     83  S.     M.  1,50. 
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274  Novitätenschau. 

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C.  Beiträge  zur  Gesellschaftslehre,  zur  Rechtsphilosophie  und  zum 

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de  psychosociologie.     Paris,  Melle. 
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*Vecchio,  G.  del,  II  fenomeno  della  guerra  e  l'idea  della  pace.     Turin, 

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8.     13  p. 
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Bölsche,  W.,   Hinter  der  Weltstadt.     Friedrichshagener  Gedankt'U  zur 

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Bradley,  Oxford  Lectures  on  Poetry.     London,  Macmillan. 
Braschowanoff,    G.,    Von    Olympia   nach    Bayreuth.      Eine    Geistes- 

stadiodromie.     Historische   Darstellung   und   kunstkritische  Erläute- 
rung  der   beiden   Kulturstätten.     Mit   besonderer   Berücksichtigung 

ihre   kunstphilosophischen,    kulturhistorisch-universellen   Bedeutung. 

Leipzig,  Xenien-Verlag.     8.     XVI,  223  S.     M  4. 
Bruce,  F.,  The  Mysticism  of  Colour.   London,  Rider.   8.    250  p.    Sh.  3/6. 
Cohen,  H.,  S.  u.  I,  A. 
Croce,  B.,  Estetica  come  scienza  dell'espressione  e  linguistica  generale. 

Teoria  e  storia.     4*  ed.     Bari. 
Deri,  M.,   Versuch  einer  psychologischen  Kunstlehre.     Stuttgart,  Enke. 
Diez,  M.,   Allgemeine  Aesthetik.     Neudruck.     Nr.    300    der   Sammlung 

Göschen.     Berlin,  Göschen,     kl.  8.     180  S.     JL  0,80. 
Dussauze,  H.,  Les  regles  esthetiques  et  les  lois  du  sentiment.    Paris, 

Alcan.     8,     541  p. 
Fairchild,  A.H.  R.,  The  Making  of  Music.    London,  Putnam.   8.    Sh.  b. 
Freund,  S.,  Der  Witz  und  seine  Beziehungen  zum  ünbewussten.  2.  Aufl. 

Wien,  Deuticke.     gr.  8.     III,  2Ü7  S.,     M.  5. 
Fürst,  H.  E.  A.,  Individuality  and  Art.    London,  Macmillan.    8.    114  p. 

Sh.  3/6. 
Gosling,  H.  F,  Music  and  its  Aspects.  Essays.  London,  Dräne.  8.  Sh.  6. 
Gundolf,  F.,  Shakespeare  und  der  deutsche  Geist.     Berlin,  Bondi. 
Guy  au,   T.  M.,    Die  aesthetischen  Probleme    der   Gegenwart.      Deutsch 

von  E.  Bergmann.  Nr.  29  der  philosophisch-soziologischen  Bücherei. 

Leipzig,  Klinkhardt.     gr.  8.     VII,  230  S.     M  5. 
Harburg  er,  W.,  Grundriss  des  musikalischen  Formvermögens.  München, 

Reinhardt. 
Haweis,  H.  R.,  Music  and  Morals.  London,  Longmans.  8.  580  p.  Sh.  3/6. 
Lalo,  Gh.,   Introduction    k  l'esthetique.     Les  methodes  de  l'esthötique. 

Beaute  naturelle  et  bnaute  artistique.     L'impressionisme  et  le  dog- 

matisme.     Paris,  Colin.     16.     343  p. 


Novitätenschau.  277 

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gr.  8.     32  S.     M.  1. 

Lethaby,  W.  R.,  Architecture.  An  Introduction  to  the  History  and 
Theory  of  the  Art  of  Building.  London,  Williams  &  Norgate.  12. 
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Marcus,  H.,  Die  ornamentale  Schönheit  der  Landschaft  und  der  Natur. 
Als  Beitrag  zu  einer  allgemeinen  Aesthetik  der  Landschaft  und  der 
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Meumann,  E.,  Einführung  in  die  Aesthetik  der  Geg^'nwart,  2.,  verm. 
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gegeben von  P.  Herre.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer.    8.    180  S.    M.  1. 

Moley,  A.,  Theory  of  Structure.   London,  Longmans,  8.   586  p.  Sh.7/ß. 

Müller,  J.,  Philosophie  des  Schönen  in  Natur  und  Kunst.  2.  Auflage. 
Strassburg,  Bongard. 

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— ,    Psychjlogie   des  Kunatgeniessens   und   des  Kunstschaffens.     Ebenda. 

Neilson,  W.  A.,  Essentials  of  Poetry.     London,  Constable.    8.     Sh.  5. 

Osmaston,  F.  P.  B.,  The  Future  of  Poetry.  An  Essay.  London, 
Mathews.     8.     67  p.     Sh.  2/6. 

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8.     286  p.     Sh.  2/6. 

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der  Sammlung    Aus  Natur    und    Geisteswelt.     Leipzig,  Teubner.     8. 

IV,  132  S.     Ji  1. 
Poulpiquet,    A.    de    L'objet    integral    de    l'apologetique.      3®  edition. 

Paris,  Bloud.     16.     565  p. 
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to  Human  Evolution  and  Brain.     London,  Allen. 
Rein  ach,    S.,    Storia    generale    delie    religioni.     Traduz.    italiana   di 

A.  Della  Torre.     Palermo,  Sandron. 
Re isner,  G.  A.,   The  Egyptian  Conception  of  Immortaiity.     New-York, 

Houghton  Mifflin. 
Steinmann,   Tb.,   Der    religiöse   ünsterblichkeitsglaube.      Sein    Wesen 

und    seine  Wahrheit,    religionsvergleichend    und   kulturphilosophisch 

untersucht.     2.,  wesentlich  erweiterte  Auflage  des  Programms:    Der 

religiöse   ünsterblichkeitsglaube,   eine   religionsvergleichende  Studie. 

Göttingen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht,    gr.  8.   VHI,  166  S.    Ji.  3,60. 
Terzolo,  G.,    II    pensii^ro  religioso  e  la  sua  genesi.     Milano,    Fontana. 


Novitätenschau.  288 

Tisdall,  W.  St.  Glair,    Christianity    and    other    Faiths.     An   Essay    in 

Comparative  Religion.  London,  Scott.  8.  252  p.  Sk.  5. 
Turchi,  N.,  Manunle  di  storia  delle  religioni.  Torino,  Bocca. 
Vacandard,  E.,  Stades  de  critique  et  d'tiistoire  religieuse.     Serie  III. 

Paris,  LfCüffre. 
*Yernes,   M,    Histoire   sociale   des   religions.      Paris,   Giard  &  Briäre. 

8.     535  p. 
Webb,  C.  C.  J.,  Natural  and  Comparative  Religion.    London,  Clarendon 

Press.     Sh.  1. 
Wright,  D.,  Ä  Manual  of  Baddhism.     With  Introduct.ion  by  E.  Mills. 

London,  Paul.     8.     XI,  87  p.     Sh.  2/6. 

X.  Geschichte  der  Philosophie. 

A.  Lehrbücher  und  allgemeine  Darstellungen. 

Adamson,  R.,  A  Short  History  of  Logic.  Edited.  by  W.  P.  Sorley. 
London,  Blackwood. 

ßenn,  A.  W.,  History  of  Modern  Philosophy.     London,  Watts. 

Boutroux,  E.,  Historical  Studies  in  Philosophy.  London,  Macmillan. 
8.     348  p.     Sh.  8/6. 

Brett,  G.  S.,  A  History  of  Psychology,  Ancient  and  Patristic.  London, 
Allen.     8.     408  p.     Sh.  10/6. 

Carter,  J.  B.,  The  Religious  Life  of  Ancient  Rome.  A  Study  in  the 
Development  of  Religious  Consciousness  from  the  Foundation  of 
the  City  until  the  Death  of  Gregory  the  Great.  London,  Constable. 
8.     Sh.  8/6. 

Cornford,  F.  M.,  From  Religion  to  Philosophy.  A  Study  in  the  Origins 
of  Western  Speculatiou.     London,  Arnold.     8.     296  p.     Sh.  10/6. 

Dessoir,  M.,  Outlines  of  the  History  of  Psychology.  Transl.  by  Donald 
Fisher.     London,  Macmillan. 

Ueter,  C.  J.,  Abriss  der  Geschichte  der  Philosophie,  10.  und  11.  neu 
bearbeitete  Auflage  von  M.  Frischeisen-Köhler.  Berlin,  Weber. 
8.     VI,  192  S.     Ji.  3,90. 

Rucken,  R.,  Die  L^bensanschauungen  der  grossen  Denker.  Eine  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Lebensproblems  der  Menschheit  von  Plato 
bis  zur  Gegenwart.    10.  Aufl.   Leipzig,  Veit.   gr.  8.    X,  544  S.    M.  10. 

Falckenberg,  R.,  Geschichte  der  neueren  Philosophie  von  N.  v.  Kues 
bis  zur  Gegenwart.  Im  Grundriss  dargestellt.  7.,  verbe.sserte  und 
ergänzte  Auflage.     1.  Hälfte.     Ebenda,     gr.  8.     IV,  384  S.     M.  5. 

Fischer,  K.,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.  I.Band:  Allgemeine 
Einleitung:  Descartes  L^ben,  Werke  und  Lehre.  5.  Aufl.  Heidelberg, 
Winter,     gr.  8.     XVI,  467  S.     M  12. 

Gomperz,  Th.,  Griechische  Denker.  Eine  Geschichte  der  antiken  Philo- 
sophie.    2.  Band.    3.  Aufl.    Leipzig,  Veit.    g.  8.    VIII,  624  S.    M  13. 

Gilbert,  0.,  Griechische  Religionsphilosophie.  Leipzig,  Engelmann, 
gr.  8.     IV,  554  S.     M  11,20. 

Hall,  G.  St.,  Foanders  of  Modern  Psychology.  New- York,  London, 
Appleton.    8.    482  p.     Sh.  10  6. 

Hasse,  K.  P.,  Von  Plotin  zu  Goethe.  Die  Entwicklung  des  neuplato- 
nischen Einheitsgedankens  zur  Weltanschauung  der  Neuzeit.  Jena, 
Diederichs. 


284  Novitätenschsn. 

Hoff  ding,  H.,  A  Brief  History  of  Modern  Philosophy.  London,  Mac- 
millan.     8.     Sh.  6. 

Jodle,  F.,  Geschichte  der  Ethik  als  philosophischer  Wissenschaft.  2. JBd. 
Kant  und  die  Ethik  im  19.  Jahrhundert.  2.,  vullHtändig  durch- 
gearbeitete und  vermehrte  Auflage.  Stuttgart,  Cotta  Nachf.  gr.  8. 
X,  740  S.     M.  14. 

Kronenb^rg,  M,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus.  2.  Band:  Die 
Blütezeit  des  deutschen  Idealismus.  Von  Kant  bis  Hegel.  München, 
Beck.     8.     VIII,  840  S.     Ji.  11. 

Messer,  A.,  Geschichte  dur  Philosophie  vom  Beginne  der  Neuzeit  bis 
zum  Eode  des  18.  Jahrhunderts.  108.  Band  der  Sammlung  Wissen- 
schaft und  Bildung.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  gr.  8.  VIII,  164S.  Ml. 

Pacheu,  J.,  De  Dante  ä  Verlaine.  Etudes  d'idealistes  et  mystiques. 
Paris,  Tralin.     16.     288  p.     Fr.  3,50. 

Rehmke,  J.,  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie.  2.  Auflage. 
Leipzig  Quelle  &  Meyer,     gr.  8.     VII,  289  S.     M.  5,20. 

Robert,  A.,    Histoire  de   la  philosophie.     Quebec,  Laflamme  et  Proulx. 

Rochas,  A.  de,  La  science  des  philosophes  t  Part  des  thaumaturges 
dans  l'antiquite.     Paris,  Dorbon  aine. 

Rossignoli,  G,  Compendio  di  storia  della  filosofla.  Torino,  Buona 
Stampa. 

Ruggiero,  G.  de,  La  filosofla  contemporanea.  Bari,  Laterza.  12. 
485  p.     L.  6. 

Seth,  J.,  English  Pbilosopbers  and  Scbools  of  Philosophy.  London, 
Dent.     8.     384  p.     Sh.  5. 

Siebert,  0,,  Was  jeder  Gebildete  aus  der  Geschichte  der  Philosophie 
wissen  muss.  Ein  kurzer  Abriss  der  Geschichte  der  Philosophie 
im  Anschluss  an  R.  Hayms  philosophische  Vorlesungen  heraus- 
gegeben. 3.  Auflage.  Langensalza  Beyer  &  Söhne,  kl.  8.  XVI, 
336  S.     M.  3,50. 

Sortais,  G.,  HiMtoire  de  la  philosophie  ancienne:  Antlquite  classique, 
Epoque  patristique.  Philosophie  medievale.  Renaissance.  Paris, 
Lrtthielleux. 

Stöckl,  A.,  Handbook  of  the  History  of  Philosophy.  Translated  by 
T.  A.  Tinlay.     Voll.     London,  Longmans.     gr.  8.     A  10/6. 

Windel  band,  W.,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie.  6.,  durch- 
gesehene Aufl.     Tübingen,  Mohr.     gr.  8.     VIII,  591  S.     Ji  12,50. 

Wulf,  M  de,  Precis  d'hisloire  de  la  philosophie.  5^  edit.  Louvain, 
Inst.  Sup.  de  Philosophie. 

B.  Beiträge. 

a>  Zur  antik -heidnischen  Philosophie. 

Abernetty,   W.,    De   Plutarchi   qui   fertur   de   superstitione    libello. 

Dissertation.     Königsberg. 
Abhedananda  Swami,    Vedanda   philosophy:   Great  Saviours  of  the 

World.     Vol.  I.     Kfishna,    Zoroaster,   Läo-tze,   and   their  Teachings. 

London,  Luzac. 
Anant,  D.,  Plato  and  the  True  Enlightener  of  Soul.   London,  Luzac. 
Apelt,  0.,  Platonische  Aufsätze.  Leipzig,  Teubner,  gr.  8.  VI,  296  S.  Ji  9. 
Baumann,  J.,  Neues  zu  Sokrates,  Aristoteles,  Euripides.    Leipzig, 

Veit.    gr.  8.     IV,  127  S.     Jt  3,50. 


Novitätenschau.  285 

Billia,  L.  M.,  Piatone  Psicofisico.     Brochure  de  Cittä  di  Castelo.  32  p. 
Boer,   W.  de,    In    Galeni   Pergameni    libros   negl    ipxfjg     na^tov    xal 

d(j.aQTrj[X(xx(xiv  observationes  criticae.  Diss.    Marburg. 
Breasted,   J.  H.,   Development   of   Religion   and    Thought   in   Ancient 

Egypt.     London,  Hodder      8.     400  p.     Sh.  7/Q. 
*Caraccio,  M.,  Filone  d'Älessandria  e  le  sue  opere.     Padova. 
Deussen,  P.,  The  System  of  the  Vedanta.     Transl.  by  Ch.  Johnaton. 

Chicago,  Open  Court  Publishing  Co. 
Freeman,  K.J.,    Schools    of   Hellas.     An   Essay    on   the  Practice   and 

Theory   of  Ancient  Greek  Education   from  600  to  300    B.  C.  Illustr. 

London,  Macmillan.     8.     320  p.     Sh.  5. 
Füller,  B.,  The  Problem  of  Evil  m  Plotinus.     Cambridge,  University 

Press.   8.    356  p.    Sh.  7/6. 
Goedeckemeyer,  A.,   Die  Gliederung   der   aristotelischen  Philosophie. 

Halle,  Niemeyer.     gr.  8.     V,  144  S.     M.  4. 
Hauck,  M.,  Dd  Hymnorura  Orphicomra  aetate.     Breslau,  Marcus. 
Hirzel,  R.,  Plutarch,     Leipzig,  Weicher. 

Husik,  L,  Matter  and  Form  in  Aristotle.     Bd.  IL     Berlin,  Simion. 
Jaeger,  W.,    Studien    zur    Entstehungsgeschichte    der   Metaphysik    des 

Aristoteles.    Berlin,  Weidmann,     gr.  8.     VII,  198  S.     M.  5. 
Kochalsky,  A.,  De  Sexti  Empirici  adversus  logicos  libris  qaaestiones 

criticae.     Diss.     Marburg. 
Langbein,  G.,   De  Platoais   ratione  poetas  laudaudi.    Dissert.    Jena, 

Kampe. 
*Lang,   P.,    De  Speusippi    acaderaici    scriptis.      Accedunt    fragmenta. 

Diss,     Bonn,  Georgi. 
Lecturer,  J.,  Matter  and  form  in  Aristofle.    A  Rpjoinder.    2.  Band  der 

philosophischen  Bibliothek.     Leipzig,  Meiner.     8      93  S.    jH>.  2,50. 
Livingst  one,  R.  W.,  The  Greeck  Genius  and  its  Meaning  to  us.    London. 
*Lutoslawsky,  W.,  The  Örigin  and  Growth  of  Piatos  Logic.    London, 

Longmans  &  Green. 
Maski,  F.,  Su  alcuni  luoghi  della  fisica  d'Arist otele.     Napoli. 
Montagna,    ü.  C,    L'evoinzione    presocratica.      Note    e    considerazioni 

generali.     Cittä  di  Castello. 
Nelz,  C.  Fr.,  De  faciendi  verborum  usu  platonico.  Diss.    Bonn,  Georgi. 
*Rasche,  C,  De  Jamblicho  libri  qui  inscribitur  de  mysteriis  auctore. 

Diss.     Münster. 
Reisner,   G.   A.,    The    Egyptian    Conception    of   Immortality.      London, 

Constable.     12.     VH,  85  p.     Sh.  2/6. 
Riehl,  A,  Plato.     Ein   populär-wissenHchaftlicher  Vortrag.     2.,  durch- 
gesehene Auflage.     Halle,  Niemeyer,     gr.  8.     35  S.     M.  0,60. 
Row,  T.  S.,  Philosophy  ot  the  Bhagavad-Gita.     London,  The  Theo- 
sophist.    8.     137  p.     Sh.  1/6. 
Ruelle,  Ch,  E.,  Poetique  et  rhetorique  d'Aristote.     Paris  Garnier. 
•Schroeter,  J.,    Platarch's    Stellung    zur    Skepsis.     1.  Heft   der    Ab- 
handlungen   zur  Geschichte    des    Skeptizismus.     Leipzig,    Dieterich. 

gr.  8.     V,  64  S.     M.  2. 
*Shastri,  P.  D.,  The  Doctrine  of  Maya  in  the  Philosophy  of  the  Vedanta. 

Luzac. 
Slonimsky,  H.,  Heraklit  und  Parmenides.  1.  Heftder  philosophischen 

Arbeiten.     VII.  Band.     Giessen,  Töpelmann.     gr.  8.     62  S.     M  2. 
Taylor,  A.  E.,  Aristotle.     London,  Jack. 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  19 


'J86  Novitätenschau. 

Walleser,  M.,  Die  buddhistische  Philosophie  in  ihrer  geschichtlichen 
Entwicklung.  3.  Teil:  Die  mittlere  Lehre  des  Nagarjuna.  Nach 
der  chinesischen  Version  übertragen.  Heidelberg,  Winter,  gr,  8. 
VUI,  191  S.     M  5,20. 

b)  Zur  mittelalterlichen  Philosophie. 

Allo,  B.,  La  paix  dans  la  verite.    Etüde  sur  la  personnalite  de  saint  Thomas 

d'Aquin.     Paris,  Bloud     16.     ü4. 
Avinyo.    M.  J.    Beat  Ramön  Llull.     Sa   vida  y  la  historia  contemporanea. 

Igualada.  Poncell.    Pt.  5. 
Baeumker,    F.,    Die   Lehre  Anselms  von  Canterbury   über   den  Willen 

und  seine  Wahlfreibeit.    Nach  den  Quellen  dargestellt,  6  Heft  der  Beiträge 

zur  Geschiebte  der  Philosophie  des  Mittelalters.    Münster,  AschendorfF.  gr.  8. 

VlIL  79  S.    JH  2,75 
Bove,  S.,  AI  Margen  de  un  Discurso  'Rai  mundo  Lulio).  La  Seo  de  Drgel,  Bures. 
Campanelli,    iVl.,    Giordano  Br  u  n  o    ei  suoi  perserutori.    Conferenza  pro- 

nuntiata  a  Bari  il  18  febbiaio  1912.     Napoh,  Novecento,  N.  Simeone. 
C  a  r  r  a  s  q  a  i  1 1  a,    R.  M.,    Sobre   la   barbarie   del   lenguaje  escolastico.     Bogota, 

Imprenta  electrica. 
*Gentile,   G.,    BernardinoTelesio.     Con  appendice  bibliografico.     Bari, 

Laterza.    8.    15ü  p. 
Gramzow,  0.,  Gioidano  Bruno,  der  erste  moderne  Mensch.    Rede.    Char- 

lottenbuig,  Bürkner.    gr.  8.    23  S.    M  0,60. 
Grassi-Bertazzi,    G.  B.,    La   filosofia    di   Dgo   da  S.  Vittore.     Albrighi. 

Segati. 
— ,  G.  P.,    Giordano  Bruno,    il  suo  spirito  e  i  suoi  tempi.     Palermo. 
Graves,  F.  P.,  Feter  Ramus  und  and  the  Educational  Retormation  of  the  16-tb 

Century.    London,  Macmillan. 
Hauvette,  H.,  Dante.     Paris,  Hachette. 
*Huit,    Gh.,    Les  elements  platoniciens    de    la    doctrine   da    Saint  T ho raas. 

Toulouse,  Privat. 
Kostaneck i,    A    v.,    Dantes    Philosophie  des    Eigentums.     (Aus   Archiv    für 

Rechts-  und  Wirtschattsphilosophie.)     Berlin,  Rotbscbild.    gr.  8.  61  S.  M  2. 
*Levy,  L.  G.,  Maimonide.     Paris,  Alcan.    8.    284  p. 
Meier,    M,    Die  Lehre  des  Thomas  v.  Aquino    de    passionibus    animae   in 

quellenanalytiscber  Dai Stellung.     2.  Heft    des  XI.  Bandes    der  Beitiäge  zur 

Geschichte    der  Philosophie    des  Mittelalters.      Münster,  Aschendoift.     XV, 

160  S.    JH  5,50. 
Mondolfo,   R,    La   filosofia   di   Giordano   Bruno   e   la  interpvetazione  di 

F.  Tocco,    Firenze,  Collini  e  Cencetti. 
Nardi,    Br,    SigieridiBrabante  nella  divina  Commedia  e  le  fonti  della 

filosofia  di  Dante.   Estratto  dalla  Rivista  di  Filosofia  Neoscolastica.    Spia- 

nate  (Pesciai,  Presso  l'autore.    8.    VIII,  72  p. 
Picavet,    F.,    Quelques  documents    sur  Roscelin  de  Compiegne.    Paris, 

Champion. 
Reber,  R  .  Quelques  appreciations  de  ces  derniers  temps  surParacelce.    Paris. 
Sauter,    C,    Avicennas   Bearbeituntj    der  Ar  i  sto  teliscb  en    Metaphysik. 

Freiburg,  Herder,    gr.  8.    XI,  ll4  S.    J6  3. 
Schmelzer,  H,  Petrarcas  Verhältnis  zur  vorausgehenden  christlichen  Philo- 
sophie des  Abendlandes.    6.  Heft  der  Rennissance  und  Philosophie,  Beiträge 

zur  Geschichte  der  Philosophie.    Bonn,  Hanstein,    gr.  8.    111,  73  S.    Mi  1,50. 
Steinbüchel,  Ib.,  Der  Zweckgedanke  in  der  Philosophie  des  Thomas  von 

Aquino.     Nach    den    Quellen    dargestellt.      1.    Heft    des    Xi    Bandes    der 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.    Münster,  Aschen- 

dorff.    gr.  8.    XIV,  lö5  S.    Jl  6,50. 
*  Taylor,    H,  0.,    The  Mediaeval    Mind.    A  History  of  the  Development  of 

Thought  and  Emotion  in  the  Middle  Ages     2  vol     London.  Macmillan. 
*Vnlliaud,  P.,  L'humauisme  au  XV«  siecle  itahen.    Paris,  FiguiÄre.    18.   31p. 


* 


Novitätenschau.  287 

c)   Zur  neueren   Philosophie. 

Baldensperger,  Beaulavon,  Benrubi,  Bougle  etc.,  J.  J.  Rousseau- 
Paris,  Alcan.     8.    XII,  303  p. 

Bellange,  Gh.,  Spinoza  et  Ja  philosophie  moderne.  Paris,  Didier.  8. 
II,  396  p. 

Beaulavon,  G.,  La  doctrine  politique  du  .Contrat  social*  (Rousseau),  Le9ons 
faites  ä  l'Ecole  des  hautes  etudes  sociales,  pp.  155     170.     Paris,  Alcan. 

Benrubi,  I.,  Rousseau  et  les  grands  representants  de  la  pensee  allemande. 
Legons  faites  e  l'Ecole  des  hautes  etudes  sociales,  pp.  2U1— .50.  Paris,  Alcan. 

Bleibtreu,  K,  Friedrich  der  Grosse  im  Lichte  seiner  Werke.  Em  Seelen- 
bild.  2.  Auflage.  Nr.  8  Aus  der  Gedankenwelt  grosser  Geister.  Stuttgart, 
Lutz,    kl    8.     330  S.     M  2,50. 

Bohatec,  J,  Die  cartesianische  Scholastik  in  der  Philosophie  und  re- 
formierten Dogmatik  des  17.  Jahihundeits.  l.  Teil:  Entstehung,  Eigenart, 
Geschichte  und  philosophische  Ausprägung  der  cartesianischen  Scholastik. 
Leipzig,  Deichert.     8.     IV,  158  S,     Jt>  3.60. 

Bonet,  P.,  Bossuet  moraliste.     Paris,  Lethielleux.     12.     460  p. 

Bougle,  C,  Rousseau  et  le  socialisme.  Legons  faites  ä  l'Ecole  de  hautes 
etudes  sociales,     pp  171—186.     Paris,  Alcan. 

•Byse,  C,  Swedenborg.     Paris,  Fischbacher. 

Capponi,  G.,  Der  allgemeine  Wille  im  Gesellschafts- Vertrage  von  J.  Rousseau. 
Ein  Versuch.     Berhn,  ünger.     8.     23  S.     Ji  1. 

— ,  J.  J.  Rousseau  et  la  rivolucione  francese.  Genua,  Formiggini.  16.  177  p.  L.  4. 

Gay  Jus,  D.  de,  Merveilleux  epanouissement  de  l'ecole  scotiste  au  XVIIIe  siecle 
Paris,  Librairie  de  Saint-Frangois. 

*Groce,  B.,  La  filosofia  di  Giambattista  Vico.     Bari,  Laterza.     8.     316  p. 

— ,  Le  fonti  della  gnoseologia  Vi  Chiana.  Memoria  letta  alla  academia 
Pontaniana  nella  tornata  del  10  Marzo  1912.     Napoli,  Giannini. 

David,  M.,  Berkeley.  Ghoix  des  textes  avec  etude  du  Systeme  philosophique. 
1.  vol.  de  la  collection  Les  grands  philosphes  trancais  et  etraneers.  Paris, 
Michaud.     222  p.  ^        r  v  s 

Delbos,  V,,  Rousseau  et  Kant.  Legons  faites  ä  rEcole  des  hautes  etudes 
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— ,  Condillac.     Ebenda.     18.     64  p. 

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Fazio- Allmayer,  Gallleo  Galilei.     Palermo,  Sandron.  • 

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einer  Skizze    der   deutschen  Geniezeit    des  Lebens  und  der  Werke  Heinses 
(und  einer  Entwicklungsübersicht  der  aesthetischen  Grundbegriffe  im  18.  Jahr- 
hundert.    Nr.  1  der  Textausgaben  und  Untersuchungen  zur  Geschichte  der 
Aesthetik.     Wien,  Schmid.     gr.  8.     VllI,  203  S.     M  5. 

ilensel,    P.,    Rousseau.      180.    Bändchen   der    Sammlung    aus   Natur   und 
Geisteswelt.     2.  Auflage.     Leipzig,  Teubner.     8.     VI,  100  S      .>«  1. 
Hodge,  Fr  A.,  John  Locke  and  Formal  Discipline.     Lynchburg,  Bell 

Höftding,  H.,  J.  J.  Rousseau    et   sa  philosophie.     Traduction  du  danois  et 

^       avant-propos  par  J.  de  Causa  nge.     Paris,  Alcan.     12.     XII,  164  p. 
Hudson.  J.  W.,    The  Tieatment  of  Personality  by  Locke,  Berkeley  and 
Hume.     Columbia,  Uuiversity  of  Missouri. 

I  bring  er,  B.,  Der  Schulbegriff  bei  den  Mystikern  der  Reformationszeit.  I.Heft 
der  neuen  Berner  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte. 
Bern,  Fiancke.     8.     67  S.     M  2. 

Just-Navarre,  P.,  La  maladie  de  Pascal,  fitude  medicale  et  psychologique. 
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Lewin,  J.,    Die  Lehre   von   den  Ideen  bei  Mal ebr auch  e.     35.  Heft  der  Ab- 

k'Ä^  handlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Halle,  Niemeyer,    er.  8. 

VIII,  165  S.     M  4,60.  ^ 

19* 


28B  Novitätpnsphau. 

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Martin,  J.,  Malebranche.     Paris.  Blond.     16.     64  p. 
Mornet,  D.,  Le  Roasseanisme  avant  Rousseau.    Lecjons  faites  ä  l'Ecole  des 

hautes  etudes  sociales,  pp.  %? — 66.     Paris,  Alcau 
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reuse  et  philosopfcique  en  Catalogne  aux  14«  et  15e  siecle.    Paris,  Champion. 
Parodi,  D.,  Les  idees  religieuses  de  Ron  sse  au.    Legons,  pp.  121 — 155.    Paris, 

Alcan. 
Pereire,  A.,  Autour  de  Saint-Simon.     Paris,  Champion. 
*Petrescu.  N..  Olanvill  and  Hume.     Diss.     Berlin,  Schade.    68  p. 
Foilock ,  Sir  F..    Spinoza,    bis  Lite   and  Philosophy.     London,   Dackworth. 

8.     452  p.     Sh.  5. 
Pott,  H,  Fr.  Bacon  and  bis  Secret  Society.    London,  Banks. 
Rousseau,  J.  in  seinen  Werken.    Bearbeitet  von  F.  Kirche  isen.    2.  Auflage. 

12.  Band    aus    der  Gedankenwelt   grosser  Geister.     Stuttgart,  Lutz,     kl    8. 

283  S.     Jt  .',50. 
Saita,  La  scolastica  nel  secolo  XYI  e  la  politica  dei  Gesuite.     Torino.  Bocca. 
Seailles,  G.,  Leonard  dp  Vinci.     4e  ed.     Paris,   Perrin. 
Terraillon,  E.,    La  morale    de  Geulincx  dans  ses  rapports  avec  la  philo- 

sophie  de  Descartes.     Paris,  Alcan.     8.     226  p. 
Thomsen,  A.,    David  Hume.      Sein  Leben    und   seine   Philosophie.     1.  Band. 

Anlässlich  des  200.  Jaiirestages  seiner  Geburt  herausgegeben.     Berlin-Cbar- 

lottenbuig,  Juncker,     gr.  8.     IX,  5b0  S.     M  12. 
Tiers  ot,  J.,  Jean- Jacques  Rousseau  (1  vol.  de  la  collection  Les  Maitres  de 

la  Musique).     Paris,  Alcan. 
Tillmann,  B,   Leibniz  Verhältnis   zur  Rpnaissance    im  allgemeinen  und  zu 

Nizolius  im  besonderen.     Mit  einigen  Zusätzen  von  A.  Dyroff.    5.  Heft 

der  Renaissance  und  Philosophie.    Bonn,  Hanstein,    gr.  8.    111,  95  S.    Jt  2. 
Tonnies.  F.,    Thomas  Hobbes,    der  Mann   und   der  Denker.     2.,   eiweiterte 

Auflage  der  Schrift  „Hobbes  Leben  und  Lehre".     Osterwieck,  Zickfeld.     8, 

XVI,  249  S.     M.  4. 
Wasmuth,  E,  Jeaa-Jacques  Rousseau.    Fragmente  zum  Verständnis  seines 

Wesens.     Leipzig,  Xenien-Verlag.     Lex.  8.     52  S.     JH>  2. 
Wernle,  P.,    Lessing   und   das  Christentum.     Tübingen,    Mohr.     gr.  8,     IV, 

72  S.    Ji.  1,50. 

•  d)  Zur  neuesten  Philosophie. 

Arabrosi,   L.,   Ermanno  Lotze   e   la   sua  filosofia.     Roma,    Soc.  d'ed.  Dante 

Alighieri.    12.    XCVI,  344. 
*Amendola,  G.,  Maine  de  ßiran.    Firenze.    8.    123  p. 
Andler,  Cb ,    Basch,  V.,    Henrubi,  J. ,    Bougle,   C.    etc.,    La  philosopbie 

allemande    au    XIX^  siecle.       Dilthey,    Husserl,    Eucken,    Wundt, 

Simmel.     La  philusophie  des  sciences  historiques.    Les  jirands  courants  de 

l'esthetique  allemande  contemporaine,    Paris.  Alcan.    8.    VI,  254  p. 
Apelt,  0.,  Die  Behandlung  der  Geschichte  der  Philosophie  bei  Fries  und  bei 

Hegel  (Vortrag).     Göttingen,  Vandenboeck  &  Ruprecht. 
Archambault,  P.,  Stuart  Mill.    1  vol.  de  la  collection   Les   Grands  Philo- 

sophes  fran^ais  et  etrangers.    Paris,  Michaud.    16.    222  p. 
Balbino,  G,  II  torto  di  Hegel.     Roma. 
Balsillie,  D,    An  Examination  of  Bergsons  Philosophy.    London,  WiUiams. 

8.    Xll,  228  p.    Sh    ->. 
ßaunard,  A,  Fied^ric  0 z a n a m  d'apres  sa  correspondance.  Paris,  Poussielqne. 
Bazardjau,  R,  Benedetto  Cro  ce,  il  falso  esteta  (inversione  estetica).  Fadova, 

Drucker. 
Beiart.  H.,    Friedrich  Nietzsches  Freundschafts -Tragödie    mit    Richard 

Wagner  und  Cosima  Wagner-Liszt.    Dresden,  Reisner.    gr.  8.    VII,         Jd.  3. 
Ben  da,  J.,  Le  Bergsonisme  ou  une  philosopbie  de  la  mobilite.    Paris,  Mercure 

•de  France.    18.    135. 


Novitätenschau.  289 

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Borowski,  L  E.,  Jachmann,  R.  B.  und  Wasianski,  A.  Gh.,  Immanuel 
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Bonrgin,  G.  et  H.,  L'histoire  par  les  contemporains.  Le  socialisme  trancais 
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Boutroux,  E.,  William  James.  Mit  einem  Brief  des  Verfassers  an  den 
üebersetzer  und  2  Abhandlungen  des  Verfassers:  Die  Bedeutung  der  Ge- 
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Brehier,  E.,  Schelling.  Un  vol.  de  la  collection  Les  Grands  Philosophes. 
Paris,  Alcan.    8.    314  p.    Fr.  6. 

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Ca  dm  an,  S.  P.,  Carles  Darwin  and  other  English  Thinkers.  With  Reference 
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Coignet,  C,  De  Kant  ä  Berg  so  n.    Paris,  Alcan.    16.   !56  p. 

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Eucken,  R.,  Main  Currents  of  Modern  Thought.  A  Study  of  the  Spiritual  and 
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290  Novitätenschau. 

Farges,  Mgv.  A.,   La  philosophie  de  M.  Bergson.  Expose  et  critique.    Paris, 

Bonne  Presse.   8.    H90  p. 
Fidao-Justiniani,  J.  E,  Pierre  Leroux.    Paris.  Bloud. 
Flaig,    J  ,    Christoph  Sigwarts  Beiträge  zur  Giundlegung  und  zum  Aufbau 

der  Ethik.    Stuttgart,  Kohlhammer,    gr.  8.    III,  54  S.    M  1,50. 
Flournoy.  Th.,   La  philosophie  de  W.  James.    St.  Blaise,  Foyer  Solidariste. 

12.    219  p. 
Flügel,    0.,    Herbarts   Lehren    und    Leben.     164.  Bändchen   der  Sammlung 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.     2.  Auflage.     Leipzig,  Teubner.     8.     IV,  138  S. 

M  1,25. 
Fonsegrive,    G.,    Leon   Olle-Laprune.      L'homme   et   le   penseur.     Paris, 

Bloud.    16.    64  p. 
Förster-Nietzsche,   E.,   Der  junge  Nietzsche.     Leipzig,  Körner,    kl.  8. 

VIII.  453  S.     M  4. 
Frehn,  J.,  Nietzsche  und  das  Problem  der  Moral.    Neubabelsberg,  Akadem. 

Verlagsgesellschatt.    gr.  8.    8ü  S.    M.  2,50. 
Fuente,  H.,    aus  der:  Wilhelm  v.  Humboldts  Forschungen  über  Aesthetik. 

3.  Heft  der  Philosophischen  Arbeiten.     Giessen,  Töpelmann,    gr.  8.    III,  IV, 

144  S.    Ji  4,40. 
Geraskoff,  M.,  Die  sittliche  Erziehung  nach  Herbert  Spencer  unter  Berück- 
sichtigung seiner  Moralphilosophie  und  Entwicklungslehre.    Zürich,  Speidel. 

gr.  8.    87  S.    M  1.6U. 
Gillouin,  R,  La  philosophie  de  M  Henri  Bergson.  Paris,  Grasset.  16.  186  p. 
Gross,  F.,  Kant- Laienbrevier.     Eine    Dai Stellung    der    Kantischen  Welt»  und 

Lebensanschauunf'en  für  den  ungelehrten  Gebildeten,    aus  Kants  Schriften, 

Briefen  und  mündlichen  Aeusserungen  zusammengestellt.    München.  Bruck- 

mann.    kl.  8.    220  S.    M  2,80. 
Halevy.   D.,  La   vita  di  Federico  Nietzsche.     Versione  di  L.  Ambrosini. 

Tormo. 
Hartmann,  A.  v.    Zwischen  Dichtung  und  Philosophie.    1.  Band.    Lessing. 

Herder.     Schiller.—  2.  Band.    Emerson,   Ruskin,  Maeterlinck, 

Novalis,    Tolt^toi.    —    3.  Band.     Carlyle,    Nietzsche,    Goethe. 

Eduard  von  Hartmann.    Nr.  126  —  131  der  Burschenschaftlichen  Bücherei. 

H'i ausgegeben  von  H.  Böttger.    Berlin,  Heymann.    8.    Il8,  183  und  132  S. 

M  1,80. 
Henning,  H.,  Goethe  und  die  Facbphilosophie.    Strassburg,  Bongard.    gr.  8. 

35  S.    M  1. 
— ,  Kants  Nachlasswerk.     Strassburg,  Bongard.    gr.  8.    14  S.    M>  1. 
Hermann,    E.,    Eucken    and    Bergson,    their    Significance    for   Christian 

Thought.    London,  Claike.    8.    2.^4  p.    Sh.  2/6. 
Hill,  G.  Gh.,  The  Philosophy  of  Nietzsche.    An  Exposition  and  an  Appreciation. 

London,  Oaseley.    8.    292  p.    Sh.  7  6. 
Hochfeld,  S.,  Das  Künstlerische  in  der  Sprache^ch  o  penhau  e  rs.    Leipzig, 

Barth,    gr.  8.    XI,  170  S.    M>  5. 
.Tones,  Sir  H.,  Browning  as  a  Philosophical  and  Religious  Teacher.  London, 

Mac  Lehose.    8.    366  p.    Sh.  4  6. 
Jones,  W.   T.,    An    Interpretution    of   Rud.  Euckens    Philosophy.      London, 

Williams  &  Norgate.    8.    250  p.    Sh.  5. 
Kade,  R.,   Rudolf  Euckens  noologische  Methode  in  ihrer  Bedeutung  für  die 

Religionsphilosophie.    Leipzig,  Veit.    8.    VIII,  145  S.    M.  2,50. 
Kastil,    A.,    Jakob  Friedrich  Fries  Lehre  von    der  unmittelbaren  Erkenntnis. 

Eine   Nachprüfung   sem-r   Reform    der    theoretischen  Philosophie    Kants. 

Göttingen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht,    gr.  8.    324  S.    Mi.  8. 
Kaufmann.    H.,    Die   ünsterblichkeitsbeweise    in    der    katholischen    deutschen 

Literatur  von  1850  — li  00.    Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Philosophie  im 

19.  Jahrhundert.     10.   Heft    der    Studien    zur    Philosophie    und    Religion. 

Paderborn,  Schöningh.    8.    XII,  352  S.    M  7. 
Kessel  er,    K.,    Rudolf  Euckens   Bedeutung    für    das   moderne  Christentum. 

Bunzlau,  Kreuschmer.    gr.  8.    66  S.    M.  1,50. 


Novitätenschau.  291 

Knauth,  A.,  Die  Naturphilosophie  Johannes  Reinkes  und  ihre  Gegner.  Regens- 
burg, Manz.    gr.  8.    XVI,  207  S.    M.  3,60. 

Koltan,  J.,  Die  Gedankenwelt  berühmter  Biologen.  Ideale  und  Probleme  der 
Weltanschauung.  J.  Reinkes  dualistische  Weltansicht  (Neovitalismus).  Mit 
Einfühlung  von  L.  Plate.    München,  Reinhardt,    gr.  S.    VIII,  166  S.  Jfc  1,50. 

Kopp,  Gl.,  Die  Philosophie  des  Hermes,  besonders  in  ihren  Beziehungen  zu 
Kant  und  Fichte.    Köln.  Bachern,    gr.  8.    140  S.    jH>. 'S. 

Krebs,  W.,  Friedrich  v.  Matthisson  (1761—1831).  Ein  Beitrag  zur  Geistes- 
und  Literaturgeschichte  des  ausgehenden  ]8.  und  beginnenden  19.  Jahr- 
hunderts.   Berlin,  Mayer  &  Müller,    gr.  8.    197  S.    M  3,60. 

Külpe.  0.,  Im  manuel  Kant.  Darstellung  und  Würdigung.  3.,  verb.  Aufl. 
146.  Bändchen  der  Sammlung  Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig. 
Teubner.    8.    VIII,  153  S.    M.  l. 

Kunze.  F..  Die  Philosophie  Salomon  Maimons.  Heidelberg,  Winter,  gr.  8. 
XXVI.  532  S.    J^.  14. 

Lau,  P..  Ursprung  und  Wesen  der  Religion  nach  Wundts  Völkerpsychologie. 
Diss.    Königsberg.    8.    id  S. 

L e  R 0 y.  Ed.,  Dne  Philosophie  nouvelle.  H.  Bergs on.  Paris,  Alcan.  16.209  p. 
Fr.  2,250. 

Lieb  mann,  0.,  Kant  und  die  Epigonen.  Eine  kritische  Abhandlung.  Besorgt 
von  B,  Bauch.  2.  Band  der  philosophischen  Werke.  Herausgegeben  von  der 
Kantgesellscbaft.    Berlin,  Reuther  &  Reichardt.    gr.  8.    XlII,  240  S.    M  4. 

Loiseau.  H.,  L'evolution  morale  de  Goethe.    Paris,  Alcan.    8.    XVI,  812p. 

Lottin,  J.,  Quetelet,  statisticien  et  sociologue.  Louvain,  Institut  Superieur 
de  Philosophie.    8.    XXX,  564.  p. 

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Formiggiui.     8.     368  p. 

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Miszellen  und  Nachrichten. 


Max  Stirner  Redivivus.  Die  Theorie  des  „Einzigen  und  sein 
Eigentum"  wendet  Prof.  Dr.  med.  B.  Ravitz  auf  das  Leben  an^).  Das 
Grundwesen  des  Menschen  ist  nach  ihm  die  Selbstsucht.     Er  führt  aus: 

„Wie  die  Menschheit  als  Ganzes,  so  ist  der  Mensch  als  einzelner  ein 
Produkt  des  Milieu.  Weil  die  äusseren  Einwirkungen  auf  die  Völker,  dieser 
,Menschheitssplitter',  wie  sie  Ratzel  genannt  hat,  in  verschiedenen  Teilen 
der  Oekumene  ganz  verschiedenartige  sind,  darum  sind  die  Völker  in  ihrem 
Ciharakter  so  grundverschieden  von  einander.  Dasselbe  gilt  von  den  Indi- 
vidualitäten. 

Wenn  man  im  gewöhnlichen  Leben  den  einen  Menschen  einen  schlechten 
Charakter  nennt,  den  andern  einen  guten,  so  tritt  mit  diesem  Werturteil 
die  Relation  zum  Ich,  zum  Egoismus  auf.  Die  Relation  zur  Gesamtheit 
zum  Staate,  welche  ebenfalls  dieses  Werturteil  veranlasst,  braucht  uns  hier 
nicht  zu  beschäftigen.  Gute  und  böse  Charaktere  gibt  es  zunächst  nur  in 
Beziehung  zum  autozentrischen  Prinzip.  Denn  in  diesem  Prinzip,  im 
Egoismus,  ist  das  Wesen  des  Menschen  enthalten. 

Der  Egoismus  oder,  um  das  stärker  klingende  deutsche  Wort  zu  ge- 
brauchen, die  Selbstsucht  ist  die  Triebkraft  alles  dessen,  was  die  Menschen 
tun  und  lassen.  Nur  Schwachköpfe  und  Dummköpfe  können  dies  leugnen. 
Denn  weil  alles,  was  wir  das  Geistige  nennen,  auf  der  Sinnhchkeit  Kants 
beruht,  weil  also  das  Physische  alles  bedingt,  weil  in  uns  nichts  existiert, 
nichts  existieren  kann,  ohne  dass  eine  physische  Erregung  von  aussen 
physische  Vorgänge  im  Innern  hervorgerufen  hat,  und  weil  alle  diese  Er- 
regungen und  sonstigen  Vorgänge  im  ,,Ich"  kulminieren,  darum  ist  eines 
jeden  Ich  der  Mittelpunkt  seines  Seins  und  seiner  Welt.  Selbstsucht 
beherrscht  den  Menschen  und  regiert  die  Welt;  denn  jede 
Persönlichkeit  und  jedes  Volk  ist  sich  Selbstzweck.  Das  ist  der  Effekt 
aller  Motivationen,  welche  das  Schicksal  jeder  Stunde  eines  Menschenlebens 
bestimmen.  Das  Ich  ist  nur  die  Kulmination,  alles  andere  im  sogenannten 
Geistigen  hat  der  Mensch  mit  dem  Tier  gemein.  Darum  ist  das  Tierische 
im  Menschen  dasjenige  Moment,  um  das  sich  alles  dreht.  In  Haus  und 
Hof  und  Staat,  in  dem,  was  der  Mensch  tut  und  lässt,  in  Liebe  und  Hass, 


')  Der  Mensch.  Eine  fundamental-philuüophische  Untersuchung.  Berlin  1912. 


Miszellen  und  Nachrichten.  295 

in  Rache  und  Mitleid,  in  Dankbarkeit,  Gewissen  und  Reue,  in  der  Sehn- 
sucht nach  dem  Guten  und  Schönen:  kurz  in  allem  und  jedem,  was  das 
Leben  der  einzelnen  Personalität  ausmacht,  es  schmückt  oder  schändet, 
liegt  auf  dem  Grunde  als  treibende  Kraft  die  Selbstsucht.  Und  das  sind 
die  schlimmsten,  brutalsten  und  gefährlichsten  Egoisten,  welche  in  selbst- 
gefälliger Scheinheiligkeit  und  pharisäischer  Entrüstung  dies  leugnen.  Bei- 
spiele braucht  es  nicht  hierfür.  Wer  nicht  bloss  mit  Menschen  zusammen- 
kommt, sondern  wer  sie  auch  zu  beobachten  vermag,  wer  sich  selbst  zu 
erkennen  imstande  ist,  der  wird  und  muss  mir  zustimmen,  wenn  ich  sage : 
„Des  Menschen  Wesen  ist  Selbstsucht". 

Die  psychologische  Begründung  dieses  Satzes  ist'  allerdings  wurm- 
stichig, aber  eine  durchaus  konsequente  Folge  der  tierischen  Abstammung  des 
Menschen.  Wenn  der  Mensch  keinen  Schöpfer  und  Herrn  über  sich  anzu- 
erkennen hat,  dann  ist  er  sich  selbst  Zweck,  er  kann  sein  Ich  zum  Mittelpunkt 
all  seines  Tuns  und  Lassens  machen.  Alle  Versuche  der  vornehmen,  ver- 
schämten Atheisten,  dieser  Folgerung  sich  zu  entziehen,  sind  vergeblich, 
viel  konsequenter  handeln  tatsächlich  die  offenen  Atheisten.  Nur  schlaue 
Berechnung,  welche  das  Ich  durch  allzu  konsequente  Selbstsucht  schädigt, 
nimmt  auch  Rücksicht  auf  andere.  Das  ist  aber  wieder  nach  dem  Vf. 
nur  ein  tierischer  Zug. 

„Selbstsucht  ist  die  Triebfeder  für  alles  menschliche  Tun  und  Lassen, 
das  potenziert  Tierische  im  Menschen  ist  das  Bestimmende.  Und  es  müsste 
diese  Welt  in  Atome  zerfallen,  wenn  das  Tierische  sich  ungehindert,  durch 
keine  Gegenmotivation  gebändigt  und  eingeengt,  entfalten  könnte.  Zum 
Glück  für  die  Menschen  und  die  Menschheit  besorgen  die  Umstände,  unter 
denen  der  Anthropoide  zum  Anthropos  wurde,  das  Korrigens  in  sich. 
Denn  der  Mensch  ist  von  Anfang  an  ein  Heerdentier  gewesen,  nur  durch 
die  Gemeinschaft  mit  seinesgleichen  und  in  ihr  zu  dem  geworden,  als  was 
er  sich  uns  in  dieser  seiner  erdgeschichtlichen  Entwicklung  präsentiert. 
Diese  Gemeinschaft,  die  C  o  e  n  o  n  i  e,  hat  den  Egoismus  teilweise  wenigstens 
zum  Personalismus  abgeklärt,  hat  des  ersteren  zentrifugale  Tendenzen  ge- 
mildert, und  ist  immer  noch  dabei,  im  Menschen  das  dem  Begriffe  nach 
Menschliche  zur  Entwicklung  zu  bringen  und  das  tatsächlich  Tierische  zu 
unterdrücken". 

Also  hält  der  Vf.  seine  allgemein  naturnotwendige  Selbstsucht  doch 
nicht  aufrecht;  er  widerspricht  ja  damit  auch  den  offenkundigsten  Tat- 
sachen. Von  der  heroischen  Aufopferung  christlicher  Heiligen  gar  nicht 
zu  reden,  es  gibt  auch  selbstlose  Atheisten.  Das  beweist  eben,  dass  der 
Mensch  kein  rein  potenziertes  Tier  ist,  dass  das  Geistige  in  ihm  das 
Tierische  bis  zu  einem  gewissen  Grade  bezwingen  kann.  Die  Natur  kann 
durch  verkehrte  Anschauungen  nicht  völlig  unterdrückt  werden;  unsere 
Natur  hat  aber  neben  der  Liebe  zum  Ich,  die  nicht  notwendig  Selbstsucht 
zu  sein  braucht,   ein  angeborenes  Gefühl  des  Mitleids,   der  Mitfreude,   der 


296  Miszellen  und  Nachrichten. 

Sympathie.  Diese  Anlage  lässt  sich  nur  von  den  rohesten  Naturen  unter- 
drücken, nämhch  von  solchen,  die  auf  dem  Standpunkte  des  Vf.s  stehen, 
Gott  und  Geist  leugnen.  Auch  die  selbstloseste  Hingabe  der  Mutterliebe 
weiss  der  Vf.  tierisch  zu  erklären. 

„Wohl  gibt  es  auch  wirkliclie  Selbstlosigkeit,  aber  sie  ist  ein  Züehtungs- 
produkt  der  Coenonie,  kein  Entwicklungsprodukt  der  Natur,  d.  h.  ist  nicht 
dem  Menschen  angeboren,  sondern  ihm  durch  das  Gemeinschaftsleben, 
durch  die  Coenonie  anerzogen.  Nur  die  Liebe  der  Mutter  zum  Kinde  ist 
in  Wahrheit  selbstlos.  Aber  diese  Mutterliebe,  die  man  überall  dort  findet, 
wo  eine  Brutpflege  vorhanden,  ist  kein  Produkt  des  Verstandes  oder  der 
Vernunft,  auch  dann  nicht,  wenn  sie  dem  verkrüppelten  oder  dem  miss- 
ratenen  Kinde  gegenüber  sich  zeigt.  Sondern  die  Mutterliebe  ist  ein  Trieb, 
der  mit  Naturnotwendigkeit  sich  entwickelt  und  der  auch  dann  wirksam 
ist,  wenn   das  Geliebte  die  Liebe  nicht  verdient". 

Also  ein  edelster  Zug  des  menschlichen  Herzens  wird  zu  emem 
tierischen  Triebe  degradiert.  Ein  Kind  sollte  doch  wenigstens  der  eigenen 
Mutter  für  die  grossen  Opfer,  die  nur  eine  Hebende  Mutter  bnngen  kann, 
nicht  mit  so  schnödem  Undank  vergelten. 

Nicht  besser  geht  es  der  Vaterliebe. 

„Die  Vaterliebe  ist  kein  Trieb;  sie  kommt  der  xMutterliebe  gegenüber 
gar  nicht  in  Betracht,  ist  mehr  ein  Ergötzen,  als  eine  Liebe.  Und  ihr 
zugrunde  liegt  die  Selbstsucht,  die  beim  Weibe  vom  Triebe  der  Mutter- 
liebe vollkommen  gebändigt  wird.  Wer  hat  nicht  Väter  in  Menge  kennen 
gelernt,  die  aus  lauter  sogenannter  Liebe  zu  ihren  Kindern  diesen  das 
Leben  verkümmert  haben!  Sie  nannten  ihr  Verhalten  Liebe,  der  kühle 
Beobachter  musste  dafür  Selbstsucht  sagen,  denn  sich  selber  wollten  sie 
Unannehmlichkeiten  aller  Art  ersparen ;  ihr  liebes  Ich  sollte  ruhig  bleiben, 
und  darum  durfte  das  Kind  kaum  frei  atmen". 

Natürlich  ist  die  eheliche  Liebe  nicht  edler;  „Der  Mann  —  es  ist  das 
beim  Tier  auch  so  —  ist  verlangend,  das  Weib  gewährend;  und  dadurch 
hat  das  letztere  stets  ein  Uebergewicht  über  den  Mann". 

Ein  solcher  Zynismus  ist  bedauerlich,  aber  in  mancher  Hmsicht  be- 
lehrend. Ein  enfant  terrible  spricht  unverhohlen  die  absolut  konsequenten 
Folgerungen  aus  der  tierischen  Natur  des  Menschen,  welche  die  „aristo- 
kratischen" Atheisten  abschütteln  möchten,  aus.  Er  gibt  denselben  eine 
recht  heilsame  Lehre:  Der  Mensch,  der  in  seinem  Stolze  seine  Abhängig- 
keit von  Gott  leugnet  und  sich  auf  sich  selbst  stellt,  wird  dadurch  zum 
erbärmhchsten,  selbstsüchtigsten,  widerlichsten  Wesen  degradiert. 

Kine  Metaphysik  der  Entwicklnng  bietet  Erik  Ziese  in  der 
Schrift:  „Wachstum  und  Entwicklung"'). 


')  Gedanken  über  das  All,  die  Welt  imd  das  Ich".   St.  Petersburg  1912. 


Miszellen  und  Nachrichten.  297 

Die  moderne  Welt  steht  unter  dem  Zeichen  der  Entwicklung.  Ent- 
wicklung ist  das  Losungswort  auf  allen  Gebieten  des  Lebens  und  der  Wissen- 
schaft. Aber  sehr  wenig  Einigkeit  besteht  über  das  Wesen  der  Entwicklung 
selbst,  darum  ist  eine  Klarstellung  darüber  von  höchster  Wichtigkeit.  Eine 
solche  bietet  nun  Ziese  und  zwar  in  fundamentalster  Weise ;  er  behandelt 
sie  vom  Nichts  bis  zur  Unendhchkeit.  Es  ist  nicht  leicht,  seinen  auf 
schwindelnden  Höhen  der  Spekulationen  sich  bewegenden  Gedankengängen 
zu  folgen.  Zur  Charakterisierung  hebe  ich  einige  seiner  apodiktisch  vor- 
getragenen Sätze  heraus: 

Die  Formen  unserer  Natur,  die  Naturgesetze,  unsere  Logik,  Mathematik, 
Ethik  usw.,  alles  das  wird  als  fix  und  fertig  nicht  mehr  entwicklungsfähig 
angenommen,  sie  sollen  ewige,  im  Prinzip  unumstössUche  Wahrheiten  re- 
präsentieren. Dann  war  es  ja  klar,  dass  wir  einfach  durch  Weiterbau  dieser 
„Ewigen  Wahrheiten"  unser  Ziel  erreichen  könnten.  Man  glaubte,  wir  hätten 
schon  die  richtige  Richtung  und  brauchten  nur  geradeaus  (logisch)  weiter 
zu  laufen.  An  dieser  Voraussetzung  müssen  alle  Versuche  zur  Aufklärung 
unseres  Lebenszweckes  scheitern. 

Mit  den  nichtssagenden,  aber  alles  in  sich  schliessenden  Worten  der 
„Annäherungen  an  Gott"  bezeichnen  wir  diesen  Lebenszweck  —  Worte,  die 
uns  noch  nicht  einmal  eine  Andeutung  über  Gottes  Existenz-Möglichkeit 
geben.  Man  wollte  also  Gott  in  menschlichen  Formen  erkennen.  Das  gab 
einen  menschlichen  Gott,  aber  keinen  göttlichen.  Und  doch  sagt  schon 
Jesus,  dass  Gottes  Reich  nicht  von  dieser  Welt  sei.  Wir  können  unsere 
Formen  nur  auf  uns  anwenden,  und  da  wir  die  Ailformen  noch  nicht  haben, 
so  können  wir  auch  das  Ali  nicht  erkennen  und  den  Begriff  „Gott"  nie 
wissenschaftHch  definieren  —  aber  darum  auch  unseren  Lebenszweck  nie- 
mals unbeirrt  klarlegen. 

All-Form  ist  aber  doch  nichts  anderes  als  formlos!    Vielleicht  dessen 

w 

Gegensatz.  Oder  sollte  es  beides  sein?  Wir  haben  dafür  nur  die  für  uns 
eigentlich  nichtssagenden  Begriffe  der  Ewigkeit,  des  Alls,  des  Nichts, 

Woher  nun  diese  ganze  Verwirrung?  Weil  wir  unsere  menschlichen, 
augenblicklich  natürlichen  Formen  zu  klar  sehen  und  sie  auch  auf  das 
„All"  anwenden  wollen,  ohne  die  wir  uns  überhaupt  nichts  mehr  vorstellen 
können.  Eben  weil  Grenzen  haben  Leben  ist.  Nur  das  „All"  und  die 
„Ewigkeit"  sind  grenzenlos.     Gott  ist  grenzenlos  .  .  . 

Jetzt  können  wir  aber  nicht  begreifen,  wie  zwei  so  grundverschiedene 
Sachen,  wie  Gott  und  unsere  Natur,  gleichzeitig  in  ein  und  demselben 
Räume  sieh  befinden  können.  Wir  versuchen  es  also  schleunigst  mit  einer 
„grundlegenden"  Teilung  in  Materie  und  Geist  .  .  . 

Was  liegt  nun  aber  näher,  als  dass  unsere  Welt  ein  Teil  Gottes  ist? 
Ein  Teil  hat  immer  Grenzen,  wenn  auch  das  All,  aus  dem  es  genommen 
ist,  keine  Grenzen  hat.  Und  was  ist  Gott  anders  das  „All  in  Ewigkeit"  ? 
Alles  an  jedem  Ort  und  zu  jeder  Zeit. 


298  Miszellen  und  Nachrichten. 

Wenn  wir  nun  aber  aus  irgend  einem  Grunde  nicht  mehr  Alles  an 
einem  Orte  und  nicht  zu  jeder  Zeit  „erkennen"  können,  so  entstehen 
Grenzen,  Einschränkungen  —  Natur  und  Leben. 

Was  wird  dann  aber  aus  unserer  Entwicklung  ?  Ja,  was  sind  wir  dann  ? 
Wir  entwickeln  uns,  heisst:  wir  nähern  uns  der  Allewigkeit.  Gut,  dann 
muss  aber  die  All-Ewigkeit  sich  zum  Ausgleiche  dem  Punkt  nähern,  von 
dem  wir  ausgegangen  sind,  also  ihrem  Gegensatze  —  dem  Nichts.  In 
dieser  Ewigkeit  sind  wir  doch  auch  mit  einbegriffen,  als  Teil  von  ihr.  Wie 
kommt  es  denn,  dass  sich  das  Ganze  senkt,  um  einen  Teil  zu  heben? 
Das  ist  nur  so  zu  verstehen,  dass  sich  das  Ganze  senkt,  um  das  Ganze 
zu  heben.     Oder  dass  sich  überhaupt  nichts  senkt,  nichts  hebt. 

Hier  sehen  wir  zum  ersten  Male,  wie  zwei  in  der  Vorstellung  direkte 
(Gegensätze  im  All  —  also  ihrem  Wesen  nach  —  sich  berühren.  Das  erste 
(Heben  des  Ganzen)  ist  die  im  All  grösstmögliche  Allarbeit-Allmacht,  und 
diese  kommt  der  Ruhe  (dem  Nichts)  gleich.  Es  kommt  eben  nur  auf  die 
Auffassung  an,  ob  ich  von  etwas  sage,  es  ist  machtlos,  oder  es  hat  Allmacht. 

Man  denke :  Ist  das  „All"  vollkommen  ohne  das  „Nichts"  V  Nein,  denn 
dazu  fehlt  ihm  noch  viel,  nämlich  seine  Negation  ...  So  entwickelt  sich 
das  „All"  über  das  „Nichts"  zu  seiner  Negation,  ebenso  wie  sich  das 
„Nichts"  zum  Plus-Minus-„A11"  entwickelt,  beide  mit  dem  Bestreben,  voll- 
kommen zu  werden.  Es  sind  die  zwei  Gegensätze,  die  im  dritten  zu- 
sammenkommen wollen,  um  eine  wirkhche  Vollkommenheit  zu  bilden, 
dort  aber  auch  zu  nichts  werden  können,  denn  sie  verneinen  sich  gegen- 
seitig. Ganze  Vollkommenheit  ist  Ruhe,  Machtlosigkeit.  Grösste  Einseitig- 
keit ist  Unruhe  —  Allmacht. 

Doch  genug  der  Paradoxien,  oder  besser  gesagt  Paroxysmen.  Solche 
Blüten  treibt  die  Auflehnung  des  Geschöpfes  gegen  seinen  Schöpfer. 

Grundlagen  einer  organischen  Weltanschauung  bietet  M.  Kr e wer 
in  dem  5.  Band  der  von  L.  Stein  herausgegebenen  „Bibliothek  für  Philo- 
sophie" *). 

Geologie  und  Paläontologie  glauben  dargetan  zu  haben,  „dass  die  Erde 
sich  einst  im  erstarrten  Zustande  befand",  und  ziehen  daraus  den  Schluss, 
„dass  das  organische  Leben  einen  Anfang  und  ein  Ende  habe.  Diese  An- 
nahme ist  jedoch  eine  rein  hypothetische.  Um  dieses  zu  begründen, 
müssen  wir  zunächst  auf  den  dem  menschlichen  Denken  etwas  fremden 
Begriff  des  Unendlichen  eingehen".  „Eine  organische  Welt- 
anschauung  muss  vom   Prinzip  des  Unendlichen   ausgehen". 

„Denn  da  jeder  Raum,  unendlich  vielmal  vervielfacht,  doch  nicht  an 
die  Grenze  des  Weltalls  reicht,  so  ist  das  Weltall  nach  unseren  Begriffen 
unendlich;  und  da  jeder  Körper  unendlich  viel  mal  zerlegt  werden  kann, 
ohne  dass  man  begrifflich  an  das  Ende  der  Teilbarkeit  gelangt,  so  ist  die 
Materie  unendlich  klein.  Die  begrifflich  endliche  Welt  ist  als  ein  Ueber- 
gangsstadium  des  unendlichen  Weltkreisprozesses  aufzufassen,  in  welchem 

')  Berlin  1912. 


Miszellen  und  Nachrichten.  299 

die  unendlich  kleine  Materie  durch  einen  unendlichen  Vervielfältigungs- 
prozess  endliche  Formen  annimmt,  die  wiederum  durch  den  unendlich 
grossen  Weltalldividierungsprozess  in  den  ursprünglichen  Zustand  der  un- 
endlich kleinen  Materie  zerlegt  werden.  Die  Erde  ist  ein  Teil  des  unendlich 
grossen  Weltalls  ...  Sie  ist  eine  Uebergangsform  in  dem  eben  beschriebenen 
grandiosen  Weltprozess  und  unterliegt  als  solche  verschiedenen  Trans- 
formationen, ohne  dass  ihr  Anfang  oder  Ende  erfasst  werden  könnte.  Die 
Wissenschaft  unterscheidet  den  Erdorganismus  als  anorganische  und  orga- 
nische Materie.  Sind  diese  beiden  Arten  der  Materie  nur  durch  einen 
zeitlich  endlichen  Transformationsprozess  geschieden,  so  sind  sie  begrifflich 
identisch  und  ebenso  ewig  wie  die  Erde,  sind  sie  dagegen  durch  einen 
zeitlich  unendlichen  Prozess  getrennt,  so  sind  sie  verschieden,  können 
durch  einen  endlichen  Transformationsprozess  aus  einander  nicht  erklärt 
werden,  und  sind  beide  ebenso  ewig  wie  die  Erde". 

„Zwei  Begriffskomplexe  sind  in  jedem  Menschen  zu  unterscheiden : 
der  organische  und  der  gottähnUche.  Der  organische  Begriffskomplex  ist 
die  jedem  lebenden  Organismus  angeborene,  in  ihm  sich  fortpflanzende, 
durch  die  Kapazität  der  Sinne  begrenzte  und  mit  ihm  vergehende  Vor- 
stellung der  Umgebung  .  .  .  Der  gottähnliche  Begriffskomplex  ist  die  durch 
eine  uns  unverständliche  Gehirnkapazität  dem  endlichen  Organismus  ent- 
rissene Vorstellung  der  Unendlichkeit  .  .  .  Die  Verbindung  dieser  zwei  Be- 
griffskomplexe in  dem  lebenden  menschlichen  Organismus  zu  einer  Einheit 
führt  zu  einer  organischen  Weltanschauung.  Die  Geschichte  der  Mensch- 
heit ist  die  Beschreibung  des  Kampfes  zwischen  den  organischen  und  gott- 
ähnhchen  Begriffen,  das  Ringen  nach  einer  einheitUchen  Weltanschauung". 

,,Der  aus  den  obigen  Betrachtungen  für  eine  organische  Weltanschauung 
folgende  wichtige  Schluss  besteht  darin,  dass  das  Weltall  eine  absolute 
Selbstidentität  ist,  weil  im  Weltall  nichts  verschwinden  oder  hinzukommen 
kann". 

„Nur  die  Menschheit  darf  durch  den  Schweiss  des  Mannes  und  die 
Schmerzen  des  Weibes  zur  Allwissenheit  und  Ewigkeit  streben.  Die  Gott- 
heit ist  die  Idee  der  Menschheit". 

Die  Grundidee  der  organischen  Weltauffassung  ist  die  ewige  Allein- 
heit. „Diese  ewige  Alleinheit  kann  man  nicht  von  Angesicht  zu  Angesicht 
erkennen,  man  kann  nur  an  dieselbe  glauben.  Im  Glauben  vergeistigt  die 
ewige  Alleinheit  zu  Gott,  welcher  die  Ursache  und  das  Ziel  alles  Seins  ist". 

,,Zu  der  tiefen  Erkenntnis  der  Einheit  alles  Seins,  welche  gewiss  die 
grösste  Entdeckung  des  menschhchen  Geistes  ist,  gelangte  Moses  auf  dem 
Wege  eines  organischen  Denkprozesses".  „Wie  einem  kleinen  Kinde  in 
der  Felskluft  unter  der  väterlichen  Hand  vertrauensvoll  geborgen,  war  es 
Mose  beschieden,  in  einer  göttlichen  Eingebung  das  ganze  Weltgetriebe  in 
einem  Moment  zu  erfassen  und  aus  demselben  die  ewige  Alleinheit  zu 
erkennen". 

Sehr  "originell!  Moses  Pantheist,  dem  die  Alleinheit  geoflenbart  wurde 
wie  einem  Kinde,  und  der  zugleich  diese  „grösste  Entdeckung  des  mensch- 
lichen Geistes"  durch  einen  organischen  Denkprozess  errang. 


Philosophischer  Sprechsaal. 


Eine  neue  Richtung  in  der  scholastischen  Philosophie? 

Von  Dr.  Agostino  Gemelli  0.  F.  M.,  Herausgeber  der  „Rivista  di  Filosofia 

Neo-Scolastica"  in  Mailand. 


Aus  den  Beiträgen  verschiedener  Mitarbeiter  der  „Rivista  di  Filosofia 
Neo-Scolastica"  (erschienen  im  Jahre  1912)  offenbart  sich  die  Notwendigkeit,  der 
Neu-Scholastik  ein  neues  Gepräge  und  den  Bestrebungen,  sie  grösserer  Vollendung 
entgegenzuführen,  eine  neue  Richtung  zu  geben '),  nämlich  das  Programm,  nach 
dem  man  während  der  letzten  30  Jahre  an  der  Erneuerung  der  scholastischen 
Philosophie  gearbeitet  hat,  zu  überprüfen  und  nötigenfalls  zu  modifizieren. 

Vorsichtshalber  will  ich  jedoch  gleich  erklären,  dass  ein  Programm  über- 
prüfen und  umarbeiten  nicht  heisst,  dessen  Fundamentalprinzipien  aufgeben 
und  zerstören.  Diese  bleiben  dieselben,  wie  sie  von  Aristoteles  bis  zur  Scholastik 
einfachhin,  von  Boethius  bis  Skotus,  von  Alexander  von  Haies  zu  St,  Thomas 
von  Aquin  und  St.  Bonaventura  sich  bewährt  haben,  nämlich :  Der  Dualismus 
von  Subjekt  und  Objekt,  von  Welt  und  Gott,  von  Geist  und  Materie,  ferner  die 
Pundamentaltheörie  von  Materie  und  Form,  von  Substanz  und  Akt,  und  vor 
allem  jene  Lösung  des  Erkenntnisproblems,  welche  den  Mittelweg  einhält 
zwischen  Idealismus  oder  Rationalismus  einerseits  und  Fositivismus  oder 
Monismus  andererseits. 

Aber  indem  man  diese  Prinzipien  annimmt,  verschliesst  man  sich  keines- 
wegs den  Weg  und  benimmt  man  sich  keineswegs  die  Möglichkeit,  einer  andern 
Reihe  wichtiger  Probleme  gegenüberzutreten  und  sie  zu  lösen. 

Beim  ersten  Aufblühen  der  Scholastik  im  19.  Jahrhundert  hielt  man  dafür, 
däss  zu  deren  Wiedererweckung  es  genügen  würde,  sie  in  Berührung  zu  bringen 
mit  den  Fortschritten  der  heutigen  Wissenschaft,  und  in  die  allgemeine  Welt- 
anschauung, die  sie  uns  bietet,  all  das  einzufügen,  was  die  Wissenschaft  heute 
an  Resultaten  erzielt  hat.  Es  entsprach  dies  der  Ansicht,  welche  den  Grund  des 
Niederganges  der  Scholastik  darin  zu  sehen  glaubte,  dass  sie  sich  in  gewaltsamer 

')  Es  ist  nicht  möglich,  hier  die  einzelnen  Artikel  der  Rivista  namhaft 
zu  machen,  in  welchen  solches  zum  Ausdruck  kommt.  Das  Problem  ist  niemals 
ex  professo  gestellt  und  behandelt  worden,  sondern  nur  nebenbei,  insbesondere 
bei  Gelegenheit  und  auf  Grund  des  kriteriologischen  Problems  oder  aber  im 
Verlauf  irgend  einer  Rezension  oder  eines  andern  Artikels.  Eine  systematische 
Ausarbeitung  dieser  Ideen  will  mir  und  meinen  Freunden  zur  Zeit  noch  un- 
möglich erscheinen,  und  zwar  nicht  allein  aus  inneren,  sondern  auch  und  vor 
allem  aus  äusseren  Gründen,  die  sich  leicht  erraten  lassen.  Nichtsdestoweniger 
gedenke  ich,  im  ersten  Heft  des  neuen  (5.)  Jahrganges  (1913)  der  Rivista  in 
Form  einer  Programmentwicklung  eine  systematische  Darlegung  der  betreffenden 
Ideen  zu  geben. 


Philosophischer  Sprechsaal.  301 

Weise  von  den  übrigen  Wissenschaften  getrennt  und  die  Errungenschaften, 
welche  die  Wissenschaft  inzwischen  gemacht  hat,  nicht  anerkannt  habe  (so 
denkt  z.  B.  De  Wulf  und  mit  ihm  viele  andere). 

Man  spricht  sogar  den  Wunsch  aus,  es  möchte  doch  in  unserer  Zeit  ein 
hl.  Thomas  erstehen,  der  die  ganze  moderne  Wissenschaft  beherrschte  und  in 
seiner  Hand  vereinigte  und  es  verstände,  all  dieses  immense  Gedankenmaterial 
mit  den  Prinzipien  der  Scholastik  zu  durchdringen  und  nach  denselben  zu 
ordnen,  sozusagen  zu  organisieren. 

Wie  unvollkommen  und  vielleicht  absurd  eine  solche  Auffassung  ist,  brauche 
ich  nicht  erst  mit  vielen  Worten  darzutun.  Im  Grunde  genommen  hatten  und 
haben  wohl  noch  immer  jene,  welche  zäh  am  Alten  festhielten  und  solch 
wissenschaftlichem  Aufputz  der  Scholastik  mit  scheelem  Auge  gegenüber- 
standen, ein  leichtes  Spiel  gegenüber  den  Verteidigern  dieser  Anschauungs- 
weise. Sie  konnten  es  nicht  ertragen,  dass  man  sich  lossage  von  den  alten 
Auffassungen,  die  doch  ein  harmonisches  Ganzes  konstituierten,  um  all  dem 
Gerumpel  Platz  zu  machen ,  das  die  Neuerer  zusammengetragen  hätten,  und 
sie  kamen  schliesslich  dahin,  nun  in  gar  nichts  mehr  nachzugeben  und  nichts 
mehr  preiszugeben.  Und  wenn  die  Neuerer  dagegen  protestierten,  erklärten  sie 
laut:  Nun  wohlan,  wir  anerkennen,  ganz  nach  eurem  Wunsche,  die  Forderungen 
der  Wissenschaft ;  wir  anerkennen,  dass,  wenn  die  Wissenschaft  etwas  als  Tat- 
sache erwiesen  hat,  dies  anzunehmen  ist;  allein  eure  ,, Wissenschaft"  bietet 
keine  Tatsachen,  sondern  nur  Hypothesen  und  Theorien,  die  nur  relativen  Wert 
besitzen ;  denn  sie  sind  nicht  bewiesen  in  dem  Sinne  und  nach  dem  Werte, 
den  wir  mit  dem  Worte  ,, beweisen"  verbinden. 

Die  letzteren,  die  Thomisten  nämlich,  hatten  freilich  nicht  so  ganz  un- 
recht, denn  es  ist  in  der  Tat  die  Auffassung  unannehmbar,  nach  welcher  die 
Philosophie  nur  die  Summe  aller  Wissenschaften  sei.  Dieser  Anschauung  huldigt 
der  Positivismus,  ja  sie  ist  der  reinste  Positivismus.  Und  man  muss,  wenn 
man  aufrichtig  sein  will,  in  der  Tat  zugestehen,  dass  die  sogenannten  Neu- 
scholastiker es  nicht  genügend  verstanden  haben,  sich  dem  Zauber  der  ge- 
feierten Herrin  Wissenschaft  zu  entziehen.  Und  auch  wir  waren  —  es  sei  dies 
aufrichtig  zugestanden  —  eine  Zeitlang  diesem  Verhängnis  anheimgefallen. 
Es  rührt  dies  daher,  dass  die  Neuscholastik  derselben  Zeitperiode  entstammt,  in 
welcher  der  Positivismus  in  Blüte  stand,  und  zu  welcher  man  die  Wissenschaft 
wie  einen  Abgott  verehrte.  Es  war  aber  und  ist  ein  Irrtum,  Wissenschaft  und 
Philosophie  einander  gleichzusetzen;  Wissenschaft  und  Philosophie  verhalten 
sich  heterogen  zu  einander;  Philosophie  ist  etwas  anderes  und  etwas  mehr  als 
blosse  Wissenschaft,  etwas  anderes  und  besseres  als  eine  einfache  Art  wissen- 
schaftlicher Behandhmgsweise  oder  als  die  Krone  der  Wissenschaft  oder  als  die 
Summe  aller  wissenschaftlichen  Begriffe  und  Hypothesen.  Wahre,  aber  einzig- 
artige Wissenschaft  ist  die  Philosophie ;  denn  sie  allein  ist  absolutes  Wissen.  Jene 
hingegen,  welche  die  Philosophie  mit  den  Errungenschaften  der  Wissenschaft 
nur  einfach  vervollständigen  wollen,  erkennen  die  obengenannte  Heterogenität 
der  beiden  nicht  an  und  zwar  aus  Furcht,  sie  möchten  sonst  noch  rück- 
ständiger gelten  als  selbst  die  Positivisten. 

Ausserdem  gibt  es  aber  noch  einen  anderen  Grund,  weswegen  in  den 
Streitigkeiten  der  konservativen  Anhänger  des  alten  und  reinen  Thoraismus  mit 
den  freien  Neuerern  die  ersteren  leichteres  Spiel  hatten. 

Ein  philosophisches  System  muss  als  ein  Ganzes  gedacht  werden.  Es  ist 
nicht  etwas,  das  nach  Bedürfnis  neu  überfirnisst  oder  in  irgend  einem  seiner 
Teile  neuen  Einzelforderungen  entsprechend  ausgeflickt  werden  könnte,  For- 
derungen, die  sich  ergeben  aus  der  Feststellung  neuer  Tatsachen  oder  aus  dem 


302  Philosophischer  Sprechsaal. 

Fortschritt  des  philosophischen  Gedankens  selbst.  Und  es  genügt  nicht,  dass 
dasselbe  (ein  philosophisches  System  nämlich)  nur  wieder  durchdacht  werde  in 
Verbindung  und  Verwertung  der  neuen  Errungenschaften  der  Wissenschaft. 
Freilich  muss  auch  dieses  geschehen:  aber  vor  allem  muss  es  wieder  durch- 
dacht werden  als  System  selbst,  als  allgemeine  Weltanschauung,  als  Ganzes. 
Und  wenn  es  wahr  ist,  dass  das  moderne  Denken  neue  Forderungen  an  die 
Philosophie  gestellt  hat,  himmelweit  verschieden  von  den  Forderungen  der 
Wissenschaft,  aus  denen  der  Positivismus  entsprungen  ist,  dann  muss  das 
philosophische  System  zwar  auch  in  Betrachtung  dieser  Forderungen  wieder 
durchdacht  werden,  aber  so,  dass  die  neuen  Errungenschaften  und  die  wissen- 
schaftlichen Theorien  nicht  einfachhin  anerkannt  werden  als  etwas,  das  um 
jeden  Preis  dem  Ganzen  einverleibt  werden  müsste,  sondern  nur  als  Bedingungen 

—  und  nichts  mehr  — ,  als  Bedingungen  der  neuen  Forderungen  an  das  philo- 
sophische Denken').  Um  nun  unter  Voraussetzung  des  Gesagten  die  Formel, 
,,das  scholastische  System  müsse  in  Hinsicht  auf  die  gegenwärtigen  Forderungen 
des  Denkens  von  neuem  durchdacht  werden",  in  die  Tat  umzusetzen,  müssen 
wir  damit  beginnen,  anzuerkennen,  dass  die  Geschichte  der  Philosophie  nicht 
eben  nur  die  Geschichte  der  ,,Verirrungen  des  menschlichen  Geistes"  ist,  wie 
einer  gesagt  hat,  den  wir  alle  gut  kennen,  sondern  die  Geschichte  der  An- 
strengungen des  menschlichen  Geistes,  um  die  Lösung  der  grössten  Probleme 
zu  finden.  Anerkennen  müssen  wir  auch,  dass  es  nicht  wahr  ist,  was  man 
mitunter  sagt :  die  Geschichte  des  philosophischen  Gedankens  in  der  Gegenwart 
sei  ein  Sichbegegnen  und  Sichdurchdringen  der  verschiedensten  einander  und 
sich  selbst  widersprechenden  Systeme ;  sie  ist  vielmehr  ein  stufenweise  sich 
abwickelnder  logischer  Prozess  der  Höherentwicklung  auf  Grund  kritischer 
Ausscheidung  einerseits  und  assimilierender  Aufnahme  andererseits.  Daraus 
ergibt  sich  als  weitere  Konsequenz,  dass  die  scholastische  Philosophie  —  will 
sie  anders  den  aktuellen  Forderungen  des  philosophischen  Denkens  entsprechen 

—  all  die  verschiedenen  philosophischen  Systeme  der  Gegenwart  sich  vorführen 
muss,  um  sie  durch  solch  einen  Ausscheidungs-  und  Assimilationsprozess  zu 
überwinden  und  zu  eigener  Höherentwickelung  nutzbar  zu  machen.  Das,  und 
das  allein  ist  die  gegenwärtige  Aufgabe  der  Scholastik.  Sie  muss,  um  es  noch- 
mals und  noch  klarer  zu  sagen,  ihre  Richtung  ändern.  Solche  Aenderung  einer 
einmal  eingeschlagenen  und  liebgewonnenen  Richtung  kostet  zwar  Mühe  und 
Opfer.  Wer  aber  Vertrauen  hat  zum  angestammten  Besitze  seiner  Ideen,  für 
den  sind  solche  Opfer  und  Mühen  nichtssagend.  Auch  wir  müssen  Vertrauen 
haben  zu  unseren  Auffassungen.  Es  war  uns  ein  leichtes,  den  Positivismus  zu 
überwinden,  eben  weil  wir  jenes  Vertrauen  hatten.  Mit  dem  gleichen  Ver- 
trauen wird  es  uns  ebenso  leicht  gelingen,  den  Idealismus  unserer  Tage  zu 
überwinden. 

Versuchen  wir  es  nun  also,  indem  wir  unsere  Prinzipien  überprüfen  und 
deren  Tragweite  bemessen,  dem  Idealismus  gegenüber  ein  Gleiches  zu  tun, 
was  die  Neuscholastiker  dem  Positivismus  gegenüber  getan  haben.  Studieren 
wir  ihn  recht  gründlich,  machen  wir  uns  das  zu  eigen,  was  annehmbar  ist ; 
das  übrige,  was  sich  der  philosophia  perennis  nicht  assimilieren  lässt,  wird  von 
selbst  fallen,  eben  weil  es  nicht  die  Wahrheit  für  sich  hat.     Erinnern  wir  uns 


')  Lassen  wir  somit  den  Positivismus  nur  ruhig  entschlafen  und  wenden 
wir  uns  zur  Verteidigung  dessen,  was  wir  als  Wahrheit  ansahen,  gegen  die 
kühnen  Angriffe  des  wiedererwachten  Idealismus.  Wozu  denn  die  Kräfte  ver- 
schleudern und  die  Zeit  verschwenden  durch  Kampfespolemik  gegen  einen  Toten 
oder  doch  bereits  Sterbenden? 


Philosophischer  Sprechsaal.  303 

daran,  dass  „überwinden"  nicht  besagen  will  „zerstören",  rein  negative  Polemik 
treiben.  Freilich  gehört  auch  dieses  negative  Element  dazu,  aber  beileibe  nicht 
dieses  allein.  „Ueberwinden"  besagt  vielmehr  einen  kritisierenden  Prozess, 
der  sondert,  sowohl  beim  Assimilieren  als  wie  beim  Verwerfen  und  beim  Auf- 
nehmen. Und  deshalb  pflegen  wir  denn  auch  beizeiten  unseren  Freunden  zu 
raten,  Kant  und  Hegel  und  all  die  modernen  Philosophen  zu  studieren.  Es  ist 
dies  zwar  eine  neue  Aufgabe,  die  wir  da  stellen;  aber  es  ist  eine  Forderung 
auf  Tod  oder  Leben,  die  ausgeführt  werden  muss,  denn  sonst  werden  uns  diese 
modernen  Systeme  derartig  umschlingen,  dass  wir  uns  ihrer  nicht  mehr  er- 
wehren können.  Und  man  fürchte  nichts,  wenn  bei  dieser  Erneuerung  irgend 
etwas  vom  Alten  in  Wegfall  kommen  muss.  Es  werden  nur  temporäre  Ele- 
mente sein,  die  fallen,  aber  wir  haben  za  viel  Vertrauen  in  die  ewige  (unver- 
wüstliche) Lebenskraft  des  fundamentalen  Kerns  der  scholastischen  Lehren,  als 
dass  wir  auch  nur  für  einen  Moment  daran  zweifeln  würden,  dass  sie  auch 
nur  im  geringsten  erschüttert,  geschweige  denn  über  den  Haufen  geworfen 
werden  könnten. 

Wir  können  in  der  Tat  dem  Idealismus  die  Stirne  bieten,  denn  wir  haben 
mit  ihm  ein  Fundamentalprinzip  gemein,  die  Absolutheit  des  Wissens  nämlich, 
die  vom  Positivismus  nicht  anerkannt  worden  war  und  konsequenterweise 
auch  nicht  anerkannt  werden  konnte.  So  stehen  wir  denn  fest  auf  dieser 
gemeinsamen  Grundlage,  in  der  übrigens  das  Hauptprinzip  der  Erkenntnis- 
lehre beruht,  und  verteidigen  wir  von  hier  aus  die  Philosophie  der  Konformität 
(zwischen  Subjekt  und  Objekt)  gegen  die  Philosophie  der  Identität  (von  Sub- 
jekt und  Objekt),  die  stets  zwischen  Gegensätzen  vermittelnde  aristotelische 
Philosophie  gegen  die  Uebertreibungen  und  Einseitigkeiten  der  nachkantianischen 
Philosophie.  Aber  —  wie  gesagt  —  erst  nachdem  beiderseits  jenes  Grund- 
prinzip anerkannt  worden  und  vor  allem,  nachdem. wir  die  anderen  mehr  oder 
weniger  gelungenen  Versuche  überprüft  haben,  welche  zwar  vom  traditionellen 
Standpunkt  aus,  aber  im  Bewusstsein,  neuen  Problemen  gegenüberzustehen,  zur 
Ueberwindung  der  idealistischen  Uebertreibungen  und  Konstruktionen  jemals 
unternommen  worden  sind.  Und  sind  nicht  in  diesem  Sinne  der  Rosminianis- 
mus  und  der  Giobertianismus  solche  Versuche?  Das  ist  der  Grund,  weshalb 
sich  deren  Studium  so  sehr  empliehlt. 

Und  man  wird  den  wohltuenden  Einfluss  des  soeben  entworfenen  Arbeits- 
programmes unschwer  einsehen.  Das  Problem,  das  wir  in  der  Gegenwart 
vorab  zu  lösen  haben,  ist  das  Erkenntnisproblem.  Wenn  wir  dem  kritischen 
Idealismus  gegenüber  nicht  den  Beweis  für  die  Objektivität  unserer  Erkenntnisse 
führen,  sind  wir  überwunden.  Um  aber  jenen  Beweis  führen  zu  können,  genügt 
es  nicht,  sich  auf  den  naiven  Realismus  unserer  Altvorderen  zu  berufen,  denn 
wenn  es  auch  wahr  ist,  dass  er  die  dunkele  Forderung  notwendiger  Aner- 
kennung der  objektiven  Gültigkeit  unserer  Erkenntnisse  zum  Ausdruck  bringt, 
so  ist  damit  doch  noch  längst  nicht  der  Zweifel  überwunden,  den  nun  einmal 
der  heutige  Kritizismus  dem  menschhchen  Geiste  infiUriert  hat.  Die  Neu- 
scholastiker haben  schon  einen  Schritt  nach  vorwärts  gemacht,  indem  sie  die 
Notwendigkeit  dargetan  haben,  dass  man  jene  Position  des  Kritizismus  an- 
nehmen und  nach  einer  Rechtfertigung  der  Objektivität  unserer  Erkenntnisse 
sich  umsehen  müsse  (man  denke  nur  an  den  Versuch  des  Kardinals  Mercier). 
Aber  das  genügt  noch  nicht.  Zu  wiederholten  Malen  haben  viele  Gelehrte  in 
unserer  Rivista  di  Filosofia  Neo-Scolastica  auf  das  Ungenügende  dieser  Lösung 
hingewiesen,  und  die  Diskussion  ist  noch  sehr  lebhaft  unter  unseren  Freunden. 
All  das  genügt  schon  deswegen  nicht,  weil  die  Geschichte  der  Philosophie  nichts 
anderes  ist  als  die  Geschichte  der  Anstrengungen  des  menschlichen  Geistes  zur 


304  Philosophischer  Sprechsaal. 

Ueberwindung  dieses  seines  Zweifels  zu  gelangen,  veranlasst  und  hervorgerufen 
durch  die  dunkele  Forderung,  die  in  seiner  Tiefe  liegt  und  auf  die  sich  sein 
Vertrauen  auf  die  objektive  Gültigkeit  seiner  Erkenntnisse  aufbaut. 

Und  deswegen  gerade  müssen  wir  über  den  Idealismus  hinwegschreiten, 
um  das  zu  erreichen,  wozu  der  Idealismus  sich  als  unfähig  erwiesen  hat ;  denn 
sollen  unsere  Anstrengungen  zum  Ziele  führen,  so  müssen  sie  über  jene  hinaus- 
gehen, die  schon  vor  uns  von  anderen  gemacht  worden  sind.  Wer  uns  voran- 
gegangen ist,  ist  auf  der  Bresche  gefallen :  aber  die  Leiber  der  Gefallenen 
dienten  den  Siegern,  um  in  die  feindliche  Festung  einzuziehen.  Das  Vertrauen, 
das  wir  auf  den  absoluten  Wert  unserer  Erkenntnisse  setzen,  sagt  uns,  dass 
wir  sicher  zum  Ziele  gelangen  werden. 

Wir  müssen  ferner  beachten,  dass  schliesslich  sich  alles  auf  eine  Frage 
der  Taktik  reduziert.  Was  uns  vorerst  zu  tun  obliegt,  ist,  dass  wir  Stellung 
nehmen  gegenüber  dem  Idealismus,  wie  es  bis  vor  kurzem  von  Bedeutung  war, 
den  idealen  und  geistigen  Wert  unserer  Erkenntnisse  gegen  den  Positivismus 
zu  verteidigen.  Und  wenn  aus  Gründen  der  Taktik  das  Programm  der  Neu- 
scholastiker bislang  auf  dem  Begriff  der  Notw^endigkeit  negativer  und  positiver 
(assimilierender)  Polemik  beruhte  und  beruhen  musste  gegenüber  dem  Positivis- 
mus, und  wenn  man  darum  den  Experimentalwissenschaften  und  denen,  die 
sich  damit  befassten,  Rechnung  tragen  musste,  so  muss  hingegen  heute  die 
Neuscholastik  ihr  Programm  negativer  und  positiver  Polemik  dem  Idealismus 
zuwenden ;  denn  ein  Gegner  kann  ja  nur  mit  seinen  eigenen  Waffen  bekämpft 
werden  und  indem  man  sich  mit  ihm  auf  gleiches  Terrain  stellt. 

Die  Prinzipien  bleiben  die  gleichen ;  nur  die  Taktik  hat  sich  geändert. 
Man  sucht  nämlich  den  spekulativen  Gesichtspunkt  vor  allem  mehr  hervortreten 
zu  lassen,  um  so  Waffen  und  Terrain  mit  dem  Gegner  gemeinsam  zu  haben. 

Das  also  ist  die  eingangs  berührte  Modifikation,  die  man  dem  sogenannten 
Programm  der  Neuscholastik  geben  muss.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass 
man  mit  den  rein  spekulativen  Argumenten,  wie  immer,  auch  die  experimental- 
wissenschaftlichen  Argumente,  so  weit  sie  für  die  Philosophie  von  Bedeutung 
sind,  wird  in  Anwendung  bringen  müssen.  Auch  wird  man  noch  eigens  jenen 
Teil  des  Wissens  verteidigen  müssen,  dem  der  Ideahsmus  keinerlei  Rechnung 
trägt. 

Das  also  sind,  in  flüchtiger  Skizzierung,  die  programmatischen  Gedanken, 
die  ich  mit  meinen  Freunden  seit  einiger  Zeit  zu  diskutieren  pflege.  Es  legt 
sich  uns  nun  die  Notwendigkeit  nahe,  ein  konkretes  Arbeitsprogramm  zu  ent- 
werfen, entsprechend  jenen  Ideen,  die  nur  die  Bedürfnisse  zum  Ausdruck 
bringen,  die  sich  seit  einiger  Zeit  in  unserer  Seele  bemerkbar  machten  und  die 
sich  auf  das  dunkele  und  noch  unbestimmte  Sehnen  und  Streben  beziehen, 
das  wir  in  unserer  Seele  von  Tag  zu  Tag  wachsen  fühlen. 

Wir  hoffen,  dass  wir  in  nicht  allzu  langer  Zeit  auch  werden  sagen  können, 
zu  welch  konkretem  Arbeitsprogramm  und  zu  welch  positiven  Entschlüssen 
uns  diese  Bedürfnisse  und  Wünsche  geführt  haben  werden. 

Wir  möchten  jedoch  vorerst  hören,  was  andere,  die  gleich  uns  in  anderen 
Ländern  an  der  Wiederbelebung  der  scholastischen  Philosophie  arbeiten,  von 
unseren  oben  entwickelten  Ideen  denken.  Deshalb  habe  ich  zugleich  im  Namen 
meiner  Freunde  und  Mitarbeiter,  deren  Gedanken  in  obigen  Darlegungen  sich 
widerspiegeln,  dieses  Programm  entworfen  in  der  Hoffnung,  bald  auch  die  be- 
währte Stimme  solcher  darüber  zu  hören,  die  mehr  davon  verstehen  als  wir. 


'>b^ 


Philosoplt.  Jahrbuch  der  Görres  ^  Gesellschaft. 

26.  Band.    3.  Heft. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken  im 
Anschluss  an  die  Philosophie  Wilhelm  Wundts. 

Von  Oberlehrer  E.  Grünholz  in  Hamm  i.  W. 


I. 

Das  Verhältnis  des  Menschen  zu  der  ihn  umgebenden  Welt 
nennt  Rudolf  Eucken  ^)  das  Problem,  das  heute  im  Mittelpunkte  der 
Arbeit  und  des  Kampfes  steht,  ein  Problem,  in  das  alle  übrigen 
Probleme  einmünden,  und  nach  dessen  Lösung  sich  .,die  Bilder  vom 
Leben,  der  Begriff  von  der  Wirklichkeit,  die  Fassung  der  Wahrheit" 
verschieden  gestalten.  Es  ist  im  Grunde  dasselbe  Problem,  um 
dessen  Lösung  sich  die  Philosophen  seit  den  altersgrauen  Tagen  des 
Heraklit  und  des  Demokrit  unablässig  mühen,  dasselbe  Problem,  das 
Leibniz  und  der  ältere  Rationalismus  durch  die  reale  Macht  des 
Denkens  oder  der  ^'ernunft  zu  lösen  versuchten,  dessen  Lösung  aber 
der  moderne  Empirismus  und  Positivismus  auf  einem  ganz  anderen 
Wege  anstreben. 

Wohl  hatte  Kant,  als  zu  Beginn  der  Neuzeit  die  beiden  Richtungen 
des  Rationalismus  und  des  Empirismus  machtvoll  sich  entfaltet 
hatten,  und  damit  scheinbar  innerer  Zwiespalt  in  das  Problem  der 
Realität  hineingetragen  war,  diesen  Zwiespalt  zu  lösen  unternommen. 
Sein  scharfer  Geistesblick  hatte  wohl  den  tiefen  Wert  und  die 
fundamentale  Bedeutung  des  Problems  erkannt,  dass  ihm  das  Opfer 
eines  schlichten,  einsamen  Gelehrtenlebens  nicht  zu  hoch  erschien, 
um  der  Nachwelt  einen  eigenen  und  einzigartigen  Versuch  einer 
neuen  Lösung  zu  bieten.  Freilich  nur  einen  Versuch,  der  eine 
Lösung  des  Zwiespaltes  nur  dadurch  zu  geben  vermochte,  dass  er 
einen  neuen  und  vielleicht  schlimmeren  Zwiespalt  in  der  Lösung 
selber  schuf,  die  Grundverschiedenheit  der  theoretischen  und  der 
praktischen  Vernunft :  dort  „ein  entschiedenes  Nein"  in  der  Betonung 
der  Unmöglichkeit  für  das  Subjekt,  der  Wahrheit  über  die  Welt  der 
Dinge  an  sich  gewiss  zu  werden,  hier  der  positive  „Weg  zu  einem 
Ja",  der  in  das  Reich  des  praktischen  Handelns  führt ;  dort  eine 
Wahrheit  bloss  menschUcher  Art,  eine  Gedankenwelt,  nur  für  uns 
selbst  und  unser  Vorstellen  geltend,  ein  Weltbild,  nicht  über  uns 
hinaus  reichend,  hier  das  gerade  Gegenteil,  die  Wahrheit  nicht  bloss 


')  Geistige  Strömungen  der  Gegenwart,  1909,  10  ff. 

Philosophisches  Jahibuch  1913,  20 


306  E.  Grünholz. 

menschlicher,  sondern  absoluter  Art,  der  Mensch,  unmittelbar  in 
den  tiefsten  Gründen  der  Dinge  stehend  und  fähig,  aus  sich  selbst 
eine  Welt  zu  erzeugen,  das  Subjekt  als  moralisches  Wesen  der 
Träger  dieser  Welt^). 

Es  ist  nicht  Aufgabe  dieser  Zeilen,  die  Bemühungen  darzulegen, 
die  darum  auch  trotz  Kant  und  nach  Kant  bis  in  die  Gegenwart 
hinein  nie  ganz  ausgesetzt  haben,  das  Problem  der  Realität  zu  lösen, 
den  Zwiespalt  zu  überwinden  und  die  Kluft  zu  überbrücken,  die 
dem  Menschen  das  „Problem  seines  Grundverhältnisses  zur  Wirk- 
lichkeit" bietet,  auch  nicht  die  Aufgabe,  die  Gründe  aufzuzeigen, 
warum  die  Lösung  des  Problems  den  philosophischen  Systemen  der 
Neuzeit  bisher  nicht  gelungen  ist.  Die  Tatsache  nur  soll  hier  fest- 
gestellt werden,  die  Eucken  bitter  beklagt,  dass  einstweilen  noch 
nirgends  in  den  Bewegungen,  die. das  Problem  der  Realität  hervor- 
gerufen hat,  ein  fertiger  Abschluss  zu  erblicken  ist.  Das  Problem 
bleibt  ungelöst  nach  wie  vor,  „und  die  Menschheit  verbleibt  in  dem 
peinlichen  Hin-  und  Herschwanken  zwischen  Arbeit  und  Seele, 
zwischen  der  Absorbierung  des  Subjekts  durch  das  übermächtige 
Objekt  und  der  Verflüchtigung  des  Objekts  durch  die  Selbstherrlich- 
keit des  Subjekts"  ^). 

Bei  diesem  peinlichen  Hin-  und  Herschwanken  zwischen  den 
polaren  Gegensätzen,  die  das  genannte  Problem  birgt,  ist  es  in  seiner 
Entwicklung  notwendig  gegeben,  dass  auch  einmal  die  Frage  auf- 
taucht, „ob  nicht  die  ganze  Scheidung  von  Subjekt  und  Objekt,  ob 
nicht  alle  Anerkennung  eines  inneren  Bereiches  neben  der  Aussen- 
welt  von  Haus  aus  verfehlt  sei,  ob  nicht  bei  solcher  Fassung  das 
Wahrheitsstreben  den  unlösbaren  Widerspruch  enthalte,  zugleich 
scheiden  und  verbinden,  auseinanderhalten  und  zusammenführen  zu 
wollen"  3).  So  ist  in  der  Tat,  wie  Eucken  näher  ausführt.  Mach 
neben  Avenarius  zu  diesem  Ergebnis  gekommen,  „jene  Scheidung 
als  eine  unnütze  und  irreleitende  Verdoppelung  aufzugeben".  So 
sucht  in  anderer  Form  aber  auch  Wundt  in  der  Gegenwart  von 
dieser  Seite  aus  des  Problems  Herr  zu  werden.  Hierauf  und  auf 
die  Schwierigkeit,  die  sich  für  Wundt  daraus  ergibt,  dass  er  posi- 
tivistische und  metaphysische  Tendenzen  trotz  allem  Widerstreit  in 
seinem  System  zu  vereinigen  sucht,  macht  Külpe*),  einer  seiner 
ersten  und  besten  Schüler,  aufmerksam,  eine  Schwierigkeit,  die  un- 
mittelbar das  Problem  der  Realität  berührt. 

Denken  und  Sein  bilden  nach  Wundt  ursprünglich 
eine  E  i  n  h  e  i  t.  Wie  es  ursprünglich  kein  Denken  gibt,  sagt  er,  das 
nicht  Erkennen  wäre,  so  gibt  es  hinwiederum  kein  Erkennen,  das 
nicht  unmittelbar  eins  wäre  mit  seinem  Gegenstande.  ,, Unsere 
Vorstellungen  sind  ursprünglich   selbst   die  Objekte"; 

';  Eucken  a.  a.  0.  16. 
■■*)  Euclven  a.  a.  0.  25. 
*)  Eucken  a.  a.  0.  25. 
*)  Die  Philosophie  der  Gegenwart  in  Deutschland*  108  f.  und  120  f. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  307 

Wundt  nennt  sie  wegen  dieser  Einheit  Vorstellungsobjekte. 
Erst  durch  das  „reflektierende  Erkennen"  geht  dieser  Begriff  in  die 
beiden  Begriffe  der  Vorstellung  und  des  Objekts  über,  und  von  nun 
an  ,,ist  alles  Erkennen  von  dem  Streben  beseelt,  jene  Einheit  wieder 
herzustellen",  ein  Ziel,  das  dann  niemals  ganz  erreicht  werden  kann 
und  das,  gegen  die  „naive  Erkenntnisstufe"  gehalten,  Wundt  wie 
die  Sehnsucht  nach  einem  goldenen  Zeitalter  erscheint,  das  seit  dem 
Augenblick,  wo  der  Mensch  seine  Vorstellungen  und  ihre  Objekte 
unterscheiden  lernte,  auf  immer  verschwunden  ist^). 

Das  ist  das  onto logische  Prinzip  in  Wundts  Erkenntnis- 
lehre, dessen  eingehende  Kritik  einer  späteren  Abhandlung  vorbe- 
halten bleiben  mag.  Hier  sei  nur  auf  die  Schwierigkeit  und  Unklar- 
heit hingewiesen,  die  Kijlpe  ^)  in  Wundts  Ausführungen  findet,  indem 
bei  ihm  nicht  einzusehen  ist,  was  denn  nun  eigentlich  die  Realität 
ist,  die  Wundt  im  Gegensatz  zu  Mach  rückhaltslos  anerkennt,  und 
in  welchem  Verhältnis  diese  „Realität  der  Vorstellungsobjekte"  zu 
der  bei  ihrer  rationalen  Bearbeitung  gesetzten  „Realität  von  Denk- 
gegenständen" oder  ,, Gedankendingen"  steht.  Dies  ontologische 
Erkenntnisprinzip  ist  u.  a.  die  Grundlage  für  Wundts  eigenartige 
Stellungnahme  zum  Substanzbegriff ^j  mit  den  folgenschweren 
Weiterungen,  die  sich  daraus  für  ihn  ergeben,  bis  er  sich  schliess- 
Uch  berechtigt  glaubt,  den  modifizierten  Substanzbegriff  völlig  zu  eli- 
minieren, um  so  den  Weg  frei  zu  bekommen  für  die  Aktualitäts- 
theorie, die  seine  Philosophie  beherrscht. 

Wundts  ontolo;^isches  Erkenntnisprinzip  fusst  aber  wiederum  auf 
einem  zweiten  ebenso  folgenschweren  und  verhängnisvollen  Prinzip, 
auf  dem  u.  a.  sein  Voluntarismus  sich  aufbaut  und  das  im  fol- 
genden Gegenstand  der  näheren  Untersuchung  sein  soll.  Das  ist  das 
psychologische  Prinzip  seiner  Erkenntnislehre,  dass  wie  Denken 
und  Sein,  ebenso  auch  Denken  und  Wollen  eins  sind.  Aus 
beiden  Prinzipien  resultiert,  in  sich  zwar  folgerichtig  entwickelt, 
Wundts  voluntaristischer  Monismus,  der  aber  mit  seinen 
beiden  Grundpfeilern  steht  und  fällt. 

II. 

„Nicht  objektive  Realität  zu  schaffen  .  .  .,  sondern  objektive 
Realität  zu  bewahren,  wo  sie  vorhanden,  über  ihre  Existenz  zu  ent- 
scheiden, wo  sie  dem  Zweifel  ausgesetzt  ist" :  das  ist  nach  Wundt  ^) 
~  und  mit  Recht  —  die  wahre  und  die  allein  lösbare  Aufgabe  der 
Erkenntniswissenschaft.  Und  eine  schwere  Aufgabe  zugleich,  völlig 
unberührt  von  der  Wahrheit,  dass  Erkenntnistheorie  weder  die  erste, 
noch  die  einzige  Aufgabe  der  Philosophie  ist,  wie  Kant  es  wünschte, 
sodass  Lotze  demgegenüber  es  als  langweilig  bezeichnete,  wenn  die 

')  System  der  Philosophie  P  78  f. 

■■)  A.  a.  0.  109. 

"t  F^vsl^ni  der  Philosophie  P  254. 

*)  System  der  Ph.  P  91. 

20* 


308  E.  Grünholz. 

Messer  immer  nur  gewetzt  werden,  ohne  dass  es  zum  Schneiden 
kommt.  „Wer  vom  Erkennen  gering  denkt'',  sagt  Eucken  ^),  ,,wer 
in  ihm  nicht  mehr  als  ein  Registrieren  blosser  Erscheinungen  sieht, 
der  braucht  sich  über  seine  nähere  Gestaltung  und  über  sein  Ver- 
hältnis zum  Ganzen  des  Geisteslebens  keinerlei  Sorge  zu  machen. 
Wer  aber  in  ihm  eine  Durchleuchtung  und  innere  Aneignung  der 
Wirklichkeit  sucht,  dem  wird  jenes  zu  einem  schweren  Problem". 
—  Ist  Wundt  in  seiner  Philosophie  dieses  Problems  Herr  geworden? 

Erkennen  definiert  Wundt ^)  als  ein  „Denken,  mit  dem 
sich  die  Ueberzeugung  von  der  Wirklichkeit  der  Ge- 
dankeninhalte verbindet".  Das  ,, notwendige  Werkzeug  aller 
Erkenntnis"  ist  ihm  also  das  Denken,  und  die  P'rage:  ,,Was  ist 
Denken?"  steht  deshalb  auch  mit  Recht  am  Anfange  seiner  erkenntnis- 
theoretischen Erörterungen^).  Drei  Merkmale  sind  es,  die  nach 
Wundt  den  Begrifi'  des  Denkens  erschöpfen  und  das  Denken  von 
anderen  Tatsachen  oder  Vorgängen  unterscheiden:  Das  Denken  ist 
subjektive,  selbstbewusste,  beziehende  Tätigkeit. 

Das  Denken  ist  Tätigkeit,  „immerwährendes  Geschehen",  „kein 
ruhendes  Ding",  kein  selbständiger  Gegenstand.  So  entschieden 
wendet  Wundt  sich  gegen  die  letzte  Ansicht,  dass  er  den  aktuellen 
Charakter  des  Denkens  nicht  eindringlich  genug  betonen  kann,  ohne 
freilich  anzugeben,  gegen  wen  er  sich  dabei  eigentlich  wendet  und 
von  wem  das  Denken  jemals  zu  einem  ,, selbständigen  Ding"  ge- 
stempelt worden  ist. 

Das  Denken  ist  subjektive  Tätigkeit.  Die  Frage,  wie  über- 
haupt die  Unterscheidnng  zwischen  Subjekt  und  Objekt  zustande 
kommt,  berührt  dabei  hier  vorläufig  nicht.  Subjektive  Tätigkeiten 
sind  aber  nicht  minder  unser  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen. 
,, Dennoch  sind  sie  nicht  etwa  dem  Denken  gleichgeordnete  Vorgänge, 
sondern  sie  sind  Bestandteile,  aus  denen  alles  Denken  sich  aufbaut. 
Kein  Denken  ohne  Vorstellungsinhalt,  kein  Vorstellungsinhalt  ohne 
Gefühlsregung,  keine  Gefühlsregung  ohne  Willensrichtung".  Aber 
noch  mehr:  jedes  Denken  ist  nach  Wundt  ein  Wollen. 
Mögen  die  Elemente  unserer  Denkakte  auch  ganz  oder  zum  Teil 
ungesucht  sich  darbieten,  „die  Art,  wie  wir  sie  aneinanderfügen, 
bleibt  eine  Tat  unseres  Wollens"*).  Denken  und  Wollen  sind  ihm 
also,  obgleich  er  aus  methodischen  Gründen  gesondert  von  ihnen 
spricht,  im  Grunde  eins.  ,,Es  gibt  schlechterdings  nichts  ausser  dem 
Menschen  noch  in  ihm,  was  er  voll  und  ganz  sein  eigen  nennen 
könnte,  ausgenommen  seinen  Willen"''). 

Das  ist  die  erste  folgenschwere  fundamentale  Voraussetzung  in 
Wundts   System,    die   seiner  Erkennlnislehre  ein   charakteristisches 


')  A.  a.  0. 

5C 

1, 

-)  System 
*)  System 
*)  System 
^}  System 

P 

76. 
27  ff 
HO. 
375. 

Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  309 

Gepräge  gibt,  ohne  dass  er  aber  für  diese  Voraussetzung  genügende 
Beweisgründe  erbringt.  Es  mag  abgesehen  werden  von  dem  Wider^ 
Spruch,  der  darin  liegt,  dass  Wundt  einmal  den  Willen  als  Bestand- 
teil des  Denkens  dem  Denken  unterordnet,  nachher  aber  wieder  den 
Willen  als  das  einzige,  was  der  Mensch  voll  und  ganz  sein  eigen 
nennen  könnte,  über  das  Denken  erhebt.  Für  Wundt  verschwindet 
der  Widerspruch,  wenn  ihm  das  Denken  nichts  anderes  als  „eine 
Tat  unseres  Wollens"  ist.  Aber  diese  letzte  These  hält  vor  der 
Kritik  nicht  stand.  Wohl  lässt  sich  eine  Abhängigkeit  des  Denkens 
vom  Willen  nicht  leugnen,  sonst  gäbe  es  kein  willkürliches,  nach 
einer  bestimmten  Richtung  hinzielendes  Denken,  keine  formale  Logik, 
keine  Wissenschaft.  Aber  andererseits  gibt  es  auch  einen  Gedanken- 
zwang,  eine  autoritative,  objektive  Macht  des  Denkens,  wo  nicht 
der  Wille  das  Denken  bestimmt,  sondern  umgekehrt  —  und  das 
gerade  im  praktischen,  zielbewussten,  sittlichen  Handeln  —  das  Denken 
dem  Willen  seine  Direktiven  gibt,  ein  Denken,  das  unbedingte  und 
objektive  Zustimmung  fordert,  mag  der  Wille  dabei  vielleicht  noch 
so  sehr  die  praktische  Zustimmung  versagen  wollen.  Zustimmung 
ist  in  diesem  Falle  kein  Willens-,  sondern  ein  Erkenntnisakt,  keine 
Einwilligung,  sondern  ein  Einverständnis.  So  sehr  darum  im  übrigen 
auch  die  Tatsache  einer  innigen  Wechselwirkung  zwischen  Denken 
und  Wollen  bestehen  bleibt  und  Anerkennung  fordert,  so  wenig 
lässt  sich  Wundts  Behauptung  rechtfertigen,  dass  das  Denken  ledig- 
lich Willkürhandlung  ist,  und  ebenso  sehr  bleiben  Denken  und  Wollen 
nicht,  wie  Wundt  will,  im  Grunde  eins,  sondern  zwei  völlig  selbst-- 
ständige  charakteristische  Seiten  unseres  Seelenlebens. 

Was  aber  veranlasst  denn  Wundt  zu  seiner  eigenartigen  psycho- 
logischen Stellungnahme  hinsichtlich  dieser  fundamentalen  Seiten  des 
psychischen  Geschehens  ?  Eine  überraschende  Antwort  hierauf  ergibt 
sich  zugleich  aus  der  Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Subjekt, 
als  dessen  Tätigkeit  das  Denken  gilt.  Zu  dem  Zwecke  ist  es  er- 
forderlich, auf  Wundts  Psychologie  des  Willens  in  logischer  Kritik 
etwas  näher  einzugehen. 

III. 

Denken,  Fühlen  und  Wollen  durchdringen  sich  nach  Wundt  bei 
allen  unseren  Handlungen,  insbesondere  sind  Fühlen  und  Wollen  auf 
das  engste  verbunden.  ,, Jeder  Willensvorgang  setzt  sich  aus  Gefühlen 
zusammen,  und  von  den  Gefühlen  schliessen  diejenigen,  die  zudem 
vorhandenen  Vorstellungsinhalte  in  unmittelbarer  Beziehung,  stehen, 
die  Modifikationen  der  Lust  und  Unlust,  deutlich  schon  eine  bestimmte 
Willensrichtung  ein.  Spezifisch  für  den  Willensakt  sind  aber  jene 
Gefühle,  die  die  Handlung  selbst  und  ihren  unmittelbaren  Erfolg  be- 
gleiten, und  deren  Zusammenhang  das  ausmacht,  was  wir  unser  Ich 
nennen.  Dieses  Ich  ist  daher  nichts  anderes,  als  die  Verbindung 
der  fortwährend  sich  wiederholenden  Tätigkeitsgefühle  mit  schwan- 
kenden,  nur  in  einzelnen  ihrer  Bestandteile,   namentlich  denen,   die 


310  -  E-  Grünholz, 

sich  auf  den  eigenen  Körper  beziehen,  ebenfalls  relativ  gleichförmig 
wiederkehrenden  Kmpfindungen  und  Vorstellungen''  ^). 

Ausführlicher  verbreitet  sich  Wundt  über  diese  Frage  in  seinen 
psychologischen  Werken.  Die  Gefühle,  sagt  er  in  seinen  „Vorlesungen 
über  die  Menschen-  und  Tierseele""),  „fehlen  bei  keinem  Willens- 
vorgang .  .  .  denn  ehe  das  Wollen  aktuell  wird,  kündigt  es  als 
Willensrichtung  sich  an:  diese  Willensrichtung  besteht  in  Gefühlen, 
die  aber  darum  kein  vom  Wollen  in  Wirklichkeit  verschiedener 
Prozess,  sondern  lediglich  Bestandteile  eines  vollständigen  Willens- 
vorganges sind,  die  nur  deshalb  von  dem  letzteren  gesondert  werden 
können,  weil  unzähligemal  Gefühle  in  uns  auftreten,  aus  denen  sich 
keine  Willensakte  entwickeln". 

„Was  ist  es  nun  aber",  so  fragt  Wundt  weiter,  „das  zu  dem 
Gefühl  hinzukommen  muss,  damit  aus  ihm  ein  Wollen  hervorgehe? 
Die  im  Gefühl  gelegene  Willensrichtung  muss  —  so  wird  man  im 
allgemeinen  auf  diese  Frage  antworten  können  —  in  eine  jener 
Richtung  entsprechende  Tätigkeit  übergehen.  Nun  schliesst  der 
Begrifl  der  Tätigkeit  zwei  Momente  in  sich:  erstens  kann  von  einer 
solchen  nur  die  Rede  sein,  w^enn  irgend  ein  Vorgang,  eine  Ver- 
änderung in  dem  gegebenen  Zustande  der  Dinge  geschieht;  und 
zweitens  muss  diese  Veränderung  auf  irgend  ein  Subjekt  zurück- 
geführt werden,  das  als  deren  unmittelbare  Ursache  zu  betrachten 
ist".  Als  Beispiele  nennt  Wundt  aus  physikalischem  Gebiete  die 
chemische  Tätigkeit  des  elektrischen  Stromes,  die  mechanische  Tätig- 
keit des  Wassers,  des  Windes  u.  dgl.  und  gibt  genau  an,  welches 
in  diesen  Beispielen  die  Veränderungen  sind  (die  chemische  Zer- 
setzung einer  Flüssigkeit,  die  Bewegung  eines  Mühlrades  u.  a.),  und 
welches  das  die  Veränderungen  bewirkende  Subjekt  ist  (der  elektrische 
Strom,  das  bewegte  Wasser,  die  bewegte  Luft).  So  weist  Wundt 
auch  die  bei  den  Willenstätigkeiten  eintretenden  Veränderungen  auf, 
die  sich  teils  auf  den  Vorstellungsinhalt,  teils,  wie  bei  den  äusseren 
Willenshandlungen,  auf  unsere  körperlichen  Bewegungen  beziehen. 
Aber  es  liegt  auf  der  Hand,  sagt  Wundt,  dass  mit  diesen  Ver- 
änderungen das  psychologische  Wesen  des  Willens  nicht  erschöpft 
sein  kann,  und  er  betont  ausdrücklich,  dass  zu  alledem  die  Beziehung 
auf  ein  tätiges  Subjekt  hinzukommen  muss,  „dem  wir  in  unserer 
inneren  Wahrnehmung  die  Eigenschaft  beilegen,  die  unmittelbare 
Ursache  aller  dieser  Veränderungen  zu  sein". 

Welches  ist  aber  dieses  tätige  Subjekt?  „Die  nächste 
Antwort  scheint  zu  lauten:  Das  wollende  Subjekt  in  uns  ist  unser 
eigenes  Ich".  Doch  diese  Antwort  bedeutet  für  Wundt,  „beim  Lichte 
betrachtet",  nichts  mehr  als  einen  anderen  Ausdruck  für  das  wollende 
Subjekt  selbst.  Somit  hängt  die  Antwort  auf  die  gestellte  Frage 
davon  ab,  „genauer  zu  bestimmen,  w^as  das  Ich  sei".  Durch  eine 
abermalige  Analyse   der  Willenshandlungen   gelangt  W^undt   zu  dem 

M  System  P  31. 
»)  3.  Aufl.  252  ff. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  311 


'» 


Ergebnis,  dass  das  Ich  „der  an  das  Wollen  gebundene  Kom- 
plex von  Gefühlen"  ist  und  zwar  der  Gefühle,  die  die  bereits 
erwähnten  „charakteristischen  Bestandteile  der  Willensvorgänge"  sind. 
,,Auf  diese  Weise  ist  das  Wollen  eine  Tätigkeit,  bei  der  das 
handelnde  Subjekt  und  die  von  ihm  ausgeführten  Hand- 
lungen überhaupt  gar  nicht  von  einander  gesondert 
werden  können,  weil  das  Subjekt  selbst  in  nichts  anderem  be- 
steht, als  in  einem  Teil  der  Vorgänge,  die  wir  zugleich  als  seine 
Handlungen  auffassen". 

Diese  Ausführungen  Wundts  gilt  es  nun  im  folgenden  ein  wenig 
näher  zu  beleuchten. 

IV. 

Die  Gefühle  sind  nach  Wundt  als  Bestandteile  eines  vollständigen 
Willensvorganges,  in  denen  sich  das  Wollen,  ehe  es  aktuell  wird, 
als  Willensrichtung  ankündigt,  bestimmte  psychische  Vorgänge  (Wundt 
spricht  freilich  auch  wohl  von  Zuständen,  obgleich  er,  streng  ge- 
nommen, nur  psychische  Vorgänge,  nur  ein  immerwährendes  seeli- 
sches Geschehen  anerkennt).  Diese  Gefühlsvorgänge  können,  wenn 
sie  nicht  abklingen  oder  durch  andere  Gefühle  verdrängt  werden, 
zu  Willensakten  sich  entwickeln.  Auf  jeden  Fall  sind  sie  nach 
Wundts  Ansicht  Tätigkeiten,  die  unter  Umständen  in  ihrem  wei- 
teren Verlauf  Willenstätigkeiten  werden  können.  Das  letztere  können 
sie  aber  nur  unter  Einwirkung  eines  tätigen  Subjekts.  Streng 
genommen,  ergibt  sich  die  Frage  nach  dem  tätigen  Subjekt  freilich 
schon  vorher  als  die  Frage  nach  dem  fühlenden  Subjekt.  Aber 
abgesehen  davon,  erwartet  man  wenigstens  auf  die  von  Wundt  ge- 
stellte Frage  nach  dem  wollenden  Subjekt,  das  die  Gefühle  zum 
Uebergang  in  Willenstätigkeit  veranlasst,  eine  befriedigende  Antwort, 
in  der  dies  Subjekt  jedem  logischen  Gedankengange  zufolge  als 
von  den  Gefühlen  verschieden  erklärt  wird.  Denn  deutlich 
lautet  Wundts  Frage:  ,,Was  ist  es,  das  zu  dem  Gefühl  hinzu- 
kommen muss,  damit  aus  ihm  ein  Wollen  hervorgehe?"  Deutlich 
gibt  Wundt  auch  die  nächste  Antwort  darauf:  ,,Was  hinzukommen 
muss,  ist  die  Beziehung  auf  ein  tätiges  Subjekt".  Folgerichtig  stellt 
er  auch  noch  die  entscheidende  andere  Frage:  „Was  ist  dieses 
tätige  Subjekt?"  Und  jetzt,  wo  man  mit  Spannung  die  Antwort 
erwartet,  da  erfolgt  der  überraschende  Salto:  Das  Subjekt  sind 
die  Gefühle  selbst;  es  ist  von  der  Tätigkeit  überhaupt 
nicht  verschieden.  Tätigkeit  ohne  ein  von  ihr  verschiedenes 
tätiges  Subjekt  ist  zwar  auch  für  Wundt  zunächst  etwas  Begriffs- 
widriges,  ein  tätiges  Subjekt  für  jede  Tätigkeit  folglich  etwas  durchaus 
Denknotwendiges,  was  Wundt,  um  alle  Zweifel  an  der  Wahrheit 
dieses  Satzes  zu  beheben,  durch  die  erwähnten  Beispiele  aus  der 
Physik  erhärtet.  Allein  wo  es  für  ihn  gilt,  die  erste  praktische  An- 
wendung von  diesem  Denkgesetz  zu  machen  und  das  Subjekt  der 
Willenstätigkeit  aufzuweisen,  wo  es  gilt,  den  Gedanken,  den  er  richtig 


312  E.  Grünholz. 

einleitet,  auch  folgerichtig  zu  Ende  zu  denken  und  der  unabweis- 
baren und  unabänderlichen,  von  jedem  objektiven  Denken  zuge- 
standenen Tatsache  von  der  Existenz  eines  selbständigen  tätigen 
Seelen  Wesens  zuzustimmen  —  denn  die  experimentellen  psycho- 
phvsiologischen  Fragen  nach  dem  Verhältnis  der  Empfmdungsstärke 
zu  den  Reizstärken,  nach  den  Intensitätsschwankungen  der  Herz- 
und  Pulsbewegungen  bei  den  verschiedeuen  Gefühlsregungen,  nach 
der  Anzahl  der  im  Bewusstsein  festgehaltenen  Taktreihenglieder 
u.  dgl.  m,  sind  doch  nur  von  untergeordneter  Bedeutung  gegenüber 
dieser  Kardinalfrage  — :  da  erklärt  er  die  Tätigkeit  selbst 
als  das  sie  verursachende  tätige  Subjekt,  identifiziert 
mit  anderen  Worten  die  Wirkung  mit  der  Ursache,  ent- 
sprechend der  Ungereimtheit,  die  man  beginge,  wenn  man  auf  physi- 
kalischem Gebiete  etwa  die  Gesamtheit  (den  Komplex)  der  Flügel- 
schläge einer  Windmühle  als  die  Ursache  für  die  Bewegungen  der 
Windmühlenflügel  erklären  wollte.  So  begeht  Wundt  hier  einen  im 
Hinblick  auf  seine  wissenschaftliche,  repräsentative  Autorität  unbe- 
greiflichen folgenschweren  Gedankenfehler,  der  als  klassischer  Typus 
für  seinesgleichen  gelten  und  zugleich  als  vorzügliches  Beispiel  für 
die  oben  aufgestellte  Behauptung  dienen  kann,  dass  es  sehr  wohl 
ein  Denken  gibt,  das  Zustimmung  erfordert,  dem  der  Wille  aber 
gleichwohl  die  Zustimmung  zu  versagen  vermag. 

Allerdings  versucht  Wundt  an  anderer  Stefle  sich  gegen  einen 
solchen  schweren  wissenschaftlichen  Vorwurf  zu  schützen,  indem  er 
für  das  Gebiet  des  willkürlichen  Denkens  eine  sogenannte  „logische 
Kausalität"  konstruiert,  deren  unterscheidendes  Merkmal  darin 
liegen  soll,  „dass  bei  ihr  aus  gegebenen  Bedingungen  eine  Folge 
nicht  notwendig  gezogen  werden  muss,  sondern  dass  es  unserem 
Denken  freisteht,  ob  es  tätig  sein  will  oder  nicht"  ^).  Ueber  diese 
logische  KausaUtät  urteilt  aber  bereits  der  Herbartianer  Otto  FlügeP) 
folgendermassen :  „Es  ist  bekannt,  dass  ein  Denker  oft  beim  besten 
Willen  und  der  grössten  Selbstkritik  nicht  alle  Konsequenzen  zieht, 
zu  denen  er  die  Prämissen  zugegeben  hat,  oder  die  Widersprüche 
.  nicht  bemerkt,  in  denen  er  sich  bewegt  —  das  ist  dann  subjektive 
Schwäche  des  einzelnen.  Aber  hier  scheint  diese  Schwäche,  die 
willkürhch  die  notwendigen  Folgerungen  aus  den  Prämissen  nicht 
ziehen  will,  als  das  Normale  hingestellt  zu  werden,  als  eine  Frei- 
heit des  Denkens,  die  kaum  etwas  anderes  als  WiUkür  bedeutet, 
gegen  welche  natürlich  die  Wissenschaft  nicht  streiten  kann". 

Es  ist  stets  ein  bedenkliches  Zeichen  für  die  Unhaltbarkeit  einer 
Theorie,  wenn  sie  sich  gezwungen  sieht,  zur  Erklärung  neuer  Tat- 
sachen neue  Voraussetzungen  zu  hypostasieren.  Als  klassisches 
Beispiel  aus  der  Geschichte  der  Physik  kann  Newtons  Lichthypothese 
gelten,  die  bei  jeder  neuen  optischen  Erscheinung,  wie  sie  seit  dem 

»)  Logik  I'^  627. 

*)  Ueber  Wundls  Erkenntnislehre,  Zeitschrift  für  exakte  Philosophie,  XII, 
1883,  52. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  313 

17.  Jahrhundert  in  drängender  Aufeinanderfolge  bekannt  wurden, 
immer  neue  und  immer  mehr  gezwungene  Annahmen  für  die  ver- 
meintlichen Lichtmoleküle  machen  musste,  bis  sie  schliesslich  unter 
der  Wucht  der  einstürmenden  Tatsachen  zusammenbrach.  Auch  für 
Wundts  Philosophie  ist  es  kein  empfehlendes  Charakteristikum,  dass 
er  sich  gezwungen  sieht,  zur  Erklärung  der  psychischen  Tatsachen, 
wie  sie  von  ihm  versucht  wird,  bekannte  und  bewährte  Grund- 
begriffe der  Philosophie,  wie  den  Kausal-  und  den  Sub.stanzbegriff, 
das  Bewusstsein  u.  a.,  für  seine ,  Ansichten  zurechtzustutzen  und  zu 
modifizieren.  Welche  Konsequenzen  dies  Verfahren  nach  sich  zieht, 
zeigt  bereits  die  Kritik  seiner  voluntaristischen  Grundhypothese,  dass 
das  Denken  Wollen  sei;  statt  nämlich  die  subjektiven  Tätigkeiten 
des  Denkens  und  des  Wollens  folgerichtig  als  Tätigkeiten  eines  von 
ihnen  verschiedenen  selbständigen  Seelenwesens  anzuerkennen,  be- 
zeichnet er  vielmehr  den  Willen  fälschlich  als  das  Subjekt  dieser 
Tätigkeiten,  dass  es  dann  nicht  mehr  befremdend  erscheint,  wenn 
das  Denken  als  Tätijrkeit  dieses  subjektivierten  Willens  selbst  ein 
Wollen  ist :  „Unser  Ich  ist  unser  Wollen"  ^).  Doch  was  ist,  beim 
Lichte  betrachtet,  das  Wundtsche  Ich? 

V. 

Wundts  Ichbegriff  ist,  wie  schon  oben  kurz  erwähnt,  nichts 
anderes,  als  der  Zusammenhang  aller  Empfindungen  und  Gefühle, 
die  einen  Willens-  oder  Apperzeptionsakt  begleiten  ^).  Indem  ,, diese 
Elemente  neben  ihrer  stetigen  Veränderlichkeit  zugleich  einen  stetigen 
Zusammenhang  .  .  .  darbieten,  fassen  wir  das  wollende  Subjekt  als 
ein  bei  allen  seinen  Veränderungen  dauerndes  auf".  So  entsteht 
für  Wundt  der  Begriff  des  Ich,  der  für  sich  allein  genommen,  voll- 
kommen inhaltsleer  ist,  und  der  „in  Wirkhchkeit  nichts  anderes  ist, 
als  die  Art  und  Weise,  wie  die  Vorstellung; en  und  die  sonstigen 
seelischen  Vorgänge  zusammenhängen".  Dass  wir  dieses  Ich  als 
Subjekt  zu  unseren  inneren  Vorgängen  hinzudenken,  ergibt  sich  nach 
Wundt  —  obgleich  ihm  selbst  ursprünglich  ein  solches  Subjekt  eine 
Denknotwendigkeit  ist  —  aus  einer  ,, Analogie  mit  den  Gegen- 
ständen, die  wir  trotz  des  Wechsels  ihrer  Eigenschaften  als  die 
nämlichen  auffassen,  weil  sich  all  dieser  Wechsel  zeitlich  wie  räum- 
lich in  stetigen  Uebergängen  vollzogen  hat".  Ein  „beharrendes  Sein" 
in  diesen  Dingen  gibt  es  nicht.  Die  räumlichen  Dinge  sind  vielmehr 
für  Wundt,  wie  er  an  anderer  Stelle  näher  ausführt  ^),  nichts  anderes, 
als  „ein  bestimmter  Komplex  von  Eigenschaften  und  Zuständen", 
die  sich  ,,mit  einer  gewissen  Konstanz"  zusammenfinden.  Diese  be- 
steht in  der  ,, räumlichen  Selbständigkeit"  und  der  ,, zeitlichen  Stetig- 
keit" der  Erscheinungen.  Gleichwohl  sind  diese  Bedingungen  bloss 
relativer  Art.     Ein   vollkommen    zureichendes    objektives    Kriterium 

1)  System  P  375. 

0  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tierseele  ^  274  ff. 

3)  Logik  P  461  ff. 


314  E.  Grünholz. 

für  ein  Ding  gibt  es  nicht;  „die  Frage,  ob  ein  Gegenstund  sei  oder 
nicht  sei,  wird  also  schliesslich  stets  durch  einen  Machtspruch  un- 
seres Denkens  entschieden".  Die  Fähigkeit  dazu  besitzt  aber  das 
Denken  vermöge  der  „Einheit  der  Apperzeption"  d.  h,  der  „Selbst- 
sländigkeit  und  Stetigkeil  unseres  denkenden  Selbstbewus.stseins". 
,,Da  wir  nun",  so  fährt  Wundt  an  der  früher  zitierten  Stelle  fort, 
,,ohne  die  Stetigkeit  unseres  Seelenlebens  die  Stetigkeit  der  objektiven 
Dinge  nicht  zu  erkennen  vermöchten,  so  ist  denn  freilich  in  diesem 
Wechselspiel  der  Entwicklungen  das  Ich  sowohl  Ursache  wie 
Wirkung.  Der  Zusammenhang  der  seelischen  Vorgänge,  der  sich 
uns  in  dem  Begriff  des  Ich  verdichtet,  ermöglicht  die  Unterscheidung 
der  Gegenstände  von  ihren  wechselnden  Eigenschaften,  und  diese 
Unterscheidung  hinwiederum  macht  uns  geneigt,  jenem  Begriff  selbst 
einen  dinglichen  Wert  beizulegen".  Indem  nun  unser  Körper,  an 
den  in  unserer  W^ahrnehmung  das  Ich  gebunden  ist,  selbst  ein 
äusseres  Ding  ist,  wird  das  Ich  zunächst  ,,ein  Mischprodukt  aus 
äusserer  Wahrnehmung  und  inneren  Erlebnissen :  es  ist  der  Körper 
mit  den  an  ihn  gebundenen  seelischen  Vorgängen  —  so  lange  bis 
die  Reflexion  diese  Einheit  zerstört,  worauf  nun  aber  immerhin  ein 
blasses  Abbild  jener  das  sinnliche  Ich  begleitenden  Dingvorstollung 
erhalten  bleibt".  Dies  blasse  Abbild  jenes  Mischproduktes,  das  stets 
in  der  , .praktischen  Lebensanschauung  mit  ihrer  naiven  Sinnlichkeit 
die  Herrschaft  führt",  nennt  Wundt  —  das  Selbstbewusstsein. 

Eine  Kritik  dieser  Ausführungen,  soweit  sie  den  Dingbegriff  be- 
treffen, zeigt  zunächst,  wie  Wundt  sich  schon  bei  der  Definition 
eines  räumlichen  Gegenstandes  gezwungen  sieht,  mit  Bücksicht  auf 
seinen  Seelen-  und  Substanzbegriff  dem  Dingbegriff  Gewalt  anzutun 
und  ein  „beharrendes  Sein"  in  den  Dingen  zu  leugnen,  das,  wie 
Kant  sagt'),  ,,zu  allen  Zeiten  nicht  bloss  der  Philosoph,  sondern 
selbst  der  gemeine  Verstand  als  ein  Substratum  alles  Wechsels  der 
Erscheinungen  vorausgesetzt  haben  und  auch  jederzeit  als  unge- 
zweifelt  annehmen  werden".  Dies  Substrat,  um  dessen  Begriff  Wundt 
trotz  der  unvermeidlichen  Widersprüche,  die  sich  daraus  ergeben, 
so  gern  herum  möchte,  kann  das  Denken  in  Wirklichkeit  erst  dazu 
zwingen,  den  Begriff  des  objektiven  Dinges  zu  vollziehen,  das 
sich  ihm  vermöge  der  ,, Einheit  der  Apperzeption"  als  ein  einheit- 
liches Ganzes  zu  erkennen  gibt.  Der  Substanz  begriff  ist  es 
somit  ganz  und  gar  erst,  der  den  Grund  für  die  reale  Existenz 
eines  Dinges  ausser  uns  abgibt,  und  dieser  Begriff  kann  nnr  dann 
fehlen,  wenn  man  den  Dingen  eben  nicht  auf  den  Grund  geht,  sondern 
sich  gleich  der  Assoziationspsychologie  und  Aktualitätstheorie  mit 
einer  deskriptiven  Behauptung  ihrer  Eigenschaften  und  Zustände  zu- 
frieden gibt,  wie  die  positivistische  Philosophie  es  will. 

Beachtenswerter  für  die  vorliegende  Untersuchung  ist  der  Zirkel, 
m  dem  Wundt  sich   in   seiner   Entwicklung   des  Ichbegriffs  bewegt. 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Relclamausgabe,  176. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  315 

Um  die  Entstehung  des  Dingbegriffs  zu  erklären,  appelliert  er  an 
einen  „Machtspruch  unseres  Denkens"  und  die  Einheit  unseres 
denkenden  Selbstbewusstseins.  Umgekehrt  dagegen  sieht  er  sich  für 
die  Entwicklung  des  letzten  Begriffes  gezwungen,  zu  einer  „Analogie 
mit  den  Gegenständen"  seine  Zuflucht  zu  nehmen  und  die  „Stetigkeit 
unseres  Seelenlebens"  durch  die  ,, Stetigkeit  der  objektiven  Dinge" 
zu  erklären.  Dass  bei  einem  solchen  Verfahren  beide  Begriffe 
ihren  Halt  verlieren,  und  er  für  beide  den  Beweis  schuldig  bleibt, 
leuchtet  ihm  freilich  nicht  ein.  Vielmehr  schlägt  er  in  wohl  erkenn- 
barer Absicht  den  gangbareren  Weg  ein,  in  einem  ,, Wechselspiel 
der  Entwicklungen"  ein  Zerrbild  des  natürlichen  Ichbegriffs 
zu  entwerfen,  von  dem  er  dann  billigerweise  behaupten  kann,  dass 
es  „sowohl  Ursache  wie  Wirkung"  ist.  Doch  dieser  Pfeil  richtet 
sich  nach  den  vorhergehenden  Ausführungen  verhängnisvoll  gegen 
den  Schützen  selbst. 

VI. 

Noch  ein  drittes  Mal  —  vmd  damit  wenden  sich  diese  Aus- 
führungen zum  Ausgangspunkte  zurück  —  begegnet  uns  der  von 
Wundt  begangene  Fehler  in  seinen  ,, Vorlesungen  über  die  Menschen- 
und  Tierseele"  bei  der  Behandlung  der  intellektuellen  Pro- 
zesse und  ihrer  unterscheidenden  Merkmale '  .  Auch  für  diese 
Vorgänge  ist  nach  Wundt  das  nächste  Merkmal,  wie  bereits  mehr- 
fach erwähnt,  das  begleitende  Gefühl  der  Tätigkeit.  Die.se  Tätig- 
keit ist  hier  aber  für  Wundt  wieder  genau  dieselbe,  wie  die  Willens- 
tätigkeit. „In  der  Tat",  sagt  er,  „fällt  vermöge  dieser  subjektiven 
Merkmale  (der  Tätigkeit  und  des  Tätigkeitsgefühls)  die  intellektuelle 
Tätigkeit  unmittelbar  unter  den  Begriff  der  freiwilligen  inneren 
Handlung  oder  der  aktiven  Apperzeption,  und  in  diesem  Sinne 
können  daher  die  intellektuellen  Prozesse  vom  rein  psychologischen 
Standpunkte  aus  auch  als  apperzeptive  Vorstellungsver- 
bindungen von  den  Assoziationen  unterschieden  werden.  Dabei 
darf  man  freilich  hier  so  wenig  wie  oben  unter  einer  freiwilligen 
oder  willkürlichen  Tätigkeit  eine  ursachlose  Handlung  verstehen, 
sondern  jener  Ausdruck  hat  nur  die  Bedeutung,  dass  es  sich  um 
Veränderungen  im  Bewusstsein  handelt,  die  wir  nicht  auf  vereinzelte 
Vorstellungsverbindungen,  sondern  auf  die  vereinigte  Total- 
wirkung aller  in  uns  vorhandenen  Anlagen,  also  in  letzter 
Instanz  auf  die  gesamte  zurückliegende  Bewusstseins- 
entwicklnng  zurückführen.  Insofern  wir  das  Besultat  dieser 
Gesamtentwicklung  unser  Ich  nennen,  betrachten  wir  daher 
dieses  Ich  als  die  Ursache  aller  intellektuellen  Vorgänge". 

Eine  nähere  Kritik  dieser  Ausführungen  folgt  weiter  unten.  Un- 
mittelbar leuchtet  ein,  dass  auch  hier  der  falsche  Ichbegriff  die  Ur- 
:.:'/:h.3  ::-'.  dass  Wundt  das  Denken  in  zu  engem  Sinne  lediglich  als 
Willkürhandlung  hinstellt.   In  Wirklichkeit  wird  durch  einen  objektiv 

0  Vorlesungen^  355. 


316  E.  Grünholz. 

richtigen  Begrifl'  des  Ich  zunächst  nur  der  subjektive  Charakter  der 
Denktätigkeil  erhärtet  und  das  Subjekt  dieser  Tätigkeit  als  ein  von 
ihr  unterschiedenes  selbständiges  reales  Seele nvvesen  be- 
stimmt, dessen  Existenz  aus  den  in  uns  angetroffenen  inneren  Er- 
lebnissen unzweifelhaft  und  mit  zwingender  Notwendigkeit  resultiert. 

Das  Denken  ist  also  —  das  ist  das  Ergebnis  der  bisherigen 
Untersuchung  —  subjektive  Tätigkeit.  Aus  diesem  Merkmal 
folgt  aber  nicht,  dass  das  Denken  identisch  mit  der  Willenstätigkeit 
ist.  Ebensowenig  folgt  ferner  daraus,  dass  das  Denken,  wie  Wundt 
als  zweites  Merkmal  dafür  angibt,  selbstbewusste  Tätig- 
keit ist. 

Wundt  leitet  dies  zweite  Merkmal  des  Denkens  lediglich  aus 
der  Beziehung  der  Denktätigkeit  auf  das  wollende  Ich  her^).  Sein 
IchbegrifT  hat  sich  aber  als  unzulänglich  erwiesen.  Damit  wird  auch 
sein  Beweis  für  das  zweite  Merkmal  des  Denkens  hinfällig  und  dieses 
auf  das  erste  Merkmal  subjektiver  Tätigkeit  reduziert. 
Doch  damit  ist  die  Frage,  ob  das  Denken  selbstbewusste  Tätigkeit 
ist,  selber  noch  nicht  entschieden. 

VII. 

Ist  das  Denken  selbstbewusste  Tätigkeit?  So  gewiss 
es  ist,  dass  jedes  selbstbewusste  Subjekt  ein  denkendes  Subjekt,  wie 
umgekehrt  jedes  denkende  Subjekt  ein  selbstbewusstes  Subjekt  ist, 
so  wenig  folgt  daraus,  dass  das  selbstbewusste  Subjekt  sich  auch 
seiner  psychischen  Tätigkeiten  oder  auch  nur  immer  des  Inhalts 
dieser  Tätigkeiten  bewusst  ist,  und  so  unrichtig  erweist  sich 
darum  schon  die  Behauptung  Wundts,  dass  alles  Denken  selbst- 
bewusste Tätigkeit  ist,  einfach  durch  die  Tatsache,  dass  es  auch  ein 
unbewusstes  Denken  gibt,  d.i.  ein  Denken,  dessen  sich  das 
denkende  Subjekt  während  des  Denkens  selbst  nicht  bewusst  ist, 
sondern  das  ihm  entweder  gar  nicht  oder  erst  nachträglich  durch 
irgend  einen  Umstand  in  das  Bewusstsein,  besser  in  die  Erinnerung 
kommt. 

Wundt  freilich  spottet  über  die  Annahme  eines  „Unbewussten" ; 
er  nennt  das  Bewusstsein  nach  dieser  Auffassung  eine  Art  „Schau- 
bühne, auf  der  unsere  Vorstellungen  abwechselnd  als  die  handelnden 
Personen  auftreten,  hinter  den  Coulissen  verschwinden  und,  sobald 
ihr  Stichwort  kommt,  wieder  erscheinen'';  er  nennt  diese  An- 
schauungsweise so  geläufig,  „dass  manche  Psychologen  und  Philo- 
sophen es  für  viel  wichtiger  halten,  zu  erfahren,  was  hinter  den 
Coulissen,  im  Unbewussten  vor  sich  geht,  als  was  sich  im  Bewusst- 
sein ereignet"^). 

Allein  diese  Kritik  ist  von  derselben  Weise  und  Wirkung,  wie 
die  des  „hölzernen  Seelenatoms",  des  ,, isolierten,  starren  Wirklich- 
keitsklötzchens", womit  Paulsen  die  Seelensubstanz  bezeichnet,  und 

')  System  P  31  f. 
")  Vorlesungen^  260. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  317 

sie  erweist  sich  nach  den  Worten  eines  ernsten  und  ehrhchen 
Denkers,  wie  Oswald  Külpe  ^)  es  ist,  als  ein  wohlfeiler  Kampf  gegen 
die  von  dem  Kritiker  selbstgeschaffene  Anschauungsweise.  Neljenbei 
kann  Wundt  selber  Ausdrücke  wie  „Schwelle  des  Bewusstseins", 
„Ein-  und  Austritt  aus  dem  Bewusstsein"  ganz  und  gar  nicht  ent- 
behren, wenn  er  sie  auch  als  „bildliche  Redeweisen^'  bezeichnet, 
„die  zur  kurzen  Bezeichnung  gewisser  Tatsachen  der  inneren  Er- 
fahrung nützlich  sind,  in  denen  man  aber  niemals  eine  Beschreibung 
der  Tatsachen  selber  erbhcken  darf"-).  Und  doch -kann  Wundt 
z.  B.  nicht  umhin,  von  „merklichen"  und  „unmerklichen  Empfindungen" 
zu  sprechen,  d.  h.  solchen  Empfindungen,  „die  von  uns  aufgefasst 
werden",  und  solchen,  ,,die  wir  nicht  wahrnehmen,  ...  die  wir  nicht 
aufzufassen  imstande  sind"  3).  Nun  besteht  das  Bewusstseiri  nach 
Wundt  ,. lediglich  in  der  Tatsache,  dass  wir  innere  Erfahrungen 
machen,  Vorstellungen,  Gefühle,  Willensregungen  in  uns  wahrnehmen". 
„Alle  diese  Vorgänge  sind  uns  bewusst,  insofern  wir  sie  haben ;  sie 
sind  uns  nicht  bewusst,  wenn  wir  sie  nicht  haben"  ^).  Eine  Empfindung 
aber,  die  wir  nicht  walirnehmen,  haben  wir  auch  nicht,  folglich  sind 
wir  uns  ihrer  auch  nicht  bewusst.  Und  doch  wird,  wie  Wundt 
selber  zugesteht,  „die  wissenschaftliche  Reflexion  zu  dem  Schlüsse 
gedrängt,  dass  es  Empfindungen  .  .  .  geben  muss,  die  wir  nicht  als 
solche  wahrnehmen,  .  .  .  deren  Dasein  wir  aber  voraussetzen  müssen, 
um  die  wahrgenommenen  Empfindungen  zu  erklären"^).  Existieren 
aber  solche  nicht  wahrgenommenen,  also  unbewussten  Empfindungen 
in  der  Tat,  wo  ist  da  noch  ein  Grund,  die  Existenz  eines  Unbe- 
wussten zu  leugnen  ?  Wenn  Wundt  dagegen,  um  aus  diesem  Dilemma 
herauszukommen,  in  dem  angeführten  Beispiel  sich  damit  hilft,  dass 
er  den  Begriff  der  Empfindung  allgemein  sowohl  für  die  merklichen, 
als  auch  für  die  nicht  merklichen  Empfindungen  gebraucht  und  nur 
gelegentlich  beide  Arten'  auseinanderhält,  dann  verschleiert  er  ent- 
weder damit  nur  den  festgestellten  Tatsachenbestand,  oder  aber  er 
dehnt  auch  den  Begriff  des  Bewusstseins  über  die  erwähnten  unbe- 
wussten Vorgänge  aus,  die  zwar  objektiv  vorhanden,  aber  als  solche 
für  das  Subjekt  nicht  vorhanden,  weil  nicht  wahrnehmbar  sind, 
hl  keinem  Falle  hat  er  freilich  dann  ein  Recht,  unbewusste  psychische 
Vorgänge  zu  leugnen. 

VIII. 

Von  den  vielen  grossen  Denkern  aus  älterer  und  neuerer  Zeit, 
die  für  die  Tatsächlichkeit  eines  unbewussten  Seelenlebens  eintreten, 
seien  hier  nur  I^eibniz  und  der  eigentliche  Philosoph  des  Unbewussten, 
Eduard  von  Hartmann  genannt.  So  phantastisch  sieh  auch  im  ein- 
zelnen die  Leibnizsche  Monadenlehre  ausnimmt,  ihre  Grundgedanken, 

0  Einleitung  in  die  Philosophie  *  279. 

■)  Vorlesungen  ='  263.  —  »)  Vorlesungen'  49  f. 

*)  Vorlesungen»  263.  —  ^)  Vorlesungen ^  49  f. 


318  ß.  Grünholz. 

die  u  a.  für  die  niederen  Monaden  ein  unbewusstes  Seelenleben  an- 
nehmen, sind  jedenfalls  einer  besseren  Kritik  wert,  als  Wundt  ihnen 
angedeihen  lässt;  und  die  zahlreichen  konkreten  Einzelfälle,  die  Ed. 
V.  Hartmann  zur  Begründung  seiner  Annahme  eines  unbewussten 
Seelenlebens  anführt  und  denen  er  seine  grösste  Sorgfalt  zuwendet, 
weil  auf  dieser  Grundlage  sein  metaphysisches  Gebäude  ruht,  sind 
niciit  einfacli  mit  Wundts  spöttischer  Bemerkung  ,, hinler  den  Cou- 
lissen"  abgetan. 

Gerade  Hartmann  weist  eine  solche  naive  Deutung  des  Unbe- 
wussten, wie  Wundt  sie  den  Vertretern  dieser  Anschauungsweise 
unterzuschieben  beliebt,  entschieden  zurück.  „Das  Unbewusste", 
sagt  er^),  ,,ist  nicht  als  ein  LJntergeschoss  odei  Keller  des  Bewusst- 
seins  zu  verstehen,  in  welchen  der  Bewusstseinsinhalt  unter  Ab- 
streifung der  ßewusstseinsform  versinkt,  um  gelegentlich  wieder 
hervorzutreten.  Das  Unbewusste  ist.  kein  Taubenschlag,  aus  dem 
die  \'orstellungen  wie  Tauben  aus-  und  wieder  einfliegen,  und  je 
nachdem  bewusst  oder  unbewusst  heissen.  Denn  der  Bewusst- 
seinsinhalt ist  nicht  von  der  Be wusstseinsform  zu 
trennen,  weil  beide  als  koordinierte  Wirkungen  gemeinsamer  Ur- 
sachen gleichzeitig  entstehen  und  vergehen". 

Hartmann  weist  des  ferneren  eingehend  nach,  dass  der  Aus- 
druck „Denken  gleich  bewusste  Tätigkeit"  sogar  einen  Widerspruch 
enthält.  Hartmann  unterscheidet  zwischen  psychischen  Phäno- 
menen und  psychischer  Tätigkeit.  Erstere  sind  immer  be- 
wusst, ,,eben  weil  sie  psychische  Phänomene  oder  Erscheinungen  sind; 
darin,  dass  sie  einer  Psyche  erscheinen,  darin  besteht  eben  ihr 
Bewusstwerden  .  .  .  Wären  das  Wollen  und  das  Denken  psychische 
Phänomene,  so  gäbe  es  weder  unbewusstes  Wollen  noch  unbewusstes 
Denken.  Wer  das  Wollen  in  einem  bestimmten  Komplex  von  Vor- 
stellungen, Empfindungen  und  Gefühlen  bestellend  glaubt,  hat  ganz 
recht,  unbewusstes  Wollen  zu  leugnen,  weil  das,  was  er  mit  dem 
Namen  » Wollen  <  belegt,  lediglich  ein  psychisches  Phänomen  und 
als  solches  notwendig  bewusst  ist  .  .  .  Ueber  die  Möglichkeit  unbe- 
wussten Wollens  lässt  sich  erst  dann  reden,  wenn  man  anerkennt,  dass 
die  charakteristischen  Merkmale  von  Vorstellungen,  Empfindungen 
und  Gefühlen  rmr  phänomenale  Bewusstseinsrepräsentanten 
einer  ausser bewussten  psychischen  Tätigkeit  sind  .  .  .  und  dass 
erst  jene  hinterbewusste  psychische  Tätigkeit  das  ist,  was  mit  dem 
Worte  Wollen  eigentlich  gemeint  ist  .  .  .  So  ist  auch  über  die  Mög- 
lichkeit unbewussten  Denkens  erst  dann  zu  verhandeln,  wenn  man 
anerkennt,  dass  die  aufeinanderfolgenden  bewussten  Vorstellungen  nur 
die  phänomenalen  Fussstapfen  sind,  welche  das  ausser- 
bewusste  Fortschreiten  der  Tätigkeit  hinterlässt,  oder 
die  Reflexe,  die  es  etappenweise  ins  Bewusstsein  hineinwirft". 


')  Philosophie  des  Unbewussten  "  Vorwort  XXXIV. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  319 

IX. 

Psychische  Tätigkeiten  sind  also  nach  Hartmann  absolut  unbe- 
wusste  Tätigkeiten,  die  als  solche  „in  kein  Bewusstsein  fallen  und 
von  keinem  zu  belauschen  sind,  wenngleich  ihre  Produkte,  sofern 
sie  psychische  Phänomene  sind,  in  ein  Bewusstsein  fallen  müssen"; 
und  Hartmann  bezeichnet  es  als  eine  Täuschung,  wenn  man  in  dem 
Wechsel  und  der  Wandlung  der  psychischen  Phänomene,  die  ihre 
Produkte  sind,  die  Tätigkeiten  selbst  unmittelbar  wahrzunehmen 
glaube,  auf  die  man  höchstens  aus  ihren  Produkten  zurückschhesstM. 

Nun  wollen  in  der  Tat  neuerdings  die  experimentellen  Unter- 
suchungen der  Würzburger  Schule,  über  deren  wichtigste  Ergebnisse 
Geyser  berichtet  ^j,  u.  a.  zu  dem  Resultat  gekommen  sein,  dass  bei 
den  Versuchspersonen  auch  „das  Bewusstsein  der  Aktivität 
beim  Urteilen"  vorhanden  war,  „das  sie  am  deuthchsten  in  Form 
einer  auf  eine  anfängliche  Zurückhaltung  erfolgenden 
inneren  Entscheidung  erlebten".  Aber  es  leuchtet  nach  dem 
vorhergehenden  ohne  weiteres  ein,  dass  die  betreffenden  Personen 
unmittelbar  nur  die  Gefühle  der  „anfänghchen  Zurückhaltung"  und 
der  darauf  folgenden  „inneren  Entscheidung'^  oder  Gewissheit  als 
bewusste  „psychische  Phänomene"  erlebten,  während  sie  die  Tat- 
sache der  „Aktivität"  selbst  erst  aus  diesen  Produkten  nachträglich 
erschlossen,  dass  sie  sich  also  in  einer  Täuschung  befanden,  wenn 
sie  diese  ,, phänomenalen  Bewusstseinsrepräsentanten"  der  psychischen 
Tätigkeit  bei  der  Beschreibung  ihrer  Erlebnisse  als  „Bewusstsein  der 
Aktivität"  zu  Protokoll  gaben. 

In  Wahrheit  gibt  sich  somit  wohl  die  Tatsache  des  Denkens 
durch  seine  Begleiterscheinungen  der  Vorstellungen,  Empfindungen 
und  Gefühle  dem  Bewusstsein  kund,  nicht  aber  unmittelbar  das 
eigentliche  Wesen  dieser  Tatsache,  die  Tätigkeit  des  Denkens  selbst; 
diese  wird  vielmehr  erst  aus  jenen  Tatsachen  erschlossen,  vs^enn  das 
denkende  Subjekt,  wie  auch  Wundt  es  tut,  über  sich  selbst  und  sein 
eigenes  Denken  nachzudenken  beginnt.  Es  gibt  also,  mit  anderen 
Worten,  wohl  ein  bewusstes  oder  auch  selbstbewusstes 
Denken,  wobei  das  denkende  Subjekt  sowohl  von  seinem  Denken 
--  dass  es  denkt  — ,  als  auch  von  sich  selbst  als  Subjekt  seiner 
Gedanken  weiss.  Aber  es  weiss  nicht  zu  gleicher  Zeit,  wie  es  denkt; 
es  gibt  somit  nicht,  wie  Wundt  behauptet,  für  uns  ein  Denken  als 
selbstbewusste  Tätigkeit,  denn  die  Denktätigkeit  ist  als  solche 
für  uns  niemals  ein  Erlebnis,  d.  h.  Inhalt  unmittelbarer  Erfahrung. 
Unmittelbarer  Bewusstseinsinhalt  ist  vielmehr  nur  die  blosse  Tat- 
sächlichkeit des  Denkens,  wie  sie  das  selbstbewusste  Subjekt  als 
spezifische  innere  Empfindung  erfährt,  und  weiter  nichts. 

X. 
^  Doch  nicht  die  Tätigkeit  des  Denkens  allein  ist  es,  die  für  das 
uchktndc  Subjekt  unbewusst  bleibt.    Es  gibt  auch  ein  unbewusstes 

')  A.  a.  0.  XXXV  f. 

^)  Lehrbuch  der  allgemeinen  Psychologie  (1908)  395  und  434  Anm. 


S20  E.  Grünholz. 

Denken,  d.  h.  ein  Denken,  dessen  Tätigkeit  nicht  nur,  sondern 
auch  dessen  Inhalt  für  das  denkende  Subjekt  während  des  Denkens 
unbewusst  bleibt.  Genaue  Selbstbeobachtung  niuss  diese  Tatsache 
anerkennen.  Erwähnt  sei  zAinächst  aus  der  älteren  Literatur  die 
Bemerkung  eines  Psychiaters  (Jessen,  Psychologie),  die  Ed.  v.  Hart- 
niann  ^)  anführt:  „Wenn  wir  mit  der  ganzen  Kraft  des  Geistes  über 
etwas  nachdenken,  so  können  wir  dabei  in  einen  Zustand  von  Be- 
wusstlosigkeit  versinken,  in  welchem  wir  nicht  nur  die  Aussenwelt 
vergessen,  sondern  auch  von  uns  selber  und  den  in  uns  sich  be- 
wegenden Gedanken  gar  nichts  wissen.  Nach  kürzerer  oder  längerer 
Zeit  erwachen  wir  dann  plötzlich  wie  aus  einem  Traum,  und  in 
demselben  Augenblick  tritt  gewöhnlich  das  Resultat  unseres 
Nachdenkens  klar  und  deutlich  im  Bewusstsein  hervor,  ohne 
dass  wir  wissen,  wie  wir  dazu  gekommen  sind". 

Ein  schönes  ähnliches  Beispiel  von  Selbstbeobachtung,  die  für 
das  seelische  Unbewusste  spricht,  führt  Geyser^)  an:  „Wenn  ich 
eine  geistige  Aufgabe  .  .  .  durchdenke,  so  beeinflussen  mich  die  erst 
kommenden  Gedanken  bereits,  ehe  sie  in  meinem  Bewusstsein  aktual 
sind,  beim  Niederschreiben.  Die  Art  dieser  Beeinflussung  durch  das 
vorwärts  gelegene  Unbewusste  kann  ich  schwer  beschreiben. 
Aber  dass  sie  stattfindet,  dass  sie  mich  die  Niederschrift  der  Sätze 
beginnen  lässt,  ehe  ich  sie  sprachlich  und  sachlich  ganz  ausgedacht 
habe,  und  mir  gleichwohl  das  Bewusstsein  des  Verständnisses  und 
des  Könnens  gibt,  das  ist  Tatsache". 

Geyser  berichtet  auch  über  die  Ergebnisse  der  bereits  erwähnten 
,, experimentell  psychologischen  Untersuchungen  über  das  Denken"  im 
Würzburger  psychologischen  Laboratorium,  die  diese  fundamentale 
Seite  des  psychischen  Problems  berühren  und  ,,die  Existenz  und 
Wirksamkeit  von  unbewusstem  Psychischen  als  eine 
experimentell  festgestellte  Tatsache"  bezeugen^). 

Wundt  freilich  will  ein  unbewusstes  Denken  nicht  anerkennen. 
Tatsachen,  wie  die  von  Geyser  erwähnte,  erklärt  er  als  ., Gesamt- 
vorstellungen in  unserem  Bewusstsein".  Wenn  wir  im  Begriffe  stehen, 
einen  verwickelten  Gedanken  auszusprechen,  so  steht  nach  Wundt*) 
zunächst  der  ganze  Gedanke  als  „Gesamtvorstellung"  in  unserem 
Bewusstsein.  Diese  ist  durchaus  nicht  mit  den  Urteilen  identisch, 
in  die  sie  sich  zerlegen  lasse.  „Vielmehr  können  wir  hier  deutlich 
wahrnehmen,  dass  zwar  vor  dem  Aussprechen  des  Gedankens  dieser 
als  Ganzes  schon  in  uns  liegt,  dass  aber  doch  die  einzelnen  Bestand- 
teile erst  in  dem  Masse  zu  klarem  Bewusstsein  erhoben  werden, 
als  wir  die  Zerlegung  wirklich  ausführen". 

Ganz  richtig;  nur  vergisst  Wundt  hierbei,  dass  auch  der  noch 
nicht  au.sgesprochene  Gedanke,  den  wir  als  Ganzes  in  uns  vor- 
finden, mit  allen  seinen  wesentlichen  Bestandteilen  in  der  cha- 
rakteristischen  Verbindung,    die   eben    den    betreffenden    Gedanken 

S  A.  a.  0.  277.  —  ^)  A.  a.  0.  175.  —  =»)  a.  a.  0.  77  f. 
*)  Vorlesungen^  350  ff. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  o21 

kennzeichnet,  bereits  auf  Grund  irgend  einer  psychischen  Funklioii 
entstanden  sein  muss,  die  sich  zwar  nicht  nälier  beschreiben  lässL, 
weil  sie  im  Bewusstsein  nicht  wurzelt,  die  aber  vorausgesetzt  werden 
muss,  wenn  überhaupt  nachträglich  eine  bewusste  Analyse  des  Ge- 
dankens möglich  sein  soll.  Diese  ausserbewu.sste  psychische  Funktion, 
die  den  Gedanken  als  Ganzes  schon  vor  unserem  Bewusstsein  ent- 
stehen lässt,  ist  eben  das  unbewusste  Denken. 

Die  sogenannten  ,, Gesamtvorstellungen"  Wundts,  die  sieh  von 
den  zusammengesetzten  Vorstellungen  dadurch  unterscheiden,  ,,dass 
die  Beziehungen  ihrer  Bestandteile  als  begriffliche  Bestimmungen 
aufgefasst  werden",  sind  demnach  nichts  anderes,  als  Ergebnisse 
unbewussten  Denkens,  wodurch  sich  gerade  das  menschhche 
Seelenleben  von  den  blossen  Assoziations Vorgängen  in  der  Tierpsyche 
wesenthch  unterscheidet.  Der  Eindruck  eines  roten  irlauses  z.  B. 
wird  bei  einem  Tier  immer  nur  eine  „zusammengesetzte  Ge.sichts- 
vorstellung"  erwecken,  die  zwar  auch  selbstverständlich  der  Mensch 
erfährt.  Aber  nur  dieser  ist  imstande,  daraus  weiter  die  sogenannte 
,, Gesamtvorstellung"  zu  bilden,  indem  er  die  rote  Farbe  von  der 
Vorstellung  des  Hauses  als  solcher  trennt.  Jetzt  wt>rden  aber  bereits, 
wie  Wundt  selbst  sagt,  „Eigenschaft  und  Gegenstand  be- 
grifflich gedacht  und  in  der  Gesamtvorstehimg  zu  einander  in 
Beziehung  gesetzt".  Dies  ,,In  Beziehung  setzen"  ist  darum  nichts 
anderes,  als  unbewusstes  Denken,  als  dessen  Ergebnis  hier 
zunächst  die  ,,Gesamtvorslellung"  resultiert,  die  dann  in  der  weiteren 
Analyse  zum  Begrift'e  führt. 

XI. 

Aus  den  vorhergehenden  Ausführungen  leuchtet  jetzt  auch  die 
Unzulänglichkeit  der  Begrilfserklärung  ein,  die  Wundt  für  die  in- 
tellektuellen Prozesse  gibt  (vgl.  Abschnitt  VI).  Diese  sind 
ihm  ledighch  freiwillige  innere  Handlungen,  apperzeptive  Vor- 
stellungsverbindungen, die  er  streng  von  den  unwillkürlichen  Vor- 
stellungsassoziationen ^unterscheidet.  Denken  vollzieht  sich  für  ihn 
nur  dort,  wo  der  Wille  bewusst  wirksam  wird;  in  allen  anderen 
Fällen  spricht  er  von  Assoziationen,  in  deren  „Mechanismus"  er 
sowohl  die  „vorbereitende  Werkstätte  des  Denkens",  als  auch  „die 
Bewahrerin  der  Erwerbungen  und  Ergebnisse  des  Denkens"  sieht  ^). 
Einmal  entstandene  apperzeptive  Gedankenverbindungen,  sagt  er-), 
gehen  selbst  wieder  in  Assoziationen  über,  und  dieser  Uebergang 
bildet  „einen  der  bedeutsamsten  Bestandteile  jener  mannigfachen 
Uebungsvorgänge,  durch  die  willkürliche  Handlungen,  die  ursprüng- 
lich mit  Absicht  und  Ueberlegung  zustande  kamen,  allmählich  ge- 
wohnheitsmässig  und  mechanisch  auf  bestimmte  äussere  Anlässe 
ausgeführt  werden".  So  zieht  sich  auch  „bei  den  intellektuellen 
Prozessen  die  aktive  Gedankenarbeit  mehr  und  mehr  auf  die  wesent- 

')  System  P  33. 
'^)  Vorlesungen*  356. 

Philosophisches  .lahrliucli  l'J13.  21 


322  E.  Grün  holz. 

liehen  Momente  des  Gedankenverlaufes  zurück,  während  unser  Denken 
über  alle  untergeordneten  Punkte  mit  Hilfe  logischer  Assozia- 
tionen hinweggleitet.  Je  geübter  das  Denken  wird,  um  so  zahl- 
reicher werden  diese  von  selbst  sich  darbietenden  Mittelglieder,  und 
um  so  energischer  kann  daher  die  eigentliche  Kraft  des  Denkens  auf 
die  entscheidenden  Punkte  sich  richten". 

So  also  wird  durch  Wundt  das  grosse  Geheimnis  unseres  eigenen 
,, Webermeisterstücks"  aufgedeckt,  wie  Goethe  so  schön  und  sinnig 
das  geheimnisvoll  verschlungene  Spiel  unserer  Gedanken  nennt: 

„Wo  ein  Tritt  tausend  Fäden  regt, 
Die  Schifflein  herüber  hinüber  schiessen, 
Die  Fäden  ungesehen  fliessen. 
Ein  Schlag  tausend  Verbindungen  schlägt". 

Nur  schade,  dass  Wundts  Erklärung  selber  ein  grosses  Geheimnis 
birgt,  besser  eine  grosse  Unklarheit  und  Verschwommenheit  zur 
Schau  trägt  und  eine  grosse  Lücke  aufweist.  Denn  für  das  physi- 
kalisch-mechanische Spiel  des  Webstuhls  wird  auch  Wundt  sicher 
den  „Tritt"  und  ,, Schlag"  des  Meisters  verlangen,  der  die  Schifflein 
regt  und  die  Fäden  richtet,  und  er  würde  es  als  eine  grosse  Un- 
gereimtheit bezeichnen,  zu  behaupten,  die  Fäden  und  Schifflein  geben 
sich  selbst  in  immerwährendem  gemeinsamem  blindem  Spiel  Antrieb 
und  Anordnung.  Für  das  wundervolle  und  ohnegleichen  tausendfach 
mehr  verschlungene  Spiel  unserer  Gedanken  aber,  da  genügt  für 
ihn  der  ,, einfache  Mechanismus  der  Assoziationen",  es  restlos  und 
befriedigend  zu  erklären! 

Die  Assoziationen  kommen  von  selbst  und  gehen  von  selbst, 
zwisehendrein  werden  sie  Veranlassung  zu  neuen  Assoziationen,  die 
sich  mit  den  früheren  vereinigen  in  fortwährendem  „Mechanismus", 
ohne  dass  ein  Antrieb  und  eine  Regelung  für  diesen  Mechanismus, 
verschieden  von  den  Assoziationen,  erforderhch  wäre;  und  dieser 
blinde  Mechanismus  führt  schliessüch,  wenn  der  „Wille"  wirksam 
wird,  —  nota  bene,  wenn  die  immer  wiederkehrenden  Vorstellungen 
und  Assoziationen  in  Verbindung  „mit  schwankenden  und  ebenfalls 
relativ  gleichförmig  wiederkehrenden  Empfindungen  und  Gefühlen" 
schliesslich  das  geworden  sind,  was  Wundt  „Wille"  nennt,  —  aus 
der  ,, vorbereitenden  Werkstätte*'  hinaus  zum  „Denken",  von  hier 
aber  wieder,  „je  geübter  das  Denken  wird",  in  stetem  Kreisprozess 
zurück  zur  Assoziation  als  der  ,,Bewahrerin  der  Erwerbungen  und 
Ergebnisse  des  Denkens".  Demnach  müsste  schliesslich  der  geübteste 
Denker,  der  gelehrteste  Kopf  in  Wirklichkeit  am  wenigsten  „denken" 
im  Vergleich  zu  dem  gewöhnlichen  Durchschnittsmenschen,  der  mit 
seinem  beschränkten  Verstände  vergeblich  sich  abmüht,  eines  Problems 
Herr  zu  werden,  das  jener  „spielend"  löst! 

In  der  Tat  ist  Wundt  geneigt,  anzunehmen,  „dass  der  Mensch 
eigentlich  nur  selten  und  wenig  denkt".  ,, Unzählige  Handlungen", 
sagt  er,  „die  in  ihren  Erfolgen  Intelligenzäusserungen  gleichkommen. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  323 


's 


verdanken  ihren  Ursprung  zweifellos  der  Assoziation"^).  In  Wahr- 
heit aber  ist  nicht  ein  nur  auf  die  entscheidenden  Punkte  gerichtetes 
Minimum  aktiver  Gedankenarbeit,  sondern  die  Beschleunigung 
der  Gedankenfolge  ohne  Verminderung  der  Gedanken- 
mannig  faltig  k  ei  t  das  charakteristische  Merkmal  der 
Denkfertigkeit.  Analog  hat  z.B.  ein  geübter  Klavierspieler,  der 
in  rasendem  Presto  die  schwierigsten  Läufe  spielt,  keineswegs  weniger 
Fingerbewegungen  auszuführen,  als  der  Anfänger  im  Klavierspiel, 
der  mühsam  nach  den  einzelnen  Notenbildern  erst  die  entsprechenden 
Tasten  greifen  lernt;  nur  leistet  jener  dank  seiner  künstlerischen 
Fertigkeit  seine  Sache  in  einer  wesentlich  kürzeren  Zeit  als  der 
Schüler. 

Freilich  kommt  nicht  jede  einzelne  Fingerbewegung  mehr  dem 
Klavierkünsller  zum  Bewusstsein,  so  auch  dem  geübten  Denker  nicht 
mehr  jeder  einzelne  seiner  Gedankenschlüsse.  Gerade  das  U eber- 
springen von  Schlüssen  beim  Denken  nennt  Ed.  v.  Hartmann 
eine  ganz  bekannte  Erfahrung.  ,,Das  Denken  würde  ohne  diese  Be- 
schleunigung so  schneckenlangsam  sein,  dass  man,  wie  .  es  denk- 
langsamen Menschen  jetzt  noch  geht,  bei  vielen  praktischen  Ueber- 
legungen  mit  dem  Resultat  zu  spät  kommen  und  die  ganze  Arbeit 
des  Denkens  ihrer  Beschwerhchkeit  wegen  so  hassen  würde,  wie  sie 
jetzt  bloss  von  besonders  Denkfaulen  gehasst  und  gemieden  wird"  ^). 

Die  unbewusst  gebliebenen  Zwischenglieder  eines  solchen  sprin- 
genden Gedankenganges  sind  aber  nicht,  wie  Wundt  behauptet, 
blosse  Assoziationen,  d.  h.  Vorstellungsverbindungen,  ,,für  welche 
die  Merkmale  der  logischen  Tätigkeit  nicht  zutreffen"  ^),  sondern  wirk- 
liche Gedanken,  d.h.  Ergebnisse  des  Denkens;  es  sind  mit  andern 
Worten  nicht  nur  Vorstellungselemente  und  intellektuell  passive 
Vorstellungsverbindungen  einer  die  intellektuelle  Tätigkeit  erst  ,, ein- 
leitenden Gesamtvorstellung",  sondern  bereits  aus  solchen  Vor- 
stellungen und  Assoziationen  resultierende  unbewusste  Begriffe, 
Urteile  und  Schlüsse,  d.h.  Grundgebilde  jener  beziehenden 
Tätigkeit,  die  wir  vornehmlich  als  Denken  bezeichnen. 

XII. 

Nun  nennt  aber  Wundt  das  Merkmal  der  beziehenden 
Tätigkeit  neben  dem  der  subjektiven  Tätigkeit  für  das  Denken 
zu  umfassend,  dass  er  noch  das  Merkmal  selbstbewusster  Tätigkeit 
hinzunimmt,  um  das  Denken  eindeutig  zu  bestimmen.  So  ist  ihm 
auch  insbesondere  jede  unwillkürUche  Assoziation  von  Vorstellungen 
eine  beziehende  Funktion.  ,,Die  assoziierten  Vorstellungen  werden 
durch  irgend  welche  ihnen  innerlich  zukommende  oder  äusserlich 
anhaftende   Eigenschaften   zueinander   in   Beziehung  gesetzt.     Diese 


^^  Vorlesungen  ''  416, 

■')  A.a.O.  F  276. 

')  Vorlesungen^  324,  auch  Logik  P  13. 

21^ 


324  E.  Grünhoiz, 

Beziehung  ist  aber  keine  selbstbewusste  Tätigkeit.  Sie  erscheint  als 
eine  dem  Bewusstsein  gegebene,  nicht  als  eine  von  ihm  erzeugte 
Tatsache"  ^). 

Welche  Bedeutung  gebührt  bei  kritischer  Bettacl.tung  dem  Be- 
giiir  „beziehende  Tätigkeit"?  Offenbar  bezeichnet  der  Begriif  „in 
Beziehung  setzen"  eine  subjektive  Tätigkeit,  die  ohne  ein  die  Be- 
ziehung ausführendes  Subjekt  nicht  denkbar  ist.  Vorstellungen  können 
wohl  „duich  irgend  welche  ihnen  innerlich  zukommende  oder  äusser- 
hch  anhaftende  Eigenschaften",  mit  anderen  Worten,  durch  irgend 
einen  objektiven  Realgrund  veranlasst  unl  unabhängig 
davon,  ob  sie  als  Vorstellungen  vermöge  einer  subjektiv- 
psychischen Disposition  aufgefasst  werden  oder  nicht, 
zu  einander  in  Beziehung  stehen  oder  in  Beziehung  treten.  Darin 
besteht  das  Wesen  der  assoziativen  Beziehung,  die  als  solche 
real,  aber  rein  passiv  ist.  Ein  aktives  ,,In  Beziehung  setzen" 
der  so  zu  einander  in  Beziehung  befindlichen  EleirCiite  einer  be- 
steh'inden  Vorstellungsverbindung  dagegen  ist  von  dieser  passiven 
Form  der  Bezieliung  wesentlich  verschieden  und  stets  mit  einem 
Erfassen  bzw.  Erkennen  dieser  Beziehung  seitens  des 
psychischen  Subjekts  verbunden.  Nur  diese  logische  Beziehung 
als  solche  ist  rein  psychischer  Natur.  In  diesem  Sinne  aber  sind 
die  Assoziationen,  die  auch  der  Tierpsyche  eigen  sind,  zwar  un- 
niillelbare  Erlebnisse,  aber  keineswegs,  wie  Wundt  behauptet,  eine 
„beziehende  Funktion".  Das  aktive  „In  Beziehung  setzen"  dagegen 
ist  kein  unmittelbares  Erlebnis  mehr,  wie  etwa  die  Bestandteile 
einer  zusammengesetzten  Vorstellungsverbindung;  es  ist  vielmehr, 
wie  bereits  oben  (Abschnitt  X)  erwähnt,  ganz  und  gar  der  Akt  einer 
spezifischen  trennenden  Tätigkeit  des  psychischen  Sub- 
jekts, wodurch  sich  das  menschliche  Seelenleben  wesentlich  von 
der  Tierpsyche  unterscheidet,  eine  Tätigkeit,  die  als  solche  gar 
nichts  weniger  und  gar  nichts  anderes  als  bereits  das 
Denken  selber  ist. 

XIII. 

In  doppelter  Weise  kann  das  Denken  seine  Tätigkeit  entfalten, 
je  nachdem  der  Denkinhalt  dem  denkenden  Subjekt  zum  Bewusst- 
sein kommt  oder  nicht.  Das  eine  ist  das  bewusst- logische  oder 
vornehmlich  das  wissenschaftliche  Denken,  das  andere  das 
uubewusst  logische  oder  das  natürliche  Denken,  wie  es  in  erster 
Linie,  aber  nicht  allein,  dem  Denken  des  Kindes  eigen  ist. 

Niemand  —  ausser  den  Assoziationspsychologen,  wie  Th.  Ziehen-), 
der  die  Assoziationen  des  Kindes  eingehend  experimentell  untersucht 
liat,  aber  als  Assoziationspsychologe  auch  die  Urteile  für  Assoziationen 

')  System  F  32  f. 

^)  Die  Ideenassoziation  des  Kindes.  Sammlung  \on  Abbandlungen  aus 
dem  Gebiete  der  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie  I  (1898)  G  (vgl. 
Gutberiet,  Der  Kampf  um  die  Seele  11-  709  f.). 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  325 

hält  —  wird  im  Ernste  bestreiten  wollen,  dass  ein  Kind  denken 
kann;  niemand  aber  wird  anderseits  ernstlich  behaupten  wollen,  dass 
ein  Kind  sich  aller  psychischen  Vorgänge,  die  sein  Denken  be- 
gleiten, bewusst  wird.  In  Wirklichkeit  schliesst  sich  der  Gedanken- 
kreis des  Kindes  und  das  kindliche  Urteil  stets  eng  an  irgend  ein 
grössere.'-  oder  kleineres  meist  äusseres  Erlebnis  an,  und  bewusst 
wird  dem  Kinde  eben  nur  dies  Erlebnis,  auf  das  es  dann  unbewusst 
—  wenngleich  selbstbewusst  —  in  seinem  Urteil  reagiert. 

Unbewusste  Urteile  und  Schlüsse  kommen  aber  auch  überall 
und  tagtäglich  in  jedem  natürlichen  Denken  vor  trotz  der 
gegenteiligen  Ansicht  Wundts.  Ed.  v.  Hartmann  nennt  diese  Art 
des  Denkens,  wo  sich  uns  das  Unbewusste  recht  deutlich  offenbart, 
„intuitive,  intellektuelle  Anschauung,  unmittelbares 
Wissen,  immanente  Logik".  Er  bezeichnet  diese  „logische 
Intuition"  als  den  ,, Pegasusflug  des  Unbewussten,  der  in  einem 
Moment  von  der  Erde  zum  Himmel  trägt",  während  „die  diskursive 
oder  deduktive  Methode  nur  der  lahme  Stelzenfuss  des  Bewusst- 
Logischen  ist"  ^  j.  —  In  ähnlicher  Weise  spricht  Benno  Erdmann  ^) 
von  einem  ,,un formulierten  und  intuitiven  Denken",  be- 
richtet Geyser^)  von  einem  „anschauungslosen  und  wortlosen 
Denken". 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  Wundt  den  Begriff  des 
Denkens  zu  enge  fasst,  indem  er  nur  die  selbstbewusste  logische 
Tätij.;keit  als  Denken  bezeichnet,  während  es  in  Wirklichkeit  jede 
beziehende  psychische  Tätigkeit  ist,  mag  ihr  Beziehungsinhalt  bewusst 
oder  unbewusst  verlaufen,  und  mag  er  sich  in  Worte  kleiden  oder 
nicht.  „Die  Gedanken",  sagt  Geyser,  „sind  weit  reicher  als  die 
dürftigen  Wortsymbole,  an  welche  sie  sich  heften". 

Im  Gegensatz  zum  natürlichen  Denken  ist  die  bewusst-logische 
Gedankenform  vornehmhch  Gegenstand  des  wissenschaftlichen 
Denkens,  obgleich  auch  in  dieses  manche  Momente  aus  dem  vor- 
wissenschafthchen  oder  natürhchen  Denken  hineinspielen.  Nur  dies 
bewusst  logische,  das  eigentlich  wissenschaftliche  Denken  ist  eine 
freiwillige  innere  Handlung,  ist  nach  Wundt  apperzeptive 
Tätigkeit,  d.  h.  eine  Tätigkeit,  auf  die  die  aktive  Aufmerksamkeit 
oder  „der  Blickpuukt  des  Bewusstseins"  sich  richtet,  nicht  das 
Denken  überhaupt.  —  Darum  fasst  Wundt  andererseits  auch  den 
Begriff  der  Assoziationen  zu  weit. 

XIV. 

Wundt  nimmt  für  die  Assoziationen  in  Wirklichkeit  das  ganze 
Gebiet  der  nicht  apperzeptiven  Vorstellungsverbindungen  in  Anspruch, 
obgleich  er  zwar  nur,  wie  bereits  erwähnt,  die  Assoziationen  als 
diejenigen  Vorstellungsverbindungen  definiert,  „für  welche  die  Merk- 

')  A.  a  0.  271  und  274. 
'')  Logik  P  H  f. 
')  A.  a.  0.  417. 


326 


E.  Grünholz. 


male  der  logischen  Tätigkeit  nicht  zutreffen".  Der  Grund  für  diese 
Unklarheit  liegt  darin,  dass  Wundt  eine  unbewusste  Geistestätigkeit 
nicht  anerkennen  will,  was  zur  Folge  hat,  dass  auch  das  logische 
Denken  für  ihn  stets  nur  eine  bewusste  bzw.  selbstbewusste  Tätig- 
keit bedeutet.  Und  doch  verfährt  er  inkonsequent  in  Wirklichkeit 
so,  als  oh  es  neben  dem  bewusst-logischen  Denken  doch  noch 
irgend  ein  unbewusstes  Denken  gibt.  Die  Folge  davon  ist,  dass  er 
—  wenigstens  in  seiner  Ausdrucksweise  —  sich  in  Widersprüche 
verwickelt,  die  dann  ihrerseits  die  Ursache  für  die  Unklarheit  und 
Verschwommenheit  bilden,  die  seine  Ausführungen  vielfach  be- 
herrschen 

Schon  der  Ausdruck  „logische  Assoziationen",  mit  deren 
Hilfe  das  geübte  Denken  ,,über  alle  untergeordneten  Punkte  hinweg- 
gleitet", zeugt  davon.  Denn  was  bedeutet  dieser  Ausdruck,  wenn 
die  Assoziationen  Vorstellungsverbindungen  sind,  denen  ein  logischer 
Charakter  nicht  zukommt?  Ein  assoziativer,  d.  h.  nicht  logischer 
Verlauf  von  Vorstellungen,  der  dennoch  logisch  ist,  ist  und  bleibt 
ein  unvollziehbarer  Gedanke. 

An  mehreren  Stellen,  wo  W^undt  die  Entwicklung  des  Denkens 
darlegt  und  dabei  den  Unterschied  der  willkürlichen  Denkakte  von 
den  unwillkürlichen  Assoziationsvorgängen  betont,  spricht  er  von 
dem  ., willkürlich  fixierten  Zweck  des  Gedankenlaufes",  von  der 
„willkürlichen  Aenderung  des  Gedankenlaufes".  ",,Wir  lenken  unsere 
Gedanken  willkürlich  hierhin  und  dorthin,  indem  wir  aus  einer  An- 
zahl unserem  Bewusstsein  zuströmender  Vorstellungen  diejenigen  aus- 
suchen, die  in  den  Zusammenhang  unseres  Denkens  passen"  ^).  Also 
gibt  es  doch  wohl  einen  Gedankenlauf,  unabhängig  von  dem  bewussten 
Akte  unserer  Willkür  ?  Oder  meint  Wundt,  wie  er  es  folgerichtig 
sollte,  wo  er  von  dem  Gedankenlauf  spricht,  in  WirkUchkeit 
nur  einen  Vors tellungs verlauf?  Warum  aber  dann  die  unklare 
Ausdrucksweise  ? 

Die  Unterscheidung  zwischen  Subjekt  und  Objekt  der  Erkenntnis, 
die  einleitend  erwähnt  worden  ist  und  im  übrigen  einer  besonderen 
kritischen  Untersuchung  bedarf,  beruht  nach  Wundt  auf  der  soge- 
nannten „reflektierenden  Form  der  Erkenntnis",  während 
die  „naive  Form"  oder  das  „naive,  vorwissenschaftliche 
Denken"  diese  Unterscheidung  noch  nicht  kennt ^j.  Nun  definiert 
Wundt  aber  die  Erkenntnis  als  ein  Denken,  „mit  dem  sich  die 
Ueberzeugung  von  der  Wirklichkeit  der  Gedankeninhalte  verbindet". 
Das  Denken  wiederum  ist  ihm  ausschliesslich  selbstbewusste 
Tätigkeit,  die  also  das  Selbstbewusstsein  oder  die  Selbstauffassung 
des  Subjekts  zur  notwendigen  Voraussetzung  hat.  Wie  ist  es  da 
denkbar,  dass  diese  selbstbewusste  Tätigkeit  in  ihrer  „naiven  Form" 
die  Unterscheidung  zwischen  Subjekt  und  Objekt  noch  nicht  kennt? 


1)  System  33;  Vorlesungen  250. 
'0  System  81  ff. 


Eine  kritische  Untersuchung  über  das  Denken.  327 

Offenbar  sind  es,  wie  diese  Beispiele  zeigen  und  mit  denen  die 
vorliegende  Untersuchung  vorläufig  ihren  Abschluss  finden  möge, 
schwerwiegende  Widersprüche,  in  die  Wundt  durch  seinen  zu  engen 
Begriff  des  Denkens  gerät,  und  die  dadurch  hervorgerufen  werden, 
dass  Wundt  m  dem  Bestreben,  das  Erkenntnisproblem  von  einer 
neuen  Seite  her  zu  lösen,  sich  genötigt  sieht,  fast  durchweg  alle 
althergebrachten  Grundbegriffe  der  Philosophie  in  einer  oft  recht 
unzulänghchen  und  nicht  immer  objektiven  Kritik  wesentlich  umzu- 
gestalten, wodurch  er  nicht  minder  und  nicht  zu  gunsten  seiner  Philo- 
sophie das  Verständnis  seiner  Ausführungen  wesenthch  erschwert. 
Dass  bei  einem  solchen  Verfahren  die  Lösung  des  eingangs  erörterten 
schwierigen  Problems  selber  auf  die  grössten  Schwierigkeiten  stösst, 
mögen  die  vorliegenden  Ausführungen  lehren.  Sie  zeigen,  dass 
Wundts  System  durch  die  Unzulänglichkeit  seiner  voluntaristischen 
Grundanschauung  bereits  einen  bedenklichen  und  verhängnisvollen 
Riss  erfährt.  Denn  —  das  ist  das  Schlussergebnis  dieser  Untersuchung : 
—  das  Denken  ist  nicht  ausschliesslich  Willenstätigkeit.  Das  Denken 
ist  vielmehr  eine  im  Gegensatz  zur  Tierpsyche  dem  Men- 
schen eigene  spezifische  Tätigkeit  eines  selbständigen 
denkenden  Seelenwesens,  und  als  solche  ist  das  Denken, 
mag  es  bewusst  oder  unbewusst  verlaufen,  durch  die 
Merkmale  subjektiver  und  beziehender  Tätigkeit  völlig 
eindeutig  bestimmt. 


Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie. 

Von  Prof.  Dr.  C.   Gutberiet  in  Fulda. 


I. 

Das  von  Einstein  so  laut  verkündete  Relativitätsprinzip,  das  in  der 
physikalischen  Naturerklärung  nur  relative  Bewegung  anerkannt,  hat  einer- 
seits sehr  begeisterte  Anhänger,  andererseits  aber  auch  entschiedene  Gegner 
gefunden.  Der  Streit  tritt  in  sehr  konkreter  Form  in  zwei  Abhandlungen 
der  neuen  Zeitschrift  „Die  Naturwissenschaften"  zutage,  indem  E.  Gehrcke^) 
sehr  wuchtige  Schläge  gegen  dasselbe  führt  und  M.  Born 2)  dieselben  ab- 
zuwehren sucht. 

Gehrcke  führt  aus: 

Die  Relativitätstheorie  ist  eine  völlig  neue  Interpretation  der  für  die 
Elektrodynamik  und  Optik  bewegter  Körper  aufgestellten  Transformations- 
gleichungen. Aber  die  Theorie  muss,  wenn  sie  wahr  sein  soll,  auch  auf 
andere  physikalische  Gebiete  anwendbar  sein,  und  dies  behaupten  ja  auch 
ihre  Apostel.  Wenn  sich  nun  zeigen  lässt,  dass  dies  nicht  durchführbar 
ist,  so  ist  damit  die  Theorie  selbst  erschüttert.  Auf  empirischem  Wege 
ist  nun  freilich  eine  solche  Widerlegung  schwierig.  Michelsohn  hat  nun 
allerdings  experimentell  die  Unabhängigkeit  der  optischen  Erscheinungen 
von  der  absoluten  Bewegung  nachgewiesen,  aber  das  ist  keine  Folgerung 
der  Relativitätstheorie,  sondern  eine  ihrer  Voraussetzungen.  Es  gibt  aber 
ein€n  anderen  Weg,  eine  Theorie  zu  prüfen :  Man  analysiert  die  Grundsätze 
derselben  und  untersucht  sie  auf  ihre  Vereinbarkeit ;  widersprechen  sie  sich, 
so  ist  die  Theorie  falsch.  Aber  auch  hier  entsteht  eine  Schwierigkeit: 
das  Relativitätsprinzip  selbst  ist  nicht  eindeutig  definiert,  nicht  einmal  von 
Einstein  selbst.  Zuerst  formulierte  er  es :  als  „Voraussetzung  der  Unab- 
hängigkeit der  Naturgesetze  vom  ßewegungszustande  des  Bezugssystems''' 
und  beschränkte  es  auf  gleichförmige  Bewegungen,  nachträglich  dehnte  er 
es  auch  auf  beschleunigte  Bewegungssysteme  aus,  später  nahm  er  dies 
wieder  zurück. 

Für  translatorische  Bewegungen  mögen  sich  keine  Unterschiede  im 
Verhalten  eines  bewegten  Bezugssystems  ergeben.  „Wohl  aber  erzeugt  die 
rotatorische   Bewegung   von   a   gegen  b  besondere  Erscheinungen    auf 

')  1912,  Nr.  3  S.  62  ff.  * 

2)  1912,  Nr.  4  S.  92  ff. 


Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie.  329 

der  Erde,  nämlich  Zentrifugalkräfte,  die  sich  experimentell  auch  aufzeigen 
lassen,  z.B.  durch  Pendelversuche.  Für  rotatorische  Bewegungen  gilt 
mithin  das  Relativitätsprinzip  nicht,  hier  liegt  eine  Grenze  des  Prinzips 
vor ;  das  Prinzip  umfasst  also  nicht^  alle  Fälle  von  Bewegung  und  ist  darum 
kein  allgemeines  Prinzip". 

Mehrere  Physiker  haben  zwar  behauptet,  auch  die  Rotation  sei  nur 
relative  Bewegung,  aber  Einstein  selbst  beschränkt  sein  Prinzip  auf  Trans- 
lationen. „Daraus  aber  folgt,  dass  irdische  Physiker,  die  in  irdischen 
Laboratorien  Versuche  anstellen,  die  Theorie  nicht  auf  ihre  Experimente 
anwenden  können.  Denn  wir  befinden  uns  auf  der  relativ  zum  Fixstern- 
himmel rotierenden  Erde  und  bewegen  uns  ausserdem  im  Kreise  um  die 
Sonne  .  .  .  Beschränkung  ist  hier  gleichbedeutend  mit  Vernichtung  der 
Theorie". 

Ein  anderer  Einwand  betrifft  die  Einsteinsche  Zeitdefinition  in  ihrer 
Stellung  zum  Relativitätsprinzip.     Einstein  sagt: 

„Wenn  wir  z.  B.  einen  lebenden  Organismus  in  eine  Schachtel  hinein- 
brächten und  in  derselben  Hin-  und  Herbewegungen  ausführen  Hessen,  so 
könnte  man  es  erreichen,  dass  dieser  Organismus  nach  einem  beliebig 
langen  Fluge  beliebig  wenig  geändert  wieder  an  seinen  ursprünglichen  Ort 
zurückkehrt,  während  ganz  entsprechend  geartete  Organismen,  welche  an 
dem  ursprünglichen  Orte  ruhend  geblieben  sind,  bereits  längst  neuen 
Generationen  Platz  gemacht  haben.  Für  den  bewegten  Organismus  war 
die  lange  Zeit  der  Reise  nur  ein  Augenblick,  falls  die  Bewegung  annähernd 
mit  Lichtgeschwindigkeit  erfolgte.  Das  ist  eine  unabweisbare  Konsequenz 
der  von  uns  zugrunde  gelegten  Prinzipien,  die  die  Erfahrung  uns  aufdrängt". 

Also  nicht  rein  subjektiv,  sondern  physikalisch  soll  in  der  langen  Zeit 
der  Organismus  unverändert  geblieben  sein. 

Aber  diese  Zeitdefinition  ist  mit  der  Einsteinschen  Formulierung  des 
Relativitätsprinzips  unvereinbar. 

Der  dritte  Einwand  gegen  die  Relativitätstheorie  betrifft  ihre  Ver- 
werfung des  A  e  t  h  e  r  s.  Derselbe  ist  aber  nicht  nur  mit  ihr  vereinbar, 
sondern  vfird  sogar  von  ihr  gefordert.  Denn  die  Rotation  kann  nur  relativ 
in  Bezug  auf  ein  imponderabeles  Medium  sein,  jedenfalls  nicht  in  Bezug 
auf  den  Fixsternhimmel. 

Viertens  kann  die  Relativitätstheorie  nicht  die  Gravitation  erklären; 
Abraham  hat  dies  früher  versucht,  neuerdings  aber  zeigt  er,  dass  in  der 
Theorie  kein  Platz  für  die  Erscheinungen  ist,  er  nennt  sie  deshalb  eine 
,gestrige'. 

Darum  schliesst  Gehrcke : 

„Die  klassische  Relativitätstheorie,  welche  ein  Gemisch  von  einander 
widersprechenden  Prämissen  vorstellt,  ist  jedenfalls  ein  interessanter  Fall 
von  Massensuggestion  in  der  Physik  gewesen,  besonders  in  den  Ländern 
deutscher    Zunge.     Vor   etwa    zehn    Jahren    war    Frankreich    der    Haupt- 


330  C.  Gutberiet. 

Schauplatz  einer  physikalischen  Massensuggestion,  als  in  Nancy  die  N- 
Strahlen  , entdeckt'  waren,  deren  Dasein  dann  von  den  verschiedensten 
Beobachtern  bestätigt  wurde.  Man  kann  nun  die  Frage  aufwerfen:  Wo 
wird  die  nächste  grosse  Massensuggestion  auf  physikalischem  Gebiet  in 
Szene  gesetzt  werden?" 

II. 

Gegen  Gehrckes  Artikel  wendet  sich  M.  Born  in  der  folgenden  Nummer 
der  Zeitschrift*).  Zunächst  bemerkt  er,  dass  ein  hauptsächlicher  Einwand 
Gehrckes  sich  auch  gegen  die  von  Galilei  und  Newton  begründete  klas.sische 
Mechanik  richtet. 

„In  dieser  klassischen  Mechanik  gilt  nämlich  auch  ein  ,Relativitäts- 
prinzip',  das  sogar  auf  rein  mechanische  Vorgänge  angewandt,  genau  den- 
selben Wortlaut  hat  wie  das  Einsteins  und  lautet :  In  zwei  relativ  zu  ein- 
ander gleichförmig  und  geradlinig  bewegten  Systemen  gelten  dieselben 
Newtonschen  Bewegungsgesetze,  d.  h.  ein  Körper  A  bewegt  sich  relativ  zu 
dem  ersten  System  genau  so  wie  ein  gleichbeschaffener  Körper  B. 
relativ  zu  dem  zweiten  System,  wenn  die  übrigen  wirkenden  Körper  der 
beiden  Systeme  relativ  dieselbe  Lage  und  Bewegung  und  die  Körper  A  und  B 
in  einem  Augenblick  relativ  zu  dem  betreffenden  System  übereinstimmende 
Lage  und  Geschwindigkeit  haben". 

„Die  anderen  drei  Einv/ände  betreffen  die  Einsteinsche  Zeitdefinition, 
die  Existenz  des  Aethers  und  die  Gravitation.  Ueber  die  erstgenannten 
Funkte  ist  viel  gesprochen  und  geschrieben  worden,  und  man  gibt  allgemein 
zu,  dass  gewisse  Folgerungen  aus  der  Einsteinschen  Zeitdefinition,  z.  B. 
das  Nachgehen  von  bewegten  Uhren  gegen  ruhende,  höchst  merkwürdig 
sind,  dass  die  Abschaffung  des  Aethers  der  Vorstellungskraft  mancherlei 
Schwierigkeit  bereitet.  Es  liegen  eben  Widersprüche  gegen  altgewohnte 
Anschauungen  vor.  Herr  Gehrcke  verwechselt  diese  leider  mit  logischen 
Widersprächen  der  Theorie  in  sich.  Dass  die  Theorie  tatsächlich  logisch 
widerspruchsfrei  ist,  lässt  sich  mathematisch  beweisen  mit  Hilfe  von 
Minkowskis  geometrischer  Darstellung  in  der  vierdimensionalen,  aus 
Raum  und  Zeit  gebildeten  Mannigfaltigkeit,  die  er , Welt' nennt ;  ohne  näher 
darauf  einzugehen,  kann  ich  hier  nur  sagen,  dass  jedem  Satze  der  Rela- 
tivitätstheorie ein  gewisser  geometrischer  oder  algebraischer  Satz  entspricht, 
derart,  dass  ein  Widerspruch  in  der  Relativitätstheorie  einen  Widerspruch 
innerhalb  der  Algebra  zur  Folge  hätte". 

„Der  vierte,  die  Gravitation  betreffende  Einwand  geht  auf  eine  noch 
nicht  völlig  geklärte  Frage  ein.  Dass  die  Gravitation  als  Fernwirkung  mit 
dem  Relativitätsprinzip  verträglich  ist,  ist  längst  von  Poincare,  Min- 
kowski und  Sommerfeld  gezeigt  worden.  In  dem  Bestreben,  Nah- 
wirkungstheorien  der  Gravitation  aufzustellen,   sind  Einstein  und  Abraham 


)  1912,  Nr.  4  S.  92  iT. 


Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie.  331 

ZU  Annahmen  gelangt,  die  der  Relativitätstheorie  widersprechen ;  diese 
beiden  Theorien  entbehren  aber  noch  jeder  experimentellen  Bestätigung  .  .  . 
Nach  dem  jüngsten  tiefsinnigen  Untersuchungen  G.  Mies  zur  ,Theorie  der 
Materie'  scheint  es  nicht  hoffnungslos,  die  Gravitation  im  Einklang  mit  dem 
Relativitätsprinzip  als  allgemeine  Eigenschaft  der  Materie  zu  begreifen". 

III. 

Was  sagen  wir  zu  diesem  Widerstreit  der  Meinungen  ?  In  einigen 
Punkten  müssen  wir  Born  gegen  Gehrcke  recht  geben.  Dass  sich  experi- 
mentell das  Relativitätsprinzip  nicht  im  Laboratorium  nachweisen  lässt 
wegen  der  Rotation  unserer  Erde,  ist  keine  ausschlaggebende  Instanz  gegen 
dasselbe,  aber  dann  ist  auch  der  Mangel  an  experimenteller  Bestätigung 
für  die  Widersprüche,  die  Einstein  und  Abraham  aus  der  Gravitation  gegen 
das  Prinzip  gefunden  haben,  kein  Grund,  diese  Widersprüche  zu  leugnen. 
Dass  die  Gravitation  als  Fernwirkung  nicht  gegen  das  Prinzip  verstösst, 
spricht  nicht  für  dasselbe,  denn  eine  Wirkung  in  die  Ferne  i.st  ein  innerer 
Widerspruch.  Wenn  die  Gravitation  als  Nahwirkung  das  Prinzip  ver- 
nichtet, dann  ist  sie  gerichtet. 

Wenn  das  Relativitätsprinzip  experimentell  durch  das  Michelsonsche 
Prinzip  bestätigt  zu  sein  scheint,  so  ist  allerdings  die  Widerlegung  von 
Gehrcke  unzutreffend ;  er  meint,  das  Ergebnis,  die  Unabhängigkeit  der 
optischen  Erscheinungen  von  der  absoluten  Bewegung,  dürfe  nicht  als 
Folgerung,  sondern  als  Voraussetzung  der  Relativitätstheorie  angesehen 
werden.  Dagegen  ist  doch  zu  bemerken,  dass  wenn  das  Experiment  ein 
sicheres  Ergebnis  geliefert  hat,  es  auch  als  Voraussetzung  der  Theorie 
gelten  kann.  Es  beweist  aber  darum  nichts,  weil  die  Theorie  selbst  wider- 
spruchsvoll ist,  und  darum  die  Unabhängigkeit  der  Lichtgeschwindigkeit  von 
der  Bewegung  physikalisch  erklärt  werden  muss,  was  bei  bestimmten  An- 
nahmen über  das  Wesen  der  Materie  nicht  unmöglich  ist. 

Die  Theorie  ist  ganz  evident  widerspruchsvoll,  sie  widerspricht  nicht 
nur  „altgewohnten  Anschauungen",  sondern  den  klarsten  logischen  Sätzen, 
was  begeisterte  Anhänger  derselben  auch  zugeben,  weshalb  sie  erklären, 
sie  stehe  „über  Wahr  und  Falsch",  eröffne  einen  Abgrund  vor  unserem 
Denken,  wie  sie  auch  den  Widerspruch  mit  der  Newtonschen  Natur- 
erklärung zugeben. 

Der  neue  Zeitbegriff,  der  mit  der  Theorie  untrennbar  verbunden  ist, 
wie  Einstein  ausdrücklich  erklärt,  ist  ganz  und  gar  unsinnig.  Denn  es  ist 
ein  innerer  Widerspruch,  dass  durch  blosse  Bewegung  die  Zeit  verkürzt, 
oder  gar  zum  Verschwinden  gebracht  werde,  dass  also  z.  B.  ohne  alle  Zeit 
ein  Organismus  sich  bewege,  der  sonst  vielleicht  Jahre  brauchte.  Wenn 
der  nichtbewegte  ein  Jahr  braucht,  so  wird  dieses  Jahr  nicht  zum  Augen- 
blick für  den  Organismus,  der  sich  gleichzeitig  bewegt  hat,  es  wird  näm- 
lich vorausgesetzt,   dass   er   gar  keinen    Einfluss  von  aussen   erfahren  hat, 


332  C.  Gntberlet. 

sondern    nur   dass    er   sich    sehr    schnell,    etwa    mit    Lichtgeschwindigkeit 
bewegt  hat. 

Die  Relativisten  vermengen  drei  Fragen  mit  einander :  P  Kann  es  nur 
relative  Bewegung  geben,  2°  gibt  es  im  Universum  nur  relative  Bewegung, 
3"  können  wir  nur  relative  Bewegung  erkennen  und  bestimmen?  Indem 
sie  die  letztere  bejahen  und  beweisen,  glauben  sie  auch  die  beiden  ersten 
bejahen  zu  können.  Und  doch  lässt  sich  ganz  evident  zeigen,  P  dass 
absolute  Bewegung  möglich  und  2*^  tatsächlich  ist. 

Dass  Rotationsbewegung  absolute  Bewegung  darstellt,  ist  sonnenklar; 
denn  sie  bestimmt  sich  nicht  nach  umgebenden  Körpern,  sondern  ist  für 
sich  durch  Veränderung  der  Beziehung  zum  Räume  gegeben.  Wenn  auch 
nur  eine  einzige  Kugel  existierte  und  dieselbe  erhielt  einen  exzentrischen 
Stoss,  so  müsste  sie  rotieren.  Aehnliches  gilt  aber  auch  von  der  Fort- 
bewegung. Bekommt  sie  einen  zentralen  Stoss,  so  muss  derselbe  nach 
dem  Gesetze  von  der  Erhaltung  der  Kraft  seine  Wirkung  haben,  und  wenn 
er  stark  genug  ist  vmd  kein  Hindernis  im  Wege  steht,  muss  sie  sich  fort- 
bewegen, wenn  auch  kein  einziger  Körper  existierte,  zu  welchem  sie  ihre 
Beziehung  veränderte. 

Relative  Bev/egung  ist  ja  ohne  absolute  gar  nicht  denkbar.  Wenn  es 
keine  Weiterbewegung  im  Räume  gibt,  dann  bleiben  alle  Körper  an  ihrem 
Platze,  und  es  ist  rein  unmöglich,  dass  sie  Beziehungen  zu  anderen 
Körpern  ändern. 

Allerdings  wäre  es  absolut  gesprochen  denkbar,  dass  auch  ohne  Platz- 
veränderung der  Körper  relative  Bewegungen  stattfänden,  wenn  dieselben 
nämhch  so  ineinandergriffen,  dass  sie  sich  gegenseitig  aufhöben.  Dieser 
Fall  ist  aber  so  ausserordentlich  unwahrscheinlich,  dass  er  höchstens  für 
den  einen  oder  andern  Körper  angenommen  werden  könnte.  Es  mag  wohl 
die  kombinierte  Bewegung  der  Erde  um  ihre  Axe,  um  die  Sonnp,  die  Be- 
wegung (ler  Sonne  so  zusammenwirken  können,  dass  einmal  eine  auf  Erden 
abgeschossene  Kanonenkugel  am  Flecke  bliebe ;  das  ist  schon  sehr  un- 
wahrscheinlich, dass  dann  aber  auch  alle  fortschreitenden  Bewegungen  auf 
der  Erde  mit  ganz  anderen  Richtungen  und  Geschwindigkeiten  an  ihrem 
Platze  blieben,  ist  rein  unmöglich.  Und  dann  muss  immer  schon  die 
Bewegung  der  Erde,  der  Sonne  doch  vorausgesetzt  werden.  Absolute  Be- 
wegung ist  also  nicht  nur  nicht  unmöglich,  sondern  in  jedem  Augenblicke 
tatsächlich.  Nach  dem  Gesagten  ist  es  nicht  einmal  unmöglich,  sie  zu 
beobachten,  ja  wir  beobachten  sie  fortwährend,  so  oft  wir  überhaupt  sich 
etwas  bewegen  sehen,  oder  wenn  wir  uns  selbst  oder  ein  Glied  unseres 
Körpers  in  Bewegung  setzen.  Ein  unbegreifliches  Wunder  wäre  es,  wenn 
alle  Bewegungen  in , der  Welt  in  dem  Augenblicke,  wo  wir  unseren  Fuss 
fortsetzen,  unsere  Arme  erheben,  allesamt  so  zusammenwirkten,  dass  sie 
unsere  Bewegungen  im  Räume  annullierten. 


Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie.  333 

Wahr  nur  ist,  dass  wir  die  Schnelligkeit  und  Richtung  unserer  Be- 
wegungen im  Räume  niclit  bestimmen  können.  Es  kann  sein,  dass 
wenn  wir  unseren  Arm  erheben,  derselbe  im  Raum  nach  unten,  langsamer 
oder  schneller  geht,  wenn  nämlich  die  allgemeine  Weltbewegung  nach 
unten  schneller  erfolgt  als  unsere  Armbewegung.  Dieser  wird  dann  auch 
langsamer  sich  im  Räume  fortbewegen,  als  wir  sehen  und  fühlen. 

Es  ist  also  ein  grober  Fehlschluss,  aus  der  Unmöglichkeit  einer  ge- 
nauen Bestimmung  der  Richtung  und  Schnelligkeit  absoluter  Bewegung  auf 
die  Notwendigkeit  bloss  relativer  Bewegung  zu  schliessen. 

IV. 

Beide  Physiker  haben  eine  Erwiderung  in  der  genannten  Zeitschrift 
veröffentlicht,  Gehrcke  in  Nr.  7,  S.  170  ff.,  Born  in  Nr.  8,  S.  191. 

In  Bezug  auf  den  Michelsonschen  Versuch  weist  Gehrcke  darauf  hin, 
dass  derselbe  auch  in  anderer  Weise  als  durch  Relativität  erklärt  werden 
könne.  „Der  Michelsonsche  Versuch  steht  nicht  in  umkehrbarem  Verhältnis 
zum  Relativitätsprinzip". 

Den  fundamentalen  Fehler  der  Theorie  findet  er  wie  auch  wir  darin, 
„dass  die  Relativität  gleichförmiger  translatorischer  Bewegungen  mit 
einem  von  der  Geschwindigkeit  abhängigen  Zeitablauf  logisch  unvereinbar 
ist".  „Dieser  Widerspruch  wird  dadurch  nicht  aus  der  Welt  geschafft, 
dass  man  auf  die  Minkowskische  Darstellung  der  Relativitätstheorie 
zurückgeht". 

Dagegen  bemerkt  Born,  dass  Her  glotz  selbst  die  Rotationsbewegung 
prinzipiell  vollkommen  befriedigend  relativ  theoretisch  erklärt  hat.  Wenn  dies 
offenbar  aller  Logik  widerspricht,  so  erklärt  Born :  „Die  philosophischen 
Grundlagen  der  Relativitätstheorie  haben  mit  seiner  logischen  Zulässigkeit 
nichts  zu  tun".  Aber  logische  Widersprüche,  die  darin  enthalten  sind, 
können  durch  Messungen,  wenn  sie  auch  noch  so  bestechend  sind,  nicht 
autgehoben  werden.  Auch  die  Minkowskischen  mathematischen  Aus- 
führungen können  dieselben  nicht  paralysieren.  Mit  Mathematik  kann  man 
alles  beweisen,  wenn  man  Voraussetzungen  macht,  die  für  das  gewünschte 
Resultat  notwendig  sind.  So  wenn  Minkowski  die  Zeit  als  vierte  Dimension 
neben  den  ganz  heterogenen  Raum  stellt.  Diese  unlogische  und  aller 
Wirklichkeit  widersprechende  Theorie  hat  G.  Richter  konsequent  durch- 
geführt, und  so  ad  absurdum  deduziert  in  der  Schrift :  „Bewegung,  die  vierte 
Dimension".  Nicht  nur  die  Masse,  sondern  auch  die  Energie  wird  von  ihm 
eliminiert,  und  als  Subjekt  aller  Bewegung  wieder  Bewegung  statuiert.  „Die 
Zeit  ist  ihrem  Wesen  nach  Gleichzeitigkeit,  und  diese  ist  wieder  Gleich- 
räumlichkeit, Zeitrelation  ist  zugleich  Raumrelation". 

Richter  führt  seine  Theorie  noch  weiter,  indem  er  als  fünfte  Dimension 
die  ,,Ruhe"  einführt,  offenbar  mit  demselben  Rechte,  wie  man  die  Zeit  als 
vierte  Dimension  annimmt. 


334  C.  Gutberiet. 

Die  rein  formalistische  Bedeutung  der  Mathematik  für  die  Lösung 
derartiger  Fragen  zeigt  recht  deutlich  das  aus  der  Metageometrie  von  Born 
zu  seinen  Gunsten  angeführte  Beispiel.  Die  Metageometrie  kann  haarscharf 
durch  Rechnungen  dartun,  dass  der  Euklidische  Satz  von  der  VVinkel- 
summe  des  Dreiecks  (=2R)  keine  allgemeine  Gültigkeit  hat.  Wie  ist  das 
möglich  V  Nun,  sie  nimmt  einen  vier-,  fünfdirnensionalen  Raum  an,  ent- 
wickelt für  dieselben  ihre  Gleichungen  mit  schärfster  mathematischer  Ge- 
nauigkeit, und  folgert  mit  aller  logischen  Strenge,  dass  es  Dreiecke  gibt, 
deren  Winkelsumme  nicht  gleich  zwei  Rechten  ist.  Nur  schade,  dass  diese 
Dreiecke  keine  Dreiecke  im  Sinne  des  realen,  gegebenen  Raumes,  sondern 
Gedankenkonstruktionen  sind,  welche  allerdings  konsequent  aus  dem  n-di- 
mensionalen  Räume  folgen.  Aber  der  n-dimensionale  Raum  ist  selbst  eine 
Fiktion,  und  folghch  auch  die  Dreiecke  mit  mehr  oder  weniger  als  zwei 
Rechten.  Nun  kann  man  den  Mathematikern  das  Recht  nicht  absprechen, 
solche  Fiktionen  mathematisch  zu  behandeln,  aber  sie  sollen  sie  nicht 
Raum  nennen,  und  jene  erdichteten  Dreiecke  nicht  mit  den  Eukhdischen, 
welche  auf  den  Raum  gehen,  in  Gegensatz  setzen. 

So  kann  man  auch  mit  der  noch  abenteuerlicheren  Fiktion,  dass  die 
Zeit  als  vierte  Dimension  den  drei  des  Raumes  koordiniert  sei,  vielleicht 
mathematisch  die  Relativitätstheorie  beweisen,  aber  die  Wirklichkeit  richtet 
sich  nicht  darnach.  Uebrigens  bemerkt  Gehrcke  in  einer  späteren  Zuschrift 
an  den  Herausgeber  der  „Naturwissenschaften",  dass  die  Rechnungen  von 
Minkowski  gar  nicht  auf  die  Einsteinschen  Deutungen  der  Lorentz  sehen 
Gleichungen  gehen,  was  man  bisher  gar  nicht  beachtet  habe.  Das  ist  so 
ziemlich  dasselbe,  was  wir  dagegen  bemerkt  haben,  'dass  ihnen  nichts  in 
der  Wirklichkeit  entspricht. 

Born  ereifert  sich  sehr  gegen  den  Vorwurf  der  Massensuggestion  in 
der  Relativitätsfrage.  Aber  es  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  un- 
sinnigsten philosophischen  und « religiösen  Systeme  ebenso  wunderbare 
Propaganda  machen,  wie  die  abgeschmacktesten  Moden  der  Frauenwelt. 
Ausser  der  psychischen  Ansteckung  liegen  freilich  auch  geheime  Motive 
solcher  Verbreitung  zu  Grunde,  bei  den  Damen  die  Eitelkeit,  bei  geistiger 
Suggestion  der  Reiz  der  Neuheit  und  regelmässig  die  Weltanschauung, 
speziell  die  monistische,  welcher  die  Neuheit  dient. 

V. 

Wie  scharf  die  Gegensätze  in  der  Beurteilung  des  Relativitätsprinzips 
sind,  zeigen  zwei  Aufsätze  in  den  soeben  ins  Leben  getretenen  „Jahrbüchern 
der  Philosophie",  herausgegeben  von  M.  Frischeisen-Köhler.  Ein 
strammer  Verteidiger  desselben  ist  M.  Laue^).     Er  erklärt: 

„Die  Zeit  hat  nach  der  bisherigen  in  Philosophie  und  Physik  gleich  tief 
wurzelnden  Anschauung  ihre    absolute  Existenz    ohne   jede  Beziehung   zu 


')  Das  Relativitätsprinzip  S.  99  ff. 


Der  Streit  um  die  Relativitätstheorie.  335 

räumlichen  Achsenkreuzen.  Dies  als  ein  unbegründetes  Vorurteil  erkannt 
zu  haben,  ist  die  Tat  Einsteins".  Er  glaubt  im  Ernste  mathematisch 
die  Ungeheuerlicbkeit  beweisen  zu  können :  „Eine  mit  der  Geschwindig- 
keit q  bewegte  Uhr  geht  also  im  Verhältnis  Ki_£!  langsamer  als  dieselbe 
Uhr,  wenn  sie  ruht". 

Dagegen  kommt  Frischeisen-Köhler^)  zum  Ergebnis:  „Die  Ein- 
steinsche  Zeitdefinition  besagt  daher  streng  genommen  keine  Kontraktion 
der  Zeit,  sondern  nur  in  allgemeinster  Form  ihres  InhaUs,  nämlich  der 
Vorgänge,  durch  welche  die  Ortszeit  gemessen  wird.  Bestehen  diese  Er- 
wägungen zu  Recht,  dann  folgt,  dass  die  Relativitätstheorie  die  gedankliche 
Voraussetzung  der  einen  Zeit  nicht  umgehen  kann". 

„Die  Annahme  des  Relativitätsprinzips  für  gleichförmige  Translationen 
schhesst  die  Annahme  einer  Zeit,  die  vom  Bewegungszustande  abhängig 
wäre,  aus.  Trifft  es  allgemein  zu,  dass  allgemein  die  Relativitätstheorie 
den  Begriff  der  absoluten  Bewegung  voraussetzt,  dann  ist  damit  auch  die 
Einheitszeit  im  Sinne  Newtons  und  Kants  eingeführt,  ist  der  Schritt  von 
Einstein  über  Lorentz  rückgängig  gemacht". 

Nach  unseren  obigen  Ausführungen  sind  diese  letzteren  Folgerungen 
gegen  das  Relativitätsprinzip  (von  Kant  abgesehen)  unabweisbar. 

')  Das  Zeitproblem  S.  129  ff. 


Zur  Psychologie  des  Zweifels. 

Von  P.  Daniel  F eulin g  0.  S.  B.  in  Erdington-Birminghain. 


Die  psychologische  Natur  des  Zweifels  ist  bisher  verhältnismässig  nur 
wenig  untersucht  und  behandelt  worden.  Die  nieisten  Autoren,  die  darauf 
eingehen,  begnügen  sich  mit  summarischen  Feststehungen,  die  gewöhnlich 
mehr  durch  logische  und  erkenntnistheoretische,  als  durch  psychologische 
Interessen  veranlasst  sind.  Wir  legen  im  folgenden  den  Versuch  einer 
genaueren,  wenn  auch  kurzen  Psychologie  des  Zweifels  vor. 

1.  Der  Zweifel  ist  allgemein  bekannt  als  ein  eigenartiges  Verhältnis  des 
menschlichen  Geistes,  genauerhin  des  Verstandes,  zu  seinem  naturent- 
sprechenden Objekt,  der  Wahrheit.  Wie  schon  die  sprachliche  Bezeich- 
nung (Zwei-fel,  dubitatio)  nahelegt,  handelt  es  sich  dabei  um  eine  Ent- 
zweiung des  erkennenden  Geistes  angesichts  seines  Objektes,  um  ein 
Gezogenwerden  nach  zwei  verschiedenen  Seiten :  intellectus  anceps  inter 
duo  *).  Die  besondere  Art  dieser  Entzweiung  wird  von  verschiedenen 
Autoren  verschieden  beschrieben.  Albert  der  Grosse  erklärt:  Dubitatio 
est  acceptio  utriusque  partis  (contradictionis)  cum  formidine  falsi- 
tatis^).  Hier  wird  Nachdruck  auf  das  affektive  Moment,  die  Furcht  des 
Irrtums,  gelegt  und  ausserdem  von  einer  acceptio  utriusque  partis,  also  einer 
Zustimmung  zu  zwei  unvereinbaren  Thesen  gesprochen.  Der  hl.  Thomas 
dagegen  schliesst  bei  der  Definition  des  Zweifels  die  Zustimmung  geradezu 
aus.  Er  stellt  den  Zweifel,  zugleich  mit  der  Meinung  (opinio)  und  dem 
Nichtwissen  (nescientia>,  in  Gegensatz  zum  Assens,  letzterer  als  determinata  • 
acceptio  alterius  partis  contradictionis  gefasst.  Wenn  bestimmte,  aber  un- 
zureichende Gründe  für  den  einen  Teil  vorhanden  und  wirksam  sind,  ent- 
steht die  opinio:  (mens)  accipit  unam  partem  cum  formidine  alterius; 
wenn  gar  keine  oder  aber  gleichwertige  Gründe  für  beide  Teile 
sprechen,  so  erfolgt  keinerlei  Zustimmung,  und  der  Geist  befindet  sich 
im  Zustand  des  Nichtwissens,  bezw.  des  Zweifels.  Quando  homo  non 
habet  rationem  ad  alteram  partem  magis  quam  ad  alteram;  vel  quia  ad 
neutram  habet,  quod  nescientis  est;  vel  quia  ad  utramque  habet,  sed 


')  Siehe   die  Beschreibung   bei   Mercier,    Criteriologie  generale'   (1911) 
.5  ff.,  32  f. 

*)  Isagoge  in  libr.  de  Anima  c.  32. 


Zur  Psychologie  des  Zweifels.  33^ 

aequalem,  quod  dubitantis  est:  tunc  nullo  modo  assentit,  cum  nullo 
modo  determinetur  eius  iudicium,  sed  aequaliter  se  habeat  ad  diversas'). 
Wiederum  ein  anderer  Anblick  des  Zweifels  wird  geboten,  wenn  ein  neuerer 
Autor  definiert:  Dubium  est  status,  quo  intellectus  fluctuat  inter  duas 
partes  contradictorii  ^). 

In  diesen  verschiedenen  Beschreibungen,  denen  weitere  beigefügt  werden 
könnten 3),  erscheint  der  Zweifel  anders  und  anders  bestimmt:  bald  als 
ein  ruhender  Zustand,  bald  als  eine  unruhige  Bewegung,  einmal  als  ein 
Assens  besonderer  Art,  dann  wieder  als  die  Abwesenheit  jeden  Assenses. 
Wir  hoffen  nun  zu  zeigen,  dass  solche  Verschiedenheit  nicht  Widerspruch 
bedeutet,  dass  die  von  einander  abweichenden  Darstellungen  lediglich  ver- 
schiedene Seiten  des  nämhchen  Phänomens  herausheben,  so  dass  diese 
Verschiedenheit  nur  als  ein  Anzeichen  der  komplexen  Natur  dessen  er- 
scheint, was  unter  den  Begriff  des  Zweifels  fällt. 

2.  Indem  wir  nun  unsere  eigene  Analyse  des  Zweifels  beginnen,  müssen 
wir  vor  allem  den  Gegenstand  der  Untersuchung   genauer  abgrenzen.     So 
sei  denn  vor  allem  gesagt,   dass  wir  uns  ausschhesslich  mit  dem  speku- 
lativen Zweifel    beschäftigen  werden,    den   praktischen  Zweifel  ganz  bei 
Seite  lassend.    Der  spekulative  Zweifel  hegt  in  der  Linie  der  theoretischen, 
sog.  reinen  Erkenntnis   (cognitio  speculativa)    und    betrifft    schlechthin   die 
objektive  Seinsfrage    oder  Wahrheitsfrage,    die  Frage,    ob    etwas   sei    oder 
nicht  sei,  ob  einem  bestimmten  Subjekt  ein  bestimmtes  Prädikat  zukomme 
oder  nicht.     Der  praktische  Zweifel   hingegen   gehört   dem  Gebiete  der 
praktischen  Erkenntnis  (cognitio  practica)  an  und  betrifft  die  Entscheidung 
des  Subjekts  betreffs  einer  zu  setzenden  Handlung,  die  Frage,  ob  das  er- 
kennende und  wollende  Subjekt,  entsprechend  seiner  aktuellen,    konkreten 
Willensdisposition,   etwas   als   ihm  selber  gut  und  wünschenswert   bejahen 
oder  verneinen  müsse.     Der  praktische  Zweifel   ist  Sache  des  praktischen 
Verstandes,  d.  h.  des  Verstandes,  insofern  er  unter  dem  Einfluss  des  Willens 
bestimmt   und   entscheidet,    was   als   das  konkrete  Gut  des  Subjekts  unter 
den    konkreten    Umständen    (namentlich    anbetraehts    der   Verfassung    des 
Subjektes)  angestrebt  und  getan  werden  soll;  der  spekulative  Zweifel  hin- 
gegen ist  Sache  des  spekulativen  Verstandes,  welcher  von  dem  Wohl  und 
Wehe  des  Subjekts,  von  dem  „bonum  mihi"  absieht  und  rein  durch  sach- 
liche, nicht     praktisch-persönliche  Gründe   bestimmt  wird.     Dasselbe  Indi- 
viduum   kann    spekulativ  völlig  klar  und  gewiss    in    einer  Sache    sein,    in 
welcher    es    praktisch    im   Ungewissen,    im  Zweifel   ist.     So  kann  jemand 
spekulativ  überzeugt  sein,  dass  es  ihm  nicht  gut  ist,  gegen  das  Sittengesetz 

*)  In  II.  Sent..  Dist.  23,  q.  2,  a.  2. 

')  Jos.  Gredt,  Elementa  Philosophiae  aristotelico-thomisticae  II-'  (1912)  48. 
')  Wir  verweisen    auf  den    reichhaltigen   Artikel   „Zweifel"  in    R.  Eisler 
Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe  IIF  (1910)  1928  f. 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  22 


33Ö  Daniel  Feuling. 

zu  handeln,  dennoch  aber  praktisch  schwanken  und  zweifeln,  ob  er  dem 
sittlichen  Gesetz  folgen  solle  oder  nicht.  Die  unmittelbare  Ursache  des 
praktischen  Zweifeis  ist  ein  Verhalten  des  Willens,  während  der  spekulative 
Zweifel  in  einem  Verhältnis  sachlicher  Gründe  seinen  Ursprung  hat.  Nur 
der  spekulative  Zweifel  ist  Zweifel  im  eigentlichen,  strengen  Sinne,  denn 
nur  der  spekulative  Zweifel,  nicht  aber  der  praktische,  besagt  ein  besonderes 
Verhältnis  des  Intellekts  zur  Wahrheit  als  solcher,  ein  solches  Verhältnis 
aber  haben  wir  im  Auge,  wenn  wir  vom  Zweifel  schlechthin  reden.  Ledig- 
lich in  übertragenem,  analogem  Sinn  wird  das  Wort  Zweifel  auf  den  Zustand 
praktischer  Unentschiedenheit  angewandt.  Bloss  vom  spekulativen  Zweifel 
also  wird  im  folgenden  die  Rede  sein. 

Aber    auch    den    spekulativen  Zweifel    nehmen  wir    im    engeren    und 
eigentlichen  Sinne:    im  Sinne    des  wirklichen,   positiven  Zweifels.     Sowohl 
der  methodische  als  auch  der  sogenannte  negative  Zweifel  kommt  für  uns 
nicht    in  Betracht.     Der   negative  Zweifel    ist   identisch   mit  dem  Nicht- 
wissen,   eigentümlich    ist   dabei   nur  das  Bewusstsein  des  Nichtwissens 
und    die    daraus    entspringende,    noch    un^'elöste    Frage,  wie   sich   die  be- 
treffende Sache  denn  eigentlich  verhalte.     Bei  solchem  Nichtwissen  besteht 
die  Möglichkeit,    sich    an    die    eine    oder    die    andere  Seite    eines  Kontra- 
diktoriums,    oder    an    einen  Fall    aus  vielen  denkbaren  Fällen    zu    halten, 
und  mangels  entsprechender  Gründe  ist  man  im  Ungewissen,  wie  sich  die 
Stellungnahme  gestalten  müsse.    In  dieser  üngewissheit,  in  der  Möglichkeit, 
von    zwei  Seiten    angezogen    zu  werden,    liegt    eine  Art   polen'',ieller   Ent- 
zweiung, eine  Analogie  zu  der  aktuellen  Entzweiung  des  positiven  Zweifels, 
und    dies    ist   der  Grund,   weshalb    man  jede  zum  Bewusstsein  kommende 
und  zur  Frage  sich  gestaltende  Unwissenheit  und  Üngewissheit  als   (nega- 
tiven) Zweifel    zu  bezeichnen    pflegt.     Der  methodische  oder  hypothe- 
tische Zweifel    aber,    wie    er  in  jeder  wissenschaftlichen  Untersuchung  zur 
Verwendung  kommt,  ist  eine  blosse  Fiktion,  ein  Absehen  von  der  tatsäch- 
lich vorhandenen,  wenn  auch  vielleicht  nicht  reflexen  Gewissheit  über  die 
zu  untersuchende,  zu  entwickelnde,  zu  beweisende  Wahrheit,  eine  fingierte 
Einstellung   des  Geistes    auf   den  Stand   der   fragenden   Unwissenheit    und 
Üngewissheit.    Vom  wahren,  wirklichen  Zweifel  ist  der  methodische  Zweifel 
noch  weiter  entfernt  als  der  negative  Zweifel.    Wenn  daher   im   folgenden 
einfachhin  vom  Zweifel    die  Rede   ist,    so  wird    immer  der  positive,    nicht 
aber  der  negative  oder  der  methodische  Zweifel  gemeint  sein. 

3.  a.  Was  den  Zweifel  im  eigentlichen  Sinne,  den  positiven  Zweifel,  für 
den  aufmerksamen  Betrachter  zunäch.st  vor  allem  zu  charakterisieren  pflegt, 
ist  die  eigentümlich  peinliche,  angstvoll  unruhige  Gefühlsbetonung  des 
ganzen  Zuslandes.  Mehr  als  andere  Momenle  bestimmt  diese  affektive 
Seite  das  übliche  Gesammtbild  des  Zweifels.  Dennoch  handelt  es  sich 
dabei  um  eine  blosse  Begleiterscheinung,  nicht  um  den  letzten  Wesenskern 
des  Zweifels.     Eine   nähere  Umsicht    belehrt   nämlich  über  ein  doppeltes: 


Zur  Psychologie  des  /Zweifels.  339 

einmal  partizipieren  die  Zustände  bewu.sster  Unwissenheit  und  fragender 
Ungewissheit  sehr  oft,  und  manchmal  in  hohem  Grade,  an  jener  peinlichen 
Gefühlslage  und  Stimmung;  andererseits  ist  der  Zweifel  durchaus  nicht 
immer  von  jenem  heftigen  Ergriffensein  des  Strebevermögens  begleitet. 
Der  Mitklang  des  Gefühles  ist  in  der  Regel  bedingt  durch  das  Bewusstsein 
vom  Verluste  eines  bedeutenden  Gutes,  eines  für  unentbehrlich  erachteten 
Wertes.  Dieses  Gut,  dieser  Wert  aber  ist  in  unserem  Fall  die  Klarheit 
und  Bestimmtheit  der  Ueberzeugung,  die  Sicherheit  der  Orientierung  in 
mehr  oder  weniger  wichtigen  und  entseheidungsvollen  Dingen.  Dies  alles 
nun  geht  durch  den  Zweifel,  aber  auch  durch  Eintritt  in  die  einfache  Un- 
gewissheit des  Nichtwissens  verloren,  und  wenn  es  sich  um  ernste  oder 
als  bedeutungsvoll  erachtete  Angelegenheiten  handelt,  wird  eben  die  be- 
zeichnete peinliche  Gemütsaffektion  sich  geltend  machen.  Wo  hingegen 
nichts  Wichtiges  in  Frage  kommt,  wo  die  Ungewissheit  sich  auf  Gegen- 
stände bezieht,  die  dem  Individuum  gleichgültig  sind,  da  wird  die  Gemüts- 
erschütterung ebenso  beim  Zweifel  wie  beim  reinen  Niclitwissen  kaum 
jemals  auch  nur  in  schwachem  Grade  eintreten.  Diese  Fälle  der  unbe- 
deutenden Angelegenheiten  sind  nun  in  der  Tat  die  grosse  Ueberzahl,  aber 
gerade  wegen  ihrer  geringen  Bedeutung  und  wegen  ihrer  affektiven  Charakter- 
losigkeit erinnert  man  sich  ihrer  nicht  so  leicht,  während  man  bei  Worten 
wie  Ungewissheit  und  Zweifel  unwillkürUch  soiort  an  jene  peinvolle  Un- 
entschiedenheit  und  die  sie  begleitende  innere  Erregung  denkt,  wie  man 
sie  in  Ratlosigkeit  bei  Gefahren  des  leiblichen  Lebens,  in  schweren 
Pflichtenkollisionen,  in  Erschütterungen  der  religiösen  oder  philosophischen 
Ueberzeugungen  erfahren  haben  mag.  —  Ein  Ingredienz  des  affektiven 
Zustandes  dürfte  freilich  dem  Zweifel  eigentümlich  sein :  es  ist  die  Un- 
ruhe, das  Fluktuieren  des  Gefühls,  die  Instabilität  des  inneren  Zustandes. 
Aber  auch  dies  macht  keineswegs  das  Wesen  des  Zweifels  aus,  ist  viel- 
mehr, wie  jene  anderen  Gefühlsmomente,  die  dem  Zweifel  mit  der  Un- 
gewissheit gemein  sind,  eine  naturgemässe  Folge  des  intellektuellen 
Zustandes. 

Wir  lehnen  mithin  die  Auffassung  ab,  welche  Paul  Sollier  in  seinem 
Werke  „Le  Doute"  ^)  —  der  einzigen  selbständigen  Schrift,  die  uns  über 
den  Zweifel  bekannt  geworden  ist  —  vorgetragen  und  eingehend  zu  be- 
gründen gesucht  hat.  Ihm  ist  der  Zweifel  seinem  Wesen  nach  ein  pheno- 
mene  d'ordre  affectif,  emotif  et  personneP).  Sollier  ist  zu  seiner  Auf- 
fassung wohl  gekommen  durch  zu  einseitiges  Beachten  krankhafter  Zweifels- 
zustände ;  tatsächlich  sind  ja  seine  Ausführungen  zum  grossen  Teil  den 
Erscheinungen  des  pathologischen  Zweifels  gewidmet.  Beim  pathologischen 
Zweifel   drängt  sich   aber  das  affektive  Moment  in  ganz  besonderer  Weise 

»)  Paris  1909,  Alcan. 
')  1.  c.  402  und  öfters. 

22* 


340  Daniel  Feuling. 

in  den  Vordergrund,  ja,  das  krankhaft  spontane  Auftreten  und  Bestehen 
der  naturgemäss  mit  dem  Zweifel  verknüpften  Affektlage  ist  Anlass  für  das 
Entstehen  von  Zweifelsvorstellungen  und  eigentlichen  Zweifelsaklen,  das 
intellektuelle  Element  tritt  hier  tatsächlich  oft  als  eine  Folge  des  Affektes 
auf.  Aber  gerade  darin  besteht  eben  das  Krankhafte  am  ganzen  Zustand. 
Solliers  Grundfehler  ist  es,  der  Behandlung  des  Zweifels  im  allgemeinen 
eine  Definition  zu  Grunde  zulegen,  die  nur  vom  krankhaften,  eventuell 
auch  vom  praktischen  Zweifel  gilt.  Denn  auf  den  pathologischen  (und 
praktischen)  Zweifel  und  nur  auf  ihn  ist  —  mit  einigen  Korrekturen  — 
die  Begriffsbestimmung  anwendbar,  die  SoUier  als  Resultat  seiner  ein- 
leitenden Untersuchung  über  die  Natur  des  Zweifels  bietet:  „le  deute  est 
un  phenomene  d'ordre  affectif,  interessant  la  personnahte  tout  entiere 
primitivement,  entrainant  secondairement  des  reactions  intellecluelles  et 
volitionnelles,  et  constitue  par  un  conflit  entre  des  etats  quelconques 
d'activite  cerebrale,  conflit  ä  forme  d"oscillations  se  produisant  d'une  fagon 
involontaire   et   s'aceouipagnant   d'un  sentiment  plus  ou  moins  penible"  ^). 

b.  Kommen  wir  nach  dieser  Feststellung  über  die  Bedeutung  des  Gefühls 
im  Ganzen  des  Zweifels  zu  dem,  was  das  eigentliche  Wesen  des  Zweifels 
ausmacht:  zu  dem  besonderen  Verhalten  des  zweifelnden  Verstandes  an- 
gesichts seines  Erkenntnisgegenstandes.  Dass  wirklich  ein  besonderes  Ver- 
halten des  Verstandes  zu  seinem  Erkenntnisgegenstande  die  Natur  des 
Zweifels  konstituiert,  kann  einer  irgend  besonnenen  Analyse  nicht  entgehen. 
Wenn  Sollier  dem  widerspricht,  so  ist  dies  lediglich  die  Folge  seines 
falschen  Ausgangspunktes.  Weil  er  den  Zweifel  als  ein  in  erster  Linie 
affektives  Phänomen  betrachtet,  kommt  er  dazu,  jeden  inneren  Konflikt, 
betrefi'e  er  nun  Gedanken,  Vorstellungen,  Gefühle  oder  Strebungen,  als 
Zweifel  zu  bezeichnen 2),  ist  es  ihm  möglich,  den  wesentlich  intellektuellen 
Charakter  des  Zweifels  zu  übersehen.  Man  muss  in  der  Tat'  gegen  allen 
Sprachgebrauch  und  gegen  alle  übliche  psychologische  Begriffsbestimmung 
gehen,  wenn  man  als  Zweifel  im  strengen  und  eigentlichen  Sinn  etwas 
anderes  als  ein  bestimmtes  Verhältnis  des  Verstandes  zur  Wahrheit  be- 
zeichnen will  ^),  Dass  der  Terminus  im  übertragenen  Sinn  auf  anderen 
Gebieten  angewandt  wird,  dass  man  z.  B.  beim  Widerstreit  von  Motiven, 
die  teils  zu  einer  Handlung  drängen,  teils  von  ihr  zurückhalten,  sagt,  man 
sei  im  Zweifel,  was  man  tun  solle  (praktischer  Zweifel  im  Gegensatz  zum 
theoretischen),  ändert  für  den  Psychologen  nichts  an  der  Sache.  Es  ist 
also  kein  Grund  vorhanden,  von  der  überlieferten  Auffassung  des  Zweifeis 
abzuweichen. 

Wir  haben  im  Sinne  dieser  Auffassung  den  Zweifel  als  eine  Sache  des 
Verstandes  bezeichnet.     Damit    i.st    der  Zweifel    im    strengen  Sinn   des 


.')  1.  c.  'M. 
-)  Vgl.  1.  c.  13. 
^)  Vgl.  Eisler,  Würteibuch  der  phil.  Begriffe  IIP  1928  f. 


Zur  Psychologie  des  Zweifels.  341 

Wortes  jeder  anderen  Seelenkraft,  wie  etwa  den  Sinnen,  abgesprochen. 
Der  Grund  des  spezifisch  intellektuellen  Charakters  des  Zweifels  liegt  darin, 
dass  es  sich  eben  um  ein  Verhältnis  des  Geistes  zur  Wahrheit  als  solcher 
handelt,  ein  Verhältnis  zur  Wahrheit  als  solcher  aber  ist  das  Privileg  des 
Intellekts.  Natürlich  will  der  Ausschluss  des  Zweifels  in  Hinsicht  auf  die 
Sinne  nicht  besagen,  dass  der  Zweifel  sich  nur  auf  nichtsinnliche,  über- 
sinnliche Dinge  beziehen  könne,  da  ja  die  Verstandeserkenntnis  auch  die 
Sinnenwelt  erreicht.  Ebenso  will  mit  der  Betonung  der  Intellektualität  des 
Zweifels  keineswegs  behauptet  werden,  dass  der  Wille  nicht  mit  im  Spiele 
sei ;  derselbe  kann  vielmehr  in  sehr  ausschlaggebender  Weise  beim  Zweifel 
beteiligt  sein,  indem  er  den  Verstand  auf  mannigfaltige  Art  in  seinem 
Verhältnis  zum  Erkenntnisgegenstand  beeinflusst  und  bestimmt.  Nur  das 
soll  behauptet  werden,  dass  der  Zweifel  als  solcher,  formell  betrachtet, 
eine  Verhaltungsweise  des  Verstandes  ist. 

Und  zwar  des  urteilenden  Verstandes.  Der  Grund  dafür  ist  der 
nämliche  wie  oben :  es  handelt  sich  beim  Zweifel  um  ein  Verhältnis  des 
Verstandes  zur  Wahrheit  als  solcher,  ein  derartiges  Verhältnis  findet  sich 
aber  nicht  in  dem  bloss  auffassenden  Verstand  (simplex  apprehensio),  es 
reahsiert  sich  vielmehr  nur  im  urteilenden  Verstand:  nur  in  ihm  findet 
eine  Stellungnahme,  sei  sie  bejahend  oder  verneinend,  statt.  Man  wird 
vielleicht  das  Bedenken  erheben,  dass  im  Zweifel  ja  nicht  ein  Urteil  gefällt 
werde,  sondern  Urteilsenthaltung  vorliege.  Wir  werden  von  diesem  Punkte 
noch  zu  reden  haben;  für  den  Augenblick  genüge  die  Feststellung,  dass 
im  Zweifel  jedenfalls  nicht  blosse  Begriffe,  sondern  Urteile  in  Betracht 
kommen,  kontradiktorische  Urteile  über  dieselbe  Sache,  und  dass  der  Zweifel 
ein  besonderes  Verhalten  des  Geistes   diesen  Urteilen  gegeniiber   bedeutet. 

Mit  dieser  Feststellung  haben  wir  die  Grundlage  für  eine  vorläufige 
Definition  des  Zweifels  gewonnen,  und  wir  können  den  Zweifel  be.stimmen 
als  den  Zustand  des  Geistes,  worin  ihm  das  Kontradiktorische  zweier  seiner 
Urteile  zum  Bewusstsein  kommt,  oder  besser  vielleicht:  worin  ihm  zwei 
von  ihm  gefällte  Urteile  als  kontradiktorisch  zum  Bewusstsein  kommen. 
Der  Zweifel  ist  der  zum  Bewusstsein  kommende  Widerstreit 
zweier  Urteile. 

Gleich  muss  auf  einen  wichtigen  Punkt  aufmerksam  gemacht  werden, 
dessen  Beachtung  mancherlei  gegen  diese  Begriffsbestimmung  naheliegende 
Bedenken  beseitigen  wird.  Wir  sind  geneigt,  beim  Worte  „Urteil"  zunächst 
an  den  objektiven  Gehalt  des  betreffenden  Verstandesaktes  (conceptus  ob- 
iectivus  per  modum  iudicii)  zu  denken,  oder  auch  an  den  sprachlichen 
Ausdruck  einer  Prädizierung  (Urteil  im  grammatikalischen  Sinne).  In  dieser 
Bedeutung  wird  das  Wort  „Urteil"  hier  nicht  genommen.  Denn  es  können 
mir  in  ungezählten  Fällen  Urteile,  in  diesem  objektiven  oder  grammati- 
kalischen Sinne  genommen,  als  kontradiktorisch  zum  Bewusstsein  kommen, 
ohne  dass  auch  nur  im  geringsten  etwas  wie  Zweifel  sich  in  mir  regt.    So 


342  Daniel  Feuling. 

kann  mir  der  Salz:  „die  Erde  steht  still"  gegenwärtig  sein  zugleich  mit 
dem  Bewusstsein,  dass  derselbe  mit  dem  gleichzeitig  vor  meinem  Geiste 
gegenwärtigen  Satze :  .,die  Erde  steht  nicht  still"  in  vollem  Widerspruche 
ist,  und  ich  bin  doch  weit  entfernt  von  einem  Zweifel  in  dieser  Sache. 
In  diesem  Sinne  des  blossen  Denkens  („Vorstellens")  oder  sprachlichen 
Ausdrückens  eines  Prädikatszusammenhangs  zwischen  zwei  Begriffen  wird 
also  in  obiger  Definition  das  Wort  „Urteil"  nicht  genommen.  Vielmehr 
ver.stehen  wir  hier  unter  Urteil  stets  und  ausschliesslich  denjenigen  Akt, 
wodurch  der  Geist  zu  einer  Subjekt-Prädikatsrelation  im  Sinne  des  Ja  oder 
Nein  entscheidende  Stellung  nimmt,  wodurch  er  mithin  bejaht  oder  ver- 
neint, dass  P  dem  S  zukomme.  Der  Sinn  unserer  obigen  Definition  des 
Zweifels  als  des  Widerstreits  zweier  Urteile  ist  also  dieser:  der  Zustand 
des  Zweifels  tritt  dann,  und  nur  dann  ein  wenn  der  Geist  tatsächlich  (sei 
es  auch  nicht  in  .<;o  auffälliger  Form)  zu  gleicher  Zeit  zwei  kontradiktorische 
Urleile  als  seine  eigenen  Urteile  und  Entscheidungen  gegenwärtig 
hat,  wenn  er  sieht,  dass  er  dem  nämlichen  Subjekt  das  nämliche  Prädikat 
zugleich  und  in  der  nämUchen  Hinsicht  zuspiicht  und  abspricht,  und  wenn 
er  ausserdem  gewahr  wird,  dass  dieses  doppelte  Verhalten  in  sich  einen 
Widerspruch  und  damit  eine  logische  Unmöghchkeit  trägt. 

c.  Haben  wir  bisher  festgestellt,  dass  der  Zweifel  wesentlich  ein  bewusst 
werdender  Widerstreit  von  Urteilen  ist,  so  können  wir,  einen  Schritt  weiter 
gehend,  sein  Wesen  noch  genauer  zum  Ausdruck  bringen,  indem  wir  sagen, 
er  be.stehe  in  einem  zum  Bewusstsein  kommenden  Widerstreit 
von  Gewissheiten.  Denn  jedes  Urteil,  wie  immer  es  auch  lauten  mag, 
so  lange  es  nur  ein  wirkliches  Urteil  und  nicht  eine  blosse  Vorstellung  ist, 
trägt  den  Charakter  der  Gewissheit  an  sich.  Natürlich  verstehen  wir  hier 
unter  Gewissheit  nicht  die  logische  Geltung  oder  die  objektive  Evidenz 
(cerlitudo  et  evidentia  obiectiva),  die  der  Wahrheit  ihrer  Natur  nach  zu- 
kommt; solch  objektive  Gewissheit  oder  Evidenz  eignet  nicht  jedem  Urleil 
bzw.  Urteilsinhalt  des  men.schlichen  Erkenntniskreises,  da  es  ja  auch  falsche, 
inevidente  Urteile  gibt,  wie  eine  nur  zu  häufige  Erfahrung  beweist.  Sondern 
wir  verstehen  unter  Gewissheit  die  subjektive  Gewissheit  (certitudo 
subiectiva),  dieUeberzeugung  von  der  tatsächlichen  objektiven  Geltung 
des  im  Urteil  ausgesagten  Verhältnisses  von  Subjekt  und  Prädikat,  gleich- 
viel ob  diese  Ueberzeugung,  dieses  Ruhen  im  betreffenden  Urteil  auf  recht- 
mässige oder  unrechtmässige  Weise  herbeigeführt  ist.  Diese  subjektive 
Gewissheit  ist  einem  jeden  Urteil  wesentlich,  mag  es  sich  auch  um  ein 
sogenanntes  Wahrscheinlichkeitsurteil  handeln;  in  solchem  Falle  ist  der 
letzte  Sinn  des  Urteils  eben  der,  es  sei  wahrscheinlich,  dass  sich  die  Sache 
so  und  so  verhalle,  diese  Wahrscheinlichkeit  selbst  aber  sei  unbezweifel- 
bar.  Der  Sache  nach  wird  dies  von  den  alten  wie  neuen  Scholastikern 
deutlich  gelehrt,  wenn  sie  hervorheben,  dass  einerseits  jedes  Urteil  ent- 
weder wahr  oder  falsch,  andererseits  aber  das  wahre  Urteil  eine  cognita 


Zur  Psychologie  des  Zweifels.  343 

adaequatio  intellectus  cum  re  und  das  falsche  Urteil  eine  inadaequatio  ut 
cognita  besagt').  Von  den  Modernen  aber  wird  der  Gewissheitscharakter 
jeglichen  Urteils  anerkannt,  wenn  sie  betonen,  dass  zur  Prädizierung  not- 
wendig ein  Anerkennen  oder  Verwerfen  (Brentano),  ein  kritisches  Verhalten, 
eine  Bestätigung  oder  Fiir-gültig-Erklärung,  resp.  eine  Verwerfung  oder  Fiir- 
ungültig-Erklärung  (Bergmann),  eine  Beurteilung  und  Entscheidung  (Windel- 
band) hinzukommen  müsse,  sowie  dass  die  Idee  des  Urteils  von  jener  der 
Wahrheit  des  Urteils  nicht  zu  trennen  sei,  dass  jedes  Urteil  eben  darin 
bestehe,  zu  urteilen,  etwas  sei  wahr  (J.  St.  Mill). 

Wenn  wir  mithin  den  Zweifel  als  den  zum  Bewusstsein  kommenden 
Widerstreit  von  üewissheiten  bezeichnen,  so  will  das  heissen,  dass  der 
Zweifel  dann  zur  Wirklichkeit  wird,  wenn  zwei  sich  widersprechende  Ur- 
teile vom  nämlichen  Intellekt  gefällt  und  als  wahr  und  sicher  festgehalten 
werden,  und  wenn  sodann  der  Widerspruch  und  die  Unvereinbarkeit  der- 
selben zum  Bewusstsein  kommt.  Solange  oder  sobald  eines  der  angegebenen 
Elemente  —  für  wahr  gehaltene  gegensätzliche  Urteile  oder  Gewissheiten 
und  Bewusstsein  ihres  Widerspruchs  —  nicht  vorhanden  ist,  kann  von 
Zweifel  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  nicht  die  Rede  sein. 

Es  mag  befremdUch  klingen,  wenn  man  von  einem  bewusst  werdenden 
Widerstreit  von  Gewissheiten  reden  hört.  Aber  eine  sorgfältige  Analyse 
des  Bewusstseinsinhaltes  beim  Entstehen  des  Zweifels  führt  zu  diesem 
Resultate.  Nur  muss  man  immer  im  Auge  behalten,  dass  hier  der  Terminus 
„Zweifel"  im  engen  und  strengen  Sinne  genommen  wird,  nicht  lür  einen 
Zustand  des  fragenden  Nichtwissens,  auch  nicht  für  ein  inhaltlich  proble- 
matisches, formell  aber  völlig  sicheres  Wahrscheinlichkeitsurteil.  Wenn 
man  sich  in  Hinsicht  auf  den  entstehenden  Zweifel  genauer  prüft,  dann 
wird  man,  wo  immer  die  Erinnerung  an  die  inneren  Vorgänge  deutlich 
und  klar  genug  ist,  etwa  folgendes  konstatieren  können :  Zunächst  fällt 
man  in  irgend  einer  Sache  ein  bestimmtes  Urteil,  das  man  für  wahr  und 
sicher  hält,  mag  es  nun  objektiv  sicher  sein  oder  nicht.  Dieses  Urteil 
wird  sich  dem  bereits  vorhandenen  Wissensschatz  eingliedern  und  in  Zu- 
kunft auch  ohne  einlässliche  Erneuerung  seiner  Begründung  für  wahr  ge- 
halten und  als  gewiss  vertreten  werden.  Dann  mag  es  sich  im  Laufe  der 
weiteren  geistigen  Entwickelung  ereignen,  dass  man  von  ganz  anderer 
Seite  her,  als  es  ehedem  der  Fall  war,  an  die  nämliche  Sache  herankommt, 
und  unter  dem  Einfluss  neuer  Materialien  und  Gründe  das  kontradiktorische 
Urteil,  gleichfalls  mit  der  Ueberzeugung  der  Richtigkeit,  sich  bildet,  oder 
ein  Urleil,  das  dem  Kontradiktorium,  wenn  auch  nicht  in  der  Form,  so 
doch  nach  Inhalt  und  Bedeutung,  äquivalent  ist.    Die  blosse  Bildung  dieses 

')  Siehe  Sl.  Thomas,  Summa  theol.  t  q.  16  a.  2;  q.  17  a  3.  —Von  den 
neueren  Scl.olastikern  vergl.  J.  Rickaby,  First  Principles  of  Knowledge*. 
London  1901,  24  f. 


344  Daniel  Feuling. 

neuen  Urteils  reicht  nun  aber  noch  nicht  hin,  unn  den  Zweifel  im  Geiste 
entstehen  zu  lassen.  Tatsächlich  ereignet  sich  ja  im  praktischen  Leben 
wie  auch  in  der  wissenschaftlichen  Arbeit  gar  manchesmal  dieser  Fall : 
man  stellt  das  neue  Urteil  mit  dem  alten  nicht  vergleichend  zusammen, 
man  wird  des  zwischen  beiden  obwaltenden  Widerspruches  nicht  gewahr. 
Sobald  man  aber,  während  das  eine  der  beiden  Urteile  dem  Bewusst.sein 
gegenwärtig  ist,  sich  auch  des  andern  mitsamt  seiner  Begründung  oder 
doch  in  seiner  Eigenschaft  als  eines  für  sicher  erachteten  und  bereits  an- 
genommenen Urteils  erinnert,  und  zudem,  worauf  es  natürlich  vor  allem 
ankommt,  des  kontradiktorischen  Verhältnisses  beider  durch  raschen,  meist 
völlig  spontanen  Vergleich  bewusst  v:ird,  dann  tritt  der  eigentümliche 
Zustand  ein,  in  welchem  der  Geist  in  sich  das  Ja  und  Nein  vereinigt,  sich 
selbst  in  den  Widerspruch  verwickelt,  das  Grundgesetz  seines  ganzen 
Denkens,  den  Satz  vom  Widerspruch,  verletzt,  sich  selbst  entzweit  sieht; 
der  Zweifel,  die  innere  Spaltung  ist  an  die  Stelle  der  Gewissheit  getreten. 

d.  Hier  entsteht  nun  die  Frage,  welcher  Art  das  für  den  Zweifel  wesent- 
liche Bewusstsein  um  die  Entzweiung  in  der  urteilenden  Erkenntniskraft 
sei.  Handelt  es  sich  um  ein  Urteil  über  die  sich  widerstreitenden  Urteile 
imd  Gewissheiten,  oder  aber  liegt  lediglich  eine  einfache  Wahrnehmung, 
simplex  apprehensio  intelleetualis,  vor?  Eine  Antwort  auf  diese  Frage 
kann  nicht  gegeben  werden,  ohne  dass  man  Stellung  nimmt  zu  dem  allge- 
meineren psychologischen  Problem,  ob  es  überhaupt  eine  rein  intellektuelle 
Wahrnehmung  ohne  gleichzeitige  Prädizierung  in  einem  Urteil  gebe  und 
geben  könne.  Wir  setzen  hier  die  bejahende  Antwort  voraus  und  betrachten 
das  Bewusstsein  um  die  intellektuelle  Entzweiung,  das  Gewahrwerden  der 
vorliegenden  Kontradiktion  im  urteilenden  Verhalten  des  Subjekts  als  eine 
einfache  intellektuelle  Wahrnehmung,  allerdings  nicht  als  eine 
absolute,  sondern  als  eine  konnotative,  insofern  das  eine  der  beiden  Urteile 
konzipiert  wird  im  vergleichenden  Hinblick  auf  das  andere,  mit  der 
Konnotation  des  anderen :  in  der  Weise  also,  wie  alles  Relative  oder  in 
Vergleich  Gezogene  aufgefasst  werden  muss.  Den  Grund  aber  dafür,  dass 
die  Konstatierung  jener  Entzweiung  durch  eine  simplex  apprehensio  erfolge 
(sowie  einen  Hauptgrund  für  die  Annahme,  dass  es  eine  simplex  apprehensio 
ohne  gleichzeitige  Urteilsbildung  gebe),  finden  wir  in  der,  wie  uns  scheint 
unleugbaren,  Unmöglichkeit,  die  für  den  Intellekt  besteht,  eine  eigentliche 
Kontradiktion  urteilend  festzustellen  und  als  wirklich  zu  bejahen. 
Denn  dass  dasselbe  zugleich  und  unter  derselben  Hinsicht  sei  und  nicht 
sei,  dies  mit  Verständnis  der  Sache  und  mit  innerer  Gewissheit  zu  be- 
haupten, ist  nicht  nur  eine  logische,  sondern  geradezu  eine  physisch- 
psychologische, ja  metaphysische  Unmöglichkeit.  Hingegen  lässt  sich  eine 
Kontradiktion  durch  simplex  apprehensio  recht  wohl,  auch  in  concreto, 
konzipieren ;  andernfalls  wäre  es  uns  ja  überhaupt  unmöglich,  einen  Begriff 


Zur  Psychologie  des  Zweifels.  345 

des  Widerspruchs    zu  bilden,    und    das  Kontradiktionsprinzip  könnte  nicht 
das  Grundgesetz  all  unseres  Denkens  sein. 

4.  Nach  der  Lösung  der  aufgeworfenen  Frage  lässt  sich  über  einen  schon 
berührten  Punkt  genaueres  aussagen.  Wir  stellten  fest,  dass  der  Zweifel 
eine  Verhaltungsweise  des  urteilenden  Verslandes  sei,  mussten  aber 
von  näheren  Bestimmungen  absehen.  Nunmehr  können  wir  sagen,  dass 
der  Zweifel  allerdings  eine  Zuständlichkeit  des  Urteilsvermögens  ist,  inso- 
fern er  im  bewusstwerdenden  Widerstreit  von  Urteilen  und  Gewissheiten 
besteht,  müssen  aber  hinzufügen,  dass  der  Zweifel  selbst  kein  Urteil 
ist.  Der  Verstand  kann  nur  zweifeln,  insofern  er  urteilt.  Die  Materie  des 
Zweifeis  finden  wir  in  den  kontradiktorischen  Urteilen,  die  Form  des  Zweifels 
(wenn  man  so  sagen  darf)  ist  das  Bewusstsein  von  dem  logischen  Ver- 
hältnis der  beiden  Urteile.  Und  gerade  darin  liegt  das  unfassbar  Irratio- 
nale des  Zweifels,  dass  er  nie  auf  die  Stufe  des  Urteils  erhoben  werden 
kann ;  jeder  Versuch  nach  dieser  Seite  bedeutet  sofort  eine  Sistierung  des 
Zweifels,  ein  Heraustreten  des  Subjektes  aus  seiner  Zerrissenheit,  eine  Ent- 
wirklichung des  absurden  Zustandes  vermittelst  dessen  gedanklicher  Ob- 
jektivierung. 

Die  letzten  Bemerkungen  deuten  die  Richtung  an,  in  welche  die  Tätig- 
keit des  Verstandes  beim  Auftreten  des  Zweifels  notwendig  getrieben  wird. 
Bei  der  Konstafierung  des  Irrationalen  innerhalb  seiner  eigenen  Denktätig- 
keit kann  der  Verstand  nun  und  nimmer  zur  Ruhe  kommen.  Notwendiger- 
weise folgt  auf  den  Zweifel  und  aus  dem  Zweifel  dessen  Ueberwindung 
im  Urteil.  Die  Wahrnehmung  des  Widerspruchs  zwingt  den  Verstand 
zu  einer  urteilenden  Stellungnahme  zu  den  kontradiktorischen  Urteilen,  zu 
ihrem  Inhalt  und  zum  Verhältnis  des  Verstandes  dazu.  Der  Widerspruch 
muss  entweder  bejaht  oder  verneint  werden.  Bejaht  kann  er  nicht  werden, 
wie  wir  schon  gesehen  haben.  Also  wird  er  verworfen.  Und  mit  diesem 
Akt  der  Verwerfung  ändert  sich  die  ganze  Lage  auf  einen  Schlag.  Indem 
nämlich  über  jene  Kontradiktion  das  Urteil  der  Verwerfung  ausgesprochen 
wird  —  Urteil  in  dem  vollen  Sinne  genommen,  den  wir  oben  angegeben 
haben  — ,  besteht  die  Kontradiktion  im  Geist  und  für  den  Geist  überhaupt 
nicht  mehr.  An  die  Stelle  der  beiden  Urteile  und  Gewissheiten,  die  in 
unversöhnlicher  Feindschaft  aufeinanderstiessen,  und  in  deren  bewusster 
KoUision  der  Zweifel  letzten  Grundes  bestand,  ist  ein  ganz  neues  Urteil 
und  eine  neue  Gewissheit  getreten,  die  freilich  zunächst  nur  negativen 
Inhaltes  sein  kann  und  sich  zusammenfassen  lässt  in  das  Wort :  nescio, 
ich  bin  im  Ungewissen  über  den  Gegenstand  des  früheren  Urteilspaares, 
im  Ungewissen  über  den  Erkenntniswert  der  beiden  kontradiktorischen 
Prädizierungen ;  es  ist  etwas  wäe  das  sokratische  „hoc  unum  scio,  me  nihil 
scire",  zu  dem  der  Geist  hinsichtlich  des  Gegenstandes  seines  Zweifels 
gelangt  ist;  ein  Urteil,  das  nicht  den  Gegenstand  des  Zweifels  unmittelbar 
betrifft,    sondern   eine  Aussage   über   das  Verhältnis  des  Geistes  zu  jenem 


34fi  Daniel  Feuling. 

Gegenstand  enthält.  —  Dass  aber  ein  so  unvermitteltes  Umschlagen  aus 
Hetn  in  seiner  Auswirkung  schlechterdings  unmöglichen  Zweifelszustand 
in  den  Zustand  einer  neuen  Gewissheit  möglich,  ja  notwendig  ist,  hat 
seinen  Grund  in  der  Eigenart  der  geistigen  Bewusstseinswirklichkeiten,  von 
denen  das  Wort  gilt,  das  Locke  auf  die  sinnlichen  Qualitäten  anwandte : 
earum  esse  est  percipi.  Indem  sich  der  Geist  urteilend  auf  das  wendet, 
was  ihn  eben  noch  in  seinem  eigensten  Wesen  angriff  und  gefährdete, 
macht  er  aus  seinem  Akt  sein  Objekt,  durch  die  Negation  seines  Wissens 
betreffs  der  fraglichen  Sache  die  widersprechenden  Urteile  logisch  und 
psychologisch  vernichtend. 

Dies  alles  aber,  was  wir  nur  in  langsamer  Auseinanderfaltung  deut- 
lich machen  konnten,  erfolgt  wortwörtlich  in  einem  Augenblick.  Im  näm- 
lichen Moment,  in  dem  die  konnotative  Wahrnehmung  des  Widerspruchs 
eintritt,  erfolgt  auch  schon  die  Abschüttelung  der  kontradiktorischen  Urteile 
durch  das  neue  Urteil.  Denn  irgend  welches  Verweilen  in  den  Absurdi- 
täten des  Widerspruchs  wäre  nicht  nur  logisch,  sondern  auch  psychologisch 
und  metaphysisch  unmöglich.  Gerade  diese  ausserordentliche  Raschheit 
der  Aufeinanderfolge  so  verschiedener  Zustände  erschwert  die  genauere 
Analyse  des  Zweifels.  Aehnliches  bezüglich  der  Raschheit  des  Wechsels 
gilt  teilweise  auch  von  den  weiterhin  eintretenden,  nunmehr  kurz  zu  be- 
schreibenden Verhaltungsweisen  des  durch  den  Zweifel  affizierten  Geistes. 

5.  Wir  waren  bis  zu  dem  ablehnenden  Nescio  gelangt,  zu  welchem  der 
zweifelnde  Geist  angesichts  des  offenbar  gewordenen  Widerspruchs  flöchtet. 
An  und  für  sich  mag  damit  die  ganze  Sache  ihre  Erledigung  finden.  Bei 
ganz  unbedeutenden,  den  Geist  weiter  nicht  interessierenden  Gegenständen 
dürfte  dies  auch  häufig  das  tatsächliche  Verhalten  sein :  man  kümmert  sich 
nicht  weiter  um  die  Angelegenheit  und  geht  darüber  hinweg  aut  andere 
Dinge  über,  weil  man  innerlich  völlig  gleichgültig  gegen  die  in  Zweifel 
geratene  und  fraglich  gewordene  Wahrheit  ist.  Oder  man  verhindert  aus 
irgend  welchen  —  berechtigten  oder  unberechtigten  —  Gründen  durch 
positiven  W^illenszwang  eine  fernere  Beschäftigung  mit  der  Sache.  In  an- 
deren Fällen  aber,  und  wohl  in  den  meisten,  wird  man  sich  nicht  ohne 
weiteres  bei  solcher  Lösung  durch  einfaches  Fallenlassen  der  Frage  be- 
ruhigen. Irgend  ein  Interesse,  sei  es  praktischer  oder  spekulativer  Art, 
wird  in  der  Regel  zu  dem  alten  Gegenstand  und  den  früher  darüber  ge- 
fällten Urteilen  zurückführen;  namentlich  dann,  wenn  es  sich  um  wichtige 
Angelegenheiten  des  äusseren  oder  inneren  Lebens  handelt,  denen  eine 
gesunde  Geistesart  nicht  wohl  aus  dem  Wege  gehen  kann,  und  nach  deren 
Klar-  und  Sicherstellung  die  vernünftige  Natur  durchaus  verlangt. 

Bei  dieser  Zurückwendung  zu  den  früheren  Urteilen  bezw.  zu  ihrem 
Gegenstand  können  verschiedene  Wege  begangen  werden.  Am  nächsten 
ist  es  gelegen,  dass  man  dem  einen  der  verworfenen  Urteile,  das  vielleicht 
der  Neigung  oder  Gewöhnung  besonders  entspricht,  wieder  seine  Aufmerk- 


Zur  Psychologie  des  Zweifels.  347 

samkeit  schenkt  und  sich  seiner  Berechtigung  neuerdings  zu  vergewissern 
sucht.  Leuchten  die  alten  Beweisgründe  abermals  ein,  oder  findet  man 
neue,  überzeugendere,  so  kann  das  alte  Gleichgewicht  und  die  alte  Ruhe 
des  Geistes  wiederkehren,  besonders  wenn  der  Wille  energisch  mithilft, 
die  Aufmerksamkeil  vom  andern  Teil  des  Kontradiktoriums  abzuwenden. 
Aehnliches  wird  eintreten,  wenn  eines  der  beiden  kontradiktorischen  Urteile 
als  haltlos,  unbegründet,  falsch  eikannt  wird :  dann  kann  das  andere  wohl 
seine  unbehinderte  Alleinherrschaft  wieder  antreten. 

Aber  es  gibt  auch  Fälle,  und  sie  sind  wohl  nicht  die  seltensten,  in 
denen  die  Sache  nicht  so  einfach  abläuft,  und  die  Ruhe  des  Geistes  auf 
lange  hin  in  empfindlichster  Weise  gestört  bleibt.  Wohl  mag  bei  prüfender 
Rückwendung  zu  einem  der  kontradiktorischen  Urteile  zunächst  Ruhe  und 
Gewissheit  gewonnen  werden,  aber  nur  für  kurze  Zeit.  Denn  die  Er- 
innerung an  die  Ungewissheiten  der  vorausgegangenen  Zweifelszustände 
wird  gewöhnlich  den  inneren  Blick  wieder  und  wieder  auch  auf  das  zweite, 
zwar  aufgegebene  Urteil  hinlenken,  auch  dessen  erneute  Prüfung  veran- 
lassend, und  dabei  wird  sich  in  vielen  Fällen  dasselbe  ereignen,  was  beim 
ersten  Auftreten  des  Zweifels  zu  verzeichnen  war :  zu  der  vielleicht  kaum 
wiedergewonnenen  Gewissheit  betreffs  des  einen  Teils  des  Kontradiktoriums 
tritt  abermals  ein  den  andern  Teil  bejahendes  Urteil,  es  erfolgt  alsbald, 
wie  ehedem,  die  Einsicht  in  die  Unvereinbarkeit  beider,  damit  neuer 
Zweifel  und  neue  Flucht  zu  dem  Urteil,  dass  hinsichtlich  des  vorliegenden 
Gegenstandes  keine  Sicherheit  vorhanden  sei.  Und  was  sich  so  einmal 
wiederholt  hat,  kann  sich  noch  öfter  wiederholen,  ja  pflegt  sich  oft  zu 
wiederholen,  wie  eine  vielfache  Erfahrung  beweist,  und  so  entsteht  ein 
oszillierender  Seelenzustand  kompliziertester  Art,  so  lange  andauernd,  bis 
nach  vielleicht  langer  Mühe  stets  erneuerter  Prüfung  oder  nach  ent- 
schiedenem Eingreifen  des  Willens  schliesslich  wieder  Ruhe  und  Stetigkeit 
in  das  Geistesleben  einziehen,  sei  es  durch  endgültige  Entscheidung  für 
den  einen  Teil  des  Kontradiktoriums,  sei  es  auch  durch  endgültigen  Ver- 
zicht auf  eine  Antwort  und  durch  Enthaltung  von  weiterer  Untersuchung 
der  Sache. 

6.  Das  soeben  beschriebene  peinvoll  ruhelose  Hin-  und  Herpendeln  aus 
einer  Lage  in  die  andere,  aus  der  Gewissheit  in  den  Zweifel  und  die  Un- 
gewissheit,  aus  diesen  wieder  in  einen  Stand  der  Gewissheit,  aber  bald  in 
diesen,  bald  in  den  kontradiktorischen,  und  zwar  immer  wieder  durch  das 
Stadium  des  eigentlichen  Zweifels  hindurch;  die  daraus  entspringende  Rat- 
losigkeit und  Unsicherheit,  der  schmerzliche  Wechsel  zwischen  Hoffnung 
und  Enttäuschnng,  der  stets  erneuerte  Umschlag  aus  einem  Stand  des  festen 
Besitzes  in  einen  solchen  der  Innern  Leere;  und  all  dies  unter  Stürmen 
sich  widerstreitender  Stimmungen  und  Gefühle:  diese  Ruhelosigkeit,  Un- 
stetigkeit,  Unberechenbarkeit  des  seelischen  Lebens  ist  es,  was  beim  Auf- 
treten des  Zweifels  am  meisten  auffällt    und    daher    auch   bei   dessen  Be- 


348  Daniel  Feuling,  Zur  Psychologie  des  Zweifels. 

Schreibung  am  ehesten  namhaft  gemacht  wird.  So  rechtfertigen  sich  denn 
auch,  um  darauf  zurückzukommen,  die  eingangs  erwähnten  verschieden- 
artigen Beschreibungen  des  Zweifels.  Dieselben  unterscheiden  weniger 
zwischen  den  einzelnen  so  verschiedenen  Stadien  der  eigenartig  kreis- 
förmigen Bewegung,  die  den  andauernden  Zweifelsstand  —  Zweifel  hier  im 
weiteren  Sinn  genoinmen  —  charakterisiert;  sie  halten  sich  vielmehr  an 
das  Gesamtbild  dieses  geistigen  Verhaltens,  und  indem  sie  es  von  be- 
sonderen Gesichtspunkten  aus  aufnehmen,  tritt  wieder  und  wieder  ein 
anderes  Moment  in  den  Vordergrund:  bald  das  Ungewisse  des  Gesamt- 
standes der  Seele  (S.  Thomas),  bald  das  Hin-  und  Herwogen  zwischen  den 
Gliedern  des  Kontradiktoriums  (Gredt),  bald  die  abwechselnde  und  im 
ganzen  furchtbetonte  Zustimmung  zu  den  beiden  Extremen,  wohl  auch  das 
Zusammentreffen  beider  Gewissheiten  in  einem  Moment  (Albert  d.  Gr.). 

In  letzterem  aber,  in  dem  bewusst  werdenden  Widerstreit  der  kontra- 
diktorischen Gewissheiten,  konzentriert  sich  all  die  Bewegung;  zu  diesem 
Punkt  schwingt  immer  wieder  das  Bewusstsein,  um  von  dessen  notwendig 
abstossender  Kraft  in  andere  und  andere  Lagen  zurückgeschleudert  zu 
werden ;  dort  ist  das  eigentliche,  letzte  Wesen  des  Zweifels  gelegen  ;  das 
andere,  was  wir  zu  konstatieren  hatten,  ist  Begleiterscheinung  und  Folge 
des  Eintretens  in  diese  naturwidrige  Lage. 

Fassen  wir  abschliessend  die  Ergebnisse  unserer  Untersuchung  kurz 
zusammen,  so  können  wir  sagen : 

L  Zweifel  im  engeren  Sinn  ist  der  Zustand,  in  welchem  sich  der 
Geist  des  (scheinbaren  oder  wirklichen)  Widerspruchs  zweier  von  ihm  als 
gewiss  gefällter  Urteile  bewusst  wird ; 

2.  Zweifel  im  weiteren  Sinn  ist  ein  komplexer  Stand  intellektueller 
und  meist  auch  affektiver  Ruhelosigkeit,  worin  der  Geist,  ausgehend  von 
der  Wahrnehmung  eines  W^iderspruchs,  in  den  er  gefallen  war,  und  durch 
diesen  Widerspruch  immer  wieder  hindurchgehend,  betreffs  eines  Erkenntnis- 
gegensiandes  abwechselnd  in  kontradiktorische  Gewissheiten  und  in  die 
Gewissheit  seines  Nichtwissens  hinsichtlich  jenes  Gegenstandes  übergeht 
imd  weder  in  einem  Teil  des  Kontradiktoriums  noch  im  Verzicht  aui 
weiteres  Fragen  und  Suchen  bleibende  Ruhe  finden  kann. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik, 

Von  Prof.  Dr.  J.  A.  Endres  in  Regensburg. 


Gerard  von  Czanäd. 

Unter  dem  Einfluss  der  Bestrebungen  des  hl.  Romuald  stand  wahr- 
scheinlich der  hl.  Gerard  von  Czanäd  ^).  Durch  ihn  werden  unsere  Blicke 
nach  der  östlichen  Peripherie  des  abendländischen  KuUurkreises  gelenkt. 
Hier  hatte  soeben  der  hl.  Stephan  von  Ungarn  (997 — 1038)  damit  begonnen, 
sein  Volk  dem  Christentum  und  damit  der  Kultur  zuzuführen.  Er  Hess 
fünf  Benediklinerklöster  in  seinem  Lande  erstehen  und  organisierte  zehn 
Bistümer  in  demselben.  Einem  derselben  stand  der  von  Frankreich  berufene 
Mönch  Bonipertes  als  Bischof  vor,  mit  dem  Fulbert  von  Chartres  brieflich 
verkehrte  2).  Eine  der  berühmtesten  Schulen  der  Zeit  gründete  aber  der 
hl.  Gerard  zu  Czanäd.  Aus  Deutschland,  Böhmen,  Polen  und  Frankreich 
sollen  Lernbegierige  dahin  gekommen  sein.  Die  freien  Künste  und  die 
Gottesgelehrtheit,  aber  auch  die  Jurisprudenz  haben  den  Gegenstand  des 
Unterrichts  gebildet^).  Die  Bedeutung  der  Schule  entsprach  ganz  der  Be- 
deutung ihres  Stifters,  der  zu  den  wenigen  bemerkenswerten  Schriftstellern 
jener  Zeit  zählt. 

Leider  sind  wir  über  das  Leben  Gerards  nur  in  mangelhafter  Weise 
unterrichtet.     Nach   der  Legenda  minor,   die   über  ihn  berichtet*),    war  er 

*)  Auf  ihn  lenkte  zuletzt  die  Aufmerksamkeit  G.  Morin,  Un  theologien 
ignore  du  XI^  siede :  l'eveque  -  martyr  Gerard  de  Csanäd  O.  S.  B.  (in  Revue 
Benedictine  27  [1910]  516  ff.). 

-)  Significavit  autem  nobis  Filius  noster  tuusque  fidelis  Hildainus  tuae 
charitatis  erga  nos  insignia,  fideliter  asserens  unum  de  nostris  Priscianis  te 
velle,  quem  et  per  eumdem  hbenter  mittimns.  S.  Fulberti  Epist.  I,  M.  141, 
189  C.  Vgl.  Clerval,  Les  ecoles  de  Chartres  au  rnoyen-äge,  Chartres  1895, 
63,  109. 

^)  Magna  etiam  fama  erat  scholae  Czanädensis  a  s.  Gerardo  condilae,  in 
quam  non  solum  indigenae,  ad  etiam  ex  Germania,  Boheraia,  Polonia,  GaUia 
adolescentes  Htterarum  cupidi  confluxerunt.  Scriptores  Ordinis  s.  Benedict!, 
qui  1750—1880  fuerunt  in  Imperio  Austr.-Hungar.,  Vindob.  1881,  p.  LVll. 

■')  Hie  enim  huius  lucis  lumen  per  Venetos  parentes  sortitus  Dei  gratia 
praeveniente  a  pueritia  coepit  Domino  nostro  Jesu  Christo  devotus  existere  et 
Evangelicis  documentis  per  omnia  parere.  Nam  religionis  habitum  puer  accepit. 
Acta  SS.  Bali.    Sept.  VI,  722  C.     R,  F.  Kaindl,    Studien  zu  den  ungarischen 


.%0  j.  A.  Endres. 

in  Venedig  geboren,  wo  er  in  ganz  jungen  Jahren  Mönch  geworden  sein 
soll.  Eine  gewisse  Bestätigung  dieser  Nachricht  darl  darin  erblickt  werden, 
dass  Italien,  und  zwar  der  nordöstliche  Teil  von  Italien,  seinem  Gesichts- 
kreise am  nächsten  lag,  wie  gelegentliche  Bemerkungen  von  ihm  über  die 
zu  seiner  Zeit  herrschenden  Häresien  dartun ').  Dagegen  erscheint  es 
zweifelhaft,  ob  er  tatsächlich  in  ganz  jungen  Jahren  („puer"),  wie  die 
Legende  meint,  das  Ordenskleid  genommen.  Er  spricht  nämlich  einmal 
selbst  von  einem  Aufenthalt  in  Frankreich,  der  offenbar  Studienzwecken 
gedient  hatte '^).  Derselbe  kann  doch  erst  in  die  reiferen  Jahre  Gerards 
tjefallen  sein.  Dass  er  von  seinem  Kloster  aus  zu  den  Studien  nach  Frank- 
reich  abgeordnet  worden  sein  sollte,  ist  anbetrachts  der  von  ihm  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  bevorzugten  Ordenskongregalion  so  viel  wie  aus- 
geschlossen. Umgekehrt  kann  vielmehi-  angenommen  werden,  dass  es  ihm 
ein  früher  Eintritt  in  den  Orden  unmöghch  gemacht  hätte,  sich  den  hohen 
Grad  literarischer  Kenntnisse  anzueignen,  über  die  er  verfügte.  Mehrere 
Indizien  sprechen  nämlich  dafür,  dass  er  der  in  der  Gegend  von  Ravenna 
und  Venedig  verbreiteten  Kongregation  von  Eremiten  angehörte,  welche 
dem  hl.  Ronmald  ihren  Ursprung  verdankt.  Gerade  diese  Kongregation 
verriet  aber  eine  geringe  Neigung  für  wissenschaftliche  und  namentlich 
profane  Studien.  Es  legt  sich  die  Vermutung  nahe,  dass  Gerard  wie  so 
mancher  andere  seiner  italienischen  Zeitgenossen  —  ich  nenne  Anselm 
von  Besäte,  Lanfrank,  Anselm  von  Aosta  —  sich  zuerst  in  der  Heimat  eine 
wissenschaftliche  Bildung  aneignete  und  dann  auf  die  Wanderschaft  nach 
Frankreich  ging,  sei  es,  um  seine  Bildung  zu  vervollständigen,  sei  es,  um 
als  Wanderlehrer  sein  Glück  zu  versuchen  ^). 

Auf  einer  Pilgerfahrt  ins  heilige  Land  begriffen,  wurde  er  vom  heiligen 
Stephan  in  Ungarn  festgehalten  und  war  nun  „der  bedeutendste  von  allen 

Geschichtsquellen  (Archiv  f.  üsterr.  Gesch.,  Wien  1902,  Bd.  91  S.  26;  verlegt 
den  Ursprung  der  Legenda  minor  noch  in  das  Ende  des  11.  Jahrhunderls, 
nach  1088. 

')  Ilalia  non  consuevit  haereses  nutrire,  ad  praesens  in  quibusdam  partibus 
haeresium  toinentis  abundare  auditur.  GalHa  vero  felix,  quae  bis  munda 
perhibetor.  Graecia  infplix,  sine  quibus  nunquam  vivere  voluit  Verona,  urbium 
Italiae  nobilissima,  bis  gravida  redditur.  Iliustris  Revenna  et  beata  Venetia, 
quae  nunquam  inimicos  Dei  passae  sunt  ferre.  5.  Gerardi  Deliberatio  p.  99 
in  der  unten  S.  352  Anm.  4  zitierten  Ausgabe  von  Batthyäny. 

")  In  Piatone  quippe  disputationes  quondani  apud  Galliam  conslitutus 
quasdam  de  deo  Hebraeorura  confidenter  fateor  nie  legisse  et  caelestibus  aniniis. 
1.  c.  84. 

')  Gerard  kennt  diese  wandernden  Profangelehrten  seiner  Zeit.  Er  gibt 
einmal  einen  Einwand,  dem  er  begegnet,  die  folgende  Formulierung :  Dicat 
mihi,  qui  vult,  qnia  multa  legi,  m  ul  t  a  c  uc  ur  r  i.  In  Spania  fui  doctus,  in 
Britannia  eruditus,  in  Scotia  detritus,  in  Hybernia  studui,  omnes  liberales, 
disciplinas  comendavi  memoriae,  ideo  nil  leclionis  me  effugere  potest.  l.  c.  256. 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  351 

Männern,  welche  dem  Könige  in  der  Einführung  des  Christentums  zur  Seite 
standen"  i). 

Sieben  Jahre  lebte  er  zunächst  in  dem  von  Stephan  auf  Betreiben  des 
berühmten  böhmischen  Eremiten  Günther  gestifteten  Eremitenklosters  Bei. 
Um  1030  trat  er  dann  an  die  Spitze  des  neugegründeten  Bistums  Czanäd 
am  Marcs,  wo  er  die  Kathedrale  zu  Ehren  des  hl.  Georg  erbaute.  Be- 
merkenswert ist  nun  aber,  dass  er  nach  dem  Berichte  der  ältesten  Legende 
auch  als  Bischof  die  Einöde  nicht  verliess,  sondern  neben  den  Städten 
einsam  gelegene  Zellen  im  Walde  erbaute,  in  denen  er  die  Nächte  mit 
Werken  der  Aszese  zuzubringen  pflegte  2).  Diese  Umstände,  nicht  minder 
aber  ganz  bestimmte  Ansichten  in  seiner  sogleich  zu  nennenden  Haupt- 
schrift, welche  er  mit  seinem  jüngeren  Zeitgenossen  Petrus  Damiani,  dem 
bekanntesten  unter  den  Jüngern  des  hl.  Romuald,  teilt,  und  die  auf  ein 
gemeinsames  geistiges  Milieu  hindeuten,  machen  es  in  hohem  Masse  wahr- 
scheinlich, dass  Gerard  selbst  der  Eremitenkongregation  des  hl.  Romuald 
angehörte.  Die  Richtigkeit  dieser  Annahme  vorausgesetzt,  ist  Gerard  ge- 
schichtlich der  erste  Zeuge  für  die  fühlbare  Spannung,  in  welcher  diese 
Kongregation  zu  den  profanen  W^issenschaften  stand,  und  welcher  nicht  viel 
später  Damiani  den  energischesten  Ausdruck  verheb. 

An  und  für  sich  konnte  die  Geistesrichtung  Gerards  auch  von  einer 
anderen  mönchischen  Reformkongregation  her  beeinflusst  sein,  jener  von 
Cluny  nämlich.  Nach  Ausweis  seiner  Deliberatio  stand  nämlich  Gerard  am 
Ende  seines  Lebens  in  literarischem  Verkehr  mit  dem  berühmten  lothrin- 
gischen Reformabte  Richard  von  St.  Vannes.  Richard  genoss  bei  ihm  ein 
solches  Ansehen,  dass  er  ihm  eine  seiner  Schriften,  De  patrimonio  divino, 
zur  Billigung  zusandte.  Aber  die  Bekanntschaft  der  beiden  Männer  scheint 
erst  aus  einer  Zeit  zu  stammen,  in  der  Gerard  bereits  sein  Eremitenleben 
in  Ungarn  führte,  aus  dem  Jahre  1025  nämlich,  als  Abt  Richard  mit  einer 
glänzenden  Schar  fränkischer  Grossen  auf  einer  Pilgerfahrt  nach  Jerusalem 
die  Gastfreundschaft  des  hl.  Stephan  von  Ungarn  genoss'*). 

Richard  fand  seinen  Tod,  indem  er  von  Anhängern  der  heidnischen 
Nalionalpartei  auf  einer  Fahrt  nach  Pest  vom  Wagen  gezerrt,  gesteinigt 
und  schhesslich  durch  einen  Lanzenstich  getötet  wurde.  Es  war  im  Jahre 
1046.  Im  Jahre  1083  wurde  er  kanonisiert  und  sein  Leichnam  in  die 
Kathedrale  von  Czanäd  übertragen. 


*)  Wattenbach,  Deutschlands  Geschichtsquellen  im  Mittelalter  11",  Berlin 
1894,  209. 

-')  Quam  vis  episcopaleni  dignilatem  nimia  prudentia  gubernabat.  tarnen 
beiemum  non  deseruit.  Verum  iuxta  urbes  .  .  .  cellulam  sibi  silvarum  secre- 
liori  loco  coustraxerat,  in  qua  ligatus  peinoctasse  multasque  passiones  .  .  . 
sustinuisse  memoralur.     Legenda  minor  c.  7.     Acta  SS.  Boll.    Sept.  VI,    723  B. 

^)  £.  Sacksr,  Richard  Abt  von  St.  \  annes,  Breslau  188ü,  93  ff. 


352  J.  A.  Endres. 

Gerard  war  für  seine  Zeit  ein  sehr  fruchtbarer  Schriftsteller.  Zwar 
vermag  ich  nicht  zu  sagen,  was  es  mit  den  von  Fr.  Sansovino  unter  seinem 
Namen  angeführten  Schriften  De  laudibus  S.  Virginis,  Sermones  quadra- 
gesimales,  Homiliae  solemnitatum  totius  anni  für  eine  Bewandtnis  habe  '). 
Wattenbach  nennt  ihn  unbedenklich  den  „Verfasser  jener  merkwürdigen 
Unterweisung,  welche  König  Stephan  für  seinen  Sohn  Emerieh  verfassen 
Hess"  2).  Allein  von  anderer  Seite  wird  seine  Autorschaft  in  Zweifel  ge- 
zogen. Das  Urteil  der  BoUandisten  nämlich  schwankt,  ob  der  Libellus  de 
institutione  morum  ad  Emericum  ducem  vom  hl.  Stephan  selbst  oder  von 
Gerard  oder  gar  von  einem  späteren  Autor  herrühre^).  Sicher  dagegen 
gehört  ihm  an  das  durch  eine  ehemalige  Freisinger,  jetzt  Münchener  Hand- 
schrift (Clm  621 1  saec.  XI)  überlieferte  Werk :  Deliberatio  Gerardi  Moresenae 
aecclesiae  ep(iscop)i  supra  hymnum  trium  puerorum  ad  Isingrimum  libe- 
ralem '*).  Es  ist  eine  sehr  breit  gehaltene  Erklärung  des  Canticum  Bene- 
dicite  (Daniel  3,  57  ff.),  die  trotz  ihres  Umfangs  nur  die  neun  ersten  Verse 
umfasst.  Hier  nennt  Gerard  noch  zwei  andere  Schriften  aus  seiner  Feder, 
die  aber  einstweilen  verloren  sind,  nämlich  De  divino  patrimonio  und  einen 
Kommentar  zum  Hebräerbrief  ^). 

Die  Deliberatio  Gerards  gewährt  einen  ausreichenden  Einblick  in  seine 
geistige  Eigenart  und  Richtung,  Mit  den  freien  Künsten,  wie  sie  um  die 
Wende  des  ersten  Jahrtausends  in  Italien  gelehrt  wurden,  und  der  diesem 
Unterricht  dienenden  Literatur  war  er  in  hohem  Masse  vertraut.  Dass  die 
Rhetorik  in  der  Schule,  aus  der  er  hervorging,  eine  Bevorzugung  genoss, 
merkt  man  ihm  deutlich  an.  Nicht  weniger  aber  auch,  dass  es  in  den 
damaligen  Schulen  auf  eine  äusserst  gekünstelte,  geschraubte  und  auf 
Stelzen  gehende  Diktion  abgesehen  war.  Er  erinnert  in  dieser  Beziehung 
an  seinen  norditalienischen  Landsmann  Anselm  von  Besäte.  Das  Gekünstelte 
seiner  Diktion  steigert  sich  jedesmal  in  den  einleitenden  Prologen  der 
einzelnen  Abschnitte  seines  Kommentars.  In  direktem  Gegenoatze  dazu 
steht  aber,  dass  er  auf  Korrektheit  der  Sprache  wenig  gibt,  ja  sie  geradezu 

')  Vgl.  Acta  SS.  Boll.  Sept.  VI,  724  D. 

-)  Deutschlands  Geschichtsqnellen  im  Mittelalter  II «,  Berlin  189i,  209. 

3)  Acta  SS.  Boll.  Nov.  II,  I,  480  F. 

*)  Gedruckt  unter  dem  Titel :  Sancti  Gerardi  Episcopi  chanadiensis  scripta 
et  acta  hactenus  inedita,  cum  serie  episcoporum  chanadiensium  opera  et  studio 
Ignalii  comitis  de  Batthyäny,  episcopi  Transylvaniae.  Albo  -  Carolinae  (Karls- 
burg) 1790. 

*j  1.  c.  29(5:  In  libello  autem,  quem  ad  Aiulream  presbyterum,  divinae 
germanitatis  viruni,  De  divino  patrimonio  expiessimus,  qui  nunc  apud  abbaten! 
Richardum  inconlaminatum  christi  famulum  divinitus  erudituin  est  ...  p.  133: 
Quondam  vero  ibi,  ubi  dicitur  in  Psalmo  ,Ipsi  peribunt,  tu  autem  permanebis', 
disputans  secundum  mediocritatem  meam,  in  primo  capitulo  epistolae  Pauli  ad 
Hebraeos,  quidquid  invenire  ex  apotheca  sancti  Spiritus  supra  hoc  potui,  stilo 
latissimo  commendavi. 


i 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastiit.  353 

vernachlässigt.  Eine  Nachlässigkeit,  die  er  sich  persönhch  im  Verkehr 
angewöhnt  zu  haben  scheint,  führt  er  unbedenklich  auch  in  die  Schrift- 
sprache über.  Sie  betrifft  beispielsweise  den  Gebrauch  des  Genitivs  solius, 
welches  Wort  er  in  verschiedenen  ungewöhnlichen  Bedeutungen,  so  für 
solum,  tantum,  dummodo  verwendet ').  Vielleicht  spielt  hierin  bei  ihm, 
der  nicht  ungern  die  ungekünstelte  (rusticana),  aber  deswegen  keineswegs 
unwirksame  Redeweise  der  hl.  Schrift  in  Gegensatz  stellt  zu  der  kunst- 
mässigen  Form  der  heidnischen  Literatur,  sogar  eine  bewusste  Absicht  mit  2). 
In  seiner  Beurteilung  der  freien  Künste  vermissen  wir  bereits  die  Ruhe 
und  das  Wohlwollen  der  vorausgehenden  Zeit.  Sie  sind  nicht  mehr  die 
sieben  Pfeiler,  die  den  darüber  aufragenden  Bau  der  Gotteslehre  tragen. 
Zwar  geht  er  in  ihrer  Ablehnung  nicht  so  weit,  wie  ein  Otloh  oder  Petrus 
Damiani.  Aber  sie  sind  ihm  entbehrlich.  „Alle",  sagt  er,  „die  Christi 
Schüler  sind,  bedürfen  nicht  der  fremden  Lehren"  ^).  Auch  weiss  er  nicht 
nur  einen  negativen  Grund  für  ihren  Ursprung  anzugeben,  wie  später 
Manegold  von  Lautenbach.  Dieser  erklärt  nämhch  die  heidnische  Welt- 
weisheit nur  aus  dem  Verluste  eines  alten  Geisteserbes,  an  dessen  Stelle 
nun  die  Menschen  ihre  unhaltbaren  Erfindungen  setzen,  die  keinen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Urgrund  aller  Weisheit  besitzen.  So  sehr  er  die 
Eitelkeit  und  den  Unbestand  der  „Philosophie  der  Sterblichen"  betont,  will 
er  doch  „den  von  Gott  eingegebenen  Gesetzen  der  schönen  Künste"  keinen 
Eintrag  tun.  „Ich  leugne  nicht",  sagt  er,  „dass  sie  von  dem  in  unaus- 
sprechlicher Höhe  ragenden  Sitze  aller  Weisheit  ihren  Ausgang  genommen 
haben,  in  dem  alle  Schätze  der  Weisheit  und  des  Wissens  verborgen  sind. 
Denn  in  ihnen  allen  sind  die  letzten  Gründe  nicht  zu  bezweifeln,  wie  in 
der  ersten  das  Atom,  in  der  zweiten  der  Ausdruck,  in  der  dritten  das 
Urteil,  in  der  vierten  die  Einzahl,  in  der  fünften  der  Punkt,  in  der  sechsten 
der  Halbton,  in  der  siebenten  das  Himmelszeichen"  *). 

^)  Beispiele  werden  sich  in  den  mitzuteilenden  Texten  ergeben. 

'^)  Quaeso  autem,  ne  dicas  offendere  stilum  dialecticorum  auditum  neque 
rusticam  rationem  magnum  oratorem.  Habemus,  ait  (so  meist  bei  Anführung 
einer  Schriftstelle),  thesaurum  istum  in  vasis  fictilibus.  Et  nos  non  contem- 
plamur,  quae  videntur,  sed  quae  non  videntur.    Deliberatio  1.  c.  27.  Cf.  p.  159. 

^)  Omnes,  qui  istius  (Christi)  discipuli  sunt,  non  indigent  doctrinarum 
peregrinarum.    Deliberatio  278. 

*)  An  hoc  legibus  divinitus  optimarum  disciplinarum  inspiratis  detraho  ? 
Ab  ineffabili  totius  sapientiae  pectore  non  abnego  descendisse,  in  quo  omnes 
thesauri  sapientiae  et  scientiae  reconditi  praedicantur.  Etenim  in  Omnibus 
principia  non  dubitanda,  quemadmodum  in  prima  athomus,  in  secunda  pro- 
nuntiativum,  in  tertia  proloquium,  in  quarta  monas,  in  quinta  punctus,  in  sexta 
semitonium,  in  septima  ostentum.  Deliberatio  53  f.  Der  etwas  unvermittelt 
angeschossene  Satz  Etenim  in  omnibus  scheint  als  Ganzes  Exzerpt  zu  sein. 
Einzelne  Bestandteile  lassen  sich  nachweisen  aus  Isidor.,  Etym.  1.  13  c.  2 
M  82.  473) :  Liltera  pars  minima  atomus  est  nee  dividi  potest.  Atomus  ergo 
Philosophisches  Jahrbuch  1913.  2o 


354  J.  A.  Endres. 

Gott  ist  die  Weisheit,  betont  er  an  einer  anderen  Stelle.  Er  ist 
nicht  nur  weise,  sondern  überweise.  Daher  stammt  alle  Weisheit  von  ihm, 
d.  i.  alles,  was  der  göttlichen  Weisheit  gehorcht.  Auch  die  Wissenschaft 
der  freien  Künste  ist  darum  von  ihm  ausgehend  zu  denken.  „Aus  dem 
Grunde  möge  uns  niemand  für  feindselig  gegen  diese  Wissenschaft  halten, 
vielmehr  nur  gegen  jene,  welche  behaupteten,  weise  zu  sein,  und  töricht 
geworden  sind  und  viel  mehr  dem  Geschöpfe  als  dem  Schöpfer  gedient 
haben"  i). 

Ueber  die  heidnischen  Philosophen  und  Vertreter  der  freien  Künste 
giesst  er  nun  aber  die  volle  Schale  seines  Unmutes  aus.  Nur  mehr  das 
eine  Interesse  scheint  er  für  ihre  Anschauungen  übrig  zu  haben,  ihre 
Schwäche  und  Unhaltbarkeil  zu  brandmarken. 

„Wo  ist  ein  Weiser,  wo  ein  Schriftgelehrter,  wo  ein  Forscher  dieser 
Welt",  ruft  er  mit  dem  hl.  Paulus  (1  Kor  Iso)  aus.  „Vielleicht  nennt 
Makrobius  solche  in  seinen  Werken,  obwohl  dieser  selbst  einer  von  ihnen 
ist".  Aber  ihre  Philosophie  sei  nach  Paulus  durch  Christus  verworfen 
worden.  Zeno  —  er  denkt  an  den  Eleaten,  von  dem  erzählt  wird,  dass 
er  seine  abgebissene  Zunge  dem  Tyrannen  seiner  Vaterstadt  ins  Gesicht 
gespien  —  habe  seine  Philosophie  ausgespuckt,  Menander  die  seinige  ganz 
mit  seinem  Geiste  aufgegeben  und  ähnlich  die  übrigen.  Selbst  einen  Plato 
nennt  er  „stultissimus"  und  zwar  um  deswillen,  weil  er  den  Sitz  des 
Denkens  ins  Haupt  verlegt  und  dadurch  der  hl.  Schrift  (Mt  15i9)  wider- 
spreche, nach  der  die  schlechten  Gedanken  aus   dem  Herzen   kommen^). 

Gerards  Ideal  liegt  auf  einer  anderen  .Seite.  Es  sind  die  inlitterati 
doctissimi,  die  nach  ihm  alle  Philosophie  überflügelt  haben.  ,, Zweifle  nicht", 
meint  er,  „dass  der  göttUche  Cephas  tiefer  ist  als  Aristoteles,  Paulus  beredter 


est,  quod  dividi  non  potest,  ut  puuctus  in  geometria ;  ferner  aus  Martianus 
Capella,  De  miptiis  Phüologiae  et  Mercurii  ed.  EyssenharJl,  Leipzig  1866,  364 : 
Primum  igilur  lempus  est,  quod  in  morem  alomi  nee  momenta  recisionis  ad- 
mittit,  ut  est  in  geometricis  punctum,  arithnieticis  monas. 

')  Est  sapientia  Deus,  sicut  ipse  naturaliter  non  solum  sapiens,  quin  potius 
supersapiens,  ideo  ab  ipso  omnis  sapientia,  i.  e.  quod  divinae  sapientiae  ob- 
temperat.  Ergo  et  supradiotarnm  [arlium]  scicntia  ab  ipso  dicenda  et  ante 
palam  in  ipso  reposita.  Dicitur  autem,  id  est  quod  nemo  [nach  meiner  Kon- 
jeivtur:  reposita  dicitur.  Ideo  autem  nemo]  nos  bellicosos  contra  hanc  [scientiam] 
opinetur,  immo  contra  ilios,  qui  se  esse  dixerunt  sapientes  et  stulti  facti  sunt. 
Delibe ratio  1.  c.  55. 

')  Ubi  sapiens,  ail,  ubi  scriba,  ubi  conquisitor  liuius  saeculiV  Forle  Ma- 
crobius  tales  in  superioribus  [in  suis  operibus]  dicit,  quamquam  horinii  unus 
idem.  Reprobam  vero  semivirbius  (!)  nostrum  talium  philosophiani  dicit  divi- 
nissimuni  fecisse  Jesum.  Zeno  suam  evomuit,  Menander  qnidquid  habyit,  una 
totam  cum  spirilu  eniisit,  ceteri  nihilominus  autem.  Deliberatio  1.  c.  9.  —  De 
Corde  exeunt  cügilaiiones  malae,  quibus  dictis  Plato  philosopbus  comprobatur 
stultissimus,  dicens  humana  cogitata  non  de  corde  sed  cerebro  manare.  1.  c.  169. 


Studien  zur  Geschichte  der  Friihscholastik.  355 

als  alle  menschlichen  Redner,  Johannes  höher  als  der  ganze  Himmel,  dass 
Jakobus  schlagfertiger  ist  als  dein  Plotius"  ^).  Die  Verkünder  des  Evan- 
geliums waren  Ungelehrte,  waren  Fischer,  waren  nicht  Dialektiker,  sondern 
Ungebildete,  die  aber  unter  dem  Einfluss  des  hl.  Geistes  alles  Denken  der 
sterblichen  Philosophen  hinter  sich  Hessen  2).  Und  so  ist  die  evangelische 
Weisheit  ein  Schatz  in  irdenem  Gefässe,  aber  nichtsdestoweniger  so  kost- 
bar, dass  jene,  die  sich  in  die  Welt  teilten  —  Gerard  nennt  eine  ganze 
Liste  alter  Machthaber  —  keinen  ähnlichen  besassen.  „Aber  auch  nicht 
die  Stoiker,  die  Platoniker,  die  Akademiker,  die  alles  für  ungewiss  hielten; 
nicht  die  Peripatetiker  mit  ihrer  Behauptung,  ein  Teil  der  Seele  sei  ver- 
gänglich, ein  anderer  ewig;  nicht  die  Genossen  eines  Epikur,  der  von  den 
törichten  Weisen  ein  Schwein  genannt  wurde  und  der  behauptete,  die  Welt 
bestehe  nur  aus  Atomen  und  mit  seinem  Tode  sei  alles  aus"  ^). 

So  oft  er  auf  die  alten  Philosophen  zu  sprechen  kommt,  wird  es  ihm 
schwer,  seinen  Affekt  zu  meistern.  Denn:  „Alle  haben  nach  dem  gött- 
lichen Ausspruch  geirrt  und  Falsches  geredet.  Wenn  ich  der  Weltweisen 
Torheiten  durchgehen  wollte,  würde  mir  vor  allem  die  Zeit  nicht  reichen, 
namentlich  bei  jenen,  welche  die  Kraft  Gottes  in  die  Atome  verlegten  und 
die  gegenwärtige  Welt  unvergänglich  nannten,  welche  den  wahren  Gott 
aus  den  vier  Elementen  entstanden  erklärten  und  dann  den  Weltkreis 
durch  göttliche  Macht"  *).  „Betrachte  so  ein  Wunder  der  Dialektik,  und 
dann  erröte  bei  der  Philosophie  des  Fischers  und  lerne  besser  wissen  vom 
ungebildeten  Mann  mit  dem  Netze  als  vom  gelehrten  Aristarch"^). 

Begreiflich  ist  sein  Unmut  gegen  die  Feinde  der  Kirche  unter  den 
alten  Philosophen,  von  denen  die  Welt  einst  voll  gewesen  sei.  In  diesem 
Zusammenhange  redet  er  von  dem  ,, Wahnsinne  des  Porphyrius",  der  gegen 

^)  Non  dubites  divinissimum  Cephaa  Aristotele  profundiorem,  non  Paulum 
cunctis  humanis  uratoribus  eloquentiorem,  non  Joannem  omni  coelo  altiorem, 
non  Jacobum  tuo  Plotio  expeditiorum.    1.  c.  27. 

')  1.  c.  93. 

^)  Istiusmodi  thesaurum  non  potuit  habere  Darius  rex,  non  Xerxes  .  .  ., 
non  Stoici,  non  Plalonici,  non  Academici  omnia  opinantes  incerta,  non  Peri- 
patetici,  qui  dicunt  quamdam  animae  partem  esse  occiduam,  quamdamque 
aeternam,  non  Epicurii  illius  coessentes,  qui  porcus  a  stultis  sapientibus  nun- 
cupatus  est,  asserens  solius  (0  atomis  mundum  constare  seque  post  mortem 
non  esse.    1.  c.  96;  cf.  Isid.  Hisp.,  Etym.  1.  8,  c.  6,  M  82,  306  s. 

*)  Omnes  erraverunt  iuxta  divinum  dictum  et  locuti  sunt  falsa.  Si  per- 
currere  templo  mundi  philosophorum  naenias,  dies  me  imprimis  deficiant, 
maxime  de  lUis,  qui  dixerunt  virtutem  dei  in  atomis  et  mundum  non  fmiendum 
praesentem,  Deum  verum  de  quatuor  elementis  factum  et  orbem  divina  potenlia. 
1.  c.  277. 

^)  Vide  miraculum  dialecticae,  hoc  autem  viso  erubesce  ad  philosophiam 
piscatoris  et  disce  melius  scire  a  rustico  retiatore,  quam  a  perito  Aristarco. 
J.  c.  278. 

23* 


356  J.  A.  Endres. 

den  Propheten  Daniel  ein  ganzes  häresiarchisches  Heer  angeführt  habe  ^). 
Aber  in  einem  Ateno  mit  derartigen  Leuten  und  den  eigentlichen  Häretikern 
nennt  er  auch  ganz  allgemein  die  in  weltlicher  Weise  Gelehrten  ^). 

Es  muss  uns  wundern,  dass  er  trotz  alledem  für  die  Alten  doch  noch 
ein  Wort  der  Anerkennung  übrig  hat,  sich  beziehend  auf  ihre  geistige 
Veranlagung,  ihren  Fleiss  und  ihre  nützlichen  Bemühungen  3).  Dadurch 
hält  er  sich  ein  Hintertürchen  offen,  um  bei  gegebener  Gelegenheit  die 
freien  Künste  doch  wieder  vor  sich  erscheinen  und  zu  Gnaden  kommen 
zu  lassen.  Wir  dürfen  nicht  zweifeln,  dass  ihnen  Gerard  in  der  von  ihm 
gegründeten  Schule  die  unerlässliche  Pflege  wird  haben  angedeihen  lassen. 
Sonst  hätte  diese  Schule  nicht  ihre  Anziehungskraft  auf  weite  Kreise  aus- 
üben können.  Durch  die  Sorge  für  die  Pflege  der  freien  Künste  wird  sich 
Gerard  von  seinem  jüngeren  Zeitgenossen  Petrus  Damiani  unterschieden 
haben,  dem  die  weltliche  Wissenschaft  nicht  nur  mnerhalb  seiner 'Eremiten- 
kongregation entbehrlich  erschien,  sondern  auch  bei  dem  den  besten  Ge- 
sellschaftskreisen angehörigen  Laien.  Wir  dürfen  das  um  so  sicherer 
annehmen,  da  einer  seiner  Mitbischöfe,  eben  jener  Isingrim,  an  den  die 
Deliberatio  gerichtet  ist,  selbst  in  den  freien  Künsten  Unterricht  erteilte*). 

Gerards  gelegentliche  Bemerkungen  über  die  weltlichen  Wissenschaften 
sind  von  geringem  Belang.  Er  kennt  die  unter  dem  Namen  Piatos  gehende 
Einteilung  der  Philosophie  in  Physik,  Ethik  und  Logik.  Als  ersten  Physiker 
nennt  er  Thaies  von  Milet.  Plato  habe  die  Physik  in  die  vier  Fächer  des 
Quadriviums  geteilt.  Sokrates  habe  die  Ethik  eingeführt  und  in  ihr  die 
vier  Kardinaltugenden  unterschieden.  Ausserdem  habe  er  die  Logik  hinzu- 
gefügt und  in  ihr  die  Dialektik  und  Rhetorik  auseinandergehalten. 

Alles,  was  hier  über  die  freien  Künste  gesagt  ist,  geht  auf  die  Ety- 
mologien Isidors  von  Sevilla  zurück  und  beruht  in  seiner  uns  vorhegenden 
Textgestaltung  entweder  auf  Missverständnissen  Gerards  selbst  oder  auf 
Fehlern  in  der  Ueberlieferung  der  Etymologien  ^).  Auch  der  Gedanke,  dass 
nach   den   drei  Gattungen   der  Philosophie  sich  die  Bücher  der  hl.  Schrift 

'j  1.  c.  97. 

')  1.  c.  180. 

^)  Laudare  itaque  antiquorum  ingenia  et  iure  debemus,  sed  ad  veram 
laudem  illius,  qui  sine  cessatione  laudandus  est  .  .  .  Licet  autem  sie  sudassent 
tarn  isti  quam  ceteri  illis  similes,  suclor  illorum  polius  laudandus,  quam  ipsi 
benedicendi.    1  c.  79,  82. 

*)  Plato,  qui  quatuor  in  physica  distributiones  donavit,  arithmeticam  ni- 
mivum,  quemadmodum  ipse  (=  Isengrinie)  tuos  plerumque  doces,  geometricam, 
musicam  et  astronomiam.   1.  c.  80  s. 

*)  (Unmittelbar  an  den  Text  der  vorigen  Anmerkung  anschliessend)  tuus- 
que  Socrales  ad  corrigendos  prirnus  insliluens  et  ad  omne  studium  eius  bene 
vivendi  disputationem  perducens  eamque  in  quattuor  virtulibus  animae  dividens, 
nimirum  piudentia,  iustitia,  fortifudine,  (emperantia,  subiungens  loicam,  quae 
rationalis  vocatur.     1.  c.  81.     Das  ,,tuusque''    scheint    verdorben    aus    ethicam, 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  357 

einteilen  lassen,  ist  nur  Isidor  entlehnt ').  Dagegen  scheint  die  Ueber- 
tragung  der  drei  Namen  Physik,  Ethik  und  Logik  auf  die  drei  Personen 
der  göttUchen  Trinität  eine  Erfindung  Gerards  selbst  zu  sein  2).  Hiermit 
befinden  wir  uns  aber  auf  rein  theologischem  Boden,  und  wenn  Gerard 
sich  auch  nicht  scheut,  gewisse  Analogien  zwischen  dem  natürlichen 
Wissensgebiete  und  der  heiligen  Schrift,  ja  der  Trinität  selbst  hervorzu- 
heben, so  gebietet  er  doch  dort  den  natürlichen  Wissenschaften  ein  ent- 
schiedenes Halt,  wo  es  sich  um  theologische  Untersuchungen  handelt.  „Es 
ist  nämlich",  so  meint  er,  „höchste  Torheit,  in  Gemeinschaft  von  Mägden 
Untersuchungen  anzustellen  über  jenen,  der  zu  preisen  ist  im  Angesicht 
der  Engel"  3). 

Das  alte  Wort  von  den  welthchen  Wissenschaften  als  den  Mägden 
gegenüber  der  Theologie  greift  also  nicht  erst  Damiani  wieder  auf,  wohl 
aber  gibt  er  genauere  Kautel en  für  das  Verhalten  der  untergeordneten 
Vernunftwissenschaft  an.  Auch  verrät  er  den  tieferen  Grund,  warum  ihr 
nach  seiner  Ueberzeugung  keine  selbständige  Entscheidung  zuzutrauen  ist. 

Gerard  ist  es  wahrscheinUch  gar  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen, 
wie  wenig  er  sich  folgerichtig  bleibt,  die  weltlichen  Wissenschaften  zur 
Behandlung  der  Gotteserkenntnis  abzulehnen,  dafür  aber  in  der  Welt 
selbst  die  leibhaftigen  Elementardisziplinen  auch  der  Gotteserkenntnis 
zu  erblicken.  Denn  nach  ihm  besteht  für  niemand,  auch  für  jene  nicht, 
die  keine  Schule  besucht  haben,  die  Ausrede,  er  wisse  nicht,  von 
wem  er  geschaffen  worden,  da  er  mit  den  Wissenschaften  nicht  ver- 
traut sei.  Dagegen  habe  Gott  vorgebeugt,  der  „den  Himmel  als  die 
Grammatik,  die  Erde  als  die  Rhetorik,  Sonne,  Mond  und  Sterne  als  die 
Dialektik  u.  s.  f.  zur  Unterweisung  gegeben  habe,  damit  durch  diese  schönen 
Wissenszweige  jedes  Geschöpf  seinen  Schöpfer    erkenne"*).     Dafür  zeuge 

vgl.  Isid.,  Etym.  1.  II,  c.  24,  n.  5 :  Ethicam  Socrates  primus  etc.  Die  Hinzufügung 
der  Logik  schreibt  Isidor  a.  a.  0.  n.  7  Plato  zu :  Logicam,  quae  rationalis 
vocatur,  Plato  subiunxit. 

^)  In  quibus  tribus  generibus  philosophiae  eliam  divina  eloquentia  (Isidor: 
eloquia)  tota  a  peritis  constare  videntur.  Denique  ait  de  natura  disputare 
solent  etc.  Statt  dem  sinnlosen  Denique  ait  steht  bei  Isidor,  Etym.  1.  11,  c.  24, 
n.  8,  M  82,  141  D :  Nam  aut  de  natura  etc. 

'^)  Philosophi  autem  nudi  et  sine  tegmine  immortalissimae  philosophiae 
dixerunt  de  physica,  de  ethica  vero  et  logica,  sed  veram  physicam  ignoraverunt, 
mirabilem  ethicam  nescierunt,  inaestimabilem  logicam  non  cognoverunt  .  . 
Ista  physica,  de  qua  loquimur,  iramensus  Pater,  a  quo  sempiternus  Filius. 
Ethica  idem  Filius  .  .  .  Logica  a  Patre  et  Filio  procedens  sanctissimus  Spiritus. 
Deliberatio  1.  c.  286. 

^)  Dementia  summa  est  in  contubernio  disputare  ancillarum  de  illo,  cui 
psallendum  est  in  conspectu  angelorum.    1.  c.  32. 

*)  Ergo  ut  nemo  intritorum  diceret :  Nescio,  a  quo  creatus  sum  literarum. 
ignarus,  coelum  pro  grammatica,  terram  pro  rhetorica,  solem  et  lunam  et  Stellas 


358  J.  A.  Endres. 

auch  der  hl.  Paulus  in  der  bekannten  Stelle  seines  Römerbriefs.  Ja, 
„Gott  hat  alle  anbetrachts  der  soweit  möglich  besten  und  staunenswerten 
Kenntnis  zu  Philosophen  machen  wollen.  Denn  wenn  jemand  fragt,  auf 
welche  Weise  oder  wie  sehr  Gott  glänzend  sei,  so  schaue  er  die  Sonne  an, 
die  er  gemacht  hat.  Von  ihr  lerne  er,  wie  sehr  Gott  selbst  leuchte,  welcher 
der  Sonne  einen  solchen  Glanz  verliehen,  und  so  betrachte  er  ihn  als  das 
unaussprechliche  und  unerträgliche  Licht.  Ferner,  wenn  er  gern  wissen 
möchte,  wie  gross  er  sei,  und  es  mit  seinem  Verstände  nicht  zu  fassen 
vermag,  da  es  überhaupt  unmöglich  ist,  nehme  er  den  Himmel  und  die 
Erde  und  die  ungeheuren  Elemente,  und  wenn  er  sie  mit  all  seiner  Geistes- 
kraft nicht  zu  erfassen  vermag,  dann  erwäge  er  die  unschätzbare  Uner- 
messlichkeit  des  Meisters  von  dem  allem"  ^). 

Diese  letzteren  Ausführungen  sind  von  Interesse  als  Versuch  einer  Art 
Gottesbeweis.  Sie  bewegen  sich  in  der  Richtung  des  dem  früheren 
Mittelalter  geläufigen  Gottesbeweises,  der  mit  Hülfe  des  ,, Steigerungs- 
gedankens" geführt  wurde.  Ihn  hatte  beispielsweise  der  oberitalienische 
Landsmann  Gerards  Otto  von  Vercelli  (f  961)  benutzt,  indem  er  sagte: 
„Da  der  Herr  so  schöne  Elemente  gegründet  hat,  dass  die  Menschen  sie 
als  Götter  anbeteten,  so  konnte  leicht  eingesehen  werden,  dass  unver- 
gleichlich schöner  jener  sei,  der  sie  gegründet  hat"^). 

Gerard  von  Czanäd  verdient  unstreitig  Beachtung  in  der  Entwicklung 
des  mittelalterlichen  Geisteslebens.  Er  zählt  zu  den  frühesten  Schrift- 
stellern, welche  die  beginnende  kirchliche  Reform  zu  einer  gegensätzlichen 
Stellungnahme  gegenüber  der  heidnischen  Literatur  und  Weltweisheit  ver- 
anlasst. Seine  Aversion  gegen  die  Fächer  des  Triviums  trifft,  so  scheint 
es,  am  meisten  die  in  Italien  damals  bevorzugte  Rhetorik.  Erst  als  nach 
der  Mitte  des  elften  Jahrhunderts  die  Dialektik  mehr  in  den  Vordergrund 
trat  und  sich  in  den  Dienst  eines  glaubensfeindUchen  Rationahsmus  stellte, 
ward  sie  als  der  Hauptangriffspunkt  auf  der  Seiten  der  kirchlichen  Reform 
sich  vereinigenden  Männer  ausersehen. 


pro  dialectica  atque  pro  ceteris  cetera,  ul  bis  pulchris  disciplinis  omnis  crea- 
tura  suum  cognoscerel  creatorem,  in  doctrinam  dedit.    1.  c.  156. 

')  Igitur  omnes  voluit  reddere  philosophos  ex  optima  et  admirabili,  quantum 
possibile  est,  notitia.  Etenim  si  quisquam  quaerit,  quomodo  vel  quantum  sit 
Deus  splendidus,  intueatur  solem,  quem  fecit.  Ab  eodem  vero  discat,  quam 
ipse  splendescat,  qui  tantum  splendorem  soli  administrat,  sie  vero  illum  con- 
.sideret  inefTabdem  atque  ex  hoc  ipso  intolerabilem  lucem.  Demum  si  delectat, 
quam  magnus  sit,  et  mente  non  potest  concipere,  quemadmodum  omnino  Jm- 
possibile  est,  tractet  coelum  et  terram,  spatiosissima  elementa,  et  si  eadera 
metiri  non  potest  ullius  ingenii  suffragatione,  tum  deliberet  horuin  inaestima- 
biletn  factoris  immensitatem.    1.  c.  155. 

*)  G.  Grunwald,  Geschichte  der  Gottesbeweise  im  Mittelalter  bis  zum 
Ausgang  der  Hochscholastik,  Münster  1907,  25  f.  (Beiträge  zur  Gesch.  d.  Phüos. 
des  Mittelalters,  herausgeg.  von  Baeumker  und  von  Herlling,  Bd.  VI,  Heft  3). 


Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik.  359 

Die  Stimmung  Gerards  von  Czanäd  gegen  die  weltliche  Wissenschaft, 
der  er  als  Schriftsteller  auf  dem  neuerschlossenen  Kulturboden  Ungarns 
Ausdruck  gab,  ist  als  Mitgift  seines  norditalienischen  Heimatlandes  zu  be- 
trachten. Hier  lässt  sie  sich  weiter  verfolgen  und  in  gesteigerter  Potenz 
nachweisen  bei  dem  genial  veranlagten  und  redegewaltigen  hl.  Petrus  Damiani. 

Manche  Gedanken  in  der  Beurteilung  von  Bildung  und  Wissenschaft 
hat  Petrus  Damiani  mit  Gerard  fast  dem  Wortlaute  nach  gemein,  wie  dass 
Gott  nicht  Weise  und  Gelehrte,  sondern  Ungelehrte  und  Fischer  zur  Aus- 
breitung des  Evangeliums  berufen  habe,  dass  der  Weisheit  dieser  einfachen 
Männer  die  Weisheit  der  alten  Heiden  erlegen  sei.  In  manchen  Punkten 
verschärft  sich  aber  der  Gegensatz  Damianis  gegen  die  wissenschaftliche 
Bildung  und  wird  dann  zu  einer  direkten  Abweisung  derselben.  Gerard 
findet  es  selbstverständlich,  dass  sein  bischöfhcher  Standesgenosse  Isingrim 
die  freien  Künste  lehrt.  Er  versichert  ausdrücklich,  dass  er  nicht  gegen 
diese  aij  sich  eingenommen  (bellicosus)  sei,  ja  dass  sie  wie  alle  Weisheit 
ihren  Urquell  und  Ausgangspunkt  in  der  wesenhaften  Weisheit  Gottes 
haben.  Damiani  beseelt  im  Gegenteil  eine  wahre  Kampflust  gegen  die  welt- 
lichen Disziplinen.  Er  schreibt  eigene  Abhandlungen  zu  dem  Zwecke,  die 
wissenschaftlichen  Studien  seinen  Mönchen  zu  missraten.  Nicht  einmal 
die  Elementarstufe  alles  Unterrichts,  der  über  das  Auswendiglernen  der 
Psalmen  hinausführen  würde,  die  Grammatik,  will  er  bei  seinen  Mönchen 
zulassen.  Wie  ernst  er  es  mit  dieser  Gesinnung  nimmt,  beweist  er  dadurch, 
dass  er  auch  ausserhalb  seiner  Ordensgenossen  bei  Laien  dafür  Propaganda 
macht.  In  seinem  Eifer,  dem  sich  eine  wirkungsvolle  Rhetorik  zu  Diensten 
stellt,  redet  er  davon,  dass  die  Grammatik  lernen  gleichbedeutend  sei  mit 
dem  Abfall  von  Gott  und  mit  Götzendienst.  Ja  ihm  schwebt  ein  ganz 
anderer  Ursprung  der  dereinst  von  den  Heiden  gepflegten  freien  Künste 
vor,  indem  er  den  Verführer  des  Menschengeschlechtes  als  ersten  Gramma- 
tiker hinstellen  und  auf  ihn  die  unsehge  Wissbegierde  der  Menschen 
zurückführen  möchte.  Abgesehen  von  der  temperamentvollen  Veranlagung 
Damianis  wird  diese  Verschärfung  seines  Standpunktes  aus  dem  zu- 
nehmenden Ernst  der  kirchlichen  und  klösterlichen  Reform  herzuleiten 
sein,  vielleicht  auch  aus  einer  zunehmenden  Abneiguug  und  Opposition  der 
Repräsentanten  dieser  Disziplinen  gegen  das  Schriftstudium.  Einen  tiefer 
liegenden  Grund  seiner  ablehenden  Haltung  gegenüber  der  Vernunft- 
wissenschaft verrät  Damiani  aber  in  seiner  berühmten  Schrift  De  divina 
omnipotentia '). 

*)  S.  J.  A.  Endres,  Petrus  Damiani  und  die  weltHche  Wissenschaft, 
Münster  1910,  16  fT.  (Beiträge  zur><ieschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters, 
Bd.  VIII,  Heft  3). 


Die  Realisierung. 

Von  Dr.  A.  Gemelli  0.  F.  M.  in  Mailand. 


Ein  philosophisches  System,  das  zu  irgend  einer  Zeit  imstande  ist, 
eine  grosse  Schar  von  Anhängern  um  sich  zu  sammeln,  ist  immer  von 
tausenderlei  Gedankenströmungen  der  verschiedensten  Art  vorbereitet,  die 
sich  nach  und  nach  den  Geistern  mitteilen,  ihr  Denken  beeinflussen  und 
so  den  Boden  vorbereiten,  in  dem  dann  die  zukünftige  Lehre  sich  ent- 
wickeln und  siegreich  durchsetzen  kann.  Wer  auch  nur  oberflächlich  das 
Auftreten  des  Idealismus  in  seinen  extremsten  Formen  studieren  wollte, 
würde  ohne  Schwierigkeit  den  Spuren  der  zahlreichen  Tendenzen  begegnen, 
die  die  Geister  der  Gegenwart  bestimmt  haben,  ihn  mit  so  unbegründetem 
Enthusiasmus  zu  umfassen.  Man  kann  sagen :  angefangen  von  der  Theorie 
über  die  primären  und  sekundären  Eigenschaften  der  Körper,  die  lehrt, 
dass  das  Subjekt  nicht  eine  leere  Form  ist,  die  darauf  wartet,  in  sich  das 
Objekt  aufzunehmen,  sondern  dass  sie  vielmehr  dieses  a  priori  determiniert, 
bis  herab  zu  den  modernen  Systemen,  die  die  Realität  nicht  mit  dem  be- 
griffliehen Gedanken  und  auch  nicht  mit  den  wissenschafthchen  Formeln 
erfassen  wollen,  sondern  mit  der  intuitiven  Beschauung  des  Künstlers  oder 
mit  der  Hingabe  des  Mystikers,  war  alles  ein  ununterbrochenes  Aufeinander- 
folgen von  Begriffen,  die  die  neuerlichen  Triumphe  des  Idealismus  be- 
günstigt haben. 

Dieser  Idealismus  stellt  uns  heute  vor  ein  Problem,  an  dem  niemand 
vorübergehen  kann,  dem  jeder  Studierende  gegenübertreten  muss,  das 
Problem,  das  in  seinem  neuesten  Werke  Oswald  Külpe  „das  Problem  der 
Realisierung"*)  nennt.  Es  bezieht  sich  einerseits  auf  die  Setzung,  die 
Existenz  einer  Realität,  die  nicht  identifiziert  werden  kann  mit  den  Zu- 
ständen unseres  Selbstbewusstseins  und  unserem  Denken,  andererseits  auf 
die  Bestimmung,  das  Wesen  der  Realität  selber.  Es  ist  ein  verwickeltes 
Problem,  das  bei  näherem  Zusehen  uns  vier  Fragen  zur  Beantwortung  vorlegt: 

1.  Ist  die  Existenz  von  etwas  Realem  annehmbar?  Nein,  ant- 
wortet der  Konszientialismus,  der  subjektive  Idealismus,  nach  welchem  man 
sich  in  das  Reich  der  Phantasie  und  grundloser  metaphysischer  Spekulationen 


')  Die  Realisierung.  Ein  Beitrag  zur  Grundlegung  der  Realwissenschaften. 
Von  Oswald  Külpe.    Erster  Band.    Leipzig  1912,  Hirzel.    8".  X  und  257  S. 


A.  Gemelli,  Die  Realisierung.  361 

verliert,  wenn  man  sich  nicht  auf  unmittelbare  vom  Selbstbewusstsein  ge- 
gebene Tatsachen,  auf  sinnliche  Wahrnehmungen,  Vorstellungen,  Gefühle, 
Gedanken  beschränkt.  —  Nein,  antwortet  auch  der  objektive  Idealismus, 
der  keine  Unterscheidung  zwischen  realen  und  idealen  Objekten  zulässt 
und  der  leugnet,  dass  der  Gedanke,  der  alles  hervorbringe,  in  mancher 
Beziehung  von  den  äusseren  Objekten  abhängig  ist. 

2.  Falls  der  Idealismus  Unrecht  hätte,  wie  ist  dann  die  Setzung 
von  Realem  möglich?  Welchen  Wert  haben  die  Argumente  des 
Realismus  ? 

Wenn  auch  der  Realismus  auf  diese  beiden  Fragen  eine  erschöpfende 
Antwort  geben  könnte,  so  würden  sich  doch  sofort  zwei  weitere  Fragen 
aufdrängen : 

3.  Ist  eine  Be Stimmung  von  Realem  zulässig?  Kant  und  im 
allgemeinen  der  Phänomenaiismus  will,  dass  wir  uns  damit  genügen  lassen, 
zur  Existenz  des  Noumenon  zu  gelangen,  das  Wesen  der  Realität  wird  uns 
immer  unbekannt  bleiben. 

4.  Im  Falle,  dass  die  Aufstellungen  Kants  unbegründet  wären,  w  i  e 
ist  dann  ein  Bestimmen  von  Realem  möglich? 

Eine  Antwort  auf  all  diese  Fragen  zu  geben,  ist  die  Aufgabe,  die  sich 
Külpe  stellt  in  einem  Werke,  das  er  seit  langem  geplant,  und  das  vier  Bände 
umfassen  soll,  entsprechend  den  vier  Problemen.  Bis  jetzt  ist  nur  der  erste 
Band  erschienen,  vorbereitet  durch  jahrelange  Denkarbeit. 

Das  hohe  Genie,  die  Gedankentiefe  und  der  wohlbekannte  wissen- 
schaftliche Ernst  des  berühmten  Professors  der  Psychologie  an  der  Uni- 
versität zu  Bonn  laden  uns  ein,  im  weiten  Umfange  nochmals  die  detaillierte 
Diskussion  und  die  ins  einzelne  gehende  Analyse  autzunehmen,  die  er  be- 
züglich der  vom  Konszientialismus  und  vom  objektiven  Idealismus  für  ihre 
These  vorgebrachten  Beweise  anstellt.  Külpe  befasst  sich  nicht  damit,  die 
positiven  Gründe  zu  prüfen,  die  uns  zum  ReaHsmus  führen  müssen  (das 
wird  Gegenstand  des  zweiten  Bandes  sein) :  er  begnügt  sich  für  jetzt  damit, 
eine  Verteidigungsstelluug  einzunehmen :  durch  Abschlagen  der  gegnerischen 
Angriffe  sucht  er,  wenn  auch  nur  rein  negativ,  die  Festigkeit ^der  realisti- 
schen Position  zu  zeigen. 

I.    Die  Evidenz  der  inneren  Wahrnehmung. 

Die  positive  Stütze  des  Konszientialismus  ist  die  Evidenz  der  inneren 
Wahrnehmung;  angefangen  von  den  Kyrenaikern  bis  zu  den  Skeptikern, 
von  Descartes  bis  zur  modernen  Philosophie,  wurde  sie  stets  als  die  einzige 
Stütze  der  Erkenntnisgewissheit  betrachtet.  Nun  können  aber  nur  die 
Tatsachen  des  Bewusstseins  sich  jener  Evidenz  rühmen.  Nur  sie  allein 
können  also  gewiss  sein;  wir  müssen  uns  an  sie  halten  und  uns  nicht  in 
das  Reich  des  Transzendentalen  verlieren. 

Um  diesen  ersten  Einwand  zu  prüfen,  untersucht  Külpe  in  sehr  ein- 
gehender Analyse   die   Bedeutung   und  Tragweite   der  Selbstgewissheit  des 


362  A.  Gemelli  » 

Bewusstseins    und    erörtert   darauf  die  Beziehung  zum  Problem  der  Wirk- 
lichkeit. 

Bezüglich  des  ersten  Punktes  müssen  wir  gegenüber  den  Ergebnissen 
der  modernen  Psychologie  vom  Gedanken  sagen,  dass  die  Evidenz  der  innern 
Wahrnehmung  auf  sehr  bescheidene  Grenzen  reduziert  worden  ist.  Sie  ist 
vor  allem  ein  subjektiver  Eindruck,  abhängig  von  den  besonderen  Verhält- 
nissen des  Subjektes  und  beschränkt  auf  dieses.  Sie  hat  also  nicht  den 
Charakter  einer  objektiven  Erkenntnis,  sie  irrt  sogar  häufig,  und  sie  kann 
auch  keine  universale  Geltung  beanspruchen.  Ausserdem  kann  sie  nur  ein 
Erlebnis  wahrnehmen,  das  unmittelbar  gegenwärtig  ist:  eine  Gewissheit, 
die  sich  auf  die  Erinnerung  stützt,  ist  stets  minder  sicher  und  ist  im 
höchsten  Grade  subjektiven  Einflüssen  unterworfen.  Dazu  kommt  noch,  dass 
die  Gewissheit  sich  nur  auf  zwei  Bewusstseinsstufen  findet,  nicht  auf  den 
anderen,  deren  Existenz  durch  neuere  Experimente  nachgewiesen  worden 
ist.  Endlich  ist  zu  beachten,  dass,  so  sehr  ich  auch  darüber  gewiss  sein 
kann,  eine  innere  Erfahrung  gehabt  zu  haben,  ich  mich  doch  oftmals  in 
Verlegenheit  befinde  und  selbst  oft  irre,  wenn  es  sich  darum  handelt,  sie 
in  all  ihren  detaillierten  Umständen  zu  beschreiben.  All  das  beweist,  dass 
die  Evidenz  der  äusseren  Wahrnehmung  nicht  eine  absolut  sichere  Grund- 
lage für  die  Erkenntnis,  dass  sie  kein  Kassationshof  ist,  vor  dem  weder 
Fragen  noch  Zweifel  zulässig  wären. 

Was  den  zweiten  Punkt  angeht,  nämlich  die  Beziehung  der  Selbst- 
gewissheit  des  Bewusstseins  zum  Problem  der  Realität,  so  behaupten  die 
Konszientiaüsten,  dass  wir  hinter  den  Tatsachen  des  Bewusstseins  kein  anderes 
Objekt  suchen  dürfen.  Sich  stützend  auf  die  Theorie  von  Beneke  und  Wundt, 
die  im  Gegensatze  zu  Kant  vom  Felde  der  Psychologie  die  Unterscheidung 
zwischen  Phänomen  und  Ding  an  sich  verbannt  haben,  behaupten  sie,  dass 
wir  unsere  Erlebnisse  so  wahrnehmen,  wie  sie  in  sich  sind:  die  Evidenz 
der  Wahrnehmung  ist  ihre  psychologische  Verwirklichung.  Und  diese 
Evidenz,  sagen  sie  weiter,  ist  der  einzige  Weg,  der  zum  Realen  führt :  daher 
ist  die  einzige  Realität  die  des  Bewusstseins.  Diese  Bemerkungen  sind 
nach  Külpe  von  Grund  aus  falsch. 

Beneke  und  Wundt  haben  zugleich,  der  erste  mit  der  Bejahung  der 
Seele,  der  andere  mit  seiner  voluntaristischen  Metaphysik,  die  psycho- 
logische Realisierung  jenseits  und  ausserhalb  der  Wahrnehmungsgewissheit 
gesucht.  Diese  ist  niemals  eine  sichere  Garantie  für  ihre  Wirklichkeit: 
es  ist  weder  notwendig,  dass  das  Reale  mit  Evidenz  umfasst  wird,  noch 
auch,  dass  das  evident  Wahrgenommene  real  ist.  Die  moderne  Psychologie 
bemüht  sich  mit  wachsendem  Erfolge,  festzustellen,  z.  B.  in  der  Empfindungs- 
lehre, was  den  Empfindungen  in  sich  genommen  zukommt  und  was  unsere 
Auffassung  in  sie  hineinträgt.  Die  Evidenz  der  Wahrnehmung  ist  unfähig, 
das  zu  tun,  und  überhaupt  im  allgemeinen  die  Scheidung  zwischen  Gegen- 
stand   und  Auffassung   vorzunehmen.     Hierzu    ist    eine    schwierige  Unter- 


Die  Realisierung.  363 

suchung  notwendig,  die  namentlich  nach  Anwendung  von  Experimenten 
zahlreiche  und  interessante  Resultate  zu  Tage  gefördert  hat.  Einer  ähn- 
lichen wissenschaftlichen  Untersuchung  müssen  wir  vertrauen,  eher  als  der 
intuitiven  Methode  Bergsons,  wenngleich  auch  sie  ein  Beweis  dafür  ist,  dass 
die  einfache  Wahrnehmung,  trotz  ihrer  Evidenz,  nicht  eine  hinreichende 
Garantie  für  die  psychische  Realität  ihres  Objektes  ist. 

Hieraus  ersieht  man,  wie  falsch  die  Methode  ist,  die  innere  Wahr- 
nehmung als  Modell  und  Typus  einer  jeden  Verwirklichung  aufzufassen: 
nicht  allein  ihre  Evidenz  wird  schon  beschränkt  durch  die  Psychologie 
selber,  wie  wir  sahen,  sie  hat  auch  in  sich  selber  nicht  die  Macht  zur 
Verwirklichung.  Wenn  sie  gegenüber  der  äusseren  Wahrnehmung  Vorteile 
aufzuweisen  hat,  so  hat  sie  doch  auch  Nachteile,  denn  bei  jener  ist  es 
sehr  leicht,  zu  bestimmen,  ob  wir  es  mit  realen  Objekten  oder  mit  sub- 
jektiven Gemütsbewegungen  zu  tun  haben,  bei  dieser  hingegen  ist  es  schwer, 
zu  erkennen,  was  die  Fähigkeit  des  psychologischen  Subjektes  und  die 
Wahrnehmung  zur  Erscheinung  ihres  Objektes  beitragen. 

Das  erste  Argument  des  Konszientialismus  verliert  also  viel  von  seiner 
Bedeutung.  Es  beweist,  dass  Erfahrung  der  Ausgangspunkt  und  die  letzte 
Grundlage  der  Realisierung  ist,  sodass  man  behaupten  kann:  ohne  Wahr- 
nehmung keine  Realisierung.  Das  soll  aber  nicht  besagen,  dass  die  Wahr- 
nehmung ihre  einzig  mögliche  Form  ist,  noch  auch,  dass  das  Vorhandensein 
eines  Objektes  im  ßewusstsein  es  damit  schon  real  mache ;  die  Beschränkt- 
heit der  Wahrnehmung,  als  Folge  der  natürlichen  UnvoUkommenheit  unserer 
Organanlagen,  verlangt,  dass  wir  in  den  Realwissenschaften  uns  niemals  mit 
ihren  Angaben  und  ihren  Bestimmungen  begnügen  dürfen. 

IL    Die  logischen  Schwierigkeiten  der  Transzendenz. 

Polemische  Ergänzung  des  Konszientialismus  ist  der  Kampf  gegen  die 
Transzendenz,  ein  Kampf,  der  drei  Formen  annimmt : 

a)  Der  Gedanke  an  ein  nicht  gedachtes  Objekt  ist  absurd.  Wie  konnte 
doch  Berkeley  in  seinen  Principles  of  Knowledge  und  in  den  Dia- 
logues  between  Hylas  and  Philonous  sich  fragen  und  wie  kann 
man  nur  sich  vorstellen,  dass  ein  Ding,  das  man  denkt,  existieren 
kann,  ohne  gedacht  zu  werden?  Ist  das  Objekt  des  Gedankens,  fährt 
Schuppe  in  seiner  Erkenntnistheoretischen  Logik  fort,  nicht  etwa 
nach  seinem  eigentlichen  Begriffe  nur  ein  Inhalt  des  BewusstseinsV 

Diese  Einwände  hätten  einen  Wert,  wollte  man  den  Gedanken  mit  den 
Wahrnehmungen  und  den  Vorstellungen  gleichsetzen:  dann  freilich  läge 
ein  Widerspruch  im  Denken  an  ein  Objekt,  das  kein  Gedanke  wäre,  wie 
ein  Widerspruch  liegen  würde  in  der  Wahrnehmung  von  Farbe,  die  keine 
Wahrnehmung  wäre.  Sicherlich  ist  es  unmöglich,  dass  ein  Objekt  zu  einer 
Zeit  gedacht  oder  nicht  gedacht  wird,  aber  das  sagen  wir  auch  nicht;  wir 
sagen  bloss,  dass  das  Objekt,  das  gedacht  wird,  nicht  ein  blosser  Gedanke 


364  A.  Gemelli. 

wird.  Es  bleibt,  was  es  ist,  und  das  Denken  an  dasselbe  ändert  durchaus 
nichts  an  seinem  Wesen.  Derselbe  Gegenstand,  z.B.  ein  Haus,  das  ich 
und  ein  Architekt  sehe,  bringt  zwei  ganz  verschiedene  Gedankeninhalte 
hervor.  Der  Gedanke  steht  also  nicht  im  Verhältnisse  von  Identität  oder 
Gleichheit  mit  dem  Objekte  und  noch  weniger  mit  der  Vorstellung;  kann 
es  doch,  wie  die  moderne  Denkpsychologie  bewiesen  hat,  Gedanken  geben 
ohne  Bilder. 

b)  Es  ist  etwas  Widersprechendes,  sagen  die  Gegner,  der  Gedanke  an 
einen  Gegenstand,  der  unabhängig  wäre  vom  Denken.  Wenn  ein  Objekt 
gedacht  wird,  hängt  es  ab  vom  Gedanken,  darum  kann  es  nicht  von  diesem 
unabhängig  sein. 

Wenn  wir  die  Unabhängigkeit  eines  gedachten  Objektes  vom  Gedanken 
behaupten,  dann  wollen  wir  nur  sagen,  dass  die  Existenz,  die  Eigenschaften 
und  die  Veränderung  des  Objektes  nicht  an  die  entsprechende  Existenz, 
die  Eigenschaften  und  Veränderung  des  Gedankens  gebunden  sind.  Die 
Beweisführung  der  Gegner,  bemerkt  Liebmann  in  seiner  Abhandlung  Zur 
Analysis  der  Wirklichkeit,  ähnelt  jener  anderen:  Wenn  ein  Gegen- 
stand sich  widerspiegelt,  hängt  es  vom  Spiegel  ab ;  also  kann  er  nicht  von 
diesem  unabhängig  sein  und  nicht  ohne  jenen  existieren. 

Um  aber  die  Schwierigkeit  völlig  zu  beheben,  ist  daran  zu  erinnern, 
dass  es  Fälle  gibt,  in  denen  ein  Objekt  unabhängig  vom  Gedanken  existiert. 
Dass  ein  solcher  Fall  für  die  Bewusstseinsinhalte  zutrifft,  haben  Freytag 
(Der  Realismus  und  das  Transzendenzproblem)  und  Husserl 
(Logische  Untersuchungen)  bewiesen.  Zur  Bestätigung  würde  es 
genügen,  darauf  hinzuweisen,  dass  die  mathematischen  Grössen  und  Zahlen 
ihre  festen  Relationen  haben  und  dass  die  Begriffe  und  Urteile  der  Logik 
ihre  Gültigkeit  behalten,  anch  wenn  sie  nicht  gedacht  werden.  Und  dann, 
ist  es  etwa  nicht  wahr,  dass  die  Objekte,  über  die  man  nachdenkt, 
gleich  bleiben  während  der  verschiedenen  logischen  Operationen  und  der 
verschiedenartigsten  wissenschaf (liehen  Schlüsse?  Ist  das  nicht  ein  Beweis 
dafür,  dass  das  Objekt,  wenn  es  gedacht  wird,  vor  dem  Gedanken  jene 
Unabhängigkeit  bewahrt,  die  das  Grundprinzip  der  Logik  und  der  Wissen- 
schaften ist? 

c)  Die  logische  Schwierigkeit  des  Realismus  kann  endlich  eine  andere 
Form  annehmen.  Rickert  hat  in  seinem  Werke  Der  Gegenstand  der 
Erkenntnis  geschrieben:  all  das,  was  für  mich  existiert,  steht  imter 
der  allgemeinsten  Bedingung,  Tatsache  meines  Bewusstseins  zu  sein.  Mit 
welchem  Rechte  wird  ein  Objekt  angenommen,  das  nicht  Tatsache  des 
Bewusstseins  ist?  Die  Transzendenz  hätte  nötig  bewiesen  zu  werden,  um 
nicht  eine  willkürliche  und  wissenschaftlich  unzulängliche  Hypothese  zu 
sein.  Für  Rickert,  den  Verfechter  des  Immanenzstandpunktes,  sind  alle 
Objekte  Tatsachen    des    Bewusstseins,    dieses    ist    eine  Wahrheit,   die  un- 


Die  Realisierung.  365 

mittelbar  evident  ist,   und  auch  die  Einzelwissenschaften  fassen  die  Reali- 
täten als  Inhalt  des  Rewusstseins. 

Nun  ist  das  letztere  aber  falsch.  Nicht  allein  die  Metaphysik  be- 
trachtet Gott,  die  Nomaden  usw.  als  eine  Realität,  die  unabhängig  ist  von 
den  Bewusstseinsinhalten,  sondern  auch  die  andern  Wissenschatten,  von 
der  Physik  bis  zur  Psychologie,  betrachten  die  Gegenstände  der  Natur, 
des  psychischen  Lebens  oder  der  Geschichte  als  unabhängig  von  dem  In- 
halte des  Rewusstseins.  Der  Idealismus  Rickerts  Hesse  sich  so  fassen :  alle 
Objekte,  alle  Realitäten  der  Wissenschaften  sind  Bewusstseinsinhalte,  sofern 
sie  gewusst  werden,  oder:  Sofern  etwas  gewusst  wird,  wird  es  gewusst. 

Man  sagt,  der  Realismus  sei  eine  willkürhche  Behauptung :  tür  die 
Setzung  eines  Realen  gebe  es  keinen  hinreichenden  Grund.  Wir  können 
hier  nicht  die  positiven  Argumente  für  den  Reahsmus  anführen,  aber  ab- 
gesehen von  der  Tatsache,  dass  die  These,  die  das  ganze  Sein  auf  das 
Sein  des  Rewusstseins  zurückführt,  willkürlich  und  dogmenhaft  ist,  bemerken 
wir,  dass  die  Himmelskörper  ihren  Lauf  nehmen,  auch  wenn  sie  nicht 
gewusst  werden,  dass  das  Ei  nach  der  Befruchtung  sich  entwickelt  auch  in 
den  Zeiträumen,  in  denen  kein  Rewusstsein  an  dasselbe  denkt.  Diese 
Kontinuität  der  Entwicklung,  wofür  man  tausenderlei  andere  Beispiele  an- 
führen könnte,  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  das  Objekt  nicht  identisch  ist 
mit  dem  Bewusstseinsinhalt. 

III.  Das  tatsächliche  Gegebensein  aller  Gegenstände  im 
Bewusstsein.  Aber  der  Konszientialismus  beruhigt  sich  noch  nicht  und 
sucht  sonderbarerweise  den  Kampf  gegen  die  Transzendenz  zu  führen, 
indem  er  im  Namen  der  Erfahrung  kämpft.  Dass  der  Erkennende  nur  die 
Bewusstseinsinhalte  und  nichts  anderes  zur 'Verfügung  hat,  ist  die  einfache 
Konstatierung  einer  Tatsache.  Hier  teilen  sich  die  Konszientiahsten  in  zwei 
Richtungen :  die  einen  verteidigen  den  Solipsismus,  wonach  das  Bewusstsein, 
dem  alle  Objekte  der  Erkenntnis  angehören,  das  individuelle  und  persönliche 
Bewusstsein  der  einzelnen  Subjekte  ist.  Die  anderen  hingegen  verstehen 
unter  Bewusstsein  entweder  die  Erlebnisse  oder  die  Auffassungsweise  des 
Subjektes :  das  ist  der  Immanenzstandpunkt.  Sehen  wir  uns  die  Schwäche 
der  einen  wie  der  anderen  Auffassung  an. 

a)  Niemals  wurde  energischer  als  bei  von  Schubert-Soldern  (in  seinen 
Grundlagen  einer  Erkenntnistheorie)  die  Idee  ausgesprochen,  dass 
alle  Objekte  der  Erkenntnis  nichts  anderes  sind,  als  Inhalte  meines  Be- 
wusstseins,  und  dass  wir  in  den  Grenzen  von  diesem  bleiben  müssen.  Der 
Solipsismus  wäre  also  eine  evidente  Tatsache ,  die  nicht  einmal  bewiesen 
zu  werden  brauchte.  Von  Schubert-Soldern  ist  nicht  logisch :  mit  der  Fest- 
stellung der  Tatsache,  dass  alles,  was  ich  denke,  ein  Bewusstseinsinhalt  ist, 
ist  nicht  die  Unmöglichkeit  von  Objekten  bewiesen,  die  nicht  gedacht  werden. 
Empirisch  ist  weder  Unmöglichkeit  noch  Notwendigkeit  gegeben. 


366  A.  Gemelli. 

Ausserdem  löst  sich,  wie  schon  Gaetschenberger  und  vor  allem  Herbart 
in  seiner  Polemik  gegen  den  Idealismus  von  Fichte  bemerkt  haben,  der 
Solipsismus  in  eine  unendliche  Reihe  auf.  Wenn  alle  Objekte  der  Er- 
kenntnis Erfahrungen  meines  Bewusstseins  sind,  so  ist  es  auch  dieses 
zweite  Urteil  und  so  fort  bis  ins  Unendliche.  Uebrigens,  von  welchem  Be- 
wusstsein  spricht  man  dennV  Ist  es  logisch,  von  meinem  Bewusstsein  zu 
reden,  wenn  nicht  andere  vorausgesetzt  oder  angenommen  werden,  und 
ich  so  aus  den  Grenzen  meines  Bewusstseins  hinausgehe? 

Der  Solipsismus  treibt  Spiel  mit  dem  Worte  „Bewusstsein",  indem  er 
es  in  einem  doppelten  Sinne  gebraucht.  Wenn  dieses  Wort  die  subjektiven 
Erlebnisse,  das  Seelenleben  des  Subjektes  bezeichnen  soll,  so  irrt  der 
Solipsismus,  denn  die  psychischen  Vorgänge  bilden  ja  nur  einen  Teil 
der  Erfahrung  und  der  erkannten  Objekte,  gar  nicht  davon  zu  reden,  dass, 
falls  sie  die  ganze  Erfahrung  und  alle  erkannten  Objekte  darstellten,  wir 
dann  von  ihnen  aussagen  müssten,  was  wir  von  diesen  aussagen :  wir 
miissten  dann  auch  ihnen  die  Kristallisierung,  die  Zellenscheidung,  den 
Planetenlauf  usw.  zuschreiben  können.  Nimmt  man  aber  das  Wort  ,, Be- 
wusstsein" in  einer  anderen  Bedeutung  und  will  man  sagen,  dass  alle  Ob- 
jekte der  Erkenntnis  erkannt  werden  müssen,  dann  hat  der  Solipsismus 
Recht.  Aber  diese  sehr  einfache  Wahrheit  besagt  nicht,  was  und  von 
welcher  Art  die  Objekte  sind,  wenn  sie  nicht  gedacht  werden. 

Es  irren  also  jene,  die  einen  Sohpsisten  für  unwiderleglich  halten  oder 
die  mit  Schopenhauer  als  einziges  Mittel  der  Widerlegung  seine  Ueber- 
führung  in  eine  Irrenanstalt  betrachten ;  nein,  der  Solipsismus  treibt  Spielerei 
mit  dem  Doppelsinn  eines  Wortes,  sodass  wir  eine  quaternio  terminorum 
haben  würden,  wollten  wir  seine  Beweisführung  in  syllogistische  Form 
kleiden. 

b)  Kommen  wir  dann  zum  Standpunkte  der  Immanenz  und  lassen  wir 
Rickert,  dem  wir  schon  geantwortet  haben,  beiseite,  so  begegnen  wir  Ernst 
Mach  und  Richard  Avenarius.  Diese  lehren,  der  erste  in  seinen  Bei- 
trägen zur  Analyse  der  Empfindungen  und  in  Erkenntnis 
und  Irrtum,  der  andere  in  der  Kritik  der  reinen  Erfahrung, 
dass  physisch  und  psychisch  Reflexionsbegriffe  sind,  dass  aber  das  Gegebene 
weder  physisch  noch  psychisch  ist ;  der  Standpunkt  der  Immanenz  besteht 
gerade  im  Nicht-Ueberschreiten  der  reinen,  primitiven,  ungeteilten  Erfahrung. 
Die  reine  Empfindung  (Sensation)  gibt  uns  die  nicht  von  praktischen 
Zwecken  gefälschte  Kenntnis  von  der  Wirklichkeif. 

Die  äussere  Form,  das  Bild,  die  natürliche  Kopie,  die  wir  uns  von  der 
Welt  machen,  bemerkt  Külpe  gegen  diese  Auffassung  des  Erfahrungs- 
kritizismus, ist  nicht  die  reine  Erfahrung,  sondern  eine  getrübte  und  in 
tielfacher  Weise  modifizierte  Erfahrung.  Denn  sie  ist  nicht  frei  von  Zu- 
sätzen aus  früheren  Erfahrungen,  von  Handlungen,  die  ihre  Eindrücke  ändern, 
von  begrifflichen  Voraussetzungen.     Darum   ist    vor  allem   eine  reinigende 


Die  Realisierung.  367 

Untersuchung  notwendig,  und  die  Experimentalwissenschaften  tun  gut  daran, 
sie  vorzunehmen,  um  ihren  Ausgangspunkt  zu  gewinnen.  Dann  wenden 
sich  die  Wissenschaften  nicht  auf  die  ganze  Tatsache,  sondern  nur  auf  einen 
Teil,  nach  verschiedenen  Richtungen;  die  reine  Erfahrung  wird  daher  ab- 
hängig von  einem  bestimmenden  Gesichtspunkte.  Die  Empfindungen  sind 
der  Psychologie  überlassen  und  werden  nicht  von  den  Naturwissenschaften 
betrachtet.  Die  Naturgesetze  als  Empfmdungsgesetze  betrachten,  ist  ein 
Verfahren  ähnheh  jenem  eines  Psychologen,  der  das  Seelenleben  der 
andern  Menschen  für  einfache  Inhalte  seiner  Wahrnehmung  halten  wollte, 
oder  dem  eines  Historikers ,  der  ein  gefundenes  Dokument  für  einen 
blossen  Eindruck  des  Sehvermögens  betrachtete.  Freilich,  auch  das  fremde 
müsste  logischerweise  vom  Empiriokritizismus  geleugnet  werden ;  wenn 
Avenarius  es  doch  annimmt,  so  tut  er  das  im  Widerspruch  zu  seinem 
Immanenzstandpunkte. 

Es  ist  so  wenig  wahr,  dass  die  Sinnesinhalte  das  einzige  Erkennungs- 
mittel sind,  dass  z.  ß.  den  empirischen  Wissenschaften  nichts  an  der 
spezifischen  Eigenschaft  des  mit  den  Sinnen  Wahrgenommenen  liegt:  die 
Sinneswahrnehmungen  werden  nicht  wegen  ihrer  Eigenschaften  der  Aus- 
gangspunkt für  die  Wissenschaften,  sondern  wegen  gewisser  Relationen  und 
Beziehungen,  die  man  an  ihnen  wahrgenommen,  wegen  der  Unabhängigkeit 
ihres  Gehens  und  Kommens,  ihres  Bleibens  oder  ilirer  Veränderung,  ihrer 
Trennung  oder  Vereinigung.  In  all  diesen  iVIomenten  spricht  sich  eine 
Abhängigkeit  von  Objekten  aus,  die  nicht  mit  uns  identisch  sind.  Wären 
die  Vorstellungsinhalte  so  veränderlich  und  frei  von  allen  Gesetzen,  so 
könnten  sie  nicht  der  Ausgangspunkt  für  wissenschaftliche  Beobachtungen 
werden.  Nicht  die  Sinneswahrnehmungen,  sondern  die  Wirklichkeit  der 
Natur  ist  das  Kriterium  der  Wissenschaft. 

Die  Immanenztheorie  könnte  aber  daran  festhalten,  dass  diese  Realitäten 
der  Natur  nichts  anderes  sind  als  Gedanken  und  Begriffe :  jede  Kenntnis 
der  Natur,  sagt  Mach,  ist  eine  Anpassung  der  Gedanken  an  Tatsachen,  und 
wir  sehen  dabei  von  der  nebenher  anerkannten  Anpassung  der  Gedanken 
aneinander  ab.  Begriffe  und  wissenschaftliche  Theorien  sind  sämthch  nur 
provisorisch,  nützlich  für  die  Praxis;  die  Empfindungen  allein  sind  das 
Unabhängige,  wonach  wir  unsere  Gedanken  richten  müssen :  ihre  Analyse 
und  ihre  Kenntnis  bilden  das  erste  Erfordernis  des  Forschers,  der  wirk- 
lich empirisch  vorgehen  will. 

Wer  in  solcher  Weise  spricht,  vergisst,  dass  die  Gedanken,  die  in  An- 
passung an  Sinneswahrnehmungen  gebildet  sind,  ein  ganz  anderes  Objekt 
haben  als  jene  Sinneseindrücke.  Die  Naturwissenschalten  handeln  nicht 
80  sehr  von  Farben,  Tönen,  von  Temperaturwahrnehmungen,  sondern  vom 
Aether,  von  der  Materie,  von  Schwingungen,  Elektronen  usw.  Wie  bringt 
Mach  es  fertig,  zu  erklären,  dass  die  Gedanken  nichts  anderes  sind  als  eine 


368  A.  Gemelli. 

Nachbildung   der   Sinnesempfindungen,    während  sie  doch  gar  nicht  von 
diesen  handeln? 

Man  wird  sagen,  dass  diese  logischen  und  wissenschaftlichen  Kon- 
struktionen, die  Materie,  die  Elektronen  usw.  blosse  Begriffe  sind,  bequeme, 
wenn  man  will,  aber  keine  wahren.  0  nein !  es  ist  nicht  der  Gedanke, 
sondern  die  Realität,  die  uns  sagt,  welches  die  Zusammensetzungen  der 
Kohlensäure  sind,  die  uns  unterweist,  mit  welcher  Geschwindigkeit  das  Licht 
sich  bewegt  usw.  Damit  jener  Einwand  Sinn  habe,  müsste  man  die  realen 
Objekte  mit  den  idealen  gleichsetzen ;  aber  wie  würde  dann  zu  erklären 
sein,  dass  die  realen  Objekte  nur  mit  Halte  einer  schwierigen  Beobachtung 
von  Tatsachen  erkannt  werden  können  ?  und  wie  kommt  es,  dass  der  Wert 
des  Gedankens  über  sie  nicht  bloss  eine  immanente  Grundlage  hat, 
sondern  von  der  Erfahrung  bedingt  ist? 

Wir  ziehen  also  den  Schluss,  dass  der  Solipsismus  und  die  Immanenz 
keine  Tatsachen,  sondern  nur  ungenügende  Theorien  sind,  unbewiesene 
Behauptungen,  die  im  Widerspruch  stehen  mit  den  Real  Wissenschaften. 

IV.  Die  abstrakte  Natur  jeder  Realität.  Die  Abstraktionen 
—  so  lautet  eine  andere  Idee  des  Konszientialismus  —  existieren  nicht. 
Nun  müsste  es  aber,  wenn  es  etwas  Reales  gäbe,  auch  etwas  Abstraktes 
geben,  eine  allgemeine  Idee.     Also  existiert  das  Reale  nicht. 

Berkeley  mit  seiner  Theorie  der  abstrakten  Begriffe  ist  einer  der  Ver- 
fechter dieser  Schwierigkeit ;  die  englische  Philosophie  vor  allem  stellt, 
nachdem  sie  den  Gedanken  nach  dem  Muster  von  Sinneseindrücken  und 
Vorstellungen  behandelt  hat,  folgenden  Schluss  an:  Die  abstrakte  Idee  ist 
etwas,  was  man  sich  nicht  vorstellen  kann ;  also  ist  sie  noch  weniger  denkbar. 

Ganz  abgesehen  von  dem  Nachweise,  den  die  moderne  Psychologie 
von  der  Denkbarkeit  einer  freilich  nicht  mit  sinnlichen  Bildern  vorstellbaren 
Materie  gehefert  hat,  die  weder  warm  noch  kalt,  weder  schwer  noch  leicht, 
weder  hell  noch  dunkel,  sondern  nur  räumlich  bestimmt  ist;  abgesehen 
davon,  dass  die  abstrakte  Idee  nur  für  den  naiven  Realismus,  nicht 
für  den  kritischen  Realismus,  etwas  Unverständliches  und  Widersprechendes 
sein  wird,  zeigt  sich  in  klarer  Weise  die  Unzulässigkeit  des  Vorgehens 
Berkeleys,  wenn  man  unterscheidet  zwischen  Gedanke  und  Objekt. 
Warum  kann  die  Kenntnis  der  Objekte  nicht  unbestimmt  und  allgemein 
sein,  ohne  dass  die  Objekte  die  gleiche  Eigenschaft  haben?  Es  kommt 
hinzu,  dass  auch  für  den  Naturforscher  die  Objekte  nicht  blosse  Abstraktionen 
oder  Allgemeinheiten  sind ;  der  Biologe  z.  B.  pflegt  als  real  nicht  die  Arten 
und  Gattungen,  sondern  die  Individuen  zu  betrachten.  Wir  können  zuweilen, 
wenn  wir  von  einer  realen  Seite  abstrahieren,  uns  auf  eine  andere  nicht 
weniger  reale  Seite  beschränken.  Die  allgemeinen  Gesetze  der  Naturwissen- 
schaften können  immer  durch  die  Wahl  gev/isser  Konstanten  auf  ein  be- 
stimmtes Objekt   angewandt  werden.      Und  wie  im  übrigen   der  Astronom 


Die  Realisieiunt'-.  369 


'o 


einen  Himmelskörper  studiert,  so  kann  jedes  Naturobjekt  als  ein  Gegen- 
stand für  sich  allein  betrachtet  werden.  Wollte  man  die  Existenz  von 
realen  Objekten  leugnen,  bloss  weil  sie  mit  Hülfe  von  Abstraktionen  ge- 
wonnen wurden,  so  müsste  man  auch  die  Begriffe  der  Logik  und  die 
geometrischen  Figuren  verwerfen. 

In  keiner  Weise  hat  man  das  Recht,  den  realen  Objekten  den  Anspruch 
auf  Konkretheit  und  Individualität  zu  versagen.  Andererseits  ist  das 
Leugnen  jeden  Wertes  einer  abstrakten  und  allgemeinen  Erkenntnis  gleich- 
bedeutend mit  dem  Leugnen  aller  Wissenschaften. 

V.  Der  empirische  Gehalt  der  Gedanken  transzendenter 
Gegenstände.  Untersuchen  wir  nun  die  Theorie  Humes.  Die  Ideen 
können  nach  Hume  nicht  mehr  enthalten,  als  in  den  sinnlichen  Eindrücken 
gegeben  ist,  da  sie  ja  aus  diesen  entstehen;  folglich  muss  aus  den  Be- 
griffen Substanz,  Kausahtät,  Aussenwelt  alles  entfernt  werden,  was  nicht 
aus  den  ursprünglichen  Gegebenheiten  des  Bewusstseins  abgeleitet  werden 
kann.  Soviel  über  den  Inhalt  der  Gedanken.  Bezüglich  ihrer  Anwendung 
ist  zu  sasjen :  Die  Gedanken  können  sich  nur  an  Realitäten  anlehnen,  die 
vom  ßewusstsein  vorgestellt  werden  können,  da  sie  ja  in  diesen  ihren 
Ursprung  nehmen. 

Wir  haben  schon  wiederholt,  dass  der  Gedanke  sich  wesentlich  von 
den  Sinneseindrücken  und  den  Vorstellungen  unterscheidet,  nicht  bloss  weil 
es  Gedanken  gibt  ohne  Bilder,  nicht  bloss  weil  er  zum  Unterschied  von  jenen 
sich  von  seinem  Gegenstande  unterscheidet,  sondern  auch,  weil  er  sich 
viel  weiter  ausdehnt  als  die  Einbildungsvorgänge.  Wegen  dieser  Ideen 
ohne  Bilder  ist  das  alte  Axiom  unhaltbar:  Nihil  est  in  intellectu 
quod  prius  non  fuerit  in  sensu.  Selbst  wenn  man  einen  Ursprung  der 
Gedanken  aus  Empfmdungnn  annehmen  würde,  so  würde  das  doch  nicht 
eine  quahtative  Gleichheit  des  Gedankens  und  des  Vorstellungsinhaltes 
bedeuten. 

Noch  einmal:  Das  Vorgehen  des  Empirismus  beweist  nicht  die  Un- 
mögUchkeit  eines  nicht  empirischen  Inhaltes  der  Gedanken.  Er  will,  dass 
jeder  Gedankeninhalt  abgelehnt  werde,  der  sich  nicht  auf  Sinneseindrücke 
zurückführen  lässt;  aber  das  ist  nur  ein  ungerechtfertigtes  Verbot;  gehen 
denn  die  Analogie  und  die  wissenschaftliche  Induktion  nicht  über  die  Er- 
fahrung, und  zwar  mit  Nutzen,  hinaus? 

Was  dann  die  zweite  Frage  angeht,  wird  man  gut  tun,  daran  zu  er- 
innern, dass  die  Begriffe  nicht  bloss  angewandt  werden  können  auf  jenes 
Gegebene,  von  dem  sie  herstammen.  „Niemand  wird  behaupten -wollen,  dass 
die  Zahlen,  weil  sie  zunächst  von  Fingern  und  Zehen  ihren  Ursprung 
genommen  haben,  auch  nur  auf  diese  Gegenstände  angewandt  werden 
dürfen".  Die  Wissenschaft  liefei't  in  zahlreichen  Fällen  den  Nachweis,  wie 
willkürlich  jene  Beschränkung  ist.    Im  allgemeinen  sodann  kann  und  muss 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  24 


370  A,  Gemelli, 

man  behaupten,  dass,  wenn  unsere  Gedanken  neben  der  Wahrnehmung 
einen  Sinn  und  Wert  haben  sollen,  sie  auch  einen  selbständigen  Inhalt 
und  eine  unabhängige  Funktion  haben  müssen. 

VI.  Die  Transzendenz  und  das  Ideal  der  Wissenschaft. 
Selir  sonderbar  ist  der  Versuch,  im  Interesse  und  Namen  der  Wissenschaft 
zu  kämpfen. 

Die  besten  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  müssen  sich  durch  Not- 
wendigkeit und  Allgemeingültigkeit  auszeichnen.  Nun  kann 
aber  die  Annahme  transzendenter  Objekte  diese  Merkmale  nicht  haben. 
Ii;re  Existenz  ist  eine  blosse  Hypothese,  unwürdig  der  ernsten  Strenge 
der  Experimental-Wissenschaften.  Die  Antwort  ist  leicht:  nicht  alles  in 
der  Wissenschaft  hat  die  oben  beschriebenen  Eigenschaften.  Wenn  das 
wäre,  so  hätten  wir  eine  durchaus  vollkommene  Wissenschaft;  jedermann 
aber  weiss,  wie  viele  Lücken  sich  in  den  verschiedenen  Zweigen  der 
Wissenschaft  finden.  —  Man  wird  vielleicht  sagen,  dass  hier  immer  die 
Möglichkeit  eines  Fortschrittes  gegeben  ist.  während  ein  solcher  nach  dem 
Beweis  der  realen  Existenz  des  Transzendenten  hin  nicht  möglich  sei. 
Auch  das  ist  falsch:  nicht  nur,  dass  der  Empirismus  nicht  die  Un- 
möglii-hkeit  eines  solchen  Nachweises  dartun  kann,  auch  im  Bereiche  der 
Realisierung  gibt  es  einen  Fortschritt  und  eine  Entwicklung:  Das,  was  an- 
fänglich eine  Supposition  war,  kann  dann  eine  wohlbeachtenswerte  wissen- 
schaftliehe These  werden ;  von  den  Atomen  Demokrits  kann  man 
hinüberkommen  bis  zur  modernen  Atomistik.  Und,  um  nichts  anderes  zu 
sagen,  waren  die  grossen  Forscher  nicht  etwa  Realisten?  Hätten  sie  viele 
ihrer  Entdeckungen  gemacht,  wenn  sie  sich  auf  einen  konszientialistischen 
Standpunkt  gestellt  hätten?  Wann  ist  jemals  der  Realismus  für  das  Ideal 
der  Wissenschaft  ein  Hindernis  gewesen? 

VII.  Das  Prinzip  der  Zweckmässigkeit  und  die  Trans- 
zendenz. Das  Zweckmässigkeitsprinzip,  bemerkt  in  einem  andern  Einwand 
Mach,  herrscht  unbestritten  in  der  Wissenschaft,  die  ihr  Ziel  auf  dem 
kürzesten  Wege  und  mit  dem  geringsten  Kraftverbrauch  erreichen  muss. 
Alle  überllüssigen  Voraussetzungen  müssen  unnachsichtlich  ausgeschieden 
werden.     Dahin  gehören  aber  die  transzendenten  Objekte. 

Verständigen  wir  uns  zunächst  gnt  über  das  Sparsamkeitsprinzip:  zur 
Erreichung  eines  gesteckten  Zieles  muss  man  die  am  wenigsten  kost- 
spieligen Mittel  wählen :  sehr  gut.  Die  ganze  Frage  hängt  also  vom  Ziele 
ab:  es  muss  entschieden  werden,  ob  dieses  das  Ziel  der  Wissenschaft  ist: 
eine  Nachbildung  von  Tatsachen  in  Gedanken  zu  sein,  oder  jenes,  die 
objektive  Realität  zu  erkennen.  Bei  dieser  zweiten  Möglichkeit  würde  das 
genannte  Prinzip  nicht  das  Transzendente  ausschliessen. 

Es  wäre  auch  interessant,  zu  erfahren,  wie  wir  uns  vom  konszientia- 
lisli?chen  Standpunkte  aus  das  Gesetz  der  Schwerkraft  vorstellen  müssen; 


Die  Realisierung.  371 

oder  welche  zukünftige  Naturwissenschaft  von  ihm  abgeleitet  werden  kann. 
Vorläufig  ist  die  moderne  Naturwissenschaft  von  realistischen  Voraus- 
setzungen beherrscht.  Auch  in  unserem  praktischen  Leben  sündigen  wir 
eher  durch  Uebertreiben  des  Reahsmus ,  indem  wir  auch  die  Sinnes- 
qualitäten als  reale  Beschaflenheiten  auffassen.  Die  konszientialistische 
Auffassung  würde  eine  sehr  unbequeme  und  umständliche  Redeweise  mit 
sich  bringen. 

Uebrigens  muss  die  Existenz  des  Transzendenten  mit  dem  Kriterium 
der  Wahrheit,  nicht  der  Bequemlichkeit,  bewiesen  werden. 

VIII.  Psychologie,  Metaphysik  und  Geisteswissenschaften. 
Das  letzte  Bollwerk  des  Konszientialismus  ist  die  Psychologie.  Diese  ver- 
zichtet auf  alle  Transzendenz  und  treibt  uns  so  an,  ein  gleiches  auch  in 
den  andern  Wissenschaften  zu  tun. 

Indem  der  Verfasser  diesen  letzten  Angriff  abschlägt,  kommt  er  zum 
Resultat,  dass,  so  verschieden  auch  das  Kriterium  der  Realisierung  in 
der  Psychologie  und  den  Naturwissenschaften  sein  mag,  jene  sowohl  wie 
diese  in  gleicher  Weise  realisieren. 

Schliesslich  untersucht  Külpe  die  Beziehungen  des  KonszientiaHsmus 
zu  den  Geisteswissenschaften  und  zur  Metaphysik.  Für  die  ersteren,  z.  B. 
für  die  Geschichte,  würde  es  gleichbedeutend  sein  mit  einem  Verzicht  auf 
jegliche  Erkenntnis  des  Vergangenen :  zu  sagen,  dem  Wort  Alexander  ent- 
spreche eine  Persönlichkeit,  die  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  gelebt  hat, 
wäre  eine  unerlaubte  Transzendenz.  Das  erklärt  uns,  weshalb  sich  unter 
den  Vertretern  der  Geisteswissenschaften  keine  Konszientialisten  finden. 
Was  dann  die  andere  (die  Metaphysik)  angeht,  so  sucht  Külpe  zu  zeigen, 
dass  es  eine  induktive  Metaphy.sik  gibt,  die  die  einzelnen  Realwissenschaften 
zusammenfasst,  deren  Vorgehen  keinem  andern  Gesichtspunkt  unter- 
liegt, als  allein  der  Methode,  die  in  den  Geistes-  und  Naturwissenschaften 
anerkannt  und  allgemein  angewandt  wird,  nämlich  einer  Setzung  und  Be- 
stimmung von  Realität.  Das  Vorhaben,  die  Metaphysik  auf  die  unmittelbare 
und  intuitive  Erfahrung  zu  gründen,  ist  eitel  und  nichtig. 

Wir  werden  dem  Verfasser  in  diesem  Teile  nicht  folgen  und  auch  nicht 
in  dem  grossartigen  Rückblick,  wo  er  in  Schlachtordnung  auf  der  einen 
Seite  die  Argumente  des  Konszientialismus  aufstellt,  die  Vorteile  seiner 
Position,  die  Nachteile  der  Transzendenz,  und  auf  der  andern  Seite  die 
nach  ihm  erschöpfenden  Antworten,  die  ihm  (dem  Konszientialismus)  ent- 
gegengesetzt werden  können.  Es  ist  das  ein  sehr  wohlgelungenes  synthe- 
tisches Kapitel,  bei  dem  es  einem  vorkommt,  als  wohne  man  einer  ge- 
waltigen Entscheidungschlacht  bei. 

IX.  Die  Schule  von  Marburg.  Der  letzte  Teil  des  Buches  ist 
einem  andern  Feind  des  Realismus  zugewandt,  nämlich  dem  objektiven 
Realismus,  speziell  der  Marburger  Schule.     Für  Cohen  und  Natorp  ist  die 

24* 


372  A.  Gemelli. 

Mathematik  Prototyp  aller  Wissenschaft;  die  schöpferische  Tätigkeit  des 
Gedankens  ist  der  Ursprung  jeder  Erkenntnis;  die  Objekte  der  Realwissen- 
schaften sind  lediglich  ideale  Objekte;  das  Gegebene  ist  nichts  weiter  als 
eine  neue  Aufgabe,  die  gelöst  werden  will:  alles  ist  Gedanke,  und  der 
Gedanke  ist  in  fortwährender  Ausgestaltung,  in  ewigem  Fortschritt  begriffen. 

Unter  Hinweis  auf  das,  was  August  Messer  in  einem  neueren  Artikel 
in  der  Internationalen  Monatsschrift  (März  1912)  mit  Bezug  hierauf 
geschrieben,  wendet  Külpe  gegen  die  Marburger  Schule  und  gegen  jeglichen 
objektiven  Idealismus  folgenden  Verteidigungsplan  an.  Er  beginnt  damit, 
dass  er  die  Begriffe,  die  die  Elemente  von  Vorstellungen  bilden,  und  die 
idealen  Objekte,  die  Gegenstand  der  Untersuchung  sind,  auseinanderhält. 
Sodann  will  er  beweisen,  dass  nicht  jedes  Objekt,  das  in  Frage  steht,  ein 
ideales  Objekt  ist,  dass  vielmehr  die  Forschungsmethoden  einen  wesentlich 
verschiedenen  Charakter  annehmen  gegenüber  realen  und  idealen  Objekten. 
So  kommt  er  zu  einer  kurzen  Prüfung  der  einzelnen  Beweise,  die  der 
Idealismus  herbeibringt,  um  die  ersten  mit  den  zweiten  identifizieren  zu 
können,  wobei  er  den  idealen  Objekten  die  vorherrschende  und  dominierende 
Stellung  zuweist.  Wir  folgen  der  übersichtlichen  Anordnung  des  vor- 
züglichen Autors : 

a.  Wir  finden  nicht,  sagt  der  Idealist,  die  realen  Objekte  fertig  und 
gemacht ;  sie  müssen  bearbeitet  werden  und  erfordern  daher,  wie  die  idealen 
Objekte,  einen  Erzeugungsprozess.  Ohne  Spontaneität  des  Forschers 
können  sie  nicht  gesetzt  und  bestimmt  werden.  —  Zwischen  den  einfachhin 
gegebenen  realen  Objekten,  erwidert  Külpe  namens  seines  kritischen  Realis- 
mus, und  zwischen  den  (durch  das  Erkennen)  geschaffenen  realen  Objekten 
ist  noch  Platz  für  eine  dritte  Möglichkeit,  ein  Erfassen  der  Realität,  die 
nicht  gegeben  ist,  uns  ihre  Existenz  und  ihr  Wesen  aber  durch  Gegebenes 
offenbart.  Nicht  das  reale  Objekt  selber,  sondern  seine  Erforschung  ist  der 
Spontaneität  überlassen;  diese  ist  ja  nicht  eine  Tätigkeit,  die  frei  schaffen 
kann,  sondern  sie  ist  begrenzt  und  geleitet  von  dem  Masse  der  Erkenntnis 
realer  Gegenstände. 

b.  Bei  den  realen  und  idealen  Objekten  ist  es  immer  die  Erfahrung^ 
die  ihre  Hervorbringung  veranlasst.  Ohne  Raumanschauung  wäre  wahr- 
scheinlich niemals  die  Geometrie,  ohne  Dinge,  die  sich  zählen  lassen, 
niemals  die  Arithmetik  entstanden.  —  Nein;  die  Bedeutung  der  Erfahrung 
für  die  Realwissenschaften  ist  viel  grösser  als  für  die  Idealwissenschaften. 
Die  idealen  Objekte  der  Mathematik  sind,  nachdem  ihre  Konstruktion  sich 
vollzogen  hat,  unabhängig  von  der  Erfahrung,  und  keine  ihrer  Feststellungen 
oder  ihrer  Beweisführungen  nimmt  ihre  Zuflucht  zu  dieser.  Auch  in  den 
Anwendungen  passt  sie  nicht  ihre  Bestimmungen  den  Forderungen  der 
Wirklichkeit  an,  sondern  umgekehrt,  sie  passt  diese  letzteren  der  mathe- 
matischen Behandlung  an. 


Die  Realisierung.  373 

Gerade  das  Gegenfeil  trifft  zu  bei  den  andern  Wissenschaften,  da  bei 
ihnen  die  Erfahrung  den  Ausgangspunkt  bildet,  nicht  bloss  fiir  die 
Setzung  und  die  Bestimmung  der  Realität,  sondern  weil  sie  auch  die 
ständige  Grundlage  und  die  stete  Kontrolle  ihrer  Ergebnisse  ist.  Hieraus 
sieht  man,  dass  die  realen  und  idealen  Objekte  nicht  nur  nicht  identifiziert 
werden  können,  sondern  dass  die  Mathematik  nicht  einmal  als  Typus  aller 
Wissenschaften  betrachtet  werden  kann. 

c.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dass  die  Real-Objekte  wie  die  Ideal- 
Objekte  sich  nur  denken  lassen.  Die  Frage  ist  diese,  ob  diesen  gedachten 
Objekten  eine  Realität  entspricht,  oder  ob  sie  von  uns  selber  herstammen. 
Diese  zweite  MögHchkeit  wird  ausgeschaltet,  wenn  man  bedenkt,  dass  unser 
Gedanke,  weit  entfernt  von  der  Möglichkeit,  die  gewünschten  Objekte  zu 
schaffen,  vielmehr  von  der  Erfahrung  beeinflusst  wird. 

d.  Der  Idealist  wendet  noch  ein,  dass  die  realen  wie  idealen  Objekte 
als  Abstraktionen,  Kombinationen  oder  Modifikationen  gegebener  Elemente 
betrachtet  werden  können.  Die  Gleichheit  der  hervorbringenden  Tätigkeit 
scheint  die  Bildung  gleicher  Objektsarten  mit  sich  zu  bringen.  Jene  Ab- 
straktionen, Kombinationen,  Modifikationen  unterliegen  für  die  realen  Ob- 
jekte der  Herrschaft  bestimmter  Kriterien  der  Reahsierung  und  werden  in 
enger  Anlehnung  an  die  Tatsachen  vorgenommen ;  diese  Kriterien  und  dieser 
Anschluss  hat  keine  Bedeutung  für  die  Erforschung  der  idealen  Objekte. 
Werden  diese  Operationen  aber  vorgenommen,  sei  es  für  die  realen  oder 
die  idealen  Objekte,  so  geschieht  es,  weil  die  einen  wie  die  andern 
Gegenstände  sind;  das  soll  aber  nicht  besagen,  dass  zwischen  ihnen  keine 
Unterschiede  bestehen:  es  gibt  deren,  und  die  gegenwärtige  Diskussion 
belehrt  uns,  dass  es  tiefgehende  Unterschiede  sind. 

e)  Man  sagt  auch,  dass  zwischen  den  Idealwissenschaften,  z.  B.  der 
Mathematik,  und  den  Realwissenschaften,  z.  B.  der  Physik,  so  wenig  eine 
scharfe  Grenze  besteht,  dass  man  von  einer  mathematischen  Physik  reden 
kann;  ein  solch  unvermittelter  Uebergang  von  den  einen  zu  den  andern 
Wissenschaften  lässt  sich  nur  dann  erklären,  wenn  die  Objekte  beider  von 
derselben  Art  sind.  Die  Mathematik  kann  zur  Hülfe  herangezogen  und  so 
eine  Hülfswissenschaft  der  Physik  werden,  aber  sie  kann  nicht  etwa  die 
Beobachtung  und  das  Experimentieren  ersetzen  und  reale  Naturvorgänge 
aus  ihren  eigenen  Voraussetzungen  ableiten.  Ihre  Verbindung  geschieht  daher 
immer  nur  gelegenthch  aus  Zweckmässigkeitsgründen,  und  die  Eigentüm- 
lichkeiten der  einzelnen  Wissenschaften  gehen  nicht  verloren,  wenn  sie  zu- 
sammenwirken. 

f)  Es  ist  unmöglich  —  sagt  man  weiter  —  etwas  Reales  anzugeben, 
das  nicht  etwas  Ideales  enthielte,  so  zwar,  dass  die  euklidische  Geometrie 
gut  als  eine  Erfahrungswissenschatt  und  die  Mechanik  als  Idealwissenschaft 
bezeichnet  worden  ist ;  folglich  ist  die  Unterscheidung  der  zwei  Arten  von 
Objekten  illusorisch.  —  Der  Idealist  vergisst,    welch    eine   Kluft    immerhin 


374  A.  Gemelli. 

zwischen  diesen  beiden  Arten  von  Objekten  bleibt :  die  Idealwissenschaften 
lassen  sich  bei  ihrer  Forschung  ausschliessHch  von  den  allgemeinen  Denk- 
gesetzen leiten  und  sind  nicht  an  die  Erfahrung  gebunden,  sodass  sogar 
eine  nicht  euklidische  Geometrie  möglich  ist.  Die  Naturwissenschaften  hin- 
gegen stützen  sich  auf  die  Erfahrung  und  wenden  die  euklidische  Geometrie 
an.  weil  die  Erfahrung  nicht  zwingt,  darüber  hinauszugehen. 

g)  Aber  was  gibts  dann,  ruft  Cohen  aus,  mit  der  wichtigen  Forderung 
der  Einheit?  —  Welch  ein  Missbrauch  wird  mit  diesem  Appell  an  die  Ein- 
heit getrieben!  Die  Einheit  einer  Wissenschaft  besteht  nicht  darin,  dass 
alle  Objekte  gleich  sind,  und  noch  weniger  darin,  dass  sie  stets  die  gleichen 
Methoden  anwenden;  sie  besteht  vielmehr  in  dem  Ziel,  das  sie  sich  vor- 
steckt, und  in  den  Zusammenhängen,  die  sie  findet  und  begründet.  Uebrigens 
ist  die  Differenzierung  nicht  bloss  erlaubt,  sondern  auch  Pflicht.  Und  wie 
es  durchaus  nicht  notwendig  ist,  dass  auf  Erden  nur  entweder  Psychisches 
oder  Physisches  existierJ,  wie  ein  materialistischer  oder  spiritualistischer 
Monismus  möchte  glauben  machen,  ebensowenig  ist  es  auch  notwendig, 
dass  für  unsere  Erkenntnis  nur  ideale  Objekte  zugelassen  werden. 

So  ist  also,  schliesst  Külpe  in  einigen  Schlussbemerkuugen,  auf  die  erste 
Frage,  die  wir  uns  in  unserem  Programm  gestellt  hatten,  nunmehr  geant- 
wortet. Das  Setzen,  die  Existenz  der  Realität  ist  zulässig ;  die  Einwände 
dagegen  sind  als  haltlos  nachgewiesen  worden. 

X.  Positiver  Teil.  Wir  sagten  schon,  dass  Külpe  in  diesem  ersten 
Bande  sich  nur  mit  dem  Problem  der  Realisierung  befasst,  indem  er 
die  Einwände  des  Idealismus  gegen  die  Existenz  einer  vom  Gedanken 
imabhängigen  Realität  abweist.  Die  Lösung  anderer  Fragen,  d.  h.  den 
positiven  Teil  seiner  Erkenntnistheorie,  wird  er  in  aufeinanderfolgenden  Ver- 
öffentlichungen bieten.  Wir  fmden  aber  bereits  die  genaue  Ankündigung 
und  die  Richtlinien  seiner  künftigen  Lösungen  in  einem  Vortrage,  den  er 
am  19.  September  1910  auf  dem  82.  Kongress  der  Naturforscher  und 
Aerzte  zu  Königsberg  gehalten  hat,  unter  dem  Titel:  Erkenntnistheorie 
undNaturwissenschaft*). 

Nach  einem  Loblied  auf  das  Zusammengehen  von  Naturwissenschaft  und 
Metaphysik  und  nach  einem  Hinweise  darauf,  dass  in  keinem  andern  Orte 
besser  als  in  der  Stadt  Kants  eine  solche  AUianz  feierlich  ausgesprochen 
werden  könne,  steckt  er  sich  als  Ziel  eine  kurze  Beantwortung  der  Frage, 
wie  ein  Setzen  und  Bestimmen  des  Realen  möglich  sei. 

Jede  Erfahrung,  führt  Külpe  aus,  enthält  Faktoren,  die  von  uns  un- 
abhängig sind,  und  die  Zutaten,  die  von  der  besonderen  Veranlagung  des 
Subjektes  bewirkt  werden.  Die  Aufgabe  der  Realisierung  besteht  nun 
gerade  darin,  dass  sie  diese  beiden  Koeffizienten  unserer  Erfahrung  trennt, 
um    in    ihren  Eigenschaften    zu    finden,   was  von   uns   nicht    abhängig  ist. 

')  Leipzig  1910,  Hirzel,  48  S. 


Die  Realisierung.  375 

Auch  der  naive  Realismus  stellt  dieses  Programm  auf;  er  schreibt  aber 
diese  Unabhängigkeit  allem  zu,  was  nicht  dem  lünflusse  unseres  Willens 
unterliegt.  Hingegen  hat  das  Prinzip  der  Subjektivität  der  Empfindungs- 
qualitäten,  das  in  der  modernen  Zeit  der  wissenschaftlichen  Forschung 
sich  aufgedrängt  hat,  uns  belehrt,  dass  die  Empfindungen,  wenn  sie  auch 
von  unserem  Willen  unabhängig  sind,  dennoch  von  „uns"  abhängen,  d.  h. 
von  der  Veranlagimg  unserer  Sinnesorgane.  Man  stellte  daher  ein  neues 
Kriterium  der  Realität  auf;  die  völlige  Unabhängigkeit  vom  Subjekte,  das 
Versuche  anstellt,  i.st  das  Losungswort  der  objektiven  Welt  des  Naturforschers. 
Eine  solche  Unabhängigkeit  lässt  .sich  nur  bei  dem  abstrakten  Gegeben- 
sein der  Erfahrung  feststellen.  Aenderungen  in  Raum  und  Zeit,  das  Er- 
scheinen oder  Verschwinden  der  Sinnesinhalte,  ihre  längere  oder  kürzere 
Dauer,  ihr  Nebeneinander  und  ihre  Aufeinanderfolge,  ihre  Gestaltung 
und  Ordnung,  das  alles  verrät  zweifelsohne  eine  Gesetzlichkeit,  die 
unabhängig  von  uns  existiert.  Die  abstrakten  Beziehungen  aber  werden 
uns  unter  Inhalten  mitgeteilt,  die  als  solche  sicherlich  von  unserer  Organ- 
A'eranlagung  abhängen. 

Diesen  Inhalten  müssen  die  Empfindungsqualitäten  beigezählt  werden, 
die  deshalb  kein  Recht  auf  Realisierung  haben.  Es  sind  auch  nicht,  wie 
einige  wollen,  die  mechanischen  Eigenschaften,  Druck,  Stoss,  Zug,  Kraft, 
Gewicht,  Widerstand,  Undurchdringlichkeit,  mit  einem  Worte,  die  Gefiihis- 
und  Muskeleigenschaften  auszunehmen.  Einerseits  tragen  auch  sie  in  Wirk- 
Hchkeit,  ähnlich  den  übrigen,  den  Stempel  unserer  psychophysischen  Veran- 
lagung; andererseits  sieht  man  bei  Beobachtung  der  Ausdrueksweise  des 
Naturforschers  sofort,  dass  er  ganz  und  gar  von  solchen  Qualitäten  abstrahiert. 
Druck,  Stoss,  Zug,  Kraft  sind  nicht  an  bestimmte  Wahrnehmungsinhalte 
gebunden :  sie  werden  als  vorhanden  gedacht  auch  da,  wo  eine  Mitwirkung 
unserer  mechanischen  Eigenschaften  ausgeschlossen  ist;  jene  wissenschaft- 
lichen Bestimmungen  sind  keine  Uebertragung  von  Empfindungsqualitäten 
in  die  äussere  Welt.  Sie  sind  daher  Begriffe  ohne  Vorstellungsinhalt,  eine 
Sache,  die  nach  den  Ergebnissen  der  modernen  Psychologie  niemanden 
Anstoss  geben  darf. 

Die  reale  Welt  des  Naturforschers  ist  also  vor  allem  ein  abstraktes 
Geschehen,  eine  Aenderung  ohne  veränderliches  Objekt,  eine  Bewegung 
ohne  Beweghches,  eine  Beziehung  ohne  die  Glieder  .  .  .  Und  in  diesem 
Geschehen  wird  sie  von  Gesetzen  regiert,  die,  unabhängig  von  uns,  das 
bunte  Heer  unserer  Sinneseindrücke  regieren  und  beherrschen. 

Daraus  ergibt  sich  die  Erfahrung  und  der  Gedanke.  Es  gibt  keine  rein 
theoretischen  oder  rein  empirischen  Kriterien  der  Realität.  Kant  sagte,  dass 
die  Gedanken  ohne  Inhalt  leer  sind,  dass  die  Vorstellungen  ohne  Begriffe  reich 
sind,  und  dass  nur  aus  ihrer  Vereinigung  die  Erkenntnis  entspringen  kann ; 
das  gilt  sicherlich  in  dem  Sinne,  dass  der  Realismus  aus  dem  Zusammen- 
wirken von  empirischen  und  rationalen  Bewegungen  entstehen  muss. 


376  A.  Gemelli. 

Mit  dieser  Methode  trennt  der  kritische  Realismus  die  von  uns  ab- 
hängigen Beziehungen  von  denen,  die  den  Sinneseindrücken  anhaften,  und 
versucht ,  diese  letzteren  zu  bestimmen.  Hierzu  ist  er  durch  die  Tat- 
sache gezwungen,  dass  die  von  uns  unabhängigen  Beziehungen  weder 
an  bestimmte  und  gleichartige  Wahrnehmungsinhalte  noch  an  bestimmte 
Personen  gebunden  sind  und  dass  sie  auch  dann  vorhanden  sind,  wenn 
die  Bewusstseinszusammenhänge  und  die  Sinneseindrücke,  in 
denen  sie  wahrgenommen  wurden ,  sich  ändern.  Sie  müssen  also  offenbar 
existieren  können,  auch  ohne  dass  der  Sinnesinhalt  ihre  scheinbare  Stütze 
bildet,  d.  h.  sie  müssen  Beziehungsglieder  haben,  die  von  den  Sinnen  ver- 
schieden sind.  Das  ist  der  Weg,  der  von  der  Realität  des  Selbstbewusst- 
seins  zur  realen  Natur,  zur  Setzung  der  äusseren  Welt  führt.  Wie 
man  sieht,  besteht  das  wahre  Motiv  für  den  wissenschaftlichen  Realismus 
nicht,  wie  Schopenhauer  sagte,  darin,  dass  die  äussere  Welt  die  Ursache 
unserer  Sinneswahrnehmung  ist,  als  ob  sich  von  subjektiven  Wirkungen 
die  Eigenschaften  der  objektiven  Ursachen  ableiten  Hessen.  Wenn  es  einen 
Weg  gibt,  der  zur  Realität  der  Natur  führt,  so  kann  er  nur  an  den  Re- 
lationen gefunden  werden,  die  von  den  Wahrnehmungsinhalten  unab- 
hängig sind,  und  um  diese  Relationen  zu  erkennen,  müssen  wir  die  Resultate 
aller  Wissenschaften  benutzen. 

Eine  völlig  verschiedene  Methode  der  Realisierung  hat  man  dann,  wenn 
von  den  realen  Beziehungen  die  andern  von  uns  abhängigen  bestimmt 
werden  müssen.  Konszientialisten  und  PhänomenaÜsten  wollen  nicht  die 
erzwungenen  Beziehungen  unserer  Sinnesinhalte  auf  die  Faktoren  zurück- 
führen, die  sie  erzwingen.  Die  PhänomenaÜsten  sodann  leugnen,  obschon 
sie  die  Existenz  ähnlicher  Faktoren  zugeben,  dass  man  über  ihr  Wesen 
irgend  etwas  aussagen  kann. 

Aber  die  Naturwissenschaften  haben  sich  nicht  täuschen  lassen  und 
konstruieren  ein  System  des  realen  Geschehens,  in  dem  die  Träger  dieses 
Geschehens  eine  wichtige  Rolle  spielen.  Das  ihnen  zur  Norm  dienende 
Prinzip  Hesse  sich  so  formulieren :  Die  Naturobjekte,  als  Träger  der  realen 
Beziehungen,  müssen  als  diesen  adäquat  gedacht  werden,  d.  h.  sie  müssen 
fähig  und  geeignet  sein,  alle  jene  Prozesse  auszuführen  oder  durchzumachen, 
denen  sie  als  Substrate  dienen  müssen.  Das,  was  in  unserer  Erfahrung 
unmittelbar  zugänglich  ist,  ist  etwas  Reales,  das  abhängig  ist  und  darum 
der  Beziehung  zu  einer  unabhängigen  Realität  bedarf,  die  der  Träger  von 
jenem  genannt  werden  kann. 

So  bleibt  nun  ein  Feld  für  die  Bestimmung  dieser  Träger,  wenn  und 
insofern  wir  sie  auf  der  Grundlage  der  Prozesse  charakterisieren,  die  von 
ihnen  getragen  werden  müssen.  Natürlich  würde  eine  volle  Erkenntnis 
nur  zu  erwarten  sein,  wenn  alle  Kräfte  und  Fähigkeiten  der  Objekte  be- 
kannt wären.  Aus  diesem  Grunde  liegt  das  Ziel  der  Realisierung  in  so 
weiter  Ferne,  im  Unendlichen. 


Die  Realisierung.  'S?? 

Aber  selbst  wenn  wir  es  erreichen  könnten,  müssten  wir  immer  ein 
bestimmtes  Feld  für  die  Bestimmung  der  Träger  annehmen.  Es  kann  in 
der  Tat  nicht  bloss  die  Welt  reicher  sein  als  unsere  Erfahrung,  sondern, 
auch  abgesehen  davon,  ist  die  Summe  der  Existenzbedingungen  des  unab- 
hängigen Realen  niemals  hinreichend  mit  der  Gesamtheit  seiner  empirischen 
Fähigkeit  gekennzeichnet.  Um  sich  davon  zu  überzeugen,  genügt  es,  an 
die  atomistisch-mechanischen,  energetischen,  wissenschaftlichen  und  meta- 
physischen Theorien  zu  erinnern,  die  der  Natur  und  dem  Wesen  der  Träger 
nachgehen. 

Diese  unsere  Unkenntnis  darf  uns  nicht  erschrecken  und  veranlassen, 
auf  den  Realismus  zu  verzichten.  Die  Erkenntnis  des  Wesens  der  realen 
Objekte  hat  sich  ständig  intensiv  und  extensiv  vermehrt;  von  den  Atomen 
Epikurs  sind  wir  zur  modernen  Atomistik  gekommen,  von  der  Psycho- 
logie Herbarts  zur  Psychophysik  gelangt  usw.  Auch  darf  uns  keineswegs 
das  Prinzip  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten  erschrecken,  von  dem 
Augenblicke  an,  da  Physik  und  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie, 
Entwicklungsgeschichte  und  Geologie  durch  jenes  Prinzip  in  ihren 
Forschungen  nicht  gehindert  worden  sind.  Die  Anatomie,  die  Lehre  von 
der  Kraft,  die  geologischen  und  astronomischen  Aufstellungen  über  die 
Formation  der  Erde  und  der  Sterne,  die  biologischen  Untersuchungen  über 
die  Entwicklung  des  Lebens  u.  s,  f.,  das  alles  beweist,  dass  trotz  des  Ver- 
zichtes auf  die  Sinnesqualitäten  ein  glänzender  Realismus  möglich  bleibt. 
Wenn  jetzt  der  Naturforscher  sich  die  äussere  Welt  nicht  mehr  mit 
Hülfe  von  Bildern  vorstellen  und  so  von  ihr  eine  gelreue  Photographie 
haben  kann,  so  kann  er  doch  diese  Lücke  mit  begrifflichen  Bestimmungen 
ausfüllen.  Wie  in  der  Psychologie,  so  müssen  wir  auch  in  der  Erkenntnis- 
theorie mit  dem  Dogma  brechen,  dass  der  Gedanke  ohne  Vorstellungsbilder 
ein  Nichts  oder  etwas  Absurdes  sei. 

So  werden  die  Grenzen  und  Schranken,  die  der  Phänomenalismus 
aufrichten  wollte,  vom  Realismus  beseitigt.  Dieser  kann  auch  pragma- 
tistischen  Prinzipien  gegenüber  seinen  verdienten  hohen  Wert  festhalten. 
Die  Wissenschaft  eines  Newton  ist  realistisch,  während  die  stolze  Kon- 
struktion der  Hegeischen  Dialektik  zum  Tode  und  zur  Verneinung  der 
Wissenschaft  führt.  Heute,  angesichts  der  glorreichen  Eroberungen,  die 
diese  auf  der  Grundlage  eines  mutigen  Realismus  gemacht  hat,  darf  die 
Erkenntnistheorie  nicht  das  Schauspiel  einer  in  sich  verschlossenen  Diszi- 
plin bieten,  die  sich  um  formahstische  Gedanken  dreht.  Sie  ist  berufen, 
nicht  hinter  der  Naturwissenschaft  zurückzubleiben,  sondern  sie  zu  begleiten, 
um  ihren  Realismus  verständlich  zu  machen,  um  ihre  Prämissen  und  ihre 
Methoden  zu  systematisieren  und  ihr  so  ihre  Grenzen  anzuweisen. 

Auf  diese  Weise  wird  sich  die  Vereinigung  und  die  Unterscheidung 
zwischen  Wissenschaft  und  Erkenntnislehre  vollziehen.  Die  erstere  gibt  uns 
die  Wissenschaft  von  der  Natur,   die   z\veite  hingegen   die   Theorie   dieser 


378  A.  Gemelli. 

Wissenschaft :  sie  unterscheiden  sich  deshalb  von  einander,  wie  die  künst- 
lerischen Produktionen  von  den  ästhetischen  Theorien.  Sie  sind  vereinigt; 
denn  je  grösser  die  Entdeckungen  der  einen  sind,  desto  bedeutender  werden 
auch  die  Fortschritte  der  andern  sein. 

XI.  Ein  Wort  der  Kritik.  In  der  Erwartung,  dass  Külpe  in  seinen 
Bänden  über  die  Realisierung  die  in  diesem  Vortrage  angedeuteten 
Begriffe  noch  besser  entwickelt  und  klarer  gestaltet,  erlauben  wir  uns  einige 
Bemerkungen  über  den  negativen  Teil  seiner  Auffa.«sung. 

Es  ist  unmöglich,  ein  vollständiges  Urteil  über  den  ersten  Band  abzu- 
geben, so  lange  Külpe  nicht  in  weitem  Masse  den  zweiten  Teil  seines 
Werkes  bearbeitet  und  uns  gesagt  hat,  welche  positiven  Gründe  für  die 
realistische  Auffas.sung  sprechen. 

Für  jetzt  müssen  wir  uns  mit  zwei  Fragen  begnügen.  Vor  allem: 
welchen  Wert  haben  die  Widerlegungen,  die  er  den  Schwierigkeiten  ent- 
gegensetzt, die  immer  in  redlicher  Weise  angeführt  und  streng  diskutiert 
werden?  Es  scheint  uns  —  und  wir  sind  sicher,  dass  viele  mit  uns  der- 
selben Ansicht  sein  werden  — ,  dass  der  Verfasser  fast  immer  überzeugt, 
oftmals  glücklich  ist  und  zuweilen  seinen  Gegner  zermalmt  und  vernichtet. 

Aber  eine  andere  Frage:  Hat  Külpe  wirklich  alle  Feinde  des  Realis- 
mus vernichtet?  Hat  er  nicht  vielleicht,  während  er  einige  niederstreckte,  die 
am  meisten  zu  lürchtenden  und  die  gefährlichsten  am  Leben  gelassen? 

Dieser  Verdacht  wächst,  wenn  man  bedenkt,  dass  er  niemals  den 
Idealismus  in  seinem  geschichtlichen  Entstehen  verfolgt,  niemals  auf  jenes 
harte  Arbeiten  der  philosophischen  Reflexion,  auf  jenen  langen  Prozess  von 
Anstrengungen  hinweist,  die  von  Bruno  und  von  Descartes  bis  auf  Spinoza 
und  auf  Vico,  von  der  aprioristischen  Synthese  Kants  bis  auf  die  drei 
grossen  nachkantianischen  Philosophen  (aber  nicht  bloss  wegen  der  von 
Külpe  in  den  einleitenden  Blättern  aufgezählten  Gedankenrichtungen)  zur 
absoluten  Negierung  des  Transzendenten  und  zur  völligen  Identifizierung 
des  Gedankens  mit  dem  Realen  beigetragen  haben.  Der  Verfasser  hingegen 
nimmt  eine  Objektion  nach  der  andern  vor  und  erweckt  so  in  uns  den 
Eindruck,  als  ob  er,  anstatt  einem  kompakten  Heere  gegenüberzutreten  und 
sich  ihm  entgegenzustellen,  die  einzelnen  Soldaten  packen  und  das  Vergnügen 
haben  wollte,  sie  einzeln  mit  Leichtigkeit  zu  töten.  Mit  einem  Worte,  es 
erweckt  den  Anschein  —  und  wer  aus  der  Nähe  die  tiefe  und  ausgedehnte 
Gelehrsamkeit  Külpes  kennt,  weiss,  wie  verfehlt  dieser  Eindruck  ist  — , 
als  ob  er  bislang  die  Geschichte  des  modernen  Idealismus  noch  nicht  tief 
erforscht  habe. 

Ein  anderer  Irrtum,  der  den  eben  ausgesprochenen  Verdacht  bestätigt 
und  bestärkt,  liegt  darin,  dass  der  Verfasser  sich  fast  ausschhesslich  auf 
Deutschland  beschränkt,  als  ob  ausserhalb  Deutschlands  (ja,  wir  tragen  kein 
Bedenken,  zu  sagen:  mehr  ausserhalb  des  Vaterlandes  Hegels  als  in  ihm)  der 


Die  Realisierung.  379 

Idealismus  nicht  eine  ungeheure  Entwicklung  gehabt  habe.  Um  vier  Denker 
zu  nennen,  deren  Namen  sich  von  selber  auf  die  Zunge  drängen,  weshalb 
doch  hat  Külpe  nicht  Weber,  Royce,  Baille  und  Croce  herangezogen,  die 
in  ihren  Ländern,  in  Frankreich,  Amerika,  England  und  Italien,  alle  Trans- 
zendenz bekämpft  haben? 

Aus  dieser  Unterlassungssünde  folgt  jene  andere,  die  unserer  Ansicht 
nach  den  grössten  Mangel  des  Buches  ausmacht :  Viele  Antworten  sind 
argumenta  ad  hominem,  haben  Wert  einem  Gegner  gegenüber,  der 
gerade  aufs  Korn  genommen  wird,  treffen  aber  nicht  die  andern  Idealisten. 
Um  nur  ein  Beispiel  anzuführen:  Külpe  setzt  als  unwidersprochen  den  theo- 
retischen Wert  des  empirischen  und  abstrakten  Begriffes  voraus;  deshalb 
werden  die  zahlreichen  Antworten,  die  sich  auf  diese  Grundlage  stützen, 
jenen  überzeugen,  der  mit  ihm  eine  solche  Auffassung  teilt,  w^erden  aber 
keinen  Eindruck  auf  einen  Idealisten  machen,  der  jene  These  verwirft. 

Die  zweite  Auflage  dieses  Buches,  die  wir  ihm  bald  wünschen,  wird 
gewiss  diese  Lücken  ausfüllen.  Hoffen  wir,  dass  inzwischen  der  hervor- 
ragende Denker  sein  Werk  fortführt  und  uns  bald  die  versprochene  Fort- 
setzung bringt.  Seine  Arbeit  wird  sicher  den  Beifall  der  Gelehrten  fmden 
und  zu  ernstlichem  Nachdenken  auch  jene  anregen,  die  nicht  seinen 
kritischen  Realismus  teilen. 


Rezensionen  und  Relerale. 


Metaphysik. 

Der  3Ioinsmus  und  seine  philosophischen  Grundlagen.  Bei- 
träge zu  einer  Kritik  moderner  Geistesströmungen.  Von 
Friedrich  Klimke  S.  J.  Freiburg  1911,  Herder,  gr.  8°. 
XXIV,  620  S.  Ji>  12. 
Wie  es  einstmals  eine  Modephilosophie  des  Stoizismus  und  des  Neu- 
platonismus  gab,  so  leben  wir  heute  im  Zeitalter  des  Monismus,  welcher 
nachgerade  zum  Schibboleth  aller  vornehmen  Geister  atheistischer  Gedanken- 
richtung geworden  isl.  Bei  der  buntscheckigen  Vieldeutigkeit  des  Wortes 
„Monismus"  war  es  ein  überaus  verdienstvolles,  wenn  auch  schwieriges 
Beginnen,  zunächst  einmal  das  Problem  des  Monismus  als  solchen 
aufzuwerfen  und  sodann  den  weitverzweigten  Ausgestaltungen  liebevoll 
nachzugehen,  in  denen  der  monistische  Grundgedanke  sich  auswirkt  und 
auslebt.  Wie  viele  gedankenlose  und  seichte  Schwätzer,  die  mit  Herz  und 
Mund  dem  „Deutschen  Monistenbund"  angehören,  würden  in  die  ärgste 
Verlegenheit  geraten,  wenn  man  sie  früge:  Welchem  System  des  Monis- 
mus huldigen  Sie  denn  eigentlich?  Sind  Sie  ein  Anhänger  des  erkenntnis- 
theoretischen oder  des  transzendenten  Monismus?  Wenn  letzteres,  ziehen 
Sie  den  rationaUstischen  oder  den  naturphilosophischen,  den  evolutionisti- 
schen  oder  den  aktualitätstheoretischen  Monismus  vor?  Oder  versteifen  Sie 
sich  vielleicht  auf  den  psychophysischen  Monismus?  Aber  auch  dieser 
lässt  sich  in  zweierlei  Gestalt  vorführen.  Welche  von  beiden  ist  die  Ihrige? 
Aber  vielleicht  wollen  Sie  nichts  von  alledem  hören,  weil  Sie  dem  spiri- 
tualistischen  Monismus  zugetan  sind.  Wenn  nein,  so  sind  Sie  gewiss  ein 
Vertreter  des  materialistischen  Monismus  ?  Wenn  aber  dies,  so  erklären  Sie 
mir,  bitte,  ob  Sie  die  mechanistische  oder  dynamische,  die  energetische 
oder  hylozoistische  Fassung  bevorzugen!  Allein  auch  hiermit  ist  vielleicht 
das  Richtige  noch  nicht  getroffen,  da  Sie  wohl  dem  „pyknotischen"  Monis- 
mus huldigen.  Mit  solchen  Kreuz-  und  Querfragen  könnte  man  einen 
modernen  Monisten,  der  nur  das  Wort  und  nicht  die  Sache  kennt,  in  die 
äusserste  Bedrängnis  versetzen  und  ihn,  wenn  er  kein  Philosoph  von  Fach 
wäre,  seiner  grossen  Unwissenheit  überführen.  Und  dennoch  gibt  es  in 
den  gebildeten  und  halbgebildeteu  Kreisen  tgiusende  von  Mitläufern,  die  sich 


Fr.  Kl  imke,  Der  Monismus  und  seine  philosophischen  Grundlagen.     381 

mit  dem  hochtrabenden  Titel  „Monist"  begnügen,  ohne  sich  über  ihre  Welt- 
anschauung wissenschaftliche  Rechenschaft  geben  zu  können,  es  sei  denn, 
der  Monismus  diene  ihnen  lediglich  als  vornehmes  Aushängeschild  eines 
offenen  oder  verkappten  Atheismus,  dem  sie  sich  aus  ganz  anderen  als 
rein  wissenschaftlichen  Motiven  verschrieben  haben. 

Gleichwohl  zeigt  die  Geschichte  der  Lehre  vom  All-Einen  schon  seit 
dem  Zeitalter  der  Eleaten,  dass  in  der  monistischen  Weltanschauung  ganz 
entschieden  auch  berechtigte  Momente  stecken  müssen,  die  als  wertvolle 
Wahrheitskörner  aus  dem  Gemisch  von  Wahrheit  und  Irrtum  sorgsam 
herausgelesen  und  unter  Vermeidung  der  aus  Uebertreibungssucht  heraus 
gesteigerten  Extreme  an  die  rechte  Stelle  im  wahren,  widerspruchsfreien 
Weltbild  eingestreut  werden  wollen.  Ein  philosophisches  System,  das  aus 
nichts  als  Unwahrheit  und  Lüge  gewoben  ist,  würde  niemals  so  viele 
glänzende  Geister  gefangen  nehmen,  niemals  in  zyklischen  Wiederholungen 
durch  die  ganze  Menschheitsgeschichte  haben  schreiten  können,  wie  dies 
doch  die  Geschichte  der  Philosophie  gerade  am  Monismus  besonders  deut- 
lich bewiesen  hat.  Der  scharfsinnige  Verfasser  des  vorliegenden  hoch- 
bedeutsamen Werkes  hat  deshalb  vom  methodischen  Gesichtspunkte  aus 
einen  sehr  glückUchen  Griff  getan,  wenn  er  sich  überall  vom  Bestreben 
leiten  Hess,  vor  allem  auch  die  Wahrheitsmomente,  die  im  Monismus  und 
in  seinen  zahlreichen  Verzweigungen  versteckt  liegen,  unparteiisch  aufzu- 
suchen, unverhohlen  anzuerkennen  und  zu  ihrem  vollen  Rechte  kommen 
zu  lassen.  Ist  doch  die  beste  Widerlegung  des  Irrtums  schliesslich  die 
Aufzeigung,  Hervorkehrung  und  Anerkennung  der  berechtigten  und  wahren 
Seiten,  die  ihn  wie  ein  gleissender  Schimmer  umgeben. 

Schon  in  der  wissenschaftlichen  Methode  steckt  ein  gut  Stück  von 
berechtigtem  Monismus.  Von  einem  unausrottbaren  Einheitsbestreben  be- 
seelt, ist  jede  Wissenschaft  nach  ihrer  methodischen  Seite  hin  entschieden 
monistisch  gerichtet,  insofern  sie  das  Vielerlei  und  Einzelne  auf  möglichst 
wenige  höchste  Prinzipien  zurückzuführen  trachtet.  Allein  dieser  Monismus 
der  Methode  ist  etwas  total  verschiedenes  vom  Monismus  als  Weltanschauung. 
Zu  diesem  letzteren  rechnet  man  aber  nicht  den  kausalen  Monismus, 
welcher  zur  Erklärung  der  Welt  und  der  Vielheit  ihres  Inhalts  nur  eine 
einzige  Wirkursache  im  Weltschöpfer  fordert  und  in  dieser  Beziehung  mit 
dem  Monotheismus  Hand  in'Hand  geht,  ja  der  Sache  nach  mit  ihm  zusammen- 
fällt. Auch  mit  dem  Pantheismus  ist  der  Monismus  nicht  ohne  weiteres 
identisch,  so  viele  Berührungspunkte  auch  beide  miteinander  verbinden 
mögen.  Der  Pantheismus  geht  von  der  Idee  Gottes  aus,  den  er  als  un- 
persönliches Wesen  in  die  Welt  verlegt ;  er  ist  also  ein  „höfHcher  Atheis- 
mus". Aber  der  Monismus  ist  nicht  einmal  höflich,  sondern  er  erblickt  in 
der  Welt  selbst  das  Absolute,  das  aus  und  durch  sich  Seiende.  Und  dieser 
konstitutive  oder  Wesensmonismus  ist  es,  um  dessen  Darstellung, 
Würdigung  und  Widerlegung  es  sich  handelt.    Die  Ineinssetzung  von  „Gott" 


382  Joseph  Po  hie. 

und  Welt  ist  ohne  vorherige  Gleichset-iung  des  Physischen  und  Psychischen 
natürlich  undurchführbar.  Der  Monismus  im  allgemeinen  ist  also  diejenige 
Weltanschauung,  nach  welcher  „das  direkt  oder  indirekt  Erfahrbare  selbst 
das  einzige,  absolute,  in  sich  selbst  begründete  und  sich  selbst  genügende 
Sein  ist,  welches,  seiner  Natur  nach  überall  wesentlich  gleichartig,  sich  uns 
in  der  Mannigfaltigkeit  der  Einzeldinge  sowie  in  der  Verschiedenheit  des 
physi.schen  und  psychischen  Geschehens  darstellt"  (19  f.). 

Die  verschiedenen  Formen  dieses  Monismus  erscheinen  in  einer  fast 
proteusarligen  Gestalt  und  schillern  in  den  buntesten  Farben,  je  nachdem 
sie  sich  auf  metaphysischer  oder  auf  erkenntnistheoretischer  Grundlage 
aufbauen.  In  vier  Büchern  werden  uns  diese  buntscheckigen  Systeme  mit 
all  ihren  Voraussetzungen,  Beweisgründen,  Folgerungen,  Ergänzungen  und 
Ausweitungen  in  naturgetreuer  Schilderung  aus  den  Originalschriften  der 
Monisten  vorgeführt  und  nach  den  Grundsätzen  der  immanenten  Kritik  mit 
überlegener,  oft  recht  scharfsinniger  Dialektik  gewürdigt  und  beurteilt.  Nur 
selten  verfährt  die  Kritik  nach  dem  taktischen  Grundsatz,  das  eine  System 
dem  Henkersbeil  eines  andern  zur  Hinrichtung  zu  überlassen  und  dabei 
den  müssigen  Zuschauer  zu  spielen.  Nachdem  das  erste  Buch  (23 — 152) 
den  materialistischen  Monismus,  seine  Hauptthese  und  seine  ver- 
schiedenen Ausgestaltungen  (mechanistische,  dynamische,  energetische,  hylo- 
zoistische,  pyknotische)  samt  dem  monistischen  Abschluss  behandelt  hat, 
bringt  das  zweite  Buch  mit  derselben  Gründhchkeit  und  Unparteilichkeit 
den  spiritualistischen  Monismus  in  seinen  Grundlagen,  Argumenten, 
Formen  und  monistischen  Weiterungen  zur  Darstellung  (155 — 215).  Das 
dritte,  sehr  umfangreiche  Buch  (219 — 367)  'beschäftigt  sich  eingehend  mit 
dem  transzendenten  Monismus ,  und  zwar  zunächst  den  positiven 
Richtungen:  rationalistischer,  naturphilosophischer,  evolutionistischer ,  ak- 
tuahtätstheoretischer  und  psychophysischer  Monismus,  um  sodann  den 
weitverbreiteten  Agncstizismus  in  seinen  verschiedenen  Verzweigungen  mit 
monistischer  Endspitze  einer  eindringenden  Analyse  zu  unterwerfen.  Be- 
sonderes Interesse  erweckt  das  vierte  Buch  (371  —  541),  das  den  erkenntnis- 
theoretischen Monismus  in  seinen  neuesten  und  modernsten  Formen 
darlegt  und  unter  einem  neuen  einheitlichen  Gesichtswinkel  nach  allen 
Seiten  mit  der  kritischen  Sonde  prüft.  In  vorzüglicher  Weise  wird  hier 
der  Leser  über  die  moderne  und  modernste  Philosophie  aufgeklärt.  Man 
lese  unter  anderem  die  klaren  Darlegungen  und  die  feinen  kritischen  Be- 
merkungen über  die  philosophischen  Grundlagen  der  Immanenzphilosophie, 
nämlich:  Das  Immanenzprinzip,  das  Eifolgsprinzip,  das  Oekonomieprinzip 
und  das  Stabilitätsprinzip  (430  ff,),  und  man  wird  sich  eingestehen  müssen, 
dass  ein  ebenso  tiefer  Denker  wie  gewandter  Dialektiker  dem  Verfasser  die 
Feder  geführt  haben.  Zum  Schluss  unternimmt  das  fünfte  Buch  (345 — 593) 
eine  allgemeine  Kritik  am  Kernproblem  des  Monismus  durch  Beantwortung 
der  zwei  Hauptfragen:   1)  Kann  das  Universum  selbst  der  letzte  zureichende 


Fr.  Klimke,  Der  Monismus  und  seine  philosophischen  Grundlagen.      383 

Grund  des  einheithchen  Seins  und  Geschehens  sein?  2)  Kann  das  Absokite 
oder  Gott  mit  der  empirischen  Welt  in  eins  gesetzt  werden  ?  Zn  dem  Ende 
behandeln  vier  Kapitel  die  folgenden  Themata:  Das  Universum  als  letztes 
Seinsprinzip,  das  Schöpfungsproblem  im  Lichte  des  Monismus,  die  Lehre 
vom  absoluten  Werden,  der  wahre  und  falsche  Monismus. 

Selten  habe  ich  ein  philosophisches  Werk,  das  in  den  tiefsten  Grund- 
schichten mit  sicherem  Spaten  herumwühlt,  mit  so  viel  Spannung,  Genuss 
und  Befriedigung  gelesen,  wie  diese  so  zeitgemässen  Darbietungen  über  den 
Monismus.  Gewisse  Wiederholungen  derselben  Gedanken  Hessen  sich  kaum 
vermeiden,  weil  die  monistischen  Systeme  selbst  in  iliren  Ideengängen  sich 
vielfach  berühren,  verschränken  und  kreuzen.  Es  ist  ein  ernst  zu  nehmendes 
Buch,  unparteiisch  und  loyal  in  der  Darlegung  des  gegnerischen  Stand- 
punktes, vornehm  und  sachUch  in  der  kritischen  Beurteilung,  frei  von  jeder 
persönlichen  Polemik.  Die  Argumente  des  Monismus  werden  weder  ver- 
schwiegen noch  verschleiert,  sondern  vielmehr  von  ihrer  vorteilhaftesten 
Seite  her  gezeigt.  Wir  fühlen  es  auf  Schritt  und  Tritt,  dass  wir  mit  wirk- 
lichen Problemen  zu  ringen  haben.  Nur  einmal  begegnete  mir  über  E. 
Haeckel  ein  herbes  Urteil,  das  aber  nicht  einmal  vom  Verfasser  selbst, 
sondern  aus  der  entrüsteten  Feder  des  bekannten  Philosophen  Fr.  Paulsen 
.stammt.  Dafür  wird  aber  sogar  dem  Materialismus  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  „eine  keineswegs  zu  unterschätzende  Bedeutung"  beigelegt; 
denn  „er  ist  vor  allem  das  natürliche  Gegengewicht  gegen  allen  extremen 
Idealisnms,  Subjektivismus  und  Spiritualismus"  (151). 

Auch  die  monistische  Bewegung  der  Gegenwart  hat  das  Verdienst, 
die  Notwendigkeit  einer  geistigen  Einheit  als  erster  absoluter  Ursache  alles 
Seins  und  Geschehens  der  Mitwelt  stark  zum  Bewusstsein  gebracht  zu 
haben.  Falsch  ist  aber  die  monistische  These,  dass  der  Grund  dieser  Ein- 
heit in  der  Welt  selbst  zu  suchen  sei.  Trotz  aller  Anläufe  metaphysischer 
und  erkenntnistheoretischer  Art,  trotz  der  scharfsinnigsten  Beweisversuche 
tiefer  und  gewandter  Denker  ist  der  Monismus  nicht  nur  nicht  bewiesen 
worden,  sondern  er  hat  sich  auch  als  schlechthin  unbeweisbar  heraus- 
gestellt. Er  scheitert  notwendig  an  der  Unmöglichkeit,  entweder  das  Uni- 
versum selbst  als  letzten  Grund  des  einheitlichen  Seins  und  Weltgeschehens 
hinzustellen  oder  das  Absolute  mit  der  Erfahrungswelt  zusammenfallen  zu 
lassen.  Wir  sehen  daher  auch  die  Monisten  unter  häufigen  Erschleichungen 
und  logischen  Sprüngen  immer  um  die  Sache  herumreden,  und  sie  bleiben 
zuletzt,  ohne  es  zu  merken,  bis  über  die  Ohren  im  Dualismus  stecken. 
Kein  Denker  kommt  eben  am  un überspringbaren  Gegensatz  von  Sein  und 
Erkennen,  Innenwelt  und  Aussenwelt,  Physischem  und  Psychischem,  Sub- 
jekt und  Objekt  vorbei.  Selbst  der  Solipsismus,  diese  konsequenteste 
Durchführung  des  Monismus,  welcher  das  berühmte  „Ich-  und  Dn-Problem" 
durch  kecke  Leugnung  des  „Du"  aus  dem  Wege  räumen  möchte,  sieht 
sich  gezwungen,    zwischen    der  Erscheinungswelt    und  dem  alleinigen  Ich, 


384  C.  Gutberiet. 

dem  die  Welt  erscheint,  einen  Unterschied  zuzugeben,  aus  dem  das  ganze 
Elend  des  Dualismus  grinsend  wieder  herausschaut.  So  taucht  denn  auch 
hier  von  neuem  das  Problem  von  Gott  und  Welt  wie  ein  drohendes  Ge- 
spenst im  Hintergrunde  auf. 

Je^inehr  man  den  Monismus  in  seine  Elemente  zerfasert,  desto  deut- 
licher drängt  sich  als  letztes  Ergebnis  auf:  Nicht  Einheil  und  Absolutheit 
des  Wesens  der  Welt,  sondern  Einheit  und  Absolutheit  der  schöpferischen 
Ursache  der  Welt.     Also  nicht  Monismus,  sondern  Monotheismus. 

Breslau.  Prof.  Dr.  Joseph  Pohle. 


Naturphilosophie. 

Was  ist  die  Ursache  der  BeAveguiig,  der  Kraft,  des  Lebens? 

Eine  neue  Weltanschauung.     Von  E.  K  o  c  h. 
Woraus   besteht    die   Welt?     Nalurphilosophische    Betrachtung. 

Von  Demselben. 
(jiUt    es    eine    ewige  Wahrheit?     Neue   wissenschafiliche    An- 
regungen.    Von  Demselben.     Leipzig  1912,  Winter. 

Alle  drei  Schriften  behandeln  dasselbe  Thema,  das  am  prägnantesten 
in  der  letzten  zum  Ausdruck  kommt.  „Die  Antwort  auf  die  Titelfrage: 
Gibt  es  eine  ewige  Wahrheit  ?  lautet :  Der  ewig  wechselnde  Unterschied  im 
Weltraum  ist  die  Ursache  des  Weltalls,  und  diese  unumstössliche  Tatsache 
ist  eine  Wahrheit,  die  Ewigkeitsdauer  in  sich  trägt  .  .  .  Hat  der  Menschen- 
geist die  Grundursache  des  Weltalls,  die  Wahrheit  erkannt,  so  ist  der 
wesentlichste  Zweck  der  Philosophie,  d.  h.  die  Erforschung  der  Wahrheit 
erreicht". 

„Der  Begriff  ,Temperaturunterschied'  ist  noch  umfassender  als  der 
Begriff  ,Weltall'.  Das  Weltall  ist  die  Wirkung,  der  Temperaturunterschied 
aber  die  Ursache.  Hat  der  Menschengeist  die  Ursache  des  Weltalls  ge- 
funden, dann  hat  er  damit  auch  die  Wahrheit  gefunden  .  .  .  Der  Menschen- 
geist dringt  unaufhaltsam  vorwärts,  immer  näher  zur  Vollkommenheit,  die 
erreicht  sein  würde,  wenn  der  Menschengeist  den  Begriff  , Allheit'  voll- 
ständig in  sich  aufnehmen  und  erkennen  kann". 

Die  Darlegung  und  Begründung  dieser  ewigen  Wahrheit  bietet  die  erst- 
genannte Schrift.     Da  wird  ausgeführt: 

„Die  Annahme,  dass  der  Weltraum  mit  einem  sich  gleichbleibenden, 
unendlich  feinem  Stoffe,  dem  Aether,  ausgefüllt  ist,  und  dass  das  Licht  und 
die  Elektrizität  nur  Schwingungen  oder  Wellen  dieses  Aethers  sind,  lässt 
sich  nicht  beweisen.  Viel  natürlicher  ist  die  Erklärung,  dass  die  unendlich 
feinen  Atome  der  Sonne  und  der  Fixsterne  den  Weltraum  mit  der  Ge- 
schwindigkeit des  Lichtes  und  der  Elektrizität  durcheilen.  Der  Zwischen- 
raum zwischen  den  Fixsternen  wird  fortwährend  durch  die  Ausstrahlungen 


E.  Koch,  Was  ist  die  Ursache  der  Bewegung,  der  Kraft,  des  Lebens?     385 

der  Sterne  in  seiner  Temperatur  verändert.  Ein  ewiger  Temperaturunter- 
schied herrscht  in  dem  ganzen  Weltraum.  Dieser  Temperatur-  oder  Druck- 
unterschied der  Atome  ist  die  alleinige  Ursache  aller  Bewegung,  aller  Kraft". 

„Es  gibt  nur  zweierlei  im  Weltraum :  Die  Atome  und  die  Temperatur. 
Letztere  allein  setzt  durch  unendlich  kleine  Verteilung  bis  auf  den  denkbar 
kleinsten  Bruchteil  eines  Temperaturgrades  die  Atome  in  Bewegung  und 
erhält  sie  in  ewigem  Flusse,  in  unendlich  verschiedenen  Umwandlungs- 
formen nach  Massgabe  des  Temperaturunterschiedes,  der  gleichfalls  un- 
endlich verschiedenartig  und  zugleich  von  ewiger  Dauer  ist". 

„Dass  alle  Körper  aus  Lichtatomen  gebildet  sind,  erkennen  wir  daran, 
dass  das  Licht  aller  Körper  dasselbe  Spektrum  hat,  woraus  hervorgeht, 
dass  alle  Körper   aus   diesen  Lichtatomen  zusammengesetzt  sein  müssen". 

„Die  zahllosen  Atome,  aus  denen  ein  Lichtstrahl  sich  zusammensetzt, 
sind  zweifellos  so  klein,  dass  wir  uns  kleinere  Atome  nicht  mehr  vor.stellen 
können.  Hört  hier  der  Begriff  ,Stoff'  auf,  so  muss  für  uns  hier  der  Begriff 
,Geist'  anfangen.  Denn  wo  anders  noch  sollte  der  Begriff  ,Geist'  seinen 
Ursprung  haben  können?  Gott  ist  ein  Geist.  Gott  ist  allgegenwärtig.  Sein 
Geist  ist  daher  überall  im  Weltraum.  An  keiner  Stelle  des  Weltraumss 
kann  der  Geist  Gottes  fehlen.  An  keiner  Stelle  des  Weltraums  fehlen  aber 
auch  die  Lichtatome,  die,  wie  vorhin  erörtert,  den  ganzen  Weltraum  durch- 
eilen und  ihn  ausfüllen  müssen.  Sind  die  Lichtatome  überall  im  Welt- 
raum vorhanden,  ebenso  wie  der  Geist  Gottes,  so  umfasst  letzterer  auch 
die  Gesamtheit  der  Atome,  aus  denen  die  Welt  aufgebaut  ist". 

Die  Weltwerdung  erklärt  der  Vf.  analog  der  Entstehung  lebender 
Wesen : 

„Jede  Sonne,  jeder  Fixstern  hatte  einstmals  einen  Nebelfleck  gewisser- 
massen  als  Mütter.  Dieser  Nebelfleck  hatte  aber  wieder  Vorfahren,  näm- 
Hch  zwei  erkaltete  Sonnen,  deren  Zusammenstoss  den  Nebelfleck  erzeugte. 
So  lässt  sich  dieser  Vorgang  noch  weiter  zurückverfolgen  bis  in  die  un- 
endliche Vergangenheit.  So  hat  jede  Sonne  ihre  Geburtsstunde,  ihren 
Lebenstag  und  ihre  Todesstunde,  wie  die  Lebewesen  auf  unserer  Erde. 
Durch  die  Vereinigung  zweier  abgestorbener  Sonnen  wurde  eine  neue 
Sonne  geboren.  Ist  dieses  Leben  der  Sterne  nicht  ähnlich  wie  das  Leben 
auf  Erden?  Zwei  Eltern  erzeugen  wieder  ein  gleichartiges  Wesen". 

Natürlich.     Denn  Leben  ist  nur  Bewegung  der  Atome. 

„Man  begreift,  dass  Leben  eigentlich  nichts  anderes  ist  als  die  Be- 
wegung der  Atome  in  immer  wechselnder  Gestalt,  dass  es  eine  leblose  Welt 
im  Gegensatz  zur  sogenannten  Lebewelt  nicht  gibt.  Eine  Grenze  zwischen 
leblosen  und  organischen  Stoffen  ist  nicht  vorhanden.  Neuerdings  hat  man 
tierische  Eier  durch  einfache  chemische  Lösungen  befruchtet.  Ist  dies 
nicht  eine  erstaunliche  Entdeckung?  Eine  chemische  Lösung  genügt,  um 
das  Ei  zum  Leben  zu  erwecken". 

Die  Spekulation  des  Vf.s  erhebt  sich  noch  höher.     Er  fragt: 

Philosophisches  Jahrbuch  1913  25 


386  C.  Gutberiet. 

„Was  ist  der  Menschengeist?  Er  ist  ein  Gottesfunke,  ein  Teil,  ein 
Atom  der  Gottheit;  er  ist  der  höchste  und  letzte  Ausfluss  des  Gottesgeistes 
selbst,  nicht  bloss  hier  auf  Erden,  sondern  auch  innerhalb  unseres  Sonnen- 
systems, innerhalb  des  Systems  aller  Fixsterne,  innerhalb  des  Weltalls  selbst. 
Kann  es  eine  höhere  geistige  Entwicklung  geben  als  den  Menschengedanken, 
der  im  Fluge,  in  einem  einzigen  Augenblicke,  über  den  Raum  und  die  Zeit 
hinwegdenkt  und  in  die  Unendlichkeit  und  Ewigkeit  enteilt?  Er  enteilt 
aleichsam  wie  ein  Lichtatom  in  die  Unendlichkeit.  Bei  jedem  Gedanken, 
der  in  dem  Menschengehirn  entsteht,  das  ebenso  wie  alle  übrigen  Körper 
aus  umgewandelten  Lichtatomen  zusammengesetzt  ist,  entweicht  aus  un- 
serem Körper  ein  elektrischer  Funke  oder  ein  Lichtatom,  welches  jedoch 
nicht  verschwinden  kann,  sondern  wie  alle  Lichtatome  einer  neuen  Be- 
stimmung zugeführt  wird". 

„Was  ist  Gott?  Gott  ist  die  Unendlichkeit  und  Ewigkeit  selbst;  beide 
sind  in  Gott  vereint.  Hat  Gott  die  Weil  erschaffen?  Wir  müssen  antworten: 
Nein;  denn  Nichts  muss  immer  Nichts  bleiben.  Hat  Gott  die  Welt  aus 
etwas  anderem  erschaffen,  das  bereits  vorhanden  war?  Nein;  denn  dann 
müsste  das  vorhanden  gewesene  andere  von  Gott  unabhängig  sein.  Es  ist 
daher  nur  diese  einzige  Annahme  möglich:  Gott  hat  die  Welt  aus  sieh 
selbst  erschaffen.     Gott  selbst  ist  die  Welt". 

Das  ist  gewiss  euie  „neue"  Weltanschauung ;  nur  schade,  dass  sie  mit 
der  Naturwissenschaft  und  der  Logik  auf  sehr  gespanntem  Fusse  steht. 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


Psychologie. 
Die  Situation   auf  dem  psychologischen  Arbeitsfekle.    Von 

R.  Geijer-Upsala.     Berlin   1912,   L.  Simion  Nachf.    (Bibl.  f. 

Philosophie,  herausgeg.  von  R.  Stein.  IV). 
Die  gegenwärtige  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeitsfelde  trägt 
nach  dem  Vf.  als  „vielleicht  bezeichnendsten,  jedenfalls  am  meisten  in  die 
Augen  springenden  Zug  —  nebst  der  rastlosen  Arbeit  auf  der  ganzen  Linie 
—  einen  stets  schärfer  werdenden  und  in  offene  Polemik  ausmündenden 
Gegensatz  zwischen  mehreren  verschiedenen  psychologischen  Schulen, 
welche  sich  von  einander  unterscheiden  sowohl  in  dem,  was  sie  als  gegeben 
betrachten,  als  auch  in  dem,  was  sie  eigentlich  wissen  wollen,  und  nicht 
am  wenigsten  durch  die  Wege,  auf  denen  sie  das  Erstrebte  am  besten 
erreichen  zu  können  hoffen,  also  kurz,  durch  verschiedene  Ausgangspunkte, 
Problemstellungen  und  Arbeitsmethoden.  Und  zwar  keineswegs  nur  bei  der 
Behandlung  einer  Zahl  von  vielleicht  weniger  wichtigen  psychologischen 
Spezialfraf-'en,  sondern  im  grossen  Ganzen,  sobald  es  gilt,  das  eigenartige 
Objekt,  die  eigentliche  Aufgabe  und  die  allgemeine  Methodik  der 
psychologischen  Wissenschaft  etwas  genauer  zu  bestimmen". 


R.  Geijer,  Die  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeitsfelde.     387 

Diesen  Stand  der  Dinge  darf  eine  wissenschaftliche  Psychologie  nicht 
ignorieren;  denn  sie  muss  „eine  möglichst  übersichtlich  und  systematisch 
geordnete  Darstellung  geben  der  aktuellen,  mit  einander  in  Widerspruch 
stehenden  Grundanschauungen,  die  sich  als  solche  am  allerbesten  durch 
ihre  in  wesentlich  verschiedenen  Richtungen  gehenden  Antworten  auf  diese 
Frage  zu  erkennen  geben,  oder  besser  gesagt,  eben  dadurch  konstituiert 
werden.  Denn  erst  so  wird  es  möglich,  mit  gehöriger  Umsicht  zwischen 
diesen  Grundanschauungen  zu  wählen,  seine  Stellung  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  kritisch  so  abzuwägen,  dass  man  selbst  dabei  einen  eigenen 
festen  und  selbständigen  oder  mit  anderen  Worten  schon  im  voraus  gegen 
polemische  Angriffe  und  Einwendungen  gesicherten  Standpunkt  gewinnt". 

Dabei  muss  freilich  die  Darstellung  ,,das  bunte  Material  auf  eine 
massige  Anzahl  für  ihre  jeweihge  Richtung  typischer  Grundformen  re- 
duzieren und  sich  hauptsächlich  an  die  führenden  Geisler  halten".  Aber 
auch  so  ist  die  Mannigfaltigkeit  noch  gross  genug. 

Schon  bei  der  Definition  der  Psychologie  beginnt  die  Uneinigkeit. 
Denn  was  Seele  bedeuten  soll,  wird  neuestens  sehr  verschieden  bestimmt, 
am  radikalsten  durch  die  Psychologie  ohne  Psyche.  Der  Vf.  gibt  am  Ende 
seiner  Darstellung  ein  übersichtlich  systematisch  geordnetes  Schema  der 
verschiedenen  Richtungen. 

A.  Das  Objekt  der  Psychologie  betreffend:  a)  die  Definition  selbst: 
a)  Psychologischer  Substantiahsmus,  ß)  Kollektivismus  (P.sychologie  ohne 
Seele),  b)  Das  Verhältnis  zwischen  Seele  und  Körper:  I,  Materialismus, 
2.  Dualismus,  3.  Duplizismus,  4.  Immaterialistischer  Monismus  (Herbart, 
Universeller  Spirituahsmus),  5.  Positivismus,  c)  Die  Morphologie  des  Seelen- 
lebens betreffend  :  «)  Schattentheorie  -  Assoziationspsychologie  -  Evolutions- 
psychologie, ß)  Intellektualismus-Voluntarismus,  y)  Determinismus-Indetermi- 
nismus. 

B.  Die  Aufgabe  der  Psychologie  betreffend:  a)  Empirische  Psycho- 
logie (deskriptiv  klassifizierende)  —  spekulative  Psychologie  (Auto-  und 
phylogenetische),  explikative :  mechanisch-teleologisch  erklärende,  b)  Anthro- 
pologische :  Individualpsychologie  -Völkerpsychologie  —  vergleichende  Tier- 
psychologie. Erstere  zerfällt  in  Kinderpsychologie,  Differenzialpsychologie, 
Psychopathologie,  Kriminalpsychologie,  Metapsychologie  usw. 

C.  Die  Methodik  betreffend :  Direkte  (=  introspektive)  Methoden  — 
indirekte  Methoden :  kulturhistorische  Analysen  —  psychophysische  Experi- 
mente —  Enqueten  usw. 

Manche  dieser  Richtungen  stehen  nicht  in  gegensätzlichem  Verhältnisse 
zu  einander  wie  z.  B.  die  Individualpsychologie,  Völker-,  Tierpsychologie. 
Aber  ihre  Vertreter  bekämpfen  einander,  indem  die  einen  behaupten,  n  u  r 
durch  die  Völkerpsychologie,  die  andern  nur  durch  vergleichende  Tier- 
psychologie, andere  nur  durch  Individualpsychologie  könne  das  seelische 
Leben  ergründet  werden. 

25* 


388  C.  Gutberlei 

Ob  durch  diese  Orientierung  wirklich,  wie  der  Vf.  hofft,  eine  Sicher- 
heit für  den  eigenen  Standpunkt  gewonnen  werden  könne,  ist  mindestens 
recht  zweifelhaft.  Eher  schon  könnte  sie  uns,  wie  er  an  zweiter  Stelle 
erwartet,  die  Richtung  angeben,  nach  welcher  hin  die  Forschung  sich  mit 
Erfolg  beschäftigen  könne.  In  der  Tat  zeigt  das  Chaos  der  Meinungen, 
dass  die  neuere  Philosophie  auf  schiefe  Bahnen  geraten  ist,  indem  sie  ganz 
neue  Grundlagen  der  philosophischen  Forschung  schaffen  zu  müssen  glaubte. 

Durch  die  experimentelle  Psychologie  glaubte  man  nun  end- 
lich eine  wissenschaftliche  Behandlung  des  Seelenlebens  gefunden  zu  haben. 
Man  glaubte  sie  schon  zur  Grundlage  einer  neuen  Pädagogik  machen  zu 
können.  Da  erhob  sogar  der  Altmeister  der  experimentellen  Psychologie 
W.  Wundt  seine  Stimme  gegen  die  Ueberschätzung  dieser  neuen  Methode, 
wies  auf  die  Uneinigkeit  unter  den  experimentierenden  Forschern  und  die 
vielfachen  verschiedenen  Deutungen  der  Experimente  usw.  hin. 

Durch  Messen  und  Rechnen  glaubt  man  die  psychologischen  Er- 
scheinungen ebenso  exakt  wissenschaftlich  behandeln  zu  können  wie  die 
Naturwissenschaften  die  materiellen  Vorgänge.  Da  erklärt  ein  anderer 
experimenteller  Psycholog,  W.  Hellpach:  „Es  ist  nun  einmal  meine  Ueber- 
zeugung,  dass  mit  der  Mathematik  im  Bereich  der  seelischen  Phänomene 
mehr  Wirklichkeit  verschleiert  als  aufgedeckt  wird,  und  ich  stimme  Marbe 
(gleichfalls  experimenteller  Psychologe)  vollkommen  bei,  wenn  er  die 
psychologische  Nachprüfung  und  Umbildung  der  mathematischen  Fehler- 
methodik (soweit  sie  auf  menschliches  Geschehen  Anwendung  finden  soll) 
für  dringend  erforderlich  hält.  Gerade  die  Korrelationsuntersuchungen  können 
meines  Erachtens  diese  Meinung  nur  verstärken". 

Derselbe  Hellpach  bemerkte  gegen  die  Anwendung  des  Experimentes 
auf  die  Pädagogik  durch  E.  Meumann,  seine  Ausführungen  seien  von  allen 
Geistern  der  Realität  verlassen.  Das  gilt  in  noch  höherem  Massp  von  den 
Korrelationsberechnungen  Bätz',  der  aus  einem  Grundfaktor  der  Seele 
durch  mathematische  Formeln  die  übrigen  Eigenschaften  eines  Individuums 
ableitet.  Da  kann  man  Hellpach  nicht  ganz  Unrecht  geben,  wenn  er  von 
der  (iefahr  einer  „Fälschung"  der  empirischen  Ergebnisse  durch  die  mathe- 
matische Bearbeitung  spricht'). 

Auf  die  anfängliche  Ueberschätzung  der  experimentellen  Psychologie 
folgt  allmählich  doch  eine  Ernüchterung,  stellenweise  eine  starke  Reaktion 
selb.st  aus  dem  eigenen  Lager. 

Eine  Krisis  der  experimentellen  Psychologie  verkündet  ein  namhafter 
französischer  Psychologe,  N.  Kosly  leff,  in  einer  Veröffentlichung  der  Bibl. 
de  Philos.  contemp.  -). 
■--  -    —1 

»)  Archiv  f.  d.  ges.  Psych.  2ü.  Bd.  S.  41, 

0  La  crise  de  la  psychologie  experimentale.     Paris  1911,  Alcan. 


R.  Geijer,  Die  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeitsfelde.      380 

In  einem  Ueberblick  auf  das  Ganze  findet  er,  dass  die  zahllosen  Ex- 
perimente wenig  Vertrauen  auf  die  Erfolge  erwecken.  In  der  Tat,  je  mehr 
sie  anwachsen,  um  so  unsicherer  wird  die  Situation.  Bis  jetzt  bleiben  sie 
nämlich  fragmentarisch,  isoliert,  es  fehlt  auch  die  Einheit  in  der  Sukzession. 
Man  begann  mit  Psychophysik,  mit  Untersuchungen  über  Empfindungs- 
schwellen, über  das  Verhältnis  von  Reiz  zur  Empfindung,  über  Reaktions- 
zeiten, über  die  physiologischen  Begleiterscheinungen  der  seelischen  Vor- 
gänge. Die  neueren  Experimente  desavouieren  diese  Anfänge,  man  wendet 
sich  in  Frankreich  praktischen  Zielen  zu,  in  Deutschland  metaphysischen. 
Eine  Synthese  so  heterogener  Elemente  ist  einfach  unmöglich.  Wie  will 
man  z.  B.  Claparedes  Untersuchungen  über  die  Methoden  der  Tierpsycho- 
logie mit  Picks  und  Bühlers  Experimenten  über  die  Erkenntnisvorgänge, 
über  das  Verständnis  der  Sprache  einheitlich  zusammenfassen?  Sehr 
richtig  bemerkt  Titchener,  dass  wir  von  einer  ganzen  und  homogenen 
Wissenschaft  noch  weit  entfernt  sind.  Nicht  einmal  die  Möglichkeit  einer 
gemeinsamen  Aktion  kann  man  erhoffen.  Weder  das  Ziel,  dem  die  ganze 
Bewegung  zustrebt,  noch  die  leitende  Idee  sind  klar  und  bestimmt. 

Doch  gibt  es  wirklich  auch  Experimentatoren,  die  ein  „System"  der 
Experimente  versucht  haben,  aber  vorherrschend  in  Deutschland  sind  die- 
jenigen Psychologen,  die  prinzipiell  sich  nur  mit  isoherten  Experimenten 
beschäftigen  und  sich  nicht  um  eine  zusammenfassende  Wissenschaft  be- 
kümmern. So  Wundt,  der  die  psychophysischen  Untersuchungen  von  Weber 
und  Fe  ebner  fortgeführt,  der  „erstaunlich  begabte"  Stumpf  beschäftigt  sich 
mit  Tonpsychologie,  und  wirkt  „Wunder  von  Feinheit  in  der  Analyse"; 
„Wunder  der  Ausdauer"  liefern  G.  E.  Müller,  Schumann,  Pilzecker, 
Spezialisten  sind  auch  Meumann,  Ziehen,  Kraepelin,  soAvie  in  Frank- 
reich Binet,  Henri,  Janet,  Toulouse,  Sollier.  Und  gar  die  Amerikanerl 

Die  psychophysischen  Arbeiten  kritisiert  Kostyleff  abfällig  mit  Hering, 
van  Biervliet,  Müller  und  Titchener.  Die  Messungen  hat  man  zwar 
zu  verbessern  gesucht,  aber  man  ist  falsch  orientiert,  denn  sie  leisten  nichts 
für  den  Mechanismus  des  Zusammenhangs.  Am  unfruchtbarsten  sind  die 
Zeitmessungen,  von  ihnen  sind  nur  individuelle  Tabellen  und  Zeich- 
nungen verblieben. 

Aber  auch  die  systematisierenden  Psychologen  haben  in  ihren  Unter- 
suchungen über  Gedächtnisassoziationen  nichts  für  eine  Wissenschaft  ge- 
leistet. Denn  was  soll  die  Kenntnis  des  „künstlichen  und  abstrakten  Typus"  ? 

Allerdings  hat  die  experimentelle  Psychologie  une  orientation  nouvelle, 
es  ist  die  Ausfragemethode.  Aber  ihre  Resultate  sind  die  unbe- 
stimmtesten und  zeigen  augenscheinlich  die  aktuelle  Krisis  der  Psychologie. 
Dies  zeigt  eine  Kritik  der  Versuche  Watts,  Messers,  Bühlers. 
Letzterer  verwickelt  sich  in  eine  „reichUch  metaphysische  Terminologie". 
Mit  dem  Fortschritt  der  Untersuchungen  wachsen  die  „spiritualistischen  Ten- 
denzen".   So  bei  Lipps,  Erdmann,  Stumpf.    Wundts  Argumente  gegen 


390  E.  Rolf  es. 

diese  „Scheinexperimente"  sind  zwar  nicht  zutreffend,  denn  es  gibt  auch 
andere  als  naturwissenschaftliche  Methoden :  aber  ihr  eigentlicher  Fehler 
liegt  in  ihrer  ephemeren  und  wenig  präzisen  Natur.  Ihr  schneller  Erfolg 
erklärt  sich  nur  als  eine  Reaktion  des  spekulativen  Geistes  der  Deutschen 
gegen  die  allgemeine  Begeisterung  für  exakte  Methoden. 

So  die  Kritik  K.s ;  wenn  er  aber  nur  in  einer  Verbindung  der  psycho- 
logischen Erscheinungen  mit  Gehirnprozessen  wahre  Wissenschaft  findet, 
können  wir  ihm  nicht  beipflichten,  wie  wir  auch  seine  Kritik  für  zu  ein- 
seitig erklären  müssen. 

Fulda.  Dr.  C.  Gutberiet. 


Geschichte  der  Philosophie. 

Der  Phaidros  in  der  Eiitwickhiiig  der  Ethik  und  der  Reform- 
gedankeii  Platoiis.  Von  Viktor  Potempa.  Inaugural- 
Disseiiation.     Breslau  1913.     VII  und  68  S. 

Die  Arbeit  kommt  dem  Bedürfnis  entgegen,  das  vielgestaltige  und  um- 
fangreiche platonische  Schrifttum  unter  einen  einheitlichen  Gesichtspunkt 
zu  bringen,  eine  dankenswerte,  aber  schwere  Aufgabe.  Dem  Vf.  liegt  der 
gedachte  Gesichtspunkt  in  der  Ethik.  Ein  eingehendes  Studium  hat  ihn 
zu  der  Ueberzeugung  geführt,  dass  Piatons  Philosophie  in  erster  Linie  eben 
Ethik  im  weitesten  Sinne,  mit  Einschluss  also  der  Staats-,  Rechts-,  Gesell- 
schafts- und  Erziehungslehre  ist,  nicht  Metaphysik  oder  Logik  oder  Aesthetik 
(3).  Die  beste  Probe  auf  die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  wäre  nun  frei- 
lich, wenn  die  sämtlichen  Schriften  Piatos  daraufhin  verglichen  würden, 
und  sie  würde  bewiesen  sein,  wenn  sich  herausstellte,  dass  sie  alle  gemein- 
sam eine  moralische  Bestimmung  haben  und  sich  dieser  einzeln  als  wohl- 
geordnete Glieder  eines  Ganzen  unterordnen.  Der  Vf.  verfährt  aber  anders. 
Er  beschränkt  sich  auf  den  Phaedrus  und  berücksichtigt  von  den  anderen 
Gesprächen  nur  die  ihm  vorangehenden.  Zu  ihnen  rechnet  er  auch  den 
Staat.  Indem  er  die  früheren  Schriften  auf  ihren  ethischen  Inhalt  ansieht 
(12  —  29),  will  er  die  Grundlage  gewinnen,  auf  der  er  dem  Phaedrus  seine 
historische  Stellung  in  der  Entwicklung  der  Moralphilosophie  Piatos  anweist. 
Da  hierzu  aber  auch  noch  eine  eingehende  Analyse  seines  Inhalts  erforder- 
lich ist,  so  lässt  er  diese  der  Bestimmung  seiner  ethischen  Bedeutung  voran- 
gehen (29 — 50).  Sie  ergibt,  dass  der  Phaedrus  eine  in  sich  geschlossene 
und  einheitliche  Behandlung  der  Beredsamkeit  ist.  Ihrer  Theorie,  die  im 
2.  Teil  des  Dialogs  von  K.  40  bis  63  entwickelt  wird,  gehen  als  praktische 
Beispiele  dafür,  wie  man  reden  und  wie  man  nicht  reden  soll,  im  1.  Teil 
drei  Reden  voran,  die  sämtlich  von  dem  tQtog,  dem  philosophischen  Trieb 
oder  der  Liebe  handeln  (K.  6  bis  38).  Nun  folgt  endlich  die  Beurteilung 
imd  Würdigung   des   Dialogs  vom  Standpunkte   seiner   ethischen  Tendenz. 


V.  Potempa,  Der  Phaidros  in  der  Entwicklung  der  Ethik.  391 

Er  ist  an  erster  Stelle  eine  Reformschrift,  dazu  bestimmt,  die  entartete 
Rhetorik  der  Zeit  wieder  zum  Bewusstsein  ihrer  Pflicht  zu  bringen  ^^51). 
Die  Beredsamkeit  soll  immer  wahr  und  sittlich  sein  und  darf  nie  in 
Sophistik  ausarten  und  einer  ungerechten  Sache  dienen  (65  f.).  An  zweiter 
Stelle  soll  die  Schrift  den  Unterschied  zwischen  wahrer  und  falscher  Liebe 
deutlich  machen,  zu  jener  ermuntern,  vor  dieser  warnen  (53).  Die  wahre 
Liebe  ist  dem  Plato  vor  allem  die  Sehnsucht  nach  Weisheit  und  Glück- 
seligkeit. Sie  entzündet  sich  in  dem  Philosophen  beim  Anblick  wohl- 
gebildeter und  begabter  Jünglinge,  der  ihn  an  die  vollkommene  und  ewige 
Schönheit  erinnert  und  bewirkt,  dass  er  durch  Lehre  und  Zuspruch  sie  zu 
Genossen  seines  Strebens  nach  Weisheit  und  Tugend  macht.  Um  aber 
die  echte  Liebe  von  ihrem  Zerrbild,  der  bei  den  Griechen  so  verbreiteten 
grobsinnlichen  Erotik,  zu  unterscheiden,  war  es  nötig,  zuerst  eine  psycho- 
logische Theorie  des  Eros  zu  geben  und  die  gesamte  Seelenlehre  in  allge- 
meinen Zügen  darzustellen.  Daher  die  einschlägige  Ausführung  in  der 
zweiten  Rede  des  Sokrates  über  den  Eros.  Dieselbe  lieferte  gleichzeitig 
das  wünschenswerte  theoretische  Fundament  für  das  System  der  Rhetorik 
im  zweiten  Teile  des  Phaedrus  (53). 

Wir  haben  hiermit  über  Inhalt  und  Tendenz  der  vorliegenden  Disser- 
tation in  Kürze  berichtet.  Sie  ist  mit  Fleiss,  Scharfsinn  und  grosser  Be- 
lesenheit geschrieben.  Einige  Einzelheiten  sind  uns  aufgefallen.  Dass  Piatos 
Meinung  hin  und  wieder  zu  der  des  Sokrates  in  Gegensatz  gebracht  wird, 
dass  z.  B.  gleich  anfangs  (12)  im  Anschluss  an  andere  behauptet  wird,  die 
sokratische  Position,  wonach  die  Tugend  ein  Wissen  ist,  sei  dem  Plato  zum 
Problem  geworden,  erscheint  bedenklich.  Plato  redet  ja  fast  nur  durch 
den  Mund  des  Sokrates.  Man  mag  also  immerhin  annehmen,  dass  Plato 
manches  in  mehr  spekulativer,  formvollendeter  und  gelehrter  Weise  vor- 
getragen hat,  als  es  dem  Sokrates  gegeben  war,  aber  er  konnte  ihn  nicht 
behaupten  lassen,  was  der  sokratischen  Ansicht  zuwiderlief.  S.  56  heisst 
es :  „Wenn  die  Götter  die  Ideen  vollkommen  schauen,  die  Menschenseelen 
dagegen  nur  mit  Mühe,  da  sie  durch  das  böse  Ross  daran  gehindert  werden", 
so  drückt  dies  einmal  denselben  Gedanken  aus,  der  sich  im  Phaidros  auch 
in  schlichter  Prosa  findet,  dass  Gott  allein  weise,  dass  er  allein  im  Besitz 
der  Wahrheit  ist,  und  dann  den  zweiten,  welchen  wir  bereits  aus  dem 
Phaidon  kennen,  „dass  der  Mensch  durch  seine  Begierden  in  seinem  Streben 
nach  der  Wahrheit  gehindert  wird".  Wie  lässt  sich  mit  dieser  Auffassung 
vereinbaren,  was  Plato  K.  29  sagt,  dass  keine  Seele  in  einen  Menschenleib 
eingehen  kann,  die  nicht  vorher  die  Wahrheit  geschaut  hat?  Wenn  man 
Plato  wegen  seines  Unsterblichkeitsbeweises  aus  der  Selbstbcwegung  im 
24.  K.  tadelt  (vgl.  S.  33  Anm.  2) ,  so  ist  der  Tadel  wohl  unbedenldich, 
I  wenn  die  Bewegung  als  absolut  unabhängig  gedacht  ist.  Sie  ist  das  nur 
I  in  Gott.  In  diesem  Sinne  muss  Piatos  Beweis  schon  deshalb  falsch  sein, 
weil  sich  daraus  die  Ewigkeit   der  Seele   folgern  liesse,  wie  der  Philosoph 


B92  E.  Kolfes. 

ja  auch  tut.  Insofern  er  übrigens  keinen  Geist  kennt,  der  nicht  in  seiner 
Sprache  Seele  wäre,  und  insofern  die  Selbstbewegung  im  Anschluss  an 
Thomas  v.  A.  C  g.  1,  13  als  Selbsterkenntnis  und  Selbstliebe  gedeutet 
werden  kann,  insofern  endlich  auch  in  der  Phaedrusstelle  steht,  dass  das 
Selbstbewegte  Quelle  und  Anfang  der  Bewegung  für  alles  Bewegte  ist,  kann 
man  wohl  sagen,  dass  hier  der  Beweis  für  ein  erstes  Prinzip  und  ein  erstes 
Bewegtes,  das  selbst  durch  kein  anderes  bewegt  wird,  und  insofern  denn 
inhaltlich  ein  Gottesbeweis  erbracht  ist.  Was  die  Bedeutung  der  platonischen 
Ideen  betrifft,  so  wäre,  wenn  eine  bestimmte  wohlerwogene  Auffassung 
derselben  als  der  Begründung  entbehrend  bezeichnet  wird,  zu  wünschen, 
dass  auch  die  Argumente  für  sie  entkräftet  würden  (vgl.  S.  57  Anm.  5). 
Cöln-Lindenthal.  Dr.  Rolfes. 


Thomas  von  Aqiiin.    Kine  Einführung  in  seine  Persönlichkeit  und 
Gedankenwell.    Von  Dr.  Martin  Grabmann.    Kempten  1912, 
Kösel.     168  S.    kl.-8".     60.  Bändchen    der   Sammlung    Kösel. 
In  Leinen  gebunden  1  A 
Das  Werkchen  zerfällt    in   einen    kleineren  und  einen  grösseren  Teil: 
im  ersten  (1  —  47)  werden    der    äussere    Lebensgang,    das  Schrifttum    und 
die  wissenschafthche  Individualität  des  heil.  Thomas  sowie  die  Quellen  und 
das  fortschreitende  Ansehen  seiner  Doktrin  behandelt,  im  zweiten  wird  ein 
Umriss   seines   Lehrsystems   in  grossen  Strichen  entworfen,    wobei  der  Vf. 
naturgemäss    und  wie   von   selbst    dazu    gelangt,    fast    ausschliesslich    das 
Philosophische  zu  berücksichtigen.    Er  bespricht  besonders  folgende  Punkte: 
Denken  und  Sein,  Glauben  und  Wissen;    Gottes  Dasein  und  Wesen;    Gott 
und  die  Welt;   die  Seele;   die  Erkenntnis;  Ethik  und  Politik;  Christentum 
und  Kirche.     Am  Ende  stehen  einige  Winke    zum  wissenschaftlichen  Ver- 
ständnis und  zur  wissenschaftlichen  Behandlung  des  heil.  Thomas  mit  nach- 
drücklicher Empfehlung  der  historisch-genetischen  neben  der  systematischen 
Methode. 

Das  kleine  Buch  ist  mit  Begeisterung  für  seinen  hohen  Gegenstand  und 
mit  Sach-  und  Literaturkenntnis  geschrieben,  leicht  verständlich  und  ganz 
dazu  geeignet,  der  Philosophie  des  heil.  Thomas  neue  Freunde  und  Jünger 
zu  gewinnen.  Besonders  die  Ausführungen  über  Denken  und  Sein,  Gottes 
Dasein  und  Wesen  und  die  Seele  und  ihre  Erkenntnis  sind  bemerkenswert 
teils  wegen  ihrer  Aktualität,  teils  wegen  der  präzisen  Wiedergabe  der  Ge- 
danken des  heiligen  Thomas.  Die  metaphysische  Wesenheit  Gottes  bei 
Thomas  wird  als  das  Sein  selbst  und  als  actus  purus  bezeichnet  (90). 
Es  ist  aristotelische  und  von  Thomas  übernommene  Lehre,  dass  das 
intellektive  Prinzip  im  Menschen  die  substanziale  Form  des  Leibes  ist  (111). 
Die  Hinkehr   zu   den  Phantasmen   ist    nicht  bloss   für    unsere  geistige  Er- 


M.  Grabmann,  Thomas  von  Aquin,  393 

kenntnis    körperlicher,    sondern   für   die  aller  Objekte  ohne  Ausnahme  er- 
forderlich (124). 

Mit  einigem  dagegen  sind  wir  nicht  einverstanden. 

Aristoteles  soll  sich  nicht  zum  Schöpfungsgedanken  •  durchgerungen 
haben  (93).  Kann  Vf.  das  bewei.senV  St.  Thomas  ist  doch  für  das  Gegen- 
teil. Wie  gäbe  es  denn  eine  einigermassen  befriedigende  Gotteserkenntnis, 
wenn  Gott  nicht  als  Schöpfer  gilt  ?  —  S.  62  heisst  es :  „was  unser  Intellekt 
zuerst  als  das  bekannteste  erfasst,  ist  das  Sein".  Es  muss  lauten:  das 
Seiende,  ens.  Das  Seiende  ist  für  uns  bekannter  als  das  Sein,  weil  kon- 
kreter. Das  Sein  begegnet  uns  in  seiner  Abstraktheit  nirgends,  das  Seiende 
überall.  —  Ferner,  Averroes  hatte  gelehrt,  dass  der  intellectus  agens  nur 
einer  in  allen  Menschen  sei.  Der  Vf.  redet  mit  Bezug  darauf  von  „der 
nicht  recht  klaren  aristotelischen  Lehre"  (119).  Die  aristotelische  Lehre 
ist  aber  durchaus  nicht  unklar,  sie  gibt  keinen  Anlass  zu  einer  anderen 
Auslegung  als  der,  dass  der  intellectus  agens  so  gut  wie  der  possibilis  m 
jedem  Menschen  ein  besonderer  ist.  —  Die  Erhaltung  der  Welt  durch  Gott 
wird  S.  97  richtig  bestimmt,  die  Begründung  aber  für  ihre  Notwendigkeit, 
dass  die  Welt  ens  ab  alio  ist,  hätte  vielleicht  durch  den  Hinweis  erweitert 
werden  können,  dass  alles  Erschaffene  seiner  Wesenheit  nach  blosse  Potenz 
ist,  und  das  darum,  weil  sein  Wesen  nicht  sein  Sein  ist,  wie  Thomas  in 
der  S.  98  angeführten  Stelle  sagt.  S.  126  wird  die  Unfähigkeit  der  Seele, 
sich  selbst  anders  als  durch  ihren  Akt  zu  erkennen,  aus  dem  „passiven, 
potenziellen  Charakter  unseres  Geistes"  abgeleitet.  Das  „passiv"  fiele  besser 
weg.  Auch  Aktives  wird  nur  erkannt,  wenn  es  actu  ist,  z.  B.  die  Farben 
nur,  wenn  sie  actu,  beziehungsweise  wenn  sie  im  Lichte  sind.  —  Ein  kleines 
Versehen  ist  dem  Verfasser  begegnet,  indem  er  S.  138  von  der  nolnüa 
statt  von  den  uoliTixä  des  Aristoteles  redet. 

Göln-Lindenthal.  Dr.  Rolfes. 


Der  Zweckgedanke  in  der  Philosophie  des  Thomas  von  Aquino. 

Nach  den  Quellen  dargestellt  von  Dr.  phil.  Theodor  Stein- 
b  ü  c  h  e  1.  Inaugural-Dissertation  zur  Erlangung  der  Doktorwürde, 
vorgelegt  der  Philosophischen  Fakultät  der  Universität  zu  Strass- 
burg  i.  Eis.     Münster  i.  W.  1912,  Aschendorff.     77  S. 

Die  vorliegende  Dissertation  ist,  wie  der  Vf.  bemerkt,  der  Teildruck 
einer  grösseren  Arbeit,  die  in  nächster  Zeit  in  den  von  Cl.  Baeumker 
herausgegebenen  Beiträgen  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters 
erscheinen  wird.  „Ein  Gedanke  vor  allem  durchzieht  die  gesamte  tho- 
mistische  Philosophie  und  Theologie:  Der  Zweckgedanke.  Der  Zweck 
ist  die  allgemeine  Kategorie,    unter   der    das  gesarate  Uni- 


394  N.  Kaufmann. 

versum  sowohl  wie  das  Leben  des  einzelnen  betrachtet  wird. 
Den  Zweckgedanken  in  seiner  Bedeutung  für  die  Philosophie  des  Thomas 
will  diese  Arbeit  allseitig  darlegen"  (Einleitung).  Diese  Darlegung  hat  fol- 
gende Abschnitte:  Erster  Teil.  Der  Begriff  von  Ziel  und  Zweck.  Erstes 
Kapitel :  Der  Begriff  und  seine  Ableitung.  Zweites  Kapitel :  Das  Ziel  als  Ur- 
sache. Zweiter  Teil:  Die  Verwertung  des  Zweckgedankens  in  der  thomistischen 
Philosophie,  Hier  spricht  der  Vf.  in  vier  Kapiteln  von  der  Unentbehrlichkeit 
des  Zweckgedankens  für  die  Naturerkenntnis,  von  der  Zielstrebigkeit  der 
unbewussten  Naturwesen  und  in  der  bewussten  unvernünftigen  Natur,  schliess- 
lich von  der  Zielstrebigkeit  der  vernünftigen  Wesen,  wie  sie  namentlich  im 
freien  Willen  zur  Geltung  kommt.  In  zahlreichen  Fussnoten  werden  die 
Belegstellen  im  Originaltext  angeführt  und  Angaben  bezüglich  der  neueren 
einschlägigen  Literatur  gemacht,   die  jedoch  unvollständig  sind. 

Die  gründliche  Arbeit  zeugt  von  fleissigem  Studium  der  Werke  des 
hl.  Thomas.  Besondere  Anerkennung  verdient  der  im  erstenTeil  geführte 
Nachweis,  inwiefern  nach  Aristoteles  und  Thomas  der  Zweck  Ursache  ist. 
In  dem  Kapitel  über  die  Zielstrebigkeit  der  unbewussten  Naturwesen  hätte 
der  Vf.  S.  41,  wo  er  davon  spricht,  dass  Aristoteles  die  Naturteleologie 
gründlich  durch  die  Empirie  belegt  habe,  namentlich  auch  auf  die  Tier- 
ge.schichte  und  auf  die  Schrift  über  die  Teile  der  Tiere  hinweisen  sollen. 
Wenn  der  Vf.  a.  a.  0.  sagt,  „das  Empirische  liegt  ganz  ausser  der  Interessen- 
sphäre des  Aquinaten",  so  ist  das  nicht  ganz  zutreffend.  Allerdings  hat 
Thomas  nicht  selbst  empirische  Forschungen  in  der  Natur  angestellt,  wie 
Aristoteles  und  Albertus  Magnus.  Aber  im  Gegensatz  zu  einem  einseitigen 
Apriorismus  betont  er  als  echter  Aristoteliker  in  seiner  Erkenntnislehre 
sehr  die  hohe  Bedeutung  der  sinnlichen  Erkenntnis  resp.  der  Erfahrung  als 
Vorarbeit  für  die  intellektuelle  Tätigkeit.  Indem  Thomas  das  Kausalitäts- 
prinzip zur  Grundlage  seiner  Philosophie  macht,  den  Schluss  von  den 
durch  die  Erfahrung  festge.stellten  Wirkungen  auf  die  Existenz  und  das 
Wesen  der  Ursache  hat  er  die  induktive  Methode  angewandt. 

S.  42  bemerkt  der  Vf.,  die  ganze  Theorie  des  natürlichen  Streben.s 
in  den  unbewussten  Naturwesen  sei  nichts  als  eine  Analogie  mit  dem  mensch- 
lichen Willensleben,  über  deren  Berechtigung  sich  weder  Aristoteles 
noch  Thomas  Rechenschaft  gegeben  haben  (vgl.  die  Bemerkung  S.  50,  dass 
auch  die  Lehre  des  hl.  Thomas  von  der  Zielstrebigkeit  der  Tiere  ein 
Analogieschluss  aus  dem  Seelenleben  des  Menschen  sei).  Nach  dieser 
Auffassung  sollte  man  meinen,  die  ganze  Lehre  des  Stagiriten  und  des 
Aquinafen  von  der  Zielstrebigkeit  in  der  vernunftlosen  Natur  sei  nur  ein 
Anthropopathismus.  Nun  aber  hat  Aristoteles  und  im  Anschluss  an  ihn 
sein  grosser  Interpret  ausgehend  von  den  Tatsachen  festgestellt,  da.ss 
die  Naturwesen,  welche  der  vernünftigen  Erkenntnis  entbehren,  regelmässig 
zu  dem  sich  strebend  hinbewegen,  was  für  sie  das  Beste,  das  Zweckmässige 


Th.  Steinbüchel,  Der  Zweckgedanke  in  d.  Philos.  d.  Thom.  v.  Aquin.     395 

ist  ^).  Sehr  richtig  bemerkt  der  Vf.  S.  48  bezügUch  der  thomistischen  Er- 
klärung der  Zielstrebigkeit :  „Ohne  Erkenntnis  keine  Zielstrebigkeit,  nur 
blinder  Zufall.  Und  doch  herrscht  in  der  Natur  die  schönste  Ordnung  und 
die  grösste  Harmonie.  Diese  Schwierigkeit  ist  nur  metaphysisch  zu 
lösen:  Wie  der  Pfeil  zum  Ziele  strebt,  ohne  selbst  das  Ziel  zu  kennen,  so 
strebt  auch  die  bewusstlose  Natur  ihrem  Ziele  zu,  gelenkt  und  geleitet  von 
ihrem  Schöpfer".  Die  interessante  Schrift  sei  allen  Freunden  philo- 
sophischer Studien  bestens  empfohlen. 

Luzern.  Dr.  N.  Kaufiiiaim. 


Theologie  und  Wissenschaft  nach  der  Lehre  der  Hoch- 
scholastik. An  der  Hand  der  bisher  ungedruckten  Defensa 
doctrinae  D.  Thomae  des  Hervaeus  Naialis  mit  Beifügung  ge- 
druckter und  ungedruckter  Paralleltexte.  Von  Dr.  theol.  und 
phil.  Engelbert  Krebs,  Privatdozent  an  der  Universität  Frei- 
burg i.  Br.  (Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittel- 
alters. Texte  und  Untersuchungen.  In  Verbindung  mit  Georg 
Freih.  von  Hertling  und  Matthias  Baumgartner  herausgegeben 
von  Clemens  Baeumker.    Bd.  11.    Heft  3—4).     Jb  6,50. 

Die  Anlage  des  Buches  ist,  wie  der  Titel,  auf  den  ersten  Blick  nicht 
ganz  durchsichtig.  Den  Kern  bilden  Exzerpte  aus  der  Defensa  doctrinae 
D.  Thomae  des  Hervaeus  Natalis,  eines  Thomisten  aus  dem  Anfange  des 
14.  Jahrhunderts.  Grabmann  (Die  Lehre  des  hl.  Thomas  von  Aquin  von 
der  Kirche  als  Gotteswerk.  Regensburg  1903.  Literarische  Rundschau  35 
[1909]  574)  hat  neuerdings  wieder  besonders  auf  ihn  hingewiesen  und  auf 
die  Bedeutung  seiner  grossenteils  noch  ungedruckten  Schriften  aufmerk- 
sam gemacht.  „Vorliegende  Studie  nimmt  den  hier  geäusserten  Wunsch 
als  Aufgabe"  (S.  1).  Die  oben  genannte  Schrift  des  Hervaeus  ist  in 
dem  Cod.  lat.  Vat.  817  enthalten.  Krebs  bietet  den  Text,  indem  er  die 
wichtigeren  Stellen  wörilich  anführt,  von  den  weniger  wichtigen  aber  bloss 
mit  einer  deutschen  Inhaltsangabe  sich  begnügt,  so  jedoch,  dass  man  da- 
durch einen  vollständigen  Ueberblick  über  das  ganze  Werk  erhält.  Der 
Vf.  hat  sodann  durch  Vergleichun>£  der  Lehre  des  Hervaeus  mit  der 
zahlreicher  anderer  Vertreter  der  Hochscholastik  den  Traktat  in  seinen 
historischen    Zusammenhang    eingereiht    und    zugleich    eine    ziemlich  voll- 

')  Vgl.  die  Monographie  des  Rezensenten:  „Die  teleologische  Naturphilo- 
sophie des  Aristoteles  und  ihre  Bedeutung  in  der  Gegenwart''.  2.  Autlage. 
Paderborn,  Ferdinand  Schöningb.  133  S.  In  l'ranzösischer  Uebersetzung  er- 
schienen bei  Felix  Alcan  in  Paris.  Der  Verfasser  scheint  diese  Schrift  nicht 
zu  kennen. 


396  Geyer. 

ständige  Darstellung  der  Lehre  der  Hochscholastik  iiber  Theologie  und 
Wissenschaft  geboten.  Zu  diesem  Zwecke  sind  zunächst  dem  Texte  viele 
Zitate  und  eigene  Scholien  beigegeben,  die  die  parallelen  Stellen  aus  den 
Werken  von  27  Theologen  der  Hochscholastik  'enthalten.  Aufgrund  dieses 
Quellenmaterials  wird  dann  im  ersten  Abschnitt  eine  übersichtliche  Dar- 
stelhmg  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  einzelnen  Fragen  gegeben. 

Ich  halle  diese  Anlage  des  Buches  nicht  in  jeder  Beziehung  für  glücklich. 
Der  Text  des  Hervaeus  wird  durch  die  vielen  Anmerkungen  und  Scholien  zu 
sehr  zerrissen,  ich  würde  sie  lieber  in  dem  ersten.,  darstellenden  Teile  als  An- 
merkungen gesehen  haben.  Dass  der  Text  selbst  nicht  vollständig  geboten  ist, 
wird  bei  dessen  Weitschweifigkeit  nur  gebilligt  werden  können.  Dagegen  gefällt 
es  mir  nicht,  dass  überall  deutsche  Wörter  und  Sätze  zwischen  den  lateinischen 
Text  gesät  sind.  Z.  B.  S.  44:  .  .  ■  quia  altera  pars  contradictionis  semper  dicit 
puram  negationem,  was  hier  nicht  der  Fall  ist,  denn  das  non  iirmiter  adhaerere 
der  opinio  leugnet  nicht  .  .  .  S.  47 :  ...  dicendum,  quod  fides  potest  accipi  duobus 
modis,  uno  modo  im  weiteren  Sinne.  .  .  S.  46:  Alia  est  theologia,  vermöge 
deren  einer  das  simpliciter  in  der  Schrift  Gegebene  erschliesst.  Tertio  modo 
dicitur  Theologia,  die  Kunst,  aus  dem  natürlichen  Wissensbereich  .  .  .  usf.  Das 
ist  nicht  nach  meinem  Geschmacke  ebensowenig  wie  die  subjektlosen  Sätze 
„wird  ausführlich  gezeigt"  u.  ä.  Es  liegt  ja  ohne  Zweifel  eine  gewisse  Schwierig- 
keit darin,  aus  den  umfangreichen  Werken  der  Scholastiker  Auszüge  zu  bieten, 
die  ein  klares  Bild  des  betreffenden  Werkes  geben.  Aber  die  doppelte  For- 
derung dürfte  doch  wohl  berechtigt  sein,  dass  nur  vollständige  deutsche  Sätze 
gebraucht  v.'erden,  und  dass  das  Deutsche  auch  äusserlich  durch  den  Druck  von 
dem  lateinischen  Texte  unterschieden  wird.  Von  diesen  rein  äusserlichen  Mängeln 
abgesehen,  ist  der  Text  durchaus  sorgfältig  behandelt,  die  Konjekturen  des 
Herausgebers  haben  alle  meinen  Beifall  gefunden;  nur  auf  S.  45  Z.  3  v.  u.  muss 
wohl  anstatt  .exqiiisitus'  ,acquisitus'  gelesen  werden. 

Der  Inhalt  des  Buches  beansprucht  ebenso  sehr  ein  historisches  wie 
ein  dogmatisches  Interesse.  „Ist  die  Theologie  eine  Wissenschaft  im  strengen 
Sinne  ?"  Diese  Frage  ist  heute  noch  so  aktuell  wie  zur  Zeit  des  heiligen 
Thomas.  Darum  bietet  es  einen  eigenartigen  Reiz,  die  Antworten  der 
grossen  Theologen  des  Mittelalters  auf  diese  Frage  in  historischem  Zu- 
sammenhange zu  hören.  Der  Verfasser  luiterrichtet  uns  zunächst  über  die 
Entstehung  des  Problems  (13 — 27).  Indem  er  bis  auf  das  Alte  Testament 
zurückgreift,  verfolgt  er  die  Frage  durch  die  Zeit  der  Väter  und  der  Früh- 
scholastik bis  zu  dem  Zeitpunkte,  wo  der  ganze  Aristoteles  im  Abendlande 
bekannt  wird  und  einen  massgebenden  Einfluss  auf  das  abendländische 
Denken  gewinnt.  Dieser  Ueberblick  über  die  Geschichte  des  Problems 
kann  natürlich  nur  die  für  die  spätere  Zeit  bedeutsamsten  Entwicklungs- 
stufen berücksichtigen,  im  Altertum  Augustinus  und  Boi'thius,  im  früheren 
Mittelalter  Anselm,  die  Viktoriner  und  Petrus  Lombardus.  Hier  hätte  die 
Lehre  Abaelards  über  das  Verhältnis  von  Glauben  und  Wissen  Er- 
wähnung finden  müssen,  die  .sich  mehr  als  die  seiner  Zeitgenossen  der 
Ansicht   der   grossen   Scholastiker   nähert    und  wenigstens  indirekt  auf  die 


E.  Krebs,  Theologie  u.  Wissenschaft  nach  d.  Lehre  d.  Hochscholastik.     397 

Folgezeit  einen  grossen  Einfluss  ausgeübt  hat  (Vergl.  die  treffliche  Dar- 
stellung von  Th.  Heitz,  Essay  historique  sur  les  rapports  entre  la  Philo- 
sophie et  la  foi  de  Berenger  de  Tours  ä  S.  Thomas  d'Aquin,  Paris  1903, 
p.  7—30). 

Durch  die  Einwirkung  der  Wissenschaftslehre  des  Aristoteles  wird  der 
Frage    eine   neue  Wendung   gegeben.     Es   sind  vor  allem   zwei  Sätze  des 
Aristoteles,    die    den    Scholastikern    zu    eingehenden    Erörterungen   Anlass 
geben:    1.    Jedes  Wissen    gründet    sich    auf   die    Evidenz    des  Gewussten; 
wird  dieses  durch  einen  Schluss  vermittelt,    so  müssen  die  Prämissen  des 
Schlusses  selbst  evident  sein.    2.  Nur  das  Allgemeingültige  kann  Gegenstand 
der  Wissenschaft  sein.     Ist  nun  die  Theologie  von  diesem  Standpunkte  aus 
eine  Wissenschaft  (28-53)?     Die  Antworten    der   Scholastiker    auf   diese 
Frage    sind    höchst    mannigfaltig    und    interessant.     Da  die  Prämissen  der 
Theologie  geglaubte,    nicht    evidente  Wahrheiten    sind,    so  scheint  ihr  der 
Charakter  der  Wissenschaft  im  strengen  Sinne  nicht  eigen  zu  sein.     Denn 
offenbar  genügt  es  zum  Begriff  der  Wissenschaft   im  strengen  Sinne  nicht, 
wenn    man    bloss  die    Evidenz  der  Folgerung  erreicht,   wie  z.  B.  Johannes 
von  Neapel  meint.     Andere    suchen    der  Schwierigkeit   zu  entgehen  durch 
die  Annahme,    dass    dieselben  Sätze    zugleich    geglaubt   und  gewusst   sein 
können.    Der  Vf.  gibt  hier  einen  guten  geschichtlichen  Ueberblick  über  die 
Entwicklung  dieser  speziellen  Frage.     Petrus  Lombardus  hatte  diese  Frage 
bejaht,    ihm  schliessen  sich  die  nachfolgenden  Scholastiker  an:    Alexander 
Halensis,   Bonaventura,   Matthaeus  von  Aquasparta,  Albert  der  Grosse  und 
Peter  von  Tarantaise.    Thomas  dagegen  bricht  mit  dieser  Tradition,  indem 
er  die  Begriffe  von  Glauben  und  Wissen  schärfer  fasst    und  von  einander 
scheidet.     Ihm   schliesst  sich   in  diesem  Punkte  sein  grosser  Antipode  an, 
Scotus,  sowie  Gottfried  von  Fontaine,  während  andere  wieder  auf  die  An- 
sicht   der   Früheren    zurückgreifen,   wie   der  gefeierte  Schüler  des  Scotus, 
Johannes  de  Basoliis,    der  Dominikaner  Durandus   und  Heinrich  von  Gent. 
Hervaeus    aber   verteidigt    in   diesem   wie   in  andern  Punkten  energisch 
die   Ansicht   seines    Ordenslehrers    Thomas.     Auch    in   der    allgemeineren 
Frage    nach    dem   wissenschaftlichen    Charakter    der    Theologie    bedeutet 
Thomas    einen    Fortschritt.     Die   älteren   Franziskanertheologen  Alexander 
Halensis,  Bonaventura  und  Johannes  Peckham  bejahen  die  Frage,  ohne  sich 
aber  die  Schwierigkeiten  aus  der  aristotelischen  Wissenschaftslehre  zu  ver- 
hehlen.    Ihnen  schliessen  sich  die  älteren  Dominikaner,  Albert  der  Grosse  ■ 
und  Ulrich  von  Strassburg,  an.     Sie   stehen   alle   unter  dem  Einflüsse  des 
Augustinismus,    der   die    Begriffe  Glaube  und  Wissen  nicht  scharf  sondert. 
Thomas   wandelt    in    seinem    Sentenzenkommentar    noch    in    den    Bahnen 
seiner  Vorläufer.     Später  aber  bezeichnet  er    die  Theologie  als  subalterne 
Wissenschaft,  am  klarsten  in:  De  ver.  qu.  1   14  a.  9  ad  3:  ,Ille  qui  habet 
scientiam  subalternatam,    non  perfecte    pertingit    ad  rationem  sciendi,    nisi 
in  quantum    eins    cognitio    continuatur    quodammodo    cum  cognitione  eius 


398  Geyer. 

qui  habet  scientiam  subalternantem;  nihilominus  tarnen  inferior  sciens  non 
dicitur  de  his  quae  supponit,  habere  scientiam,  sed  de  eonclusionibus, 
quae  ex  principiis  quae  supponuntur  neeessario  concluduntur;  et  sie  et 
lidelis  potest  dici  habere  scientiam  de  his  quae  concluduntur  ex  articulis 
fidei'  (Krebs  S.  38,  42).  In  der  Summa  theol.  1  q.  1  a.  2  wird  die  Evidenz 
der  von  der  Theologie  vorausgesetzten  Prämissen  auf  die  Erkenntnis  Gottes 
und  der  Seligen  zurückgeführt:  ,Et  hoc  modo  sacra  doctrina  est  scientia: 
quia  procedit  ex  principiis  notis  lumine  superiöris  scientiae  quae  scilicet 
est  scientia  Dei  et  beatorum.  Unde  sicut  musica  credit  principia  tradita 
sibi  ab  arilhmetico,  ita  doctrina  sacra  credit  principia  revelata  sibi  a  Deo.' 
Scotus  geht  noch  über  Thomas  hinaus.  Er  erklärt,  dass  die  Theologie 
eine  Wissenschaft  im  strengen  Sinne  der  aristotelischen  Wissenschaftslehre 
nicht  sei.  Den  Ausweg  des  Thomas,,  dass  sie  eine  Subalternwissenschaft 
sei,  lehnt  er  mit  durchschlagenden  Gründen  ab  (S.  28,  29,  43,  44).  Jedoch 
verleiht  nach  ihm  die  Theologie  dem  Menschen  einen  höheren  habitus, 
vermittelst  dessen  aus  der  heil.  Schrift  Folgerungen  gezogen,  Einwände  gelöst 
werden  und  grösseres  Verständnis  der  Wahrheiten  über  die  Trinität  usw. 
erreicht  wird. 

Auch  in  der  Frage  nach  dem  Subjekte,  d.  h.  nach  dem  Zentralbegriffe 
der  Theologie  (S.  53 — 90),  zeigt  sich  bei  Thomas  ein  Fortschritt,  indem  er 
klar  den  Begriff  Gottes  als  das  Subjekt  der  Theologie  herausstellt.  In  der 
Frage  endlich,  ob  die  Theologie  eine  spekulative  oder  praktische  Wissen- 
schaft sei,  treten  die  Gegensätze  der  Schulen  am  schärfsten  hervor,  indem 
die  Franziskanerschule  auf  den  Willen,  die  Dominikanerschule  auf  den 
Intellekt  den  Hauptwert  legt.  Diese  Gegensätze  müssen  notwendig  unaus- 
geglichen bleiben,  weil  sie  in  der  ganzen  Denk-  und  Lebensrichtung  ihrer 
Vertreter  aufs  tiefste  gegründet  sind.  Es  ist  das  auch  keineswegs  zu  be- 
dauern, weil  dadurch  ein  erfreulicher  Reichtum  von  Gesichtspunkten  und 
Gedanken  erzeugt  wurde 

In  einem  letzten  Kapitel  „Ergebnisse"  wird  vor  allem  die  Bedeutung 
des  Aquinaten  auf  Grund  der  voraufgegangenen  Untersuchungen  sehr  um- 
sichtig behandelt.  Während  auf  der  einen  Seite  die  Abhängigkeit  des 
Thomas  von  seinen  Vorgängern  klar  zu  Tage  tritt,  kann  der  Vf.  doch  in 
allen  Einzelfragen  den  grossen  Fortschritt  konstatieren,  den  die  W^issenschaft 
dem  grossen  Aquinaten  verdankt.  Er  ist  darum  vollständig  im  Rechte, 
wenn  er  die  abfälligen  Urteile  Prantls  über  die  Bedeutung  des  Albertus 
Magnus  und  Thomas  von  Aquin,  denen  ohne  Zweifel  die  erforderliche 
Voraussetzungslosigkeit  fehlt,  zurückweist.  Man  kann  nur  wünschen,  dass 
durch  ähnliche  Spezialuntersuchungen  die  wahre  Bedeutung  des  Aquinaten 
immer  mehr  herausgestellt  wird.  Eine  solche  auf  geschichtlicher  Be- 
trachtung beruhende  Bewertung  der  thomistischen  Lehre  bietet  auch  allein 
eine  sichere  Grundlage  für  die  Verwendung  derselben  in  der  Theologie 
der  Gegenwart. 


E.  Krebs,  Theologie  u.  Wissenschaft  nach  d.  Lehre  d.  Hochscholastik.     399 

Seit  der  Veröffentlichung  dieser  Schrift  sind  noch  drei  Studien  erschienen, 
welche  die  darin  hebandelten  literargeschichtlichen  Fragen  eng  berühren  und 
den  nach  dem  Tode  des  hl.  Thomas  ausbrechenden  Streit  um  seine  Lehre 
zum  Gegenstande  haben:  Grabmann,  Le  „Correctorium  Corrupforii"  du 
Dominicain  Johannes  Quidort  de  Paris  (f  1306).  Noles  sur  les  documents 
manuscrits  {Revue  Neo-Scolastique  de  pliilosophie,  August  19l2j.  —  Man- 
donnet,  Premiers  travaux  de  polemique  ThomJste  {Revue  des  sciences  philo- 
sophiques  et  theologiques,  191:-^,  p.  40-69).  —  Elirle,  Der  Kampf  um  die 
Lehre  des  hl.  Thomas  von  Aquin  in  den  ersten  fünfzig  Jaliren  nach  seinem  Tod 
(Innsbrucker  Zeilschrift  für  katholische  Theologie.    1913,  S.  266-318). 

Bonn.  Dr.  Geyer. 


Religionsphilosophie. 

Weltorclimng'  und  Bittgebet.  Eine  apologetische  Studie.  Von 
Dr.  Ernst  T  ho  min,  Subregens  am  bischöflichen  Priesterseminar 
zu  Mainz,  gr.  8«  (XII  und  220  S.).  Mainz  1912,  Kirohheim. 
5  A 

Das  vorliegende  Buch  kann  hier,  in  einer  philosophischen  Zeitschrift, 
offenbar  nur  insofern  zur  Besprechung  gelangen,  als  es  philosophischen 
Oharakter  hat.  Dass  das  durch  den  Titel  angedeutete  Problem  nicht  erst 
auf  dem  Standpunkt  des  Glaubens  sich  ergibt,  sondern  eigentlich  noch 
dringender  auf  dem  Boden  der  natürlichen  Rehgion,  ist  einleuchtend.  Der 
Vf.  hat  sich  aber  nicht  auf  den  rein  philosophischen  Standpunkt  gestellt, 
sondern  die  Frage  von  theologischen  und  philosophischen  Gesichtspunkten 
aus  behandelt. 

Das  1.  Kapitel  (5-24)  bespricht  Gebet  und  Gebetserhörung  in  den 
schriftlichen  Offenbarungsquellen,  das  2.  orientiert  über  die  Bedenken  und 
Einwände  gegen  die  Berechtigung  des  Bittgebetes  (25  -  39),  das  3.  erörtert 
die  allgemeinen  Voraussetzungen  des  Bittgebetes  und  der  Gebetserhörung 
(40—76),  das  4.  (77—127)  und  5.  (128-216),  die  den  Hauptteil  der  ganzen 
Schrift  bilden,  zeigen,  welche  Bedeutung  das  Gebet  innerhalb  der  Welt- 
ordnung hat,  und  wie  die  Erhörung  von  selten  Gottes  zu  denken  ist. 

Das  Kapitel,  in  dem  die  Frage  eigentlich  nach  ihrer  philosophischen 
Seite  zur  Entscheidung  kommt,  ist  das  dritte.  Die  allgemeine  Frage  lautet : 
Kommt  dem  Gebet,  in  dem  Gott  um  die  Verleihung  einer  Gabe  angefleht 
wird,  objektive  Bedeutung  zu?  Nun  ist  von  vorne  herein  klar,  dass  sich 
das  Problem  für  bestimmte  Standpunkte  überhaupt  nicht  ergibt;  wer  leugnet, 
dass  Gott  persönlich  ist,  für  den  ist  ein  Gebet,  d.  h.  ein  innerliches  Sprechen 
mit  dem  höchsten  Wesen,  unmöglich.  Drews,  der  die  löbliche  Eigenschaft 
der  Konsequenz  hat,  sagt  in  diesem  Sinne:  ,,Auf  dem  Standpunkte  des 
konkreten  Monismus,  wo  jene  Schranke  zwischen  Gott  und  Mensch  gefallen 
ist,    hört    nicht   nur   die   logische   Möglichkeit,    sondern  auch  das  religiöse 


400  J-  Koch. 

Bediirfnis  nach  dem  persönhehen  Wechselverkehr  auf,  denn  die  vom 
reUgiösen  Bewusstsein  erstrebte  Einheit  mit  Gott  ist  ja  hier  unmittelbar 
wegeben  .  .  ."  (Die  deutsche  Spekulation  seit  Kant  II  133).  Ebenso  muss 
derjenige  dem  Bittgebet  überhaupt  jeden  Sinn  absprechen,  der  in  dem 
Prinzip  der  geschlos.senen  Naturkausalität  nicht  bloss  eine  —  allerdings 
liir  die  Naturwissenschaft  unbedingt  notwendige  —  methodische  Voraus- 
setzung sieht,  sondern  es  als  absolut  geltend  betrachtet. 

So  ergab  sich  als  besondere  Aufgabe  dieses  Abschnittes,  auf  diese 
beiden  Punkte  näher  einzugehen  und  die  Frage  zu  stellen:  Unter  welchen 
Voraussetzungen  ist  das  Bittgebet  möglich?  Auf  der  einen  Seite 
musste  eingehend  und  gründlich  die  Relativität  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis  nachgewiesen  werden,  anderseits  der  Begriff  des  aus  und  durch 
sich  seienden,  persönlichen  Gottes  und  sein  Verhältnis  zur  Welt  derart 
klargelegt  werden,  dass  von  diesen  Seiten  aus  keine  Schwierigkeiten  mehr 
gegen  die  Möglichkeit  des  Bittgebetes  gemacht  werden  konnten.  Die 
Lö.sung  der  Frage  lässt  sich  dann  etwa  in  dem  kurzen  Satze  zusammen- 
fassen: Gott  ist  durchaus  a  se;  insofern  ist  es  nicht  möglich,  ihn  mit 
Bitten  zu  beeinflussen  oder  umzustimmen;  aber  er  hat  die  Gebete  von 
Ewigkeit  her  mit  in  den  Weltplan  aufgenommen  und  sie  —  seine  eigene 
Freiheit  gleichsam  beschränkend  —  bei  der  Verwirklichung  dieses  Planes 
berücksichtigt  (vgl.  die,  auch  vom  Vf.  zitierten,  schönen  Gedanken  bei 
H.  Schell,  Gott  und  Geist  I  319). 

War  diese  grundlegende  Schwierigkeit  erledigt,  dann  ergab  sich  die 
Möglichkeit,  das  Bittgebet  nach  seinem  Inhalt  zu  würdigen  und  zu  sehen, 
was  sich  hieraus  für  die  Verwirklichung  der  zuerst  erkannten  Mög- 
lichkeit ergibt.  Den  Massstab  hierfür  hefert  der  Zweck  der  Welt;  an 
diesem  Massstab  gemessen  sind  die  Gebete  keineswegs  gleichwertig,  und 
nicht  jedes  Gebet  ist  der  Erhörung  würdig. 

Auf  dieser  zweiten  Stufe  lag  dann  zugleich  die  Möglichkeit  vor,  zu 
dem  Gebiet  des  üebernatürlichen  aufzusteigen:  Gott  hat  die  Welt  nicht 
bloss  zu  einem  natürlichen  Zweck  erschaffen,  sondern  die  Menschen  im 
besonderen  zu  einem  übernatürlichen  Zweck  berufen.  Hier  ergaben  sich 
dann  noch  weitere  Besonderungen. 

Die  hier  vorgetragenen  Grundgedanken  finden  sich  selbstverständlich 
in  dem  Buche  von  Thomin;  sie  sind  ja  keineswegs  neu,  vielmehr  alte 
katholische  Wahrheiten.  Was  wir  aber  an  dem  Buche  vermissen,  ist  der 
methodische  Aufbau ;  einerseits  finden  sich  viele  Wiederholungen,  ander- 
seits die  verschiedensten  Gesichtspunkte  in  einem  Abschnitt.  Es  scheint, 
als  wolle  der  Vf.  nur  das  Problem  behandeln,  ob  das  Bittgebet  eine  ob- 
jektive Wirksamkeit  haben  könne;  daneben  geht  aber  die  ethische  Frage 
nach  dem  Wert  des  Bittgebetes  überhaupt,  die  psychologische  nach  dem 
Verhältnis   des  Gefühls   zum    Gebet.     Wir  müssen  gestehen,    das  Buch  ist 


ßrnst  Thomin,  Weltordnung  und  Bittgebet.  40i 

reich  an  schönen  einzelnen  Gedanken,  aber  der  mangelhafte  Aufbau  lässt 
den  Leser  doch  nicht  zu  einem  rechten  Genuss  kommen.  Bei  der  Be- 
handlung der  Gegner  hat  man  nicht  immer  die  Ueberzeugung,  dass  die 
Widerlegung  durchschlagend  ist. 

Zum  Schluss  sei  gesagt,  dass  auch  dieses  Buch,  wie  so  manches  in 
den  letzten  Jahren  erschienene,  zeigt,  dass  sich  viele  Gedanken  Hermann 
Schells  langsam,  aber  sicher  Bahn  brechen;  das  vorliegende  Beispiel  ist 
um  so  wertvoller,  als  der  Vf.  Schell  selbständig  gegenübersteht  und  nicht 
versäumt,    auf  niissverständliche  Aeusserungen  des  Gelehrten  hinzuweisen. 

Rheinbach  b.  Bonn.  j.  Koch. 


Philosophisches  Jahrbuch  1913  2G 


Zeilschriftenschau. 


A.  Philosophische  Zeitschriften. 

1|  Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Herausgegeben  von 
E.  Meumann  und  W.  Wirth.  Leipzig  1913. 
26.  Bd.,  1.  uud  2.  Heft:  H.  Hofmann,  Untersuchungen  über  den 
Euipfiudungsbep:rift'.  S.  1.  Es  wird  untersucht,  „wie  sieh  das  als 
Empfindung  Definierte  zu  dem  in  der  Wahrnehmung  angeschauten  Sinn- 
lichen verhält,  ob  mit  dem  Begriffe  der  Empfindung  ein  in  sinnlicher  Wahr- 
nehmung (oder  Anschauung)  aufweisbarer  Tatsachenbereich  bezeichnet  wird, 
der  die  Objekte  einer  wissenschafthchen  Forschung  abgeben  kann".  Nach 
einer  Kritik  der  herkömmlichen  Begriffe  unterscheidet  der  Vf.  Stufen  der 
vi.suellen  Sinnlichkeit:  Atomding  und  Sinnending,  visuelles  Sinnending  und 
Sehding,  Sehding  und  „wirkliches  Ding",  Sehding  und  Dingerscheinung, 
,, sinnliches  Erlebnis"  und  „sinnUche  Anschauung".  In  Bezug  auf  den  Raum 
und  die  visuelle  Raumanschauung  unterscheidet  er:  „Wirklichen  Raum" 
und  Sehdingraum,  Erscheinungsraum  und  Anschauungsraum.  Lipps  be- 
hauptet, dass  wir  die  Entfernung  der  Objekte  von  uns  sehen.  „Wenn  er 
behauptet,  dass  sich  zwischen  uns  und  den  gegebenen  Objekten  nichts 
befinde,  so  ist  das  eine  falsche  Wiedergabe  des  eigenthchen  Tatbestandes". 
„Die  sinnliche  Tiefenwahrnehmung  als  solche  steht  tatsächlich  fest". — 
W.  Moede,  Die  psychische  Kausalität  und  ihre  Gegner.  S.  155. 
Der  Gegensatz  zwischen  Nativismus  und  Empirismus  ist  durch  den  Begriff 
der  Disposition  überwunden  worden:  aber  unüberwindbar  ist  der  zwischen 
deskriptiver  und  konstruktiver  Psychologie.  Denn  erstere  bestreitet 
die  Möglichkeit  exakter  kausaler  Synthesen,  „da  von  der  energetischen 
Gleichwertigkeit  der  konstituierenden  Elemente  eines  simultanen  oder  suk- 
zessiven Zusammenhangs  nnd  ihres  vermeintlich  kausal  ableitbaren  Effektes 
keine  Rede  .sein  könne".  „So  lange  die  Physiologie  eine  kausale  physiko- 
cheiiiisclie  Analyse  des  Nervensystems  nur  im  Minimum  erreicht  hat,  zu- 
mal sie  die  nervöse  Substanz  erst  abtötet,  uiu  methodisch  vorgehen  zu 
können,  und  so  lange  eine  einwandfreie  und  allseitige  rein  immanente 
Bearbeitung  des  Seelischen  durch  Kausal-  und  Funktionsbegriff  nicht  mög- 
licii  ist,  wird  die  Methode  der  Deskriptioii  die  einwandfreieste  sein,  die 
zudem  nocli  die  meisten  Ergebnisse  liefert".       V.  Honiuth,  Beiträge  zur 


Zeitschriftenschau.  403 

Kenntnis  der  Nachbilderscheinuugen.  S.  181.  I.  T. :  Längerdaueinde 
Reize.  Das  „Abklingen  der  Farben".  In  Bezug  auf  Helligiteit  ist  das  Nach- 
bild hell  bei  verdunkeltem  „Kern"  des  Primärbildes,  das  Nachbild  dunkler 
bei  hellem  „Rand"  des  Primärbildes,  das  Nachbild  sehr  hell  bei  dunklem 
„Rahmen"  des  Primärbildes,  der  „Hof"  des  Nachbildes  schwach  aufgehellt 
wie  das  Primärbild.  Nach  den  Feststellungen  des  Vf.s  beherrschen  Blau, 
ein  Purpurton  und  Gelb  das  Abklingen  farbiger  Reizung,  was  auch  mit 
den  Ergebnissen  von  Fechner  und  Helmholtz  ziemlich  übereinstimmt.  — 
Die  gewöhnliche  Erklärung  durch  Ermüdung  befriedigt  nicht.  Der  Be- 
griff des  Positiven  und  Negativen  ist  hier  unzulässig.  Auch  der  oszillatorische 
Charakter  der  Nachbilder  spricht  dagegen :  Diese  oszillierenden  Vorgänge 
weisen  auf  das^  Eigenlicht  hin,  sie  nehmen  eine  durchaus  selbständige 
Stellung  ein,  sie  beruhen  auf  physiologischen  Prozessen  unabhängig  vom 
Reize,  auf  die  schon  Martius  hingewiesen  hat.  Sie  bestehen  schon  im 
Primärstadium ,  werden  aber  durch  das  Reizlicht  zurückgedrängt.  Die 
Resultate  des  Vf.s  sprechen  für  eine  Komponententheorie,  aber  nicht  für 
die  Helmholtzsehe,  sondern  als  Grundfarben  sind  Blau,  Purpur,  Gelb  an- 
zusehen. Grün  ist  auszuschalten.  „Die  Einwirkung  des  Reizlichtes  auf 
sämtliche  Komponenten  des  Sehorgans  ist  der  alleinige  und  ausschliess- 
liche Grund  der  Vorgänge  des  Abklingens  wie  überhaupt  der  Nachbild- 
prozesse. Diese  Wirkung  entwickelt  sieh  im  Primärstadium,  vermag  aber 
hier  nicht  voll  zur  Geltung  zu  kommen,  da  die  dem  Reize  adäquate  Farbe 
überwiegt.  Im  Sekundärstadium  hingegen  können  die  angeregten  Prozesse 
im  freien  Spiele  ihre  Kräfte  messen.  Dabei  werden  sich  im  allgemeinen 
zuerst  und  am  stärksten  diejenigen  Qualitäten  im  Wettstreile  der  Farben 
hervordrängen,  welche  bisher  am  stärksten  gehemmt  waren,  das  sind  aber 
die  Gegenfarben",  —  Im  II.  Teil  gibt  Vf.  Neue  Feststellungen  über  die  Ge- 
staltung des  Primär-  und  Sekundärbildes.  Er  unterscheidet  „die  zeitlich 
zuerst  auftretenden  und  wenigstens  in  gewissen  Teilen  helleren  Partien  der 
Gesamterscheinung  als  Primärbild,  die  sich  direkt  anschliessenden  dunk- 
leren als  Ghost,  sekundäres  oder  Nachbild"  und  das  in  grösserem  Ab- 
stände vom  Ghost  folgende  öfter  beobachtete  Tertiärbild.  Sodann  werden 
die  Ergebnisse  für  die  einzelnen  Farben  mitgeteilt.  —  Literaturbericht. 
Berichtigung:  Hellpach  gegen  Lehman  hat  in  der  Fälschung  der 
empirischen  Ergebnisse  durch  die  mathematische  Bearbeitung  nicht  einen 
moralischen  Beigeschmack  intendiert. 

3.  und  4.  Heft :  Th.  Haering,  Untersuehung'en  zur  Psychologie 
der  Wertung.  S.  269.  ,,Auf  experimenteller  Grundlage,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  methodologischen  Fragen.  Die  bisherige  psychologische 
Werttheorie  leidet  an  Mängeln,  es  fehlt  ihr  die  experimentelle  Untersuchung ; 
das  Material  war  unvollständig  oder  unrichtig.  Der  Einwand,  dass  die  ex- 
perimentelle Untersuchung  künstliche,  erzwungene  Erlebnisse  zugrunde  legt, 
ist   hinfällig.     Die  Wertung    selbst    wird    sehr   verschieden   definiert.     Man 

■2a* 


404  Zeitschriftenschau. 

erhält  eine  vorläufige  Definition  „durch  die  wichtige  Bestimmung,  dass  nur 
ein  solcher  psychischer  Vorgang  (aber  auch  jeder  solche)  als  wirklicher 
und  genauer  Wertungsvorgang  zu  gelten  hat,  der  einen  Wert  wirklich 
konstituiert,  d.  h.  auf  Grund  dessen  ein  Wert  wirklich  für  das  jeweilige 
Bewusätsein  des  Wertenden  zu  Stande  kommt".  —  J.  Geyser,  Beiträge 
zur  logischen  und  psychologiseheu  Analyse  des  Urteils.  S.  361. 
Meinach  sucht  den  Psychologismus  von  Lipps  mit  dem  Objektivismus 
Husseils  zu  vereinigen.  Vf.  fasst  seinen  Standpunkt  zusammen  in  der  Be- 
stimmung von  Subjekt,  Prädikat  und  Kopula.  Zu  einem  Urteil  gehört  in 
erster  Linie  ein  Etwas,  über  das  geurteilt  wird.  Ein  jedes  derartiges  Etwas 
bezeichnen  wir  als  den  Gegenstand  des  Urteils,  wie  immer  es  beschaffen 
sein  möge,  ob  es  real  oder  ideal  existiere.  Nur  das  eine  Merkmal  ist  ihm 
wesentlich,  dass  es  dem  urteilenden  Denken  als  ein  von  ihm  unabhängiges, 
in  sich  selbst  bestimmtes  Objekt  gegenübersteht.  Der  Gegenstand  ist  das, 
was  man  das  Subjekt  des  Urteils  nennt.  Man  erkennt  ihn,  wenn  man 
fragt:  Ueber  welches  Objekt  macht  dieses  Urteil  eine  Aussage?  Zum  Urteil 
gehört  zweitens  ein  bestimmter  Begriff  und  die  Intention,  das  Verhältnis 
auszusagen,  welches  zwischen  dem  Gegenstande  und  dem  Inhalt  dieses 
Begriffes   objektiv  vorhanden   ist.     Hierin  stecken  demnach  drei  Momente: 

1.  der  zum  Träger  der  Intention  erhobene  Begriff,  er  gehört  zum  Prädikat; 

2.  die  genannte  Intention,  sie  heisst  Kopula ;  und  3.  das  Verhältnis  zwischen 
dem  (gegenstände  und  dem  Inhalte  des  Prädikatsbegriffes:  dieses  ist  der 
Sachverhalt.  Unter  dem  Sachverhalt  ist  dasjenige  zu  verstehen,  was  im 
Urteil  vom  Gegenstande  ausgesagt  wird.  Daher  ist  der  Sachverhalt  das 
Prädikat  des  Urteils,  während  der  Prädikatsbegriff  nur  ein  Bestandteil  des 
Prädikates  ist.  Der  Sachverhalt  ist  immer  notwendig  irgend  eine  Relation 
des  Gegenstandes,  und  zwar  entweder  eine  solche,  die  besteht,  oder  eine 
solche,  die  nicht  besteht  .  .  .  der  Sachverhalt  ist  in  erster  Linie  ein  am 
Gegenstande  objektiv  gegebener,  also  gegenständlicher.  Ihm  steht  gegenüber 
der  vom  Denken  in  Bezug  auf  den  Gegenstand  gesetzte  oder  ausgesagte 
Sachverhalt:  das  Prädikat  des  Urteils.  Dieser  ausgesagte  Sachverhalt  ist 
der  eigentliche  Träger  der  Wahrheit  oder  Falschheit.  Dass  er  unter  dieser 
Disjunktion  .steht,  rührt  von  seiner  Intention  her,  mit  dem  objektiven 
Sachverhalt  identisch  zu  sein.  Ist  diese  Identität  vorhanden,  so  ist  das 
Urteil  wahr,  im  anderen  Falle  falsch.  Die  Identität  des  vom  Denken  ge- 
setzten, mit  dem  am  Gegenstände  objektiv  vorhandenen  Sachverhalts  ist 
keine  nunierische,  sondern  eine  logische,  nämlich  eine  durch  gedankliche 
Abstraktion  von  den  beiderseitigen  Existenzialbeziehungen  gewonnene  Un- 
unterscheidbarkeit  des  hüben  und  drüben  vorhandenen  Inhalts  .  .  .  Die 
Kopula  setzt  sich  zusammen  aus  1.  der  Urteilsintention  und  2.  der  Ueber- 
zeugung  von  der  Objektivität  der  au.sgefiihrten  Intention.  Die  Kopula  als 
solche  ist  das  Prädikat  des  Urteils  .  .  .  Hieraus  ergibt  sieh,  dass  im  positiven 
und  negativen  Urteil  die  Kopula  ganz  die  gleiche  ist;  denn  in  beiden  Urteilen 


Z  e  1 1  s  c  h  r  i  { t  e  n  s  c  h  a  u.  405 

besteht  die  Intention,  den  objektiven  Sachverhalt  zu  erfassen,  und  die  Ueber- 
zeugung,  dass  dies  erfüllt  ist.  Im  negativen  Urteil  wird  demnach  die  Kopula 
durchaus  nicht  verneint.  Die  Verneinung  hat  vielmehr  ihre  Stelle  im 
Prädikat,  d.h.  in  dem  prädizierten  Sachverhalt.  Gewöhnlich  pflegt  der 
Prädikatsbegriff,  der  doch  nur  ein  Teil  des  Prädikats  ist,  mit  dem  Prädikat 
verwechselt  zu  werden  . . .  Dass  Kopula  und  Prädikat  zueinander  gehören, 
indem  die  Kopula  ohne  Prädikat  leer,  das  Prädikat  ohne  Kopula  blind 
wäre,  ist  selbstverständlich.  Das  Prädikat  führt  aus,  was  die  Kopula  inten- 
diert. Die  Kopula  andererseits  gibt  dem  Prädikat  die  urteilsmässige  Richtung 
auf  das  Subjekt,  und  macht  es  eben  dadurch  zum  Prädikat,  —  A.  Kroii- 
feld,  Ueher  Windelbands  Kritik  am  Phäiiomenalismiis.  S.  392. 
„Das  Selbstvertrauen  der  Vernunft  in  ihre  eigene  Wahrheit  ist  also  die 
Voraussetzung  allen  Erkennens,  sowohl  faktisch  als  auch  seiner  Möglichkeit 
nach  .  .  .  Damit  sind  beide  Seiten  der  Windelbandschen  Alternative  abge- 
wehrt :  der  Transzendentalismus  und  der  Psychologismus,  insofern  darf  die 
Wahrheit  von  Erkenntnissen  nicht  in  den  spezifisch  menschlichen  Vor- 
stellungsweisen, die  uns  Vernunftnotwendigkeiten  ins  Bewusstsein  bringen, 
gesucht  werden,  und  ebensowenig  in  den  psychologischen  Untefsuchungen, 
welche  diese  Vorstellungsweisen  an  der  Vernunft  verankern  oder  von  ihr 
ablösen'-.  —  A.  Schackwitz,  Ueber  die  Methoden  der  Me-sung  ua- 
bewusster  Bewegungen  und  die  Möglichkeit  ihrer  Weiterbildung. 
S.  414.  Untersucht  wurden  Physiognomie,  Pupille,  Harnblase,  Atmung, 
Herz,  Puls,  Blutmasse,  willkürliche  Muskulatur  speziell  an  den  Händen.  In 
Bezug  auf  letztere  zeigten  die  vun  einem  andern  Apparat  gelieferten  Kurven- 
abschnitte ,,1.  die  dreidimensionale  Analyse  des  Nornialtremors  eines  Fingers, 
2.  Veränderungen  der  Stärke  und  der  Richtung  des  Tremors  bei  ver- 
schiedenen Einflüssen;  3.  kleinste  unwillkürliche  Fingerbewegungen  a.  bei 
Bewegungen  anderer  Glieder,  b.  bei  Sprechen  und  Singen,  c.  beim  Nennen 
gedachter  Worte".  „Bei  dem  Studium  der  mimischen  Ausdrucksbewegungen 
erweist  sich  die  einfache,  wie  die  Serienphotographie  als  geeignete  Methode. 
Besseren  Aufschluss  gibt  uns  die  Stereoskopphotographie,  die  es  erlaubt, 
die  im  Raum  ausgedehnte  Welt  physiognomischer  Erscheinungen  drei- 
dimensional zu  fassen".  —  H.  Boehm,  Der  zweite  deutsche  Soziologeu- 
tag  \20.  — 22.  Okt.  1912  zu  Berlin).  —  XVII.  Internationaler  Medizinischer 
Kongress  in  London,  6.  -  12.  August  1913.    Programm.   -~  Literaturberichf. 

2]  Zeitschrift  für  Psychologie.  Herausgegeben  von  F.  Schu- 
mann. 1913. 
64.  Bd.,  1.  und  2.  Heft:  G.  Hoymaiis,  lu  Sache»  des  psychischen 
Monismus.  S.  1.  McDougall  behauptet,  die  Ergebnisse  der  Psychical  research. 
von  denen  das  erste,  Telepathie,  sicher  nachgewiesen,  die  Anmeldungen 
Sterbender  noch  der  Bestätigung  bedürften,  seien  nur  dualistisch  zu  er- 
klären.    Dagegen   hält  sie  Heymans  mit  dem  psychischen  Monismus  recht 


106  Zeit  seh  riflenschau. 

wohl  verträglich.  „Der  psychische  Monismus  glaubt  es  wahrscheinlich  ge- 
macht zu  haben,  rlass  dasjenige,  welches  sich  durch  Vermittlung  der  Sinne 
nicht  nur  in  den  Gehirn-,  sondern  auch  in  den  sonstigen  Naturerscheinungen 
üflenbart,  an  und  für  sich  ein  Psychisches  ist ;  er  denkt  sich  demnach  die 
Welt  als  ein  ungeheueres  System  von  psychischen  mit  dem  gegebenen 
Bewusstsein  wesensgleichen  Prozessen".  Die  Abgeschlossenheit  unseres 
eigenen  psychischen  Systems  ist  nur  eine  relative  und  vorübergehende. 
Dafür  sprechen  besonders  die  uns  zufällig  einfallenden  Gedanken.  Fechner 
würde,  wie  früher  die  spiritistischen  Erscheinungen,  jetzt  mit  mehr  Recht 
die  der  P.sychical  research  mit  Freuden  als  Bestätigung  seiner  „Tages- 
an.sicht"  begrüssen.  —  Paula  Meyer,  lieber  die  Reproduktion  einge- 
prägter Figuren  und  ihrer  Stellungen  bei  Kindern  und  Erwachsenen. 
S.  34-.  „1.  Kinder  sind  zu  solchen  Versuchen  von  einem  Alter  von  sieben 
Jahren  ab  brauchbar.  2.  Kinder  haben  eine  grössere  Neigung  als  Erwachsene, 
Lagefehler  zu  begehen.  3.  Spiegelbilder  wurden  häufiger  gezeichnet,  als 
Vertauschungen  von  Oben  und  Unten  vorkommen.  4.  Bei  der  Wiedergabe 
der  Figuren  spielten  Grössenfehler  eine  bedeutende  Rolle.  Kinder  lieferten 
mehr  Verkleinerungen  und  weniger  Vergrö.sserungen  als  Erwachsene.  5.  Die 
Resultate  sind  wenig  geeignet,  uns  über  den  Einfluss  Auskunft  zu  geben, 
den  die  fortschreitende  Zeit  auf  eingeprägte  visuelle  Formen  ausübt.  6.  Das 
Einprägen  und  Behalten  der  Lage  der  Figuren  .  .  .  wird  durch  sichtbare 
Objekte  der  Umgebung  nicht  gefördert  ...  7.  Grössere  Figuren  werden 
(innerhalb  gewisser  Grenzen)  wegen  ihrer  grösseren  Eindringlichkeit  sowohl 
ihrer  Form  als  auch  ihrer  Lage  nach  besser  behalten  als  kiomere  .  .  . 
8.  Wird  die  Stellung,  welche  die  Ebene  der  Figur  zur  Versuchsperson  be- 
sitzt, bei  den  Versuchen  variiert,  so  ist  die  Art  und  Weise,  wie  die  Figuren- 
stellung eingeprägt  wird,  je  nach  dem  Typus  der  Versuchsperson  sehr  ver- 
schieden ...  9.  Die  Vorführungsstellung  (Nullstellung)  fand  im  Vergleich 
zu  den  übrigen  Stellungen  sowohl  hinsichtlich  der  Treffer  als  auch  hin- 
sichtlich der  falschen  Nennungen  eine  bedeutende  Bevorzugung,  als  sie 
zugleich  eine  Stellung  war,  die  im  normalen  Blickfelde  frontalparallel  und 
senkrecht  zur  Blickrichtung  war  ...  10.  Im  Zusammenhang  mit  der  Be- 
vorzugung der  Voriührungsstelle  steht  es,  dass  die  Trefferzahl  bei  gleicher 
Abweichung  von  der  Nullstellung  um  so  grösser  war,  um  je  mehr  Grade 
die  Stellung  von  der  Nullstellung  abwich".  —  W.  Köhler,  Akustische 
Untersuchungen  III  und  IV.  S.  92.  (Vorläufige  Mitteilung.)  „Als  obere 
Hörgrenze  wird  zur  Zeit  von  den  meisten  der  Wert  20C00v.  d.  angegeben. 
Aber  darüber  hinaus  hört  man  noch  nicht  bloss  ein  Geräusch,  sondern  ein 
s,  noch  höher  ein  f  und  zuletzt  ein  eh.  „Es  ist  darnach  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit zu  erwarten,  dass  nähere  Untersuchungen  die  normale  obere 
Hörgrenze  (von  der  Intensität  abhängig)  in  dem  Bereich  zwischen  34000 
und  68000  v.d.  (äusserste  Möglichkeit,  falls  keine  Qualität  mehr  folgt  und 
das  Oktavengesetz  hier  noch  gelten  sollte)  festlegen  werden".    Zur  Theorie 


Zeit  Schriften  schau.  407 

der  Klänge    fand    sich    durch  Versuche    an    gesungenen  Klängen,    „dass 
nicht  derjenige  Teilton  allein,  der  mit  dem  betreffenden  ausgezeichneten 
Punkt   der  Vokalreihe    zusammenfällt    oder    ihm    am   nächsten    liegt,    den 
ganzen  Klang  z.  B.  zum  ,A'  macht,  dass  vielmehr  wohl  alle  Teiltöne  über- 
haupt,   die  eine  A-Valenz  haben,    für   die  A-Färbung   des  Ganzen  verant- 
wortlich sind".     Die  Einheit   der  Teiltöne    in    der  Empfindung   ist   nach 
Helmholtz  Schein.     Nach  Stumpf   erklärt  sich  diese  durch  Verschmelzung 
und   durch  Verminderung   der   Intensität   eines  Tones    durch    gleiclizeitige 
andere.     Dies  modifiziert  Vf.  dahin :  „Aus  den  angeführten  Beobachtungen 
ergibt  sich  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  die  Folgerung :  In  einem  Vokal- 
klang verbleiben  die  Teiltöne  nicht  völlig  selbständig  neben  einander,  sondern 
treten  irgendwie  zu  einem  resultierenden  Ganzen  zusammen.   Was  heraus- 
gehört wird,    sind    nicht  ,die'  Teiltöne,    sondern  Reste  von  ihnen,    die  bei 
der  Verbindung   überschüssig   bleiben    und    die    für   den   Gesamtcharakter 
relativ  gleichgültig  zu  sein  scheinen".    Aehnlichcs  gilt  wohl  von  der  Klang- 
farbe überhaupt.     Siebeck  räumt  dabei  dem  Grundton  eine  Sonderstellung 
ein,  indem  er  ihn  durch  die  Obertöne  bzw.  deren  Reste  verstärkt  sein  lässt. 
„Davon  können  wir    nichts  konstatieren,    und    haben    deshalb    immer  von 
Teil  tönen,    nicht  von  Obertönen  gesprochen:    auch  der  ,herausgehörte' 
Grundton   ist   oft    nur    ein    ziemlich    unbedeutender  Rest,    auch  was  vom 
Grundton  dem  Gesamtcharakter  beigesteuert  wird,  geht  völlig  in  das  ,Ganze' 
ein.     Wir    sind    freihch    gewohnt,    allein  vom    Grundton    die    musikalische 
Tonhöhe  eines  Klanges  bestimmt  zu  denken,    und    ich  will    gern  zugeben, 
dass    die    hier    skizzierte    Anschauung    dieser    Gewohnheit    einigermassen 
widerspricht.     Doch  ist  die  herkömmliche  Auffassung  an  sich  schon  meh- 
i-eren  —  aber  wenig  beachteten  -  Bedenken  ausgesetzt".  ~  Besprechungen. 
—  Literaturbericht. 

3.  und  4.  Heft:  Catharina  v.  Maltzev,  Das  Erkennen  sukzessiv 
gegebener  musikalischer  Intervalle  in  den  äusseren  TonreAionen. 
S.  161.  „Hauptergebnisse:  !.  Die  Beurteilung  von  Sukzessivintervallen 
kann  weder  als  eine  Erkennung  der  Ver3chmelzungs^^tufen,  noch  als  solche 
von  Distanzgraden  aufgefasst  werden.  2.  Jeder  Intervallbeurteilung 
im  strengen  Sinne  liegt  ein  einfacher  Bewusstseinsinhalt  zugrunde,  der  un- 
mittelbar wiedererkannt  und  beurteilt  wird.  Diesen  Inhalt  nennen  wir 
Schritt-  oder  Uebergangserlebnis.  3.  Die  Uebergangserlebnisse  lassen  .^ich 
einteilen  in  mehr  und  in  weniger  leicht  erlebbare.  Je  häufiger  musikalisch 
angewandt  und  zugleich  je  enger  ein  Schritt  ist,  um  so  leichter  ist  er  im 
allgemeinen.  Dieser  Annahme  entspricht  die  Tatsache,  dass  Sekunden, 
Terzen,  Oktaven,  Quinten,  Quarten  viel  häufiger  richtig  beurteilt  worden  sind 
als  kleine  Septime,  kleine  Sexte,  Tritonus,  grosse  Septime.  4.  Die  Ver- 
wechselungen von  Intervallen  lassen  sich  unter  Zuhilfenahme  der  Hypothese 
begreifen,  dass  an  den  Uebergangserlebnissen  wie  an  anderen  Bewusstseins- 
inhalten  auch  die  Gesetze  des  Erinnerns  und  Vergessens  wirksam  werden. 


408  Zeitschrift  enschau. 

a)  Wenn  ein  Bewusstseinsinhalt  mit  einem  bestimmten  Namen  assoziiert  ist, 
so  vermag  nicht  nur  ein  ihm  gleicher  Inhalt,  sondern  vermögen  auch 
innerhalb  gewisser  Grenzen  ähnliche  Inhalte  denselben  Namen  zu  repro- 
duzieren. Dadurch  werden  die  Verwechselungen  der  Sekunden,  Terzen, 
Sexten  und  Septimen  paarweise  unter  einander,  sowie  auch  die  Verwechse- 
lungen der  Terzen  mit  Sexten,  der  Quinten  und  Quarten  mit  Oktave,  der 
Septimen  mit  Trifonus  verständlich,  b)  Eine  zweite  Wirkung  des  Gedächt- 
nisses besteht  darin,  dass  Intervalle,  welche  auf  Grund  musikalischer  Er- 
fahrung geläufiger  sind ,  eine  starke  Reproduktionstendenz  besitzen,  durch 
deren  Einfluss  stall  ungewohnter  Schritte  entweder  sofort  oder  im  Gedächt- 
nis gewohntere  im  Bewusstsein  auftreten ;  hierin  liegt  die  Erklärung  für 
Verwechselungen  wie  die  der  grossen  Septime  mit  der  Oktave,  der  kleinen 
Septime  mit  der  grossen  Sexte,  des.  Tritoniis  mit  Quarte  und  Quinte. 
c)  Ein  dritter  Einfluss  endlich  ist  der  der  Perseveration,  welche  besonders 
in  der  Sgestrichenen  Oktave  von  grosser  Wirkung  war.  Es  perseverierten 
wie  einzelne  Tonhöhen  so  auch  die  Schritte  selbst.  5.  Zu  dieser  Gedächtnis- 
hypothese muss  noch  eine  andere  hinzukommen,  nämlich  die  Hypothese, 
dass  die  wahrgenommenen  Tonhöhen  in  der  zweiten  Hälfte  der  4gestrichenen 
Oktave  sowie  in  der  ersten  Hälfte  der  Kontraoktave  von  dem  abweichen, 
was  man  der  Schwingungszahl  nach  erwarten  sollte  (normales  Falschhören), 
fi.  Die  , Gedächtnistheorie'  konnte  durch  Versuche,  in  denen  Schritte  nach- 
zusingen sind,  bestätigt  werden".  Uebrigens  kommt  neben  dem  Schriti- 
bewusstsein  auch  eine  Erschliessung  des  Intervalls  und  der  absoluten  Ton- 
höhen vor.  —  W.  Baade,  Ueber  Uiiterbrechungsversuclie  als  Mittel 
zur  Uiiterstützuni;^  der  Selbstbeobachtung.  S.  258.  Das  Prinzip  des 
Unterbrechungsversuchs  ist  einfach:  „Man  richtet  an  einen  Menschen,  in 
dessen  Bewusstsein  sich  eben  Prozesse  von  der  Art,  wie  man  sie  unter- 
suchen will,  abspielen,  die  (unerwartete)  Aufforderung,  zu  beschreiben,  was 
er  soeben  gedacht  habe,  ,welche  psychischen  Erlebnisse  er  soeben  gehabt 
habe'  .  .  .  Soll  dieses  Verfahren  in  der  Hand  des  Psychologen  ein  zu  syste- 
matischer und  wiederholter  Beobachtung  dienendes  Werkzeug  abgeben,  so 
bedarf  es  dazu  in  vielen  Fällen  gewisser  methodischer  Zurüstungen ,  von 
denen  einige  im  folgenden,  von  mir  im  Laufe  des  letzten  Jahres  aus- 
probierte besprochen  werden  sollen".  Es  fand  sich:  „I.  Hauptfall.  Nach 
der  Unterbrechung  tritt  an  erster  Stelle  eine  auf  den  im  Moment  der 
Unterbrechung  oder  unmittelbar  vorher  erlebten  Bewusstseinsprozess  (den 
,letzterlebten'  Bewusstseinsprozess)  bezügliche  psychologische  Apperzeption 
auf  ...  II.  Hauptfall.  Nach  der  Unterbrechung  traten  zunäcLst  eine  oder 
mehrere  nicht  auf  den  ,letzterlebten'  Bewusstseinsprozess,  sondern  auf  einen 
oder  einige  der  weiter  zurückliegenden  Prozesse  bezügliche  psychologische 
Apperzeptionen  auf".  „Der  vollkommene  Unterbrechungsversuch  gewährt 
die  Möglichkeit,  eine  auf  unmittelbare  Selbstbeobachtung  beruhende  Be- 
schreibung  auch    für  solche  Bewusstseinsprozesse  herbeizuführen,   welche 


Zeitschriftenschau.  409 

sonst  nur  der  rückschauenden  Selbstbeobachtung  zugänglich  sind".  Be- 
sprechungen. —  Literaturbericht. 

5.  und  ß.  Heft:  Gabriele  v.  Wartensleben,  Ueber  den  Einttuss 
derZwischenzeitJauf  die  Reprodiüition  gelesener  Buchstaben.  S.  321. 

Finzi  hatte  gefunden ,  dass  nicht  unmittelbar  nach  der  Darbietung  am 
besten  reproduziert  werde,  sondern  erst  nach  4  Sekunden,  uni  dann  immer 
mehr  zu  sinken.  Dagegen  ergab  sich  aus  den  Versuchen  der  Vf  :  „1.  Das 
Gesamtbild  der  Versuchsresultate  zeigt,  und  zwar  ausnahmslos  überein- 
stimmend bei  sämtlichen  Versuchspersonen,  dass  für  die  Vorgänge,  welche 
in  die  Zwischenzeit  fallen,  jeweils  so  sehr  verschiedenartige  Umstände  in 
Betracht  kommen  müssen,  dass  weder  überhaupt  noch  im  allgemeinen  für 
die  einzelnen  Versuchspersonen  die  Länge  der  notwendigsten  oder  der 
optimalen  Zwischenzeit  zahlenmässig  bestimmbar  ist.  Es  ergab  sich  viel- 
mehr, dass  die  einzelnen  Versuchspersonen  in  Folge  der  verschiedenartigen, 
während  dieser  Zeit  sich  abspielenden  Prozesse  von  Versuch  zu  Versuch 
Schwankungen  hinsichtlich  der  notwendigen  und  der  optimalen  Zeit  aus- 
gesetzt waren,  die  zwischen  0"  bis  ca.  15"  liegen,  und  in  ihrer  Verur- 
sachung durchans  diskrepant  sind.  2.  Die  Zwischenzeit  hatte  bei  der  Mehr- 
zahl der  Versuchspersonen  einen  grossen  Einfluss  auf  den  Umfang  der 
Gesamtreproduktion  und  insbesondere  auf  den  der  richtigen  Reproduktion, 
da  vielfach  die  Erkennungsvorgänge  sich  erst  später  vollzogen  oder  voll- 
endeten. Bei  einzelnen  Versuchspersonen  liess  sich  sogar  ein  Prozentsatz 
der  durch  die  Zwischenzeit  gewonnenen  richtigen  Buchstaben  feststellen. 
3.  Es  kam  häufig  vor,  und  zwar  insbesondere  dann,  wenn  das  Signal  sofort 
oder  schon  nach  2"  oder  4"  erfolgte,  dass  die  Versuchspersonen  angaben, 
mit  dem  Erkennen  oder  Einordnen  der  Buchstaben  oder  mit  dem  Umsetzen 
in  die  akustisch-motorischen  Bilder  noch  nicht  fertig  zu  sein,  so  dass  die 
Aufforderung  zum  Hersagen,  weil  zu  früh,  als  schädlich  für  die  Erfüllung 
der  Aufgabe  sich  erwies  .  .  .  Dazu  kommt,  dass  es  bei  den  meisten  Ver- 
suchspersonen vorkam,  dass  sie  nach  dem  Signal  noch  einen  Moment  mit 
der  Aussprache  zögerten.  4.  Es  fallen  indes  in  die  Zwischenzeit  nicht 
nur  Momente,  die  die  Erfüllung  der  Aufgabe  begünstigen,  sondern  auch 
solche,  die  sie  schädigen.  Dies  sind  insbesondere  Kämpfe  und  Schwankungen 
im  optischen  Vorstellungsbild,  sowie  auch  akustische  Schwierigkeiten,  die 
sich  während  desselben  einstellen.  5.  Ein  eindeutiger  Einfluss  der  Zwischen- 
zeit auf  den  Umfang  der  richtigen  Reproduktion  hat  sich  nicht  ergeben, 
was  sich  wohl  vollauf  durch  die  Konkurrenz  des  vorerwähnten  teils  be- 
günstigenden und  teils  hemmenden  Einflusses  der  Vorgänge  in  derselben 
auf  die  Leistung  erklärt.  6.  Ebensowenig  eindeutig,  aber  aus  den  näm- 
lichen Gründen  ebenso  erklärlich,  sind  Beurteilungen  des  subjektiven  Ein- 
drucks der  Zwischenzeit  seitens  der  einzelnen  Versuchspersonen  .  .  .  Die 
Tatsache,  dass  fehlende  oder  falsche  Lokalisation  so  sehr  oft  die  Sicherheit 


410  Zeitschriftenschau. 

stört,  sowie  die  weitere  Tatsache,  dass  das  Ortsbewusstsein  allein  im  stände 
ist,  sichere  Reproduktion  auch  sogar  von  vorher  nicht  Erkanntem  zu  be- 
wirken, legt  nahe,  dass  zwischen  der  Bedingung  für  die  Sicherheit  und 
dem  Ortsbewusstsein  ein  enger  Zusammenhang  bestehen  muss,  der  durch 
assoziative  Verknüpfung  nicht  hinreichend  erklärt  scheint".  —  Müller- 
Freieiifels,  Typenvorstellung  und  Begriff.  S.  386.  Bisher  hat  die 
Logik  die  psychologische  Erklärung  des  Begriffes  beeinflusst,  es  ist  aber 
die  Frage,  „was  ist  der  psychologische  Befund  im  Denken  von  Begriffen?" 
.,AbzuU'hnen  ist  die  Anschauung,  es  seien  die  Vorstellungen  nichts  weiter 
als  Reproduktionen  von  Empfindungen  resp.  Empfindungskomplexen".  „Wir 
können  ja  Vorstellungen  bilden,  in  welchen  die  Empfindungselemente  nicht 
mitreproduziert  werden".  Vielmehr  spielen  Gefühle,  motorische  Phänomene, 
besonders  Sprachbewegungen  eine  Hauptrolle.  „Jede  Vorstellung  ist  bereits 
typisiert  und  generalisiert.  Individualvorstellungen  und  Allgemeinvorstellungen 
brauchen  nur  graduell  verschieden  zu  sein  .  .  .  Ein  grosser  Teil  unserer  ge- 
samten Geistestätigkeit  ist  rein  symbolischer  Natur".  —  Besprechungen. 
—  Literaturbericht. 

3]  Zeitschrilt  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik, 

herausgeg.  von  H.  Schw^arz.     1912. 

148.  Bd.,  2.  Heft:  J.  Ferber,  Piatos  Polemik  gegen  die  Lust- 
lehre. S.  129.  Es  spiegelt  sich  in  allem,  was  Plato  über  die  Lust  sagt, 
der  Charakter  seiner  Philosophie,  besonders  seiner  Ethik  wieder,  ihr  In- 
tellektualismus und  ihr  weitabgewandter  Ideahsmus.  Aber  wie  üie  Ideen- 
lehre hat  auch  Platos  Ethik,  speziell  seine  Ansicht  vom  Wert  der  Lust, 
im  Laufe  der  Jahre  eine  Veränderung  durchgemacht.  Zwar  erinnert  es  noch 
an  die  bis  ins  Aszetische  gesteigerte  Herbheit  seiner  früheren  Jahre,  wenn 
er  so  manche  Art  harmloser  oder  gar  edler  Lust  verwirft,  gelegentlich  mit 
einer  gewissen  Gehässigkeit  die  Lust  charakterisiert,  oder  wenn  er  von  dem 
dem  Denken  geweihten  lust-  und  leidlosen  Denken  zuweilen  wie  von  etwas 
Göttlichem  redet.  Aber  dem  steht  doch  gegenüber,  dass  Plato  überhaupt, 
wenn  auch  in  noch  so  beschränktem  Umfang,  eine  gute  Lust  im  Philebus 
anerkennt  .  .  .  Zwischen  Feinden  und  Freunden  der  Lust,  zwischen  Kynikern 
und  Kyrenaikern  seinen  Standpunkt  wählend,  hat  er  versucht,  beiden 
Parteien  gerecht  zu  werden,  dem  eigenen  Ideal  treu  zu  bleiben  und  zu- 
gleich den  Bedürfnissen  des  Lebens  Rechnung  zu  tragen.  —  A.  Reinacli, 
Die  UebPiiegung,  ihre  ethische  und  rechtliche  Bedeutung.  S  181. 
Zunächst  von  der  intellektuellen  Ueberlegung.  Dabei  sind  emotionale  Ele- 
mente so  viel  als  möglich  auszu.schalten ;  das  ist  kaum  möglich,  sie  sind 
aber  nicht  wesentlich  dem  Ueberlegen.  Aber  die  Konstruktion  eines  Sub- 
jektes, das  ohne  jede  Anteilnahme  seine  Willensakte  überlegend  vorbereitet, 
ist  nicht  mögUch.  —  Rezensionen.  —  Erwiderung  Sterns  gegen  W.  Kinkel 
und  Antwort  Kinkels. 


Zeit  .schriftenschau.  411 

149.  Bd.,  1.  Heft:  J.  Rehinkc,  Aiimi'rkungeii  zur  (i  rund  Wissen- 
schaft. S.  1.  Bewusstsein  und  Subjekt  —  Ding  und  Ort.  Jedes 
Einzelwesen  ist  ein  „Unikum",  es  ist  Einziges,  die  Bestimmtheiten  und 
Eigenschaften  dagegen  sind  allgemeine.  Alles  Einzelwesen  ist  Veränder- 
liches, alles  Allgemeine  ist  UnveränderHches,  wo  es  kein  Nacheinander  gibt. 
„Wir  alle  wissen  uns  selbst,  aber  ein  jeder  als  ein  Veränderliches,  das 
sich  unserer  zergliedernden  Betrachtung  als  die  Einheit  von  Augenblicks- 
einheiten im  Nacheinander  darstelU".  Der  „Ort"  ist  neben  Grösse  und 
Gestalt  die  dritte  „Dingbestimmtheit",  die  wir  ebenso  sehen  wie  Grösse  und 
Gestalt,  und  gehört  ihm  ebenso  an  wie  dieser.  -  A.  Reinacli,  Die  Ueber- 
legung,  ihre  ethische  und  rechtliche  Bedeutung.  8.  30.  Die  volun- 
taristische  Ueberlegung  geht  auf  den  Wert  des  Projektes  und  auf  das 
Interesse  für  mich.  Beide  können  aber  mit  einander  konkurrieren.  „Die 
Interpretation  unseres  Strafgesetzes,  an  der  wir  uns  bisher  orientiert  haben, 
ist  keineswegs  die  einzig  mögliche.  Man  hat  für  sie  historische,  dogma- 
tische und  Gründe  kriminalpoUzeilicher  Natur  geltend  gemacht".  —  A. 
Korwann,  Dorners  Kritik  des  Pessimismus.  S.  58.  „Hartmann  ist 
infolge  seines  Pessimismus  bzw.  Pejorismus  weder  im  Naturalismus  stecken 
geblieben,  noch  hat  er  sich  über  denselben  erhoben,  ,ohne  den  vernünftigen 
Geist  zu  erreichen' ;  er  hat  vielmehr  in  grandiosem  Gedankenflug  sich  auf- 
geschwungen zu  diesem  Geiste,  sofern  er  ihn  erkannt  und  erreicht  hat". 
—  W  Moog,  Zur  Kritik  der  Erkenntnistheorie.  S.  86.  Beschäftigt 
sich  mit  Nelson  „Ueber  das  sogenannte  Erkenntnisproblem"  und  .J.  Rehmke 
„Philosophie  als  Grundwissenschaft".  -  H.  Nohl,  Eine  historische  Quelle 
zu  Nietzsches  Ferspoktivismus.  S.  106.  Dies  ist  Teichmüller,  „Die 
wirkliche  und  scheinbare  Welt".  „So  braut  sich  der  Trank  dieses  Apper^^us 
aus  fremden  Ingredienzen".  Und  doch  hat  er  sich  so  leidenschaftlich 
gegen  entlehntes  Denken  ereifert.  „Was  wirklich  Nietzsche  ganz  allein 
bleibt,  ist  seine  tiefwühlende  Uebertragung  der  ideahstischen  Kritik  seit 
Kant  und  deren  Mut  auf  das  Gebiet  des  Sittlichen,  der  Werte  und  vor  allem 
jeder  Abhängigkeit  von  der  reUgiösen  Metaphysik  und  allen  ihren  ,rück- 
läufigen  Schleichwegen'".  —  A^rsammluug  des  ersten  deutschen 
Soziologenkougresses.  S.  115.  Alle  Vorträge  durchzieht  die  Frage,  ob 
jedes  Werturteil  aus  einer  Untersuchung,  die  nur  der  Wahrheit  und  Wissen- 
schaft dienen  will,  zu  verbannen  sei.   -    Rezensionen. 

2.  Heft:  J.  Müller,  Martin  Deutinger.  S.  129.  Ein  Gedenkblatt 
zu  semem  100.  Geburtstage  am  24.  März  1915.  „Nicht  als  Genius  ersten 
Ranges,  aber  als  vermittelndes  Glied  in  den  Strömungen  des  19.  Jahr- 
hunderts, als  Vertreter  der  Persönlichkeitskultur  auf  christlicher  Grundlage, 
als  konzilianter  nobler  Geist  in  den  Parteikämpfen  der  Zeit  verdient 
Deutinger  seine  Stelle  in  der  inneren  Geschichte  der  Gegenwart".  —  A. 
Rüge,  Die  Begriffe  der  Philosophie  und  die  Idee  einer  inter- 
nationalen Bibliographie  für  Philosophie.  S.  140.     Vortrag  auf  dem 


41'2  Zeitsc-hrif  f  enschau. 

4.  internationalen  Kongress  für  Philosophie,  der  die  Einrichtung  einer  sol- 
chen Bibliographie  begründen  sollte.  —  K.  Geissler,  Die  Massordnungen 
als  Formen  der  menschlichen  Erkenntnis.    S.  150.    „Statt  von  ver- 
schiedenen Weitengebieten  des  Räumlichen  oder  überhaupt  des  Ausgedehnten 
zu  sprechen  .  .  .  könnte  man   auch  .sagen :    Es  gibt  verschiedene  Massord- 
nungen der  Raumvorstellung  oder  übersinnliche  Massordnungen,   und  man 
kann  sich  nicht  damit  begnügen,    den  Raum   als   eine  Form   der  mensch- 
lichen Erkenntnis  hinzustellen,  sondern  als  eine  anschauliche,  bei  der  man 
scharf  unterscheiden   muss   zwischen  Ordnungen".  —  H.  E.  Timerding, 
Das  Gesetz  der  grossen  Zahlen.    S.  164.     Das  Gesetz   kann  nicht  im 
Sinne  Bernoullis  und  Pois.sons   aus  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  allge- 
mein begründet  werden  —  A.  Coralnik,  Zur  Kritik  der  mathematischen 
Logik.  S.  183.    „Alle  die  Probleme  der  Logik  bleiben  auch  in  der  Logistik 
ungelöst,  die  alten  Schwierigkeiten  sind  nicht  überwunden".  Der  Standpunkt 
an  sich  ist  ja  richtig:    die  Ausschaltung   des  Klassenbegriffs   und   die  Ein- 
setzung des  Relativbegriffs.    Aber  bei  näherem  Licht  betrachtet  taucht  auch 
bei  Russell   und    den    iibrigen   Logistikern    der  Klassenbegriff  in  der  einen 
oder  anderen  Verkleidung  hervor.    Und  was  kann  da  eigentlich  die  mathe- 
matische Methode  bieten?    Die  Mathematik  übte  seit  jeher  einen  ganz  be- 
sonderen Zauber   auf  die  Geister   aus  .  .  .  Die  Mathematik  ist  eine  eigene 
Form,  vielleicht  eine  komplizirtere,  feinere,  aber  vielleicht  gerade  deswegen 
der  Wirklichkeit    am  wenigsten    adäquate.     Es    s6i    denn  wie    immer,    die 
mathematische  Logik    ist   keine   Mathematik    und    kann    es    nicht  werden : 
denn  wenn  auch  die  Mathematik  bloss  Logik  sein  sollte,   so    ist   auch  das 
nur  eine  Logik  sui  generis,  die  auf  kein  anderes  Gebiet  des  Denkens  über- 
tragen werden  kann.  —  P.  Petersen,  I.  Referat  über  psychologische 
Literatur.     Das  Jahr  1912.  —  Rezensionen. 

4]  Annales  de  philosophie  chretienne.  Fondateur:  A.  Bonne tty. 

Secretaire  delaRedaction  :  L.  Laberlhonniere.    Paris,  Blond. 

Revue  mensuelle.  /'>.  20. 
H2«  annee,  1911,  II,  Nr.  l-«.  F.  Archambault,  Une  inorale 
individualiste :  la  science  de  la  morale  de  Ch.  Renonvier.  p.  5,  149, 
272,  337.  Die  Moralphilosophie  Renouviers  ist  nichts  anderes  als  der 
Individualismus  des  18.  Jahrhunderts  und  der  Iranzösischen  Revolution, 
auf  kanti.sche  Formeln  gebracht  und  durch  eine  neue  Theorie  vom  Kriegs- 
zustande vervollständigt.  —  V.  Warrain,  La  substance:  p.  40,  113. 
1.  Der  Begriff  der  Substanz,  2.  Kennzeichnung  der  Substanz.  3.  Das 
Verhältnis  der  Substanz  zu  Materie  und  Form.  —  G.  Fonsegrive,  Intuition, 
scntiment,  valeur.  p.  22.5.  Ueber  die  Verschiedenheit  dieser  drei  Be- 
griffe. -  J.  Martin,  La  liberte.  p.  353.  Ueber  das  Verhältnis  der 
menschlichen  Freiheit  zum  Wissen  und  \Vollen  Gottes.  —  L.  Laber- 
thouniere,    La   thöorie    de    la    foi    chez    Descarte;^.    p.  382,    617. 


Zeitschriftenschau.  413 

1.  Glauben  und  Wissen  nach  Descartes.  2.  Die  persönhche  Stellung 
Descartes'  zur  Religion.  3.  Sein  angeblicher  Rationalismus.  —  A.  Leger, 
La  (loctrine  de  Wosley.  p.  449,  561.  —  Ch.  d'Hellencourt ,  De 
l'aetivit'  exterieure  chez  les  iiiystiqiies  chretiens.  p.  493.  Wie  bildet 
sich  der  Mystiker?  Wie  lebt  er?  Wie  treibt  ihn  sein  inneres  Leben  zur 
äusseren  Tätigkeit?  —  P.  Vulliaiid,  La  doctrine  esoterique  des  Juifs. 
p.  602.  —  Bibliographie:  p.  74,  187,  291,  404,  524,  641. 

83«  annee,  1912,  I,  Nr.  1—6.    L.  Olle-Laprune,  La  philosophie 

au  College,  p.  5.  Ueber  die  rechte  Methode  des  philosophischen  Unterrichtes. 

L.  Cauet,  Pascal  et  la  theologie.  p.  18,     Die  Antinomie  von  Glauben 

und  Wissen  und   ihre  Auflösung   im  Systeme  Pascals.    —   A.  Leger,   La 

doctrine  de  Wesley.  p.  40,  136.  (Fortsetzung  und  Schluss.)  —  L.  Cauet, 

Un  peiutre:  Eugene  Carriere.  p.  119.    Kurzer  Auszug  aus  dem  Werke 

Seailles' :    „Eugene  Carriere,  Versuch  einer  psychologischen  Biographie".  — 

Ch.  Dunau,  La  variabilite  des  essences.  p    225.   Die  Einheit  der  Natur 

verlangt   die  Veränderlichkeit   der  Wesenheiten.  —   .T.  Paliard,   La  con- 

naissauce,   ä  la  liiuite  de  sa  perfectim,  abolit-elle  la   conscience? 

p.  232,  337.     Eine  vollkommene  Erkenntnis  enthält   keinen  Widerspruch 

in  sich;  ja  sie  macht  uns  die  gegenwärtige  Phase  der  Erkenntnis,  die  nur 

eine  Vorbereitung  darauf  ist,  erst  begreiflich.   -    G.  Vattier,  La  doctrine 

cartesieuae   de   I'eucharistie   chez   Pierre   Cally.   p.   274,    380.  — 

.T.  Durautel,  La  notion  de  la  creation  dans  S.  Tliomas.  p.  449,  561. 

Darstellung  der  Schöpfungslehre    des   hl.  Thomas   in    engem  Anschluss   an 

seine  Werke.    —    .T.  Gueville,   L'idealisme   cartesien.   p.   516.     Wie 

verhält  sich  die  Philosophie  Descartes'  zum  modernen  Idealismus?   —   A 

Lugan,  Jesus  et  la  loi  generale  de  l'aniour  des  hommes.  p.  596.  — 

Bibliographie:    p.  82,  176,  297,  410,   524,  626. 

n,  Nr.  1—6.  J.  Durantel,  La  notion  de  la  creation  dans  S.  Thomas. 
p,  5,  156,  225  (Fortsetzung  und  Schluss).  —  Pli.  Borrell,  Spinoza  inter- 
prete  du  judaisme  et  du  christianisme.  p.  50,  113,  267.  Spinoza  inter- 
pretiert das  .Judentum  und  das  Christentum  in  rein  rationalistischer  Weise. 
Dabei  ist  er  abhängig  von  den  klassischen  Theologen  des  Judentums  und 
den  Theologen  der  häretischen  christUschen  Gemeinschaften.  Er  ist  niemals 
Christ  gewesen.  —  P.  Naudet,  Metapsychisme.  p.  132.  Die  Wissenschaft 
hat  die  Pflicht,  an  die  Prüfung  der  spiritistischen  bezw.  okkultistischen  Er- 
scheinungen heranzutreten.  —  R.  dAdhemar,  L'invention  scientifiqne 
et  Tesprit  philosophique.  p.  337.  —  J.  Segond,  Les  antitheses  du 
Bergsonisme.  p.  449.  Im  Systeme  Bergsons  finden  wir  eine  Reihe  von 
Widersprüchen,  die  die  Einheit  desselben  zerreissen.  —  A.  Favre- Gilly, 
Mysticisme  paien  :  conitesse  Mathieu  de  Noailles.  p.  475,  587.  — 
E.  Coutan,  L'attitude  religieuse  de  T.  H.  Green,  p.  561.  Nach 
Green   besteht   der  Wahrheitsgehalt  des  Christentums   im  Bewusstsein    der 


414  Zeitsehriftenschau. 

Aussöhnung  des  Menschen  mit  Gott.   —  Bibliographie,  p.  85,  178,  299, 
385,  496,  618. 

5]  Revue  Neo-Scolastique.  Publiee  par  la  Societe  philosophique 
de  Louvain.  Secretaire  de  la  Redactioii :  M.  de  Wulf.  Louvain, 
Institut  Superieur  de  Philosophie. 
IH*  annee,  1911,  Nr.  2—4.  C.  Sentroul,  La  verite  et  le  progrAs 
«lii  savoir.  p.  305.  (Fortsetzung  und  Schluss.)  —  J.  Coehez,  Plotin  et  les 
iiiysteres  d'  Isis.  p.  328.  Wenn  sich  Plotin,  um  von  den  Freuden  der 
Extase  einen  Begriff  zu  geben,  auf  die  Riten  und  Visionen  bei  gewissen 
Mysterien  berutt,  so  meint  er  damit  nicht,  wie  man  bisher  angenommen 
hat,  die  Mysterien  von  Elaesis,  sondern  die  ägyptische'n  Mysterien  der  Isis.  — 
D.  Nys,  L'eiiergetique  et  la  th^orie  scolastlque.  p.  341.  Die  Energetik 
verwirft  die  Zurückfiihrung  der  Kräfte  auf  Bewegung.  iSie  verzichtet  aut 
jede  Erklärung  der  Naturvorgänge.  In  dem  Universum  sieht  sie  nichts 
anderes  als  einen  ungeheuren  Komplex  von  mannigfaltigen  Energien,  deren 
Umwandlungen  in  einander  durch  einige  Fundamentalsätze  beherrscht 
werden,  die  selbst  nur  verallgemeinerte  Erfahrungen  darstellen.  -  (r, 
Legraiid,  S.  Augustin  au  lendemaiu  de  sa  couversion.  p.  366.  — 
F.  Palhories,  Bulletin  de  pliilo-ophie  morale.  p.  388.  Eine  Ueber- 
sicht  über  den  gegenwärtigen  Stand  des  Moralproblems  in  den  ver- 
schiedenen Schulen.  —  A  Bremoud,  Les  perplexites  ,,du  Philebe". 
Essai  sur  la  logique  de  Platou  p.  457.  Die  Beweisführung  Piatos  i.«t 
logisch  nicht  immer  einwandfrei.  Das  zeigt  die  Analyse  zweier  Argumente 
aus  dem  Philebus.  -  J.  Lottiu,  Le  libre  arbitre  et  les  lois  socio- 
logiques  d'apres  Quetelet.  p.  479.  Quetelet  hat  niemals  den  Deter- 
minisnms  des  individuellen  Willens,  sondern  nur  den  sozialen  Determinismus 
gelehrt.  --  E.  Krebs,  Le  traite  ,,De  esse  et  essentia"  de  Thierry 
de  Fribourg  p.  516.  E.  Krebs  publiziert  einen  bisher  ungedruckten 
Traktat  des  Dietrich  von  Freiburg  über  Wesenheit  und  Dasein  —  L.  du 
Roussaux,  Le  neo-doginatisme.  p.  537.  Der  „alte  Dogmatismus"  der 
Scholastiker  wird  dem  „neuen  Dogmatismus"  der  Schule  Merciers  gegenüber- 
gestellt. Der  Unterschied  der  beiden  Richtungen  zeigt  sich  in  der  Lehre 
vom  spontanen  Urteil,  vom  Begriff  der  Wahrheit,  vom  Kriterium  der  Wahr- 
heit und  von  der  Objektivität  der  Erkenntnis.  Der  „neue  Dogmatismus"  ist 
zu  verwerfen.  —  A.  Bouyssonie,  A  propos  des  couditions  philo- 
sophiques  de  l'evolution.  p.  564.  Kritik  einer  Abhandlung  von  Guichaoua 
über  die  philosophischen  Bedingungen  der  Entwicklung.  —  P.  le  Guichaoua, 
Repünse  ä  M.  Bouyssonie.  p.  578.  Erwiderung  auf  die  Kritik  Bouyssonies. 
—  Le  mouvement  ne  os  c'olast  ique.  p.  427,  591.  —  Comptes 
rendus.    p.  437,  598. 

19«  annee,  1912,  Nr.  1     4.    D.  Nys,  L'energetique  et  la  theorie 
scolastique.   p.    5.    (Fortsetzung    und  Schluss.)      Die    moderne   Energetik 


Zeitschriften  schau.  415 

trägt  vielfach  dynamistisches,  phänomenaHstisches.oder  monistisches  Ge- 
präge. —  V.  Brants,  Les  theories  politiques  dans  les  ecrits  de  L. 
Lessius.  p,  42.  1.  Die  scholastische  Renaissance  in  den  Niederlanden  am 
Ende  des  16.  Jahrhunderts.  2.  Leben  und  Arbeiten  des  L.  Lessius.  3.  Das 
Naturrecht  und  die  politischen  Theorien  bei  Lessius.  —  L.  du  Roussaux,  Le 
neo-dogmatisme.  p.  86.  (Frrtsetzung  und  Schluss.)  1.  Das  Fundamental- 
problem. 2.  Die  Objektivität  der  idealen  Ordnung.  3.  Die  objektive  Reali- 
tät der  Begriffe.  Die  Notwendigkeit  der  Prinzipien.  —  F.  de  Hovre, 
L'ethique  et  pedagogie  de  F.  W.  Förster,  p.  116,  201.  —  M.  de 
Wulf,  Civillsatioii  et  philosophie.  p.  157.  1.  Die  Philosophie  des 
Mittelalters  besitzt  rehgiösen  Charakter.  2.  Sie  will  alles  wissen  und 
systematisiert  alles,  was  sie  weiss.  3.  Sie  hat  absolutes  Vertrauen  zu  der 
Kraft  der  menschlischeu  Vernunft.  —  F.  Palhories,  La  uature  d'apres 
saiiit  Bonaventura,  p.  177.  Die  Lehre  Bonaventuras  über  Wesenheit 
und  Dasein,  Materie  und  Form  sowie  über  die  Pluralität  der  Formen.  — 
C.  Sentroul,  Encore  le  neo-dogniatisme.  p.  216.  Die  Angriffe  gegen 
die  Erkenntnistheorie  der  Schule  Merciers  werden  zurückgewiesen.  —  J, 
Henry,  Pragmatisme  anglo-auiericain  et  philosophie  nouvelle.  p. 
264.  Ueber  den  wesentlichen  Unterschied  zwischen  dem  Jamesschen  und 
dem  Bergsonschen  Pragmatismus.  —  L.  du  Roussaux,  Observations  sur 
la  replique  de  M.  Sentroul.  p.  287.  Erwiderung  auf  den  Artikel 
Sentrouls.  —  A.  Farges,  La  notiou  Bergsonieuue  du  tomps.  p.  337. 
Bergson  verwechselt  die  Quantität  mit  der  Qualität,  die  Einheit  mit  der 
Zahl,  die  Zahl  mit  dem  Räume,  den  Raum  mit  dem  Homogenen,  die  Be- 
wegung mit  der  Zeit,  die  Zeit  mit  der  „puren  Heterogeneität"  —  H. 
Lebrun,  Neo-darwinisuie  et  ueo-lamarckisme.  p.  379,  489.  Kritik 
der  Zellular-  bezw.  Germinalselektionslehre  von  W.  Roux  und  Weissmann.  — 
M.  Grabmanu.  Le  ,,eorrectoriuiu  corruptorii"  du  domiuicain 
Johannes  Quidort  de  Paris  (f  1306).  p.  404.  —  J.  Laiuiune,  Le  priu- 
cipe  de  causalite.  p.  453.  Versteht  man  unter  einem  synthetischen 
Urteil  ein  Urteil,  das  mehr  aussagt,  als  in  den  Definitionen  der  Begriffe 
enthalten  ist,  die  es  einschliesst,  und  das  man  darum  ohne  Widerspruch 
negieren  kann,  so  muss  das  Prinzip  der  Kausalität  synthetisch  genannt 
werden.  —  D.  Nys,  Le  monisme  p.  515.  Kurze  Inhaltsgabe  des  Werkes 
„Der  Monismus  und  seine  philosophischen  Grundlagen"  von  Klimke.  — 
J.  Leuiaire,  L'objet  de  la  cosraologie  p.  536.  —  Le  mouvement 
neo-scolastique:  133,  431,  555.  —  Comptes  rendus:  p.  137.  312, 
436,  565.    - 

6]  Eövae    philosophique.      Paraissant  tous   les  mois.     Dirigee 

par  Th.  Ribot.     Paris,  Alcan. 

35«  anuee,  1910,  Nr.  10—  12 :  F.  Le  Dautec,  Les  uiathematicleus  et 

la  probabilite    q.  329.  Es  ist  unrichtig  zu  sagen,  dass  der  Zufall  Gesetzen 

gehorche.  —  Th.  Ribot,  Le  nioindre.  elfort  eu  psychologie.  p.  361.  — 


416  2eitsehrif  tenscKau. 

F.  Mauge,  La  philosophie  scientiflque  comme  Systeme  de  valeurs. 
p.  3S7.  Die  Wissenschaft  muss  eine  Anzahl  Voraussetzungen  über  die 
Natur  machen,  wenn  sie  selbst  existieren  will.  —  L.  Diigas  et  F.  Montier, 
Depersonnalisation  et  emotion,  p.  441.  —  L.  Dauriac,  Psychologie 
ftcuerale  et  psycholoji:ie  musicale.  p.  461.  —  N.  Kostyleff,  Les  tra- 
vaux  de  l'ecoie  de  Wurzburg  p.  553.  lieber  die  Arbeiten  Walls, 
Messers  und  Bühlers.  —  Lahy,  Le  role  de  l'iudividu  daus  la 
formation  de  la  morale.  p.  581,  Die  Soziologen  verkennen  vielfach 
die  Bedeutung  des  Individuums  bei  der  Bildung  der  Regeln  der  Moral.  — 
Ch.  Lalo,  Critiqiie  des  methodes  de  rcsthetique.  p.  600.  1.  Der 
ästhetische  Mystizismus.  Die  falschen  Probleme  der  ästhetischen  Methode. 
—  Observations  et  döcuments.  p.  409.  —  Revue  critique. 
p.  508.  —  Revue  generale,  p.  625.  —  Analyses  et  comptes 
rendus.  p.  412,  519,  643. 

36«  aunee,  1911,  Nr.  1  —  6.  A.  Lalande,  L'idee  de  verite  d'apres 
W.  James  et  ses  adversaires.  p.  1.  —  A.  Naville,  La  matiere  du 
devoir.  p.  113.  Der  Rationalismus  und  der  „Affektismus"  sind  einseitig. 
Man  muss  zugestehen,  dass  es  mehr  als  ein  Ziel  für  den  Menschen  gibt.  — 

G.  Dumas,  La  contagion  uientale.  p.  225,  384.  Man  muss  unterscheiden 
zwischen  der  contagion  mentale,  der  epidämie  mentale  und  der  folie 
collective.  —  H.  Pieron,  L'illusiou  de  MüUer-Lyer  et  son  double 
mecanisme.  p.  245.  1.  Tatsachen.  2.  Theorien.  3.  Kritik.  Der  doppelte 
Mechanismus  der  Illusion.  —  Revault  d'Allouues,  Recherclies  sur 
r  attention,  p.  285,  494.  —  A.  Fouillee,  La  neo-sophistique  prag- 
niatiste.  p.  337.  1.  Der  psychologische  Pragmatismus.  •  2.  Der  er- 
kenntnistheoretische Pragmatismus.  3.  Der  Pragmatismus  und  der  Zeit- 
begriff. 4.  Der  Pragmatismus  in  der  Religion.  —  E.  Boirac,  L'etude 
scientifique  du  spiritisme.  p.  367.  Der  Spiritismus  muss  trotz  der 
grossen  ün Wahrscheinlichkeit  seiner  Theorien  wissenschaftlich  untersucht 
werden.  —  Ch.  Richet,  Une  uouvelle  liypothese  sur  la  biologie 
generale,  p.  449.  Die  biologischen  Erscheinungen  sind  auf  das  allgemeine 
Attraktionsgesetz  zurückzuführen.  —  A.  Joussaln,  L'idc^e  de  l'incons- 
cient  et  Tintuition  de  la  vie.  p.  467.  Nur  das  „gelebte  Leben"  hat 
Realität,  das  vorgestellte  ist  nur  Schein.  -  J.  de  Gaultier,  Seientisme 
et  pragiiiatisme  p.  661.  Pragmatismus  und  Intellektualismus  müssen 
einen  Kompromiss  miteinander  schliessen.  —  E.  Tassy,  Essai  d'une 
Classification  des  etats  affectit's.  p.  690.  Die  Afiekte  müssen  nach 
der  Verschiedenheit  ihres  Ursprungs  klassifiziert  werden.  —  Plesnila, 
Les  origines  de  la  mort  naturelle  p.  705.  Der  Tod  ist  als  Anpassungs- 
erscheinung zu  erklären.  —  Revue  gt'» ner ale.  p.  72,  521,  730.  —  Notes 
et  discussions.  p.  164.  —  Revue  critique.  p.  168.  —  Analyses 
et  comptes  rendus  p.  90,  189,  313,  415,  541,  747. 

36°  annee,  Nr.  7—12.  A.  Rey,  T/e  Congres  international  de 
Philosophie,  p.  1.  Bericht  über  den  Verlauf  des  Kongresses  in  Bologna.  — 
F.  Rauh,  Peusee  theorique  et  pensee  pratique.  p.  23.  Ueber  die 
relative  Unabhängigkeit  und  die  gegenseitige  Beschränkung  der  theoretischen 


Zeitschriftenschau.  417 

und  der  praktischen  Gewissheit.  —  G.  Davy,  La  sociologio  de  M.  Durk- 
heini.  p.  42,  160.  Nach  Durkheim  ist  die  Gesellschaft  nicht  aus  dem 
Individuum,  sondern  das  Individuum   aus  der  Gesellschaft    zu  erklären.   — 

E.  Tassy,  Essai  de  Classification  des  etats  affectifs.  p.  72  (Schluss). 
Sikorski,   Les  correlatioiis   psychophysiques.   p,  113.      Der  Puls 

ist  für  den  einzelnen  Menschen  ebenso  charakteristisch  wie  seine  Hand- 
schrift. Man  kann  daraus  auf  seine  Charaktereigenschaften  schliessen.  — 
G.  Milhaiid,  La  defiiiition  du  liasard  de  Cournot.  p.  136.  Der  Zufall 
entsteht  durch  das  Zusammentreffen  zweier  unabhängigen  Kausalreihen    — 

F.  le  Dautec,  Vi«  vegetative  et  vie  iutellectuelle.  p.  225.  Die 
Intelligenz  besteht  in  der  Fähigkeit,  aus  der  gemachten  Erfahrung  Nutzen 
zu  ziehen.  Jedes  Lebewesen  muss  intelligent  genannt  werden.  ~  A. 
Chide,  La  categorie  de  relation.  p.  258.  Die  Kategorien  sind  nichts 
anderes  als  psychologische  Tatsachen,  die  durch  die  Erfahrung  gegeben 
sind.  —  J.  P^res,  Pragmatisrae"  et  esthetique.  p.  278.  Der  Pragmatis- 
mus, der  in  der  Trennung  von  Subjekt  und  Objekt  ein  Produkt  der  Analyse 
und  Abstraktion  sieht,  steht  in  vollem  Einklang  mit  den  Bestrebungen  der 
Kunst.  —  L.  Dauriac,  Le  praginatisme  et  le  realisme  du  sens 
commun.  p.  337.  Der  Pragmatismus  ist  zwar  eine  neue  Philosophie,  die 
ihm  zu  gründe  liegende  Geistesverfassung  aber  ist  alt.  Sie  zeigte  sich  im 
18.  Jahrhundert  vor  allem  bei  Thomas  Reid.  —  G.  Cantccor,  Tendauces 
actuelles  de  la  psychologie  auglaise.  p.  368.  Eine  Analyse  der 
Arbeiten  von  James  Sully.  James  Ward  und  Stout.  —  L.  Cellerier, 
Methode  de  la  science  pedagogique.  p,  400.  Es  ist  notwendig,  eine 
Definition  der  Erziehung  aus  der  Erfahrung  zu  gewinnen,  die  psychologi- 
schen Tatsachen  zu  beobachten  und  eine  Klassifikation  derselben  vorzu- 
nehmen.—  E.  de  Roberty,  Le  probleme  philosophique  p.  449.  Die 
Soziologie  muss  zu  einer  exakten,  experimentellen  Wissenschaft  werden, 
fähig  die  Ereignisse  vorauszusehen  und  das  soziale  Verhalten  der  Menschen 
zu  dirigieren.  —  Kostyleff,  Freud  et  le  probleme  des  reves.  Con- 
tribution  ä  l'etude  objective  de  la  pensee.  p.  491.  Freud  geht  in 
seinen  Schlussfolgerungen  zu  weit.  Das  von  ihm  zusammengetragene 
Material  beweist  nur,  dass  die  Träume  demselben  Mechanismus  unterliegen 
wie  die  Gedächtnis-  und  Assoziationsvorstellungen  mit  dem  einen  Unter- 
schiede, dass  sie  sich  nicht  auf  die  zentrale  Phase  beschränken,  sondern 
bis  zur  Einleitung  eines  Perzeptionsprozesses  fortschreiten.  —  G.  Dumas, 
La  contagion  des  manies  et  des  melancolies.  p.  561.  Gibt  es  bei 
Manie  und  Melancholie  eine  geistige  Ansteckung  ?  Die  Tatsachen,  die  man 
dafür  vorbringt,  besitzen  keine  Beweiskraft  und  auch  theoretisch  ist  eine 
solche  Ansteckung  unmöglich.  —  L.  Dauriac,  Positivisme  et  pragmatisme. 
p.  584.  Aug.  Comte  und  Renouvier  sind  als  Vorläufer  des  Pragmatismus 
zu  betrachten.  —  L.  Dugas,  L'introspection.  p.  606.  Die  Introspektion 
ist  nicht  nur  möglich,  sie  ist  auch  die  einzige  Methode,  die  psychologischen 
Tatsachen  kennenzulernen.  —  Analyses  et  comptes  rendus  p.  91, 
186,  290,  422,  541,  627. 


Miszellen  und  Nachrichten. 


Neueres  über  den  Hautsinu.  T h ö  1  e  ^)  erzeugte  durch  Einspritzen 
von  Stovain    oder  Tropokokain  Anästhesie    des   Rückenmarks    und    fand: 

Nach  einer  Minute  schwanden  die  Sehnenreflexe  an  den  Beinen,  nach  2' 
die  Hautreflexe;  nach  3'  hörte  das  durch  Juckpulver  erzeugte  Jucken  auf. 
Nach  5'  werden  Nadelstiche  nicht  mehr  schmerzlich,  sondern  als  Jucken 
empfunden ;  auch  ein  faradischer  Strom  rief  nur  noch  Jucken  und  bald 
nachher  „Kribbeln"  hervor,  trotzdem  entstand  dabei  Gänsehaut.  Nach  8' 
wird  Auflegen  von  Eis  nur  noch  als  Druck,  später  wurde  noch  die  EmpfmdHch- 
keit  für  „heiss"  gespürt.  Nach  10'  wird  kein  Kitzeln  mehr  empfunden, 
nach  15'  keine  Berührung  mit  Watte,  nach  20'  stärkere  Fingerberührung 
nicht  mehr  wahrgenommen.  Der  Reihenfolge:  Aufhebung  der  Schmerz-, 
Kälte-,  Wärme-  und  Tastempfindlichkeit  entsprach  die  Ausdehnung  der 
einzelnen  Störungen.  Beim  Auflegen  von  Eis  wurde  manchmal  „heiss" 
gefühlt,  niemals  aber  „kalt"  durch  heisse  Gegenstände.  Die  Dermato- 
graphie  blieb  bestehen,  zuweilen  war  sie  etwas  erhöht.  Der  Vf.  folgert 
ans  seinen  Versuchen: 

„Juckgefühl  entsteht  durch  im  Vergleich  zum  Schmerzgefühl  geringere 
Reizung  normal  reagierender  Schmerzfasern.  Es  sind  quantitative  Reiz- 
unterschiede und  Unterschiede  in  der  Ausbreitung  der  Erregung;  zum 
Jucken  gehört  eine  im  Vergleich  zum  Schmerz  geringere  Reizung  vieler 
Nervenendigungen,  kein  punktförmig  angreifender  Reiz  wie  beim  Stich". 

„Kitzelempfindung  verhält  sich  zum  Tastsinn  wie  Juckgefühl  zum 
Schmerzsinn.  Faradisches  Kribbeln  beruht  auf  einer  kompHzierten  Reizung 
der  Fasern  des  Überflächen-  und  Tiefentastsinnes.  Im  analgetischen,  aber 
nicht  anästhetischen  Bezirk  ruft  starker  faradischer  Strom  keinen  Schmerz, 
wohl  aber  Kribbeln  hervor". 

„Meine  Beobachtungen  machen  es  wahrscheinlich,  dass  Jucken, 
Brennen,  Schmerz  einerseits.  Kitzeln,  faradisches  Kribbeln,  Tastempfindung 
andererseits  in  nahen  Beziehungen  stehen,  dass  sie  auf  qualitativ  gleich- 
artiger, quantitativ  verschiedener  Reizung  gleicher  bezw.  verwandter  Fasern 
beruhen".  Dem  stimmt  auch  Kiesow  in  einem  Referat  über  die  Arbeit 
Thöles  bei,  sowie  Török,  der  schreibt :    „Auf  Grund  der  bisher  dargelegten 

•)  Ueber  Jucken   und  Kitzeln   in  Beziehung   zu  Schmerzgefühl   und  T«,st- 
•  €mpfindung,  Neurol.  Zentralbl.  1912. 


Miszellen  und  Nachrichten.  419 

Untersuchungen  scheint  es  mir  zulässig  zu  folgern:  1.  dass  bei  der  Ent- 
stehung der  Juckempfindung  eine  geringere  Reizung  von  Nervenendigungen 
der  Haut  eine  Holle  spielt,  deren  stärkere  Reizung  Schmerzempfindung 
auslöst,  2.  dass  diese  Nerven  weder  mit  den  Tast-  noch  mit  den  Temperatur- 
Nervenendenapparaten  der  Haut  identisch  sind,  und  dass  3.  bei  der  Ent- 
stehung der  Juckempfindung  die  interepithelialen  freien  Nervenendungen 
beteiligt  sind"  ^). 

Auch  Ponzo  fand  nach  Einspritzen  mit  Stovain  Anästhesie  für  Kälte, 
und  erst  später  für  Wärme.  Das  Kitzeln  hörte  mit  der  Tastempfindlich- 
keit auf.     Auch  er  beobachtete  Gänsehaut  bei  Anästhesie. 

Daraus   schhesst  Kiesow : 

„Was  aus  allen  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  mit  Sicherheit  her- 
vorzugehen scheint,  ist,  dass  die  Kitzelempfindung  an  die  Funktion  der 
Tastapparate  gebunden  ist.  Soweit  die  Juckempfindung  in  Betracht  kommt, 
so  muss  gleichfalls  als  feststehend  anerkannt  werden,  dass  sie  von  der 
Kitzelempfindung  verschieden  ist,  und  es  muss  weiterhin  als  wenigstens  in 
hohem  Grade  wahrscheinlich  angenommen  werden,  dass  sie  zur  Schmerz- 
empfindung in  naher  Beziehung  steht."  Zeitschr.  f.  Psychol.  1913.  65  Bd. 
S.  130  ff. 

Eine  neue  philosophische  Zeitschrift  ,,für  positivistische  Philo- 
sophie'-^ im  Auftrage  der  Gesellschaft  für  positivistische  Philosophie 
herausgegeben  von  M.  H.  Baege  erscheint  seit  dem  Anfang  dieses  Jahres 
bei  A.  Tetzlaff  in  Berlin.    Sie  führt  sich  ein  wie  folgt: 

Für  die  Naturwissenschaften  namentlich,  aber  nicht  nur  für  sie,  besteht 
schon  seit  längerer  Zeit  ein  dringendes  Bedürfnis  nach  einer  fhilosophie, 
die  nicht  —  fremden  Ursprungs  —  ihnen  oktroyiert  wird,  sondern  auf 
natürhche  Weise  aus  ihnen  selbst  hervorwächst.  Die  mechanische  Natur- 
ansicht und  Weltanschauung  kann  diesem  Bedürfnis  schon  lange  nicht  mehr 
genügen;  man  erinnere  sich  nur  des  DuBois-Reymondschen  Ignorabimus 
und  der  verschiedenen  neovitalistischen  Versuche,  das  mechanische  und 
das  psychologische  Geschehen  zu  verknüpfen,  Versuche,  auf  die  wir  nicht 
bloss  bei  Biologen,  sondern  auch  bei  Physikern  stossen.  Aber  auch  die 
herrschende  Philosophie  —  durchgängig  Kantischen  Ursprungs  oder  doch 
mit  starkem  Kantischen  Einschlag  —  versagt  gegenüber  jenem  Bedürfnis, 
weil  sie  ihre  Untersuchungen  ohne  tiefere  Empfindung  für  dieses  anstellt, 
Probleme  behandelt,  für  die,  wer  von  den  heutigen  Naturwissenschaften 
herkommt,  nur  weuig  Verständnis  hat,  und  weil  sie  gewöhnlich  nicht  im 
Stande  ist,  hinreichend  auf  die  naturwissenschaftlichen  Fragen  selbst  ein- 
zugehen. 

Nun  ist  allerdings  auf  naturwissenschaftlichem  Boden  selbst  eine  streng 
empirische,  positivistische,  von  allen  metaphysischen  Spekulationen  und 
sogenannten  kritischen,  transzendental-philosophischen  Lehren  abgewandte 
Weltanschauung  erwachsen.  Aber  ihre  Sätze  werden  in  weiteren  natur- 
w'issenschaftlichen  Kreisen  noch  nicht  im  Zusammenhang  und  nach  ihrem 
Kern  ergriffen,  ja  selbst  von  hervorragenden  Naturforschern  geradeso  wie 
fast  durchgängig  von  den  herrschenden  Philosophen  völlig  missverstanden. 

•)  Zeitschr.  f.  Psych.  46,  34. 


420  Mis Zellen  und  Nachrichten. 

Anderseits  sehen  sich  die  Einzelwissenschaften  mehr  und  mehr  zu 
immer  allgemeineren  Fragestellungen  gedrängt,  so  dass  sie  ganz  von  selbst 
philosophischen  Charakter  annehmen.  Die  Mathematik  gelangt  fort  und  fort 
zu  höheren  Abstraktionen :  in  der  deduktiven  Entwicklung  der  Geometrie 
befreit  sie  sich  von  jeder  Anschauung,  nachdem  ihr  Raumbegriff  die  Enge 
des  Euklidischen  Begriffs  überwunden  hat;  in  der  ^lengenlehre  kommt  sie 
zu  einer  positiven  Bearbeitung  des  ursprünglich  rein  negativen  Unendlich- 
keitsbegriffs,  und  im  ganzen  sieht  sie  sich  vor  die  Frage  ihrer  Abgrenzung 
gegen  die  Lo;iik  gestellt.  Die  Physik  ist  zur  Zusammenfassung  und  Ver- 
einheitlichung von  immer  mehr  und  mehr  entfernteren  Gebieten  gelangt. 
Die  elektromagnetischen  Theorien  unterwarfen  ihren  Begriffen  die  Optik  und 
alle  Strahlungsvorgänge,  und  nun  steht  die  Physik  vor  der  Frage,  wie  weit 
die  Mechanik  elektromagnetisch  begriffen  werden  kann.  In  der  Relativitäts- 
theoiie  rührt  sie  unmittelbar  an  die  gewaltigste  Frage  der  bisherigen  Er- 
kenntnistheorie: ist  absolute  oder  nur  relative  Erkenntnis  erreichbar?  Ja; 
ist  absolute  Erkenntnis  denkbar?  Damit  stösst  sie  unmittelbar  auf  die 
Stellung  des  Menschen  in  der  Welt,  auf  den  Zusammenhang  des  Denkens 
mit  dem  Gehirn  Was  ist  Denken?  Was  sind  Begriffe?  Was  Gesetze? 
Physik  und  Biologie  treffen  in  psychologischen  Problemen  auf  einander. 
Und  die  anthropologischen  Wissenschaften  endlich,  besonders  <>eschichte 
und  Soziologie,  sehen  sich  immer  stärker  zum  Anschiuss  an  biologische 
Vorstellungen  gedrängt. 

Für  alle  an  diesen  Grenzfragen  Interessierten  gilt  es  eine  Zentralstelle 
zu  schaffen,  Sie  wird  am  besten  die  Form  einer  wissenschaftlichen  Ge- 
sellschaft haben .  die  sich  ausdrücklich  gegen  alle  metaphysischen  Be- 
strebungen erklärt  und  als  obersten  Grundsatz  die  strengste  und  umfassende 
Ermittlung  der  Tatsachen  auf  allen  Gebieten  der  Forschung,  der  technischen 
und  organisatorischen  Entwicklung  hinstellt.  Alle  Theorien  und  Forderungen 
sollen  nur  auf  diesem  Boden  der  Tatsachen  fussen  und  hier  ihr  letztes 
Kriterium  ünden. 

Jahresberichte  sollen  für  die  Verbindung  aller  Zweige  der  Gesellschaft 
sorgen,  damit  verbundene  genaue  Bibliographien  das  Material  sammeln,  das 
zum  Aufbau   einer   streng  positivistischen  Weltanschauung  beitragen  kann. 

Wenn  alle,  die  zu  echt  wissenschaftücher  philosophischer  Arbeit  be- 
fähigt und  gewillt  sind,  oder  sich  für  die  Ergebnisse  solcher  Forschung 
und  ihre  Förderung  interessieren,  sich  so  zusammenschliessen,  Kann  der 
Erfolg  nicht  ausbleiben,  der  uns  über  den  unbefriedigenden  Zustand  der 
Gegenwart  in  nicht  ferner  Zeit  hinausführen  wird.  Die  Gegenwart  ist  der 
unfruchtbaren  fast  gleichförmigen  Wiederholung  schon  oft  geäusserter  nicht 
hinreichend  klarer  und  konkreter  philosophischer  Gedanken  und  anderseits 
der  immer  mehr  gewachsenen  Zersplitterung  der  Wissenschaften  und  bloss 
äusserlichen  Ansammlung  ihrer  Ergebnisse  überdrüssig.  Sie  will  eine 
Lösung  der  allgemeinen  Probleme,  die  die  Forschung  selbst  aufwirft,  und 
will  sich  nicht  mehr  mit  einem  Ignorabimus  abspeissen  lassen,  für  dessen 
Triftigkeit  die  Beweise  fehlen. 

Als  ständige  Mitarbeiter  werden  genannt:  H.  Boruttau,  H.  Dingler, 
P.  Jensen,  Kleinpeter,  Petzold,  Potonie. 

Das  erste  Heft  enthält  folgende  Aufsätze :  Positivistische  Philosophie 
von  Petzold,  Zur  Erkenntnislehre  der  Marburger  Schule  von  B.  Kern,  Der 
Inhalt  der  vier  Hauptschriften  von  R.  Avenarius  von  ihrem  Verfasser  selbst 
dargestellt.  Dingler,  Uebergreifende  Begriffsbildung  und  Kausalität. 


ff^Zf 


Pliilosopli.  Jalirbuch  der  Görres  -  Gesellscliaft. 

26.  Band.     4.  Heft. 


Neueste  Theorien  über  die  Koiisoiuuiz  und  Dissonanz. 

Von  Prof.  Dr.  G.   Gutberiet  in  Fulda. 


I. 

Nachdem  man  erkannt  hatte,  dass  die  konsonierenden  hitervalle 
ein  sehr  einfaches  Verhältnis  ihrer  Schwingungszahlen  besitzen,  die 
dissonierenden  nur  durch  grössere  Zahlen  darstellbar  sind,  lag  es 
nahe,  in  der  Einfachheit,  Anschaulichkeit  der  ersteren  das  Wohlgefallen 
an  der  Konsonanz,  in  der  Unübersichtbarkeit,  Verworrenheit  der 
letzteren  das  seelische  Missfallen  an  der  Dissonanz  zu  erblicken, 
hl  der  Tat  nimmt  die  Konsonanz  ab  und  zu  mit  der  Grösse  der 
Einfachheit  der  Verhältniszahlen,  und  ebenso  die  Dissonanz  zu  mit 
den  hohen  Verhältniszahlen.  Das  konsonanteste  Intervall  ist  die 
Oktave,  sie  hat  das  Verhältnis  von  1  :  2 ;  es  folgt  die  Quinte  mit 
2:3,  die  Terz  mit  3  :  4.  Am  niedrigsten  in  dem  Dissonanz- 
charakter  steht  die  kleine  Sekunde   mit  der  Verhältniszahl  8  :  9. 

Der  grosse  Mathematiker  Euler  glaubte  nun  wirklich  in  dem 
Erfassen  dieser  Verhältnisse  das  Wesen  der  Konsonanz  und  Disso- 
nanz gefunden  zu  haben.  Eine  Bestätigung  dieser  Auffassung  könnte 
die  von  Thimus  gemachte  Beobachtung  bieten,  nach  welcher  der 
Unterschied  zwischen  dem  Dur-  und  Mollakkord  lediglich  auf  mathe- 
matischen Verhältnissen  beruht.  Der  G-Durakkord  c  :  e  :  g  hat  die 
Schwingungszahlen  4:5:6,  der  Moll-Dreiklang  c :  es  :  g  die  Verhält- 
nisse 10:  12:  15  =  1:^  :|. 

Diese  Verhältnisse  stehen  den  einfachen  des  konsonanten  Dur- 
akkordes sehr  nahe,  sie  sind  auch  keine  wahren  dissonanten  Klänge, 
sondern  stellen  eine  andere  Art  von  Wohlklang,  von  Konsonanz  dar. 
Im  Grunde  sind  die  Verhältnisse  genau  dieselben,  nur  in  umgekehrter 
Ordnung,  und  bilden  die  reziproken  Werte  der  Durverhältnisse :  das 
entspricht  genau  ihrem  Konsonanzwerte. 

Daraus  ergibt  sich  allerdings,  dass  jene  mathemalischen  Ver- 
hältnisse mit  der  Konsonanz  und  Dissonanz  aufs  engste  zusammen- 
hängen, eine  Grundlage  derselben  bilden,  Aber  das  Hören  der  Konso- 
nanz kann  nicht  auf  der  Auffassung  dieser  Verhältnisse  beruhen. 
Denn  die  meisten  Menschen  wissen  nichts  von  jenen  Verhältnissen 
und  empfinden  intensive  Lust  an  der  Konsonanz. 

Der  mathematischen  Auffassung  Eulers  hat  W.  Goldschmidt 
eine  konkretere  Gestaltung  gegeben,  indem  er  die  musikalische 
Harmonie  mitkrystallographischen  Gesetzen,  die  ihrerseits  ganz 
und  gar  auf  mathematischen  Verhältnissen  beruhen,  analogisierte. 

Philosophisches  .Jahrbuch  191.S.  27 


422  C.  üutberlet. 

Das  krystallographische  Gesetz  der  Komplikation  beslimnit  zahleu- 
mässig  die  Neigung,  Grösse  und  Rangordnung  abgeleiteter  Flächen 
in  Bezug  auf  die  Hauptflächen;  dieses  Gesetz  versucht  G.  nun  auf 
die  musikalische  Harmonie  anzuwenden,  wobei  er  freilich  die  Har- 
monie in  einer  weiteren  Bedeutung  fassen  muss.  Ihm  ist  ,, Harmo- 
nisch eine  Gruppierung  oder  Gliederung,  die  unser  Geist,  als  seinem 
Wesen  und  den  Sinnen  angepasst,  dem  Gemüte  wohltuend,  aus  der 
Welt  der  Erscheinungen  ausgewählt,  oder  die  Aussenwelt  verändernd, 
schafft". 

Er  nimmt  an,  dass  ein  Ton  und  seine  Oktave  und  folglich  auch 
ein  Akkord  und  seine  ümkehrungen  harmonisch  gleichwertig  seien. 
Nimmt  man  nun,  analog  den  Hauptflächen  der  Krystalle,  die  Oktave 
zur  Grundlage,  so  bestimmt  das  Komplikationsgesetz  die  dazwischen 
liegenden  Töne.  Die  Tonkombinationen  der  gebräuchlichen  Akkorde 
entsprechen  ,, harmonischen  Reihen"  der  Krystallographie,  was  auch 
an  der  Folge  der  Grundtöne  der  Akkorde  an  einigen  Musikstücken 
gezeigt  wird.  Die  harmonischen  Reihen  sind  symmetrisch  gebaut. 
Die  Molltonart  ist  Spiegelbild  des  Dur ;  dieses  ist  „steigende  Harmonie", 
jenes  „fallende  Harmonie".  Unsere  diatonischen,  chromatischen  und 
enharmonisehen  Tonleitern  erklärt  das  Prinzip  des  pythagoräischen 
Quinlenzirkels  „Fortbildung  auf  der  Dominante". 

Das  ,, harmonische  Ohr"  bildet  sich  erst  allmählich  aus;  nicht 
im  Gehirn,  sondern  im  Trommelfell  oder  in  der  Basilarmembran  der 
Schnecke  akkommodieren  sich  die  einzelnen  Teile  durch  eine  be- 
stimmte Spannung  auf  einen  bestimmten  Ton  und  werden  durch 
diese  Spannung  befähigt,  durch  Knotenbildung  die  harmonisch  dazu 
gehörigen  Töne  aufzunehmen.  Disharmonische  Töne  können  nicht 
gleichzeitig,  sondern  nur  durch  schnellen  Spannungswechsel  wahr- 
genommen werden.  Die  Dissonanz  könne  auch  durch  Rauhigkeit 
benachbarter  Töne  durch  Interferenz  bewirkt  werden. 

Eine  eingehende  Kritik  übt  an  dieser  neuen  Theorie  ein  be- 
währter Fachmann,  Hornbostel,  in  der  ,Zeitschr.  f.  Psychol.  und 
Phys.' ').  Gegen  die  letzte  Behauptung  bemerkt  er :  „Interferenz- 
erscheinungen (Schwebungen,  Kombinationstöne)  können  nur  bei 
simultaner  Perzeption  der  Reize  wahrgenommen  Averden,  also  nach 
Goldschmidt  nur  bei  harmonischen  Tönen,  was  der  Erfahrung  wider- 
spricht .  .  . ;  dass  Schwankungen  und  Rauhigkeit  begleitende ,  nicht 
aber  konstitutive  Merkmale  der  Dissonanz  sind,  ist  vielfach  zur 
Evidenz  erwiesen". 

„Neben  zahlreichen  bestechenden  Analogien  finden  sich  viele 
Punkte,  an  denen  das  Komplikationsgesetz  zur  Erklärung  musikali- 
scher Tatsachen  versagt.  Zunächst  beschränkt  sich  seine  Anw^end- 
barkeit  auf  die  harmonische  Musik  des  europäischen  Kulturgebietes. 
Die  Hypothesen  zur  Erklärung  exotischer  Tonsysteme  sind  gänzlich 
haltlos.     Das   Moment   der  Symmetrie    ist   auf  akustischem  Gebiete 


')  190  ]  32.  Bd.  S.  436  ff. 


Neueste  Tlieorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  423 

nicht  so  allgemein  anwendbar,  wie  auf  optischem.  Das  Komplikations- 
gesetz führt  zu  reinen  und  harmonischen  Intervallen  (5  :  7,  4  :  7), 
Klavierversuche  in  temperierter  Richtung  können  daher  über  die 
Annehmlichkeit  ,harmonischer  Folgen*  nicht  entscheiden.  Viele  ge- 
bräuchliche Kombinationen,  wie  der  verminderte  Septakkord,  bleiben 
unerklärt.  Dass  sich  einfache,  grösstenteils  auf  Dreiklängen  auf- 
gebaute Musikstücke,  zumal  ohne  Berücksichtigung  der  relativen 
Tonlage,  auch  durch  harmonische  Zahlen  darstellen  lassen,  scheint 
nicht  so  wunderbar,  wie  Verfasser  meint". 

Einen  prinzipiellen  Fehler  iindet  llornbostel  an  dieser  Harmonie- 
lehre in  der  einseitigen  physiologischen  Betrachtung,  bei  der  die 
psychologische  Seite  ganz  zurücktritt  oder  doch  nur  für  den  Gefühls- 
ton zur  Geltung  kommt,  freilich  auch  da  nur  zu  biologischer  Geltung. 

,,Da  alle  Erscheinungen  der  Aufmerksamkeit  und  Auffassung 
schon  im  Physiologischen  ihre  Erklärung  finden  sollen ,  bleibt  nur 
der  positive  Gefühlston,  der  die  Harmonie  begleitet,  für  die  psycho- 
logische Betrachtung.  Vf.  erklärt  ihn  biologisch,  indem  er  ,Genuss' 
als  .gefühlte  Förderung  unserer  Lebensfunktionen'  definiert.  Die  Ver- 
wandtschaft der  Akkorde  erkläre  sich  hiernach  aus  der  relativ 
leichten  Anpassungsarbeit  des  Organs,  während  rascher  und  schwie- 
riger Harmonienwechsel  ermüdend  wirkt". 

Das  hauptsächlichste  prinzipielle  Bedenken  scheint  mir  darin  zu 
liegen,  dass  die  eigentlich  spezifische  musikalische  Harmonie  nicht 
erklärt  wird.  Nimmt  man  das  Wort  Harmonie  in  einem  weiteren 
Sinne,  kann  man  die  Analogie  zwischen  Musik  und  Krystallographie 
recht  wohl  zugeben,  man  kann  auch  keinen  Widerspruch  gegen  die 
Uebertragung  des  Harmonie-  und  Komplikationsbegriffes  auf  das 
optische  Gebiet,  selbst  auf  die  Entwicklungslehre,  die  bildenden  Künste, 
auf  die  Zahlensysteme,  wie  sie  der  Vf.  vornimmt,  erheben.  Auf 
allen  diesen  Gebieten  herrscht  Gesetzmässigkeit;  diese  kann  immer 
auch  durch  mathematische  Verhältnisse,  also  zahlenmässig  dargestellt 
werden,  d.  h.  durch  Zahlenreihen,  die  eine  gewisse  harmonische 
Ordnung  aufweisen.  Nun  ist  aber  unser  Ohr  ebenfalls  so  angelegt, 
dass  es  durch  Töne  von  harmonischen  Schwingungszahlen  angenehm, 
von  ungeordneten  Schwingungsverhältnissen  unangenehm  berührt  wird. 
Ohne  die  Annahme  einer  solchen  ursprünglichen  Anlage  und  Ein- 
richtung unseres  Ohres  wie  überhaupt  ohne  die  Anpassung  der  Organe 
an  die  objektiv  gegebene  Gesetzmässigkeit  lässt  sich  die  Annehm- 
Uchkeit  der  Harmonie  sowie  aller  andern  lustvollen  Eindrücke  nicht 
verstehen. 

Wir  stimmen  dem  Endurteil  des  Kritikers  vollständig  bei,  wenn 
er  sagt: 

„So  reizvoll  es  sein  mag,  den  eleganten  Deduktionen  zu  folgen, 
wird  man  doch  bei  der  Lektüre  das  Bedenken  nie  los,  dass  der 
Wissenschaft  mit  deduktiver  Spekulation,  die  das  bereits  sicher- 
gestellte Tatsachenmaterial  nur  unvollkommen  berücksichtigt,  wenig 
gedient  ist". 

27* 


424  C.  Gulberlet. 

TT. 

Pfadfinder  auf  dem  Gebiete  der  Tonempfindungen  ist  II  e Ini- 
hol tz,  insbesondere  durch  die  experimentelle  Feststellung  der  Ober- 
tüne.  Wie  die  Stärke  eines  Tones  von  der  Amplitude  der  Sehall- 
wellen, seine  Höhe  von  der  Geschwindigkeit,  also  Kürze  der  Schall- 
wellen abhängt,  so  sein  Klang  von  der  Beimischung  von  Obertünen. 
Mit  dem  Grundton  werden  regelmässig  schwächere  Töne  mit  gehört, 
deren  Schwingungszahl  ein  Vielfaches  der  des  Grundtones  bildet.  Nach 
dem  Vorherrschen  bestimmter  Obertöne  wird  unbewusst  der  Klang 
bestimmt.  Auf  diese  Obertöne  hat  Wundt  die  Konsonanz  bzw. 
Harmonie  gegründet.  Er  unterscheidet  Konsonanz  und  Harmonie  so, 
dass  erstere  das  Zusammenstimmen  der  Obertöne  unter  sich  und  mit 
dem  Grundtone,  Harmonie  das  Zusammenstimmen  der  Intervalle, 
also  die  Konsonanz  im  gewöhnlichen  Sinne  bedeutet.  Dieselbe  beruht 
darauf,  dass  zwei  Töne  in  ihren  Obertönen  übereinstimmen.  Das 
konsonanteste  Intervall  ist  die  Oktave,  1  :  2.  Der  höhere  und  niedere 
Ton  haben  dieselben  Obertöne.  Es  folgt  in  der  Konsonanz  die  Quinte ; 
das  Intervall  hat  das  Verhältnis  von  2  :  3.  Die  Obertöne  des  Grund- 
tones sind  4,  6,  8,  10,  12,  die  der  Quint  6,  9,  12,  15,  18  ...  Es  ist 
also  schon  der  zweite  Oberton  des  Grundtons  identisch  mit  dem  ersten 
der  Quint,  der  fünfte  des  ersteren  mit  dem  dritten  der  letzteren. 

Bei  der  Sekunde  dagegen  mit  dem  Verhältnis  8 :  9  sind  die 
Obertöne :  16,  24,  32,  40,  48,  56,  64.  72  :  18,  27,  36,  45,  54,  63,  72; 
es  stimmt  also  erst  der  achte  Oberton  mit  dem  siebenten  überein. 
Je  stärker  die  Dissonanz,  je  grösser  also  die  Verhältniszahlen  einer 
Dissonanz,  desto  weniger  Uebereinstimmungen  in  den  Obertönen. 

Der  Grund  des  Wohlgefallens  an  der  Konsonanz  soll  also  in 
der  Einigung  der  Töne  in  ihren  Obertönen  liegen,  welche  von  der 
Seele  aufgefasst  wird.  Dass  diese  Einheit  Konsonanz  und  Wohl- 
gefallen begründen  kann ,  kann  nicht  geleugnet  werden ;  nur  kann 
man  nicht  zugeben,   dass  diese  Einheit  von  der  Seele  erfasst  wird. 

Helmhol  tz  benutzt  die  Obertöne  nur,  um  jene  Harmjnie,  die 
auch  zwischen  aufeinanderfolgenden  Tönen  auftritt,  zu  erklären ;  bei 
gleichzeitig  erklingenden  Tönen  findet  er  die  Harmonie  oder  Konsonanz 
in  der  Freiheit  von  Schwebungen,  die  Dissonanz  in  dem  Auftreten 
von  Schwebungen  bei  Intervallen  von  grossen  Verhältniszahlen.  Die 
Schwebungen  entstehen  durch  Interferenz  der  Schallwellen;  wenn 
Wellenberge  mit  Wellentälern  zusammentreffen,  heben  sie  den  Ton 
auf.  Es  werden  so  intermittierende  Schalleindrücke  gehört,  Stösse, 
die,  wenn  sie  rasch  aufeinander  folgen,  einen  unangenehmen  Ein- 
druck machen. 

Diese  Erklärung  der  Dissonanz  dürfte  wohl  kaum  zu  widerlegen 
sein,  aber  für  die  Konsonanz  ist  sie  kaum  ausreichend.  Die  Konso- 
nanz bestände  darnach  in  einem  rein  negativen  Momente,  was  leb- 
haft an  die  Gefühlstheorie  von  Schopenhauer  erinnert,  nach  der  es 
keine  positive  Lust,  sondern  nur  Freiheit  von  Unlust  gibt,  die  uns 
wohltue.    Aber  gerade  das  Wohlgefallen  an  musikalischer  Harmonie 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  425 

ist  ein  so  positives  und  gelegentlich  ein  so  intensives,  dass  es  nicht 
durch  rein  negative  Momente  erklärt  werden  kann. 

Die    musikalische  Theorie   von   Helmholtz  wird   gewöhnlich  als 
Resonanztheorie  gekennzeichnet.   Dies  bezieht  sich  auf  die  physio- 
logische Erklärung  der  Töne  bzw.  der  Tonleiter.    Die  Basilarmembran 
in  der  Schnecke  des  Ohrs  verschmälert  sich   in   einer  Weise,   dass 
ihre  einzelnen  Abschnitte  kürzeren  und  längeren  Saiten  entsprechen. 
Diese  Abschnitte   sind   auf  die  verschiedenen  Töne   abgestimmt,    so 
dass   die  höheren  Töne   von   den    kürzeren,    die    tieferen  von    den 
längeren  aufgenommen  werden,  also  gleichsam  Resonatoren  darstellen. 
Die    Helmholtzsche   Theorie    fand    sowohl   nach    ihrer   physio- 
logischen wie  musikalischen  Seite  warme  Anhänger  wie  auch  heftige 
Gegner.      Bezold    glaubte    experimentell    nachweisen    zu   können, 
dass  Defekte  in  der  Schneckenmembran  auch  Defekte  im  Tongehör 
nach  sich  ziehen.    Auch  andere  bedeutende  Forscher,  wie  Hansen, 
Exner,  haben  sie  bestätigt.    Selbst  nachdem  Kali  seh  er  das  Gegen- 
teil experimentell  dargetan  zu  haben  glaubt,  tritt  E.  Waetzmann') 
mit  einigen  Modifikationen  wieder  für  sie  ein.    Die  Versuche  Hansens 
an  Krustazeen  und  Mayers  an  Insekten  zeigen,   dass  tatsächlich  so 
kleine  Gebilde  wie  die  Radialfasern  der  Basilarmembran  auf  mittlere 
Töne   hin   zur  Resonanz  kommen  können.     „Die  grössere  Zahl  der 
Versuche  beweist,   dass   verschieden   hohe  Töne  von  verschiedenen 
Teilen  der  Schnecke  aufgenommen  werden,  und  die  Aufnahmestellen 
der  Basis  der  Schnecke  um  so  näher  Hegen,  je  höher  die  Töne  sind". 
Ueber    die    Lokalisation    der    Gehörsempfindungen 
hat  0.  Kali  seh  er  an  Hunden  Experimente  angestellt.     Die  Hunde 
wurden  operiert,   indem  bestimmte  Partien   des  Gehörapparates  ex- 
stirpiert  und  die  Wunden  wieder  geheilt  wurden.    Die  Tiere  reagierten 
nach  vorhergehender  Dressur  in  der  Weise  auf  die  Schallreize,  dass 
sie   bei  bestimmten  Tönen    nach    den  vorgehaltenen   Fleischstücken 
schnappten,  bei^  andern  sie  liegen  Hessen.     Zuerst  wurde  die  Helm- 
holtzsche Theorie  geprüft,    nach   der  die  verschieden   langen  Teile 
der    Basilarmembran   des    Schneckenganges    auf   die   verschiedenen 
Töne  abgestimmt  sind.   Bei  einem  Hunde  war  fast  die  ganze  Schnecke 
zerstört  worden.     Das  Tier  reagierte  auch  dann  prompt,  wenn   die 
„Fresstöne"  zugleich  mit   beliebigen   anderen  angeschlagen  wurden, 
gerade  wie  bei  normalen  Tieren.     Der  Hund   konnte  alle  Tonhöhen 
in  der  Klaviatur  eines  Harmoniums  von  5  Oktaven  wahrnehmen  und 
im  Gedächtnis  15  Minuten  behalten,  wenigstens  so  lange  die  Prüfung 
dauerte.   Aus  diesen  Versuchen  ergibt  sich,  dass,  wenn  auch  nur  ein 
Teil  der  Schnecke,  sei  es  an  der  Spitze  oder  an  der  Basis,  erhalten 
bleibt,  die  Tonunterscheidung  nicht  leidet.     Darnach  kann  den  ver- 
schiedenen   Teilen    derselben    nicht    die   Verschiedenheit    der   Ton- 
empfindung entsprechen,  wie  dies  Helmholtz,  Ewald  u.  a.  annehmen. 
Ferner  wurde  der  Vestibularapparat  geprüft.    Es  ergab  sich  ein 
Einfluss  desselben  auf  Tonunterscheidung,  und  zwar  in  verschiedenem 

0  Die  Resonanztheorie  des  Hörens.    1912. 


426  C.  Gutberiet. 

Grade,  je  nachdem  derselbe  besser  oder  schlechter  erhallen  war. 
Darnach  ist  die  Annahme,  dass  die  Klangzerlegung  schon  in  den 
peripheren  Endorganen  des  Gehirnnerven  sich  vollzieht,  nicht  mehr 
haltbar.  „Hier  findet  nur  die  Umsetzung  der  gesamten  aufge- 
nommenen Hörreize  in  die  dem  Nervensystem  adäquaten  Erregungs- 
vorgänge statt.  Letztere  werden  in  allen  Nervenfasern  des  Nervus 
acusticus  gleichmässig  fortgeleitet,  um  erst  in  den  Nervenzentren  die 
ihnen  entsprechenden  Reaktionen,  wozu  auch  die  Klanganalyse  beim 
Menschen  gehört,  auszulösen". 

Es  zeigte  sich,  dass  die  Hunde  hitervalle  von  einem  halben  Ton 
erkennen,  dass  sie  den  bekannten  Ton  wochenlang  im  Gedächtnis 
behalten,  und  dass  sie  ihn  aus  einem  Gemisch  verschiedener  Töne 
heraus  hörten.  Hierin  übertrafen  sie  selbst  die  besten  Musiker: 
diese  hören  nur  in  den  mittleren  Tonlagen  den  Ton  heraus,  die 
Hunde  aber  auch  in  den  tieferen. 

Was  man  früher  als  Hörsphäre  im  Gehirn  ansprach,  wurde  durch 
die  Dressur  nicht  bestätigt.  Selbst  nach  Ausschneiden  derselben  blieb 
die  Tonunterscheidung,  sie  konnten  selbst  noch  auf  andere  Töne 
dressiert  werden  ^). 

Von  weit  grösserer  Bedeutung  sind  die  Verhandlungen  über  das 
Wesen  der  Konsonanz.  Ziemhch  allgemein  wurde  die  Lehre 
Helmholtz"  von  den  Schwebungen  als  Ursache  der  Dissonanz  und 
Freiheit  von  Schwebungen  als  Ursache  der  Konsonanz  von  den 
neueren  Psychologen '  und  Musiktheoretikern  abgelehnt.  So  von 
Wundt,  Lipps,  Stumpf. 

Mit  Entschiedenheit  trat  dagegen  F.  Krueger  für  dieselbe 
wieder  ein,  indem  er  die  bisher  wenig  beachteten  DifTerenztöne  bei 
der  Erklärung  der  Konsonanz  und  Dissonanz  zugrunde  legte.  Eine 
lange  Kontroverse  schloss  sich  an  diese  teils  neuen  teils  alten  Auf- 
stellungen an,  indem  besonders  zwei  hervorragende  Psychologen, 
Stumpf  und  Lipps,  sie  lebhaft  bekämpften. 

Auch  Lucae')  hält  die  Helmholtzsche  Schneckenthoorie  für 
unzulänglich.  Er  fand,  dass  Schallempfmdungen  auch  im  Vorhof- 
Hogengang  ausgelöst  werden.  Klinische  und  pathologische  Beob- 
achtungen zeigten ,  dass  bei  teilweiser  oder  auch  gänzlicher  Zer- 
störung der  Schnecke  das  Tongehör  bestehen  blieb.  Bei  zweien 
mit  narkotisch  ausgestossener  Schnecke  wurden  keine  ultramusi- 
kalischen Töne  mehr  vernommen,  wohl  aber  viele  musikalische.  Bei 
Degeneration  des  N.  cochlear.  wurden   tiefe  Töne  noch  gut  gehört. 

Sohrer-Bryant^)  bestreitet  prinzipiell  die  Resonanztheorie. 
Ueber  die  Härchen  der  Cortischen  Zellen  „fahren  die  Tonwellen  wie 
der  Wind  über  das  Getreidefeld",  wodurch  die  nervösen  Endelemente 

*)  Archiv  f.  Anatomie  und  Physiol.  1909.  Referat  in  d.  Naturw.  Rundschau 
1910  Nr.  32  S.  406  ff. 

^)  Beiträge  zur  f.ehre  von  den  Schallempfindungen,  Arch.  f.  Ohrenheilk. 
1909. 

*)  Die  Lehre  von  den  schaliempfindlichen  Haarzellen,  ebenda. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  427 

des  N.  acList.  gereizt  werden.  Die  Wellentheorie  soll  auch  die  Klang- 
farbe, die  Konsonanz,  den  Ton  im  Gegensatz  zum  Geräusch  usw. 
erklären. 

III. 

Doch  eine  neue  Erklärung  der  Konsonanz  und  Dissonanz  auf 
Helmholtzscher  Grundlage  gibt  F.  Krueger  im  „Archiv  für  die 
gesamte  Psychologie",  herausgegeben  von  E.  Meumann  *). 

Die  Erklärung  der  Konsonanz  und  Dissonanz  durch  Fehlen  und 
Vorhandensein  von  Schweb  ungen,  wie  sie  Helmhol  tz  gegeben, 
wurde  durch  Wundt  stark  modifiziert,  indem  er  mehr  Gewicht 
auf  die  Obertöne  des  Zusammenklangs  legte,  von  Lipps  und 
Stumpf  aber  vollständig  uragestossen,  indem  ersterer  den  unbe- 
wussten  seelischen,  den  physikalischen  Schwingungen  entsprechenden 
Rhythmus,  Stumpf  die  Verschmelzung  als  Grund  des  Wohl- 
gefallens der  Konsonanz  bezw.  das  entsprechende  Missfallen  an  der 
Dissonanz  ansprechen.  Kr.  unterzieht  diese-  Erklärungen  einer  ein- 
gehenden Kritik,  wobei  er  sich  auf  seine  sorgfältigen  Experimente 
über  die  Differenztöne  stützen  kann.  Bisher  hat  man  nur  konso- 
nante  Intervalle  auf  Differenztöne  untersucht :  Kr.  fand  aber,  dass 
sie  bei  allen  Zweiklängen,  auch  dissonanten,  auftreten;  sie  dienen 
ihm  zu  einer  sehr  befriedigenden  Erklärung  von  Konsonanz  und 
Dissonanz.  Er  kommt  dabei  wieder  auf  Helmholtzsche  Anschauungen 
zurück;  auch  Frey  er  hatte  die  Differenztöne  zur  Erklärung  heran- 
gezogen, aber  es  bei  mathematischen  Ausführungen,  ohne  die  nötigen 
experimentellen  Grundlagen,  bewenden  lassen.  Kr.  stützt  nun  seine 
Theorie  auf  experimentell  von  ihm  ermittelte  Tatsachen. 

Er  legt  einen  Zweiklang  zu  Grunde,  der  immer  fünf  Differenz- 
töne haben  muss.  „Die  Tonhöhen  dieser  gleichzeitigen  Töne  sind 
nach  der  Regel  zu  berechnen,  dass  man  nacheinander  immer  die 
kleinsten  bereits  vorhandenen  Schwingungszahlen  von  einander  ab- 
zieht. Wenn  beispielsweise  das  Schwingungsverhältnis  der  primär 
gegebenen  Töne  20  :  29  ist,  so  entsprechen  den  Differenztönen  die 
Verhältniszahlen  9  (=29—20),  11  (=20—9),  2  (=l  l_9\  7  (=9—2); 
im  Falle  17:41  die  Verhältniszahlen  24,  7,  10,  3,  4.  Nun  ver- 
halten sich  Differenztöne  zu  einander  und  zu  andern  gleichzeitigen 
Tönen  genau  so  wie  primäre  Töne  unter  sich.  Sie  bilden  neue 
Differenztöne,  und  wo  ein  qualitativ  benachbarter  Ton  mit  ihnen  zu- 
gleich erklingt,  da  entstehen  Schwebungen  und  Zwischentöne  zweier 
objektiv  gegebener  Töne";  sie  verschmelzen  vollkommen,  wenn  die- 
selben so  nahe  an  einander  liegen,  dass  sie  nicht  unterschieden 
werden  können.    Dieser  Fall  tritt  bloss  bei  Konsonanzen  ein. 

Dagegen  enthalten    „alle    dissonanten    Zusammenklänge  als 
Empfindungsbestandteil   mindestens  einen  verstimmten  Einklang  mi^ 
den  wahrzunehmenden  Eigenschaften  eines  solchen.     Bei  den  Kon- 
sonanzen  liegt    an  den  entsprechenden  Stellen  des  Empfindungs- 

')  1904  2.  Bd.  S.  1  ff. :  „Differenztöne  und  Konsonanz". 


428  C.  Gutberiet. 

ganzen  ein  reiner  Einklang.  In  der  unbegrenzt  grossen  Zahl  der 
möglichen  Zusammenklänge  sind  die  konsonanten  die  einzigen,  bei 
denen  die  F>scheinungen  der  verstimmten  Prime  nirgends  hervor- 
treten können."  Bei  Konsonanzen  ergeben  sich  nur  5  Difierenztöne, 
deren  unterster  die  Verhältniszahl  1  hat  und  zwei  Mal  vorkommt. 
Die  schrittweise  Verstimmung  der  Konsonanz  zeigt,  dass  jener  tiefste 
Ton  aus  mehreren  identischen  resultiert;  er  ist  stärker,  „charak- 
teristischer DitTerenzton ,  von  mannigfaltigsten  und  am  meisten 
charakteristischen  Schwebungserscheinungen  begrenzt  und  umgekehrt. 
Von  allen  Zusammenklängen  sind  die  konsonanten  allein  frei 
von  Differenztonschwebungeti  .  .  .  der  charakteristische  Unterschied 
zwischen  Reinheit  und  Verstimmung,  wie  er  durch  die  Differenz- 
tonscliwingungen  bedingt  wird,  erstreckt  sich  auf  ein  um  so  grösseres 
Tongebiet,  je  einfacher  das  Schwingungsverhältnis,  je  vollkommener 
also  die  Konsonanz    ist,    um  deren  Charakteristik  es  sich  handelt". 

Ein  bisher  weniger  bekanntes  Merkmal  des  verstimmten  Ein- 
klangs ist  der  Zwischenton.  Zwei  nahe  an  einander  liegende 
Töne  werden  nicht  für  sich  gehört,  sondern  ein  dritter  zwischen 
ihnen;  sie  müssen  auseinanderrücken,  um  für  sich  gehört  zu  werden; 
der  Zwischenton  lässt  sich  eine  Strecke  weit  noch  neben  den  beiden 
Tönen  vernehmen.  ,.Die  Verschmelzung  zweier  benachbarter  Töne 
der  Mittel-  und  Tiefenlage  reicht  überall  so  weit,  wie  die  Schwebungen. 
Ist  die  Verstimmung  gering,  so  wird  der  charakteristische  DitTerenz- 
ton noch  nicht  verschieden  gehört,  wohl  aber  Schwebungen, 
regelmässige  Stärkeschwankungen,  deren  Zahl  gleich  ist  der 
Differenz  der  Schwingungszahlen."  Dieselben  werden  aber  auch 
von  Dilferenztönen  begleitet  und  fehlen  auch  bei  den  bisher  als 
schwebungsfrei  erklärten  Dissonanzen  nie;  ,,sie  lassen  sich  um  so 
weiter  verfolgen,  auch  das  Maximum  der  durch  sie  bedingten  Un- 
lust und  Rauhigkeit  wird  um  so  später  erreicht,  je  höher  sie  liegen." 
.,Die  Schwebungen  eines  objektiv  gegebenen  verstimmten  Einklangs 
sind  stärker  und  deutlicher  als  alle  anderen  Schwebungsarten  und 
erstrecken  sich  in  langsamster  Progression  über  das  breiteste  Inter- 
vallgebiet .  .  .  Dieselben  Eigenschaften  kommen  den  teilweise  oder 
ausschliesslich  durch  Differenztöne  verursachten  Schwebungen  zu". 
,,Die  vollkommensten  Konsonanzen  sind  durch  die  merklichsten, 
mannigfaltigsten  und  am  meisten  charakteristischen  Schwebungs- 
erscheinungen begrenzt,  und  umgekehrt."  Auch  für  die  Differenz- 
töne  bestehen  die  Zwischentöne.  ,,Alle  Dissonanzen  enthalten  in 
der  Tiefe  die  Erscheinungen  der  durch  Narbarschaft  bedingten  Ver- 
schmelzung mindestens  zweier  Teiltöne."  „Je  vollkommener  die 
Konsonanz,  um  so  höher  liegt  der  charakteristische  Koinzidenzton, 
um  so  langsamer  rücken  ausserdem  bei  ihrer  Verstimmung  die 
charakterisierenden  Teiitöne  auseinander:  desto  grösser  ist  daher 
das  Intervallgebiet  der  Zwischenton  Verschmelzung.'^ 

„In  den  Erscheinungen  der  Tonverschmelzung  durch  Nachbar- 
schaft ist  das  bewusste  Empfindungsmoment  gegeben,   das  in  erster 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  429 

Linie  die  Dissonanz  von  der  blossen  Rauhigkeit  (der  Schwebungen) 
unterscheidet."  Die  Dissonanz  wirkt  unangenehm  durch  „die 
Schwebungen  oder  die  Rauhigkeit,  die  quahtative  Unreinheit,  die  Un- 
gleichartigkeit  der  Teiltöne",  durch  ,,die  Verworrenheit",  „Unaus- 
geglichenheit", ,, ungewohnte  Anordnung  der  Töne,  die  Fremdartig- 
keit der  meisten  Partialverhältnisse." 

Daraus  ergibt  sich  das  Verhältnis  der.  Konsonanz  zur  Ver- 
schmelzung: die  Einheitlichkeit  ist  beiden  gemein.  „Abgesehen 
von  der  Gefühlsfärbung  ist  das  unmittelbare  Erlebnis  der  Konsonanz 
nichts  anderes  als  die  Wahrnehmung  einer  spezifischen  Einheitlich- 
keit von  Zusammenklängen".  ,,Die  sinnliche  Auffassung  eines  Zu- 
sammenklanges als  einheitliche  und  das  Wahrnehmungsmoment  der 
Konsonanz  setzt  keinerlei  Analyse  des  Wahrgenommenen  voraus, 
auch  keine  unvollständige  Analyse".  Nach  Stumpf  ist  bei  Kon- 
sonanzen die  Analyse  um  so  schwieriger,  je  grösser  die  Konsonanz, 
nach  M.  Meyer  erleichtert  die  Konsonanz  die  Analyse.  Die  Be- 
obachtungen Kr.s  ergaben,  dass  das  Mehrheitsurteil  nicht  durch 
Analyse  bedingt  ist,  nicht  einmal  das  Urteil  über  die  Zahl  der  Teil- 
töne, welches  ,,von  verschiedenen  sinnUchen  Faktoren  abhängt"; 
ferner  ,,dass  die  Unterschiede  der  Mehrheitsbeurteilung  (ihres  Ergeb- 
nisses) nur  zum  Teil  und  in  sehr  verschiedener  Weise  auf  Unter- 
schieden in  der  Schwierigkeit  der  Analyse  beruhen ;  und  schliesslich, 
dass  weder  das  Mehrheitsurteil  noch  die  Schwierigkeit  der  Analyse 
einfache  Funktionen  des  Konsonanzgrades  sind." 

Die  psychologische  Analyse  dagegen  ergibt,  dass  von  ent- 
scheidender Bedeutung  für  die  Analyse  wie  für  die  unmittelbare 
Auffassung  der  verschiedenen  Zusammenklänge  die  qualitative  Deut- 
lichkeit und  Bestimmtheit  der  Teilempfindungen  ist.  „Die  Identität 
zahlreicher  Teiltöne  bedingt  eine  mit  dem  Grade  der  Konsonanz  zu- 
nehmende Aehnlichkeit  zwischen  den  konsonierenden Zusammen- 
klängen und  Einklängen  ...  Sie  »erschwert*  auch  die  Analyse." 
Diese  Wirkung  beruht  auf  Assoziation,  welche  überhaupt  für  den 
Gefühlston  der  Zusammenklänge  von  grosser  Bedeutung  ist.  „Kon- 
sonanz und  Dissonanz  unterscheiden  sich  voneinander  nicht  nach 
dem  Grade,  sondern  nach  der  Art  der  Verschmelzung.  Die  beiden 
gegensätzlichen  Arten  der  Tonverschmelzung  sind  schliesslich  auf 
zwei  extreme  Typen  zurückzuführen:  a.  das  qualitativ  ungestörte 
Beieinander  sämtlicher  Teiltöne  im  Einzelklang;  die  einheitliche 
oder  harmonische  Verschmelzung;  b.  die  verworrene  oder  nachbar- 
Uche  Verschmelzung  sämtlicher  Teiltöne  im  verstimmten  Einklang." 

Heftig  wurde  die  Theorie  Kruegers  von  Lii)ps  angegriffen.  Gegen 
ihn  wendet  er  sich  in  der  Abhandlung  „Die  Theorie  der  Konso- 
nanz^). Lipps  stellt  die  Sache  so  dar,  als  erkläre  Krueger,  die 
Konsonanz  bestehe  „in  einer  Abwesenheit  von  etwas". 

0  Psych.  Studien  1905  2.  Bd.  S.  203. 


430  C.  Gulberlet. 

„Aber  er  vergisst  zu  erwähnen,  dass  ich  in  allen  konsonanten 
Zusammenklängen  ganz  bestimmte,  qualitativ  und  intensiv  aus- 
gezeichnete Teiltöne  experimentell  nachgewiesen  habe :  DifTerenztüne 
und  besondere,  die  in  ihren  Eigenschaften  und  Relationen  von  den 
entsprechenden  Teilempfmdungen  der  Dissonanzen  in  immer  der 
gleichen  Richtung  wesentlich  abweichen  (in  derselben  Richtung  näm- 
lich, in  der  der  reine  musikalische  Einklang  sich  vom  verstimmten 
Einklang  unterscheidet);  während  zugleich  die  verschiedenen 
Konsonanzen  unter  sich  durch  die  Anzahl,  die  QuaUtäten  und  die 
Stärkeverhältnisse  ihrer  Differenztöne  weitgehende,  gesetzmässig 
abgestufte  Verschiedenheiten  darbieten,  Verschiedenheiten,  die  nach 
meiner  uud  jetzt  auch  nach  der  Auffassung  anderer  Akustiker 
eine  empfindungsmässige  Grundlage  bilden  sowohl  für  die  unmittel- 
bar zu  erlebenden  Unterschiede  der  Konsonanzen  (die  Arten  0  der 
Vollkommenheitsstufen  der  Konsonanz)  als  für  die  zugehörigen  Ver- 
schmelzungsgrade". 

Lipps  macht  geltend,  dass  bei  konsonanten  Ton  folgen  DifTerenz- 
töne  ausgeschlossen  sind.  Aber  die  völkervergleichende  Musiklehre 
und  die  Beobachtung  der  besten  Musiker  lehrt,  dass  Konsonanz  in 
der  Tonfolge  nicht  besteht ;  ein  dissonantes  Intervall  kann  da  besser 
gefallen  als  ein  konsonantes. 

Stumpf  glaubt  die  Theorie  Kruegers  experimentell  widerlegen  zu 
können  in  dem  Aufsatze  ,,Dif ferenztöne  und  Konsonanz"^). 
Man  kann  zu  einem  konsonanten  Intervalle  künstlich  Differenztöne, 
Schwebungen  und  verstimmte  Einklänge  erzeugen,  und  die  Konso- 
nanz bleibt,  zum  Teil  wohl  getrübt,  aber  unter  Umständen  selbst 
„gewürzt".  Ueberhaupt  bemerkt  auch  er,  dass  die  Konsonanz  in 
den  Tönen  selbst,  nicht  in  einem  Beigemisch  gesucht  werden  muss. 
Krueger  glaubt,  die  gegen  Helmholtz  vorgebrachten  Einwände  träfen 
seine  Theorie  nicht.  Das  trifft  zu  inbezug  auf  die  obertonfreien 
Akkorde  und  den  von  Stumpf  angegebenen  schwebungsfreien  disso- 
nanten Fünfklang.  Indes  sind  auch  difTerenztonfreie  dissonante  Klänge 
herzustellen,  jedenfalls  solche,  in  denen  die  Differenztöne  und  der 
verstimmende  Zwischenton  sehr  schwach  sind. 

„Das  Intervall  8  :  11  gehört  zweifellos  zu  den  Dissonanzen. 
Es  liegt  zwischen  der  Quarte  und  der  Quinte.  Die  fünf  Differenz- 
töne  Kruegers  haben  hier  die  Verhältniszahlen  3,  5,  2,  1,  1. 
Nehmen  wir  nun  Primärtöne  von  der  absoluten  Höhe  800  :  1100 
(800=^/5'),  so  verstehe  ich  nicht,  wie  so  die  Differenztöne  100, 
200,  300,  500  unter  einander  oder  mit  den  Primärtönen  nach  Kr. 
noch  störende  Schwebungen  oder  Zwischentöne  bilden  sollen.  Die 
Oktave  100  :  200  und  die  Quinte  200  :  300  mögen  noch  Spuren  von 
Rauhigkeit  aufweisen,  wenn  man  sie  mit  einem  einfachen  einzelnen 
Ton  vergleicht,  aber  dergleichen  verschwindende  Reste  dürfte  Kr. 
selbst  nicht  für  die  Dissonanz  verantwortlich  machen". 


•)  Zeitschrift  f.  Psych,  u.  Phys.  von  Ebbinghaus  1905  39.  Bd.  S.  269. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  431 

Ebenso  können  hier  keine  Zwischentöne  auftreten;  die  sämtlichen 
Differenztöne  gehen  nicht  unter  die  Quinte  herab,  und  doch  hat 
sie  Kr.  nur  bis  zu  der  kleinen  Terz,  und  zwar  in  der  mittleren 
Region  beobachten  können.  Man  kann  nun  das  Intervall  noch  eine 
Oktave  höher  legen,  dann  sind  die  Zwischentöne  vollständig  aus- 
geschlossen. So  liegt  die  Sache  aber  nicht  bloss  bei  8  :  11,  sondern 
in  zahlreichen  anderen  Fällen,  wie  bei  11  :  15,  13  :  18,  5  :  7,  12  :  17 
usw.  Ferner,  Kombinationstöne  wie  Schwebungen  kann  man  dadurch 
beseitigen,  dass  man  die  beiden  Gabeln  an  die  beiden  Ohren  verteilt 
(,,dichotisches"  Hören).  Dabei  bleibt  die  Dissonanz  gerade  so  wie 
beim  diotischen  und  monotischen  Hören.  Die  Zwischentöne  kommen 
auch  bei  den  Obertöneu  vor;  also  müsste  auch  hier  die  Rauhigkeit 
der  Dissonanz  entstehen. 

Der  Grundfehler  der  Theorie  liegt  darin,  dass  Kr.  Dissonanzen 
wählt,  welche  nur  wenig  von  den  einfachsten  Zahlenverhältnissen 
abweichen,  die  ,, ehrlichen"  Dissonanzen  hat  er  nicht  berücksichtigt. 

Gegen  Stumpf  und  Lipps  wendet  sich  Krueger  in  der  Abhand- 
lung „Die  Theorie  der  Konsonanz"^). 

Bei  beiden  findet  sich  eine  ,, falsche  Objektivierung  der  Verding- 
lichung  der  psychologischen  Begriffe".  So  „begnügt  sich  Stumpf  nicht 
selten,  und  durchgängig  gerade  in  den  gegen  meine  Theorie  ge- 
richteten Ausführungen,  mit  dem  undifferenzierten  (überall  gleichen), 
wenig  analysierten  und  nahezu  substanziell  gewordenen  Konsonanz- 
begriff". „Er  setzt  überall  als  beinahe  selbstverständlich  voraus,  dass 
zwei  Töne  von  gleichem  Schwingungs Verhältnis  (2:3,  4:5,8:13) 
für  die  Wahrnehmung  in  ihrem  Konsonanzcharakter  unverändert 
bleiben"  .  .  .  „Auf  grund  meiner  eigenen  Erfahrungen  bestreite  ich 
auf  das  entschiedenste  diese  Ansicht,  so  viele  Anhänger  sie  zählen 
mag.  Sie  wird  von  den  meisten  meines  Erachtens  nur  unkritisch 
nachgesprochen".  „Stumpf  unterscheidet  nicht  hinreichend  die  Kon- 
sonanz vom  Intervallurteil". 

Lipps  geht  hierin  noch  weiter.  Schon  seine  Fragestellung  ist 
„eine  vorkritische,  schiefe  und  irreführende".  „Es  heisst  ein  dog- 
matisches Identilätsvorurteil  und  die  dinghaft  hypostasierende  Be- 
trachtungsweise schon  in  die  Fragestellung  hineintragen,  wenn  Lipps 
erklärt :  Jenes  , Gemeinsame'  müsse  , einen  gemeinsamen  Grund'  haben, 
es  muss  eine  Tatsache  aufgezeigt  werden,  unter  deren  Voraussetzung 
allemal  ein  wie  auch  immer  modifiziertes  Bewusstsein  der  Konsonanz 
sich  einstellt".  Dieser  Grund  liegt  nach  Lipps  in  dem  „Gesetz"  der 
Uebereinstimmung  unbewusster  seelischer  Erregungen.  Aber  dieses 
Gesetz  wird  von  den  selbständigen  Psychologen  fast  einstimmig  ab- 
gelehnt; das  Unbewusste  wird  darum  von  ihm  nun  mehr  ins 
Physiologische  gerückt. 

Viel  zu  wenig  wird  von  den  Psychologen  noch  die  Wirkung  der 
Assimilation  berücksichtigt,  d.h.  jede  Beeinflussung  eines  gegen- 

»)  Psychol.  Studieu  von  Wundt  1906  S.  805. 


r> 


Si 


432  C.  Gutberiet. 

wärtigen  P>lebnisses  durch  die  nicht  unterschiedenen  (d.  h.  nicht 
gesondert  für  sich  wahrgenommenen)  Nachwirkungen  früherer  Er- 
lebnisse .  .  .  Wir  haben  es  hier  mit  einer  Haupt  form  des  psychischen 
Geschehens  zu  tun.  Jeder  Moment  des  normalen  psychischen  Ge- 
chehcns,  jedes  konkrete  Erlebnis  des  entwickelten  Bewusstseins  ist, 
im  angegebenen  Sinne,  assimilativ  bestimmt".  Damit  hängt  zum  Teil 
die  ,, Ausgleichung"  zusammen,  die  zwischen  irgend  welchen  Ele- 
menten eines  Gesamtbewusstseinsinhaltes  stattfindet,  gleichviel  ob 
dabei  Nachwirkungen  früherer  Erlebnisse  beteiligt  sind  oder  nicht, 
gleichviel  ferner,  ob  es  zu  einer  vollständigen  Verschmelzung  kommt; 
weil  der  Prozess  unbewusst  vor  sich  geht,  kann  man  sie  ,,resulta- 
tive  Ausgleichung"  nennen.  Daraus  erklärt  sich  die  fast  ausschliess- 
liche Herrschaft  unseres  Intervallsystems  über  das  gesamte  musi- 
kalische Bewusstsein.  Stumpf  hat  nun  seinen  Verschmelzungsbegriff 
selbst  zu  ergänzen  sich  gezwungen  gesehen,  er  operiert  noch  mit 
dem  ,, Reinheitsgefühl",  wobei  er  freilich  den  Begriff  des  Gefühls 
sehr  erweitert. 

Gegen  den  gewichtigsten  Einwand  Stumpfs  richtet  sich  F.  Krueger 
in  dem  Aufsatz:  „Die  Theorie  der  Konsonanz"^). 

Stumpf  hatte  den  Fünfklang  172  :  330  :  472  :  676  :  1230  als  Ein- 
wand gegen  die  Schwebungen  als  Ursache  der  Dissonanz  angeführt ; 
er  ist  ganz  schwebungsfrei,  müsste  also  „der  konsonanteste  Akkord 
der  Musik  in  mittlerer  Tonlage  sein".  Er  zieht  nun  diesen  Einwand 
zurück,  da  Vf.  nachgewiesen,  dass  schon  die  Differenztöne  erster 
und  zweiter  Ordnung  dieses  Zusammenklanges  Dissonanztöne  geben 
müssen;  er  besteht  aber  darauf,  dass  bei  schwachem  Anschlag 
keine  Differenztöne  gehört  werden.  Vf.  hört  aber  dieselben,  bis  der 
Anschlag  so  schwach  wird,  dass  man  auch  keine  Konsonanz  und 
Dissonanz,  wohl  aber  noch  den  Intervallunterschied  wahrnimmt. 

Nun  hat  aber  Stumpf  neuerdings  Intervalle  angegeben,  die  nach 
der  Theorie  Kruegers  nicht  dissonant  sein  könnten  und  es  doch  ent- 
schieden sind ;  z.  B.  innerhalb  der  Oktave  5:7,  5:9,  7:9;  jenseits 
der  Oktave  9  :  16,  11  :  24,  5  :  13,  13  :  21,  31  :  49,  34  :  55. 

Dagegen  zeigt  Vf. :  „die  meisten  der  Stumpfschen  Intervalle  sind 
deshalb  als  neutral,  d.  h.  weder  als  konsonant  noch  als  dissonant, 
im  Sinne  der  Fragestellung,  zu  betrachten,  weil  sie  nach  Stumpfs 
eigenen  Voraussetzungen  in  einer  absoluten  Tonhöhe  zu  erzeugen 
wären,  die  zu  hoch  ist,  dass  ein  unmittelbares  Wahrnehmungs- 
bewusstsein  der  Sonanz  (entweder  für  eben  diese  oder  überhaupt  für 
alle  Intervalle)  dort  stattlinde".  „Es  ist  in  jedem  Falle  ein  relativ 
enges  Mittelgebiet  der  musikalisch  brauchbaren  Tonregion,  innerhalb 
dessen  für  alle  Sonanzgrade,  auch  nur  der  gegenwärtigen  Musik,  ein 
ursprüngliches  rein  empfindungsmässiges  Konsonanz-  oder  Dissonanz- 
bewusstsein  besteht".  Die  Verhältniswahlen  Stumpfs  müssen  mit  50 
oder  100  multipliziert  werden.  So  muss  also  eine  grosse  Anzahl 
der  kritischen  Intervalle  Stumpfs  ausgeschieden  werden. 

')  Psychol.  Studien  von  Wundt  1908  IV  S.  201. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  433 

,, Zusammenfassend  di^irfen  wir  sagen:  was  an  Tatsachen  bisher 
über  die  weiten  Intervalle  bekannt  ist,  steht  in  gutem  Kinklang  oder 
doch  nicht  im  Widerspruche  mit  der  Theorie  von  der  primär  ent- 
scheidenden Bedeutung  der  Differenztöne  für  die  Sonanz". 

Im  ganzen  hat  sich  bis  jetzt  folgendes  ergeben:  ,,Die  spezielle 
Kritik  Stumpfs  beruht  auf  der  Annahme,  dass  die  von  ihm  ange- 
führten Zusammenklänge  sämtlich  für  die  unmittelbare  Wahrnehmung 
dissonierten.  Diese  Annahme  erweist  sich  nach  allen  bisher  vor- 
liegenden Beobachtungen  und  musikalischen  Tatsachen  als  unhaltbar: 
ein  Teil  der  kritischen  Zweiklänge  ist  in  Wirkhchkeit  konsonant, 
in  dem  Grade  der  unvollkommeneren  Konsonanzen  unserer  Musik; 
die  überwiegende  Mehrzahl  aber  —  ich  erinnere  noch  einmal  an  die 
hohe  absolute  Tonlage  dieser  Zweiklänge  —  ist  von  Hause,  aus  weder 
konsonant  noch  dissonant,  sondern  sonanzmässig  wie  auch  gefühls- 
mässig  neutral  (indifferent)". 

Neue  Einwände  Stumpfs  widerlegt  Krueger  in  den  ,Psychol. 
Studien'  *). 

,,Die  Verhältnisse  der  Differenztöne  lassen  in  keinem  einzigen 
der  Stumpfschen  Fälle  vollkommene  Konsonanz  erwarten".  Wollte 
man  die  psychologischen  Linien  ins  Physiologische  weiterführen,  ,,so 
kann  kein  Zweifel  sein :  Das  geschähe  mit  der  grössten  Wahrschein- 
lichkeit in  der  Richtung  einer  erweiterten  und  vermehrten  Wirksam- 
keit der  Kombinationserscheinungen  über  das  (bisher)  gesondert 
Wahrnehmbare  hinaus !"  ,,Nach  der  absoluten  Höhe  zu  verwischen 
sich  alle  Sonanzcharaktere  der  Wahrnehmung  in  der  Richtung 
sonanzlicher  Neutralität,  und  zwar  zuerst  die  von  Hause  aus  am 
wenigsten  ausgeprägten;  nach  der  Tiefenlage  hin  nähern  sich  alle 
Zusammenklänge  mehr  und  mehr  einer  unterschiedslosen  Disso- 
nanz, zuerst  die  schon  in  der  Mittellage  dissonanten,  dann  die  un- 
vollkommen dissonierenden". 

AbschUessend  erklärt  Krueger:  „Die  Auseinandersetzung  mit 
allen  gegen  meine  Resultate  erhobenen  Einwänden  hat  genauer 
gezeigt,  wie  v/eit  wir  von  einem  vollen  psychologischen  Verständnis 
der  Konsonanz  noch  entfernt  sind  .  .  .  Freilich  ist  auch  dies  durch 
die  gegenwärtige  Diskussion  erst  recht  klar  geworden,  dass  zur  Zeit 
in  der  theoretischen  Behandlung  der  Tonwahrnehmungen  noch  bis  in 
die  Fragestellung  hinein  tiefgreifende  allgemeinpsychologische  Gegen- 
sätze bestehen". 

Darin  müssen  wir  ihm  vollkommen  beistimmen. 

Neue  Einwände  gegen  Krueger  erhebt  Stumpf  in  der  Zeit- 
schrift für  Psychol.  von  Schumann-). 

Zunächst  erklärt  St.,  er  behaupte  nicht,  dass  die  Lehre  von  den 
5  Differenztönen  falsch  sei,  w^ohl  aber  dass  sie  einer  Nachprüfung  be- 
dürfe ;  K.  hat  nämlich  nicht  selbst  beobachtet,  sondern  nur  kontrolliert. 
„Intervalle   bis    zur    Oktave:    1.  Di  und  Di  sind  überall  vorhanden 

0  1909  S.  294. 

0  1910  55.  Band  S.  1  ff. 


434  C.  Gutberiet. 

(K.  T.  bezeichnet  Koinbiiiatiorislon,  D  DilTerenz-,  S.  T.  Summations-, 
P.  T.  die  erzeugenden  Primär-,  li  die  höheren,  t  die  tieferen  Primär- 
tönej.  2.  Zwischen  der  kleinen  Terz  und  der  Oktave  sind  bei 
Primärtönen  bis  zu  c^  keine  sonstigen  DiiTerenztöne  unterhalb  des 
tieferen  Primärtones  nachzuweisen.  3.  Differenztöne  von  Primär- 
tönen bis  zu  c*  bilden  unter  sich  und  mit  Primärtönen  keine  wei- 
teren beobachtbaren  DiiTerenztöne.  4.  Bei  Verstimmungen  kommt 
nirgends  innerhalb  der  Oktave  ausser  in  ihren  beiden  Endregionen 
ein  D.  T.  von  der  tiefen  Tongrenze  herauf.  5.  Schwebungen  von 
D.  T.  untereinander,  sowie  Spaltung  eines  D.  T.  in  zwei  finden  sich 
nur  bei  verstimmter  Quinte ;  Schwebungen  von  D.  T.  mit  den  er- 
zeugenden P.  T.  nur  unterhalb  der  kleinen  Terz  und  nahe  der 
Oktave.  6.  Die  Tonhöhe  der  D.  T.  entspricht  genau  dem  berech- 
neten Werte.  7.  D.  T.  zwischen  den  berechneten  sind  nicht  auf- 
zufinden. 8.  hitervalle  jenseits  der  kleinen  Terz  geben  keinen  Mitlel- 
ton.  9.  Ausser  Di  und  D^  existieren  noch  innerhalb  bestimmter 
Grenzen  die  unteren  D.  T.  3t  -  2h,  4t— 3h  und  die  oberen  D.  T. 
2h— t,  3h— 2t,  4h— 3t.  10.  Der  Summationston  h-ft  ist  nicht 
durch  Obertöne  bedingt  und  nicht  auf  D.  T  zurückführbar.  11.  In- 
tensitätsfragen bezüglich  der  Di  und  D2  und  der  zugehörigen  Primär- 
töne." 

„Erscheinungen  bei  der  verstimmten  Oktave:  1.  Schwebungen 
auf  dem  tieferen  Primärton.  2.  Die  Schwebungen  des  tieferen  P. 
gehen  bei  der  Erhöhung  der  Oktave  nicht  in  einen  Differenzton 
(D2)  über.  3.  Höhenveränderungen  der  Primärtöne.  4.  Lokalisierung 
der  Oktavenschwebungen  auf  Zwischentöne.  Unharmonische  zen- 
trale Kombinationstöne". 

„Intervalle,  welche  die  Oktaven  überschreiten:  1.  Rechnerische 
Voranschläge.  2.  Bei  Intervallen  über  1  :  2  sind  nur  h— t  und 
h  -f-  t  zu  beobachten.     3.  Keine  K.  T.  ausser  h — t  und  h-[-t". 

„Zusammenfassung  der  beobachteten  K.  T.  und  Bemerkungen  zur 
Theorie.  Es  gibt  nur  h— t,  h-f-t;  2t -h,  2h— t;  3t— 2h,  3h— 2t; 
wahrscheinlich  4t — 3h,  4h — 3t.  Die  Theorie  von  Krueger  und  Helm- 
holtz  entspricht  nicht  dem  Befunde". 

IV. 

Aber  auch  die  Ton  Verschmelzungstheorie  von  Stumpf 
hat  viele  Gegner  gefunden.  Eine  Abhandlung  „Neueres  über  Ton- 
verschmelzung" ^)  richtet  sich  gegen  die  von  den  Ergebnissen  des 
Vf.s  abweichenden  Behauptungen  Paists,  Külpes,  Meinong- 
Witaseks. 

In  dem  Hauptpunkte  der  Verschmelzungslehre  besteht  gar  keine 
Meinungsverschiedenheit ;  dieser  ist  die  Abstufung  der  Verschmelzung 
für  Oktave,  Quinte,  Terz:  dass  der  Grad  der  Verschmelzung  von 
den  Schwhigungsverhältnissen  abhänge,  hatte  Stumpf  nur  als  approxi- 
mativen   Leitfaden    angesehen.      Er    bestreitet    die    Einwände    F'.s, 

>)  Zeilschrift  f,  Psychol.  u.  Physiol.  1898  15.  Bd.  S.  280. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  435 


M.s,  W.s  gegen  die  von  ihm  behauptete  Unabhängigkeit  der  Ver- 
schmelzung von  der  Intensität  der  Teiltöne,  Die  Unterscheidbarkeit 
der  letzteren  darf  nicht  mit  der  geringeren  Innigkeit  der  Ver- 
schmelzung verwechselt  werden.  Uebrigens  wird  doch  auch  die 
Oktave  als  solche  d.  h.  der  Verschmelzungsgrad  erkannt,  wenn  auch 
der  eine  Ton  minimale  Stärke  hat.  Wird  denn  die  Konsonanz  durch 
Verminderung  der  Stärke  des  einen  Tones  zur  Dissonanz?  Durchaus 
unhaltbar  erscheint  dem  Vf,  die  Aufstellung  Külpes,  dass  durch 
Hinzufügung  von  Tönen  die  Verschmelzung  abnehme.  Auch  die  Be- 
hauptung von  F.,  M.,  W.,  dass  die  über  die  Oktav  hinausgehenden 
Intervalle  geringere  Verschmelzungsgrade  besässen,  bestreitet  er  ent- 
schieden. „Woran  erkennen  wir  überhaupt* die  Doppeloktave,  wenn 
nicht  daran,  dass  die  beiden  Töne  die  gleiche  Verschmelzung  und 
nur  grössere  Distanz  haben  wie  bei  der  Oktave?" 

In  bezug  auf  die  letztere  Frage  hat  Goebel  („Ueber  die  Ur- 
sache der  Einklangsempfindung  bei  Einwirkung  von  Tönen,  die  im 
Oktavenverhältnis  zu  einander  stehen")^),  eine  interessante  Entdeckung 
gemacht,  die  die  Helmholtzsche  Resonnanztheorie  zu  bestätigen  scheint. 

„Lasse  ich  die  ganz  leise  klingende  nur  in  Höhe  von  c^  wahr- 
genommene c^-Gabel  schwach  vor  einem  Ohr  erklingen,  vor  dem  andern 
eine  c^-  oder  c^-Gabel  ebenfalls  leise  angeschlagen,  so  vermag  ich  eine 
,Einheitsempfindung'  nicht  festzustellen,  damit  meine  ich  das 
beim  Zusammenklingen  von  Oktaven  erzeugte  Gefühl  des  , Einklangs'. 
Lasse  ich  die  c^-Gabel  schwach  vor  einem  Ohr,  die  c^-Gabel  stärker 
vor  dem  andern  Ohr  erklingen,  so  ist  das  Einheitsgefühl  die 
Empfindung  des  Tongleichen  sofort  stark  da.  Die  Empfindung  c^ 
wird  dann  durch  beide  Töne  erzeugt,  nur  an  verschiedenen  Stellen 
der  Schnecke,  sie  bildet  zwischen  den  beiden  Tönen  das  seelische 
Bindegli&d.  Dies  Moment  bedingt  die  Einheitsempfmdung."  Der 
doppelte  Ton  lässt  sich  durch  Resonatoren  sehr  deutlich  nachweisen. 
„Obwohl  die  höhere  Oktave  bei  der  geschilderten  Anordnung  in  dem 
ihr  entsprechenden  Kugelresonator  nicht  nachweisbar  war,  obwohl 
der  starke  Eigenton  des  dem  Gabelton  entsprechenden  Resonators 
jedenfalls  die  schwachen  etwa  vorhandenen  Schwingungen  der  höheren 
Oktaven  vöUig  übertönte,  so  hörte  ich  in  dem  dem  Gabeltone  ent- 
sprechenden Resonatortone  doch  mit  vollster  Deutlichkeit  zwei  Ton- 
komponenten, eine  höhere  und  eine  tiefere  Oktave." 

Wie  ist  es  aber  möghch,  dass  durch  eine  bestimmte  Schwingungs- 
zahl zwei  Tonempfindungen  ausgelöst  werden? 

,,Töne  von  einer  bestimmten  Schwingungszahl  können  nur  auf 
eine  bestimmte  Gegend  der  Schnecke  nervenerregend  wirken,  voraus- 
gesetzt, dass  die  Empfindung  verschiedener  Tonhöhen  an  bestimmte 
Teile  der  Schnecke  geknüpft  ist,  eine  Auffassung,  der  ich  huldige. 
Werden,  trotzdem  nur  eine  bestimmte  Schwingungsart  vorhanden 
ist,    zwei   benachbarte   Oktaven   gehört,   so   müssen   die   Hörzellen, 

*)  Zeilschr.  f.  Sinnespbys.  von  Ewald,  1909,   45.  Bd.    S.  109. 


436  C.  Gutberiet. 

jeden  Schneckengangdurchschnilts  verschiedene  Wertigkeit  haben, 
derart,  dass  etwa  je  zwei  der  Hürzelleri  der  höheren  Ernpiindungs- 
üktaven  je  zwei  der  tieferen  entsprechen  ...  Bei  den  Vögeln  und 
Reptilien  aber  ist  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen,  dass 
die  Zellen  eines  Schneckenquerdurchschnittes  verschiedenen  Ton- 
werten entsprechen". 

,,Fülgendermassen  erkläre  ich  mir  die  Erscheinung :  Bei  schwachen 
Tönen  stossen  die  äusseren  Teile  von  Deckhaut  und  Papillen  zu- 
sammen ;  die  am  weitesten  nach  aussen  liegenden  Hörzellen  werden 
gereizt :  die  höhere  Oktave  gelangt  zur  Wahrnehmung.  Bei  stärkeren 
Tönen  werden  auch  die  einwärts  liegenden  Hörzellen  erregt:  Die 
tiefere  Oktave  tritt  in  steigendem  Masse  ins  Gehör." 

„Was  bisher  nicht  scharf  aufgefasstw'urde,  ist  die  Wesensänderung 
des  empfundenen  Tones,  die  mit  der  Verstärkung  des  Tones  eintritt 
.  .  .  Man  fasste  die  Empfindungsänderung  bei  der  Tonverstärkung  als 
Empfindung  der  Tonverstärkung  auf,  beachtete  dabei  zu  wenig  das 
Moment  der  Vertiefung".  „Verstärkung  der  Tonempfindung  ist  mit 
einer  Verliefung  der  Empfindung  im  Oktavenverhältnis  verbunden, 
abgesehen  von  sehr  tiefen  und  (vielleicht)  sehr  hohen  Tönen." 

Versuche  A.  Faists^)  über  die  Grade  der  Tonverschmelzung 
entsprechen  nicht  der  Verschmelzungstheorie  St.s. 

Vf.  nimmt  das  Wort  „Verschmelzung"  nicht  im  Sinne  Her- 
barts, auch  nicht  im  Sinne  Wundts,  sondern  im  Sinne 
C.  Stumpfs  als  „dasjenige  Verhältnis  zw^eier  Empfindungsinhalte, 
wonach  sie  eine  engere  Einheit  bilden,  als  diese  zwischen  den 
Gliedern  einer  blossen  Summe  stattfindet."  Indes  bedürfen  die  von 
Stumpf  aufgestellten  Tonverschmelzungsgesetze,  zumal  über  den  Grad 
der  Verschmelzung,  einer  Revision.  Der  Grad  der  Verschmelzung 
kann  entweder  indirekt  durch  die  Schwierigkeit  der  Analyse  z.  B. 
eines  Klanges,  oder  durch  direkte  Beobachtung  ermittelt  werden. 
Ersteres  Verfahren  ist  nicht  ganz  zulässig,  da  die  Auflösbarkeit  eines 
Akkordes  auch  von  anderen  Momenten  als  der  Innigkeit  der  Ver- 
schmelzung der  Einzeltöne  abhängen  kann. 

Durch  Anwendung  beider  Methoden  fand  der  Vf.  die  Ver- 
schmelzungsgrade der  Tonintervalle  wie  folgt:  Oktav,  Ouint, 
Quart,  Triton  (f-h,  c-fis),  grosse  Sext,  grosse  Terz, 
kleine  Sext,  kleine  Terz,  kleine  Sept,  grosse  Sekund. 
Darnach  ist  das  Stumpfsche  Hauptgesetz,  das  die  Verschmelzungs- 
slufe  von  der  Einfachheit  der  Schwingungsverhältnisse  der  Intervalle 
abhängig  macht,  nicht  allgemein;  denn  w^enigstens  der  Triton  hat 
ein  komplizierteres  Verhältnis  (*-^  32  U\r  f-h,  ^^\s  für  c-fis)  als  Sexten 
und  Terzen  und  selbst  als  Septimen  und  Sekunden. 

Das  2.  Gesetz  St.s:  „Der  Verschmelzungsgrad  ist  unabhängig 
von  der  Tonregion",  d.  h.  in  allen  Oktaven  gleich,  fand  Vf.  ziemlich 

*)  Versuche  über  Tonverschmelzung.  Zeitschr.  f.  Psvch.  und  Physiol. 
d.  S.  15.  Bd.     S.  102. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  437 

bestätigt,    bloss    nahm  die  Verschmelzbarkeit   nach   oben   und  nach 
unten  ein  wenig  zu. 

3.  „Der  Verschmelzungsgrad  ist  unabhängig  von  der  Stärke 
der  Komponenten,  sowohl  der  absoluten  wie  der  relativen."  Dagegen 
fand  Vf.,  dass  bei  geringerer  absoluter  Intensität  die  Verschmelzung 
sich  leichter,  bezw.  wenigstens  die  Analyse  sich  schwieriger  voll- 
zieht. Wenn  der  niedere  Ton  stärker  ist,  wird  die  Verschmelzung 
stärker,  schlechter,  wenn  der  höhere  stärker  ist. 

4.  Gegen  0.  Külpe  verteidigt  Vf.  den  Stumpfschen  Satz: 
„Durch  Hinzufügung  eines  beliebigen  dritten  und  vierten  Tones  wird 
der  Verschmelzungsgrad  zweier  gegebenen  Töne  in  keiner  Weise 
beeinflusst." 

5.  „Durch  das  Hinzutreten  der  Obertöne  wird  die  Ver- 
schmelzung der  höheren  Verschmelzungsstufen  vergrösseit,  die  der 
niederen  aber  herabgesetzt."     Gilt  auch  als  Analysengesetz. 

6.  „Sehr  kleine  Abweichungen  der  Schwingungszahlen  von  den 
natürlichen,  einfachen  Verhältnissen  der  einzelnen  Intervalle  erzeugen 
keine  merkliche  Aenderung  des  Verschmelzungsgrades". 

7.  „Die  Verschmelzungsgrade  bleiben  auch  in  der  Phantasie- 
vorstellung erhalten."  Vf.  hört  sogar  die  Schwebungen  in  der  Phan- 
tasie, welche  St.  sich  nicht  vorstellen  kann. 

8.  Gegen  Stumpf,  der  auch  bei  über  die  Oktav  hinausgehenden 
Intervallen  dieselben  Verschmelzungsstufen  aufstellt,  findet  der  Vf. : 
„Die  über  eine  Oktave  hinausreichenden  Intervalle  haben  durch- 
gehends  einen  geringeren  Verschmelzungsgrad  als  die  entsprechenden 
innerhalb  einer  Oktav ;  und  die  Verschmelzung  nimmt  bei  Hinzufügung 
weiterer  Oktaven  fortgesetzt  ab." 

Dagegen  stimmt  Stumpf  G.  Kästner^)  bei  in  der  Behauptung: 
Konsonanz  und  Dissonanz  fällt  nicht  zusammen  mit  AnnehmUch- 
keit  und  Unlust;  erstere  werden  wahrgenommen,  und  die  Wahr- 
nehmung erzeugt  erst  die  Gefühle.  Oktav,  Quint,  Terz,  haben  in 
zeitlicher  Folge  inbezug  auf  Annehmlichkeit  einander  abgelöst:  der 
Gang  des  Konsonanzgrades  ist  der  umgekehrte.  In  der  Untersuchung 
von  K.  soll  bloss  vom  Gefühlseindrucke  die  Rede  sein,  von  „un- 
analysierten"  Zweiklängen,  d.  h.  solchen,  bei  denen  sich  die  Auf- 
merksamkeit auf  den  Gesamteindruck,  nicht  auf  die  Bestandteile  des 
Klanges  richtet. 

„Das  Annehmhchkeitsmaximum  zeigt  sich  bei  der  grossen  Terz. 
Die  Annehmlichkeit  nimmt  von  der  Oktave  bis  zur  grossen  Terz, 
abgesehen  von  einer  Ausnahme,  der  Quarte,  zu,  während  die  Klang- 
verwandtschaft abnimmt.  Die  Annehmhchkeit  der  Quarte  ist  kleiner 
als  die  der  Quinte,  grösser  als  die  der  Oktave.  Von  der  grossen 
Terz  bis  zur  kleinen  Sekunde  nehmen  beide  mit  Ausnahme  des 
Tritonus    gleichmässig  ab.     Der    Tritonus    kommt    in    der    Ordnung 


0  Untersuchungen  über  den  Gefühlseindruck  unanalysierter  Zweiklänge. 
Psych.  Stud.  v.  Wundt  1908.  IV.  S.  473. 

Philoiophisches  Jahrbuch  1913.  28 


438  C.  üutberlet.  f 

nach  Klangvervvandtschaft  zwischen  kleiner  Terz  und  kleiner  Sext, 
in  der  Ordnung  nach  Annehmlichkeit  zwischen  kleiner  Sexte  und 
kleiner  Septime  zu  stehen. 

Die  Versuche  gestatten  einen  zahlenmässigen  Ausdruck  für 
die  Annehmlichkeit  der  verschiedenen  Zweiklänge.  ,, Addiert  man 
für  jedes  Intervall  die  Annehmlichkeitsurteile  und  zieht  aus  den 
20  Reihen  das  Mittel,  so  erhält  man  folgende  Zahlen: 
Oktave  ^,  Quinte  \^,  Quarte  '-j|,  gr.  Sexte  \^,  gr.  Terz  ^',  kl. 
Terz  ^ ,  Tritonus  ^,    kl.  Sext   j^,   kl.  Septime  ^,  gr.  Sekunde  -j^ 

gr.  Septime  ^,  kl.  Sekunde  ^."      „Die    kleine    Sekunde    war    im 

Durchschnitt  am  einheitlichsten  das  unangenehmste  Intervall",  mehr 
als  das  Intervall  256  :  284,  resp.  320  :  355  Schwingungen,  das  von 
Stumpf  und  Krueger  als  Unlustmaximum  bezeichnet  wird,  aber  von 
manchen  angenehmer  gewertet  wurde". 

Der  Gefühlston  wird  von  verschiedenen  Faktoren  beeinträchtigt, 
von  der  absoluten  Tonhöhe,  von  Schwebungen,  von  Stimmung  und 
Individualität  der  Beobachter,  von  Uebung  und  Veranlagung.  Wel- 
chen derselben  die  Hauptrolle  zufällt,   lässt  sich  schwer  bestimmen. 

Genauer  hat  Stumpf  seine  Theorie  präzisiert  in  dem  Aufsatze 
„Konsonanz  und  Konkordanz"  ^). 

Er  hält  an  der  Verschmelzungstheorie  fest,  Krueger  hat  durch 
seine  Modifikation  der  Helmholtzschen  Theorie  die  Schwierigkeiten 
derselben  nicht  beseitigen  können.  Die  Verschmelzung  besagt  nicht 
Einheit,  sondern  Einheitlichkeit,  d.  h.  Annäherung  an  den  Ein- 
druck eines  einzigen  Tones.  Die  Verschmelzung  hängt  nicht  von  den 
physikalischen,  sondern  von  den  physiologischen  Tonhöhen  ab.  Wird 
eine  Tonoktave  aus  grösserer  Entfernung  gehört,  so  stimmt  sie  nicht 
mehr  mit  ihrer  Oktave.  Darum  kann  ein  und  dasselbe  Tonpaar 
nicht  in  verschiedenen  Graden  verschmelzen. 

Konsonanz  und  Dissonanz  sind  nur  graduell  verschieden,  nur 
in  unserem  modernen,  sehr  entwickelten  Musiksysteme  sind  sie 
spezifisch  verschieden.  Unsere  Musik  beruht  auf  dem  Dreiklang  in 
Dur  und  Moll.  Welches  ist  aber  das  Strukturprinzip'?  Die  Obertöne? 
Allerdings  hat  Dur  die  einfachen  Verhältnisse  4:5:6,  Moll  10  : 
12  :  15,  aber  es  gibt  noch  kleinere  Verhältnisse:  6  :  9  :  11.  Das 
zugrunde  liegende  Prinzip  lautet:  „Es  werde  die  grösste  Anzahl  von 
Tönen  innerhalb  der  Oktave  angegeben,  die  sämtlich  unter  sich  kon- 
sonieren,  und  zwar  indem  wir  in  der  Tonbewegung  von  unten  nach 
oben  und  unter  den  Konsonanzen  von  den  stärkeren  zu  den 
schwächeren  Konsonanzgraden  übergehen."  Darnach  erhält  man  von 
c  ausgehend  zunächst  g,  dann  es  oder  e.  Also  hat  man  c  :  e  :  g  :  c' 
und  c  :  es  :  g  :  c'".  „Weder  Untertöne  noch  Differenztöne  noch 
das  reziproke  Verhältnis  der  Wellenlängen  zu  den  Schwingungs- 
zahlen halten  Stich,  weil  es  keine  Untertöne  gibt,  weil  die  Differenz- 

')  Zeilschr.  f.  Psycho!,  v.  Schumann.     1911.    58.  Bd.  S.  321. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  439 

töne,  von  anderen  abgesehen,  Moll  gegen  Dur  stark  zurückstellen, 
und  weil  die  Unterscheidung  von  Wellenlänge  und  Schwingungszahl 
als  eine  rein  physikalische  uns  über  psychologische  Dinge  keinen 
Aufschluss  geben  kann.  Auch  die  Rechenoperationen,  wodurch  man 
seit  Zarlino  Moll  als  Umkehr  des  Dur  (V4  :  Va  :  Ve)  hinstellt,  können 
psychologisch  nichts  erklären.  Der  Duahsmus  in, diesem  Sinne, 
als  Theorie  der  symmetrischen  Umkehrung  aller  Intervalle  in  un- 
serem Tonbewusstsein,  bleibt  eine  Fiktion." 

„Aus  der  Durchführung  des  Konsonanzphänomens  sind  auch  die 
modernen  Leitern  erwachsen.  Und  es  ist  das  Verfahren  hierbei  ein  be- 
sonders rationelles.  Es  besteht  bekanntlich  darin,  dass  auf  den  beiden 
mit  dem  Grundton  am  stärksten  harmonierenden  Tönen  nach  oben 
hin,  der  Dominante  und  Subdominante,  wieder  Dreiklänge  aufgebaut 
werden,  und  zwar  Dreiklänge  von  gleicher  Art  wie  auf  dem  Grundton." 

St.  unterscheidet  konkordante  und  diskordante  Akkorde. 
Als  erstere  ,, bezeichnen  wir  alle  Dreiklänge  im  gewöhnlichen  Sinne 
des  Wortes,  also  alle  die  Haupt-  und  Nebendreiklänge  in  Dur  und 
Moll  nebst  ihren  Um-  und  Weitlagerungen.  Eine  conditio  sine  qua 
non  jedes  Konkords  ist,  dass  er  eine  Quinte  oder  deren  Umkehrung, 
eine  Quarte,  enthält,  ferner  eine  Terz  oder  deren  Umkehrung,  eine 
Sexte.  Als  diskordante  oder  Diskorde  bezeichnen  wir  alle  ül3rigen 
Akkorde,  also  solche,  die  aus  Dreiklängen  durch  Hinzufügung  ganz 
bestimmter  rationell  gerechtfertigter  Töne  oder  durch  bestimmte 
Alterationen  der  Dreiklangtöne  selbst  entstehen."  „Die  Konsonanz 
zweier  Töne  wird  durch  den  Hinzutritt  eines  dritten  nicht  verändert ; 
wohl  aber  kann  Konkordanz  durch  einen  weiteren  Ton  in  Diskor- 
danz übergehen.  Wenn  wir  zu  c  :  g  oder  zu  c  :  e  :  g  noch  a  hin- 
zufügen, so  behält  die  Quinte  und  behalten  die  Terzen  ihre  Ver- 
schmelzungsgrade unverändert  bei.  Dagegen  geht  die  Konkordanz 
des  Dreiklangs,  ebenso  die  der  Quinte,  sofern  sie  als  Teil  eines  sol- 
chen aufgefasst  war,  in  Diskordanz  über."  „Konsonanz  ist  eine 
Sache  der  sinnlichen  direkten  Wahrnehmung,  Konkordanz  ist  eine 
Sache  der  Auffassung  und  des  beziehenden  Denkens.".  Konkordanz 
und  Diskordanz  sind  nicht  bloss  graduell,  sondern  spezifisch  ver- 
schieden. Das  wohlgefällige  Gefühl,  das  die  Konsonanz  erweckt,  ist 
nicht  Konsonanz,  sonst  wäre  die  Terz  konsonanter  als  die  Oktave. 

V. 

Der  Grundgedanke  der  Lipps sehen')  Erklärung  der  Konso- 
nanz ist  der,  dass  die  Verhältnisse  der  Schwingungszahlen  der  phy- 
sischen Reize  auch  psychisch,  freilich  in  der  unbewussten  Sphäre, 
existieren.  Aber  gerade  diese  „unbewussten"  Empfindungsvorgänge 
stossen  auf  die  grösste  Schwierigkeit.  Darum  gibt  er  sich  grosse 
Mühe,  die  darüber  bestehenden  Miss  Verständnisse  aufzuklären.  Wenn 
man  den  Namen  „unbewusst"  bei  Seite  lässt,  ist  seine  „Theorie",  so 
meint  er,  so  harmlos  als  nur  möglich.     Er  führt  aus: 

')  Psychologische  Studien.     2.  Aufl.     Leipzig  1905. 

28* 


440  C.  Gutberiet. 

„Niemand  bezweifelt,  dass  mein  Bewusslsein  dor  Höhe  eines  Tones  den 
Schwingungsanzahlen  sein  Dasein  verdankl.  Nun,  in  völlig  analoger  Weise  ver- 
dankt meiner  Anschauung  zufolge  das  Bewusslsein  der  Konsonanz  den  Ver- 
hältnissen der  Schwingungsanzahlen  sein  Dasein.  Gewiss  ist  Konsonanz  etwas 
ganz  anderes  als  Verhältnis  der  Schwingungsanzahlen  .  .  .  Aber  genau  ebenso 
ist  das,  was  ich  Tonhöhe  nenne,  etwas  völlig  anderes,  als  eine  bestimmte 
Schwingungsanzahl". 

•  

Dem  Konsonanz-  wie  dem  Tonhöhenbewus-stsein  geht  eine  Kette 
von  unbewussten  Vorgängen  voraus,  angefangen  von  den  einfachen 
Schwingungsverhältnissen  bis  zu  dem  Momente,  der  unmittelbar  dem 
Bewusstsein  vorausgeht. 

„Dieses  Glied  oder  Element  nun  wollen  wir  den  ,unbewussten  Vorgang  des 
Empfindens'  nennen.  .  .,  weil  daraus  unmittelbar  ein  Bewusstseinsinhalt 
sich  ergibt,  den  jedermann  als  einen  Empfindungsinlialt  zu  bezeichnen  pflegt". 

Nun  aber  müssen  „die  Teilvorgänge,  die  ich  als  die  EmpOndungsvorgänge 
bezeichnet  habe,  beide  derjenigen  Region  angehören  oder  in  die  Region  hinein- 
ragen, in  welcher  die  von  den  verschiedenen  Punkten  und  Gebieten  der  Körper- 
peripherie herkommenden  auf  das  Dasein  von  Empfindungsinhalten  abzielenden 
Vorgänge  zusammentrefTen ,  und  Elemente  eines  einheitlichen  Zusammen- 
hanges werden.  Diesen  Ort'  nun  oder  diese  Region  nenne  ich  die  Seele,  ohne 
es  deswegen  dem  Physiologen  zu  verargen,  wenn  er  sie  lieber  Gehirn-  und 
Grossgehirnrinde  nennt  .  .  .  Nennen  wir  aber  einmal  jene  Region  , Seele',  dann 
müsssen  wir  natürlich  auch  die  unbewussten  Empfindungsvorgänge,  von  welchen 
bisher  die  Rede  war,  unbewusste  seelische  Vorgänge  nennen.  Ich  verstehe 
also  unter  den  ,unbewussten  seelischen  Vorgängen',  die  den  Tonempfindangs- 
inhalten  zugrunde  liegen,  die  Endstadien  des  diesen  Empfindungsinhalten  zweifel- 
los zugrunde  liegenden,  mit  den  physikalischen  Reizen  beginnenden,  unbe- 
wussten Prozesses.  Ich  nenne  sie  aber  so  von  dem  Funkte  an,  wo  sie 
nicht  mehr  isolierte  Prozesse  sind,  sondern  mit  einander  und  mit  gleich- 
artigen seelischen  Vorgängen  in  durchgängige  Wechselbeziehung  treten". 

Wir  glauben,  dass  Lipps  den  Physiologen  oder  eigentlich  den 
Gehirnpsychologen  zu  viel  zugesteht,  wenn  sie  als  jene  gemeinsame 
Kegion,  in  welcher  die  verschiedenen  peripheren  Eindrücke  sich  be- 
gegnen, das  Gehirn  bezeichnen.  In  dem  Bewusstsein  der  Konsonanz 
wird  nicht  nur  das  Zusammenstimmen  zweier  Töne,  sondern  diese 
Töne  selbst  werden  mehr  oder  w^eniger  deutlich  wahrgenommen. 
Darum  müssen  auch  in  dem  diesem  Bewusstsein  zugrunde  liegenden 
Vorgange  die  beiden  Töne  gleichzeitig  gegeben  sein.  Das  Gehirn 
kann  zwei  Töne  nur  durch  zwei  unterschiedene  Partien  gleichzeitig 
in  sich  darstellen.  Sind  sie  aber  an  zwei  unterschiedene  Massen- 
teilchen gebunden,  dann  kann  kein  einheitliches  Bewusstsein  ihres 
Zusammenklanges  entstehen.  Höchstens  könnten  sie  ihre  Erregung 
in  ein  gemeinsames  drittes  Feld  überleiten;  dann  haben  wir  aber 
nicht  mehr  zwei,  sondern  nur  einen  resultierenden  Ton. 

Sehr  energisch  bekämpft  Lipps  die  Helmholtzsche.  lange  Zeit 
als  klassisch  gegoltene  Erklärung  der  Konsonanz  und  Dissonanz. 
Dieselbe  findet  bekanntlich  die  Konsonanz  in  der  Freiheit  von 
Schwebungen,  die  sich  bei  den  dissonanten  Zusammenklängen 
einstellen.  Es  beruht*  darnach  die  Disharmonie  auf  hiterferenz- 
erscheinungen,  welche  bei  dissonanten  Tönen  eine  Diskontinuierlich- 
keit,   damit    eine   unangenehme   Rauhigkeit   erzeugen.     Dagegen 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  441 

bemerkt  Lipps  mit  Wundt,  dass  es  dissonante  Intervalle  gibt,  welche 
keine  Rauhigkeit  zeigen.  Rauhigkeit  und  Dissonanz  sind  überhaupt 
ganz  verschiedene  Begriffe,  ganz  verschiedene  Bewusstseinserlebnisse. 
Die  Dissonanz  ist  keine  Beschaffenheit  der  Töne,  sondern  ein  Ver- 
hältnis, die  Beziehung  des  Nichtzusammenpassens,  der 
Gegensätzlichkeit,  der  Entzweiung  nämlich  zwischen  zwei  Tönen. 

Vielleicht  sagt  man,  das  Dissonanzbewusstsein  beruhe  auf 
Rauhigkeitsbewusstsein.  Davon  wissen  wir  aber  nichts;  es  müsste 
also  ein  unbewusster  Vorgang  angenommen  werden,  was  zur  Theorie 
des  Vf.s  führt. 

Man  kann  sich  auch  dissonante  Zusammenklänge  vorstellen: 
wo  bleiben  da  die  Schwebungen?  Den  Dreiklang  kann  man  auch 
sukzessiv  anschlagen,  ebenso  einen  dissonanten  Dreiklang.  Auch 
da  zeigt  sich  Konsonanz  und  Dissonanz.  Hier  sind  aber  doch 
Schwebungen  unmöglich.    Es  gibt  ja  diskontinuierliche  Konsonanzen. 

„Keine  Rede  davon,  da.ss  jemals  konsonante  Töne  durch  HinzuTügung  der 
Diskontinuität  in  dissonante  sich  verwandelten.  Mancher  hat  eine  rauhe 
Stimme,  und  doch  sind  die  von  ihm  gesungenen  Intervalle  konsonant,  wenn 
auch  etwas  getrübt". 

„Helmholtz  hat  aber  selbst  gelegentlich  einen  andern  Grund  der  Dissonanz 
angegeben.  Der  Molldreiklang  in  der  Lage  g — Ci — esi  ist  weniger  konsonant 
als  c—es~g,  weil  in  ihm  die  Kombinationstöne  Asi  und  B  vorkommen,  welche 
zwar  weder  unter  sich  noch  mit  einem  der  einzelnen  Töne  des  Dreiklangs 
störende  Schwebungen  bilden,  aber  nicht  in  den  CmoU-Akkord  hinein- 
gehören. Doch  wie  erklärt  sich  die  Konsonanz?  Dieselbe  scheint  Helmholtz 
keiner  Erklärung  bedürftig.  Die  Freiheit  von  Schwebungen  ist  doch  etwas  rein 
Negatives;  Konsonanz  Siber  ebenso  wie  Dissonanz  etwas  Positives.  Es  fragt 
sich  aber:  Wie  kann  das  Zusammentreffen  zweier  Elemente,  die  einzeln 
für  ein  bestimmt  geartetes  Bewusstseinserlebnis  ganz  und  gar  keinen  Grund 
in  sich  tragen,  Grund  sein  für  dies  Bewusstseinserlebnis?  Und  wie  verhält 
es  sich  nun  mit  der  Konsonanz  und  Dissonanz  auf  anderen  Gebieten?  ...  In 
beliebiger  Richtung  nebeneinander  herlaufende,  gerade,  scharf  gezogene  Linien 
machen  keinen  konsonanten,  sondern  einen  der  Dissonanz  entsprechenden  Ein- 
druck, obgleich  hier  für  die  Entstehung  einer  störenden  Nebenempfindung,  die 
mit  den  Tonschwebungen  verglichen  werden  könnte,  keine  Gelegenheit  ist  .  .  . 
Die  Seele  verlangt,  dass  die  verschiedenen  gleichzeitig  wahrnehmbaren  Linien 
in  ihrer  Grösse  und  Richtung  einem  gemeinsamen  Gesetze  gehorchen". 

Und  wie  ist  es  nun  nach  Helmholtz  mit  der  Konsonanz  und 
Dissonanz  aufeinanderfolgender  Töne?  Hier  können  keine 
Schwebungen  entstehen.  Helmholtz  findet  es  nicht  für  nötig,  hier 
die  Dissonanz  zu  erklären,  sondern  umgekehrt  die  Konsonanz.  Diese 
ergibt  sich  aus  der  Klangverwandtschaft,  die  in  der  Identität  von  Ober- 
tönen der  aufeinander  folgenden  Klänge  besteht.  Aber  es  folgen  sich 
auch  einfache  Töne  und  zeigen  die  gleiche  Konsonanz.  Nach  Lipps 
ergibt  sich  die  Konsonanz  und  Dissonanz  hier  dadurch,  dass  der 
vorhergehende  Ton  noch  in  der  Seele  hafte,  freilich  nicht  so  lebhaft 
wie  beim  Zusammenklang.  Darum  ist  die  Konsonanz  und  Dissonanz 
aufeinanderfolgender  Töne  nicht  so  lebhaft;  sie  nähert  sich  um  so 
mehr  der  Konsonanz  gleichzeitiger  Zusammenklänge,  je  schneller  die 
Aufeinanderfolge  verläuft. 


442  C.  Gutberiet. 

Die  Theorie  der  Konsonanz  von  F.  Krueger  verwirft  Lipps 
vollständig.  Der  durch  die  DifTerenztöne  erzeugte  Einklang  bei 
der  Konsonanz  und  verstimmte  Einklang  bei  der  Dissonanz  sind 
Begleiterscheinungen,  machen  aber  die  Konsonanz  und  Disso- 
nanz nicht  aus.  Etwa  so  wie  wenn  zwei  zusammenpassende  Farben  auf 
reinem  oder  schmutzigem  Grunde  gesehen  werden.  Der  Schmutz  des 
Grundes  hebt  die  Zusammenstimmung  der  Farben  nicht  auf.  Man 
kann  ja  auch  neben  einem  konsonanten  Intervalle  noch  jenen  ver- 
stimmten Einklang  künstlich  erzeugen :  die  Konsonanz  wird  dadurch 
nicht  aufgehoben. 

Den  Grundfehler  der  Theorie  findet  Lipps  in  der  falschen  Auf- 
fassung der  Gestaltqualitäten.  Wir  müssen  uns  bewusst  bleiben, 
„dass  die  Komplexqualitäl  der  Zusammenklänge  und  der  Tonfolgen,  sowie  alle 
Komplexqualitäten  auf  Beziehungen  beruhen.  Und  dann  können  wir  natür- 
lich die  Komplexqualität,  Konsonanz  oder  Dissonanz  genannt,  nicht  auf  irgend 
etwas  reduzieren  oder  irgendwie  , erklären',  ohne  zunächst  die  Beziehung 
ins  Auge  gefasst  und  die  Frage  gestellt  zu  haben,  wie  denn  diese  B  ez  i  ehung 
der  Konsonanz  und  Dissonanz,  oder  genauer  wie  das  Bewusstseinserlebnis  dieser 
Beziehung,  wie  mit  einem  Worte  das  Bewusstseinserlebnis  der  eigenartigen 
Zusammengehörigkeit  oder  NichtZusammengehörigkeit,  Verwandtschaft  oder 
Fremdheit  zwischen  zwei  Tönen  uns  verständlich  werden  kr.nne". 

Nun  aber  hat  es  „ebensowenig  Sinn,  diese  Beziehung  zurück- 
führen zu  wollen  auf  ein  drittes  gegenständliches  Element,  das  irgend- 
wie zu  den  in  Beziehung  stehenden  Elementen  hinzutritt,  als  es  Sinn 
hätte,  zu  sagen,  die  Harmonie  zweier  Farben  bestehe  im  Hinzutreten 
einer  dritten  Farbe". 

Uebrigens  fehlen  bei  sehr  tiefen  Tönen  die  Differenztöne.  Wie 
soll  hier  die  Konsonanz  und  Dissonanz  erklärt  werden? 

An  Stumpf  richtet  Lipps  auch  jetzt  wieder  die  Frage:  Was 
ist  die  Verschmelzung,  welche  die  Konsonanz  ausmachen  soll? 
Nun,  Einheit  zweier  Töne.  Aber  das  Wort  Einheit  hat  so  mannig- 
fache Bedeutung,  dass  man  es  ohne  nähere  Erklärung  in  keinem  Falle 
gebrauchen  sollte.  Im  Grunde  muss  Stumpf  eine  numerische 
Einheit  oder  Annäherung  an  dieselbe  verstehen.  Aber  die  Unmusi- 
kalischen nehmen  oft  einen  Ton  wahr,  "wo  die  Musikalischen  die 
zwei  hören.     Also  wäre  die  Konsonanz  für  beide  verschieden? 

„Stumpf  gibt  an  einer  Stelle  zu  verstehen,  was  den  Sinn  der  , Ver- 
schmelzung' ausmache,  könne  man  schliesslich  mit  Worten  nicht  eigentlich 
verständlich  machen.  Wie  die  Verschmelzung  sich  ausnehme,  müsse  man  eben 
hören.  In  der  Tat  wird  dies  das  letzte  Mittel  sein.  Aber  dies  Mittel  ent- 
scheidet zugleich  am  sichersten  gegen  die  Identifizierung  von  aktueller  Ver- 
schmelzung und  Konsonanz.  Ich  höre  zwei  Töne  gleichzeitig  und  finde  in 
meiner  Gesamtempfindung  eine  Weise  derselben,  sich  zu  verhalten,  vor,  die  ich 
mit  Fug  und  Recht  als  Verschmelzung  bezeichnen  kann.  Ich  höre  dann  die 
gleichen  Töne,  nur  dass  der  eine  schwächer  geworden  ist,  und  finde  eine  andere 
Weise  derselben,  sich  zu  einander  zu  verhalten,  vor,  nämlich  ein  stärkeres 
Ineinanderfiiessen.  Ich  höre  zum  dritten  Male  die  gleichen  Töne,  verwende 
aber  auf  ihre  Auffassung  geringere  Aufmerksamkeil,  und  finde,  wenn  ich  mich 
des  Erlebten  erinnere,  wiederum  diese  zweite  AVeise  der  Töne  sich  zu  ein- 
ander zu  verhalten.  Ich  höre  endlich  die  Töne  nacheinander,  und  finde  in 
meinem  Gesamtemplinden  von  jenem  Verhalten  der  Töne  zu  einander,  wie  ich 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  443 

es  beobachtete,  als  die  Töne  gleichzeitig  gegeben  waren,  schlechterdings  gar 
nichts  mehr  .  .  .  Die  Konsonanz  der  Töne  aber  ist  in  allen  diesen  Fällen 
dieselbe". 

Nach  Stumpf  ist  die  Wohlgefälligkeit  kein  wesentliches 
Merkmal  der  Konsonanz.     Aber 

„wenn  wir  in  der  Dämmerung  Farben  nicht  unterscheiden  können,  wenn  beim 
Uebergang  von  einer  Farbe  zur  andern  die  , Vorstellung'  der  einen  mit  der  Wahr- 
nehmung der  andern  ,verschmilzt*,  wenn  bei  schlechter  Beleuchtung  die  Glie- 
derung eines  Gebäudes  undeutlich  wird,  oder  die  Gegenstände  unserer  Um- 
gebung zusammen  oder  ineinander  ,fliessen',  ist  dies  Konsonanz?  Nein.  Und 
warum  nicht?  Weil  uns  hier  nicht  so  zumute  ist,  wie  uns  bei  der  musika- 
lischen Konsonanz  zumute  zu  sein  pflegt". 

Aber  Stumpf  bemerkt, 

„dass  die  isolierten  Inl  ervalle  ihren  Gefühlswert  seit  dem  Altertum  wesent- 
lich verändert  haben.  Bei  den  Alten  finden  wir  die  Oktave  als  angenehmste  und 
schönste  Konsonanz  bezeichnet.  Im  Mittelalter  wurde  eine  Zeitlang  die  Quinte 
als  schönster  Zusammenklang  gepriesen.  Gegenwärtig  werden  wir  geneigt  sein, 
die  Terz  als  das  süsseste,  wohllautendste  Intervall  zu  bezeichnen". 

Das  beweist  nur,  dass  die  Disposition  des  Geniessenden  wesent- 
lich mit  zu  dem  Wohlgefallen  beiträgt.  Je  einfacher  der  Empfindende, 
desto  einfachere,  klarere  Verhältnisse  gefallen  ihm. 

Gegen  die  Wundtsche  Theorie  hat  Lipps  im  allgemeinen  ein- 
zuwenden, dass  die  verschiedenen  von  ihm  geltend  gemachten  pho- 
nischen und  metrischen  Faktoren  allerdings  zur  Konsonanz 
beitragen,  sie  modifizieren  können,  im  Grunde  sie  aber  schon  voraus- 
setzen, das  aller  Konsonanz  Gemeinsame  nicht  erklären.  Dazu  gehört 
die  Einfachheit;  bei  der  Konsonanz  fallen  Kombinationstöne  zu- 
sammen, bei  der  Dissonanz  nicht.  Aber  nicht  die  Mannigfaltigkeit, 
sondern  die  der  Klarheit  widersprechende  Mannigfaltigkeit  macht  die 
Dissonanz.  Aehnhches  gilt  von  den  Schwebungen  und  verstimmten 
Einklängen. 

Das  metrische  Element  der  Konsonanz  liegt  nach  Wundt  darin, 
dass  z.  B    mit  Rücksicht  auf  die  Schwingungszahlen 

„die  Tonstrecke  zwischen  C  und  c  durch  den  Ton  G  in  zwei  gleiche  Teile 
geteilt  wird,  und  ebenso  die  grosse  Terz  in  der  Mitte  liegt  zwischen  dem  Grund- 
ton und  der  Quint.  Aber  das  Prinzip  der  gleichen  Teilung  konsonanter 
Intervalle  gilt  nur,  soweit  dabei  die  Schwingungsverhältnisse  genügend 
einfache  bleiben,  oder  was  dasselbe  sagt,  soweit  die  Teilung  konsonante 
Intervalle  gibt". 

Das  meiste  Gewicht  legt  Wundt  auf  die  Klangverwandt- 
schaft, die  direkte  und  indirekte.  Erstere  besteht  darin,  dass  zwei 
konsonante  Klänge  viele  Obertöne  gemein  haben.  Aber  das  Ergebnis 
des  Zusammenklingens  könnte  nur  sein,  dass  die  gemeinsamen  Töne 
sich  verstärken.  Wenn  der  gemeinsame  Ton  nicht  das  ganze  Wesen 
der  beiden  Klänge  bestimmt,  kann  er  sie  nicht  verwandt  machen. 
Aber  selbst  dann  haben  wir  keine  Konsonanz.  „Irgend  ein  Ge- 
schmack, z.  B.  ein  süsser  Geschmack  oder  ein  Vanillegeschmack, 
sei  verschiedenen  Geschmäcken  beigemischt.  Dieser  Geschmack  steht 
nicht  neben  dem  Geschmack,  den  die  Speisen  im  übrigen  haben, 
sondern   er  durchdringt   sie.     Dann  wird   doch  dadurch   nicht  eine 


444  C.  Gutberiet. 

innrre  Verwandtschaft  der  Geschmäcke  hergestellt,  es  sei  denn,  dass 
der  gemeinsame  und  die  verschiedenen  Geschmäcke  durchdringende 
Beigeschmack  /u  den  Grundgeschmäcken  passl.  Im  übrigen  aher : 
Worauf  beruht  es  denn,  dass  die  Teiltöne  der  Klänge  so  innig  sich 
durchdringen,  oder  zu  der  Einheit  des  Klanges  verschmelzen?  Die 
Antwort  lautet:  Auf  ihrer  Konsonanz",  Dabei  wird  aber  wieder 
vorausgesetzt,  was  zu  erklären  ist. 

Wo  die  direkte  Klangverwandtschaft  versagt,  nimmt  Wundt 
die  indirekte  zu  Hilfe,  die  darin  besteht,  dass  zwei  Töne  als  Teil- 
töne eines  Klanges  vorkommen ;  c  ist  mit  g  verwandt,  weil  c  erster, 
g  zweiter  Oberton  von  C  ist.     Aber  nehmen  wir  einmal  an, 

„ich  habe  zwei  Objekte,  die  sich  innerlich  fremd  gegenüberstehen,  d.  h.  keinen 
gemeinsamen  Grundzug  aufweisen,  immer  mit  demselben  Objekte  erfahrungs- 
mässig  zu  einem  Ganzen  sich  zusaramenschliessen  müssen.  Dann  entsteht  daraus 
zweifellos  ein  immer  deutlicherer  Eindruck  der  Zusammengehörigkeit,  nicht 
der  inneren  Zusammengehörigkeit  oder  der  Verwandtschaft ,  des  Zusammen- 
stimmens  usw.:  Dieselben  müssen  zu  einander  passen". 

Durch  die  öftere  Erfahrung  kann  die  Eindringlichkeit  des  Zu- 
sammenpassens  gefördert,  nicht  hergestellt  werden. 

Gegen  alle  dargelegten  Theorien  führt  Lipps  zwei  entscheidende 

Tatsachen  an.     Erstens    erklären   sie    nicht,   warum  die  Konsonanz 

in  ihrer  Vollkommenheit   nicht   mit  dem  Wohlgefallen  parallel  geht, 

warum  z.  B.  die  Terz  wohlkUngender  ist  als  die  Oktav.    Dagegen 

„überall  da,  wo  mehrere  durch  einen  gleichen  Grundzug,  eine  identische 
Grundform ,  einen  gemeinsamen  Grundrhythmus ,  ein  einziges  Grundgesetz 
innerlich  an  einander  gebunden  sind,  wird  das  Ganze  erfreulicher,  wenn  das 
Gemeinsame  unbeschadet  seines  deutlichen  lleraustretens  und  seiner  herrschenden 
Stellung  in  eigenartiger,  auseinandergehender,  schliesslich  gegensätzlicher  Weise 
sich  ausgestaltet,  wenn  ein  Gleichgewicht  in  der  Unterordnung  unter  das  Gewein- 
same oder  in  der  Einordnung  in  dasselbe  stattfindet.  Es  liegt  mit  einem  Worte 
in  der  Natur  desjenigen,  was  wir  als  innerlich  einheitlich  oder  als  verwandt 
bezeichnen,  dass  es  Gegenstand  grösserer  Befriedigung  ist,  wenn  eine  eigen- 
artige und  gegensätzliche  Bildung  des  Verwandten  der  Verwandtschaft  gegen- 
überlritt". 

„Die  zweite  Tatsache,  welche  gegen  alle  jene  Theorien  spricht,  ist  die 
Unfähigkeit,  die  Konsonanz  der  Tonfolge  befriedigend  zu  erklären". 

Nach  Lipps  erklärt  sich  auch  die  Tonfolge,  die  Melodie,  auf 
grund  der  physikalischen  Schvvingungsverhältnisse,  welche  in  die 
entsprechenden  rhythmischen  seelischen  Schwingungen  sich  umsetzen. 
Der  Grundgedanke  ist,  dass  der  zweiteilige  Rhythmus  der  natür- 
lichste ist,  und  darum  die  Seele  aus  ihm  herausgedrängt  durch 
einen  drei-,  fünf-,  siebenteiligen  Rhythmus  zu  ihm  als  ihrer  Ruhelage 
zurückstrebt : 

„Treffen  Töne  zusammen,  die  sich  zu  einander  verhalten  wie  2n  :  3, 5, 7  usw., 
so  besieht  eine  natürliche  Tendenz  der  letzteren  zu  den  ersteren  hin ;  es  besteht 
eine  Tendenz  der  inneren  Bewegung,  in  den  ersteren  zur  Ruhe  zu  kommen. 
Jene  ,suchen'  diese  als  natürliche  Basis,  als  ihren  natürlichen  Schwerpunkt,  als 
ihr  natürliches  Gravitationszentrum.  Dies  ist  naturgemäss  um  so  mehr  der 
Fall,  je  kleiner  das  n  ist;  n  ist  aber  am  kleinsten,  wenn  es  gleich  o  ist.  Und 
2"  ist  gleich  1 ;  d.  h.  die  vollkommenste  Ruhelage  und  das  letzte  Gravitations- 
zentrum solcher  Töne  bleibt  immer  der  absolute  Grundrhythmus''. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  445 

Diese  Erklärung  der  Melodie  erscheint  uns  durchaus  unbe- 
friedigend. Zuerst  muss  bemerkt  werden,  dass  die  Auffassung  der- 
selben als  eines  Strebens  nach  Ruhe  durchaus  einseitig  ist.  Aller- 
dings verlangt  das  Ohr  nach  dem  Grundton  zurückzukehren,  besonders 
am  Schlüsse;  aber  ebenso  stark  und  noch  stärker  ist  die  Tendenz, 
aus  der  Ruhelage  des  Grundtons  hinauszugehen.  Man  kann  zum 
mindesten  zweifelhaft  sein,  welche  Teile  der  Melodie,  die  aus  der 
Ruhe  hinausgehenden  oder  die  zurückkehrenden,  dem  Ohre  mehr 
Wohlgefallen  bereiten  Dieses  Wohlgefallen  ist  übrigens  durchaus 
keine  blosse  seelische  Refriedigung,  die  wir  in  der  Ruhe  nach  Un- 
ruhe empfinden,  sondern  eine  positive  Lust  an  der  Folge  von  Tönen. 
Die  Melodie  bietet  auch  rein  seelisches  Wohlgefallen,  sie  ist  so  aus- 
drucksvoll, so  innig,  so  gefühlserregend  durch  das  Tempo,  durch 
Wiederholung  von  Tönen,  durch  Anhalten  derselben  usw.,  dass  mathe- 
matische Verhältnisse  der  Tonfolge  dies  nicht  zu  erklären  vermögen. 

Aber  selbst  die  Beruhigung,  die  in  der  Rückkehr  zum  Grundton 
als  Gleichgewichtslage  liegen  soll,  ist  nicht  zuzugestehen.  Die  Zwei- 
teilung, der  Zweivierteltakt  hat  vor  der  Dreiteilung,  dem  Dreiviertel- 
takte nicht  den  entscheidenden  Vorzug,  den  Lipps  dafür  in  Anspruch 
nimmt.  Mit  derselben  Leichtigkeit,  mit  welcher  man  vom  Dreiviertel- 
takt zum  Zweivierteltakt  übergeht,  geht  man  auch  vom  Zweiviertel- 
takt zum  Dreivierteltakt  über.  Oder  besser  gesagt:  Der  störende 
Eindruck,  den  im  Augenblick  der  Uebergang  vom  Zweivierteltakt 
zum  Dreivierteltakt  macht,  findet  sich  auch  beim  Rückgang  des 
Dreivierteltaktes  zum  Zweiviertelfakt.  Man  denke  nur  an  die  im 
Zweivierteltakt  angewandten  Triolen.  Was  in  der  bewussten  Sphäre 
der  Seele  so  klar  uns  vorliegt,  kann  auch  nicht  in  der  unbewussten 
Sphäre  sich  anders  verhalten. 

Eingehend  widerlegt  Lipps  die  ganz  neue  Theorie  der  Melodie 
von  M.  Meyer,  Die  Theorie  von  M.  Meyer  lautet:  „Wenn  2  Töne 
sich  verhalten  wie  2"  :  3,  5,  7,  19,  15,  wobei  2"  jede  Potenz  von 
2  einschliesslich  2*^  =  1  bezeichnet,  so  ist  mit  dem  Fortgang  vom 
ersten  zum  zweiten  dieser  beiden  Töne  eine  Tendenz  zur  Rückkehr 
zum  ersten  verbunden";  darum  ist  das  Ohr  nur  befriedigt,  wenn 
dieser  erste  Ton  als  Tonika  am  Schlüsse  der  Melodie  wiederkehrt. 
Die  Tonika,  d.  h.  der  befriedigende  Schlusston  der  Melodie,  müsste 
nach  diesem  Musiktheoretiker  die  Quarte  sein.  Die  Melodien,  welche 
auf  der  diatonischen  Tonleiter  aufgebaut  sind,  schliessen  aber  nicht 
so.  Also  beruhen  sie  nicht  auf  der  diatonischen  Tonleiter.  Diese 
muss  darum  umgebildet  werden. 

An  die  Stelle  der  Quart  muss  die  natürliche  Septime  der  Quint, 
an  die  Stelle  der  Sext  die  Sekunde  der  Quint  (8  :  9)  gesetzt  werden. 
C:F  muss  nicht  3  :  4,  sondern  16  :  21 ,  C :  A  nicht  3:5,  sondern 
16:27  werden.     Damit  bekommt  nun  C  die  Bedeutung  der  Tonika. 

Dagegen  Lipps: 

„Aufgrund  dieser  Vorstellung  von  der  .alten  Theorie'  findet  Meyer  überall 
in  Melodien  Töne,  oder  er  lindet  ganze  Melodien,  mit  denen  seiner  Ueberzeugung 


446  C.  Gntberlet. 

nach  die  alte  Theorie  gar  nichts  anzufangen  weiss.  Das  sind  Phantasien.  In 
jedem  der  Fälle,  die  Meyer  anführt,  ist  die  Deutung  für  die  ,alte  Theorie'  voll- 
kommen klar.  Die  alte  Theorie  hat  ihre  darauf  bezüglichen  und  jedermann 
bekannten  Regeln". 

VI.  Die  Melodie. 

Wir  sahen,  wie  Lipps  die  Melodie  aus  der  Harmonie  ableitet. 
Von  Fr.  Weinmann  ^)  wird  aufgrund  der  Lippsschen  Auffassung 
der  Konsonanz  als  eines  rhythmischen  Verhältnisses  die  Melodie  de- 
tailliert erklärt. 

„Die  Melodie  ist  ein  rhythmisches  System.  Es  baut  sich  auf 
einem  Grundrhythmus  als  herrschenden  Einheitspunkt  auf,  auf  welchen 
die  anderen  Rhythmen  bezogen  erscheinen.  Dieser , Grundrhythmus' 
ist  in  der  Tonika,  die  ihm  freundlich  oder  feindlich  gegenüber- 
tretenden Rhythmen  sind  in  den  übrigen  Tönen  der  Melodie  ge- 
geben". ,,Der  zweiteilige  Rhythmus  ist  der  ursprüngliche  .  .  .  Die 
Zweigliederung,  die  Zusammenfassung  von  je  zwei  Elementen  zu 
einer  Einheit,  und  weiter  die  potenzierte  Zweigliederung,  die  Zu- 
sammenfassung von  zwei  solchen  Einheiten  zu  einer  höheren  Ein- 
heit usf.,  ist  also  die  natürlichste,  die  primäre.  Ihr  steht  gegenüber 
als  sekundäre  die  Gliederung  nach  der  Dreizahl  und  weiterhin  die 
Fünf-,  Siebengliederung  usw.  Demnach  ist  der  Uebergang  zur  Zwei- 
gliederung  die  einfachere,  die  natürlichste  rhythmische  Leistung.  Die 
Gliederung  nach  der  Zweizahl,  kann  man  allgemein  sagen,  erzeugt  den 
Eindruck  des  Geschlossenen,  der  Ruhe  oder  des  wieder  zur  Ruhe  Ge- 
kommenen, des  Gleichgewichts;  die  Drei-,  Fünf-,  Siebenghederung 
mutet  ihr  gegenüber  eigentümlich  fortstrebend,  bewegt,  unruhig  an". 

„Angewandt  auf  die  Tonrhythmen  würde  dies  lauten :  Von  zwei 
Tönen,  deren  Schwingungszahlen  im  Verhältnis  von  3,  5,  7,  9  etc.  zu 
2  oder  zu  einer  Potenz  von  2,  also  2°  stehen,  repräsentiert  letzterer 
die  Gleichgewichtslage.  Es  besteht  demnach  die  Tendenz,  zu  ihm 
zurückzukehren,  die  Bewegung  strebt  zu  ihm  hin,  sucht  in  ihm  wieder 
zur  Ruhe  zu  kommen.  Der  Ton  2"  ist  für  die  Töne  3,  o,  7  usw. 
der  Ziel  ton.  In  zweiter  Linie  besteht  ein  solches  Hinzielen  dann 
auch  bei  rhythmischen  ^'erhältnissen,  deren  eines  Element  im  Gegen- 
satz zum  andern  die  Zweigliederung  zwar  nicht  repräsentiert,  aber 
in  sich  schliesst,  .  .  .  wie  es  z.  B.  bei  dem  der  kleinen  Terz  ent- 
sprechenden Verhältnis  5  :  6  der  Fall  ist.  Hier  befasst  das  6  die 
Zwei-  und  Dreigliederung  in  sich.  Der  auf  der  einen  Seite  in  5  Ein- 
heiten gegliederte  Grundrhythmus  kehrt  auf  der  anderen  Seite  wieder 
als  in  zwei  Mal  drei  Einheiten  oder  in  zwei  Einheiten  von  je  drei 
Elementen  gegliedert,  als  gleichzeitig  nach  dem  Prinzip  der  Drei- 
zahl und  der  Zwei  zahl  differenziert". 

Die  Mollmelodie  unterscheidet  sich  dadurch  von  dem  Dur,  dass, 
„während  in  Dur  3  Dominanten  bestehen,  c  als  Haupt-,  g  und  /  als 
Nebentoniken,   es  in   Moll  durch  das  Hinzukommen  von  es  und  as 

")  Zur  Struktur  der  Melodie.  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinn,  von 
Ebbinghaus  und  Nagel,  1904,  Bd.  34  S.  340,  401. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz.  447 

ihrer  fünf  sind.  Und  da  ferner  die  Dominanten  es  und  as  in  weit 
höherem  Grade  der  Tonika  c  gleichwertig  sind,  als  das  in  Dur  bei 
einer  der  beiden  Dominanten  der  Fall,  und  der  Antagonismus 
zwischen  /  und  c,  aus  dem  erst  das  entschiedene  Ueberragen  des  c 
entspringt,  hier  geschwächt  erscheint,  so  fehlt  dem  Mollsystem,  der 
Melodie  in  Moll,  die  straffe  Geschlossenheit,  die  Eindeutigkeit  des  Dur". 

Die  „Angleichung"  besteht  in  einer  Verzichtleistung  des  Ge- 
hörs auf  physikalisch  richtige  Intonation,  indem  die  geringe  Unrein- 
heit unbewusst  unter  der  Schwelle  bleibt.  /  z.  B.  ist  einmal  Quart 
(c:/=3:4),  es  ist  aber  auch  Septime  (^:/=4:7);  in  der  her- 
kömmlichen Intonation  wird  dieser  Unterschied  vernachlässigt. 

Darauf  beruht  die  Zulässigkeit  der  „temperierten  Stimmung". 
Dieses  System  stellt  eine  höhere  Entwicklung  der  Musikpsychologie 
dar.  ,,Die  einzelnen  Töne  gewinnen  in  der  temperierten  Stimmung 
eine  Vieldeutigkeit,  die  harmonisch-modulatorisch  und  somit  auch 
melodisch  die  wertvollste  Bereicherung  ausmacht.  Noch  reichlichere 
Ausgestaltung  erhält  die  Melodie  durch  Herbeiziehung  der  chroma- 
tischen Tonleiter".  ,,Sie  gewinnt  die  Fähigkeit  der  breiteren  Aus- 
gestaltung,  der  Umschreibung  ihrer  Linien  in  ornamentaler  Weise". 

Es  ergibt  sich,  „dass  die  Melodie  um  so  eindrucksvoller  ist,  je 
mehr  und  je  fremdere  und  gegensätzlichere  Töne  sie  als  Bestandteile 
in  sich  aufnimmt.  Dabei  nähert  sie  sich  aber  zugleich  immer  mehr 
einer  Grenze,  jenseits  welcher  das  Gleichgewicht  zwischen  Einheit- 
lichkeit und  Gegensätzlichkeit,  das  ,Gleichge wicht  in  der  Unter- 
ordnung' verloren  geht,  die  Unterordnung  einem  beziehungslosen 
Nacheinander  weicht.  Das  Maximum  der  psychischen  Quantität  stellt 
sich  ein  bei  einem  Optimum  an  Einheitlichkeit  und  Differenzierung". 
„Je  mehr  eine  Melodie  auch  die  der  Tonika  gegensätzlichen  Töne 
der  diatonischen  Leiter  in  ihr  Bereich  zieht,  desto  mehr  Leben 
scheint  sie  zu  haben.  Hemmung  und  Ueberwindung,  Streit  und  Sieg, 
bald  heftigerer,  bald  leichterer  Art,  glauben  wir  in  ihr  ausgedrückt 
zu  finden,  ,fühlen  wir  in  sie  ein'.  Und  der  Zwiespalt  wächst,  das 
innere  Leben  der  Melodie  wird  reicher,  umfassender,  zugleich  aber 
nimmt  auch  die  Geschlossenheit  ab,  die  Unruhe  und  Unbestimmtheit 
nimmt  zu,  je  mehr  chromatische  Töne  hineinkommen  und  eine  Bolle 
zu  spielen  anfangen".  ,,Der  verbindende  Grund rhyt hm  us  soll 
erkennbar  alle  sich  ergebenden  Beziehungen  beherrschen  und  den 
Widerstreit  der  Bhythmen  logisch  lösen". 

Dies  erklärt  manche  Momente  der  Melodie,  aber,  wie  wir  sahen, 
nicht  alle.  M.  Meyer  bestreitet  den  Zusammenhang  der  Melodie  mit 
der  Harmonie  überhaupt,  da  es  Melodien,  wie  in  der  Japanischen 
Musik,  gebe,  wo  die  Harmonie  fehlt. 

Lipps  selbst  führt  noch  ein  anderes  Moment  zur  Begründung 
des  ästhetischen  Genusses  an  der  Melodie  wie  an  jedem  Kunstwerk 
an:  Die  Einfühlung.   Darüber  handelt  H.  Siebeck  ^). 

')  Ueber  musikalische  Einfühlung  Zeilschr.  f.  Phil.  u.  philos.  Kritik  1905, 
127.  Bd.  S.  1  ff.     Musik  und  Gemütsstiramung.  1913.  150.  Bd.  S.  57  ff. 


448  C.  Gutberiet. 

Zur  ästhetischen  Auffassung  eines  Dinges  oder  .Vorganges  gehört, 
dass  zwei  Momente  wenigstens  annähernd  im  Gleichgewicht  sind: 
das  Anmuten  in  der  Richtung  von  Lust  und  Unlust  und  „die  A  u  f- 
fassung  und  Zusammenfassung  der  in  ihm  gegebenen  Bestandteile 
und  Verhältnisse,  wodurch  uns  das  Wahrgenommene  als  ein  bestimmt 
charakterisierter  Gegenstand  erscheint;  also  ein  gefühlsmässiges 
und  ein  gegenständliches  Moment".  „Man  hat  dann  immer 
eine  bestimmte  Gestaltqualität  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  einer 
bestimmten  Gefühlsfärbung.  Dadurch  erst  ist  die  Möglichkeit  gegeben, 
das  Wahrgenommene  als  Analogon  eines  Beseelten,  oder  wie  man 
diesen  Tatbestand  sonst  bezeichnen  will,  aufzufassen,  mit  einem  jetzt 
gebräuchlichen  Worte:  die  Möglichkeit  der  Einfühlung.  Die  Ge- 
samtwirkung jener  beiden  Momente  gibt  die  Stimmung. 

„Die  Stimmung  ist  nicht  die  Folge  der  Einfühlung,  sondern 
ihre  Bedingung,  und  die  Einfühlung  selbst  beruht  nicht  eigentlich 
darauf,  dass  wir  uns  in  den  Gegenstand,  sondern  darauf,  dass  wir 
den  Gegenstand  sozusagen  in  uns  hineinfühlen,  d.  h.  dass  wir  mit 
der  Vorstellung  seines  Inhaltes  das  oben  als  Stimmung  Bezeichnete 
in  uns  erleben.  Vermittelst  der  Stimmung  wird  der  Gegenstand  ein 
Moment  unseres  eigenen  Gefühlszustandes;  er  hört  auf,  dieses  oder 
jenes  Ding  für  uns  zu  sein,  und  wird  ein  bestimmter  Wert  unseres 
eigenen  Gefühlslebens.  Sofern  er  nun  aber  doch  nicht  umhin  kann, 
den  Charakter  des  Aeusseren ,  eines  Aussendinges  zu  behalten ,  er- 
scheint dieses  Aeussere  als  ein  Durchseeltes  und  wird  dadurch  ein 
Symbol  des  Persönlichen". 

Auf  die  Musik  angewandt  bestimmt  sich  dieser  Begriff  der  Ein- 
fühlung so: 

,,In  eine  Anzahl  und  Folge  von  teils  gleichzeitig,  teils  nach- 
einander gegebenen  Tönen  mit  Melodie,  Harmonie  und  Rhythmus 
fühlen  wir,  wie  wir  sagen,  mehr  oder  weniger  bestimmte  seelische 
Inhalte  hinein  und  erfahren  so  darin  ein  Stück,  d.  h.  ein  Abbild, 
eigenen  Gemütslebens,  und  zwar  unbeeinflusst  von  den  Zufälligkeiten 
des  wirklichen  Lebens,  daher  in  einer  Art  idealer  Reinheit  sich  ab- 
spielend und  in  der  Abfolge  der  Zustände  harmonisch  eins  aus  dem 
andern  sich  entwickelnd.  So  wird  uns  das  Musikstück  zu  einem 
idealisierten  analogon  personalitatis'-'- .  ,. Dasjenige,  was  aufgrund  des 
Gleichgewichtes  dieser  beiden  Momente  (das  gef'ühlsmässige  und  ob- 
jektive) im  Reiche  der  Töne  vermittelst  der  dadurch  bedingten 
Stimmung  zur  Einfühlung  gelangt,  ist  das  Bild  von  Wesen,  Eigen- 
art und  Wert  unserer  Gefühlswelt  selbst". 

Die  Lippsche  Einfühlung  ist  vielfach  beanstandet  worden,  dass 
sie  aber  in  der  Musik  eine  wichtige  Rolle  spielt,  kann  doch  nicht 
in  Abrede  gestellt  w- erden ;  wer  nur  etwas  auf  sich  achtet  beim  An- 
hören einer  freudigen  oder  traurigen  Musik,  wird  sie  an  sich  be- 
stätigt finden. 


Neueste  Theorien  über  die  Konsonanz  und  Dissonanz?.  440 

VIT.  Dur  und  Moll. 
Zahlreich  sind  die  Versuche,  den  charakteristischen  Unterschied 
zwischen  den  beiden  Tongeschlechtein,  ihrer  Harmonie  und  Materie 
zu  erklären;  eine  Uebersicht  über  die  bisherigen  Theorien  gibt 
H.  Riemann  im  Musik-Lexikon.  Die  allerneueste  Erklärung  bietet 
0.  Külpe,  und  P.  H.  Fear  glaubt  dieselbe  im  psychologischen 
histitut  Külpes  zu  Würzburg  experimentell  bestätigt  gefunden  zu 
haben  ^). 

Der  Durakkord  c  e  g  besteht  aus  einer  grossen  Terz  ce  und 
einer  kleinen  eg.  Auch  der  Mollakkord  c  s  g  besteht  aus  einer 
grossen  und  kleinen  Terz  sg  und  es,  nur  dass  die  grosse  Terz 
der  kleinen  nachfolgt,  nicht  vorausgeht,  wie  beim  Durakkord.  Er 
ist  also  eine  Umkehr  des  Durakkords.  Die  grosse  Terz  verschmilzt 
aber  stärker  als  die  kleine.  Der  Durakkord  zeigt  nun  eine  bessere 
Verschmelzung,  ist  harmonischer,  konsonanter  als  der  Mollakkord. 
Dieser  Unterschied  der  Verschmelzung,  so  schliesst  Külpe,  kommt 
also  von  der  Anordnung  der  Terzen,  nämlich:  Ein  Akkord  ver- 
schmilzt stärker  als  seine  Umkehrung,  wenn  das  stärker  Ver- 
schmelzende der  beiden  Intervalle  des  Akkords  tiefer  liegt,  als  das 
schwächer  Verschmelzende. 

Gegen  diese  Külpesche  These  und  die  Experimente  von  Fear 
erhebt  E.  Waiblinger  kräftige  Bedenken^). 

Von  zwei  Dreiklängen,  die  sich  nur  durch  die  Stellung  ihrer 
Intervalle  unterscheiden,  ist  keineswegs  immer  der  stärker  ver- 
schmelzende ein  Durakkord,  der  schwächer  verschmelzende  ein  Moll- 
akkord. So  der  Akkord  c  s  as  und  seine  Umkehrung  c  f  as.  Die 
beiden  Dreiklänge  bestehen  je  aus  einer  Quart,  einem  stark  ver- 
schmelzenden Intervall  und  aus  der  schwach  verschmelzenden  kleinen 
Terz.  Und  doch  ist  der  Akkord  mit  der  tieferen  Quart  ein  Moll- 
akkord, der  andere  mit  der  tieferen  kleinen  Terz  ein  entschiedener 
Durakkord. 

Man  kann  Akkorde  finden,  die  stärkere  Verschmelzung  zeigen 
als  ein  gegebener  Dur-,  und  solche,  die  schwächer  verschmelzen, 
als  ein  Mollakkord,  man  hätte  also  Fotenzen  von  Dur  und  Moll,  einen 
,, Durer"  und  einen  „Moller". 

Es  gibt  Akkorde,  die  weder  Dur  noch  Moll  sind,  obwohl  der 
Unterschied  ihrer  Verschmelzung  deutlich  empfunden  wird,  so  z,  B. 
e  d  g  und  seine  Umkehrung  c  f  g. 

Es  gibt  viele  Akkorde,  die  weder  Dur  noch  Moll  sind.  Der 
Akkord  c  es  as  hat  von  As-Dur  die  Tonika  as,  die  Terz  c  und  die 
Quint  es.  Derselbe  Akkord  hat  von  Cmoll  die  Tonika  c,  die  Terz 
es  und  die  Sept  as. 

Der  Unterschied    des   Dur-  und   Mollakkords  ist  für  das  Gehör 


')  The  Experimental  Examination  of  some  dilTercences  belvveen  tlie  Major 
and  Minor  Ghord.     The  Brit.  Journ.  of  Psych.  IV  p.  33. 
'')  Arch.  f.  d.  g.  Psych.  24.  Bd.  1.  Heft. 


450  C.  Gutberiet. 

so  gewaltig,  dass  er  durch  die  Verschiebung  der  grossen  und  kleinen 
Ter/  nicht  erklärt  werden  kann. 

Vf.  findet  aber  auch  die  übrigen  gangbaren  Erklärungen  des 
verschiedenen  Eindrucks  von  Dur  und  Moll  nicht  befriedigend,  so 
die  Verschiedenheit  der  übertöne  von  Dur  und  Moll  und  die  ver- 
schiedenen Beziehungen  der  Obertöne  unter  einander.  ,, Ebensowenig 
nützt  es,  die  Töne  des  Durdreiklangs  und  des  Molldreiklangs  je  auf 
verschiedene  tiefe  Töne  zu  beziehen,  als  deren  Obertöne  die  jewei- 
ligen Dreiklänge  angesehen  würden.  All  diese  Hilfstöne  klingen  viel 
zu  leise,  wenn  sie  überhaupt  klingen." 

AVaiblinger  gibt  nun  selbst  folgende  Erklärung: 

„hn  Molldreiklang  treten  c  und  es  in  Wettbewerb.  Von  diesem 
Zwist  kommt  es,  dass  man  das  Moll  so  häufig  als  Tongeschlecht 
der  Zerrissenheit,  Sehnsucht  und  Schwermut  bezeichnet,  während 
man  das  Dur  als  einheitlicher  auffasst.  Dur  ist  zentrisch,  Moll  ist 
bizentrisch.".  Im  Durakkord  beziehen  sich  die  Töne  e  und  g  auf 
c;  im  Moll  aber  war  auch  es  Tonika,  und  g  bezieht  sich  gleich- 
massig  auf  c  und  es.  Dies  der  Eindruck,  den  der  Vf.  von  den 
beiden  Akkorden  empfängt.    Aehnlich  Weinmann,  wie  wir  sahen. 

Den  gefälligen  Eindruck  des  Durakkordes  erklärt  Waiblinger  mit 
Stumpf  phylogenetisch.  Die  Musik  begann  mit  Flöten  und  Hörnern, 
bei  denen  die  Obertöne  c  g  c'  e'  g'  hervortraten.  Der  Mollakkord 
entstand  erst  nachträglich  durch  Zufall,  musste  also  von  dem  so 
stark  konsonanten  Durakkord  abstechen  und  unangenehmer  empfun- 
den werden. 

Ob  diese  Erklärung  Beifall  finden  wird,  ist  abzuwarten.  Sie 
beruht  auf  der  Stumpfschen  Auffassung  der  Konsonanz  als  Ver- 
schmelzung, wogegen  der  Umstand  spricht,  dass  die  Oktav  stärker 
verschmilzt  als  die  Terz,  die  doch  gefälliger  ist.  Freilich  betrachtet 
Stumpf  die  Wohlgefälligkeit  als  begleitendes  Gefühl  der  Konsonanz, 
was  andere,  z.  B.  Lipps,  entschieden  bestreiten. 

Die  Külpesche  Erklärung  leidet  an  dem  Mangel,  dass  sie  nicht 
erklärt,  warum  die  tiefere  Lage  der  besser  verschmelzenden  Inter- 
valle den  Akkord  wohlgefälliger  macht.  Man  müsste  das  Gegenteil 
vermuten  ;  denn  das  höhere  Intervall  macht  einen  stärkeren  Eindruck 
auf  das  Gehör  als  das  niedere  mit  tiefen  Tönen. 

Als  Schlussergebnis  müssen  wir  die  Tatsache  konstatieren,  dass 
eine  allgemein  befriedigende  Erklärung  der  musikalischen  Konsonanz- 
verhältnisse noch  nicht  gefunden  ist. 


Frieilricli  Nietzsclies  Erkenn tiiistlieorie. 

Von  P.  Mauritius  Demuth  0.  F.  M.  in  Dorsten. 


Eine  einheitliche  Darstellung  der  Ansichten  Nietzsches  über 
unser  Erkennen,  über  die  Bedeutung  und  Ausdehnung  unseres  Wissens 
bietet  mancherlei  Schwierigkeiten.  Einmal  ist  die  von  ihm  bevorzugte 
aphoristische  Form  der  Darstellung  einer  philosophischen  Gedanken- 
entwickelung nicht  günstig.  Stihstisch  sind  die  Arbeiten  Nietzsches  zwar 
ein  Meisterwerk  der  deutschen  Sprache;  aber  manchmal  mag  das  Verlangen, 
geistreich  zusammenzustellen,  durch  Wortspiel  zu  wirken,  das  logische 
Denken  überwuchert  haben.  Nietzsche  ist  eben  mehr  Künstler  als 
Philosoph.  Kein  Wunder  deshalb,  dass  uns  derselbe  Aphorismus  oft  genug 
ganz  verschiedene  Dinge  lehrt. 

Erschwert  wird  das  Verständnis  noch  durch  die  Uebertreibungen, 
deren  Nietzsche  sich  schuldig  macht.  Besonders  gegen  Ende  seiner 
schriftstellerischen  Tätigkeit  gehen  diese  ins  Masslose.  Man  darf  deshalb 
das  Urteil  A.  Riehls  verallgemeinern:  „Es  wäre  ein  Leichtes,  auch  hier 
(beim  Urteile  über  die  Frauen)  Nietzsche  zum  Zeugen  gegen  Nietzsche 
anzuführen"  ^).  Wie  weit  bei  diesen  Widersprüchen  und  Uebertreibungen 
seine  Krankheit  mitgewirkt,  wird  schwer  zu  entscheiden  sein.  Manche, 
zumal  seine  Freunde,  wollen  in  ihm  das  Ganz-Genie,  den  Uebermenschen 
sehen,  während  andere,  die  nüchtern  denken  und  urteilen,  einen  verderb- 
lichen Einfluss  nicht  leugnen 2).  Uns  scheint  es  ehrenvoller  für  Nietzsche 
zu  sein,  die  Uebertreibungen  und  Gehässigkeiten  auf  Rechnung  der  mehr 
und  mehr  hervortretenden  Krankheit  zu  setzen.  Für  uns  hat  diese  Frage 
keine  direkte  Bedeutung,  da  wir  es  nur  mit  den  Schriften  zu  tun  haben, 
so  wie  sie  uns  überliefert  sind.  Doch  werden  wir  einen  Mittelweg  ein- 
schlagen, manche  Uebertreibung  mildern  und  auf  ihr  richtiges  Mass  zurück- 
führen müssen,  um  den  eigentlichen  Gedankengang  des  Autors  zu  finden. 

Eine  weitere  Frage  ist  jene  nach  dem  Entwickelungsgange  Nietzsches. 
Fast  allgemein  begegnet  man  der  Ansicht,  wir  müssten  drei  von  einander 
mehr  oder  weniger  scharf  getrennte  Abschnitte  zugeben.  Er  selbst  hat 
den  Anlass   dazu   gegeben.     In  den  ersten  Jahren  'seiner  Lehrtätigkeit  be- 

')  A.  Riehl,   Friedrich  Nietzsche,  der  Künstler- und  Denker^  154. 
'^)  Zu  dieser  Frage  sei  hingewiesen  auf  Grützmacher,  Nietzsche,  Leip- 
zig 1910,  vierte  Vorlesung  53  ff. 


452  Mauritius  Demuth. 

trachtet  er  sieh  als  den  Schüler  F.  Schopenhauers  und  den  Freund 
R.  Wagners.  Dann  huldigt  er  für  kurze  Zeit  mehr  dem  Positivismus, 
bis  er  sieh  zu  einer  selbständigen  Philosophie  durchgerungen,  zum  mora- 
lischen Kritizismus  und  zum  Problem  des  Uebermenschen.  Mit  Recht 
wendet  sich  Frau  Förster-Nietzsche  gegen  eine  solche  Erklärung'). 
Schon  in  den  ersten  Jahren  ist  Nietzsche,  wenn  auch  ein  treuer  Ver- 
ehrer Schopenhauers,  doch  nicht  sein  Nachbeter.  Er  weiss  sich  seine 
Ansicht  wohl  zu  wahren.  Fragen,  die  für  den  Meisler  wesentlich  sind,  hat 
der  Schüler  geleugnet.  So  finden  wir  bei  Nietzsche  einen  Optimismus 
des  Lebens  und  einen  starken  Individualismus,  dann  kommt  freilich  für 
kurze  Zeit  eine  mehr  positivistische  Richtung,  hervorgerufen  durch  franzö- 
sischen und  englischen  Einfluss.  Doch  auch  hier  bleibt  er  sich  erkenntnis- 
theoretisch treu:  er  ist  und  bleibt  Skeptiker  oder  gar  Nihilist.  Nur  tritt 
der  Verstand  gegenüber  dem  Willen  mehr  in  den  Vordergrund. 

Bald  jedoch  müssen  diese,  dem  Charakter  Nietzsches  fremden  Ein- 
flüsse weichen.  Die  ersten  Anschauungen  brechen  aufs  neue  durch,  während 
sich  eine  gewisse  Aenderung  nicht  leugnen  lässt.  Vor  allem  will  Nietzsche 
jetzt  als  selbständiger  Philosoph  dastehen,  von  keinem  mehr  abhängig,  von 
keinem  beeinflusst.  Ein  festes  Ziel  steht  ihm  vor  Augen,  was  in  den 
Jugendjahren  bewusst  nicht  so  der  Fall  war.  Er  will  die  alten  Moral- 
werte  vernichten,  will  neue  Werte  schaffen,  will  dadurch  das  Menschen- 
geschlecht auf  die  Höhe  seiner  Entwickelung  führen.  Wille  zur  Macht  und 
Uebermensch,  das  ist  der  kurze  Inbegriff  seiner  Lehre.  Doch  beim  auf- 
merksamen Lesen  findet  man  diese  Gedanken  in  ihren  Grundzügen  bereits 
in  den  ersten  Schriften  wieder.  Es  gibt  da  so  viele  Parallelen,  dass  man 
notgedrungen  einen  innigen  Zusammenhang  annehmen  muss.  Richtig  dürfte 
wohl  diese  Fassung  sein:  von  Schopenhauer  und  der  Romantik  aus- 
gehend, hat  Nietzsche  sich  allmählich  sein  System  gebildet,  dessen  Ent- 
wickelung für  kurze  Zeit  vom  Positivismus  unterbrochen  und  später  in  etwa 
beeinflusst  wurde.  Deshalb  gehen  wir  nur  kurz  auf  die  beiden  ersten 
Abschnitte  ein,  weil  sonst  Wiederholungen  unausbleiblich  sind.  Benutzt  i.st 
die  Taschenausgabe,  Leipzig  1906,  zitiert  nach  Band  und  Seite.  Haupt- 
sächlich kommen  von  den  Werken  in  Betracht :  Ueber  Wahrheit  und  Lüge 
im  aussermoralischen  Sinne  ^),  und :  Der  Wille  zur  Macht  ^).  Doch  bieten 
auch  die  andern  Schriften  wertvolle  Beiträge  und  Erläuterungen. 

A.  Schopenlianer  niul  Nietzsche. 

I.  P  h  ä  h  0  m  e  n  a  1  i  s  m  u  s. 
Nietzsche  hat  seinem  Lehrer  eine  eigene  Schrift  gewidmet:  Schopen- 
hauer als  Erzieher.     Hier  lesen  wir  das  Bekenntnis:    „Ich  gehöre    zu  den 

')  Friedrich  Nietzsches  Werke,   Bd.  II,  Einleitung  I. 
■')  I  503  fr.  (Aus  dem  Nachlass). 
^)  IX  und  X  erster  Teil. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  453 

Lesern  Schopenhauers,  v/elche,  nachdem  sie  die  erste  Seite  von  ihm  ge- 
lesen haben,  mit  Bestimmtheit  wissen,  dass  sie  alle  Seiten  lesen  und  jedes 
Wort  hören  werden,  das  er  überhaupt  gesagt  hat  .  .  .  Ich  verstand  ihn,  als 
ob  er  für  mich  geschrieben  hätte  .  .  .  Schopenhauer  will  nicht  scheinen, 
denn  er  schreibt  für  sich,  und  niemand  will  gerne  betrogen  werden ,  am 
wenigsten  ein  Philosoph,  der  sich  sogar  zum.  Gesetze  macht:  betrüge 
niemanden,  nicht  einmal  dich  selbst"  ^).  Schon  früher  hatte  er  Schopen- 
hauer als  das  Muster  deutscher  Kultur  gepriesen.  Bildung  ist  nur  dann 
vorhanden,  wenn  ihr  einziger  Philosoph,  Schopenhauer,  sich  zu  ihr  be- 
kennen müsste^).  Schopenhauer  ist  ihm  jler  Lehrer,  der  ihn  lehrt,  „ein- 
fach und  ehrlich  im  Denken  und  Leben  zu  sein"  3). 

Das  sind  hohe  Lobsprüche,  die  der  junge  Professor  seinem  Meister 
spendet.  Bei  solchem  Studium  darf  es  uns  deshalb  nicht  wundern,  überall 
auf  die  Lehren  des  Meisters  zu  stossen.  Doch  nur  bis  zu  einem  be- 
stimmten Grade  sehen  wir  diese  Abhängigkeit.  Selbst  in  wesentlichen 
Punkten  treten  starke  Unterschiede  hervor,  deren  sich  Nietzsche  damals 
wohl  kaum  bewusst  geworden  ist.  Er  spricht  eben  von  dem  Schopen- 
hauer, den  er  aus  den  Werken  des  Lehrers  herausgelesen.  „Dabei  geschah 
es  ihm",  sagt  Riehl,  „dass  er  in  das  Bild  Schopenhauers  Züge  seines 
eigenen  Idealbildes  eintrug"*).  Mit  Recht  fügt  er  hinzu:  ,,Ein  blosser 
Schüler  Schopenhauers  ist  Nietzsche  nie  gewesen";  es  sei  denn  in  dem 
Sinne,  jeder  Meister  habe  nur  einen  Schüler,  der  ihm  aber  untreu  werden 
müsse,  weil  er  selbst  zur  Meisterschaft  bestimmt  ist^j.  Nietzsche  hat  es 
mit  Schopenhauer  gemacht  wie  mit  den  andern,  denen  er  nahe  trat:  er 
legte  in  sie  das  Bild  hinein,  das  er  in  seinen  Freunden  sehen  und  be- 
wundern wollte.  Bei  näherem  Verkehr  musste  die  Illusion  schwinden  und 
der  Bruch  notwendig  eintreten,  der  sich  nicht  mehr  überbrücken  liess.  So 
war  es  mit  Schopenhauer,  so  auch  mit  Wagner.  Sobald  Wagner  eigene 
Wege  einschlug  und  erst  recht,  als  er  sich  nach  der  Meinung  Nietzsches 
dem  Christentume  zuwandte,  hörte  die  Begeisterung  und  Freundschaft 
zwischen  beiden  auf. 

Schopenhauer  unterscheidet  zwischen  anschauender  und  begrifflicher 
Erkenntnis  und  folgt  darin  ziemlich  der  Zeitströmung.  Doch  geht  er  einen 
Schritt  weiter  und  fügt  zwischen  beide  Reiche  noch  das  Gebiet  der  Ideen 
ein,  ein  Abbild  der  Ideen  Pia  tos.  Erkenntnistheoretisch  ist  er  Phäno- 
menalist im  Geiste  Kants.  Wir  können  nur  erkennen,  was  sinnfällig  ist. 
Aber  alles  dies  ist  rein  subjektiv.  Ob  den  Reizen  unserer  Sinne  eine 
objektive  Aussenwelt  entspricht,  können  wir  nicht  wissen,  weil  wir  sonst 
das  Kausalitätsgesetz  über  die  erlaubten  Grenzen  ausdehnen  müssten. 
Dies  ist  die  eigentliche  Lehre  Schopenhauers,  Man  hat  ihm  vorgeworfen, 
später  habe  er  von  einer  realen  Aussenwelt  gesprochen.     Das   ist   richtig. 

»)  II  222.  —  *)  I  405.  —  ^)  II  221. 
*)  A.  a.  0.  39.  —  '')  Ebenda  41. 
Philosophisches  Jahrbuch  1913.  29 


454  Mauritius  Demuth. 

Diese  Inkonsequenz  findet  sich  bei  ihm,  findet  sich  aber  auch  bei  den 
andern  IdeaHsten,  die  gleichfalls  ohne  eine  reale  Aussenwelt  nicht  fertig 
werden  können. 

Auch  Nietzsche  ist  Phänomenalist.  Er  leugnet  die  Erkennbarkeit  der 
Aussenwelt,  des  Dinges  an  sich.  In  seiner  Polemik  gegen  David  Strauss 
beruft  er  sich  auf  die  Vernunft,  die  uns  dartut,  wie  wenig  wir  vom  Dinge 
an  sich  erkennen ').  Als  Zeichen  rohen  Denkens  sieht  er  es  an,  das  Wort 
„real",  „Realismus"  so  zu  deuten,  dass  man  dahinter  den  Gegensatz  von 
Stoff  und  Geist  wittern  kann,  dass  Reahsmus  die  Richtung  auf  das  Erkennen, 
Gestalten,  Beherrschen  des  Wirklichen  sei^).  Was  will  das  Wort  „real" 
sagen  V  Etwa  dass  wir  etwas  ausser  uns  erkennen  ?  Das  ist  nicht  möglich. 
Jedes  Wort  ist  nur  ein  Symbol  von  Vorstellungen,  seien  es  bewusste  oder 
unbewusste.  Nur  durch  Vorstellungen  werden  wir  zum  Dinge  geführt.  Die 
Vorstellung  allein,  nicht  das  Ding  ist  uns  bekannt.  Eine  andere  Brücke 
gibt  es  nicht  für  uns:  „Auch  das  gesamte  Tierleben,  das  Spiel  der  Ge- 
fühle, Empfindungen,  Affekte,  Willensakte  ist  uns  bei  genauester  Selbst- 
prüfung nur  als  Vorstellung,  nicht  seinem  Wesen  nach  bekannt".  Selbst 
der  Wille  Schopenhauers  macht  keine  Ausnahme.    Er  ist  unentzifferbar*^). 

Hier  schneidet  Nietzsche  jede  Aussicht  auf  wahre  Erkenntnis  ab.  Er 
leugnet  nicht  bloss  die  Erkennbarkeit  der  Aussenwelt,  sondern  erklärt  auch 
die  Bewusstseinstatsachen  als  Schein.  Im  dritten  Teile  kommt  er  mit 
grosser  Schärfe  hierauf  zurück. 

Mit  einer  solchen  Ansicht  ist  über  jede  Metaphysik  das  Urteil  ge- 
sprochen. Er  gibt  uns  den  wohlgemeinten  Rat,  auf  jene  zu  hören,  die 
den  erkrankten  Köpfen  der  Deutschen  die  Metaphysik  widerraten  oder  sie 
doch  durch  die  Natur  oder  Kunst  ersetzen  wollen*).  Bei  der  meta- 
physischen Frage  spielt  die  Kunst  eme  grosse  Rolle.  Ueberhaupt  huldigt 
er  in  den  ersten  zehn  Jahren  einem  übertriebenen  Kunstenthusiasmus,  der 
später  mehr  und  mehr  zurücktritt.  Bereits  im  Vorwort  an  Wagner  wird 
die  Kunst,  und  nicht  die  Moral  als  die  eigentlich  metaphysische  Tätigkeit 
des  Menschen  hingestellt^).  Diesen  Gedanken  zu  erhärten,  ist  die  Aufgabe 
seiner  ersten  Arbeit:  Geburt  der  Tragödie.  Diese  Liebe  zur  Kunst, 
besonders  zur  Musik,  weist  stark  auf  Schopenhauer  hin.  —  Die  Wesen- 
heiten des  Aristoteles,  die  Kategorien  Kants  können  uns  nicht  helfen. 
Kant  muss  nach  ihm  einen  zernagenden  und  zerbröckelnden  Skeptizismus 
und  Relativismus  erzeugen,  sollte  er  je  populär  werden  0).  Wir  gebrauchen 
die  Worte,  sprechen  von  den  Dingen  als  wirklich  seienden.  Anders  können 
wir  nicht  leben.  Aber  in  Wahrheit  haben  wir  nur  Symbole  für  die  Be- 
ziehungen der  Dinge  unter  einander  und  zu  uns. 

Nirgends  finden  wir  absolute  Wahrheit.  „Sein"  bezeichnet  die  allge- 
meinste Relation,  die  alle  Dinge  mit  einander  verknüpft.     Da  die  Existenz 

')  I  40.  —  -)  I  355.  —  »)  I  234. 
*)  1  411.  —  ^)  1  40.  —  «)  II  232. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  455 


ü 


der  Dinge  nicht  nachweisbar  ist,  bringen  uns  auch  die  Relationen  um 
keinen  Scliritt  der  Wahrheit  näher.  Selbst  in  den  reinen  Verstandesformen, 
Raum,  Zeit  und  Kausalität,  finden  wir  nichts  von  einer  absoluten  Wahrheit. 
Das  Subjekt  kann  eben  nicht  über  sich  hinaus.  So  folgt,  dass  „Erkennen 
und  Sein  die  sich  widersprechendsten  aller  Sphären  sind"^).  „Ens"  hat 
ursprünglich  nicht  die  Bedeutung  „Sein",  sondern  „Atmen".  Das  erklärt 
uns,  wie  der  Mensch  sich  alles  andere  nach  Analogie  des  eigenen  Daseins 
erklärte.  Unsere  ganze  Erkenntnis  ist  anthropomorphisch.  Unberechtigt 
ist  der  Schluss:  Ich  atme;  also  gibt  es  Sein 2).  Die  Denkarbeit  wird  nicht 
geleistet  von  einem  Geiste,  vom  i^ovq  des  Anaxagoras.  Alles  muss  auf 
das  Gehirn  zurückgeführt  werden.  Man  darf  dieses  nicht  vergessen, 
seine  erstaunliche  Künsthchkeit ,  die  Zartheit  und  Verschlungenheit  seiner 
Windungen  und  Gänge  3).  Damit  sind  wir  beim  Materialismus  gelandet. 
Ausser  Materie  gibt  es  nichts. 

Noch  einige  Worte  über  die  Hauptkategorien,  die  erst  im  dritten  Teile 
ihre  volle  Würdigung  finden  können.  An  erster  Stelle  steht  das  Sein. 
Schopenhauer  hielt  daran  fest.  Er  hat  das  Ureine,  das  Ural!,  den  All- 
Willen.  Für  Nietzsche  gibt  es  kein  Sein,  sondern  nur  Werden.  Jeder 
Augenblick  frisst  den  vorhergehenden,  jede  Geburt  ist  der  Tod  unzähliger 
Wesen.  Zeugen,  Leben  und  Morden  ist  eins*).  Klarer  noch  spricht  er  in 
der  Geburt  der  Tragödie  :  „Je  mehr  ich  in  der  Natur  jene  allgewaltigen 
Kunsttriebe  und  in  ihnen  eine  inbrünstige  Sehnsucht  zum  Scheine,  zum 
Erlöstwerden  durch  den  Schein,  gewahr  werde,  um  so  mehr  fühle  ich  mich 
zu  der  metaphysischen  Annahme  gedrängt,  dass  das  Wahrhaft-Seiende  und 
Ur-Eine  zugleich  die  entzückende  Vision,  den  lustvollen  Schein  zu  seiner 
Erlösung  gebraucht,  welchen  Schein  wir  .  .  .  als  das  Wahrhaft-Nichtseiende 
d.  h.  ein  fortwährendes  Werden  in  der  Zeit,  Raum  und  Kausalität  ...  zu 
empfinden  genötigt  sind"^).  Etwas  Bleibendes,  etwas  Festes  gibt  es  also 
nicht  für  ihn.  Alles  ist  beständigem  Wechsel  unterworfen,  alles  „wird". 
In  diesem  Punkte  beruft  er  sich  auf  Heraklit.  Ihm  schreibt  er  die  Lehre 
vom  Gesetze  im  Werden  und  vom  Spiel  in  der  Notwendigkeit  zu*^).  Trotz- 
dem will  es  scheinen,  dass  in  den  Worten  Nietzsches  noch  keine  direkte 
Stellungnahme  gegen  den  aristotelisch-scholastischen  Substanzbegriff  liegt. 
Diesen  scheint  er  gar  nicht  gekannt  zu  haben.  Was  er  mit  Recht  angreift 
und  verwirft,  sind  die  ewigen  Substanzen,  die  bei  Kant  und  vor  allem  in 
der  pantheistischen  Philosophie  eine  so  grosse  Rolle  spielen.  Nietzsche 
fühlt  sich  hier  im  Gegensatz  zu  Schopenhauer.  Das  mag  ihn  zu  seinem 
scharfen  Ausdruck  verleitet  haben. 

Anklänge  an  Schopenhauer  finden  wir  bei  der  zweiten  Hauptkalegorie 
wieder,  bei  der  Lehre  von  der  Ursache.    Nur  ist  Nietzsche  viel  radikaler. 

>)  I  462.  —  -)  I  463.-—  ^)  I  478. 
*)  I  212.  -  ")  I  66.    -     «)  I  449. 

29* 


45G  Mauritius  üemuth. 

Er  leugnet  kurzweg  jede  Ursache.  Alles  ist  ihm  Spiel  des  Zufalles.  Selbst 
aus  der  engen  Verbindung,  die  zwischen  Nervenreiz  und  Vorstellung  be- 
steht, dürfen  wir  noch  nicht  auf  Ursächlichkeit  schliessen.  Für  Schopen- 
hauer ist  im  metaphysischen  Erkennen  der  Wille  massgebend;  nicht  ein 
von  der  Vernunft  geleiteter  Wille,  sondern  ein  blinder,  der  aber  eigentüm- 
licher Weise  nur  Ordnung  schafft.  So  ist  das  ganze  Gebiet  alogisch,  in 
den  andern  Gebieten  nimmt  er  den  Satz  vom  Grunde  oder  das  Kausalitäts- 
gesetz an.  Bei  Nietzsche  fehlt  vollends  die  MögUchkeit  eines  logischen 
Aufbaues,  nicht,  weil  er  dem  Willen  einen  solchen  Einfluss  einräumte; 
diese  Bedeutung  erhält  der  Wille  erst  in  den  späteren  Jahren  als  Wille 
zur  Macht;  sondern  weil  er  jeden  kausalen  Nexus  verwirft  und  alles  dem 
Zufall  anheimstellt.  Theoreli.sch ;  denn  praktisch  kann  auch  er  an  dieser 
Wahrheit  nicht  vorbei.  Zudem  schliesst  zufälliges  Handeln  durchaus  nicht 
den  ursächlichen  Zusammenhang  aus.  Immer  wieder  stossen  wir  darauf, 
wie  auch  Nietzsche  ohne  die  Annahme  einer  Wirkursache  nicht  fertig  wird. 
Selbst  in  der  Natur  leugnet  er  folgerichtig  jede  Gesetzmässigkeit  und 
damit  jede  Zielstrebigkeit.  Die  Naturwissenschaft  mit  ihren  festen  Gesetzen 
ist  nichts.  Könnten  wir  einmal  als  Vogel  —  der  Mensch  ist  ihm  nur  ein 
höheres  Tier,  das  durch  Uebung  die  Gabe  erlangt  hat,  das  Vergangene 
zum  Leben  zu  gebrauchen,  (Jeschichte  aus  ihm  zu  machen ')  —  die  Welt 
betrachten,  wir  würden  sicher  nicht  mehr  von  Gesetzmässigkeit  reden. 
„Was  ist  für  uns  überhaupt  ein  Naturgesetz?  Es  ist  uns  an  sich  nicht 
bekannt,  sondern  nur  in  seinen  Wirkungen,  d.  h.  in  seinen  Relationen  zu 
andern  Naturgesetzen,  die  uns  wieder  nur  als  Suramen  von  Relationen 
bekannt  sind" 2).  Nur  das,  was  wir  hinzubringen,  Zeit  und  Raum,  die 
Sukzessionsverhältnisse  und  Zahlen,  sind  uns  wirklich  bekannt.  Zeit  und 
Raum  sind  zum  Erkennen  notwendig.  Diese  Formen  produzieren  wir  in 
uns.  Da  alle  Dinge  nur  unter  diesen  Formen  erkannt  werden,  so  müssen 
alle  Erkenntnisse  die  Gesetze  der  Zahl  und  Folge  an  sich  tragen.  Streng 
genommen  haben  wir  Metaphern,  die  nur  den  Schein  der  Gesetzmässigkeit 
an  sich  tragen  und  es  uns  so  ermöglichen,  aus  ihnen  den  Bau  der  Wissen- 
schaft zu  errichten  3). 

Damit  ist  schon  gesagt,  dass  Raum  und  Zeit  völlig  subjektive  Formen 
der  Erkenntnis  sind,  die  wir  erst  schaffen,  die  mit  den  Dingen  nichts  ge- 
mein haben.  Die  Frage,  ob  es  Formen  des  Verstandes  oder  der  Sinnlich- 
keit sind,  tritt  zurück,  da  bei  Nietzsche  eben  alles  Materie  Nervenreiz, 
Tätigkeit  des  Gehirns  ist.  Raum  und  Zeit  haben  nur  relatives  Dasein. 
Die  folgende  Zeit  ist  nur  dadurch  möglich,  dass  sie  die  vorhergehende 
vertilgt.  Für  diese  Ansicht  beruft  er  sich  auf  Heraklit  und  besonders  auf 
Schopenhauer.  Das  ist  ihm  eine  Wahrheit  von  der  höchsten  unmittelbaren 
Anschaulichkeit,  die  jedem  klar  ist  und  deshalb  begrifflich  und  vernünftig 


')  II  112.  —  •')  I  517.  —  8)  Ebenda. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  457 

sich  schwer  fassen  lässt  i).  Diese  Andeutungen  über  die  Kategorien  mögen 
vorläufig  genügen.  In  der  dritten  Periode  wird  sich  Gelegenheit  bieten, 
noch  einmal  näher  darauf  einzugehen.  Zudem  sind  die.se  Zusammen- 
stellungen nur  aus  gelegentlichen  Aeusserungen  gemacht. 

II.    Philosophie. 

Mehr  Bedeutung  legt  Nietzsche  einer  andern  Frage  bei,  in  der  er  sich 
stark  an  Schopenhauer  anlehnt.  Was  ist  ihm  Philosophie?  Was  heisst 
philosophieren^)?  Auf  diese  Frage  kommt  er  häufig  zurück  und  streift 
dabei  das  Gebiet  der  Wissenschaften  im  strengen  Sinne,  ohne  jedoch 
zwischen  beiden  eine  genaue  Grenze  zu  ziehen.  Nietzsche  und  Schopen- 
hauer stimmen  in  der  Auffassung  der  Philosophie  überein.  Beide  aner- 
kennen nur  Intuition,  nur  Anschauung,  und  lehnen  ein  systematisches 
Denken  ab.  Schopenhauer  meint,  die  Philosophie  sei  nichts  anderes,  als 
das  richtige,  universelle  Verständnis  der  Erfahrung.  Aus  Begriffen  lässt 
sich  die  Philosophie  nicht  herausspinnen.  Sie  i.st  keine  Wissenschaft  aus 
Begriffen,  sondern  in  Begriffe :  das  aus  anschaulicher  Erkenntnis  Geschöpfte 
muss  in  allgemeine  Begriffe  gefasst  werden  ^).  Dazu  tritt  noch  ein  weiteres 
Element.  Es  ist  die  intuitive  Gewissheitsquelle,  die  das  Philosophieren  vor 
allem  andern  Wissen  kennzeichnet.  Die  Philosophie  hat  mit  dem  Satze 
vom  Grunde  nichts  zu  tun.  Soweit  dieser  reicht,  gehen  die  Wissenschaften. 
An  deren  Grenze  setzt  die  Philosophie  ein.  Sie  fragt  nicht  nach  dem 
Woher,  Wozu,  Warum.  Sie  sucht  nur  das  Was  in  der  Welt,  das  Wesen 
der  Erscheinungen.  An  anderer  Stelle  erklärt  Schopenhauer,  ihr  Gegen- 
stand sei  das  Unerklärliche*).  Somit  weist  uns  Schopenhauer  in  der 
Philosophie  auf  eine  neue  Art  der  Erkenntnis  hin.  Bei  der  Lehre  von 
den  ewigen  Ideen  schildert  er  die  Gewissheitsgrundlage  der  Philosophie 
als  ein  unvergleichlich  eigenartiges,  von  aller  gewöhnlichen  Erfahrung  und 
allem  logischen  Verknüpfen  völlig  verschiedenes  Erkennen.  Jede  intuitive 
Gewissheit,  als  Gegensatz  zu  allem  logischen  Verknüpfen,  ist  irrational. 

Diese  allgemeinen  Charakterzüge  der  Philosophie  kehren  auch  bei 
Nietzsche  wieder.  Für  ihn  hat  die  Dialektik  nur  die  Aufgabe,  das  festzu- 
halten, was  die  Intuition  gegeben.  „Was  der  Vers  für  den  Dichter  ist,  ist 
für  den  Philosophen  das  dialektische  Denken :  nach  ihm  greift  er,  um  sich 
seine  Verzauberung  festzuhalten,   um  sie  zu  petrifizieren  .  .  ."  Zwar  ist  es 


«)  I  434. 

-)  Da  Nie  Lz sehe  sich  auch  später  hinsichtlich  dieser  Frage  in  Ab- 
schnilt  II  und  III  treu  bleibt,  soll  hier  die  Frage  endgültig  behandelt  werden. 
Nur  eine  Bemerkung  sei  gestattet.  Später  ist  ihm  die  Aufgabe  des  Philosophen 
„Wertbestimmer",  „Schaffer  neuer  Werte"  zu  sein. 

^  J.  Volkelt,  Arthur  Schopenhauer »,  Stuttgart  1907,  143. 

*)  Volkelt  a.a.O.  145  p.  Siehe  aucli:  Schopenhauer,  Die  Well  als 
Wille  und  Vorstellung  (Griesebrecht)  I  l2?  ff. 


458  Mauritius  Demuth. 

unmöglich,  das,  was  die  Intuition  uns  gelehrt  hat,  ohne  Dialektik  und 
wissenschaftliche  Reflexion  festzuhalten.  Aber  es  ist  ein  kümmerliches 
Mittel,  im  Grunde  nur  eine  Metapher.  Die  Uebertragung  von  der  Intuition 
in  die  Dialektik  ist  die  Uebertragung  in  eine  verschiedene  Sphäre  und 
Sprache  ^). 

Schärfer  noch  tritt  der  intuitive  Charakter  hervor,  wo  Nietzsche  von 
Heraklit  spricht.  Dieser  besass  als  sein  königliches  Besitztum  die  höchste 
Kraft  der  intuitiven  Vorstellung,  während  er  gegen  die  Vernunft  und 
gegen  begriffliches  und  logisches  Denken  sich  feindlich  zeigte^).  Zwischen 
logischem  Denken  und  Intuition  besteht  die  Möglichkeit  eines  Widerspruches. 

Was  ist  denn  für  Nietzsche  Intuition  V  Er  selbst  sagt:  „Die  intuitive 
Vorstellung  umfasst  zweierlei :  einmal  die  gegenwärtige  in  allen  Erfahrungen 
an  uns  heran  sich  drängende  bunte  und  wechselnde  Welt,  sodann  die  Be- 
dingungen, durch  die  jede  Erfahrung  von  dieser  Welt  erst  möglich  wird, 
Zeit  und  Raum.  Denn  diese  können,  wenn  sie  auch  ohne  bestimmten 
Inhalt  sind,  unabhängig  von  jeder  Erfahrung  und  rein  an  sich  intuitiv 
perzipiert,  also  angeschaut  werden"^).  Wie  eine  Welt,  von  der  wir  als 
reine  Phänomenalisten  nichts  wissen,  nicht  einmal,  ob  sie  Dasein  hat,  sich 
an  uns  herandrängen,  von  uns  geschaut  werden  kann,  das  sagt  uns 
Nietzsche  nicht.  Sollte  er  unter  der  Fakultät  der  Anschauung  nicht  die 
Phantasie  verstehen?  Er  stellt  sich  einmal  die  Frage,  was  den  Philosophen 
so  schnell  ans  Ziel  bringe,  und  gibt  sich  die  Antwort:  die  Phantasie,  eine 
fremde,  unlogische  Macht ^). 

Treffend  bemerkt  B.  Erdmann  in  seiner  Logik  über  die  intuitive 
Erkenntnis :  „Es  unterUegt  keinem  Zweifel,  dass  sie  (die  Intuitionen)  nicht 
die  geringste  Bürgschaft  dafür  in  sich  selbst  tragen,  gültige  Behauptungen 
oder  zutreffende  Problemstellungen  zu  sein.  Sollen  wir  ihrer  Geltung  sicher 
werden,  so  müssen  wir  sie  fixieren,  in  ihre  Bestandteile  zerlegen  und  zu- 
sehen, ob  sie  der  Begründung  standhalten".  Dazu  bedürfen  wir  des 
logischen  Denkens^). 

Ist  bei  beiden  Philosophen  die  Philosophie  eine  irrationale,  alogische 
Wissenschaft,  so  geben  beide  ihr  auch  dasselbe  Ziel.  Wir  hörten  ja  schon 
das  Wort  des  Meisters :  Die  Philosophie  fragt  nicht  nach  dem  Warum, 
sondern  nach  dem  Was  in  der  Welt.  Ebenso  klar  drückt  sich  Nietzsche 
wiederholt  darüber  aus.  Nicht  um  Wissenschaft  (hier  im  strengen  Sinne !) 
kann  es  .sich  handeln ;  ein  Gelehrter  kann  nie  ein  Philosoph  werden.  Nicht 
der  Denker  macht  den  Philosophen ;  sonst  wäre  Kant  ein  Philosoph  gewesen. 
Nur  der  wirkliche  Mensch  ist  Philosoph.  Aber  welcher  Gelehrte  wäre  ein 
wirklicher  Mensch  gewesen?  Sie  alle  lassen  zwischen  sich  und  die  Dinge 
Begriffe,  Meinungen  treten.    Sie  sehen  die  Dinge  nicht  unmittelbar,  sondern 

')  I  427.  —  -)  I  434. 
3)  I  434.  -  *)  I  423. 
5)  B.  Erdmann,  Logische  Elementarlehre'  (Halle  1907)  3. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  459 

nur  im  Spiegel  der  Wissenschaft.  Ein  Philosoph  muss  die  meiste  Be- 
lehrung aus  sich  selbst  nehmen  i).  Die  Hauptfrage  ist  die :  inwieweit  be- 
sitzen die  Dinge  eine  unabänderliche  Artung  und  Gestalt  V  Ist  diese  beant- 
wortet, so  muss  danach  die  Welt  rücksichtslos  verbessert  werden  2).  Die 
Philosophie  muss  uns  Aufklärung  über  unser  Dasein  geben  3).  Sie  muss 
uns  sagen :  „Das  ist  das  Bild  alles  Lebens,  und  daraus  lerne  den  Sinn  des 
Lebens"*).  Aber  umgekehrt  heisst  es:  Lies  nur  dein  Leben  und  lerne 
daraus  das  der  andern  kennen.  So  will  Nietzsche  auch  die  Stellen  bei 
Schopenhauer  erklärt  wissen 5).  Ein  Philosoph  soll  sich  die  Wirklichkeit 
gut  ansehen  und  aus  deren  Bildern  sich  das  Leben  deuten  ß).  Dann  wird 
die  Philosophie  ihr  Ziel  erreichen,  das  ihm  in  den  Jugendjahren  die  Kunst 
und  später  die  Wertbestimmung  des  Lebens  ist.  Wenn  wir  Philosophie 
und  Wissenschaft  im  strengen  Sinne  mit  einander  vergleichen,  so  leuchtet 
ohne  weiteres  ein,  dass  beide  nicht  auf  freundschaftlichem  Fusse  stehen 
können.  Nach  Schopenhauer  ist  diese  eine  logische,  jene  eine  alogische 
Wissenschaft.  Auch  bei  Nietzsche  dürfte  es  ähnlich  sein,  wenngleich  er 
der  Wissenschaft  durch  Leugnen  des  Kausalitätsgesetzes  jeden  Boden  ent- 
zogen hat.  Die  Wissenschaft  stürzt  sich  auf  das  einzelne,  auf  alles  Wiss- 
bare. Sie  sucht  die  Dinge  in  ihren  Beziehungen  zu  erforschen.  Sie  ist 
von  einer  blinden  Begierde  getrieben,  die  um  jeden  Preis  erkennen  will. 
Die  Philosophie  will  nur  das  Wissenswürdigste.  Sie  bändigt  ihren  Wissens- 
trieb dadurch,  dass  sie  die  grösste  Erkenntnis,  vom  Wesen  und  Kern  der 
Dinge,  als  erreichbar  und  erreicht  betrachtet  7).  Durch  das  Herausheben 
des  Ungewöhnlichen,  des  Götthchen  grenzt  sich  zudem  die  Philosophie 
gegen  die  Wissenschaft  ab^). 

Die  Philosophie,  in  diesem  Sinne  aufgefasst,  ist  eine  Lebensphilosophie. 
Sie  soll  dem  Leben  dienen.  Das  ist  der  grosse  Vorzug  der  Griechen,  dass 
sie  das,  was  sie  lernten,  sogleich  leben  wollten.  Durch  ein  ideales  Lebens- 
bedürfnis bändigten  sie  ihren  Wissenstrieb ^).  Nietzsche  fragt  sich,  ob 
heute  das  Erkennen  über  das  Leben,  oder  das  Leben  über  das  Erkennen 
herrschen  solle.  Die  Antwort  ist  ihm  nicht  zweifelhaft.  Einer  höheren 
Aufsicht  muss  die  Wissenschaft  unterworfen  sein.  „Eine  Gesundheits- 
lehre des  Lebens  stellt  sich  dicht  neben  die  Wissenschaft'"").  Was 
anders  hält  er  uns  in  späteren  Jahren  vor,  wenn  er  immer  und  immer 
wieder  die  Philosophen  ermahnt,  selbst  die  Werte  der  Dinge,  des  Lebens 
zu  bestimmen?  Nicht  vom  Althergebrachten  sollen  sie  sich  leiten  lassen. 
Als  wahre  Freigeister  sollen  sie  den  Dingen  den  Wert  geben,  der  am 
meisten  lebenfördernd  ist.  Dadurch  muss  endlich  die  Philosophie  den 
Menschen  über  sich  selbst  hinauserheben,  Schopenhauer  sah  im  Genie 
das  Ideal,  und  ähnhch  denkt  Nietzsche.     Eine    Entwicklung    im    Sinne 

1)  II  296 ;  II  270.  —  -)  II  422.  —  ^)  II  262. 

*)  II  234.  —  5)  Ebenda.  —  «)  1  53. 

')  I  426.  —  8)  I  425,  —  9)  I  414.  _  to)  n  204. 


460  Mauritius  Demuth. 

Darwins  lehnen  beide  ab.  Nietzsche  spottet  über  den  Urschleim,  aus 
dem  sich  alles  entwickeln  soll.  Aber  recht  im  Geiste  Schopenhauers 
klingt  die  Forderung:  die  Kultur  hat  als  Aufgabe,  „die  Erzeugung  des 
Philosophen,  des  Künstlers  und  des  Heiligen  in  uns  und  ausser  uns  zu 
fördern  nnd  dadurch  an  der  Vollendung  der  Natur  zu  arbeiten"  ^).  Das 
Ziel  der  Menschheit  liegt  in  seinen  höchsten  Exemplaren  2).  Besonders 
dieser  Gedanke  zeigt  uns  die  innige  Verbindung  der  Jugendideen  mit  denen 
des  gereiften  Mannes.  Wohl  treten  später  die  Gedanken  sicherer,  klarer 
hervor.  Was  jetzt  noch  ein  dunldes  Bild  ist,  findet  bald  seine  volle  Be- 
leuchtung.    Aber  im  tiefsten  Grunde  haben  wir  dieselbe  Lehre. 

Auf  die  Betonung  des  Willens  gegenüber  dem  Verstände  will  ich  nicht 
eingehen.  Für  einen  Schüler  Schopenhauers  ist  der  Voluntarismus  selbst- 
verständlich. Doch  bleibt  er  Individualist.  Später  tritt  das  PersönHche 
sogar  stark  hervor.  Ebenso  hat  er  es  verstanden,  sich  von  dem  Pessimis- 
mus freizuhalten.  Man  hat  ihn  den  Optimisten  des  Lebens  genannt.  Doch 
dürfte  wohl  in  dem  Pessimismus  des  Schopenhauer  eine,  wenn  nicht  die 
Quelle  für  die  herbe  und  masslose  Kritik  an  allem  Bestehenden  zu  suchen 
sein.     Manche  Anklänge  finden  sich  bei  beiden. 

III.    Was  ist  Wahrheit? 

Wir  dürfen  dies  Kapitel  nicht  schliessen,  ohne  uns  näher  mit  der 
nachgelassenen  Schrift  belasst  zu  haben:  lieber  Wahrheit  und  Lüge  im 
aussermoralischen  Sinne.  In  diesem  Entwürfe  geht  Nietzsche  näher  auf 
das  Problem  der  Wahrheit  ein;  da  finden  wir  bereits  die  Grundlage  so 
mancher  Anschauung,  die  erst  später  mit  voller  Deutlichkeit  hervortritt. 
Es  ist  interessant  zu  verfolgen,  wie  er  sich  den  Ursprung  der  Wahrheit, 
oder  besser  dessen,  was  wir  für  Wahrheit  halten,  erklärt.  Aber  das  eine 
ist  sicher:  Hätte  er  mit  seinen  Ansichten  recht,  so  gäbe  es  überhaupt 
keine  Wahrheit  mehr.  Auch  dessen  ist  er  sich  völlig  bewusst,  dass  zum 
Leben  diese  Scheinwahrheit  unbedingt  erfordert  wird.  Der  Mensch  muss 
sie  haben,  um  leben  zu  können.  Doch  gehen  wir  auf  diese  eigenartigen 
Entwürfe  näher  ein. 

„Was  ist  ein  Wort?  Die  Abbildung  eines  Nervenreizes  in  Lauten"^). 
Wollen  wir  von  dem  Nervenreiz  auf  etwas  ausser  uns  schliessen,  so  ist 
das  eine  falsche  Anwendung  des  Satzes  vom  Grunde.  Als  Beispiel  dient 
ihm  der  Satz:  Der  Stein  ist  hart.  Wo  anders  gibt  es  denn  etwas  hartes, 
als  in  unserer  subjektiven  Empfindung?  Auch  durch  die  Sprache  ist  das 
Ding  an  sich  nicht  erfassbar.  Wie  überall,  so  bleiben  wir  auch  hier  bei 
den  Relationen  stehen.  Wir  glauben,  mit  dem  Worte  „Baum"  ein  Ding 
an  sich  zu  berühren.  Aber  es  ist  nicht  der  Fall.  Dasselbe  rätselhafte 
Ding  X  ist  uns  einmal  Nervenreiz,  dann  Bild,  dann  Laut.  Von  einer  Logik 
bei  Bildung  der  Sprache  ist  mithin  keine  Rede*). 

0  II  264.  —  -■)  II  188.  —  =')  I  509.  —  *)  1  510. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  461 

Aus  den  Worten  entstehen  die  Begriffe.  .Jede.s  Wort  verdankt  seinen 
Ursprung  einem  individualisierten  önerlebnis.  Diese  Bedeutung  dehnen  wir 
weiter  aus  auf  eine  Reihe  von  Fällen,  die  sich  mehr  oder  weniger  ähnlich 
sind,  die  sich  aber,  streng  genommen,  niemals  decken.  ,, Jeder  Begriff 
entsteht  durch  Gleichsetzen  des  Nichtgleichen".  Durch  Uebersehen  des 
Individuellen  und  Wirklichen  erhalten  wir  also  die  Begriffe,  während  die 
Natur  keine  Formen,  Begriffe  und  Gattungen  kennt,  sondern  nur  das  Indi- 
viduum, das  undefinierbare  x  ^). 

Vorsichtshalber  fügt  er  hier  bei:  aus  der  Natur  haben  wir  die.se  Er- 
kenntnis, die  Begriffe  nicht  geschöpft,  wenn  wir  auch  nicht  sagen  dürfen, 
da.gs  sie  der  Natur  nicht  entsprechen.     Denn  davon  wissen  wir  nichts. 

„Was  ist  also  Wahrheit?  Ein  langes  Heer  von  Metaphern,  Metonymien, 
Anthropomorphismen,  kurz  eine  Summe  von  menschlichen  Relationen,  die 
poetisch  und  rhetorisch  .  .  .  gesteigert  wurden  und  erst  durch  den  langen 
Gebrauch  Bürgerrecht  erhielten.  Man  hat  mit  der  Zeit  vergessen,  da.ss  es 
Illusionen  waren"  2].  Also  für  die  Begriffslehre  reiner  Nominalismus,  für 
die  Wahrheit  selbst  Skeptizismus,  wenn  nicht  Nihilismus.  Man  vergleiche 
mit  dieser  Definition  der  Wahrheit  jene,  die  uns  Schopenhauer  gibt.  „Das 
durch  die  Vernunft  richtig  Erkannte  ist  Wahrheit,  nämlich  ein  abstraktes 
Urteil  mit  zureichendem  Grunde  .  .  .  Der  Wahrheit  steht  der  Irrtum  als 
Trug  der  Vernunft  gegenüber  ..."  ^).  Durch  diese  Worte  ist  der  Unter- 
schied in  den  Anschauungen  scharf  ausgedrückt. 

Hier  bleibt  die  grosse  Frage  zu  beantworten:  Woher  denn  der  Trieb 
zur  Wahrheit?  Bei  allen  Menschen  findet  er  sich!  Die  Antwort  ist  leicht. 
Ohne  eine  Konvention  im  gegenseitigen  Verkehr  kann  die  Gesellschaft  nicht 
bestehen.  Diese  Konvention  haben  wir  in  der  Sprache.  Was  der  Gesell- 
schaft günstig,  fördernd  war,  erhielt  die  Bezeichnung  „wahr".  Der  Intellekt 
ist  ein  Mittel  ziu-  Erhaltung  des  Individuums.  Nur  durch  Verstellung  kann 
er  seinen  Zweck  erreichen,  weil  nur  durch  Verstellung  die  Schwachen  sich 
gegen  die  Starken  behaupten  können*).  Das  gilt  vom  einzelnen,  gilt  noch 
mehr  von  der  Gesellschaft.  In  diesem  Erhaltungstriebe  müssen  wir  also 
die  Quelle  der  „Wahrheit"  und  des  Triebes  nach  Wahrheit  suchen.  Des- 
halb gibt  Nietzsche  die  Definition:  „Wahrhaft  zu  sein,  das  heisst  die 
usuellen  Metaphern  zu  brauchen,  also  moralisch  ausgedrückt,  zu  lügen, 
herdenweise  in  einem  für  alle  verbindlichen  Stile  zu  lügen"  5). 

Allmählich  bildete  sich  eine  Fülle  solcher  Begriffe,  solcher  Abstraktionen, 
deren  Befolgung  der  Gesellschaft  sich  als  nützlich  erwies.  Diese  nahm  man 
auf  als  Richtschnur  des  Denkens,  um  sich  nicht  von  jeder  einzelnen  Ein- 
gebung hinreissen  zu  lassen.  Durch  diese  Unterordnung  seines  Handelns 
unter  die  allgemeine  Norm    erlangte   der   Mensch    den  Titel  „vernünftiges 

1)  Ebenda.  —  -)  1  511. 

3)  Schopenhauer  a.  a.  0.  58.  Vgl.  auch  73  und  126  ff, 

*)   I  506.  —  *)  I  512. 


462  Mauritius  Demutb. 

Wesen*'.  Denn  was  den  Menschen  vom  Tier  unterscheidet,  hegt  in  der 
Fähigkeit,  die  Metaphern  zu  einem  Schema  zu  verbinden  ^).  Jetzt  erst 
können  wir  das  Wort  verstehen:  „Der  Mensch  hat  einen  unbesiegbaren 
Hang,  sich  täuschen  zu  lassen  .  .  .  Der  Intellekt,  jener  Meister  der  Ver- 
stellung, ist  so  lange  frei  und  seinem  sonstigen  Sklavendienste  enthoben, 
als  er  täuschen  kann,  ohne  zu  schaden"  2). 

Das  ganze  menschliche  Erkennen  ist  also  recht  oberflächlich,  ist  ge- 
leitet vom  Erhaltungstrieb  der  Gesellschaßt.  Was  aber,  wenn  der  Mensch 
ehrlich  ist,  wenn  er  nicht  mit  der  Herde  gehen  will,  wie  man  das  doch 
von  einem  Philosophen  voraussetzen  muss?  Entweder  müssen  wir,  wie 
Lessing,  dabei  bleiben,  immer  nach  der  Wahrheit  zu  suchen,  ohne  sie 
je  zu  finden,  oder  wir  kommen  zum  vollen  Skeptizismus.  Wir  kommen 
zur  Verzweiflung  an  der  Wahrheit  3),  Denn  alles  ist  nur  Lug  und  Trug. 
Alles  ist  nur  gegeben  durch  die  Gewohnheit,  den  Nutzen.  Mit  den  Begriffen 
spielen  wir  ein  Würfelspiel.  Wahr  sein  heisst,  jeden  Würlel  so  gebrauchen, 
wie  er  bezeichnet  ist.  So  ist  eine  Klassifikation  möglich,  und  jedes  Volk 
hat  eine  solche^).  Nietzsche  gibt  dem  Gedanken,  Wahrheit  sei  unmöglich, 
unverhohlen  Ausdruck.  Der  adäquate  Ausdruck  eines  Objektes  im  Sub- 
jekte ist  ein  Unding.  Nur  durch  die  Erscheinung  wird  zwischen  beiden  in 
etwa  eine  Verbindung  hergestellt  S). 

Ist  nun  wirklich  die  Lage  des  Menschen  so  verzweifelt?  Es  scheint 
noch  eine  Lösung  möglich :  durch  die  Kunst.  Jeder  begabte  Mensch  steht 
einmal  am  Scheidewege,  wo  er  in  das  Unaufhaltbare  starrt.  „Da  bricht 
die  neue  Form  der  Erkenntnis  durch,  die  tragische  Erkenntnis,  die, 
um  nur  ertragen  zu  werden,  als  Schutz  und  Heilmittel  die  Kunst  ge- 
braucht" ß).  Jede  Wissenschaft  sehlägt  an  ihren  Grenzen  in  Kunst  um. 
Der  Mensch  sieht  sich  da  als  künstlerisch  schaffendes  Subjekt  und  vergisst 
so,  dass  alles  nur  Glauben,  Konrention  ist,  und  nicht  Sicherheit). 

Für  den  gewöhnlichen  Menschen  gibt  es  eine  andere  Lösung.  Er 
verlangt  in  seinem  Wahrheitsstreben  nicht  so  sehr  nach  metaphysischer 
Wahrheit.  Ihm  ist  die  Frage  wichtiger,  was  dem  Leben  dienlich  ist.  Nur 
in  dem  beschränkten  Sinne  will  er  die  Wahrheit ;  er  will  ihre  angenehmen, 
lebenerhaltenden  Folgen.  Wahrheit  ohne  praktische  Folgen  ist  ihm  gleich- 
gültig; Wahrheiten,  die  ihm  schaden  könnten,  hasst  der  Mensch  8). 

Wenn  wir  uns  zum  Schlüsse  des  Kapitels  fragen,  welches  die  Haupt- 
züge der  Erkenntnistheorie  Nietzsches  sind,  so  finden  wir  einen 
stark  betonten  Phänomenalismus,  einen  noch  stärker  hervortretenden  Sub- 
jektivismus, die  beide  in  der  Philosophie  durch  Inluilionismus  ergänzt  oder 
ersetzt  werden.  Kausale  Verknüpfung  will  er  nirgends  anerkennen,  wes- 
halb das  ganze  Gebäude  alogisch  ist  und  zum  Skeptizismus  hinführt.    Die 

1)  I  512.  —  -)  I  520.  —  3)  II  232.  —  *)  I  513.  —  »)  I  515. 
«)  I  140.  —  ')  1  515.  —  «)  I  508. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  463 

Schrift  über  Wahrheit  und  Lüge  endhch  zieht  diese  Folgerung.  Wenn 
Nietzsche  selbst  sie  auch  nicht  in  Druck  geben  wollte,  so  bildet  sie  doch 
die  Grundlage  für  die  späteren  dahin  zielenden  Ausführungen.  Skeptiker 
ist  er  immer  gewesen  und  er  rühmt  sich  nach  Jahren  noch  dieser  Eigen- 
schaft als  des  Zeichens  eines  starken  Geistes.  Glaube  an  Wahrheit  genügt. 
Wahrheit  selbst  ist  uns  unzugänglich.  Er  und  die  andern  „freien  Geister" 
aber  dürfen  sich  über  diesen  Glauben  erheben  und  eigene  Wege  wandeln. 
Das  ist  das  Fundament  seiner  Morallehre. 

B.  Der  Positivist. 

Allmählich  hatte  sich  in  Nietzsche  eine  entgegengesetzte  Entwicklung 
angebahnt.  Aus  einem  stark  voluntaristischen  Philosophen  wird  ein  posi- 
tivistischer Intellektualist.  Nicht  plötzlich  fand  der  Umschlag  statt.  Und  als 
er  1874—76  seine  Lobreden  auf  Schopenhauer  und  Wagner  schrieb, 
hatte  sich  im  Innern  wohl  die  Wandlung  schon  vollzogen.  Aeusserlich 
aber  war  nichts  bekannt  geworden.  Gewaltiges  Aufsehen  mussten  deshalb 
die  Aphorismen  Menschliches,  Allzumenschliches  erregen.  Denn 
hier  stützt  er  sich  zum  Teil  auf  ganz  andere  Grundsätze.  Wie  konnte  sich 
Nietzsche  so  schnell  und  so  gründlich  ändern?  Diese  Frage  wurde  gestellt 
und  man  suchte  nach  Gründen.  Abgesehen  von  der  einen  Wahrheit,  dass 
das  Preisgeben  eines  Systems  bei  einem  temperamentvollen  Manne  wie 
Nietzsche  leicht  zum  andern  Extrem  hinführt,  streitet  man  um  denEinfluss 
den  der  enghsche  Sensualist  Dr.  P.  Ree,  sein  intimer  Freund,  auf  ihn 
ausgeübt.  Frau  Förster-Nietzsche  glaubt  mit  einer  scherzhaften 
Bemerkung  die  Frage  abtun  zu  können.  Sie  meint  ganz  naiv,  man  sei 
erstaunt  und  unangenehm  von  den  neuen  Ansichten  Nietzsches  berührt 
gewesen.  Da  man  ihm  solche  Dinge  nicht  zugetraut,  habe  man  nach 
einem  Schuldigen  gesucht  und  ihn  in  Dr.  Ree  gefunden,  gerade  so,  wie 
auch  die  Kinder  immer  einen  haben  müssten,  der  die  Ursache  des  Un- 
glückes gewesen.  „So  wurde  der  arme  Dr.  Ree,  der  das  wirklich  nicht 
verdient  hatte,  zum  bösen  Nachbarsjungen"  ^). 

Diese  Darstellung  ist  doch  zu  rührend,  als  dass  sie  geglaubt  werden 
könnte.  Auch  Riehl  meint,  es  sei  kein  Anstoss  von  aussen  nötig  gewesen 
um  der  neuen  Denkart  zum  Durchbruch  zu  verhelfen,  auch  nicht  der 
Einfluss  Rees.  Doch  leugnet  er  diesen  nicht,  weist  vielmehr  darauf  hin, 
wie  viel  Nietzsche  selbst  von  diesem  Freunde  hielt 2).  Klar  spricht  sich 
R.  Richter  aus.  Es  ist  mit  philosophischem  Takt  festzustellen,  meint  er, 
welche  Einflüsse  massgebend  gewesen  sind.  An  erster  Stelle  nennt  er  die 
von  Nietzsche  selbst  anerkannten,  unter  denen  der  Einfluss  Rees  sehr 
bedeutend  ist.  Will  man  Nietzsche  glauben,  so  hat  er  wohl  Ree  benutzt 
wie  einstens  Schopenhauer.  Einen  Einfluss  auf  das  Entstehen  seiner  Werke 

0  III  Vorrede  XL. 
»)  A.  a.  0.  59. 


464  Mauritius  Demuth. 

will  Nietzsche  ihm  nicht  einräumen,  gibt  aber  zu,  dass  der  Vorteil  der 
Freundschaft  auf  beiden  Seiten  war  *).  Das  letzte  scheint  die  rechte  Stellung 
zu  sein.  Denn  Nietzsche  war  schon  durch  die  Lektüre  der  französischen 
Psychologen  und  Moralisten  auf  den  Positivismus  hingewiesen  worden. 
Manche  derselben  führt  er  häufiger  an.  Durch  den  persönlichen  Verkehr 
mit  einem  Manne,  der  denselben  Ideen  huldigte,  musste  er  in  seinen  An- 
sichten bestärkt  werden.  Dürfen  wir  so  den  Einfluss  Rees  nicht  über- 
schätzen, so  noch  weniger  unterschätzen.  Gehen  wir  kurz  auf  diese  Periode 
selbst  ein. 

Wenden  wir  uns  zuerst  dem  Problem  der  Wahrheit  zu.  Der  einzige 
Unterschied  gegen  früher  besteht  im  Betonen  des  Verstandes  gegenüber 
dem  Willen.  Denn  nach  wie  vor  ist  er  reiner  Skeptiker.  Der  Glaube,  die 
Wahrheit  gefunden  zu  haben,  scheint  ihm  das  grösste  Hindernis  der  Wahr- 
heit zu  sein'^).  „Ueberzeugungen  sind  gefährlichere  Feinde  der  Wahrheit 
als  Lügen"  ^).  Deshalb  würde  heute  keiner  mehr  für  die  W^ahrheit  in  den 
Tod  gehen*).  Man  lernt  zu  leicht  um.  Die  Wahrheit  selbst  muss  vor 
dem  Wahrheitsuchen  verschwinden^).  Dann  wird  auch  hier  der  Einfluss 
der  Gewohnheit  stark  betont  ß).  Was  uns  ferner  nützlich,  bequem  ist,  das 
ist  wahr').  Auf  diese  Erklärung  der  Wahrheit  kommt  er  bis  zum  Ueber- 
druss  oft  zurück.  Jede  Handlung  ist  ihm  von  Selbstsucht  eingegeben. 
Selbstlose  Handlungen  gibt  es  für  ihn  nicht.  In  allem  sucht  der  Mensch 
sich  selbst.  Mag  diesem  Satze  auch  eine  psychologische  Wahrheit  zu 
Grunde  liegen:  Nietzsche  geht  zu  weit  und  übertreibt.  Aber  er  bedarf 
dieses  Satzes  für  seinen  Kampf  gegen  die  herrschenden  Anschauungen  von 
Wahrheit,  von  Metaphysik,  von  Gut  und  Bös.  Alle  diese  Dinge  haben 
denselben  (gekennzeichneten)  Ursprung,  die  Selbstsucht,  den  Nutzen,  nicht 
die  objektive  Wahrheit.  Da  nun  die  Wahrheit  für  den  Philosophen  höher 
stehen  muss,  als  eine  vielleicht  irrtümlich  nur  für  nützlich  gehaltene  Ge- 
wohnheit, so  ergibt  sich  hieraus  das  Recht  der  Kritik,  ja  die  Pflicht,  den 
Dingen  neue,  wahre  W^erte  zu  geben. 

Also  „Wahrscheinlichkeit,  aber  keine  Wahrheit;  Frei.scheinlichkeit, 
aber  keine  Freiheit"  ^j.  Dafür  wird  uns  jeder  dankbar  sein,  wenn  wir  ihm 
klar  machen,  es  gebe  keine  Wahrheit,  sondern  nur  Wahrscheinhchkeit  in 
den  verschiedensten  Graden.  Denn  damit  erhält  der  Mensch  Freiheit  im 
Forschen,  während  er  die  Wahrheit  wegen  ihrer  Bestimmtheit  hassen  muss'-*). 
Wir  sollen  immer  weiter  streben  und  uns  durch  keinen  Misserfolg  wankend 
machen  lassen.  Erreichen  wir  heute  nichts,  so  bereiten  wir  doch  unsere 
Kräfte   vor  für   morgen.      Dann  werden  wir   fortschreiten  '^).     So    ist    das 

•)  Raoul    Richter,    Friedrieh  Nietzsche,    sein    Leben    und   sein  Werk  -, 

Leipzig  1909,  162  ff. 

2)  III  441.   -  =*)  III  363,  369.  —  ♦)  IV  367. 

«)  III  409.  —  «)  III  75.  -  ')  IV  237. 

8)  IV  190.  —  ")  IV  17.   --  lö)  IV  191,  171. 


Friedrich  Mietzsches  Erkenntnistheorie.  465 

Leben  ihm  jetzt  ein  Jagen  nach  Wahrheit.  Wahrheit  suchen,  das  ist  des 
Lebens  höcliste  und  schönste  Aufgabe  geworden :  Wahrheit  um  ihrer  selbst 
und  nicht  des  Nutzens  wegen,  scheint  es  bisweilen  zu  lauten,  wenn  nicht 
bald  schon  andere  Sätze  auf  den  Egoismus  hinwiesen,  der  auch  in  diesem 
Streben  noch  die  Triebfeder  sein  soll. 

Wir  haben  hier  die  Lehre  Lessings  vor  uns.  Aber  wie  jener,  so  zeigt 
sich  auch  Nietzsche  als  schlechter  Psychologe,  während  er  doch  seine 
Lehre  auf  der  Psychologie  aufbauen  will.  Wo  kein  Erfolg  winkt,  da  auch 
keine  Lust  und  Liebe  zum  Schaffen.  Die  Hoffnung,  endlich  trotz  Mühe  und 
Beschwerde  zum  Ziele  zu  gelangen,  muss  bleiben.  Sie  ist  die  Nahrung,  die 
Kraft,  die  über  die  Misserfolge  wegführt  und  zu  immer  neuem  Beginnen 
anspornt.  Soll  also  das  Streben  nach  Wahrheit  Sinn  haben,  so  muss  sie 
für  uns  erreichbar  sein. 

Von  der  Wahrheit  führt  uns  der  Gedankengang  leicht  zur  Logik.  Das 
logische  Denken  setzt  die  Begriffe  voraus.  Die  Begriffe  verlangen  die  Worte. 
Diese  entsprechen  nicht,  wie  wir  schon  sahen,  den  Dingen;  also  auch  die 
Logik  nicht.  Sie  beruht  auf  Voraussetzungen,  denen  nichts  in  der  Weit 
entspricht ').  Doch  wir  müssen  mit  den  Begriffen  arbeiten.  „Wir  sind 
von  vornherein  unlogische  Wesen  und  können  dies  erkennen :  dies  ist  eine 
der  grössten  Disharmonien  des  Daseins" 2).  —  Wie  Nietzsche  hiermit 
seinem  Skeptizismus  ins  Gesicht  schlägt,  merkt  er  nicht.  Auf  welche  Tat- 
sache gestützt,  erkennen  wir  denn  diese  unsere  unlogische  Natur?  —  Doch 
hat  die  Logik  als  Schule  der  Vernunft  eine  hohe  Bedeutung.  Sie  lehrt 
strenges  Denken,  vorsichtiges  Urteilen,  konsequentes  Schliessen  ^).  Erst  ein 
geschulter  Geist  kann  methodisch  arbeiten.  Hier  redet  er  offenbar  von 
den  exakten  Wissenschaften  mit  ihrer  Detailforschung.  Allen  Menschen  ist 
nur  anzuraten,  eine  dieser  Wissenschaften  gut  durchzuführen.  Bald  wird 
man  das  an  der  ganzen  Dai'stellung  merken,  mag  der  Autor  noch  so  geist- 
reich sein*).  Erst  durch  diese  Schulung  lernt  der  Mensch  schliessen,  so- 
dass das  Wort  Schopenhauers  unwahr  ist:  „Zu  schliessen  sind  alle,  zu 
urteilen  wenige  fähig"  '•').  Anderenfalls  könnten  wir  uns  nicht  die  zahlreichen 
Fehlschlüsse  erklären.  Ein  Beispiel  dafür  bietet  III  47,  wo  Nietzsche 
eine  Reihe  der  „gewöhnlichsten  Urschlüsse  des  Menschen"  aufzählt.  „Diese 
Erkenntnis  verdanken  wir  nur  der  Methode,  die  sich  im  fortwährenden 
Kampfe  derartig  verschärft  hat,  dass  die  Irrgänge  früherer  Methoden  vor 
jedermanns  Blicken  blossgelegt  sind"^).  Man  sieht  hier  den  Einfluss  des 
Positivismus.  Nietzsche  glaubt  seinen  Einwendungen  gegen  die  alte  Philo- 
sophie, gegen  das  abstrakte  Denken,  gegen  jede  Metaphysik.  Für  solche 
Sachen  bietet  ihm  die  Detailforschung  keinen  Anhaltspunkt.  Nur  zu  sehr 
passte    diese   Lehre    in    seinen  Gesichtskreis,   wie  wir  ihn    bereits  kennen 


')  III  25.  -  •')   III  49.  —  ä)  III  248. 
*)  III  410.  —  6)  III  252.  —  «)  III  409. 


46G  Mauritius  Deniuth. 

lernten.  Was  die  Naturwissenschaften  zu  Tage  fördern,  sind  ihm  nur 
Bausteine,  nur  kleine  Teile,  die  es  für  später  möglich  machen,  das  Gebäude 
der  Wahrheit  aufzurichten;  aber  sie  bieten  nicht  die  Wahrheit.  Besonders 
viel  hofft  er  da  für  seine  Lehre  von  der  Physiologie.  Sie  wird  uns  eines 
Tages  lehren,  welches  die  Geschichte  der  Organismen  und  der  Begriffe  ist. 
Sie  wird  uns  lehren,  dass  das,  was  wir  heute  Welt  nennen,  das  Werk 
unserer  Phantasie  ist.  In  dem  Masse,  in  dem  wir  uns  entwickelt  haben, 
ist  auch  der  Schatz  derartiger  Vorstellungen  gewachsen.  Darauf  beruht 
unser  Vorzug.  Das  Ding  an  sich  aber  wird  vielleicht  nur  ein  homerisches 
Gelächter  wachrufen,  weil  es  alles  schien  und  bedeutungsleer  war  *).  Mit 
dem  Fortschritt  dieser  Wissenschaft  sinkt  das  Interesse  an  Metaphysik,  die 
allmählich  verschwinden  muss. 

Auch  hier  hat  Nietzsche  sich  noch  einmal  gründlich  verrechnet.  Denn 
die  Physiologie  hat  ihm  nicht  gehalten,  was  sie  zu  versprechen  schien. 
Niemals  konnte  sie  uns  ohne  logische  Schlussfolge  sagen,  alles  sei  nur 
subjektiv.  Zu  einer  solchen  Behauptung  bedürfen  wir  des  Kausalitäts- 
gesetzes. Zudem  unterscheiden  wir  sehr  gut  zwischen  rein  subjektiven 
Empfindungen  und  solchen,  deren  Ursache  ausser  uns  liegt.  Mag  es  manch- 
mal schwer  sein,  hier  die  Grenze  zu  ziehen,  so  beweist  das  noch  nicht, 
dass  es  eine  solche  nicht  gebe.  Auch  findet  heule  gerade  in  diesen  Kreisen 
eine  Rückkehr  zur  Natur  statt.  Es  sei  nur  an  Külpe  und  seine  Stellung 
in  dieser  Frage  auf  der  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte 
in  Königsberg  erinnert  2).  Haben  wir  aber  die  Natur  wieder,  dann  stellen 
sieh  von  selbst  die  Fragen  nach  deren  Ursprung,  ihrem  Ziele  und  ihren 
Gesetzen. 

Als  treuer  Positivist  oder  besser  noch  englischer  Sensualist  ist 
Nietzsche  in  dieser  Zeit  Anhänger  der  Entwicklungslehre.  Die  Natur 
kennt  keine  Sprünge.  Allmählich  hat  sich  alles  entwickelt.  Wenn  wir 
nur  zuschauen,  finden  wir  schon  die  Mittelgheder  =*).  So  hat  auch  der 
Mensch  allmählich  die  Ketten  abgestreift,  die  ihn  noch  mit  dem  Tiere 
verbanden*).  Ihm  scheint  die  Menschheit  eine  Entwicklungsphase  einer 
bestimmten  Tierart  von  begrenzter  Dauer.  Aus  dem  Affen  geworden,  wird 
er  wieder  zum  Affen  werden,  wenn  die  Kultur  ihn  nicht  hochhält^).  Des- 
halb hat  die  Kultur  auch  die  Aufgabe,  für  die  stetige  Weiterentwicklung 
zu  sorgen 6).  Dabei  fällt  dem  Willen  eine  grosse  Aufgabe  zu,  der  sonst 
in  dieser  Zeit  völlig  zurücktritt.  Ihm  müssen  durch  Erziehung  würdige 
Objekte  dargeboten  werden').  —  Wie  diese  Lehre  von  der  Erziehung  mit 
der  des  absoluten  Fatums,  der  Leugnung  der  Freiheit  möglich  ist,    dürfte 


>)  III  25,  33,  47  usw. 

-')  Oswald  Külpe,  Erkenntnistheorie  und  Naturwissenschaft  (Leipzig  1910). 

«)  IV  303.  —  "j  IV  371.  —  5)  III  232.  -  «)  III  436. 

')  Ueber  die  Aufgabe  der  Erziehung  vgl.  III  228. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  4C7 

sehr  schwer  zu  fassen  sein.  Mit  der  Lehre  von  der  unbedingten  Not- 
wendigkeit einer  jeden  Handlung  verliert  die  Erziehung  alle  Bedeutung. 

In  dieser  Zeit  des  Positivismus  kommt  auch  das  Studium  der  Ge- 
schichte wieder  zur  Geltung,  das  er  früher  so  leidenschaftlich  bekämpft 
.hatte.  Besonders  die  Philosophie  will  er  historisch  bearbeitet  haben.  Dann 
wird  sie  uns  zeigen,  wie  es  keine  Teleologie  gibt,  sondern  nur  Werden,  wie 
es  keine  absolute  Wahrheit  gibt,  sondern  nur  Wahrheiten^).  Das  Resultat 
wird  sein :  Der  Mensch  ist  geworden  und  ebenso  alles  an  ihm ,  auch  das 
Verstandesvermögen.  Wie  die  äusseren  Verhältnisse  es  erforderten,  so 
hat  sich  der  Mensch  entwickelt.  Die  einmal  erlangten  Fähigkeiten  haben 
sich  dann  vererbt,  —  Auch  über  diese  Frage  hat  eine  objektive  Forschung 
längst  das  Urteil  gesprochen.  Nietzsche  hat  mit  seinen  Prophezeiungen 
kein  Glück. 

Der  Vollständigkeit  wegen  möchte  ich  hier  wieder  auf  die  Frage  nach 
dem  Verhältnis  von  Metaphysik  und  Wissenschaft  zurückkommen.  Nietzsche 
selbst  spricht  öfter  davon.  FreiUch  geht  es  ohne  Wiederholung  nicht  ab. 
Das  Können  ist  ihm  die  Hauptaufgabe  in  der  Wissenschaft,  nicht  das 
Wissen.  Durch  Forschen  werden  die  Kräfte  geübt  2).  Was  uns  zum  Er- 
kennen treibt,  ist  die  Lust  daran.  Hier  wird  man  sich  seiner  Kraft  be- 
wusst.  Durch  neue  Errungenschaften  glaubt  man  sich  über  andere  erhoben^). 
Ein  interesseloses  Erkennen  gibt  es  nicht.  „Für  ein  rein  erkennendes 
Wesen  wäre  die  Erkenntnis  gleichgültig"  ^).  Die  Nützlichkeit  der  Wissen- 
schaft gibt  auch  hier  den  Ausschlagt). 

Den  Uebergang  von  der  Wissenschaft  zur  Metaphysik  soll  die  Psycho- 
logie bilden.  Da  fragt  er  sich,  ob  psychologische  Studien  der  Welt  mehr 
Nutzen  oder  Schaden  gebracht  haben.  Ob  ja  oder  nein:  sie  sind  not- 
wendig. Denn  sie  lehren  uns,  dass  die  Wissenschaft  keine  Zwecke  kennt. 
Wohl  bringt  die  Natur  bisweilen  Werke  der  grössten  Zweckmässigkeit 
hervor;  aber  ohne  es  gewollt  zu  haben.  Aehnlich  die  Wissenschaft.  Sie 
fördert  das  Zweckmässige,  ohne  es  beabsichtigt  zu  haben  e).  Die  Wissen- 
schaft kennt  nur  Einzeldinge,  während  die  Philosophie  weiter  geht.  Sie 
fragt:  Wozu?  Dabei  lässt  sie  sich  von  logischen  Erwägungen  treiben''). 
Hier  kommen  wir  wieder  auf  das  Liebhngsgebiet  unseres  Autors,  auf  die 
Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Metaphysik,  des  Glaubens  an  Gott  und  die 
Seele.  Diesmal  wird  das  Traumleben  stark  in  den  Vordergrund  gerückt. 
Erst  hat  der  Mensch  diese  Dinge  geträumt  und  sie  dann  als  Wahrheit 
hingenommen«).  Deshalb  seine  Mahnung,  gute  Nachbarn  der  nächsten 
Dinge  zu  werden,  und  nicht  in  die  Ewigkeit  zu  blicken  9).  Aber  genug 
davon.    Hören  wir  nur  noch,  welchen  Inhalt  er  der  Metaphysik  zuschreibt: 


')  III  18.  -   -')  III  239.  —  3)  in  236. 
*)  IV  55.  —  5)  IV  155.  -  «)  III  62. 
')  III  32.  —  «J  III  21.  —  »j  IV  203. 


4C8  Mauritius  D  e  m  u  t  b . 

„Ein  kleiner  lieber  HengoU,  eine  artige  Uns'lerbüchkeit,  vielleicht  etwas 
Spiritismus  und  jedenfalls  ein  ganzer,  verschlungener  Haufen  von  Arm- 
sünder-Elend  und  Pharisäer-Hochmut"  \).  Das  ist  nicht  sehr  schmeichel- 
haft für  die  Anhänger  der  Metaphysik.  Doch  werden  diese  sich  auch 
hierüber  zu  trösten  wissen.  Bei  einem  naclidenkenden  Manne  wird  er  mit 
solchen  Reden  nicht  viel  erreichen. 

Wollen  wir  nun  ein  Gresamtbild  dieser  Zeit  geben,  so  dürfen  wir  wohl 
gerade  auf  diese  Periode  die  Worte  Riehls  anwenden,  Nietzsche  sei  den 
Zeitslrömungen  gefolgt  2).  So  manches  und  so  mancherlei  finden  wir  hier 
neben  einander,  dass  wir  wohl  von  einem  Eklektizismus  sprechen  dürfen. 
Aber  auch  die  Nachteile  dieser  Philosophie  fehlen  nicht.  Die  einzelnen 
Lehren  stehen  oft  unvermittelt  neben  einander.  Der  Autor  hat  es  nicht 
verstanden,  ein  einigendes  Band  um  sie  zu  schlingen.  So  übt  oft  genug 
die  eine  Ansicht  unbewusst  Kritik  an  der  andern.  Nur  in  einem  Punkte 
bleibt  er  sich  treu,  in  seinem  Hass  gegen  die  positive  Moral,  hnmer  mehr 
wächst  dieser  Ha.ss  gegen  das  Christentum,  um  dann  gegen  Ende  des 
Lebens  zum  Fanatismus  auszuarten. 

C.  Selbständigkeit. 

Im  Jahre  1880/81  erschien  das  Buch  Morgenröte.  Eine  neue 
Morgenröte  sollte  am  Himmel  Europas  emporziehen  und  der  Welt  ein 
neues  Glück  bringen.  Die  Lehre  von  der  Freiheit  des  Geistes,  vom  Ueber- 
menschen.  Schnell  folgten  sich  die  Hauptwerke,  die  alle  dieselbe  Tendenz 
haben:  eine  beissende  Kritik  der  herrschenden  Anschauungen.  Im  Anti- 
christ steigert  sich  sein  Ausdruck  gegen  die  christliche  Moral  bis  zum 
rohen  Fanatismus.  Dies  Buch  hat  sicher  nicht  zur  Steigerung  seines  Ruhmes 
beigetragen.  Wenn  wir  auch  von  der  Sache  absehen  wollten,  so  ist  schon 
der  Ton  schwer  beleidigend.  Er  selbst  hat  am  wenigsten  seine  Mahnung 
erfüllt,  mit  Schonung  von  den  früheren  Gebräuchen  zu  reden.  ^)  In  allen 
Werken  dieser  Zeit  kehrt  immer  derselbe  Vorwurf  wieder:  das  Christentum 
erniedrigt  den  Menschen ;  seine  Moral  ist  eine  Herdenmoral.  Die  Spezies 
„Mensch"  kann  unter  ihm  nicht  zu  ihrer  höchsten  Entfaltung  kommen. 
An  Stelle  der  christlichen  Moral  soll  eine  Sittenlehre  treten,  die  sich  der 
„Freigeist"  —  frei  von  allem  Herkommen,  von  jedem  Herdeninstinkt  — 
selbst  macht.  Der  Mensch  muss  sich  das  Mass  aller  Werke  sein.  Jeder 
nmss  sie  sich  demnach  selbst  bestimmen.*)  Das  ist  eine  notwendige 
Konsequenz,  aus  der  Lehre,  jede  Autorität  sei  aufgehoben.  So  spricht  er 
sich  im  Zarathustra  dagegen  aus,  selbst  Schule  machen  zu  wollen  ^). 

Wenig  Positives  bietet  er.  Einige  Andeutungen  von  Pflichtgefühl  des 
Uebermenschen,  einige  sonstige  gelegentliche  Bemerkungen  über  andere 
Tugenden,   das  ist  so  ziemlich   seine  ganze  Morallehre.     Soviel  ist   sicher, 

')  IV  19.  —  ^)  A.  a.  0.  156  IT. 

^)  111  102.  —  *)  VII  92.  —  5)  VII  114. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  469 

die  landläufigen  Begriffe  von  gut  und  bös  müssen  fallen,  nriüssen  umge- 
wertet werden,  wie  sie  ursprünglich  auch  eine  andere  Bedeutung  hatten. 
Stark  und  schwach,  das  ist  ihm  der  Unterschied.  Was  dem  Leben  dient, 
was  die  Spezies  „Mensch"  fördert,  das  ist  gut.  Der  Wille  zum  Leben, 
zum  mächtigen  Leben,  zum  Herrschen,  das  ist  Streben  nach  dem  Ueber- 
menschen,  alles  dies  ist  ein  Zeichen  der  Kraft,  ist  gut.  Anfangs  verstand 
wohl  Nietzsche  dies  Streben  nach  dem  Uebermenschen  von  einem  Fort- 
schritt in  der  Art,  von  einer  wirklich  physischen  Erhebung  einzelner  Exem- 
plare über  die  menschhche  Spezies  hinaus.  Später  jedoch  sah  er  diese 
Unmöglichkeit  ein  und  nahm  den  Ausdruck  ideal.  Dass  sich  nun  auf  so 
verschwommenen  und  dehnbaren  Lehren  kein  Moralgebäude  aufrichten 
lässt,  ist  klar.  Und  welcher  noch  so  eifrige  Nietzscheverehrer  würde 
seinem  Meister  zustimmen  in  seinen  Ansichten  über  die  Behandlung  der 
alten  Leute,  über  die  Pflicht  der  Aerzte  gegen  manche  Kranke,  über  die 
Ehe  und  die  Keuschheit,  den  Selb.stmord,  über  Staat  und  Vaterland,  über 
die  Kindererziehung  und  die  Würde  und  die  Behandlung  der  FrauV  ^)  Diese 
Lehren  führen  wahrlich  nicht  zum  Uebermenschen.  Nicht  das  Christentum 
ist  da  eine  Erniedrigung  des  Menschengeschlechtes.  Doch  dürfen  wir  aus 
diesen  Bemerkungen  nicht  auf  ein  unmoralisches  Leben  schliessen  wollen. 
Dafür  haben  wir  keine  Anhaltspunkte.  Leben  und  Lehre  decken  sich  bei 
ihm  nicht.  Wir  müssen  sogar  zugeben,  dass  er  nicht  ein  sittenloses, 
lockeres  Leben  predigen  wollte.  Gegen  eine  solche  Erklärung  verwahrt 
er  sich  ausdrücklich,  und  wir  müssen  ihm  darin  glauben.  Nur  die  Folgen 
seiner  Lehre  hat  er  wohl  kaum  erfasst.  Auch  der  Anhänger  Nietzsches 
braucht  nicht  notwendig  unmoralisch  nach  unserem  Begriffe  zu  sein.  Er 
muss  ja  selbst  den  Wert  aller  Dinge  bestimmen  oder,  wie  Nietzsche  mit 
Vorliebe  sagt,  schaffen.  Ist  der  Mensch  da  edel,  so  wird  auch  sein  Leben 
das  wiederspiegeln.  Im  andern  Falle  ist  es  eben  anders.  Das  ist  die 
fatale  Konsequenz  bei  ihm,  und  nicht  alle  „Philosophen"  dürften  in  diesem 
Punkte  denken  wie  er  und  sich  für  ein  mehr  lockeres  Leben  entscheiden. 
Gegen  eine  solche  Behauptung  mögen  sich  seine  Freunde  wehren,  aber 
vergebens.  Mit  Phrasen  kommt  man  doch  nicht  gegen  die  einfach.sten 
Schlussfolgerungen  an,  wenn  man  auch  jeden  Wert  der  Logik  leugnen  will. 

Diese  Bemerkungen  allgemeinen  Charakters  dienen  dazu,  ein  Bild  von 
der  Geistesrichtung  des  Autors  zu  geben.  So  werden  sie  indirekt  uns  auch 
zu  einem  besseren  Verständnisse  der  übrigen  Anschauungen  verhelfen.  Die 
Morallehre  und  Philosophie  müssen  einander  beeinflussen.  In  der  folgenden 
Darstellung  wollen  war  uns  hauptsächlich  an  die  Ausführungen  Nietzsches 
halten,  die  wir  im  Willen  zur  Macht  finden.  Hier  lässt  er  seine  philo- 
sophische Theorie  vor  unseren  Augen  entstehen,  so  wie  er  sich  deren 
Wert  und  Entwicklung  denkt  2). 


1)  m  88 ;  91 ,  315  usw.  —  ')  IX  359  ff. 
Philosophisches  Jahrbuch  191.S.  30 


470  Mauritius  Demuth. 

Beginnen  wir  mit  einem  Wort  über  die  Methode,  wie  es  Nietzsche 
selbst  tut  ^).  Schon  früher  einmal  hat  er  diese  Frage  gestreift  '^).  Von 
einer  Methode  können  wir  nach  ihm  nicht  sprechen.  Wir  müssen  uns 
den  mannigfachen  Dingen  anbequemen,  bald  so,  bald  anders  verfahren,  bis 
wir  am  erwünschten  Ziele  angelangt  sind.  Dies  Sich  -  Anpassen  bringt 
Schulung,  jenen  Vorzug,  der  der  Neuzeit  ihr  Uebergewicht  gegeben.  Unter 
die  grossen^Methodiker  müssen  wir  die  Männer  zählen,  die  der  Philosophie 
ihr  eignes  Gepräge  aufgedrückt :  Aristoteles,  Bacon,  Descartes,  Comte. 
Im  ganzen  hat  er  hier  sein  Urteil  aus  der  zweiten  Periode  festgehalten. 
Auch  jetzt  noch  steht  ihm  die  Methode  über  der  Wissenschaft.  Durch  sie 
nahm  man  allmählich  die  Probleme  ernst;  man  dachte  nicht  mehr  daran, 
ob  persönlich  bei  der  Forschung  etwas  herauskomme.  Doch  später  unter- 
scheidet Nietzsche  zwischen  Methode  und  Systematik.  Gegen  letztere  hat 
er  grosses  Misstrauen  und  wirft  ihr  Mangel  an  Rechtschaffenheit  vor  ^). 
Zu  diesen  Systematikern  werden  wir  wohl  Aristoteles  und  Descartes 
zählen  müssen,  die  somit  des  früheren  Lobes  verlustig  gehen. 

Noch  unter  dem  Einflüsse  des  Positivismus  stehend,  macht  Nietzsche 
sich  hier  bei  seiner  Verachtung  der  Wissenschaft  eines  grossen  Fehlers 
schuldig.  Die  Methode  kann  und  darf  nur  Mittel  zum  Zwecke,  nicht  Endzweck 
sein.  Es  muss  etwas  geben,  was  durch  sie  erreicht  werden  soll,  mag  es 
sich  nun  nennen  wie  es  will,  ob  Wahrheit,  ob  Glauben,  ob  Irrtum.  Erst 
dadurch  erlangt  die  Methode  selbst  Wert.  Gewiss ;  auch  der  Methode 
wegen  kann  ich  arbeiten.  Aber  dann  rückt  die  Methode  als  solche  aus 
ihrem  Gebiete  hinaus ;  sie  wird  Gegenstand  der  Wissenschaft.  Damit  ver- 
liert sie  ihren  eigenen  Charakter,  der  ihr  speziell  als  Methode  zukommt. 
Für  Nietzsche  ist  es  anders.  Ihm  ist  es  nicht  die  Liebe  zur  Wahrheit, 
zum  Erkennen,  die  zur  Vervollkommnung  der  Methode  treibt.  Der  Mensch 
will  Macht  haben.  Durch  eine  bessere  Methode  ist  er  seinem  Nachbar 
überlegen.  Und  in  diesem  Streben  liegt  die  Quelle  des  neuen  Forschens 
und  Ringens*).  Alles  ist  beherrscht  vom  Streben  nach  Macht,  der  eigent- 
lichen Metaphysik  Nietzsches. 

„Der  erkenntnistheoretische  Ausgangspunkt"  betitelt  sich 
ein  zweiter  Abschnitt  bei  unserm  Autor  ^).  Bei  der  Wissenschaft  gehen 
alle  vom  Bewus.stsein  aus.  Wir  berufen  uns  auf  Bewusstseinstatsachen. 
Wo  klares  Bewusstsein,  da  klare  Erkenntnis.  Doch  das  ist  ein  Irrtum. 
Mit  der  Klarheit  verliert  die  Wissenschaft  ihren  Reiz.  Nicht  die  Vernunft 
darf  Recht  bekommen.  Vielmehr  muss  das  Rätselhafte  bleiben.  Denn 
nur  dann  ist  eine  Erkenntnistheorie  möglich,  wenn  eine  wahre  Kritik  mög- 
lich ist.  Aber  die  Fähigkeit  einer  objektiven  Kritik  fehlt  uns.  Als  Kritiker 
kann  nur  der  Intellekt  in  Frage  kommen.  Doch  jeder  Intellekt  steht  für 
sich  allein,  kann  nicht  mit  den  andern  verglichen  werden,  die  wohl  anders 

»)"  rsTasG  ff.  —  ^i  v  298. 

3)  X  240.  —  *)  IX  345.  —  »)  IX  360  ff. 


i^riedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  47 1 

geartet  sind.  Somit  fällt  die  Grundlage  für  eine  objektive  Kritik.  Diese 
wäre  nur  möglich  mit  der  Voraussetzung  einer  absoluten  Erkenntnis.  Die 
absolute  Erkenntnis  setzt  ein  Absolutes,  ein  „Ding  an  sich"  voraus.  Aber 
alles,  was  wir  erkennen,  ist  physiologischen  Ursprunges.  Damit  fällt  die 
Berechtigung,  vom  „Ding  an  sich"  zu  reden,  und  damit  die  Möglichkeit 
einer  absoluten  Erkenntnis.    Somit  ist  eine  Erkenntnistheorie  nicht  möglich. 

Die  meisten  stützen  sich  auf  das  Bewusstsein  in  dieser  Frage.  Doch 
spielt  hierbei  die  Wahrheit  keine  Rolle.  Als  Mass  für  das  Bewusstwerden 
dient  die  „grobe  Nützlichkeit  des  Bewusstwerdens".  Daraus  aber  einen 
Schluss  ziehen  wollen  auf  den  Unterschied  von  Subjekt  und  Objekt,  wie 
er  zur  Wahrheit  nötig  ist,  wäre  verfehlt.  Das  ist  der  grosse  Fehler  der 
modernen  Philosophie:  sie  redet  von  Bewusstseinstatsachen  wie  von  Dingen 
an  sich  und  vergisst  dabei  völlig,  dass  es  sich  auch  hier  nur  um  Phäno- 
menalismus handeln  kann.  Auch  unsere  innere  Welt  ist  nur  eine  Er- 
scheinungswelt. Wir  haben  alles  zurecht  gemacht.  Die  Kausalverbindung 
zwischen  den  einzelnen  Bewusstseinstatsachen  ist  uns  gänzlich  unbekannt, 
vielleicht  nur  reine  Einbildung.  Mithin  fällt  jeder  Unterschied  zwischen 
der  inneren  und  äusseren  Welt.  Wir  dürfen  nicht  von  Tatsachen  sprechen. 
Selbst  Lust  und  Unlust  sind  nur  späte  abgeleitete  Begriffe.  Mit  demselben 
Rechte  also,  mit  dem  der  Idealismus  die  Erkennbarkeit  der  Aussenwelt 
leugnet,  müssen  wir  jede  objektive  Erkenntnis  leugnen.  Denn  hier  wie 
dort  finden  wir  nur  Phänomene,  nur  Schein. 

Die  Logik  nimmt  zwischen  den  Gedanken  ein  unmittelbares  Band, 
eine  UrsächHchkeit  an.  Doch  dies  Verhalten  stützt  sich  nur  auf  plumpe 
Beobachtung.  Zwischen  zwei  Gedanken  mögen  noch  alle  möglichen  Effekte 
mitspielen,  deren  Dasein  wir  völlig  verkennen  und  deshalb  leugnen.  So 
müssen  wir  also  sagen:  Denken  im  Sinne  der  Erkenntnistheorie  gibt  es 
nicht.  Man  hat  nur  ein  Element  eines  sehr  komplizierten  Vorganges  zum 
Zwecke  der  Vereinfachung  herausgehoben.  Noch  weniger  gibt  es  einen 
Geist,  der  denkt.  Auch  dessen  Annahme  ist  die  Folge  falscher  Beobachtung. 
Denn  bei  eben  dieser  Beobachtung  denken  wir  schon,  setzen  voraus,  was 
gar  nicht  vorkommt :  das  Denken.  Beim  Denken  sind  „sowohl  das  Tun 
als  der  Täter  fingiert." 

Damit  haben  wir  einen  vollen  Phänomenalismus,  wie  er  sich  reiner 
wohl  nicht  geben  lässt.  Wir  glauben,  dass  die  Gedanken  in  kausalem  Zu- 
sammenhang stehen  und  bilden  die  Logik.  Wir  glauben,  dass  Lust  und 
Schmerz  Anlass  zu  Reaktionen  sind,  und  haben  bereits  deren  Wirkungen 
vor  uns.  Alles  Nacheinander  im  Bewusstsein  ist  für  uns  völlig  atomistisch. 
Wir  haben  nur  die  Gewohnheit,  bei  diesen  Vorgängen  eine  Ursache  zu 
suchen.  Zuerst  tritt  das  Ding  ins  Bewusstsein.  Eine  Rolle  spielt  dabei  das 
Gedächtnis,  das  die  alten  Interpretationen  aufbewahrt.  Auf  diesem  Irrtum 
der  Interpretation  unserer  Nervenreize  beruht  die  Fiktion  unserer  Bewusst- 
seinstatsachen und  auf  diesen  die  der  Aussenwelt.     So  kann  Nietzsche 

30* 


472  Mauritius  Demuth. 

dann  sagen:  ..Es  gibt  weder  ^Geist*,  noch  Vernunft,  noch  Denken,  noch 
Bewusstsein,  noch  Seele,  noch  Wille,  noch  Wahrheit;  alles  Fiktionen,  die 
unbrauchbar  sind  .  .  .  Die  Erkenntnis  arbeitet  als  Werkzeug  der  Macht. 
So  liegt  es  auf  der  Hand,  dass  sie  wächst  mit  jedem  Mehr  an  Macht"  ^). 
Das  ist  ein  vollständig  biologischer  Begriff  der  Erkenntnistheorie,  auf  den 
wir  später  zurückkommen  müssen.  —  Als  Fundament  der  Ei'kenntnis- 
theorie  muss  Nietzsche  eine  sehr  schwankende  Auffassung  von  Wahrheit 
und  Erkennen  dienen.  Besser  noch  sagen  wir:  es  gibt  solelies  nicht.  Er- 
kennen im  landläufigen  Sinne  ist  Einbildung. 

Nach  dieser  allgemeinen  Orientierung  wendet  sich  Nietzsche  einzelnen 
Fragen  zu,  die  auch  wir  zum  Teil  behandeln  müssen.  An  erster  Stelle 
steht  da  die  Untersuchung  über  den  Glauben  an  das  Ich,  das  Subjekt.  Mit 
dieser  Lehre  steht  und  fällt  die  andere  von  der  Bedeutung  der  Bewusst- 
seinstatsachen.  Ohne  ein  Ich,  ohne  ein  Subjekt  kein  Bewusstsein  und 
mithin  keine  Wissenschaft. 

a)  Der  Glaube  an  das  Ich.     Die  Substanz^). 

Gegen  das  Glaubensbekenntnis  des  Positivismus :  es  gibt  nur  Tatsachen, 
müssen  wir  sagen,  es  gibt  nur  Interpretationen.  Eine  „Tatsache  an  sich" 
lässt  sich  nicht  feststellen.  Das  muss  auch  auf  das  Ich,  das  Subjekt  aus- 
gedehnt werden.  Nach  Kant  muss  eine  Kategorie  „Substanz"  da  sein. 
Er  will  eine  ewige,  notwendige  Wissenschaft  haben,  die  ohne  Substanz 
nicht  möglich  ist.  Die  englische  Philosophie  dagegen  lehnte  diesen  Be- 
griff ab,  und  Nietzsche  schliesst  sich  ihr  an,  wenn  er  auch  früher  be- 
hauptet hatte,  die  Engländer  seien  keine  Philosophen.  Das  Subjekt  ist 
nichts  Gegebenes.  Es  ist  etwas,  was  wir  hinter  die  Handlung  gestellt,  was 
wir  hinzugedichtet  haben.  Wir  müssen  etwas  einsetzen.  Das  verlangt 
unsere  Erkenntnis.  Deshalb  sagen  wir:  ich  denke,  ich  leide.  Aber 
das  sind  keine  Wahrheiten.  Durch  das  Denken  erst  entsteht  das  Ich,  das 
Subjekt.  Mag  diese  Fiktion  für  uns  Lebensbedingung  sein:  Wahrheit  ist 
sie  nicht.  Auch  die  Lö.sung  des  Descartes:  „es  wird  gedacht,  folglich  gibt 
es  etwas  Denkendes",  kann  nicht  über  die  Schwierigkeit  hinweghelfen. 
Das  setzt  schon  voraus,  dass  es  etwas  „an  sich"  gebe,  nämlich  das 
Denken.  Doch  hat  auch  dies  nur  scheinbare  Realität.  So  ist  mit  dem 
Ich-Begriffe  nicht  viel  anzufangen.  Notwendig  haben  wir  ihn  zwar.  Ohne 
ihn  ist  ein  wissenschaftliches  Gebäude,  ja  selbst  das  Leben  nicht  denkbar. 
Aber  das  beweist  alles  nichts.  Keine  Tatsache  sagt  uns,  da.ss  wir  etwas 
mehr  als  Schein  haben. 

Wie  denkt  sich  denn  N  i  e  t  z  s  c  h  e  das  Ich?  Auch  darübergibt  er  uns 
Aufschluss.  Wir  müssen  hier  vom  Leibe  ausgehen,  von  der  Physiologie. 
Nicht  eine  Einheit  haben  wir.  Viele  Strömungen  sind  da,  viele  Kräfte, 
die  sich  gegenseitig  bekämpfen,  die  gleichberechtigt  neben  einander  stehen. 

1)  IX  mi.  —  =0  IX  367  ff.  —  VIII  223. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  473 

Die  stärkere  wird  siegen,  gleichgerichtele  werden  sich  zu  etwas  Neuem 
verbinden.  So  entsteht  eine  Harmonie,  eine  Lebenskraft,  eine  Subjekts- 
Einheit,  die  mit  einem  Regenten  verglichen  werden  darf,  wenn  er  sich 
nicht  wesentlich  über  die  andern  erhebt.  Neue  Einheiten  entstehen,  andere 
vergehen.  Dadurch  bekommen  wir  die  gegenseitige  Begrenzung  der  einzelnen 
Triebe,  dadurch  die  Ordnung.  Somit  sind  Beherrscher  und  Untertan  der- 
selben Art  ^) . 

Aus  dem  Ich  bildete  sich  der  Substanzbegriff  und  nicht  umgekehrt. 
Denn  lassen  wir  das  Ich,  die  Seele  fallen,  wo  bliebe  für  uns  noch  die 
Substanz?  Um  sagen  zu  können,  es  gebe  Sein,  es  gebe  Erkenntnis  oder 
Gewissheit,  müssten  wir  doch  einmal  wissen,  was  Sein  selbst  ist.  „Unser 
Grad  von  Lebens-  und  Machtgefühl  (Logik  und  Zusammenhang  des  Er- 
lebten) gibt  uns  das  Mass  von  „Sein",  „Realität",  „Nicht-Schein".  2)  Sub- 
jekt bezeichnet  den  Glauben  an  eine  Einheit  unter  den  verschiedenen 
Momenten  des  Realitätsgefühls,  Den  Glauben  an  diese  Einheit  machen 
wir  zur  Wirkung  einer  Ursache.  Somit  können  wir  mit  Nietzsche  das 
Subjekt  definieren:  „es  ist  die  Fiktion,  als  ob  viele  g  1  e i c h e  Zustände  an 
uns  die  Wirkung  eines  Substrates  wären;  aber  wir  haben  erst  die  >> Gleich- 
heit« dieser  Zustände  geschaffen  .  .  ."3)  Eine  klare  Definition  ent- 
halten auch  die  Worte:  „Ein  »Ding«  ist  die  Summe  seiner  Wirkungen, 
synthetisch  gebunden  durch  einen  Begriff,  Bild"*). 

Nietzsche  bricht  also  alle  Brücken  ab,  die  als  Ausgangspunkt  für 
eine  wahre  Erkenntnis  dienen  können.  Unbewiesen  darf  er  das  nicht.  Deshalb 
versucht  er,  eine  psychologische  Erklärung  für  seine  Anschauung  zu  geben, 
die  aber  weiter  nichts  ist  als  müssige  Kombination.  Wir  haben  den 
Glauben  an  die  Vernunft  und  ohne  ihn  geht  es  nicht.  Die  logisch  meta- 
physischen Postulate:  Substanz,  Akzidenz,  Attribute  haben  ihre  Kraft  aus 
der  Gewohnheit  geschöpft,  all  unser  Tun  sei  Folge  des  Willens.  In  uns 
gibt  es  eine  befehlende  Kraft,  die  bleibt,  während  die  einzelnen  Hand- 
lungen vorübergehend,  also  Akzidenzien  sind.  Doch  hier  waltet  ein  Irrtum 
ob.  Einen  freien  Willen  gibt  es  nicht.  Also  muss  auch  der  Glaube  fallen. 
Durch  Ableitung  aus  der  Sinneswahrnehmung  haben  wir  die  Kategorien 
gefunden.  An  sich  gibt  es  keine  Kategorien,  um  eine  „Welt  an  sich"  von 
einer  „Welt  als  Erscheinung"  trennen  zu  können.  Mögen  wir  von  Einheit 
träumen,  was  wir  wollen:  „Wir  haben  immer  nur  einen  Anschein  von 
Einheit"  5). 

Wie  früher  schon  einmal  angedeutet  wurde,  scheint  Nietzsche  sich 
hier  in  allerdings  sehr  übertriebener  Weise  gegen  den  Substanzbegriff  zu 
wenden,  wie  er  in  der  deutschen  Philosophie  Mode  war.  Sie  wollte  viel- 
fach nur  eine  ewige,  unveränderliche  Substanz  anerkennen.  Diese  hat 
Nietzsche  mit  Recht  abgelehnt.    Den  scholastischen  Substanzbegriff  wird 

'         1)  IX  373.  —  ■')  IX  370.  —  3)  Ebenda.  —  *)  IX  409. 
")  IX  373;  IX  409. 


474  Mauritius  Demuth. 

er  wohl  nicht  gekannt  haben.  Denn  davon  spricht  er  nicht.  Aber  er 
betont  den  Wechsel,  das  Werden  so  stark,  dass  wir  eine  volle  Anlehnung 
an  den  Assoziationismus  erhalten.  Hier  zeigt  sich  noch  stark  der  Einfluss 
der  englischen  Philosophie  auf  ihn.  Bei  seiner  radikalen  Leugnung  jeden 
Seins  ist  eine  Kritik  nicht  möglich,  aber  auch  nicht  notwendig.  Seine 
Lehre  richtet  sich  selbst. 

b)  Kausalität. 

Aehnlich  wie  Nietzsche  sich  völlig  ablehnend  gegen  den  Ich-Begriff 
verhält,  so  auch  gegen  jede  Ursächlichkeit.  Wir  wissen  bereits,  wie 
Schopenhauer  darin  anderer  Meinung  war.  Auch  hier  folgt  Nietzsche 
wieder  den  Engländern,  die  nur  ein  post  hoc,  kein  propter  hoc  zulassen 
wollten.  Es  sei  nur  an  D.  Hume  und  St.  Mill  erinnert.  Aber  woher 
stammt  denn  die  allgemeine  Annahme  der  Ursächlichkeit?  In  unserer 
Seele  folgt  sich  mit  Regelmässigkeit  so  manche  Erscheinung.  Jedesmal, 
wenn  das  eine  kommt,  folgt  bestimmt  auch  das  andere.  Das  nennen  wir 
Ursache  und  Wirkung.  Doch  mit  Unrecht.  Wir  haben  nur  die  Bilder 
gesehen,  und  diese  sagen  uns  nichts  über  die  wesentHche  Verbindung,  die 
die  Aufeinanderfolge  nach  sich  zieht ').  Wir  haben  immer  nur  Beschreibung, 
keine  Erklärung.  Wir  glauben,  heute  weiter  zu  sein  in  der  Naturerkenntnis 
als  unsere  Vorfahren.  Wir  haben  aber  nur  mehr  Nacheinander  aufgedeckt. 
Begriffen  haben  auch  wir  nichts.  Denn  wir  arbeiten  mit  lauter  Dingen, 
die  es  nicht  gibt.  Alles  müssen  wir  zuerst  gewissermassen  vermensch- 
lichen, um  es  verstehen  zu  können.  Ursache  und  Wirkung  setzen  eine 
Mehrheit  voraus;  in  Wahrheit  steht  ein  Gontinuum  vor  uns,  von  dem  wir 
einige  Stücke  isolieren-). 

Der  tiefste  Grund  unseres  Glaubens  an  Ursache  und  Wirkung  hegt  in 
der  falschen  Auffassung  unserer  Willenstätigkeit.  Wer  nicht  tiefer  nach- 
denkt, fasst  den  Willen  als  das  allein  Wirkende  auf.  Wollen  ist  ihm  etwas 
Einfaches,  schlechthin  Gegebenes.  Der  Wille  befiehlt  und  die  Organe 
folgen.  Da  haben  wir  das  Schema  für  Ursache  und  Wirkung.  Ursprünglich 
ging  der  Mensch  so  weit,  dass  er  überall,  wo  ein  Geschehen  war,  er  einen 
Willen  als  dessen  Ursache  voraussetzte.  So  durfte  man  sagen:  „Wo  ge- 
wirkt wird,  da  ist  gewollt  worden"  3).  Man  hat  hierbei  übersehen,  dass 
es  sich  nur  um  eine  Interpretation  des  Intellektes  handelt.  Wie  wir  den 
Substanzbegriff  aus  dem  Subjekte,  dem  Ich  ableiten  mussten,  so  auch  die 
Kategorie  Ursache.  Wir  haben  und  spüren  in  uns  ein  Gefühl  von  Kraft, 
das  aber  schon  der  Beginn  der  Handlung  ist.  In  falscher  Erfassung  der 
Wirklichkeit  machen  wir  es  zur  Ursache  derselben. 

Eine  richtige  Erklärung  wird  die  causa  efficiens  mit  der  causa  finahs 
gleichsetzen.  Wir  suchten,  um  Verständnis  von  dem  Geschehen  zu  er- 
langen, nach  einem  Subjekte,  das  wir  dafür  verantwortlich  machen  durften. 

1)  V  124.  —  2)  VI  179,  —  3)  VI  191. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  475 

Eine  Wirkung  ist  für  uns  erklärt,  wenn  wir  einen  Zustand  auffinden,  dem 
sie  inhäriert.  Nach  der  Wirkung  bestimmen  wir  die  Ursache  und  nicht 
umgekehrt.  So  müssen  wir  sagen :  aus  der  Wirkung  interpretieren  wir  die 
Ursache  in  die  Handkmg  hinein  *).  Was  daher  dem  Glauben  an  die  Ur- 
sache solche  Festigkeit  gibt,  ist  nicht  das  Hintereinander  der  Dinge,  sondern 
der  Zwang,  alles  Geschehen  als  ein  Geschehen  aus  Absichten  zu  erklären. 
„Es  ist  der  Glaube  an  das  Lebendige  und  Denkende  als  an  das  einzig 
Wirkende  —  an  den  Willen,  die  Absicht"  — ;  es  ist  der  Glaube,  dass 
alles  Geschehen  ein  Tun  sei,  dass  alles  Tun  einen  Täter  voraussetze ;  es 
ist  der  Glaube  an  das  „Subjekt".  Sollte  dieser  Glaube  an  den  Subjekt- 
und  Prädikat-Begriff  nicht  eine  grosse  Dummheit  sein?" 2) 

Sollen  wir  Ursache  und  Wirkung  denn  aus  unserem  Sprachschatze 
tilgen '?  Durchaus  nicht.  Man  soll  sich  ihrer  als  reiner  Begriffe  als  kon- 
ventioneller Fiktionen  zum  Zeichen  der  Verständigung  und  nicht  der  Er- 
klärung bedienen.  Im  „Ansich"  der  Dinge  gibt  es  keinen  Kausalzusammen- 
hang, keine  Notwendigkeit,  keine  Folge  von  Ursache  und  Wirkung,  kein 
Gesetz.  Was  da  herrscht,  ist  der  starke  und  schwache  Wille.  Doch  für 
die  Wissenschaft,  für  das  gegenseitige  Verständnis  ist  die  Ursache  not- 
wendig. Sie  trägt  zur  Vereinfachung  bei.  Ohne  ihre  Annahme  keine 
Wissenschaft.  Aber  auf  das  Gebiet  muss  sie  auch  beschränkt  bleiben.  Sie 
auf  das  Reich  der  Dinge  ausdehnen  wollen,  geht  nicht,  weil  es  keine  Dinge 
gibt.  Der  Wille  zur  Macht,  zum  Leben,  der  alles  beherrscht,  bringt  auch 
alles  hervor.  —  Doch  da  stellt  sich  uns  die  Frage :  wie  handelt  dieser 
Wille?  Haben  wir  auch  hier  nur  Einbildung,  Fiktionen,  oder  ein  wirkliches 
Handeln?  Wenn  die  starken  Triebe  über  die  schwachen  siegen,  ist  da 
keine  Gesetzmässigkeit,  kein  kausaler  Zusammenhang  ?  So  bietet  die  Meta- 
physik Nietzsches,  mit  der  er  die  alte  glaubt  vernichten  zu  können,  seiner 
Theorie  die  grössten  Schwierigkeiten.  Verleitet  ist  er  auch  hier  zu  seinen 
extremen  Ansichten  durch  die  Bedeutung,  die  er  der  Physiologie  beimisst. 
Wenn  wir  bedenken,  wie  in  seinen  Tagen  so  mancher  von  dieser  Wissen- 
schaft die  Rettung  der  Welt  erwartete,  können  wir  uns  leichter  in  die 
Gesinnung  Nietzsches  hineindenken. 

Im  Anschluss  an  die  Kausalität  möge  eine  Bemerkung  über  die  Zweck- 
strebigkeit  in  der  Natur  Platz  finden.  Die  mechanistische  Erklärung  er- 
scheint auf  den  ersten  Blick  die  einfachste  zu  sein.  Doch  kann  sie  nichts 
erklären,  selbst  Druck  und  Stoss  nicht.  Die  Kraft  ist  da  und  verlangt  eine 
vollgültige  Erklärung.  Hat  aber  jemals  ein  Physiker  die  Kraft  konstatiert? 
Eine  Kraft,  die  wir  uns  nicht  vorstellen  können,  ist  ein  leeres  Wort,  mit 
dem  wir  nichts  anfangen  können*).  Aehnlich  ist  es  mit  den  andern  Be- 
griffen, mit  denen  die  Physik  arbeitet:  Stoff,  Atom,  Druck  und  Stoss. 
Alles  das  sind  nicht  Tatsachen,  sondern  Fiktionen.    Wir  müssen  uns  daher 


0  IX  4U8.  —  ■')  IX  407.  —  ^)  Vlll  32  ff.  —  ")  IX  459  ff. 


476  Mauritius  Demulh. 

hüten,  von  Gesetzmässigkeit  in  der  Natur  zu  reden.  Selbst  in  der  Clieniie 
geht  das  nicht.  Einzelne  Tatsachen,  ja !  Aber  Gesetze  nicht ;  sie  sind  ein 
metaphysischer  Rest ').  Sodann  der  Begriff  Bewegung.  Er  ist  einfach  ein 
Bild  des  Wirkens,  eine  Üebersetzung  „in  die  Zeichensprache  von  Auge  und 
Getast"2).  Leider  können  wir  die  Ausdrucksweise  nicht  ändern,  sondern 
nur  erklären,  inwieweit  es  blosse  Semiotik  ist. 

Somit  können  wir  nicht  von  Teleologie  sprechen,  da  es  keine  Gesetze 
gibt.  Die  Wissenschaft,  die  auf  solchen  Voraussetzungen  ruht,  kann  nicht 
wahr  sein.  W^oUen  wir  wirklich  etwas  unter  den  Händen  haben,  so  müssen 
wir  die  Begriffe:  Macht,  Kraft  ergänzen  zum  „Willen  zur  Macht".  Es 
muss  den  Dingen  ein  innerer  Wille  zugesprochen  werden,  ein  unersättliches 
Verlangen  nach  Bezeigung  von  Macht.  Beim  Tiere  können  wir  alle  Triebe 
aus  diesem  Willen  zur  Macht  ableiten.  Ebenso  stammen  alle  Funktionen 
des  organischen  Lebens  aus  dieser  einen  Quelle 3).  Nicht  Einsicht,  nicht 
ein  vorüberlegter  Plan  führt  die  Handlungen  herbei.  So  hat  der  Zufall 
einmal  den  Apparat  des  Auges  geschaffen.  Ein  solches  Beispiel,  meint 
Nietzsche,  und  keiner  mehr  wird  vom  Zwecke  sprechen.  Auch  die  Ver- 
nunft ist  auf  unvernünftige  Art,  durch  Zufall  entstanden.  Diesen  Zufall 
wird  man  wie  ein  Rätsel  erraten  müssen*). 

Aber  auch  hier  wieder:  wir  haben  Einheiten  nötig,  ohne  die  die  Physik 
unmöglich  ist.  Das  Nacheinander  verbinden  wir  als  Ursache  und  Wirkung. 
Dadurch  entsteht  eine  grosse  Vereinfachung.  Wir  können  unter  einem 
Bilde  eine  ganze  Reihe  von  Vorgängen  zusammenfassen.  Der  Gedanke  an 
das  eine  ruft  uns  die  Erinnernng  an  das  andere  wach.  Ohne  diese  Ver- 
knüpfung ist  das  wissenschaftliche  Arbeiten  unmöglich.  Gehen  wir  aber 
aus  dem  Reiche  der  Logik  in  das  der  wirklichen  Welt,  so  hören  alle  Ge- 
setze auf.  Die  grösste  Kraft  setzt  sich  da  jedesmal  durch.  Wo  die  grösste 
Kraftmenge  ist,  da  ist  der  Erfolgt).  Das  gilt  überall,  auch  für  den  freien 
Willen,  der  damit  aufhört,  frei  zu  sein. 

Auf  eine  nähere  Würdigung  der  Lehre  Nietzsches  über  die  zweite 
Hauptkategorie  brauchen  wir  nicht  näher  einzugehen.  Nietzsche  will  seine 
Lehre  auf  der  Psychologie  aufbauen.  R.  Eisler  hat  es  deshalb  unter- 
nommen, von  eben  diesem  Standpunkte  aus  die  Lehre  einer  Kritik  zu 
unterwerfen,  die  Nietzsche  des  Irrtums  überführt.  Nietzsche  hat  nicht 
unterschieden,  dass  wohl  das  Wachrufen  des  Verknüpfungstriebes  an  die 
Erfahrung  gebunden  ist,  der  Trieb  selbst  dagegen  dieser  vorhergeht.  Von 
diesem  Punkte  aus  übt  Eisler  erfolgreiche  Kritik 6). 

c.  Raum  und  Zeit. 

Auf  die  andern  Kategorien,  besonders  Raum  und  Zeit,  brauchen  wir 
nicht  mehr  näher  einzugehen.  Gegen  Kant  hebt  Nietzsche  hervor, 
~        M^lxlei.  —  0  IX  462.  —  »)  IX  4(>0.    -  *)  V  125.  —  ")  IX  468  ff. 

«)  Kr.  R.  Eisler,  Nietzsches  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik,  Leipzig 
1902,  62  ff. 


( 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  477 

man  dürfe  die  Kategorien  nicht  vom  aprioristischen  Standpunkte  aus 
bestimmen,  sondern  müsse  von  der  Erfahrung  ausgehen ').  Alle  Kategorien, 
auch  Raum  und  Zeit,  sind  völlig  subjektiv.  Das  steht  ihm  fest.  Hier 
wird  nicht  der  Verstand  das  letzte  Wort  sprechen,  sondern  die  Psycho- 
logie und  Physiologie.  Diese  Wissenschaften  müssen  dartun,  wie  der 
Mensch  allmählich  sich  entwickelt  hat,  Verstand  und  Wille  nicht  aus- 
genommen. So  wird  sich  ergeben,  wie  alles  mehr  oder  weniger  den 
aktuellen  Bedürfnissen  seinen  Ursprung  verdankt,  sich  fortpflanzte,  und, 
soweit  es  arterhaltend  war,  auch  erhielt.  Diese  beiden  Wissenschaften 
werden  alles  erklären.  Auch  die  Begriffe  Raum  und  Zeit,  sowie  die  übrigen 
Kategorien  sind  nichts  als  das  Resultat  einer  fortgeschrittenen  Entwicklung. 
Hier  tritt  uns  Nietzsche  als  reiner  Materiahst  entgegen.  Jedes  Nicht- 
Materielle  ist  ängstlich  ausgeschlossen.  Geist  und  Seele  gibt  es  nicht. 
Aber  wie  er  bei  seinem  absoluten  Subjektivismus  die  Vererbung  erklären 
will,  bleibt  wohl  ein  Rätsel. 

d.  Biologie  des  Erkenntnistriebes. 

Wir  haben  wiederholt  die  Frage  gestreift,  wie  Wahrheit  ein  bio- 
logischer Begriff  ist.  Darin  liegt  wohl  die  Hauptbedeutung  der  Philosophie 
Nietzsches,  dass  er  sich  hierin  klar  ausgesprochen  hat.  Somit  ist 
es  für  uns  notwendig,  ihm  gerade  in  dieser  Frage  näher  zu  folgen 
und  zu  sehen ,  wie  er  sich  die  Entstehung  des  Erkenntnisapparates 
und  Erkenntnisvorganges  denkt.  Wenn  wir  die  eine  Lehre  festhalten, 
alles  ist  dem  Willen  zur  Macht  unterworfen,  alles  hat  nur  biologisches 
Interesse ,  so  werden  uns  die  oft  recht  eigenen  Anschauungen  nicht 
weiter  mehr  in  Erstaunen  setzen.  Auch  bei  andern  Männern  seiner 
Zeit  machen  sich  solche  Strömungen  geltend ,  mögen  sie  nun  als  Oeko- 
nomie  des  Denkens  oder  sonstwie  bezeichnet  sein.  Besonders  fällt  bei 
Nietzsche  auf,  wie  er  immer  wieder  die  Vererbung  betont  und  zu- 
gleich sich  dagegen  verwahrt,  ein  Anhänger  Darwins  zu  sein.  Trotz- 
dem zeigt  alles,  was  er  sich  über  die  Entstehung  von  Verstand,  Bewusst- 
sein  und  den  Sinnes-Fakultäten  denkt,  eine  derartige  Beeinflussung.  So 
meint  er,  es  sei  gar  nicht  möglich,  dass  ein  Mensch  nicht  die  Eigenschaften 
seiner  Vorfahren  besitze,  Bildung  könne  dies  wohl  in  etwa  verdecken, 
ausrotten  aber  nicht 2).  Und  auf  die  Frage,  weshalb  der  grosse  Mensch 
geworden,  meint  er,  Vererbung  sei  ein  falscher  Begriff  dafür.  Er  ist  so 
gros.':,  weil  er  seine  Vorfahren  so  viel  gekostet  hat  3),  was  doch  im  Grunde 
auf  Vererbung  hinausläuft.  Auch  sein  Uebermensch  der  ersten  Jahre  kann 
nur  dann  auf  Verwirklichung  rechnen,  wenn  es  in  der  Art  eine  Fort- 
entwicklung gibt.  „Nicht  nur  fort  sollst  du  dich  pflanzen,  sondern  hinauf! 
Dazu  helfe  dir  der  Garten  der  Ehe",  spricht  Zarath  ustra*).  Doch  wenden 
wir  uns  der  Denkfakultät  zu.     Einleitend   sei  bemerkt,   dass  Nietzsche 


')  Vni  20.  -  2)  VIII  251.  —  ')  X  173.  —  *)  VII  102. 


478  Mauritius  Demuth. 

einmal  sagte,  Beweise  dürfe  man  von  ihm  nicht  verlangen').  Das  gilt 
besonders  in  diesem  Kapitel.  Was  er  uns  sagt,  mag  noch  so  schön  aus- 
gedacht sein,  mag  noch  so  sehr  den  Anschein  einer  psychologischen  und 
physiologischen  Erklärung  an  sich  tragen,  über  Kombinationen  kommt  er, 
abf^esehen  von  einigen  treffenden  Bemerkungen,  nicht  hinaus.  Wer  mit 
ihm  annehmen  will,  der  Mensch  sei  nur  ein  Tier,  das  von  der  Not  oder 
dem  Bedürfnisse  zum  Selbstbewusstsein,  zum  Gebrauche  des  Verstandes 
geführt  worden,  mag  es  tun.  Doch  dann  bleibt  es  ungeklärt,  wie  eben 
dies  Selbstbewusstsein,  wie  der  Verstand  den  Menschen  belügen  kann. 
Einmal  musste  der  Mensch  sich  so  entwickeln.  Eine  Täuschung  war  un- 
möglich, weil  der  Mensch  —  noch  ein  Tier  —  nicht  dachte.  Nur  unter 
dem  realen  Einfluss  der  Aussendinge  konnten  die  Organe  sich  so  gestalten. 
Und  eben  diese  Organe  sollen  sich  jetzt  darüber  täuschen!  Diese  Punkte 
stehen  im  Systeme  Nietzsches  diametral  gegenüber.  Entweder  sind  die 
Organe  den  Faktoren  angepasst,  denen  sie  ihre  Entstehung  verdanken, 
oder  sie  haben  einen  ganz  andern  Ursprung,  wobei  als  Drittes  nicht  aus- 
geschlossen ist,  dass  sie  einen  andern  Ursprung  haben  und  doch  den 
Aussendingen  angepasst  sind.  Auf  eine  Entwicklung  von  innen  heraus, 
wie  er  sie  später  will,  kommen  wir  noch  zu  sprechen.  Wenigstens  scheint 
unsere  Vernunft  keine  andere  Möglichkeit  zu  haben. 

Wie  nun  denkt  sich  Nietzsche  das  Werden  des  Verstandes  oder 
besser  dasW^erden  der  Logik,  des  Resultates  der  Verstandesarbeit -j  V  Wie  alle 
andern  Organe,  so  hat  sich  der  Intellekt  aus  der  Not  gebildet.  Er  ist 
eine  Folge  von  Existenzbedingungen.  Er  ist  gerade  so  geartet,  wie  wir  ihn 
besitzen,  weil  wir  unter  andern  Bedingungen  wohl  nicht  hätten  leben 
können  3).  Ursprünglich  ist  unser  Erkenntnisapparat  nicht  auf  Erkenntnis 
eingerichtet  gewesen,  vielmehr  musste  er  uns  notwendig  in  Irrtum  führen. 
Der  Wert  für  das  Leben  entschied,  und  Wahrheit  ist  nichts  anderes  als  die 
Art  von  Irrtum,  ohne  den  eine  bestimmte  Klasse  von  Lebewesen  nicht 
existieren  kann.  Weiter  reichte  unser  Erkennen  nicht.  Das  lehrt  uns  die 
Morphologie  der  Sinne,  der  Nerven  und  des  Gehirns.  Alle  „Wahrheiten 
a  priori"  können  deshalb  nur  als  „Annahme  bis  auf  weiteres"  gelten ,  so 
lange,  als  nicht  deren  Festhalten  das  Menschengeschlecht  vernichten  würde. 

Ungeheure  Zeitstrecken  musste  in  diesem  Kampfe  der  Intellekt  durch- 
laufen. Der  eine  kämpfte  für  sich,  der  andere  ererbte  die  Fähigkeiten. 
Erst  später  traten  Leugner  und  Zweifler  auf,  erst  spät  deshalb  die  Wahr- 
heit, die  unkräftigste  Form  der  Erkenntnis.  Weil  man  diese  Vernunft 
nötig  hatte  zum  Leben,  verschloss  man  sich  der  Wahrheit.  Es  war  ein 
Kampf  der  Triebe,  in  dem  die  lebenerhaltenden   siegten.     Zu  diesen  zählt 

»)  VII  186. 

^)  Soweit  diese  Frage  im  ersten  Teile  behandelt  ist,  soll  sie  hier  möglichst 
übergangen  werden. 
3)  IX  375  ff. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  479 

auch  die  Wahrheit.  Die  Erkenntnis  wurde  so  zu  einem  Stück  Leben,  bis 
sie  mit  den  uralten  Irrtümern  zusammenstiess.  Jetzt  stossen  beide :  Er- 
kenntnis und  Irrtum,  als  Macht,  als  Leben  auf  einander.  Es  entsteht  der 
Denker.  In  ihm  kämpft  der  Wahrheitstrieb  mit  dem  lebenerhaltenden 
Trieb  des  Irrtums,  weil  auch  der  Trieb  zur  Wahrheit  sich  inzwischen  als 
lebensfördernd  erwiesen  ^). 

Denken  im  ersten  Stadium  (vororganisch)  ist  Gestaltendurchsetzen, 
ähnlich  wie  bei  der  Krystallisierung.  Das  neue  Material  muss  unbedingt 
dem  alten  eingeordnet  werden,  wie  auch  die  Zelle  die  Fremdkörper  sich 
assimiliert.  Vom  Gleichmachen  kommen  wir  zum  Gleichsetzen,  das  als 
Grundlage  das  Vergleichen  hat.  Als  dritte  Stufe  tritt  die  Erinnerung  auf, 
bei  der  der  gleichmachende  Trieb  bereits  gebändigt  ist.  Erinnern  ist  gleich 
einrubrizieren,  einschachteln.  Für  diese  Tätigkeit  ist  uns  die  Ursache 
unbekannt.  Deshalb  nahm  man  die  Seele  an.  Fassen  wir  alles  zusammen 
so  sind  die  Erkenntnisorgane  nur  ein  Abstraktions-  und  Simplifikations- 
apparat,  durch  den  wir  uns  der  Dinge  bemächtigen  wollen.  Zuerst  müssen 
wir  die  Bilder  im  Geiste  haben;  dann  bilden  sich  die  Worte  und  aus 
diesen  die  Begriffe.  Beim  Worte  entsteht  nämlich  eine  kleine  Emotion, 
die  bei  verschiedenen  nur  wenig  abweichenden  gleich  zu  sein  scheint. 
Daraus  machen  wir  fälschlich  Gleichheit  und  haben  den  Begriff.  Es  kann 
sich  folglich  nur  um  Fiktionen  handeln  2).  Also  nur  Glaube,  den  wir  als 
Wahrheit  auffassen.  So  beweist  auch  das  Vertrauen  zur  Logik  und  deren 
Wertsehätzuug  nur  ihre  Nützlichkeit  für  das  Leben,  nicht  deren  Wahrheit. 
„Dass  eine  Menge  Glauben  da  sein  muss;  dass  geurteilt  werden  darf; 
dass  der  Zweifel  in  Hinsicht  auf  alle  wesentlichen  Werke  fehlt:  Das  ist 
Voraussetzung  alles  Lebendigen  und  seines  Lebens.  Also  das,  was  für  wahr 
gehalten  werden  muss,  ist  notwendig,  —  nicht  dass  es  wahr  ist" 3). 

Hier  wäre  der  Platz,  näher  auf  die  Ansicht  Nietzsches  hinsichtlich 
der  Entwicklungslehre  einzugehen.  Doch  würde  das  zu  weit  führen.  Alles 
was  wir  bisher  gehört  haben,  spricht  für  eine  allmähliche  Entwicklung, 
auch  über  die  Art  hinaus.  Zahlreiche  Belege  Hessen'  sich  dafür  erbringen. 
Man  vergleiche  nur  IX  389,  wo  er  über  das  Entstehen  der  Gattung  spricht. 
„Gattung  drückt  nnr  die  Tatsache  aus,  dass  eine  Fülle  ähnlicher  Wesen 
zu  gleicher  Zeit  hervorgetreten,  und  dass  das  Tempo  im  Weiterwachsen 
und  Sich-Verändern  eine  lange  Zeit  verlangsamt  ist".  Alles  spricht  für 
eine  Anpassung  an  die  Verhältnisse,  sei  es  von  innen  oder  von  aussen  her. 
Diese  Ansicht  scheint  mir  auch  am  meisten  in  das  System  Nietzsches  zu 
passen.  Vollständig  ignoriert  wird  sie  von  Eisler"*).  Nach  ihm  lehrt 
Nietzsche,  nicht  die  Nützlichkeit  sei  der  Ursprung  der  Organe,  sondern 
eine  Entwicklung  von  innen  heraus  habe  stattgefunden.    Also  keine  Zweck- 

1)  VI  175  ff.  —  ')  IX  377  ff.  -  3)  1V^380. 
*)  Ei«ler  a.  a.  0.  89. 


480  Mauritius  Demuth. 

theohe.  Auch  er  stützt  sich  auf  direiite  Belege  bei  Nietzsche  und  zwar 
auf  jene  Stelle,  in  der  Nietzsche  ex  professo  über  die  Frage  handelt'). 
Dort  stützt  er  sich  auf  die  Lehre  vom  Willen  zur  Macht.  Dieser  .schafft 
alles,  also  auch  die  Organe.  Er  schafft  von  innen  heraus.  Deshalb  müssen 
die  Organe  denselben  Ursprung  haben.  So  stimmt  diese  Lehre  wohl  mit 
der  Metaphysik  Nietzsches  überein.  Aber  mit  seiner  Biologie  des  Er- 
kenntnistriebes nur  sehr  schwer.  Es  ist  möglich,  dass  Nietzsche  später 
seine  Ansicht  geändert,  möglich  auch  und  sogar  sehr  wahrscheinlich,  dass  er 
sich  selbst  nicht  klar  war.  Wenigstens  wird  jeder  Leser  desZarathustra 
an  eine  Entwicklung  im  Sinne  Darwins  glauben  2).  Und  auch  Bd.  IX 
bietet  noch  der  Belege  genug.  Ebenso  glaubt  Riehl  an  eine  Entwicklung 
der  Erkenntnislehre  in  Darwinistischem  Sinne.  Biologisch  sei  nur  miss- 
verständlich für  darwinistisch  gesetzt  ^).  Doch  gehen  wir  zurück  zum  Thema. 

Bei  dem  Hange,  gleichzumachen  und  gleichzusetzen,  ist  die  Logik 
leicht  erklärbar.  Denn  sie  ist  weiter  nichts  als  dieser  Hang,  im  Zaune 
gehalten  durch  den  Erfolg*),  Es  bildete  sich  ein  unmittelbarer  Grad  der 
Lebensbejahung  heraus.  So  verdankt  auch  die  Logik  ihr  Dasein  dem 
Willen  zur  Macht,  gleich  dem  Willen  zur  Gleichheit.  Die  Logik  arbeitet 
mit  der  Annahme:  vorausgesetzt,  es  gebe  identische  Fälle.  Da  es  solche 
nicht  gibt,  muss  man  sie  fingieren.  Somit  ist  logische  Wahrheit  erst 
möglich,  nachdem  eine  grundsätzliche  Fälschung  von  seiten  des  Willens 
stattgefunden  hat. 

Diese  erfinderische  Kraft  hat  auch  die  Kategorien  geschaffen  aus  Be- 
dürfnis nach  Sicherheit,  nach  schneller  Verständigung.  Metaphysische  Wahr- 
heiten dürfen  wir  in  ihnen  nicht  sehen.  Die  grössten  Abstraktionskünstler 
haben  sie  aufgestellt.  Sie  zeigten  eine  relative  Nützlichkeit  und  setzten 
sich  durch.  Ihre  Wahrheit  ist  gleich  ihrer  Nützlichkeit.  Nietzsche  fasst 
das  Ergebnis  mit  den  Worten  zusammen:  „Nicht  »erkennen«,  sondern 
schematisieren,  dem  Chaos  so  viel  Regularität  und  Formen  auferlegen,  als- 
es  unserem  praktischen  Bedürfnis  genugtut"  5). 

In  der  Bildung  der  Vernunft,  der  Logik  und  Kategorien  ist  also  nicht 
das  Bedürfnis  zu  erkennen  massgebend  gewesen,  sondern  jenes  zu  sub- 
sumieren und  schematisieren  zum  Zwecke  der  Verständigung  und  Be- 
rechnung. Nicht  eine  „praeexistente  Idee"  hat  hier  gearbeitet,  sondern 
nur  die  Nützlichkeit.  „Die  subjektive  Nötigung,  hier  nicht  widersprechen 
zu  können,  ist  eine  biologische  Nötigung:  der  Instinkt  der  Nützlichkeit,  so 
zu  schliessen,  -wie  wir  schliessen,  steckt  uns  im  Leibe,  wir  sind  beinahe 
dieser  Instinkt".     Daraus  folgt  nicht,  dass  die  Axiome  wahr  wären.    Nicht- 

»)  IX  472  ff. 

-)  Man  vergl.  VII  418,  488,  491,  494;  VIII  88. 

3)  Riehl  a.  a.  0.  127,  128. 

*)  IX  381  ff.,  vgl.  VI  178.  -  ")  IX  383. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  481 

widersprechen-künnen  und  wahr  sein  sind  zwei  verschiedene  Dinge  ^).  Zn 
gleicher  Zeit  bejahen  und  verneinen  können  wir  nicht,  d.  h.  entgegen- 
stehende Prädikate  sollen  dem  Objekte  nicht  zugesprochen  werden.  Doch 
auf  die  Frage,  ob  die  logischen  Axiome  der  Wahrheit  entsprechen,  müssen 
wir  mit  nein  antworten,  weil  wir  andernfalls  bereits  die  Kenntnis  der  Wirk- 
lichkeit voraussetzten.  Was  ist  nun  die  Logik  V  .,Sie  ist  der  Versuch,  nach 
einem  von  uns  gesetzten  Seins -Schema  die  wirkliche  Welt  zu  begreifen, 
richtiger:  uns  formulierbar,  berechenbar  zu  machen"^).  Als  Endlüsung 
des  Problems  sagt  dann  Nietzsche:  „Wir  glauben  an  die  Vernunft:  diese 
aber  ist  die  Philosophie  der  genauen  Begriffe.  Die  Sprache  ist  auf  die 
allernaivsten  Vorurteile  hin  gebaut  .  .  .  Wir  hören  auf  zu  denken,  wenn 
wir  es  nicht  in  dem  sprachlichen  Zwange  tun  wollen,  wir  langen  gerade 
noch  bei  dem  Zweifel  an,  hier  eine  Grenze  als  Grenze  zu  sehen.  Das 
vernünftige  Denken  ist  ein  Interpretieren  nach  einem  Schema,  welches  wir 
nicht  abwerfen  können  .  .  ."^)  mit  andern  Worten:  der  Mensch  denkt  mit 
Wesensnotwendigkeit  falsch,  muss  aber  daran  glauben,  dass  die  Vernunft 
die  Wahrheit  sage.  Mit  Staunen  fragt  man  sich  da,  wie  denn  Nietzsche 
hinter  dies  Rätsel  gekommen.  Wenn  die  Vernunft  sich  wesentlich  irrt, 
kann  sie  ihn  wohl  auch  in  die  Irre  geführt  haben. 

Nach  diesen  Ausführungen  brauchen  wir  nicht  mehr  auf  die  Sicher- 
heit im  Erkennen  zurückzukommen.  Nietz  sehe  widmet  ihr  ein  eigenes 
Kapitel,  ohne  jedoch  etwas  Neues  zu  bieten*).  Objektive  Gewissheit  gibt 
es  nicht.  Der  Mensch  ist  eben  ein  alogisches  Wesen.  Erkenntnistheoretisch 
führen  uns  deshalb  auch  diese  Ausführungen  zum  reinen  Skeptizismus, 
der  nur  durch  den  Glauben  an  den  Besitz  der  Wahrheit  erträglich  ge- 
macht wird.  Denn  das  gesteht  auch  Nietzsche:  würde  nur  Zweifel 
herrschen,  so  wäre  ein  Leben  nicht  mehr  möglich.  Mit  einer  Schein  weit 
von  fingierten  Dingen  können  wir  nicht  leben. 

e.   Bewusstsein. 

Unter  allen  Arten  der  Erkenntnis  ist  der  Instinkt  die  intelligenteste  5). 
In  ihm  liest  das  Fundament  für  die  Wahrheiten  unseres  Glaubens. 
Dann  folgt  die  Vernunft  und  an  letzter  Stelle  das  Psychische,  das 
Bewusstsein.  Es  ist  dies  die  letzte  und  späteste  Entwicklung  des  Orga- 
nischen und  folglich  auch  das  Unfertigste  und  Unkräftigste.  Aus  der  Be- 
wusstheit  stammen  viele  Fehlgriffe,  die  Mensch  und  Tier  einem  frühzeitigen 
Untergange  entgegenfübren.  Da  ist  der  Instinkt  ein  beilsamer  Regulator. 
Unser  ganzes  Bewusstsein  bezog  sich  bisher  auf  Irrtümer  ^j. 

Wozu  dient  denn  das  Bewusstsein?  Hat  der  einzelne  es  nötig?  Nein! 
Nicht  zur  Individual-Existenz,  sondern  nur  zur  Herdennatur  ist  os  erfordert. 
Deshalb  kann  keiner  sich  selbst  verstehen,  mag  er  sich  noch  so  bemühen. 


')  IX  384.  -  -)  IX  386.  -  «)  IX  390.  ^-  *)  IX  497  fT. 
«)  Vlil  171;  VIII  121.  —  «)  VI  74 


482  Mauritius  Demulh. 

Wir  seilen  immer  nur  das  Nicht-Individuelle,  das  Durchschnittliche  unserer 
Handlungen.  Sobald  persönliche  Handlungen  ins  Bewusstsein  treten,  ändern 
sie  sich.  „Die  Natur  des  tierischen  Bewusstseins  bringt  es  mit  sich,  dass 
die  Welt,  deren  wir  bewusst  werden  können,  nur  eine  Oberflächen-  und 
Zeichenwelt  ist  ...  dass  mit  allem  Bewusstwerden  eine  grosse  gründliche 
Verderbnis,  Fälschung  verbunden  ist".  Das  kommt  aus  dem  Mangel  eines 
Organs  für  die  Wahrheit')  Wer  sich  deshalb  auf  das  Bewusstsein  stützt, 
irrt.  Aus  den  Erscheinungen  des  innern  Sinnes  will  er  auf  andere  Dinge 
schliessen,  zu  deren  Beobachtung  er  kein  Organ  hat.  Die  gewöhnliche 
Auffassung  des  Bewusstseins  als  Gesamtsensorium  ist  falsch.  Es  ist  nur 
ein  Mittel,  sich  mitteilen  zu  können.  Im  Verkehr  entwickelt,  muss  es  dem 
Verkehr  dienen.  Es  muss  mit  der  Aussenwelt  verbinden.  Somit  dürfen 
wir  aus  der  Klarheit  des  Bewusstseins  keinen  Schluss  ziehen  auf  logisches, 
ruhiges  und  kaltes  Denken. 

Wieviel  wird  uns  überhaupt  bewusst  2)?  Nur  ein  kleiner  Teil  des  Ge- 
schehens im  Organismus,  die  animalischen  Funktionen  nicht.  Was  aber 
bewusst  wird,  arbeitet  nur  an  der  Vervollkommnung  der  animalischen 
Funktionen,  vor  allem  der  Lebenssteigerung.  Ob  etwas  angenehm  oder 
unangenehm  empfunden  wird,  dient  demselben  Zwecke  ^).  Doch  was  dem 
Bewusstsein  jede  Bedeutung  nimmt,  wissen  wir  schon:  es  ist  der  Mangel 
an  Einheit,  das  Fehlen  des  Ich,  des  Subjektes.  Ohne  diesen  Träger  hat 
das  Bewusstsein  für  die  Wissenschaft  gar  keine  Bedeutung.  Wir  haben 
nur  den  Assoziationismus. 

Bei  der  Lehre  vom  Bewusstsein  muss  Nietzsche  ein  Zugeständnis 
machen,  das  mit  seinem  System  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist.  Hier 
„herrscht  eine  Zweckmäs.sigkeit  im  kleinsten  Geschehen,  der  unser  bestes 
Wissen  nicht  gewachsen  ist :  eine  Versorglichkeit,  eine  Auswahl  .  .  ."  Eine 
Tätigkeit  steht  vor  uns,  die  wohl  einem  höheren  Intellekte  als  dem  mensch- 
lichen zugeschrieben  werden  muss*).  Somit  scheint  es,  dass  wir  doch  eine 
höhere  Leitung  annehmen  müssen.  Das,  was  bewusst  wird,  steht  unter 
kausalen  Beziehungen,  die  uns  gänzlich  unbekannt  sind.  Die  Aufeinander- 
folge selbst  im  Bewusstsein  drückt  nichts  darüber  aus  ^).  Wir  meinen,  es 
handle  sich  um  Lust  und  Unlust,  die  uns  treiben.  Aber  beide  begleiten 
nur  die  Handlung,  sind  nicht  deren  Ursache.  Sie  könnten  auch  Mittel 
sein,  etwas  ausser  dem  Bewusstsein  zu  erreichen. 

So  sucht  Nietzsche  das  ganze  Zwecksetzen  auf  etwas  Nicht-WoUendes, 
Unbewusstes  zurückzuführen,  auf  die  natürliche  Zweckmässigkeit  des  Orga- 
nischen, in  dem  der  blinde  Wille  zur  Macht  lebt  und  virirkt.  Immer  wieder 
tritt  der  Leib  in  den  Vordergrund.  'Ihm  ist  es  wahrscheinlich,  dass  es  sich 
bei    der    ganzen  Entwicklung  des  Geistes    um    den  Leib    handle,    um    die 


',  VI  319.  —  ■')  IX  391  ff.  -  »)  IX  492. 
*)  IX  495.  -  5)  IX  392. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnislheorie.  488 

Bildung  des  höheren  Leibes').  Aehnlich  spricht  er  sich  auch  sonst  für 
den  Materialismus  aus.  Es  sei  Zeit,  das  Wort  Seele  aus  der  Psychologie 
zu  tilgen  und  nur  noch  Nerven-  und  Gehirntätigkeit  anzuerkennen.  Doch 
ist  es  schwierig,  sich  hier  ein  rechtes  Bild  zu  machen,  weil  Nietzsche  sich 
nicht  konstant  bleibt.  Eisler  glaubt,  ihn  nicht  zu  den  Malerialisten  zählen 
zu  sollen,  wenn  er  auch  zugibt,  dass  sich  manche  Stellen  dafür  finden-). 
Voluntarist  ist  Nietzsche,  soweit  der  Wille  zur  Macht,  nicht  der  freie  Wille 
in  Betracht  kommt.  Aber  zugleich  leugnet  er  jeden  Einfluss  einer  geistigen 
Macht  oder  Fähigkeit.  Selbst  das  Bewusstsein  ist  ihm  nur  eine  Zutat  zum 
Nervensystem.  Deshalb  werden  wir  auch  den  Willen  zur  Macht  als 
materielle  Kraft  fassen  müssen.  Damit  aber  bleibt  der  Vorwurf  des 
Materialismus  voll  und  ganz  bestehen.  • 

Um  das  Bild  zu  vervollständigen,  das  wir  bisher  gegeben,  mögen  noch 
einige  Fragen  von  untergeordneter  Bedeutung  berührt  werden,  darunter 
auch  metaphysische.  Nach  Kant  liegt  jede  wahre  Erkenntnis  im  Urteil. 
Das  synthetische  Urteil  a  priori  ist  ihm  die  Quelle,  aus  der  der  Fortschritt 
der  Wissenschaft  fliesst.  In  der  Mathematik  vor  allem  sieht  er  einen  Be- 
weis für  die  Wirklichkeit  solcher  Urteile.  Nach  Nietzsche  lehrt  er,  wenn 
wir  nicht  wüssten,  was  Erkenntnis  ist,  könnten  wir  die  Frage  nach  ihrem 
Dasein  nicht  beantworten.  Nietzsche  dagegen  ist  umgekehrter  Ansicht. 
Wenn  man  nicht  weiss,  ob  es  Erkenntnis  gibt,  kann  man  vernünftiger- 
weise die  Frage  gar  nicht  stellen,  was  sie  sei.  Kant  will  eine  Erkenntnis 
der  Erkenntnis.  Das  ist  eine  Naivität.  Nach  Kant  muss  Notwendigkeit 
und  Allgemeinheit  des  Urteils  der  Erfahrung  vorausgehen.  Nietzsche  da- 
gegen fragt  sich,  wie  diese  ohne  Erfahrung  überhaupt  seien.  Nach  dieser 
Kritik  stellt  er  folgende  Regel  auf:  ein  einzelnes  Urteil  ist  niemals  wahr; 
es  gibt  keine  einzelnen  Urteile.  Erst  im  Zusammenhang,  in  der  Beziehung 
vieler  Urteile,  gibt  es  Bürgschaft 3).  Die  Prinzipien  der  Logik  sind  nur 
regulative  Glaubensartikel.  Damit  sinkt  das  Urteilen  auf  ein  blosses  Für- 
wahr-halten  zurück,  erhebt  sich  nicht  zur  Evidenz  oder  Sicherheit,  sondern 
nur  zum  festen  Glauben.  Das  Urteil  setzt  identische  Fälle  voraus.  Dem- 
gemäss  muss  schon  etwas  vorausgehen,  was  die  Identität  schafft,  es  ist  also 
nicht  eine  primäre  Handlung,  Die  erste  Handlung  fällt  nicht  ins  Bewusst- 
sein, und  auf  ihr  beruht  unser  starker  Glaube  an  die  Identität.  Aber  das 
ist  doch  kein  Kriterium  der  Wahrheit. 

Ebensowenig  kann  die  logische  Bestimmtheit  und  Durchsichtigkeit  ein 
derartiges  Kriterium  sein.  Descartes  hat  deshalb  mit  seinem  Fundamental- 
satz Unrecht,  Wäre  es  nicht  wahrscheinlicher,  dass  dort,  wo  die  höchste 
Leistung  gefordert  wird,  auch  der  Glaube  an  dessen  Wahrheit  d.  h.  Wirk- 
lichkeit wachgerufen  wird  V  Danach  muss  also  das  Kriterium  der  Wahrheit 
in  der  Steigerung   des  Machtgefühls   liegen*).     Auch  kann  Wahrheit  nicht 


IX  496,  -  0  A,  a.  0.  lOL  -  ^)  IX  396  ff.  -  *)  IX  401. 


484  Mauritius  Demutti. 

im  Gegensatz  zum  Irrlum  gefassl  werden.  Denn  Wahrheit  ist  nur  eine 
SleUung  verschiedener  Irrtümer  zu  einander.  Nur  mag  der  eine  dieser 
Irrtümer  liefer,  unausrottbarer  sein  als  der  andere.  Da.s  ist  der  ganze 
Unterschied.     Ein  unwiderlegbarer  Satz  ist  noch  kein  wahrer  Satz. 

„Was  ist  Wahrheit?  —  Inertia;  die  Hypothese,  bei  welcher  Be- 
friedigung entsteht:  geringster  Verbrauch  von  geistiger  Kraft  usw."  i).  Es 
</ibt  vielerlei  Wahrheiten  und  folglich  gibt  es  keine  Wahrheit.  Der  Glaube, 
dass  es  keine  Wahrheit  gebe,  ist  ein  Ausruhen  für  den,  der  mit  ihr  im 
Kampfe  liegt.  Denn  die  Wahrheit  ist  hässhch.  Die  Verehrung  der  Wahr- 
heit ist  schon  die  Folge  einer  Illusion.  Wir  kommen  so  zum  Schlüsse : 
alles  ist  falsch,  alles  erlaubt.  Der  Mensch  findet  in  den  Dingen  das  wieder, 
was  er  selbst  hineingelegt  hat.  So  wenig  ein  „Ding  an  sich"  möglich  ist, 
so  wenif/  auch  eine  „Erkenntnis  an  sich".  Doch  das  Einsehen  unserer 
Unwissenheit  genügt  nicht;  wir  müssen  sie  sogar  wollen.  Ohne  sie  kern 
Leben.  Also  auch  hier  alles  vom  Werte  des  Lebens  bestimmt.  Die  alten 
Kriterien  gelten  nicht  mehr.  Was  mehr  Macht  bringt,  ist  wahr  (offenbar 
haben  wir  hier  eine  starke  Uebereinstimmung  mit  der  Denkökonomie  von 
Mach).  Der  Unterschied  zwischen  v>^abr  und  falsch  fällt.  Alles  ist  falsch. 
Auf  welches  Kriterium  Nietzsche  diesen  Scbluss  gründet,  sagt  er  uns  nicht. 
Nach  seiner  Theorie  muss  das  auch  falsch  sein.  Uns  bleibt  also  neben 
dem  irrigen  Glauben  nur  Skeptizismus,  Nihilismus. 

Wille  zur  Macht,  ewige  Wiederkunft:  diese  beiden  Ausdrücke 
enthalten  die  Metaphysik  Nietzsches.  Beide  sind  ohne  die  Annahme  einer 
realen  Aussenwelt  leere  Begriffe  2).  Ob  ich  die  Dinge  als  eine  Summe  von 
Kräften  fasse,  die  um  den  Vorrang  ringen  und  bei  denen  jedesmal  die 
stärkste  siegt,  weil  sie  den  stärksten  Willen  zur  Macht  hat,  oder  ob  ich 
mir  ein  anderes  Bild  davon  mache:  immer  betrachte  ich  sie  als  etwas 
Einheitliches.  Bildeten  selbst  die  Kräfte  nicht  eine  Einheit,  geleitet  von 
einem  Ziele,  so  müsste  alles  in  sich  verfallen.  Nicht  besser  steht  es  mit 
der  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkunft  der  Dinge.  Nietzsche  schliesst 
also:  die  Zahl  der  Möglichkeiten  ist  beschränkt,  die  Dauer  der  Welt  bereits 
ewig.  Deshalb  muss  alles  schon  einmal  und  selbst  unzählige  Male  dage- 
wesen sein.  Mehr  noch:  Die  Dinge  treten  jetzt  genau  so  auf,  wie  sie 
früher  schon  da  waren.  Also  einen  beständigen  Kreislauf  müssen  wir  an- 
nehmen. Diese  Lehre  soll  an  Stelle  der  Religion  treten.  Auf  den  ersten 
Blick,  so  meint  Nietzsche,  müsse  sie  uns  entsetzlich  vorkommen.  Ein 
Loben  vielleicht  voll  des  Kampfes  und  Schmerzes,  ist,  einmal  gelebt,  genug, 
und  niemand  wird  nach  seiner  Wiederholung  verlangen.  Doch,  so  meint 
er  dann,  dieser  Gedanke  werde  anspornen,  dem  Leben  immer  mehr  Wert 

')  IX  402  ff. 

^  Ueber  den  Willen  zur  Macht  ist  wiederholt  gesprochen  worden,  sodass 
eine  eigene  Darstellung  wohl  überflüssig  ist.   Vgl.  auch  Riehl  a.  a.  0,  103  ff. 


Friedrich  Nietzsches  Erkenntnistheorie.  485 

zugeben,  es  auf  die  Höhe  seiner  Macht  zu  bringen.  Er  rühmt  sich,  die 
Lehre  der  Wiederkunft  aller  Dinge  sei  seine  eigene  Entdeckung,  ein  ge- 
eigneter Ersatz  für  jede  Metaphysik.  Denn  das  sieht  er  ein:  ohne  Meta- 
physik geht  es  im  Leben  nicht.  Die  Lehre  der  Griechen  muss  somit  in 
neuen  Worten  als  Ersatz  dienen  für  das,  was  der  Welt  Segen  und  Wohl- 
stand gebracht.  Ebensowenig  wie  in  Griechenland,  hat  diese  Lehre  bei 
uns  festen  Boden  fassen  können.  Sie  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  ein  schönes  Phantasiebild  ^). 

Das  möge  genügen  zur  Charakterisierung  der  Lehre.  Seine  Stellung 
zur  Moral  und  zum  Christentum  gehört  nicht  hierher'^).  Noch  manche 
Punkte  berührt  Nietzsche.  Aber  neues  Licht  bringen  sie  nicht.  Vom 
philosophischen  Standpunkte  aus  dürfen  wir  wohl  sagen,  dass  er  den 
Strömungen  seiner  Zeit  folgte,  ohne  dabei  positiv  philosophisches  Talent 
besonders  zu  verraten.  Die  Form  der  Darstellung  ist  es  gewesen,  die 
ihm  so  viele  Freunde  gemacht.  Seine  Erkenntnislehre  ist  Skeptizismus, 
besser  noch  philosophischer  Nihilismus..  Nicht  aufbauenden,  sondern  zer- 
störenden Charakters  ist  seine  Lehre. 

Als  Schluss  möge  das  Urteil  Külpes  dienen:  „Nietzsche  ist  der 
Wahrheitsucher  im  Gewände  der  irrenden  und  strauchelnden  Menschen, 
der  dem  idealen  Ziele  der  Einsicht  in  rastloser,  leidenschaltlicher  Bemühung 
nachjagt  und  dabei  versäumt,  die  Sicherheit  des  Bodens,  auf  dem  er  dahin- 
eilt, gewissenhaft  zu  prüfen"^).  Seine  Fundamente,  die  Voraussetzungen 
seiner  Lehre  sind  falsch.  Deshalb  konnte  er  nicht  zu  einem  befriedigenden 
Resultate  kommen. 


')  Ueber   den  Willen    zur   Macht   besonders    IX  459  ff.    Ueber  die  ewige 
Wiederkunft  VI  1  ff. ;  VII  334  ff. ;  X  221  ff. 

-)  Darüber  Lauscher,  Friedrich  Nietzsche  127  ff. 
^)  Külpe,  Die  Philosophie  der  Gegenwart*  66. 


PhiloRop'iisdies  Jahrbucli  1913 


81 


Kants  Lelire  vom  Bewusstsein. 

Von  Franz  Maria  Sladeczck  S.  J.  in  Charlottenlund  (Dänemark). 


Das  grosse  Interesse,  das  unsere  Zeit  den  psychologischen  Fragen 
entgegenbringt,  die  vielen  engen  Berührungspunkte  zwischen  Psychologie 
und  Erkenntniskritik,  die  Bedeutung  gerade  psychologischer,  gerade  imma- 
nenter Elemente  im  Kantschen  System  lassen  es  als  begründet  erscheinen, 
Kants  Erkenntniskritik  und  Psychologie  nach  ihren  Wechselbeziehungen 
hin  zu  untersuchen.  Es  kommt  hier  in  Frage  die  Lehre  Kants  vom  Be- 
wusslsein  und  seiner  Einheit,  oder  besser  gesagt,  die  Lehre  vom  inneren 
Sinn  und  der  ursprünglich-synthetischen  Einheit. 

L 

Kant  definiert  den  inneren  Sinn  als  „das  Anschauen  unserer  selbst 
und  unseres  inneren  Zustandes"  (A  32—33),  und  an  einer  anderen  Stelle 
als  „jene  Eigenschaft  unseres  Gemütes",  vermittelst  deren  „das  Gemüt  sich 
selbst  oder  seinen  inneren  Zustand  anschaut"  (A  22),  im  Gegensatz  zum 
äusseren  Sinn,  den  Kant  als  „jene  Eigenschaft  unseres  Gemütes"  be- 
zeichnet, ,, vermittelst  deren  wir  uns  Gegenstände  als  ausser  uns  und  diese 
insgesamt  im  Räume  vorstellen"  (A  22).  Als  Grenzlinie  des  äusseren  und 
inneren  Sinnes  ist  also  der  Gegensatz  des  Physischen  und  Psychischen 
anzusehen. 

Den  Umfang  und  Inhalt  des  inneren  Sinnes  machen  demnach  die 
Bewusstseinstatsachen,  die  psychischen  Phänomene,  die  psychischen  Er- 
scheinungen aus.  Zu  ihnen  gehören  zunächst  die  Empfindungen  in  dem 
Sinne,  in  dem  sie  von  der  heutigen  Psychologie  verstanden  werden,  die 
sensibilia  propria,  die  Sinnesqualitäten,  die  qualitates  sensibiles  der  Scho- 
lastiker, wie  z.  B.  in  der  äusseren  Wahrnehmung  die  Gesichtsempfindungen 
rot,  blau,  die  Geschmacksempfindungen  süss,  sauer  u.s.  w.  Die  Empfin- 
dungen können  nämlich  als  Erkenntnisse  angesehen  werden  an  Dingen,  die 
wir  uns  als  ausser  uns  vorstellen,  und  dann  gehören  sie  zum  äusseren 
Sinn,  oder  sie  können  als  Bewusstseinstatsachen  angesehen  werden,  und 
dann  sind  sie  Gegenstand  des  inneren  Sinnes.  Ja  „die  Vorstellungen 
äusserer  Sinne",  sagt  Kant,  ,, machen  sogar  den  eigentlichen  Stoff  aus, 
womit  wir  unser  Gemüt  besetzen"  (B  67—68).  „Alle  Vorstellungen,  sie 
mögen  nur  äussere  Dinge  zum  Gegenstand  haben  oder  nicht,  gehören  doch 
an   sich   selbst,    als   Bestimmungen    des   Gemüts   zum    inneren   Zustande" 


Kants  Lelire  vom  Bevvusstsein.  487 

(A  34).  „Aller  Zuwachs  der  empirischen  Erkenntnis  und  jeder  Fortschritt 
der  Wahrnehmung  ist  nichts  als  eine  Erweiterung  der  Bestimmung  des 
inneren  Sinnes"  (A  210). 

Zu  den  Bewusstseinstatsachen  gehört  mit  noch  mehr  Recht  als  die 
Empfindungen  die  Raumanschauung,  d.  h.  die  Wahrnehmung  der  Aus- 
dehnung. „Der  Raum  ist"  ja,  nach  Kants  eigenen  Worten,  „nichts  anderes, 
als  nur  die  (aprioristische)  Form  aller  Erscheinungen  äusserer  Sinne",  mit- 
hin rein  subjektiv  (A  25—26). 

Da  ausserdem  nach  Kant,  nicht  etwa  bloss  deshalb,  weil  auch  er  die 
neuere  Ansicht  der  Sinnesqualitäten  teilt,  sondern  aus  erkenntnis-kritischen 
Gründen  wir  durch  die  Empfindungen  die  Objekte  an  sich,  oder  in  Kant- 
scher Terminologie  das  Ding  an  sich,  gar  nicht  wirklich  erkennen,  so 
folgert  er,  dass  alle  äusseren  Wahrnehmungen,  ,,alle  Erscheinungen  das 
blosse  Spiel  unserer  Vorstellungen  sind,  die  am  Ende  auf  Bestimmungen 
des  inneren  Sinnes  auslaufen"   (A  101). 

Zum  Inhalt  des  inneren  Sinnes  zählt  Kant  ferner  unsere  Phantasie- 
vorstellungen (A  18),  unsere  Gedanken  (A  371),  Begierden  (A  357),  Ent- 
schhessung,  Wille  (A  358),  Gefühle,  Lust  und  Schmerz  (A  374). 

Endhch  gehört  zum  Inhalt  des  inneren  Sinnes  das  empirische  Ich, 
d.  h.  das  aktuelle  ßewusstsein  des  Ich,  das  jeweils  alle  obigen  Bewusstseins- 
vorgänge  begleitet.  ,,Das  Bewusstsein  unserer  selbst,  nach  den  Bestim- 
mungen unseres  Zustandes  bei  der  inneren  Wahrnehmung,  ist  bloss  em- 
pirisch, jederzeit  wandelbar,  es  kann  kein  stehendes  oder  bleibendes  Selbst 
in  diesem  Flusse  innerer  Erscheinungen  geben"  (A  107). 

Den  gesamten  Inhalt  des  inneren  Sinnes,  den  wir  jetzt  beschrieben 
haben,  nennt  Kant  „die  Materie  des  inneren  Sinnes"  (A  20,  21).  Damit 
sinnliche  Erkenntnis,  damit  empirische  Anschauung,  um  den  Kantschen 
Ausdruck  zu  gebrauchen,  überhaupt  möglich  sei,  muss  die  Materie  durch 
eine  aprioristische  Erkenntnisform  geordnet  werden.  Die  aprioristische  Er- 
kenntnisform des  inneren  Sinnes  ist  die  Zeit.  „Die  Zeit  ist  nickts  anderes", 
sagt  Kant,  „als  die  Form  des  inneren  Sinnes".  ,,Wenn  wir  von  unserer  Art, 
uns  selbst  innerlich  anzuschauen  und  vermittelst  dieser  Anschauung  auch 
alle  äusseren  Anschauungen  in  der  Vorstellungskraft  zu  befassen,  abstra- 
hieren, und  mithin  die  Gegenstände  nehmen,  wie  sie  an  sich  selbst  sein 
mögen,  so  ist  die  Zeit  nichts"  (A  34).  „Die  Zeit  ist  lediglich  eine  sub- 
jektive Bedingung  unserer  (menschlichen)  Anschauung  und  an  sich,  ausser 
dem  Subjekte,  nichts"  (A  34).  Wir  können  demnach  beim  Bewusstsein 
den  Bewusstseinsinhalt  und  die  Bewusstseinsfunktion  unterscheiden.  Die 
Bewusstseinsfunktion  ist  so  aufzufassen,  dass  durch  sie  der  Bewusstseins- 
inhalt in  Zeitverhältnisse  geordnet  und  so  angeschaut  und  damit  bewusst 
wird.  So  sagt  Kant:  „Ich  kann  zwar  sagen:  meine  Vorstellungen  folgen 
einander,  aber  d.  h.  nur,  wir  sind  uns  ihrer,  als  in  einer  Zeitfolge  d.  i.  nach 
der  Form  des  inneren  Sinnes  bewusst"  (A  37 — 38). 

31* 


4R8  Fr.  M.  Sladeczck. 

Diese  aprioristisciie  Zeitform  als  Bewus.stseinsfunktion  gibt  uns  aucli 
näheren  Aufschluss  über  das  Verhältnis  des  inneren  zum  äusseren  Sinn. 
„Die  Zeit",  sagt  Kant,  „ist  die  formale  Bedingung  a  priori  aller  Erschei- 
nungen überhaupt."  „Weil  alle  Vorstellungen,  sie  mögen  nun  äussere 
Dinge  zum  Gegenstand  haben  oder  nicht,  doch  an  sich  selbst,  als  Be- 
stimmungen des  Gemüts,  zum  inneren  Zustande  gehören:  dieser  innere 
Zustand  aber,  unter  der  formalen  Bedingung  der  inneren  Anschauung, 
mithin  der  Zeit  gehört,  so  ist  die  Zeit  eine  Bedingung  a  priori  von  aller 
Erscheinung  überhaupt  und  zwar  die  unmittelbare  Bedingung  der  inneren 
und  eben  dadurch  mittelbar  auch  der  äusseren  Erscheinungen"  (A  34). 
Es  ist  demnach  eine  doppelte  Zuordnung  der  äusseren  Erscheinungen  zu 
unterscheiden  —  in  der  Weise,  dass  sie  ihrem  Gegenstande  nach  dem 
äusseren  Sinn,  ihrem  Gegebensein  im  Bewusstsein  nach  dem  inneren  Sinn 
angehören  ^) . 

Der  innere  Sinn  würde  .also,  wenn  man  von  der  Zeitvorstellung  als 
rein  subjektiver  Erkenntnisform  absieht,  dem  direkten  Bewusstsein,  der 
conscientia  direcla  der  Scholastiker  entsprechen.  Freilich  ist  dann  der 
Ausdruck  „Sinn"  nur  in  Kantscher  Terminologie  berechtigt,  die  wir  weiter 
unten  noch  erklären  werden.  Es  genügt  hier  zu  erwähnen,  dass  „Sinn" 
bei  Kant  keineswegs  gleichbedeutend  ist  mit  organischem  Vermögen.  In 
scholastischer  Terminologie  könnte  man  ihn  nicht  mehr  als  „Sinn"  be- 
zeichnen, weil  ja  unter  den  Inhalt  des  direkten  Bewusstseins  nicht  bloss 
Empfindungen  und  Vorstellungen,  sondern  auch  Gedanken  und  Willensakte 
fallen,  die  auch  nach  Kant  zum  Inhalt  des  inneren  Sinnes  gehöi'en.  Er 
ist  dann  wie  das -direkte  Bewusstsein  etwas  sensitiv-intellektuelles. 

Die  Bewusstseinstatsachen  aufzuzählen  und  zu  beschreiben  ist  die  erste 
Aufgabe  der  Psychologie,  der  beschreibenden  Psychologie.  —  Einsicht  darin 
zu  bekommen,  wie  die  psychischen  Vorgänge  und  Zustände  einander  ur- 
sächlich bedingen,  d.  h.  warum  sie  eintreten  und  den  Verlauf  nehmen, 
den  wir  beobachten,  ihre  weitere  Aufgabe.  Es  ist  dies  die  Aufgabe  der 
erklärenden  Psychologie  ^).  Auch  Kant  gibt  eine,  im  gewissen  Sinn  psych- 
logische Erlärung  des  inneren  Sinnes.  Nach  ihm  ist  die  Sinnlichkeit  über- 
haupt, die  Rezeptivität  des  Gemütes,  Vorstellungen  zu  empfangen,  sofern 
es  auf  irgend  eine  Weise  affiziert  wird  (A  51).  Das  Charakteristische  der 
Sinnlichkeit  d.  h.  der  Rezeptivität,  der  Empfänglichkeit  unseres  Gemütes 
besieht  also  im  „Affiziert-Werden",  d.  h.  darin,  dass  die  sinnliche  Fähigkeit, 
von  etwas  ausser  ihr  „Eindrücke"  empfängt.  Die  Reaktionen  der  Sinnlich- 
keit auf  diese  Eindrücke  von  aussen  sind  die  Empfindungen.  Sie  sind, 
wie  wir  schon  gese'cen  haben,  nur  die  Materie  der  empirischen  Anschauung. 
Damit  diese  selbst  zustande  kommt,  muss  die  Sinnhehkeit  die  Materie  durch 


')  Vgl.  Reininger,  Kans  Lehren  vom  inneren  Sinn  29. 
-')  Vgl.  Geyser,  Lehrbuch  der  allgemeinen  Psychologie  '^  12. 


Kants  Lehre  vom  Bewusstsein.  489 

die  Form,  die  im  Gemüte  a  priori  bereitliegt  (A  20,  21),  verarbeiten.  Die 
Form  stammt  also  aus  der  Sinnlichkeit  selber.  Doch  sind  diese  aprio- 
ristischen  Formen  nicht  als  angeborene  präexistente  Formen  zu  denken, 
sondern  als  Funktionen  der  Sinne,  das  Mannigfaltige  der  Empfindungen  in 
der  Raum-  oder  in  der  Zeitanschauung  zu  verarbeiten.  Nur  in  der  Funktion 
selbst  haben  sie  Wirklichkeit.  Das  „im.  Gemüte  a  priori  bereit  liegen"  heisst 
also  nichts  anderes  als  das  Vermögen  der  Sinnlichkeit,  das  Mannigfaltige 
der  Empfindungen  in  der  Form  des  Raumes  oder  der  Zeit  anzuordnen. 
Die  Dissertation :  „De  mundi  sensibilis  atque  intelligibilis  forma  et  principiis", 
wo  die  transzendentale  Aesthetik  schon  grundgelegt  und  im  wesentlichen 
enthalten  ist,  betont  das  ausdrücklich :  „Verum  conceptus  uterque  (nämlich 
Raum-  und  Zeitform)  procul  dubio  acquisitus  est  (non  connatus),  non  a 
sensu  quidem  obiectorum  (sensatio  enim  materiam  dat,  non  formam  cog- 
nitionis  humanae)  abstractus,  sed  ab  ipsa  mentis  actione,  secundum  per- 
petuas  leges  sensa  sua  coofdinante,  quasi  typus  immutabilis,  ideoque  in- 
tuitive cognoscendus.  Sensationes  enim  excitant  hunc  mentis  actum,  neque 
aliud  hie  connatum  est  nisi  lex  animi,  secundum  quam  certa  ratione  sensa 
sua  e  praesentia  obiecti  coniungit"  (§  15).  Dieso  Theorie  der  Sinnlichkeit 
ist  für  den  äusseren  Sinn  leicht  verständhch.  Das,  wovon  der  äussere 
Sinn  affiziert  wird,  ist  das  Ding  an  sich.  Die  Reaktionen  des  äusseren 
Sinnes  auf  die  Eindrücke  des  Dinges  an  sieh  sind  die  Empfindungen,  wie 
Farbe,  Ton,  Geschmack  u.s.w.  Sie  sind  aber  durchaus  kein  getreues  Ab- 
bild des  Dinges  an  sich,  sondern  subjektiv.  Die  aprioristische  Form,  durch 
die  der  äussere  Sinn  das  Mannigfaltige  dieser  Empfindungen  verarbeitet, 
ist  der  Raum.  Die  so  durch  die  Raumform  verarbeiteten  Empfindungen 
machen  die  äusseren  Erscheinungen  aus,  wie  sie  Kant  nennt,  d.  h.  die 
Gegenstände  der  äusseren  Anschauung. 

Unsere  Ansicht  in  der  Erklärung  des  inneren  Sinnes  deckt  sich  mit 
der  Vaihingers  (Komm.  II  478)  ^). 

Der  innere  Sinn  ist  nach  Kant  so  zu  erklären,  dass  „das  Gemüt  durch 
sich  selbst  affiziert  wird",  und  zwar,  wie  es  bei  Kant  weiter  heisst,  durch 
„eigene  Tätigkeit"  (B  67).  Wir  haben  also  im  Gemüte  einen  aküven  und 
einen  passiven  Teil  zu  unterscheiden.  Der  aktive  Teil  des  Gemütes  ent- 
spricht den  Dingen  an  sich  beim  äusseren  Sinn ;  der  passive  Teil  entspricht 
der  Rezeptivität,  der  Empfänglichkeit  des  äusseren  Sinnes,  wodurch  er  auf 
die  Eindrücke  des  Dinges  an  sich  durch  die  Empfindungen  reagiert.  Der 
aktive  Teil  des  Gemütes  ist,  wie  Kant  sagt,  das  „Setzen  der  Vorstellungen", 
also  das  Setzen  der  äusseren  Wahrnehmungen,  das  Setzen  der  Phantasie- 
vorstellungen, das  Setzen  unserer  Gefühlsakte  u.s.w.,  kurz  die  Bewusstseins- 
tatsachen.  Durch  dieses  Setzen  •  einer  Vorstellung  affiziert  das  Gemüt 
zugleich  seinen  eigenen  passiven  Teil,   das  rezeptive,  „empfängliche",  auf- 


0  Ueber  die  Erklärung  Reiningers  s.  „Lehre  vom  im  inneren  Ümn"  31. 


490  Fr.  M.  Sladeczck, 

nehmende  Vermögen,  den  inneren  Sinn.  Die  aprioristische  Form,  unter 
der  dieses  aufnehmende  Vermögen,  der  innere  Sinn,  den  Bewusstseins- 
inhalt  verarbeitet,  ist  die  Zeit.  Durch  diesen  ganzen  Vorgang  sind  wir 
erst  imstande,  uns  des  Inhaltes  unseres  Bewusstseins  wirkhch  bewusst  zu 
werden,  und  zwar  geschieht  dies  unter  der  subjektiven  Form  der  Zeit.  So 
erhalten  wir  erst,  wie  Kant  sagt,  eine  „innere  Wahrnehmung  von  dem 
Mannigfaltigen,  was  im  Subjekt  vorhergegeben  wird"  (B  67).  So  ist  auch 
die  Erklärung  des  inneren  Sinnes  zu  verstehen,  die  Kant  selbst  in  den 
Sclilussanmerkungen  der  transzendentalen  Aesthetik  gibt:  „Wenn  das  Ver- 
mögen, sich  bewusst  zu  werden,  das  was  im  Gemüte  liegt,  aufsuchen 
(apprehendieren,  oder  wie  Vaihinger  aus  textkritischen  Gründen  sagt,  auf- 
nehmen) soll,  so  muss  es  dasselbe  affizieren,  und  kann  allein  auf  solche 
Art  eine  Anschauung  seiner  selbst  hervorbringen,  deren  Form  aber,  die 
vorher  im  Gemüte  zum  Grunde  liegt,  die  Art,  wie  das  Mannigfaltige  im 
Gemüte  beisammen  ist,  in  der  Vorstellung  der  Zeit  bestimmt"  (B  67). 

Bei  diesem  ganzen  Vorgange  ist  aber  in  einem  Punkte  eine  wesent- 
liche Verschiedenheit  vom  äusseren  Sinne.  Beim  äusseren  Sinne  besteht 
die  Materie,  die  in  die  Raumform  gebracht  werden  soll,  aus  den  Em- 
pfindungen, welche  selbst  ihrerseits  wieder  Reaktionen  des  Subjekts  auf 
Eindrücke  des  Dinges  an  sich  sind.  Sie  sind  schon  selbst  subjektiv  und 
somit  reine  Erscheinungen.  Beim  inneren  Sinn  besteht  das  Mannigfaltige 
aus  den  Tätigkeitsakten  des  aktiven  Teils  des  Gemüts,  und  diese  sind 
nichts  anderes,  als  die  Bewusstseinstatsachen,  der  Bewusstseinsinhalt.  Dieser 
ist  aber  etwas  Objektiv-Seiendes.  Die  BewussLseinsfakta  sind  eben  innere 
Tatsachen.  Was  zu  ihnen  hinzukommt,  ist  nur  die  Zeit\orstellung- 
Nur  diese  zeitliche  Form  an  ihnen  ist  Erscheinung,  ist  idealistisch. 

Die  Existenz,  die  empirische  Realität  der  Bewusstseinstatsachen  wird 
also  von  Kant  wohl  gewahrt.  Diese  empirisch-realen  Bewusstseinstatsachen 
werden  aber  durch  die  aprioristische  Zeitform  subjektiv  verarbeitet  und 
umgestaltet.  Kants  Lehre  von  den  Erscheinungsquellen  und  damit  vom 
inneren  Sinn  klingt  also  in  einem  Phänominalismus  aus. 

II. 

Der  Ausgangspunkt  der  Psychologie  ist  das  Bewusstsein  und  sein  In- 
halt, die  Bewusstseinstatsachen.  Die  Bewusstseinstatsachen  liegen  aber 
nicht  völlig  von  einander  getrennt  im  Bewusstsein,  sondern  sind  aufs  innigste 
miteinander  verknüpft.  Jeder  bewusste  Vorgang,  jeder  bewusste  Akt  ist 
mit  einem  ihn  wissenden  Subjekte  verbunden,  mit  dem  bewussten  Ich. 
Dies  bewusste  Ich  ist  aber  kein  vielfältiges,  sondern  nur  eines,  so  dass 
dieses  eine  einheitliche  Subjekt  den  ganzen  Bewusstseinsinhalt  zu  einem 
einheitlichen  Bewusstsein  verknüpft.  Wir  nennen  diese  Tatsache  kurz  die 
Einheit  unseres  Bewusstseins.  Diese  Einheit  des  Bewusstseins  behandelt 
Kant  in  der  transzendentalen  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe.    Wir 


Kants  Lehre  vom  Bewusstsein.  491 

können  die  Einheit  des  Bewusstseins  in  seiner  Terminologie  kurz  die  syn- 
thetische Einheit  nennen. 

Die  transzendentale  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe,  sagt 
Kant,  ist'  das  Schwerste,  was  jemals  zum  Behufe  der  Metaphysik  unter- 
nommen worden.  Schopenhauer  sagt  sogar,  dass  „die  Annahme  der  trans- 
zendentalen Deduktion  ebenso  grundlos,  als  ihre  Darstellung  verworren 
und  sich  selbst  widerstreitend  befunden  worden"  sei.  Trotz  dieses  scharfen 
Urteils  eines  der  hervorragendsten  Anhänger  der  Kantschen  Philosophie 
darf  die  Lehre  von  der  synthetischen  Einheit  wohl  der  Kernpunkt  der 
ganzen  Kantschen  Erkenntnislehre  genannt  werden.  Ist  sie  auch  nicht  der 
Ausgangspunkt  des  Kantschen  Kritizismus,  so  gibt  sie  doch  die  eigentliche 
Antwort  auf  die  Frage :  „Wie  ist  letztlich  Wissenschaft",  d.  h.  wie  ist  eine 
Summe  systematisch  aufgebauter,  allgemein  gültiger  Erkenntnisse  möglich. 
Von  dieser  Frage  geht  ja  Kant  in  seiner  Erkenntniskritik  aus.  Aus  der 
Lehre  von  der  synthetischen  Einheit  erwächst  die  Kantsche  Transzendental- 
philosophie wie  eine  Blume  aus  dem  Keim.  Diese  zentrale  Stellung  im 
System  kommt  der  synthetischen  Einheit  freilich  nur  nach  ihrer  erkenntnis- 
theoretischen Seite  zu.  Um  sie  aber  nach  ihrer  psychologischen  Seite  zu 
verstehen,  ist  es  notwendig,  sie  zuvor  nach  ihrer  erkenntniskritischen  Seite 
zu  kennen. 

Wir  haben  im  L  Teil  gesehen,  dass  uns  durch  die  Sinne,  durch  den 
äusseren  wie  den  inneren  Sinn,  sinnliche  Anschauungen  gegeben  werden. 
Sie  bestehen  aus  Empfindungen  und  aus  der  apriorischen  Form.  Fehlt 
die  Empfindung,  und  ist  nur  die  aprioristische  Form  als  sinnhche  An- 
schauung gegeben,  so  haben  wir  eine  reine  Anschauung,  so  nach  Kant  in 
der  Mathematik.  In  der  Mathematik,  in  der  Naturbetrachtung,'  ja  in  unserer 
ganzen  Erfahrung  finden  wir  nun  stets  einheitliche  Anschauungen,  ein- 
heitliche Gegenstände,  einheitliche  Erkenntnisobjekte.  Durch  die  Sinne  ist 
uns  aber  nach  Kant  nur  ein  „Gewühl  von  Empfindungen"  gegeben.  Die 
Verbindung  dieses  chaotischen  Mannigfaltigen  der  Empfindungen  zu  ein- 
heitlichen Objekten,  zu  einheitlichen  Gegenständen  kann  nach  Kant  im 
Gegensatz  zu  der  Rezeptivität  der  Sinne  nur  ein  aktives,  ein  spontanes 
Vermögen  leisten,  und  das  ist  nach  ihm  der  Verstand.  Die  Handlung  des 
Verstandes,  durch  die  er  das  Gewühl  von  Empfindungen  zu  einheitlichen 
Objekten  verbindet,  ist  die  synthetische  Einheit. 

Wie  erklärt  nun  Kant  die  synthetische  Einheit,  die  Verbindung  des 
Mannigfaltigen  der  Sinne  zu  einheitlichen  Objekten?  Sie  kann  nicht  erklärt 
werden  durch  den  Begriff,  durch  die  Kategorie  der  Einheit;  denn  die 
Einheit  in  jedem  Begriff,  in  jeder  Kategorie  setzt  bereits  eine  höhere  Ein- 
heit voraus.  Die  Kategorien  finden  wir  sämtlich  nach  Kant  aus  den 
Urteilen,  soweit  wir  die  Urteile  formal  als  rein-logische  Fimktionen  be- 
trachten, und  diese  Urteile  setzen  selbst  schon  wieder  eine  höhere  Einheit 
denn  sie   sind  selbst   schon   wieder   eine  Verknüpfung   getrennter 


492  Fr.  M.  Sladeczck. 

Denkinhalte  zu  einem  einheitlichen  Objekt.  Diese  höhere  Einheit,  aus  der 
jede  Einheit  in  den  Urteilen,  in  den  Kategorien  und  in  den  Erfahrungs- 
gegenständen fliesst,  findet  Kant  in  der  ursprünglich-synthetischen  Einheit 
der  Apperzeption,  und  diese  ist  nach  ihm  eintachhin  der  Verstand  selbst. 
Kant  nennt  den  Verstand  eine  ursprüngliche  Einheit.  Die  Einheit  der  Er- 
kenntnisobjekte ist  nicht  in  der  Erfahrung  ursprünglich  gegeben,  sondern 
die  Einheit  der  Erkenntnisobjekte  hat  ihren  Ursprung  im  Verstände  selbst. 
Kant  bezeichnet  mit  diesem  Ausdruck  „ursprünglich"  das  Schöpferische 
des  Verstandes  in  der  Verbindung  von  einander  getrennter  Eindrücke  der 
Sinne  oder  getrennter  Denkinhalte  zu  einheitlichen  Objekten.  Kant  nennt 
ferner  den  Verstand  eine  ursprünglich-synthetische  Einheit,  weil  er 
eben  durch  die  Kategorien  und  durch  die  einheitlichen  Verknüpfungen  in 
der  Raum-  und  Zeitanschauung  das  „Gewühl  von  Empfindungen"  zu  ein- 
heitlichen Objekten  verbindet.  Kant  nennt  endlich  den  Verstand  eine 
synthetische  Einheit  der  Apperzeption  d.  h.  die  Einheit  in  jener  Ver- 
standeshandlung, kraft  welcher  eine  sinnliche  Anschauung  mit  einer  anderen 
zu  einem  einheitlichen  Erkenntnisobjekt  verbunden  wird. 

Die  ursprünglich-synthetische  Einheit  der  Apperzeption,  und  sie  deckt 
sich  ja  vollkommen  mit  dem  Verstände,  ist  nach  Kant  nichts  anderes,  als 
die  rein  aprioristische,  rein  abstrakte  Möglichkeit  einheitlicher  Erkenntnisse, 
die  selbst  wieder  nichts  anderes  sind,  als  die  rein  logischen,  oder  besser 
gesagt,  als  die  rein  denkinhaltlichen  Verbindungen  von  einander  völlig  ge- 
trennter Denkinhalte.  Die  ursprünglich-synthetische  Einheit  ist  in  sich 
nichts  anderes,  als  der  abstrakte  aprioristische  Allgemeinbegriff  aller  Einheit; 
in  unserer  Erkenntnis  ist  sie,  wie  Kant  ausdrücklich  sagt,  nichts  anderes, 
als  eine  rein  logische  Einheit.  Die  Annahme  der  ursprünglich- synthetischen 
Einheit  der  Apperzeption  ist  nach  Kant  der  oberste  Grundsatz  der  gesamten 
menschlichen  Erkenntnis,  sie  ist  der  Höhepunkt  seiner  ganzen  Erkenntnis- 
lehre; sie  ist  das  absolut  notwendige  Postulat,  das  wir  machen  müssen, 
um  die  Möglichkeit  allgemeingültiger  Erkenntnis  und  damit  die  Tatsache 
der  Wissenschaften  zu  erklären. 

Diese  ursprüngUch-synthetische  Einheit  erklärt  aber  nicht  nur  er- 
kenntnis-theoretisch  unsere  gesamte  Verstandestätigkeit,  sie  erklärt  auch, 
und  zwar  psychologisch,  die  Einheit  des  Bewusstseins.  Durch  die  synthe- 
tische Einheit,  und  zwar  nur  durch  sie,  werden  getrennte  Empfindungen, 
werden  getrennte  Bewusstseinsinhalte  einheitlich  miteinander  verknüpft. 
Die  Einheit  des  Bewusstseins  beruht  nun  aber  auf  der  einheitlichen  Ver- 
knüpfung getrennter  Bewusstseinsinhalte.  Also,  sagt  Kant,  erklärt  die  ur- 
sprünglich-synthetische Einheit  der  Apperzeption  auch  die  Einheit  des  Be- 
wusstseins. Und  doch  wird  diese  Einheit  des  Bewusstseins  als  psychische 
Tatsache  geleugnet,  weil  ja  die  ursprünglich-synthetische  Einheit  der  Apper- 
zeption eine  rein  logische  Einheit  ist.  Darum  nennt  Kant  die  ursprünglich- 
synthetische Einheit  auch  die  „Apperzeption  des  transzendentalen  Ich".  Er 


Kants  Lehre  vom  Bewusstsein.  493 

nennt  sie  die  Apperzeption  des  Ich,  weil  sie  eben  die  Einheit  des  Bewusst- 
seins  und  zwar  unseres  Bewusstseins  eri?lärt  und  damit  unser  einheit- 
liches Selbstbewusstsein.  Er  nennt  sie  die  Apperzeption  des  trans- 
zendentalen Ich;  denn  der  Ausdruck  „transzendental"  besagt  ja  nichts 
anderes  als  aprioristische  d.  h.  allgemeingültige  Erkenntnis  von  Erfahrungs- 
gegenständen, und  die  ursprünglich-synthetische  Einheit  ist  ja,  wie  wir  eben 
gesehen  haben,  der  tiefste  Grund  aller  allgemeingültigen  Erkenntnis  von 
Erfahrungsgegenständen.  Die  Apperzeption  des  transzendentalen  Ich  ist  also 
nicht  die  Wahrnehmung  des  empirischen  Ich  d.  h.  des  jeweils  aktuell  be- 
wussten  Ich;  sie  ist  auch  nicht  die  Erkenntnis  des  transzendentalen  Ich 
d.  h.  die  Erkenntnis  unserer  Seele.  Sie  ist  vielmehr  jene  logische  Einheit, 
die  nach  Kant  unsere  gesamte  Verstandestätigkeit  in  der  Verbindung  ge- 
trennter Sinneseindrücke  oder  getrennter  Denkinhalte  zu  einheitlichen  Ob- 
jekten und  damit  auch  nach  Kant  unser  einheitliches  Selbstbewusstsein 
erklärt,  dieses  aber  so  in  eine  rein  logische  Einheit  auflöst.  Diese  rein 
logische  Einheit,  die  unser  einheitliches  Selbstbewusstsein  erklärt,  ist  das 
„Iranszendentale  Ich".  Die  Anwendung  dieser  logischen  Einheit  in  jedem 
Verstandesakt  ist  „die  Apperzeption  des  transzendentalen  Ich". 

Da  erhebt  sich  nun  die  Frage:  „Wie  kann  denn  der  Verstand  das 
»Gewühl  der  Empfindungen«  zu  einheitlichen  Gegenständen,  zu  einheit- 
lichen Objekten  umgestalten?"  Die  Empfindungen  sind  ja  etwas  rein 
Sinnliches,  der  Verstand  etwas  rein  Geistiges.  Welches  ist  die  Verbindungs- 
brücke zwischen  Verstand  und  Sinnlichkeit?  Kant  findet  hier  dieselben 
Schwierigkeiten,  wie  alle  alt-griechischen,  christlichen  und,  mit  Ausnahme  der 
Sensisten,  auch  alle  modernen  Philosophen  und  Psychologen,  die  das  Pro- 
blem auf  ganz  entgegengesetzte  Weisen  zu  lösen  suchten.  Diese  Binde- 
brücke zwischen  Verstand  und  Sinnlichkeit  muss  nach  Kant  ein  Vermögen 
sein,  das  einen  Gegenstand  anschaulich  vorstellen  kann,  und  da  jede  An- 
schauung sinnlich  ist,  muss  es  selbst  zur  Sinnlichkeit  gehören.  Doch  darf 
dieses  Vermögen  nicht  rein  rezeptiv  sein  wie  der  äussere  und  innere  Sinn, 
sondern  muss  wie  der  Verstand  spontan  sein.  Es  muss  ja  den  gesamten 
Erfahrungsinhalt,  der  uns  durch  die  Sinne  gegeben  ist,  verbinden,  und  sich 
in  dieser  Tätigkeit  nach  der  ursprünglich-synthetischen  Einheit  und  nach 
den  Kategorien,  die  aus  dieser  synthetischen  Einheit  fliessen,  richten.  Dieses 
Vermögen  ist  nach  Kant  unsere  Einbildungskraft.  Sie  ist  ja  ein  sinnliches 
Vermögen  und  s  i  e  hat  den  Charakter  der  Spontaneität.  Die  Einbildungs- 
kraft ist  die  notwendige  Bedingung  und  die  notwendige  Beschränkung  jeder 
wirklichen  Erkenntnis.  Zur  Erkenntnis  gehören  nämlich  nach  Kant  zwei 
Stücke:  erstens  der  Begriff,  die  Kategorie,  dadurch  überhaupt  ein  Gegen- 
stand gedacht  wird,  und  zweitens  die  sinnliche  Anschauung,  dadurch  der 
Gegenstand  erst  gegeben  wird.  Der  Begriff,  die  Kategorie  ohne  die  An- 
schauung ist  nach  Kant  eine  reine  Gedankenform,  eine  reine  Erkenntnis- 
funktion,  weil  wir   sonst   nach   Kant   eine   prästabilierte  Harmonie   häUen. 


494  Fr.  M.  Sladeczck,  Kants  Lehre  vom  Bewusstsein. 

Die  Anschauung  ohne  die  Kategorie  ist  blind  und  darum  für  uns  nichts, 
weil  sie  ja  nach  der  Lehre  von  der  synthetischen  Einheit  noch  gar  nicht 
in  unserem  einheitlichen  Bewusstsein  ist.  Die  Kategorie  mit  einer 
korrespondierenden  Anschauung  verbunden  gibt  erst  eine  wirkliche  Er- 
kenntnis. Die  Verbindung  der  Kategorie  mit  einer  korrespondierenden 
Anschauung,  die  Kant  die  transzendentale  Synthesis  der  Einbildungskraft 
nennt,  ist  also  die  notwendige  Bedingung  und  die  notwendige  Beschränkung 
jeder  wirklichen  Erkenntnis ;  die  Einbildungskraft  ist  die  Verbindungsbrücke 
zwischen  Verstand  und  Sinnlichkeit.  Die  Lehre  von  der  Einbildungskraft 
und  der  transzendentalen  Synthesis  der  Einbildungskraft  vollendet  so  die 
Lehre  Kants  von  der  Einheit  unseres  bewussten  Seelenlebens. 

Kant  fasst  das  Resultat  der  transzendentalen  Deduktion  der  reinen 
Verstandesbegriffe,  der  Kategorien,  und  damit  das  Resultat  seiher  Lehre 
von  der  Einheit  des  Bewusstseins  in  ungefähr  folgende  Worte  zusammen: 
Aprioristische  d.  h.  allgemeingültige  Erkenntnis  ist  nicht  möglieh,  als  ledig- 
lich von  Erfahrungsgegenständen,  und  der  Erfahrungsinhalt  ist,  wie  wu-  im 
L  Teil  gesehen  haben,  letztlich  nichts  anderes  als  der  Inhalt  unseres  Be- 
wusst.seins,  nichts  anderes  als  unsere  psychischen  Phänomene,  unsere 
psychischen  Erscheinungen.  „Aber  die  Erkenntnis",  fährt  Kant  fort,  „die 
bloss  auf  Gegenstände  der  Erfahrung  eingeschränkt  ist,  ist  darum  nicht 
von  der  Erfahrung  entlehnt".  Die  Einheit  eines  jeden  Erkenntnisobjektes, 
die  Einheit  eines  jeden  erkannten  Gegenstandes  fliesst  ja  lediglich  aus  der 
ursprünglich-synthetischen  Einheit  der  Apperzeption,  ist  eine  rein  schöpferische 
Tätigkeit  des  Verstandes  selbst,  und  dieser  ist  seiht  wieder  nichts  anderes 
als  eine  rein  logische  Einheit,  nichts  anderes  als  das  transzendentale 
Ich.  Kants  Psychologie,  Kants  Lehre  von  unserem  bewussten  Seelenleben, 
ist  völlig  an  seiner  transzendentalen  Erkenntnislehre  orientiert. 


Zum 
philosophischen  Schaffen  G.  Freiherrn  von  Hertlings. 


Von  H.  Rüster  in  Bonn. 


Das  siebzigste  Wiegenfest  des  erfolgreichen  Forschers  soll  auch  der 
philosophisch-literarischen  Täligkeit  ein  Gedenkblatt  sichern,  das  für  dauernd 
die  geistigen  Werte  verzeichnet,  welche  Freiherr  v.  Hertling  schuf. 

Nicht  ohne  Bedauem  hat  die  Wissenschaft  es  hinnehmen  müssen,  dass 
der  politische  und  slaatsmännische  Beruf  im  letzten  Quinquennium  mehr  und 
mehr  den  Forscher  von  der  engeren  stillen  Facharbeil  abrief,  und  mit  dem 
Bewusstsein  eines  grossen  Verlustes  hat  sie  ihn  scheiden  sehen,  als  die  Gunst 
des  Landesherrn  den  geborenen  Staatsmann  zur  Hochvvacht  berief.  Aber 
V.  Hertling  konnte  den  Lehrstuhl  mit  einem  höheren  Platze  vertauschen,  da 
die  bisherige  literarische  Hinterlassenschaft  seinen  Gelehrtenruf  sicher  begründet 
hat  —  und  den  Wissenschaftler  zu  einer  Rückschau  einlädt,  die  mit  Fretulen 
als  eine  dankenswerte  Aufgabe  übernommen  werden  kann. 

Dass  V.  Hertlings  Schaffen  vornehmlich  drei  Stoffkreisen  der 
philosophischen  Gedankenwelt  zu  gute  kam,  darf  schon  als  allgemeinstes  End- 
urteil behauptet  werden,  auch  wenn  die  einer  historischen  Abschätzung  stets 
förderliche  zeitliche  Distanz  noch  keine  nennenswerte  ist,  und  die  Feder  noch 
nicht   ruht   in   der  Hand   des   Staatsmannes  nach  dem  Geiste  der  platonischen 

Forderung:    ßaadsai   .  .  .   elvai   tov;   hv   (pilooocpta  .  .  .   yeyoroTu;   a^toTov;] 

1. 

Wer  etwa  in  früheren  Jahrzehnten  als  scharfer  Beobachter  der  bald  vor- 
tretenden politischen  und  staatsmännischen  Begabung  des  jungen  Philosophen 
gewisse  Hoffnungen  für  die  Sache  der  Gesellschaftsphilosophie  hegte, 
dem  hat  die  literarische  Täligkeit  der  späteren  Jahre  vollauf  Recht  gegeben. 
Dieser  genannten  Disziplin  wurde  stets  eine  gewisse  Bevorzugung  und  Liebe 
der  Behandlung  zuteil,  da  der  Sozialphilosoph  hier  aus  einer  Gedankenwelt 
schöpfte,  die  in  ihm  mit  Macht  und  Tiefe  lebendig  war.  Zeugnis  dessen  sind 
die  vielen  Beiträge,  deren  Aufzählung  nicht  in  einem  kurzen  Satze  gegeben 
werden  kann.  Für  die  erste  Gestaltung  des  Staatslexikons  der  Görres-Gesellschaft 
steuerte  v.  Hertling  eine  Reihe  grundsätzlicher  Artikel  zur  Rechts-  und  Staats- 
philosophie bei.  Sie  fanden  Wiederaufnahme  m  der  Sammlung  kleiner  Schriften 
(X),  Seite  an  Seite  mit  anderen  sozialphilosophischen  Vorträgen  und  Aufsätzen, 
die  zum  Teil  Tagesanlässen  ihre  Anregung  verdanken,  wie  der  offene  Brief  an 
Professor  A.  Ritschi  vom  Jahre  1888,  u.  a.  in  die  gleiche  Sammlung  reihte  sich 
auch  die  Monographie  über  das  Verhältnis  von  Naturrechl  und  Sozialpolitik  vom 
Jahre  1893  (VIII).     Dem  Wissenden   kündet   schon  ihr  Inhaltsverzeichnis,   dass 


496  H.  Rüster. 

hier  einem  ebenso  prinzipienklaren  wie  überzeugiingsmutigen  Denker  Probleme 
zur  Erörterung  stehen,  die  nicht  zu  oft  und  nicht  zu  gerne  der  Durchprüfung 
unterzogen  werden,  ihres  zum  Teil  sehr  scliwierigen,  zum  Teil  sehr  verfäng- 
lichen Charakters  wegen  :  Hegriff,  Notwendigkeit  und  Geltungsbereich  des  natür- 
lichen Rechts,  naturrechtliche  Schranken  der  staatlichen  Gesetzgebung,  die 
naturrechtliche  Grundlage  des  Eigentums  u.  a.  m.  v.  Hertlings  Studie  über  Ziel 
und  Methode  der  Rechtsphilosophie  begegnete  dann  der  positivistischen  Ab- 
neigung gegen  die  Rechtsphilosophie,  und  stellte  dem  Rechtsposilivismus  die 
entscheidende  Gegenfrage,  an  der  sein  Können  scheitern  muss :  ,.Wie  die  posi- 
tivistische Rechtsphilosophie  das  allem  Recht  zuletzt  zugrunde  liegende  ethische 
Sollen  zu  erklären  vermöge,  oder  ob  sie,  weil  hierzu  schlechterdings  nicht  imstande, 
ohne  dasselbe  auszukommen  vermeine?"  Die  reife  Frucht  des  Sozialphilosophen, 
der  seine  Theorie  auf  das  breite  Fundament  reichen  Erfahrungsschatzes  gründen 
kann,  liegt  heute  vor  uns  in  dem  erst&n  Bändchen  der  Sammlung  Kösel :  Recht, 
Staat  und  Gesellschaft;  würdiger  als  mit  diesem  Wegweiser  durch  grundsätz- 
liche Gebiete  der  Gesellschaftslehre  konnte  die  gediegene  Sammlung  nicht  er- 
öffnet werden !  Und  dass  dem  Gesellschaftstheoretiker  von  Geist  und  Erfahrung 
der  gebührende  Vortritt  bei  der  neuen  Bearbeitung  des  Staatslexikons  zu- 
gebilligt wurde,  kam  dieser  Glanzleistung  der  Gürres- Gesellschaft  wahrlich 
sehr  zu  statten;  v.  Hertling  verwalte'e  dort  für  die  Sozialwissenschaften  die 
Einführung  in  wesentliche  Probleme  zumal  ihrer  Prinzipienlehre  (X1X\  Die 
vielen  Einzelauslassungen  zur  Sozialpolitik,  in  der  Presse,  in  den  vielbedachten 
historisch-politischen  Blättern,  in  den  ,, Aufsätzen  und  Reden"  (VI),  im  Hoch- 
land usw.  müssen  hier  übergangen  werden,  obschon  sie  sich  wegen  ihres  mannig- 
fachen philosophischen  Hintergrundes  (XVIIIa)  über  die  vergänglichen  Erzeugnisse 
der  Tagesschriftstellerei  erheben. 

II. 

Früh  gewann  v.  Hertling  die  charaktervolle  Eigenart,  die  seine  prinzipielle 
Stellung  zur  Metaphysik,  zu  den  grossen  Weltanschauungsfragen  und  stets 
zentralen  Aufgaben  der  systematischen  Philosophie  eindeutig  kennzeichnet  und 
keine  Wandlung  erfahren  hat.  Schon  der  Bonner  Privatdozent  der  siebziger 
Jahre  wurde  ein  sachkundiger  Vorkämpfer  der  teleologischen  Weltanschauung, 
die  gegen  Mechanismus  und  Materialismus  das  Walten  grosser  Zweckzusammen- 
hänge beachtet  und  sie  in  dem  letzten  intelligenten  Weltgrunde  sicher  verankert. 
Sein  metaphysisches  Hauptwerk  (II)  zählt  zu  den  erfreulichen  Dokumenten 
der  Opposition  gegen  den  Materialismus,  welche  dessen  wissenschaftliche 
Aechlung  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  vergangenen  Jahrhunderts  durch- 
zusetzen vermochte;  heute  lebt  er  höchstens  noch  in  jener  populärphilosophi- 
schen Literatur,  die  nach  Paulsens  bekanntem  Wort  die  Schamröte  über  den 
geistigen  Tiefstand  ihrer  Leser  und  Beachter  emporsteigen  lässt.  Solche  Auf- 
gaben der  Popularisierung,  die  unter  dem  Drucke  von  Tagesforderungen  oft 
nicht  geringe  Bedeutung  annehmen,  übersah  übrigens  auch  v.  Herlling  nicht;  die 
Umprägung  des  schweren  Goldes  der  Wissenschaft  in  die  leichter  gangbare  Klein- 
münze, die  dem  Bildungsbedürfnisse  weiterer  Kreise  dient,  erschien  ihm  darum 
schätzenswert  genug,  um  der  neuen  Frankfurter  Broschürenfolge  einen  Beitrag 
zu  spenden,  der  im  Streit  der  Meinungen  über  das  Deszendenzproblem  zu 
besonnener  kritischer  Prüfung  die  Hand  bietet  (III).    Die  Schrift  will  zur  ruhigen 


Zum  philosophischen  Schaffen  G,  v.  Hertlings.  497 

Sonderung  unveräusserlicher  Grundgedanken  von  hypotlielischem  Rankwerk 
verhelfen,  lehrt  zwischen  der  Aufslellung  einer  Hypothese  und  ihrer  umfassenden 
wissenschaftlichen  Begründung  unterscheiden,  und  weist  mit  Nachdruck  auf 
die  antiteleologischen  Neigungen  des  Darwinismus  der  Schule,  die  mit  ihrer 
materialistischen  Ausgestaltung  Darwinsclier  Hypothesen  den  Meisler  im  Grunde 
desavouierte.  Damit  traf  v.  Herlling  eine  der  unwissenschaftlichen  Tendenzen, 
die  zu  solchen  „geistigen  Epidemien"  führen,  wie  der  „Darwinismus"  eine  war 
—  nicht  in  geringem  Masse  geworden  war  infolge  der  Werbekraft  seines  An- 
spruchs, die  Geister  zum  entscheidenden  Sturm  gegen  eine  leleologisch-theistische 
Welt  auf  fassung  sammeln  und  führen  zu  können. 

Der  Schrift  gönnte  man  eine  zeitgemässe  Neuausgabe,  welche  zugleich 
die  grosse  Literatur  sichtete,  die  heule  den  Nekrolog  des  Darwinismus  und  Ma- 
terialismus bildet. 

111. 

Im  Mittelpunkt  der  literarischen  Tätigkeil  v.  Hertlings  steht  die  philo- 
sophiegeschichtliche Forschung,  und  es  darf  unterstrichen  werden, 
dass  ihr  die  Beachtung  der  wissenschaftlichen  Fachwell  mit  grossem  Beifall 
stets  hat  folgen  müssen,  v.  Hertlings  reiche  Leistungen  auf  diesem  Gebiete 
behalten  ihren  Charakter  meisterlicher  Darstellungen  und  blieben  bis  heute 
eine  Fundgrube  fruchtbarer  Anregungen,  die  der  Fachmann  sehr  zu  schätzen 
und  auszubeuten  weiss ! 

Wohl  nicht  zu  Unrecht  vermuten  wir,  dass  ein  System  in  der  philosophie- 
geschichtlichen Arbeit  v.  Hertlings  waltet:  von  der  Blütezeit  antiken  Denkens 
geht  sein  Blick  den  offenen  und  verborgenen  Wegen  nach,  die  das  Reifste  und 
Beste  vom  aniiken  Philosophieren  in  der  Folgezeit  gegangen  ist,  um  schliess- 
lich für  den  Auf-  und  Ausbau  der  christlichen  Gesamtvorstellung  von  der  Welt 
und  ihren  letzten  Gründen  in  seiner  Weise  mit  massgebend  zu  werden. 

Die  Bonner  Jahre  begannen  mit  einer  eindringenden  Analyse  über  Materie 
und  Form  und  die  Definition  der  Seele  bei  Aristoteles  (I),  die  selbst  gegen 
den  Altmeister  Zeller  mit  Erfolg  manche  Position  behauptete;  die  Studie  über 
das  Verhältnis  der  christlichen  Lehre  zur  griechischen  Weisheit  (XIII)  sicherte 
u.  a.  wertvolle  methodische  Leitsätze  für  das  noch  dornenvolle  Gebiet  der 
Forschung  zur  frühpatristischen  Zeit. 

Wie  sehr  v.  Hertling  die  überragende  Persönlichkeit  Augustins,  des  grösslen 
Gottsuchers  im  Altertum,  gefesselt  haben  muss,  verrät  sein  auch  nach  der 
formellen  Seite  glänzend  zu  nennender  „  A  u  g  u  s  t  i  n  "  (XIV) ;  das  tiefe  Ein- 
dringen in  die  ganze  geistige  Bedeutung  dieses  Kirchenlehrers  befähigte  ihn 
begreiflicherweise  zu  wertvollen  Aufschlüssen  über  die  nicht  geringe  Bedeutung 
augustinischen  Denkens  auch  für  die  definitive  Form  der  Lehre  des  Fürsten 
der  Scholastik.  1904  gab  seine  Feder  dieser  Forschung  zu  den  Quellen  der 
Philosophie  eines  Thomas  gewissen  Abschluss  und  stellte  die  Verwendung 
der  Augustinus-Zitate  in  den  Toxten  des  Aquinaten  fest  (XV).  Die  Uebersetzung 
der  augustinischen  „Bekenntnisse"  (XVI)  schenkte  uns  als  küstliche  Nebenfrucht 
der  Augustinusstudien  eine  würdigere  Fassung  dieser  Perle  der  Wellliteratur 
und  gab  damit  zugleich  einer  Anregung  von  selten  feinsinniger  Augustinus- 
freunde die  Erfüllung. 


498  H.  Rüster. 

Schon  viel  früher  hatte  v.  Hertling  der  Spezialforsch ung  zur  Denk- 
bewegung im  hohen  Mittelalter  nachhaltige  Antriebe  gegeben  und  mit 
kräftigen  Strichen  Wege  künftiger  Weiterarbeit  vorgezeichnet.  Das  viele  Klein- 
werk, das  z.  B.  in  seinen  Artikeln  für  die  zweite  Av.flage  des  Kirchenlexikons 
von  Wetzer  und  Weite  und  für  die  Allgemeine  deutsche  Biographie,  in  den  aus- 
giebigen und  gehaltvollen  Rezensionen  (hist.-politische  Blätter !)  und  anderem  ') 
geborgen  ist,  mag  hier  übergangen  werden,  da  seine  grösseren  Spezialarbeiten 
weit  mehr  besagen.    So  galt  es  in  der  Festschrift  ,, Albertus  Magnus"  (IV) 

—  dem  ersten  grösseren  Werke  von  Bedeutung  über  den  Lehrer  des  Aquinaten 

—  neben  Ansätzen  zur  Gesamtwürdigung  Alberts  der  Rolle  dieses  gelehrten 
Dominikaners  in  der  grossarli^en  Rezeptionsbewegung  des  XIII.  Jahrhunderts. 
Kein  leeres  Wort  bleibt  der  oft  formulierte  Anspruch  Alberts,  für  die  Ueber- 
mittelung  antiker  Wissenschaft,  besonders  so  weit  die  noch  ungeliobenen  Schätze 
antiker  Mathematik,  Naturwissenschaft  und  Metaphysik  in  Frage  kamen,  mit 
dem  vollen  Einsalz  seiner  Lebensarbeit  einzutreten ;  und  der  Programm- 
satz:  partes  essentiales  p'.iilosophiae  realis  ...  facere  Latinis  intelligibiles-) 
blieb  in  Alberts  Munde  keine  tönende  Formel  für  uneingelöste  Pläne!  Die 
ausgleichende  Systematisierung  und  volle  geistige  Bemeisterung 
des  aufgenommenen  Erbgutes  freilich  musste  er  seinem  grösseren  Schüler 
Thomas  überlassen.  Als  den  bedeutendsten  Teil  der  Hertlingschen  Festschrift 
bewerten  wir  den  Schlussabschnitt  über  die  scholastische  Naturforschung 
und  -erklärung.  Es  lag  dem  Philosophiehistoriker  hier  ersichtlich  viel  daran, 
die  mittlere  Linie  zwischen  der  Ueber-  und  Unterschätzung  des  Grossen  für 
künftige  Forscherarbeit  ein  für  allemal  festzulegen  —  und  der  Arbeitsplan 
ist  musterhaft  entwickelt  worden !  Damals  hatte  v.  Hertling  noch  guten 
Grund  zur  Klage,  dass  zu  einer  umfassenden  und  tiefgehenden  Kenntnis  von 
dem  Realienbesitz  des  Mittelalters  fast  kaum  die  Ansätze  gegeben  seien.  An 
den  wesentlichen  Vorarbeiten  also  mangelte  es,  die  auch  erst  zu  einer  vollen 
Würdigung  des  immerhin  charakteristischen  Verständnisses  Alberts  für  empi- 
rische Naturforschung  konkrete  Anhaltspunkte  und  feste,  brauchbare  Massstäbe 
bereitstellen  können.  Heute  kann  der  Fachmann  gewiss  behaupten,  in  dieser 
Frage  der  ersten  Grundlegung  solch  abschliessender  Beurteilung  schrn  etwas 
besser  gestellt  zu  sein:  ein  Blick  auf  die  Fortschritte  letzter  Jahrzehnte  in  die 
Wissenschafts-  und  Philosopliiegeschichte  kann  das  genügend  belegen^).  Aber 
auch  heute  wird  wie  früher  die  wissenschaftliche  Fachwelt  die  grösste  Gabe 
des  Hertlingschen  Kapitels  in  der  anregenden  Skizzierung  einer  Aufgabe 
erblicken,  deren  Lösung  eine  allgemeinere  Bedeutung  innewohnt.  —  In  diesem 
Zusammenhange  dürfen  wir  nicht  übersehen,  dass  die  Früchte  der  Anregungen 
des  Meisters    auch    in    den   Leistungen   der    Schüler  -  Form    gewonnen   haben : 


')  In  den  Histor.-polit.  Blättern ,   Beil.    zur  Münchener  Allg.  Zeitung  usw. 

*)  S.  die  Einleitung  zur  Physik,  Opera  (ed.  Jammy,  Lugd.  1651),  t.  II,  p.  Ib. 

*)  Kurze  Hindeutung  in  der  Einleitung  zu  unserem  Vorbericht  über  die 
Jugendphilosophie  Galileis;  siehe  die  Miszelle  dieses  Heftes.  Eingehenderes  zur 
wissenschaftsgeschichtlichen  Forschung  und  dem  wechselseitigen  Nutzniessungs- 
verhältnis  zwischen  ihr  und  der  philosophiegeschich'ilichen  Forschung  im 
nächsten  Januarheft  (1914)  des  Phil.  Jahrbuchs. 


Zum  philosophischen  Schaffen  G.  v.  Hertlings.  499 

Bardenhewers  Analyse  des  Liber  de  causis  (IVa)  gibt  ja  auch'^  Rechenschaft 
von  dem,  was  er  dem  Wissen  und  der  Schnlnng  v.  Hertlings  verdankt,  nach 
der  methodologischen  und  sachlichen  Seite.  Und  Schneiders  grosse  Mono- 
graphien ')  haben  unseren  Kenntnissen  von  der  Psychologie  Alberfs  des  Grossen 
d  i  e  Sicherheit  und  Tiefe  gegeben,  die  wir  für  die  anderen  Gebiete  alberlinischen 
Denkens  ebenso  schätzen  würden. 

Den  Wegen  der  sich  mehr  und  melir  vervollständigenden  Ueberlieferung 
antiker,  zumal  arislolelischer  Texte  ging  dann  v.  Herllings  Aufsalz  im  Rhein. 
Museum  weiter  nach  (V);  hier  war  es  dem  Sozialphilosophen  um  die  Schick- 
sale der  slaatsphilosophischen  Hauptschrifl  des  Stagirilen  zu  tun.  Die  Mangel- 
haftigkeit der  Textüberlieferung,  die  v.  Hertlings  kritisch  aufräumende  Unter- 
suchung in  besseres  Licht  setzte,  lässt  für  diese  Disziplin  wenigstens  am 
Anfange  ihrer  mittelalterlichen  Entwicklungsperiode  ein  gewisses  Zurückbleiben 
vermuten ;  möge  auch  diesem  bisher  noch  wenig  angebauten  Felde  die 
Arbeiterschar  erstehen,  die  von  der  wissenschaftlichen  Zucht  eines  Hertling 
zu  lernen  vermocht  hat! 

Mit  dem  Aufgezählten   näherte   sich   die  literarische  Tätigkeit  v.  Hertlmgs 
mehr  und  mehr  dem  Gegenstände  der  letzten  philosophiegeschichtlichen  Haupt- 
schriften, dem  Denken  an  der  Schwelle  der  Neuzeit.     Schon  hinter 
dem   bisherigen  Schaffen  des  Philosophiehistorikers,   der  1882   den  Münchener 
Lehrstuhl  übernahm   und  in   die  bayerische  Akademie  der  Wissenschaften   be- 
rufen wurde,  vermuteten  wir  einen   unausgesprochen  leitenden  Plan :   nämlich 
die  Absicht,   der  Kontinuität   des    philosophischen  Denkens   nachzuspüren,   die 
Synthese  des  Alten  und  Neuen,  den  stetigen  Forlgang,  aber  auch  die  möglichen 
Rückschritte  und  Seitenwege  herauszuarbeiten.     Werden  wir  uns  da  wundern, 
dass    die    grossen    historischen  Arbeiten    des   Münchener    Philosophen    in    den 
neunziger  Jahren  als  Hauptgewinn  —  und  bleibend  wertvollen  —  die  Wirk- 
samkeit  der  überkommenen  Denkantriebe  in  der  Philosophie 
eines  Locke  und  eines  Descartes  klar  und  scharf  herausstellten?    Die 
Hertlingsche   Fragestellung  ,John  Locke   und  die    Schule  von  Cambridge'  (VII) 
bleibt  von  nun  an  ein  bedeutsames  Teilthema  für  jede  tiefergehende  Würdigung 
dieses  Engländers,  den  man  —  wenn  auch  nicht  allzu  charakteristisch   •■    den 
ersten  Empiristen   nennt.     Zum   ersten  Male  wies   v.  Hertling  umfassender  die 
negativen,    aber  auch  die  positiven,  nicht  weniger   bestimmenden  Beziehungen 
nach,  welche  einen  John  Locke  mit  den  Piatonikern  dieser  Schule  verknüpften, 
die  von   alter  Renaissanceherrlichkeit   noch  lange   zehrte ;  sie  vermittelten  für 
die   rationalistische   Seite   seines  System  Versuchs   den  Keimstoff.     Die 
weitgehende  terminologische  Anlehnung   und   gedankliche  Entlehnung   aus   der 
scholastischen    Tradition     bei    Descartes     fanden    in    Hertlings    Akademie- 
abhandlungen (XI)  gleichfalls  die  erste  umfassendere  und  systematische  Unter- 
suchung ;    gewiss  wird    künftige   Weiterführung   das    gewonnene   Bild   noch  in 
reichem  Masse  ausgestalten  und  so  dem  Alten  und  Neuen  gerecht  werden,  das 
sich  in  den  Systembaulen  von  Denkern  wie  die  genannten  Beiden  zusammen- 
gefunden hat.  —  Wie  ein  reifes  Werk  der  im  grossen  sichtenden  Rückschau  er- 
scheint, auch  ihrem  Anlass  gemäss,  die  Festrede  v.  Hertlings  in  der  bayerischen 
0  1903  und  1906,  in  den  „Beiträgen  zur  Geschichte  der  mittelalterlichen 
Philosophie"  IV,  5  und  6. 


500  H.  Rüster. 

Akademie  (XVIII).  Was  letzte  Jahrzehnte  intensivster  Arbeit  zumal  der 
Baeumkerschule  *)  in  reichster  Fülle  zum  künftigen  Gesamtbild  des  philosophischen 
Mittelalters  beigesteuert  haben,  tindet  in  der  Beachtung  des  Wesentlichsien 
seine  Berücksiciitigung;  und  für  den  Gebildeten  liegt  in  dieser  auch  bequemer 
zugänglich  gewordenen  rednerischen  Glanzleistung  eine  erste  der  unentbehrlichen 
Gesamtorienüerungen  vor,  in  denen  wir  Facharbeiter  auch  ihnen  Rechenschaft 
geben  über  das  heutige  Wissen  von  der  Philosophie  jener  Zeiten,  das  nun  mit 
grossen  Schritten  seiner  VervoUsfändigung  enigegen  geht. 

Erneuten  Beleg  geben  letzterem  auch  wieder  die  „Abhandlungen  aus  dem 
Gebiete  der  Philosophie  und  ihrer  Geschichte",  welche  Schüler  und  Verehrer 
des  Gefeierten  als  Festgabe  ihm  gewidmet  haben.  Der  Anlas?,  der  uns  heute 
die  Feder  führt,  kann  natürlich  nicht  zur  eingehenderen  Fachwürdigung  auf- 
fordern, die  späterer  Gelegenheit  vorbehalten  bleibt.  Aber  darauf  sei  doch  hier 
schon  der  Finger  gelegt,  dass  die  gebotene  Sammlung  so  recht  bezeichnend  ein 
Wiederliall  der  wesentlichen  programmatischen  Arbeitsforderungen  geworden  ist, 
die  auch  den  Meister  leiteten,  dem  dies^e  wissenschaftliche  Huldigung  zugedacht 
ist.  Die  Philosophiegeschichte  ist  vertreten  durch  die  besten  der  berufenen 
Fachkräfte,  und  deren  Aufsätze  haben  Beziehung  zum  heidnischen  und  christ- 
lichen Altertum,  zur  miltelallerlichen  Denkperiode,  zur  Ueberlieferungsbewegung 
in  der  Zeit  der  Frührenaissance,  zum  Anteil  der  Antike  an  Descartes'  karger 
Psychologie,  zur  Geschichte  staatsphilosophischer  Gedanken.  Aus  dem  Gebiete 
der  systematischen  Philosophie  entbietet  jede  Disziplin  mit  ihrer  Gedankengabe  den 
Gruss,  ausschliesslich  der  krönenden,  der  natürlichen  Theologie,  der  nicht  zum 
wenigsten  bei  diesem  seltenen  Anlasse  das  Wort  gebührt.  Denn  die  Lehre  von 
Gott  ist  auch  nach  der  Hertlingschen  Metaphysik  das  Fundament  einer  geschlosse- 
nen teleologischen  Weltanschauung  —  und  sie  wird  den  Hörern  des  Jubilars 
stets  unvergessen  bleiben  als  der  Glanzpunkt  seiner  metaphysischen  Vorlesungen. 

Ob  wohl  die  unermüdliche  Feder  des  Philosophen  als  reifste  Altersgabe 
diese  Vorlesungen  über  die  Metaphysik  einer  wahrheitsdürstenden  Nachwelt 
sichern  wird?  jene  tiefen  klärenden  Gedanken,  die  der  Philosoph  in  weihevollen 
Stunden  einer  dankbaren  Hörerschaft  Jahr  lür  Jahr  geschenkt? 

IV. 

Man  kennt  das  Problemgebiet,  dessen  Diskussion  überall  da,  wo  sie  in 
die  Tiefe  geht  und  noch  mehr  da,  wo  es  gewisser  Konsequenzen  sich  zu  ent- 
sinnen gilt,  mit  dem  Namen  v.  Hertlings  verknüpft  ist. 

So  unerschütterlich  dem  Philosophen  die  Harmonie  von  Glauben 
und  Wissen  auch  gilt,  weil  beide  Reiche  der  Glaubens-  und  Vernunfts- 
wahrheiten der  einen  Urquelle  göttlicher  Weisheit  entstammen  (XII),  so 
dringlich  empfand  und  fixierte  er  die  Aufgabe  des  Gelehrten,  diese  Eintracht 
in  unablässiger  Geistesarbeit  stets  von  neuem  zu  erweisen,  wo  immer  der 
Gang  der  rastlos  weiterschreitenden  Wissensmehrung  es  erfordert ;  denn  „Ein 
anderes  ist  es,  sich  mit  voller  Ueberzeugung  zu  dem  Grundsatze  bekennen, 
dass  zwischen  Glauben  und  Wissen,  zwischen  Offenbarung  und  Vernunftforschung 

')  Seit  1893  stand  ir  Baeumker  in  der  Herausgabe  der  zitierten  Beiträge 
(bisher  60  Hefte)  zur  Seite.  —  Ueber  die  letztgenannte  und  andere  bedeutsame 
Arbeitsstätten  heutigen  philosophischen  Schaffens  vgl.  unsere  Skizze  in  der 
Liter.  Beilage  der  Köln.  Volkszeitung,  Nr.  31  vom  31.  Juli  ds.  Js. 


Zum  philosophischen  Schafien  G.  v.  Herthiigs.  501 

ein  Widerspruch  nicht  bestehen  könne,  ...  —  und  ein  anderes,  in  jedem 
Einzelfalle  zwischen  den  Geboten  des  einen  und  den  Anforderungen  des  anderen 
das  richtige  Verhältnis  zu  finden  und  festzuhalten"  (XVIIa).  Stets  hören  wir 
den  Grundton  dieser  Ueberzeugungen  und  Mahnungen  wiederkehren  in  den 
Generalversammlungen  der  Görres-Gesellschaft,  auf  internationalen  Kongressen 
katholischer  Gelehrten,  in  den  vielen  Vorträgen  und  Aufsätzen  über  den 
Katholizismus  und  die  Wissenschaft,  die  an  sehr  zerstreuten  Orten ')  zu  lesen 
sind  und  ihrem  Inhalte  nach  den  Gedanken  eines  geistesverwandten,  gleich 
weitschauenden  früheren  Fachgenossen,  des  Kardinals  Mercier,  so  nahe  stehen 
(XVIla.  b).  Wem  stände  auch  wohl  dieses  Amt  des  wachsamen  Fürsprechers  aller 
Geisteskultur  im  katholischen  Deutschland  eher  zu,  als  der  Persönlichkeit,  die 
durch  reiche  Arbeitsproben  vollgültig  bewiesen  hat,  dass  ein  lauteres  Ideal 
echter  Wissenschaftlichkeit  sie  durchglüht,  dass  sie  durchdrungen  ist 
von  dem  Eigenwert  der  Vernunftswissenschaft,  die  zuerst  ihre 
selbstgegebenen  Aufgaben  zu  lösen  hat,  und  dann  auch  Nutzwerte  für  andere, 
letzthin  für  die  Glaubenswissenschaft,  abwerfen  kann. 

So  ausserordentlich  gross  die  Bedeutung  v.  Hevtlings  als  Kul  tur  e  rzieher 
ist,  und  so  anziehend  die  Würdigung  seiner  Verdienste  um  das  Wissenschafts- 
leben im  katholischen  Deutschland  —  diese  Seite  seiner  Lebensarbeit  muss 
eingehender  Sonderbetrachtung  überlassen  bleiben,  die  dabfei  der  Gründung  der 
, Görres-Gesellschaft  zur  Pflege  der  Wissenschaft  im  katholischen  Deutschland' 
(1876)  als  einer  Stätte  der  Einigung  und  Unterstützung  erprobter  Arbeitsinteressen 
mit  Vorzug  zu  gedenken  hätte.  Gerade  diese  Tat  versteht  sich  in  ihrer  tiefsten 
Bedeutung,  wenn  man  des  letztskizzierten  Gedankenhintergrundes  nicht  vergisst  — 
sie  ist  ja  ein  organisatorisches  Machtmittel,  das  der  zuversichtlichen  Ueber- 
zeugung  von  der  „Kulturfähigkeit"  des  Katholizismus  zu  werktätigem 
Ausdruck  verhelfen  soll  und  kann,  wie  ihr  überraschender  Ausbau  und  ihre 
Leistungen  beweisen.  Und  dieselbe  unwandelbare  Gewissheit  vom  Bunde  der 
Vernunft  und  der  Offenbarung  inspirierte  denn  auch  jenes  temperamentvolle 
Wort  vom  katholischen  Gelehrten  in  den  kleinen  Schriften  (S.  572) :  „Ein 
einziger  Gelehrter,  der  erfolgreich  in  die  Forschung  eingreift,  dessen  Name 
mit  weithin  sichtbaren  Zeichen  in  die  Blätter  der  Geschichte  eingegraben  ist, 
und  der  sich  zugleich  in  seinem  Leben  stets  als  treuer  Sohn  der  Kirche  be- 
währt hat,  wiegt  ganze  Bände  Apologetik  auf." 

Mit  diesem  Worte  gab  v.  Hertling  selbst  die  ßekenntnisformel  seiner 
Geistesart  und  seiner  Lebensziele. 

In  diesem  Geiste  wird  auch  die  junge  wissenschaftliehe  Generation'-),  an 
Schaffensfreude  der  früheren  ebenbürtig,  an  Zahl  ihr  zweifellos  überlegen 
(XVII  a),  dem  weisen  Führer  folgen  und  nach  Kräften  die  Bausteine  schaffen, 
welche  das  grosse  Gedankenwerk  sollen  aufbauen  helfen,  in  dem  der  Natur  und 
Uebernatur,  Zeitlichem  und  Ewigen  der  nachbildende  Denkgeist  gerecht  zu 
werden  hoffen  darf  —  soweit  es  ihm  vergönnt  ist. 

>)  Z.  B.,  abgesehen  von  den  Kleinen  Schriften  (X)  und  den  Jahresberichten 
der  Görres-Gesellschaft  (vor  allem  1907,  1908,  1909),  in  den  Hist.-polit.  Blättern 
(z.  B.  1896/7),  in  der  Liter.  Rundschau  f.  d.  kathol.  Deutschland,  der  Wiss.  Beilage 
der  Germania,  der  Kath.  Schulzeitung  für  Norddeutschland  usw. 

2)  Vgl.  S.  500,  Anm.  1. 

Philosophisches  Jahrbuch  1913.  **" 


502        H.  Rüster,  Zum  plii'osophiscl.en  Schaffen  G.  v.  Hertlings. 

Bibliographie  des  Wesentlichen. 

I.  1871  :  Materie  und  Form  und  die  Definition  der  Seele  bei  Aristoteles.     Ein 

krit,  Beitrag  zur  Geschichte  der  Philosophie    (Bonn,  Webei). 

II.  1875:    Ueber  die  Grenzen    der    mechanischen  Naturerklärung.     Zur  Wider- 

legung der  materialistischen  Weltaiisicht  (Bonn,  Weber). 

III.  1880:  Der  Darwinismus.  Eine  geistige  Epidemie  (Frankf.  Broschüren,  N.  F.  I,»). 

IV.  1880:  Albertus  Magnus.     Beiträge  zu  seiner  Würdigung  (Köln.  Bachemi 
IVa.  1882:  Die  pseudoaristotel.  Schrift  über  das  reine  Gute,    bekannt  unter  dem 

Namen  Liber  de  causis.  Im  Auftrage  der  Görres-Gesellschaft  bearbeitet 
von  0.  Bardenhewer  (Freiburg  i.  B.,  Herder),  Vgl.  vor  allem  die  Dar- 
legungen S.  257  ff. 

V.  1884:  Zur    Geschichte     der    aristotelischen    Politik    im    Mittelalter    (Rhein. 

Museum  N.  F.  Bd.  39). 

VI.  1884:  Aufsätze  und  Reden  sozial-polit.  Inhalts  (Freiburg  i.  Br.,  Herder). 

VII.  1892 :  John  Locke  und  die  Schule  von  Cambridge  (Freiburg  i.  B.,  Herder'. 

VIII.  1893:  Naturrecht  und  Sozialpolitik  (Köln,  Bachern), 

IX.  18 '5:  Ueber  Ziel  und  Methode  der  Rechtsphilosophie  (Phil.  Jahrb.  Bd.  VIII). 

X.  1897:  Kleine  Schriften  zur  Zeitgeschichte  und  Sozialpolitik  (Freiburg  i.  B., 

Herder). 

XI.  1897,  1899 :    Descartes'  Beziehungen   zur  Scholastik  (Sitzungsber.  d.  bayer. 

Akad.  d.  Wissenschaften). 

XII.  1899:  Das    Prinzip    des    Katholizismus    und    die    Wissenschaft.     (Freiburg. 

Herder,  1.— 4.  Aufl.). 

XIII.  1900:    Christentum    und   griechische    Philosophie.    (Vortrag,    gehalten    auf 

dem  V,  internat.  Kongress  kathol.  Gelehrten  in  München,  1900;  vgl.  Phil. 
Jahrbuch  Bd.  XIV,  1901). 

XIV.  1902 :  Augustin.    Der  Untergang  der  antiken  Kultur  (Weltgesch.  in  Charakter- 

bildern, Mainz,  Kirchheim). 

XV.  1904:    Augustinus-Zitate   bei  Thomas  von  Aquin    (Sitzungsber.  der  bayer. 

Akad.  d.  Wissensch), 

XVI.  1905  :  Die  Bekenntnisse  des  hl.  Augustinus.  Buch  I— X.  Mit  Einleitung  (Frei- 

burg, Herder ;    5.  Aufl.     1910). 

XVII.  1906:  Recht,  Staat  und  Gesellschaft  (Sammlung  Kösel  V. 

XVIIa.  1907:  Die  tiefsten  Quellen  der  gegenwärtigen  Beunruhigung  in  kathol. 
Kreisen.  Eröffaungsrede  bei  der  Gen.-Vers.  der  Görres-Gesellschaft  zu 
Paderborn  (siehe  den  Jahresbericht;  ein  Abdruck  in  der  Köln.  Volksztg., 
Jg.  48.  n.  828). 

XVIIb.  1909:  Ueber  alte  und  neue  Philosophie.  Eröffnungsrede  ...  zu  Regensburg. 

XVIII.  1910:  Wissenschaftliche  Richtungen  und  philosophische  Probleme  im 
XIII.  Jahrh.  (separat  München,  Franz;   , Hochland'  Dezember  1910). 

XVIIIa.  Politik  und  Weltanschauung  (Hist.-polit.  Blätter  Bd.  145). 

XIX.  1911 :  Staats-Lexikon  der  Görres-Gesellschaft;  4.  Aufl.,  s  Bd.  I— IV,  unter  den 

Stichworten  :  Absolutismus.  Aristoteles.  Aristokratie.  Augustinus.  Autorität. 
Buieaukratie.  Demokratie.  Despotie.  Freiheit.  Gleichheit,  Monaichie. 
Politik.  Republik.  Staat  (Begriff,  Uisprung,  Zweck  und  Aufgaben,  Grenzen 
der  staatl.  Kompetenz,  Staat,  Gemr'inde  und  Gesellschaft\  Staatsgewalt. 
[Augustin.,  4.  und  5,  Auflage,  10.— 11.  Tausend.] 


Rezensionen  und  Relerate. 


Naturphilosophie  und  Psychologie. 

Summa  Philosophiae  Christiaiiae.  IV.  Cosmologia.  Auetore 
Josepho  Donat,  Dr.  Theol.  et  Prof.  in  Univ.  Oenipontana. 
Oeniponte  1913,  Fei.  Rauch.     VIII,  306  p. 

Die  drei  bereits  erschienenen  Bändeben  dieses  Philosopbiekursus 
(Logica,  Ontologia,  Psychologia)  haben  wir  im  ,Phil.  Jahrb.'  1911  Heft  1 
S.  113  f.  besprochen.  Dort  hatten  wir  Gelegenheit,  die  nicht  gewöhn- 
lichen Vorzüge  der  Donatschen  Lehrbücher  hervorzuheben.  Der  Verf. 
ist  sich  auch  im  vorliegenden  ßändchen  in  dieser  Hinsicht  treu  geblieben. 

Der  Stoff  ist  in  der  üblichen  neuscholastischen  Weise  angeordnet. 
Zuerst  wird  von  der  Natur  der  Körper,  dann  vom  Leben  der  Pflanzen, 
und  schliesslich  vom  Ursprung  der  anorganischen  und  organischen  Welt 
gehandelt.  Hinsichtlich  der  Zusammensetzung  der  Körp^^r  vertritt  der 
Verf.  einen  gemässigten  Hylomorphismus,  wonach  in  den  Lebewesen  die 
Seele  auf  alle  Fälle  die  wahre  substanziale  Form  des  Körpers  ist, 
während  in  den  anorganischen  Körpern  mit  Wahrscheinlichkeit  Molekel 
und  Atome  mit  substanzialen  Formen  begabt  sind,  die  vielleicht  auch 
eine  raateria  prima  informieren.  In  den  beiden  Kapiteln  über  den  Ur- 
sprung der  anorganischen  Welt  und  über  den  Ursprung  der  Organismen 
ist  auf  die  neueren  und  neuesten  Systeme  in  guter  Weise  Bedacht  ge- 
nommen. Zwei  Ansichten  des  Vf.s  werden  nicht  in  allen  scholastischen 
Kreisen  uneingeschränkte  Zustimmung  finden:  1.  „Es  ist  probabel,  dass 
nicht  bloss  unsere  Erde  von  Menschen  bewohnt  wird,  sondern  dass  auch 
auf  anderen  Sternen  vernünftige  Wesen  wohnen  oder  einmal  wohnen 
werden"  (p.  199);  letzteres  wird  von  der  Dogmatik  ja  wohl  allgemein 
angenommen  werden  :  der  neue  Himmel  und  die  neue  Erde  als  Wohnsitz 
der  Seligen ;  ersteres  steht  weniger  fest,  deswegen  wäre  eine  Scheidung 
der  These  in  zwei  Teile  wohl  angebracht  gewesen.  2.  „Innerhalb  der 
Reiche  der  Pflanzen  und  Tiere  scheint  eine  Umbildung  oder  polyphyle- 
tische  Entwickelung  im  Bereiche  der  höheren  Gattungen  angenommen 
werden  zu  müssen,  eine  monophyletische  Entwicklung  aber  scheint  nicht 
zulässig  zu  sein"  (p.  282).  Ich  glaube,  dass  man  statt  müssen  besser 
dürfen  sagen  müsste. 

Die  vorzügliche  Sammlung  sei  aufs  neue  bestens  empfohlen. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 

32* 


504  Chr.  Schreiber. 

l)<'r  neuere  Geisterg-laiibe.  Tatsachen,  Täuschungen  und  Theorien. 
Von  Dr.  Wilhelm  Schneider,  weil.  Bischof  von  Paderborn. 
Dritte,  verbesserte  und  bedeutend  vermehrte  Auflage.  Bear- 
beitet von  Dr.  Franz  Walter,  o.  ö.  Prof.  der  Theologie  an 
der  Universität  München.  Paderborn  1913,  Ferdinand  Schöningh. 
XII,  610  S.     Preis  broschiert  Ji>  10,—. 

Der  Herausgeber  des  vorliegenden  Buches  „glaubte  aus  Gründen  der 
Pietät  Anlage  und  Charakter  des  Buches,  wie  es  der  Feder  des  ver- 
ewio-ten  Bischofs  entstammte,  wahren  zu  sollen.  Trotzdem  mussten  die 
neueren  Forschungen  auf  spiritistischem  und  okkultistischem  Gebiete 
nachgetragen  werden.  Dadurch  ist  es  freilich  bisweilen  notwendig  ge- 
worden, Zusätze  und  Aeuderungen  in  ausgedehntem  Masse  zu  machen. 
Auch  in  formeller  Hinsicht  wurden  manche  redaktionelle  Zitate  bedeutend 
gekürzt«  (S.  VI). 

Auch  in  der  neuen  Auflage  weist    das  Buch   also  die  bekannte  Ein- 
teilung auf.     Zuerst    ist   die   Rede  vom    Ursprung   und    der  Verbreitung 
des  Spiritismus  unter  den  heidnischen  Völkern,  sodann  von  den  „Ueber- 
lebsf.ln"  des  heidnischen  Spiritismus    und    den  Vorläufern  des  modernen 
Spiritismus,    hierauf  wird   die    Entstehung  und  Verbreitung  des  neueren 
Spiritismus    geschildert,    es    treten    die    Hauptmedien    mit    ihren    Pro- 
duktionen vor    uns   auf,    wir  hören    ihre  Offenbarungen  und  Lehren,  die 
wie  von  selbst   zu   einem  Vergleich    mit   den  Offenbarungen    und  Lehren 
des    Christentums    hindrängen.     Sodann  wird    der    angebliche  Wert    des 
Spiritismus   sowie  der  moralische  und  intellektuelle  Zustand  der  Spirits 
und    ihrer  Medien    geprüft;    es  wird    sodann    die  Tatsachenfrage    aufge- 
worfen,   und  schliesslich  werden  die  bis  jetzt  aufgestellten  Theorien  zur 
Erklärung    der   spiritistischen  Tatsachen  dargelegt    und  einer  kritischen 
Begutachtung  unterzogen:  Die  Betrugstheorie,  die  Halluzinatiouslheorie, 
die  Theorie   mechanischer,    vitaler    und    psychischer  Kräfte,    die  Theorie 
der  „magischen  Kraft",    die   spiritistische  Theorie,    die  Hypothese   „vier- 
dimensionaler  Wesen",    die    dämonistische  Theorie;    der  Verfasser  selbst 
stellt  sich  auf  eine  mittlere  Linie,  indem  er  erklärt,  dass  für  die  häufig- 
sten   Erscheinungen    keine    aussernatürliche    Ursache    anzunehmen    sei, 
.wenngleich  bei  manchen  Vorgängen  Symptome  für  eine  aussernatürliche 
Ingerenz  nicht  zu  verkennen  seien. 

Ich  möchte,  um  in  der  Kritik  gl'nich  an  den  letzten  Punkt  anzu- 
knüpfen, die  auf  langer  und  eingehender  Beschäftigung  mit  der  Frage 
beruhende  üeberzeugung  ausspiechen,  dass  bei  den  bekannten  spiri- 
tistischen Produktionen  überhaupt  nicht  an  eine  aussernatürliche 
(z.  B.  dämonische)  Ingerenz  zu  denken  ist,  sondern  alle  Vorgänge  restlos 
durch  natürliche  Ursachen  sich  erklären  lassen.  Vorzügliche  (auch  dem  Vf. 


W.  Schneider,  Der  neuere  Geisterglaube.  505 

bekannte)  Ffiststellaogen  dieser  Art  hat  besonders  Ettlinger  in  seinen 
, Philosophischen  Fragen  der  Gegenwart"  (Kempten  1911,  Kösel)  unter  dem 
Titel  „Sind  die  spiritistischen  Erscheinungen  natürlich  erklärbar?"  (S.87ff.) 
veröffentlicht.  Ich  glaube,  dass  die  hier  befolgten  Richtlinien  in  dieser 
dunklen  Frage  mit  Zuversicht  für  die  weitere  Forschung  einzuhalten  sind. 
Freilich,  mit  dem  Tatsachenmaterial  allein  ist  uns  nicht  ganz  gedient :  die 
philosophische  Seite  der  Frage  muss  unseres  Erachtens  schärfer  in 
Angriff  genommen  werden,  als  dieses  meistens  geschieht,  und  auch  bei 
Schneider- Walter  geschehen  ist. 

Es  ist  philosophisch  vor  allem  festzustellen,  inwieweit  ein  Eingreifen 
einer  aussernatürlichen  Ursache  notwendig  ist  zur  Erklärung  der 
gesicherten  spiritistischen  Tatsachen,  Zu  diesem  Zwecke  ist  der  philo- 
sophische Beweis  zu  erbringen,  dass  eigentliche  Zukunftsschau  nur  einem 
allwissenden  und  ewigen  Wesen  möglich  ist,  und  dass  eigentliche  (also 
absolute)  Wunder  eine  unendliche  Kraft  erfordern,  al.so  wiederum  nur 
von  Gott  ausgehen  können.  Wer  diese  philosophische  Sachlage  klar 
erfasset  hat,  wird  nicht  in  die  Gefahr  kommen,  mit  Zurbonsen  für  die 
»Zweiten  Gesichte«  ein  natürliches  (1)  »Vorschauvermögen«  bei  den  Kiekern 
anzunehmen,  der  wird,  wo  absolute  Wunder  und  eigentliche  Vor- 
schauungen  vorliegen,  überhaupt  nicht  an  geschöpfliche,  sei  es  mensch- 
liche oder  dämonische,  Kräfte  denken,  sondern  sich  sagen:  entweder  ist 
Gott  im  Spiele  oder  es  ist,  wo  dies  nicht  der  Fall  sein  kann,  z.  B. 
wegen  der  Beschaffenheit  der  Vorgänge  oder  der  sie  ausführenden  Spirits 
und  Medien,  direkt  an  Taschenspielerkünste,  Betrug,  zufällige  Koinzidenz 
u.  dergl.  zu  denken,  auf  alle  Fälle  nicht  an  aussergewöhuliche  natürliche 
Kräfte  oder  an  dämonische  Einflüsse.  Nun  bleibt  ja  allerdings  noch  ein 
weites  Feld  von  solchen  V'^orgängen,  die  gegebenenfalls  auch  von  Dämonen 
oder  guten  Geistern  vollbracht  wt^rden  könnten,  weil  sie  zwar  eine  über- 
menschliche, aber  doch  keine  göttliche  Kraft  erheischen.  Indes  auch  für 
solche  Fälle  gibt  die  Philo>-ophie  gute  üntersch^jidungsmerkmale  an  die 
Hand,  sodass  man  wenigstens  sagen  kann,  inwieweit  ein  Eingreifen  guter 
Geister  ausgeschlossen  und  eine  Beteiligung  böser  Geister  wenigstens 
nicht  notwendig  anzunehmen  i{?t.  Jedenfalls  würde  die  ganze  Sachlage 
wesentlich  klarer  werden,  wenn  sie  möglichst  allseitig  philosophisch  er- 
örtert würde. 

Was  die  Literaturverwertung  betrifft,  so  dürfte,  soweit  ich  sehe, 
die  italienische  und  die  französische  Literatur  noch  eine  stärkere  Be- 
rücksichtigung verdienen. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 


506     M.  Meier.  W.v.  Gossler,  Die  analytische  u.  synopt. Begriffsbildung. 

Geschichte  der  Philosophie. 

Die  analytische  und  synoptische  Begriflfsbildung  bei  Sokrates, 
Piaton  und  Aristoteles.  In.-Diss.  Von  Wilh.  v.  Gossler. 
Heidelberg  1913,  Univ.-Buchdruckerei  von  J.  Hörning.  VII  u.  78  S. 

Das  Hauptgewicht  dieser  wertvollen  Arbeit  liegt  auf  Plato.  Da  es 
nun  höchst  interessant  ist  zu  verfolgen,  wie  Plato  sich,  von  Sokrates 
herkommend,  weiterentwickelt  hat,  so  lag  es  nahe,  mit  den  spärlichen 
Hinweisen  auf  die  analytische  Theorie  der  Begriösbildung  bei  Sokrates 
zu  beginnen.  Das  geschieht  vom  Verf.  in  der  Weise,  dass  der  Xeno- 
phontische  Sokrates  und  der  Sokrates  des  „Laches"  und  „Charmides" 
einander  gegenüber  gestellt  werden.  —  Indem  v.  Gossler  im  wesentlichen 
die  Reihenfolge  der  Abfassungszeit  der  platonischen  Dialoge  zugrunde  legt, 
wie  sie  von  Raeder,  Praechter  u.  a.  vertreten  wird,  weist  er  überzeugend 
nach,  dass  auch  Plato  noch  in  der  sokratischen  Periode  seines  Denkens 
bei  der  überkommenen  analytischen  Theorie  der  Begriösbildung  verbleibt. 
Je  mehr  sich  dann  bei  Plato  die  ontologisch  interpretierte  Ideenlehre 
ausprägt,  desto  mehr  vertiefen  sich  die  auch  schon  früher  auftretenden 
,, optischen  Analogien"  zu  sachlicher  Bedeutung.  Der  Begriff  wird  nicht 
mehr  aus  dem  Einzelnen  durch  Zergliederung  herausgeholt  als  ein  in 
jedem  Einzelnen  Enthaltenes,  pond^rn  er  wird  gleichsam  in  ekstatischem 
Schwung«  gewonnen  durch  ,,eine  zusammenschauende  Intuition,  welche 
das  alle  die  einzelnen  Exemplare  vereinigende  Gemeinsame  selbständig 
erfasst"  (S.  43).  In  dem  Nachweise  des  Zusammenhanges 
dieser  „synoptischen"  Theorie  der  Begriffsbildung  mit 
der  metaphysisch  interpretierten  Ideenlehre  Hegt  der 
Schwerpunkt  der  Arbeit.  Den  Nachweis  führt  Verf.  insbesondere 
an  Symposion,  Phaedon,  Politeia,  Phaedros,  Theaetet.  Im  Gegensatz  zu 
Natorp  bekennt  sich  v.  Gossler  zu  der  von  den  Marburgern  als  herrschend 
bezeichneten  Auffassung  der  Ideen,  weil  der  platonische  Text  für  sie 
zeuge,  und  weil  sie  allein  die  Angleichung  der  verschiedenen,  bei  Plato 
sich  kreuzenden  Gedankenmassen  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  ergebe. 
Aus  dieser  Stellung  heraus  bringt  er  eine  auch  auf  einzelnes  eingehende, 
scharfsinnige  Polemik  gegen  die  Platoerklärung  der  Marburger  Schule, 
vor  allem  gegen  Natorps  bekanntes  Buch.  —  Im  Schlussteile  wendet  sich 
Verf.  Aristoteles  zu  und  weist  hier  verständnisvoll  nach,  wie  sich  die 
analytische  Theorie  der  Bildung  des  Gattungsbegriffes  in  die  Metaphysik 
des  Aristoteles  einordnet,  sich  aus  dieser  ergibt  und  so  im  Einklänge 
steht  mit  dem  aristotelischen  System,  soweit  dieses  in  einem  Gegensatz 
zu  Plato  sich  befindet.  —  Die  überaus  gründliche  und  reich  dokumen- 
tierte Untersuchung  verdient  alle  Beachtung. 

München.  Dr.  Matthias  Meier. 


A.  Rohner,  Das  Schöpfungsproblem  bei  Moses  Maimonides  usw.     507 

Das  Schöpfungsproblera  bei  3Ioses  Maimonides,  Albertus 
Magnus  und  Thomas  von  Aquin.  Von  A.  Rohner  0,  Pr. 
(Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters,  Bd.  XI 
Heft  5).    Münster  i.  W.  1913,  Aschendorff. 

Um  das  Gewicht,  welches  die  Auktorität  des  hl.  Thomas  in  der 
Frage  nach  der  Möglichkeit  eiuer  anfangslosen  Schöpfung  der  Bejahung 
verleiht,  abzuschwächen,  hat  man  behauptet,  er  habe  sich  dabei  von 
den  Zeitverhältnissen,  speziell  durch  Maimonides  beeinflussen  lassen,  und 
daraufhin  sogar  seinen  Lehrer  Albertus  desavouiert.  Da  muss  es  als 
eine  dankenswerte  Arbeit  erscheinen,  dass  der  Vf.  vorliegender  Schrift 
die  Lehren  dieser  drei  Männer  und  ihr  Verhältnis  zu  einander  in  Bezug 
auf  diesen  Punkt  und  allgemeiner  in  Bezug  auf  das  ganze  Schöpfungs- 
problem einer  eingehenden  Untersuchung  unterzieht.  Er  kommt  zu  fol- 
gendem Ergebnis: 

L  Moses  Maimonides  und  Albertus  Magnus.  1.  Beide  lehren,  dass 
wir  nur  durch  die  Offenbarung  die  Erschaffung  der  Welt  erkennen. 
Ueberweg-Heinze  irrt,  wenn  er  Maimonides  eine  vernünftige  Erkenntnis 
derselben  zuschreibt.  2.  Beide  verwerfen  die  aristotelische  Lehre  von 
der  Ewigkeit  der  Welt,  die  gegen  die  Glaubenslehre  verstösst.  Diese  ist 
auch  philosophisch  vorzuziehen.  3.  Nach  Maimonides  kann  die  Vernunft 
über  die  Möglichkeit  einer  ewigen  Welt  nicht  entscheiden.  In  der  Physik 
führt  Albertus  einige  Argumente  gegen  die  Ewigkeit  an.  4.  In  der 
Summa  theologica  behauptet  er  die  Unmöglichkeit  unter  Voraussetzung 
der  Er  seh  äff  u  ng.  Es  ist  also  irrig,  zu  behaupten,  A.  habe  philo- 
sophisch die  Unmöglichkeit  beweisen  wollen. 

II.  Maimonides  und  Thomas  von  Aquin.  L  Tbomas  lehrt  die  Er- 
schaffung der  Welt  ans  Vernunftgründen,  Maimonides  nur  durch  Offen- 
barung. 2.  Dass  die  Welt  einen  zeitlichen  Anfang  hat,  kann  nicht 
demonstrativ  bewiesen  werden:  beide  stehen  auf  diesem  kritischen  Stand- 
punkte. 3.  Beide  lehren  gegen  Aristoteles,  dass  die  Vernunft  die  Not- 
wendigkeit einer  ewigen  Welt  widerlegen  kann.  Dieses  betont  Thomas 
stärker  als  Maimonides.  Keiner  tritt  positiv  für  die  Möglichkeit  oder 
Unmöglichkeit  einer  ewigen  Welt  ein. 

III.  Albertus  Magnus  und  Thoma.«.  1.  Thomas  lehrt,  da«s  die  Schöpfung 
aus  nichts  demonstrativ  bewiesen  werden  könne,  Albertus:  wir  wissen  es 
nur  durch  den  Glauben.  2.  Nach  Thomas  kann  die  Zeitlichkeit  der  Welt 
nicht  demonstrativ  bewiesen  werden;  nach  Albertus  kann  der  zeitliche 
Anfang  der  Welt  unter  Voraussetzung  der  Schöpfung  domonstrativ  be- 
wiesen werden.  3.  Die  aristotelische  Lehre  von  der  Weltewigkeit  ver- 
wirft Albert  mit  Thomas  aus  theologischen  und  philosophischen  Gründen, 
doch  nicht  mit  derselben  Klarheit  und  Schärfe  wie  Thomas. 


508  (i-  Wunderle. 

„Stöckl  kommt  es  äusserst  merkwürdig  vor,  dass  der  hl.  Thomas 
die  christlichen  Vorgänger  verlassen  konnte,  um  sich  Maimonides  anzu- 
schliessen.  Allein  der  Aquinate  sah  eben  ein,  dass  Maimonides  in 
manchen  Punkten  richtiger  gesehen  hat.  Wir  möchten  den  Grund  darin 
suchen,  dass  der  hl.  Thomas  die  aristotelische  Philosophie  tiefer  erfasste, 
die  ganze  Tragweite  der  aristotelischen  Prinzipien  besser  erkannte  und 
durchschaute  als  sein  Meister  Albertus  Magnus,  dass  der  hl.  Thomas  die 
Philosophie  schärfer  und  durchgängiger  von  der  Tht^ologie  unterschied 
und  beide  wieder  in  eine  innigere  Verbindung  mit  einander  brachte  als 
Albertus  Magnus."  Wir  sind  der  Ueberzeugung,  dass  der  hl.  Thomas  von 
Aquin  das  Schöpfungsproblem  am  schärfsten  gestellt  und  am  besten 
gelöst  bat". 

Dieses  letztere  muss  man  schon  von  vorneherein  annehmen,  da  es 
nicht  glaublich  ist,  dass  der  Fürst  der  Scholastik  gerade  in  einem  für 
Philosophie  und  Theologie  so  wichtigen  Probleme  versage. 

Aus  der  Schrift  des  Vf.s  kann  man  wenigstens  so  viel  entnehmen, 
dass  das  Problem  von  der  Möglichkeit  und  Unmöglichkeit  einer  ewigen 
Welt  vielfach  für  gar  zu  leicht  erachtet  wird,  und  die  Auktorität  und 
die  Gründe  des  hl.  Thomas  zu  gering  eingeschätzt  werden. 

Fulda.  Dr.  C.  Gntberlet. 


Die  Lehre  des  Thomas  von  Aqiiino  De  passionibiis  aiiimae 
in    quellenanalytischer   Darstellung.     Von   Dr.    Matthias 
Meier    (Beiträge   zur  Geschichte   der   Philosophie   des  Mittel- 
alters ;    herausgegeben  von   Gl.  Baeiimker   in  Verbindung   mit 
Gg.  Frhrn.  von  Hertling  und  M.  Baumgartner.    Band  XI  Heft  2). 
•     Münster  i.  W.  1912,  Aschendorff.    XV  und  160  S.  geh.  Ji,  5,50. 
Der   anziehende   Passionentraktät   in    der   theologischen  Summe  des 
Aquinaten  wird    in    der  vorliegenden  Studie   nicht  zum  eisten  Male  be- 
arbeitet.    Neben    seiner    häufigen  Verwendung    für   allgemeinere   psycho- 
logische   und  moraltheologische  Untersuchungen    ist    er    in    Morgotts 
Werk  über  die  Theorie  der  Gefühle  im  Systeme  des  hl.  Thomas 
(Eichstätt    1864)    und    in    Ottens    umfangreichem    Aufsatz    über    die 
Leidenschaften  (Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie 
1887/88)  ganz  speziell  und  eingehend  behandelt  worden.    Im  Unterschiede 
von    diesen    beiden    mehr    systematischen    und   sachlichen  Dar.stellungeu, 
geht  die  Aufgabe  Meiers  dahin,  in  erster  Linie  die  Quellen  aufzudecken, 
aus  denen  Thomas  das  Material  für  seine  Passioncnlehre    geschöptt  hat. 
,,Die  Lehre  selbst  werde  ich«  —  so  formuliert  der  Autor  sein  Programm 
(S.  3  f.)  —  >nur  unter  dem  Gesichtspunkte  fassen,  nach  welchem  die  Art 
und  Weis«    und  der  Umfang  der  inhaltlichen  Beeinflussuag  von  fremden 


M.  Meier,  Die  Lehre  des  Thomas  von  Aq.    De  pass.  an.  509 

Gedanken  am  leichtesten  ersichtlich  wird.  Ich  werde  unf^ntwegt  darauf 
achten,  was  Thoraas  für  seine  Abhandlung  an  überkommenem  Material 
zur  Verfügung  gestanden  ist,  was  er  benutzt,  wie  er  es  verwertet  und 
zur  Einheit  in  sein  System  aufgenommen  hat". 

Wir  müssen  dem  Verfasser  das  Zeugnis  geben,  dass  er  mit  einer 
vielseitigen  und  gründlichen  Kenntnis  an  seine  schwierige  Aufgabe  heran- 
getreten ist.  Der  wissenschaftliche  Apparat  ist  manchmal  sogar  etwas 
zu  umfangreich  und  schwerfällig;  viele  Noten  ziehen  förmlich  von  dem 
im  Texte  erörterten  Thema  ab.  Die  Durchdringung  und  Verarbeitung 
des  Stoffes  selbst  lässt  mancherorts  etwas  zu  wünschen  übrig,  infolgedessen 
entbehrt  auch  die  Darstellung  dann  und  wann  der  notwendigen  Ge- 
schlossenheit. Trotz  dieser  Mängel  mus3  Meiers  Studie  als  eine  bedeutende 
Leistung  anerkannt  werden;  sie  verdient  die  Beachtung  nicht  nur  des 
Philosophiehistorikers,  sondern  auch  des  modernen  empirischen  Psycho- 
logen, für  den  der  Vergleich  seiner  rein  induktiven  Methode  mit  der  in 
der  Hauptsache  deduktiven  der  Scholastik  nicht  ohne  Interesse  und 
Gewinn  sein  dürfte. 

Der  Inhalt  des  Werkes  zprfällt  in  zwei  Teile.  Im  ersten  Teil  werden 
die  Passionen  der  Seele  im  allgemeinen,  im  zweiten  die 
Passionen  der  Seele  im  speziellen  untersucht.  Wir  finden  den 
schwierigen  Begriff  und  die  verschiedenen  Bedeutungen  der  passio  (passio 
communiter  dicta,  proprie  dicta,  propriissime  dicta)  eingehend  erläutert; 
die  wichtige  Gliederung  der  bekannten  elf  passiones  in  solche  der  virtus 
coDcupiscibilis  und  der  virtus  irascibilis  tritt  klar  hervor.  Schon  bei 
diesen  allgemeinen  Erörterungen  wird  der  überragende  Einfluss 
des  Aristoteles  auf  die  Passionen  lehre  des  Aquinaten  ganz 
deutlich  offenbar.  Interessant  ist  die  Feststellung  (7):  „Ich  finde  von 
Aristoteles  nicht  weniger  als  226  Zitate,  unter  welchen  98  der  Ethik,  49 
der  Rhetorik,  22  der  Metaphysik,  14  de  anima  u.  s.  f.  angehören.  Von 
Augustinus  zähle  ich  nur  56  Zitate,  16  aus  de  civitate  Dei,  8  aus  de 
trinitate;  von  Pseudo-Dionysius  finden  sich  12  Zitate,  10  aus  de  divinis 
nominibus;  von  Johannes  Damaszenus  9  aus  de  fide  orthodoxa.  Man 
sieht  auf  den  ersten  Blick,  dass  Thoaias  an  Ari.'itoteles  in  dieser  Ab- 
handlung wohl  den  vorzüglichsten  Gewährsmann  hatte.  Wie  sehr  die 
ganze  Abhandlung  inhaltlich  von  ihm  beeinflu.sst  ist,  beweist  die  Tat- 
sache, dass  es  nicht  etwa  »konventionelle  oder  dekorative«  Zitate  sind, 
.  .  .  sondern  dass  auch  als  Hauptautoriiät,  die  für  die  nachfolgende 
Auseinandersetzung  in  einem  Artikel  massgebend  ist,  Aristoteles  am 
häufigsten  zitiert  wird".  Näher  wird  das  Verhältnis  zwischen  dem 
Stagiriien  und  dem  Aquinaten  später  (125)  also  bestimmt:  „Aristoteles 
ist  in  der  philosophischen  Behandlung  der  Affekte  Empiriker,  Thomas 
vor  allem  Dialektiker.  Ihm  i.st  es  de.shalb  nicht  so  fast  um  das  empirische 
Material    zu   tun,    an    dem    die  aristotelische  Affektenlehre  so  reich  ist, 


510 


P.  Minges. 


als  um  einzelne  Sätze,  •Definitionen  und  Formalbestimmungen,  die  er 
seinen  Ausfüi:jruagen  zu  gründe  legt  und  nach  allen  Seiten  hin  zergliedert 
und  erörtert.  Was  Thomas  an  empirischen  Beobachtungen  von  Aristo- 
teles übernimmt,  wird  bei  ihm  nicht  als  solches  verwertet  und  weiter 
ausgeführt,  sondern  in  den  Dienst  der  Dialektik  gezogen".  Nach  der 
Gesamtausführung  halten  wir  diese  Charakteristik  und  die  ähnliche,  im 
j.Schluss"  gegebene  (156  ff.)  für  zutreffender  als  das  im  Vorwort  (XIV) 
ausgesprochene  Urteil:  „Wenn  Thomas  auch  die  passiones  nach  dem 
Schema  der  Seelenvermögen  bestimmt  und  einteilt,  so  behandelt  er  sie 
in  seiner  umfassenden  Darstellung  doch  nicht  in  rein  formalen  Aus- 
führungen und  dialektischen  Betrachtungen,  wonach  sich  seine  ganze 
Passionen-Lehre  in  der  Tat  wie  ein  totes  Schema  ausnehmen  musste, 
sondern  verbindet  mit  den  metaphysischen  Spekulationen  eine  über- 
wiegende Fülle  teils  entlehnter,  teils  eigener  psychologischer  Beobachtungen 
auf  dem  Gebiete  des  Affektlebens".  Thomas'  eigene  Arbeit  und  seine  Art 
der  selbständigen  Gestaltung  des  aus  der  antiken  und  patristischen 
Psychologie  aufgenommenen  Stoffes  hätte  wohl  genauer  festgestellt  und 
in  einer  eigenen  üebersicht  —  nicht  bloss  in  gelegentlichen  Hinweisen 
des  aligemeinen  Teiles  und  bei  Besprechung  der  einzelnen  Affekte  —  zu- 
sammengefasst  werden  sollen.  Dazu  wäre  freilich  vorher  eine  wenigstens 
grosszügige  Kennzeichnung  und  Unterscheidung  der  literarischen  Quellen 
selbst  erforderlich  gewesen.  Die  Psychologie  des  Aristoteles  trägt  gewiss 
ein  ganz  anderes  Gepräge  wie  die  Augustins,  den  Meier  (5)  „den  Haupt- 
vertreter des  Neuplatonismus"  nennt.  Die  aus  solcher  Quellenscheidung 
sich  ergebende  Frage,  ob  und  inwieweit  auch  Thomas  schon  an  seinen 
Vorgängern  Kritik  geübt  habe,  wäre  dann  einer  ausführlicheren  Beant- 
wortung sicher  gewesen.  Gerade  beim  Passionentraktat  müsste  das  von 
grösstem  Werte  sein,  weil  sich  in  ihm  die  thomistische  Denk-  und 
Forschungsweise  in  bes^onders  gelungener  Weise  krystallisiert. 

Eich  statt.  Dr.  Georg  Wuiiderle. 


Der  Konzeptiuilisimis  in  der  Universalieiilelire  des  Frar.zis- 
kanererzbischofs  Petrus  Aiireoli  (Pierre  d'Auriole),  nebst 
biographisch  -  bibliographischer  Einleitung.      Von    Dr.   P.  Ray- 
mundus  Dreiling  0.  F.  M.,  Priester  der  sächsischen  Franzis- 
kanerprovinz   (Beiträge    zur    Geschichte    der    Philosophie    des 
Mittelalters,  Bd.  XI,  Heft  (5.    Münster  i.  W.  1913,  Aschendorff). 
8.    XIII.    224  S. 
Diese  Studie    ist   sehr   zu  begrüssen    und  zu  empfehlen.     Sie  bietet 
weit  mehr,    als    diii    entsprechenden  Abhandlungen  bei  Werner  usw.,    e^ 
wird  wenigstens  teilweise  auch  handschriftliches  Material  zum  Vergleich 


R.  Dreiling,  Der  Konzeptualismus  in  der  Universalienlehre.       511 

herbeigezogen ;  die  einschlägige  Literatur  wird  in  reichlichem  Masse 
zitiert  und  benutzt.  Ich  weiss  aus  eigener  Erfahrung,  wie  viel  Mühe 
eine  derartige  Schritt  macht;  deshalb  muss  man  mit  dem  Gebotenen  zu- 
frieden sein.  Man  möge  das  Buch  selbst  lesen.  Ich  werde  auf  die 
üniversalienlehre  Aureolis  und  dabei  auf  unsere  Darlegung  wohl  später 
weitläufig  zu  sprechen  kommen.  Für  jetzt  will  ich  nur  folgendes  be- 
merken. Der  Verf.  hätte  bei  Vorführung  der  Gründe,  weshalb  Aureoli 
und  andere  zu  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  plötzlich  wieder  mehr  oder 
minder  dem  Nominalismus  huldigten,  passend  darauf  hinweisen  können, 
dass  Johannes  Saresberiensis  gerade  bei  Besprechung  der  so  verschiedenen 
Ansichten  hinsichtlich  der  Universalien  bemerkt  (Metalogicus,  lib.  2, 
cap.  18:  Migne  P,  L.  tom.  199,  col.  876):  „Fere  quot  homines,  tot 
sententiae,  Nam  de  magislris  aut  nullus  aut  rarus  est,  qui  doctoris 
sui  velit  inhaerere  vestigiis.  Ut  sibi  faciat  nomen,  quisque  proprium 
cudit  errorem,  sicque  fit,  ut  dum  se  doctorem  corrigere  promittit,  se 
ipsum  corrigendum  aut  reprehendendum  tam  discipulis  quam  posteris 
praebeat".  Gehört  nicht  vielleicht  auch  Aureoli  zu  diesen  Magistern? 
Es  wendet  ja  bereits  der  heil.  Antonin  von  Florenz  (S.  34,  181)  auf  ihn 
das  Wort  an  ,,manus  eins  contra  omnes,  manus  omnium  contra  eum". 
Es  wird  zudem  öfters  von  seiner  Liebe  zur  Unabhängigkeit,  Selbständig- 
keit und  Neuerung,  oder  von  seinem  starken  Vertrauen  auf  eigenes 
Können  ge.sprochen  (S.  127,  179  fi.);  ferner,  dass  er  nicht  bloss  Duns 
Skotus,  sondern  auch  den  heil.  Thomas,  Alexander  von  Haies  und  andere 
bekämpft ,  ja  dass  gelegentlich  ein  spöttischer  Ton  über  den  Formalis- 
mus de.s  Skotus  zum  Durchbruch  kommt,  und  dass  er  diesen,  seinen 
eigenen  Lehrer,  den  tiefen  Denker,  der  Oberflächlichkeit  beschuldigt 
(S.  211  ff.).  —  Der  Verf.  bemerkt  selbst  (S.  XI,  207,  215),  dass  seine 
Arbeit  Lücken  und  Mängel  hat,  der  Ergänzung  und  Weiterführung  fähig 
und  bedürftig  ist;  er  stellt  deshalb  eine  Reihe  weiterer  Abhandlungen 
über  Aureoli  in  Aussicht.  Dies  ist  sehr  lobenswert;  hierzu  möchte  ich 
nun  einige  Wünsche  und  Bitten  vortragen.  Bekanntlich  übt  die  An- 
schauung eines  Auktors  betreffs  der  Universalien  wesentlichen  Einfluss 
aus  auf  seine  Gottes-  und  Trinitätslehre,  wie  sich  dies  speziell  bei  Skotus 
zeigt,  sogar  bei  manchen  Sätzen  seiner  Psychologie,  Christologie  und 
Eacharistielehre.  Ein  tieferes  Eingehen  auf  diese  Punkte,  gleichsam  auf 
die  Nutzanwendung,  ist  unbedingt  notwendig,  wenn  man  sich  ein  voll- 
ständiges Bild  über  die  Auffassung  eines  Philosophen,  der  zugleich  Theo- 
loge ist,  machen  will ;  um  so  mehr  bei  Aureoli,  welcher  so  scharf  den 
skotistischen  Formalismus  bekämpft.  Das  wenige,  was  hierüber  mitunter, 
wie  S.  167,  177,  205  f.,  212  gesagt  wird,  ist  jedenfalls  ungenügend. 
Wenn  ein  richtiges  Urteil  über  die  „Selb.ständigkeit",  „Unabhängigkeit" 
und  Bedeutung  Aureolis  gefällt  werden  soll,  ist  auch  unbedingt  zu  prüfen, 
ob   sein   Konzeptualismus  wirklich    originell    ist,    ob    er    nicht   vielmehr 


512  C.  Gutberiet. 

wenigstens  teilweise  seinen  Vorläufer  hatte  unter  den  von  Johannes 
Sarisberiensis  und  andern  geschilderten  Art-^n  des  älteren  Nominalismus. 
Ebenso  dürfte  auf  die  S.  200  erwähnte  natürliche  ünerkennbarkeit  der 
Allmacht  Gottes  usw.  näher  eingpgang«n  worden ;  vielleicht  meint  Aureoli 
nur  dasselbe  wie  Skotus.  Bti  alldem  dürften  auch  die  von  Aureoli  aus 
Aristoteles,  Avieenna  usw  angeführten  Stellen  im  Wortlaut  vorgelegt 
werden,  damit  der  Leanr  beurteilen  kann,  wie  uns'-r  Scholastiker  diese 
Auktoritäten  benutzte.,  und  ob  nicht  vielleicht  der  heil.  Thomas  und 
bkotus  viel  gründlicher  zu  Werke  gingen.  Es  wäre  auch  empfehlens- 
wert, stets  den  Zusammenhang  mitzuteilen,  in  welchem  Aureoli  seine  An- 
sichten vorträgt,  zumal,  wie  S.  215  gesagt  wird,  die  logischen  Erörterungen 
de.sselben  mehr  den  Charakter  gelegenheitlicher  Untersuchungen  tragen, 
nicht  in  eigenen  Schriften  vorliegen. 

Dies  wären  einige  Wün.'-che,  aus  denen  der  Verf.  mein  lebendiges 
Interes.se  für  seine  Arbeiten  entnehmen  kann.  Jedenfalls  können  diese 
Wünsche  eher  und  leichter  erfüllt  werden,  als  der  des  Verfassers  (S.  69), 
die  Franziskaner  von  Quaracchi  möchten  eine  vollständige  und  zuver- 
lässige Ausgabe  der  so  ausgedehnten  Schriften  Aurt-olis  veranstalten. 

Quaracchi.  P.  Partlieuius  Minges. 


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Nationalökonomie. 

Lehrbuch  der  Nationalökonomie  von  H.  Fesch.    Dritter  Band. 

Allgemeine  Volkswirtschaftslehre  II.  Freiburg  1913,  Herder. 

Mit  diesem  dritten  Bande  geht  das  hochbedeutende  Werk  von  H.  Peso h 
seinem  Abschluss  entgegen.     Ein  vierter  Band,    der  es  abschliessen    soll, 
wird   die    Funktionen   und   Störungen    des  volkswirtschaftlichen  Lebens- 
prozesses  behandeln,    während    der   vorliegende    die   „aktiven  Ursachen" 
deselben   darlegt.     Die    hohen  Vorzüge,  welche    allerseits   an    den  beiden 
ersten  Bänden  geiühmt    wurden,    finden    sich    natürlich    an    dem    neuen 
wieder.   Derselbe  darf  aber  wohl  noch  einem  allgemeineren  Interesse  be- 
gegnen,   da  er  nicht  blos:^  für  eigentliche  Soziologen  berechnet,  sondern 
für  jeden  Gebildeten   der  Gegenwart  von  hoher  Bedeutung  ist.     Derselbe 
geht  näniHch   auf   die   aktuellsten    wirtschaftlichen  Fragen    unserer  Zeit 
im  einzelnen    ein,    von  denen    jeder,    der    im    öffentlichen    Leben    sieht, 
Kenntnis  nehmen  muss.    Wir  brauchen  dieselben,  um  von  ihrer  Wichtig- 
keit zu  überzeugen,  nur  summarisch  darzuleg<^n. 

Als  aktive  Ursachen  im  volkswirtschaftlichen  Lebensprozesse  werden 
behandelt  L  Einzelkraft.  H.  Unternehmung.  III.  Syndikate  und  korpora- 
tive Einigungen  von  Wirtschaften.  IV.  Moderne  Berufsorgani.sation  und 
Interessenvertretung.  V.  Staat  und  Gemeinde.  VI.  Freie  Organisationen 
für  gemeinnützige  Wohlfahrtspflege. 


H.  Pesch,  Lehrbuch  der  Nationalökonomie.  513 


Im  1.  Kapitel  wird  die  Notwendigkeit  besonderer  Beachtung  indivi- 
duell*^  Kräfte  in  der  Gegenwart  gezeigt.  Im  2.  Kapitel  wird  Ursprung 
und  Begriff  dtr  Unternehmung  erklärt,  Arbeit  und  Kapital  in  der  Unter- 
nehmung, Betrieb  und  Betriebsfonnen,  der  Unternehmer,  das  Beamten- 
personal,  die  Arbeiter,  Beschaffung  von  Arbeitskräften,  der  Arbeitsvertrag, 
der  Arbeitstarifvertrag,  das  Arbeits-  und  Dienstverhältnis,  Rechtsformen  der 
Unternehmung,  neuere  Entwicklungstendenzen  der  Kapitalgesellschaften. 
Das  3.  Kapitel  behandelt  die  geschichtlichen  Foimen  und  Schicksale 
des  Vereinigungswesens,  die  Kartelle,  das  Genossenschaftswesen. 

Das  4.  Kapitel  bespricht  die  Formen  der  Berufsorganisation  im  all- 
gemeinen, gibt  einen  Rückblick  auf  die  Zunft  des  Mittelalters,  beschäftigt 
sich  sodann  mit  der  modernen  Innung  und  den  freien  Interessenvertretungen 
des  Handwerks.  Daran  schliesst  sich  die  Behaadluns  der  offiziellen 
Kammern  und  freien  Interessenvertretungen  für  Handel  und  Industrie. 
Zuletzt  kommen  die  landwirtschaftlichen  Vereinigungen  und  offiziellen 
Interessenvertretungen. 

Im  5.  Kapital  kommen  zur  Sprache:  Koalition  und  Koalitions- 
vertrBter,  die  prinzipielle  Frage  des  Vereinsrechtes,  die  Arbeiterogani- 
sationen,  Atbeitgeberverbände,  die  Arbeitskammer. 

Im  6,  Kapitel  (Staat  und  Gemeinde.  Freie  Organisationen  für 
gemeinnützige  Wohlfahrts/,wecke)  wird  der  Zweck  des  Staates  im  all- 
gemeinen und  seine  wachsende  Tätigkeit  in  volkswirtschaftlicher  Beziehung, 
das  Verhältnis  von  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik,  öffentliche  Betriebe 
und  Monopole  erörtert.  Sodann  das  Verhältnis  der  Gemeinde  zum  Staat, 
die  Aufgaben  der  Gemeinden  im  allgemeinen,  kommunale  Sozialpolitik, 
die  wirtschaftlichen  Unternehmungen  der  Gemeinden,  die  Gemeindelasten. 
In  betreff  der  freien  Organisationen  für  gemeinnützige  Wohlfahrts- 
zwecke bemerkt  der  Verf. :  „Wie  immer  man  über  zahlreiche  Missstände 
und  den  harten  Egoismus  unserer  Zeit  klagen  mag,  so  bieten  doch 
andererseits  wiederum  die  freien  Organisationen  für  gemeinnützige 
Wohlfahrtspflege  einen  erfreulichen  Beweis  dafür,  dass  der  Solidaritäts- 
gedanke im  Bewustsein  des  Volkes  lebt  und  sogar  siegreiche  Fortschritte 
gemacht  hat". 

Das  ist  nicht  zum  geringsten  Teile  dem  Einfluss  des  Christentums 
zu  verdanken.  Denn  ,,die  Menschheit  zehrt  noch  immer  an  dem  reichen 
Erbe  de.s  Christentums.  Ja,  in  der  Tat,  nicht  einem  einzigen  wahrhaft 
grossen  Gedanken  begegnet  man  in  den  modernen  Reformbestrebungeu 
in  Sozialpolitik  und  Wohlfahrtspflegs,  der  nicht  letzlich  der  Idee  der 
Gerechtigkeit  und  Menschenliebe  im  christlichen  Sinne  entstammte", 
Fulda.  Prof.  Dr.  C.  Gutberiet. 


514  Chr.  Schreiber. 

Verschiedenes. 

Aniiales  de  1' Institut  Superieur   de  Philosophie   de  1' Universite    de 

Louvain.     Tome  U,   Aiiiiee  1913.    4.  —  688  p.    Paris  1913, 

FeUx  Alcan.  Preis  10  Fr. 

Ueber  den  ersten  Band  1912  dieser  Jahresveröffentlichuug  des 
höheren  Instituts  für  Philosophie  an  der  Universität  Löwen  haben  wir 
im  4.  Heft  (1912)  des  Phii.  Jahrbuchs  S.  511   ff.  berichtet. 

Der  vorliegende  zweite  Band  enthält  neun  Einzelabhandlungeu  aus 
verschiedenen  Zweigen  der  Philosophie. 

1.  M.  Defourny  behandelt  (1—63)  die  Methode  der  sozialen 
Wissenschaften.  Die  Darlegungen,  die  sich  mit  Vorzug  mit  der 
ökonomischen  Methode  beschäftigen,  gruppieren  sich  um  folgende  Ge- 
sichtspunkte: 1.  Die  Klassifikation  (das  Resultat  der  Untersuchungen 
ist  eine  übersichtliche  klassifizierende  Tafel  der  ökonomischen  Wissen- 
schaften). 2.  Die  Methode.  3.  Die  soziale  Interdependenz.  4.  Der 
ökonomische  Realismus.    5.  Die  Formen  der  exakten  Methoden.  6.  Schluss. 

2.  G.  Lamp  recht  betrachtet  (67—163)  in  sehr  allseitiger  Weise 
den  Begriff  „Völkerpsychologie"  nach  Lazarus  und  Steinthal  und 
nach  Wundt.  Zuerst  werden  die  Anfänge  dieses  Begriffes  aufgedeckt 
und  zwar  die  entfernteren  und  unmittelbaren,  welche  letztere  bei  W. 
von  Humboldt  zu  suchnn  sind.  Darauf  werden,  zum  eigentlichen  Thema 
übergehend,  die  Anschauungen  von  Steinthal  und  Lazarus  erörtert.  Das 
Objekt  der  „Völkerpsychologie"  ist,  im  Gegensatz  zur  individuellen  Seele 
als  dem  Gegenstande  de,r  herkömmlichen  Psychologie,  die  Volksseele,  der 
Volksgeist.  Dieser  Volksgeist  ist  eine  Realität,  denn  wie  das  Volk  eine 
objektive  Einheit  ist,  so  ist  es  auch  eine  subjektive  Einheit,  d.  h.  es  hat 
Bewuftstsein  von  seiner  Einheit.  Dieses  Bewustsein  der  Einheit  hat  eine 
objektive  Grundlage,  und  die  ist  der  Volksgeist.  Die  Völkerpsychologie 
steht  in  Beziehung  zu  anderen  Wissenschaften  und  zwar  zur  Psychologie, 
zur  Politik,  zur  Anthropologie,  zur  Ethnologie,  zu  den  Naturwissen- 
schaften und  zur  Geschichte,  schliesslich  zur  Philosophie  der  Geschichte. 
Die  hauptsächlichen  Probleme  der  „Völkerpsychologie"  sind:  Natur  und 
Ursprung  des  Kollektivgeistes,  Bestandteile  des  Kollektivgeistes,  Ent- 
wicklung des  Kollektivgeistes,  Tod  des  Kollektivgeistes.  Nach  dieser 
Darstellung  der  Ideen  von  Steinthal  und  Lazarus  tritt  der  Verf.  in  eine 
Würdigung  derselben  ein.  Er  kommt  zu  dem  Ergebnis,  dass  Steinthal 
und  Lazarus  unter  dem  Einflüsse  der  Spekulationen  Humboldts  und  der 
herbartianischen  Psychologie  über  Gebühr  den  sozialen  Geist  und  den 
Volksgeist  identifiziert  haben,  dass  ihr  grosses  Verdienst  jedoch  in  der 
Darlegung  und  Verteidigung  des  Einflusses  des  sozialen  Milieus,  des 
Volksgeistes,  besteht;  sie  haben  keine  Wissenschaft   begründet,    sondern 


* 


Annales  de  l'Institut  Superieur  de  Philosophie  de  l'Univers.  de  Louvain.     515 

nur  einen  Gesichtspunkt  verteidigt,  dem  mehrere  andere  Wissenschaften 
Rechnung  tragen  müssen  —  dass  sie  keine  neue  Wissenschaft  begründeten, 
hatte  seinen  Grund  in  der  Nichterfassung  des  sozialen  Werdens:  Stein- 
thal und  Lazarus  haben  beim  Nationalen  Halt  gemacht,  nun  aber  ist 
das  Nationale  ein  Besonderes,  aus  dem  Besonderen  aber  lassen  sich 
keine  allgemeinen  Gesetze  ableiten,  wie  sie  die  Wissenschaft  benötigt. 
Es  war  Wundt  vorbehalten,  den  Begriff  des  sozialen  Werdens  zu  finden 
und  aus  ihm  das  Formalobjekt  der  „Völkerpschologie"  zu  bilden.  So  ist 
der  Verf.  bei  Wundt  angelegt,  dessen  Ideen  er  nunmehr  entwickelt,  und 
zwar  inbezug  auf  die  Mythologie,  die  Sprache,  die  Gewohnheit  und  die 
Sitten.  Hierauf  legt  der  Verf.  die  leitenden  Ideen  in  der  Wundtschen 
Völkerpschologie  dar,  indem  ersieh  fragt:  Welches  ist  also  der  formelle 
Begriff,  den  sich  Wundt  von  der  Völkerpsychologie  macht?  woher  kommt 
ihm  dieser  Begriff,  und  welches  ist  das  Ziel  seiner  Untersuchungen  ? 
Welche  Beziehung  besteht  zwischen  der  individuellen  Psychologie  und  der 
,, Völkerpsychologie",  insbesondere  zwischen  der  ,, Völkerpsychologie"  und 
der  experimentellen  Psychologie?  Was  hat  man  zu  halten  von  der 
Wundtschen  rein  psychologischen  Erklärung  der  Schöpfung  und  der 
Entwicklung  der  Sprache,  der  Mythologien,  der  Sitten  und  Gewohnheiten, 
der  Religion? 

3.  Fr.  de  H  o  v  r  e  liefert  (167—263)  eine  Studie  über  die 
soziale  Pädagogik  in  Deutschland.  In  der  Einleitung  behandelt  er 
die  Ursachen  der  pädagogischen  Wiedergeburt  und  die  zeitgenössischen 
grossen  pädagogischen  Strömungen,  wobei  Deutschland  eine  präponderie- 
rende  Rolle  spiele,  das  Jahrhundert  der  Aufklärung  und  seine  individua- 
listische Pädagogik,  die  soziale  und  historische  Renaissance  im  19.  Jahrh. 
und  ihre  Bedeutung  für  die  Pädagogik.  Der  gesamte  folgende  Stoff  wird 
angelehnt  an  die  führenden  Pädagogen  Otto  Willmann,  Paul  Natorp  und 
Fr.  Wilh.  Förster.  Bei  Will  mann  wird,  nach  einer  kurzen  Uebersicht  über 
Leben  und  literarische  Tätigkeit  W.s,  hervorgehoben :  Wissenschaftlicher 
Wert,  soziale  und  geschichtliche  Seite  der  Erziehung  als  Grundlage  der 
wissenschaftlichen  Pädagogik;  der  „Güterbegriff"  und  sein  Einfluss  auf 
alle  Bestandteile  des  Unterrichts;  die  soziale  Auffassung  und  das  politische 
Schulproblem;  soziale  Rolle  der  Organisation  des  Unterrichts  und  die 
notwendigen  Reformen;  die  Genesis  der  Ideen  Willmans,  Einfluss  des 
Werkes  Willmanns.  Im  Anschluss  an  den  letzten  Punkt  gibt  der  Verf. 
eine  kurze  Charakteristik  der  pädagogischen  Stellung  und  Bedeutung 
von  W.  Toischer,  W.  Rein,  Fr.  Paulsen,  P.  Barth.  —  Hierauf  wendet 
sich  der  Verf.  einem  deutschen  Pädagogen  ganz  anderer  Richtung  zu, 
Paul  Natorp.  Es  geht  eine  Uebersicht  über  Leben  und  literarische 
Tätigkeit  N.s  voraus,  der  eine  allgemeine  Orientierung  über  Natorps  Ideen 
folgt.  Sodann  bespricht  der  Verf.  den  Idealismus  Natorps  und  seine  Theorie 
vom  sozialen  Monismus,  er  erläutert  den  Sinn,    den  Natorp   der  Sozial- 


516  Chr.  Seil  reib  er. 

Pädagogik    beilegt,    und    beschreibt    seine    evolutionistische   Pädagogik; 
er  weist  hin  auf  den  Paralellismus  zwischen    individuellem  und  sozialem 
Lebten  im  Sinne  Natorps  und  zieht  eine  Parallele  zwischen  Natoip   und 
Pla!on  ;  er  bespricht  die  Ziele  der  sozialen  Pädagogik  und  die  Mittel  sozialer 
Erziehung  nach  den   Weisungen  Natorps.     Ais  von  Natorp    in  vieifaclier 
Hinsicht  abhängig  wird  P.  Bergmann  vorgeführi,    worauf   eine    kritische 
Würdigung  Natorps    den    Schluss   bildet.    —   Ebenso   wie    bei  Willmann 
und  Natorp  beginnt  der  Verf.  seine  Ausführungen  über  Fr.  Wilh.  Förster 
mit  einer  üebersicht    über   sein  Leben    und    seine    literarische  Tätigkeit, 
die   in    eine    Darstellung    der    moralischen    und    rpligiösen  Richtung   des 
Lebens  Försters  ausmündet.    Försters  pädagogit-che  Anschauungen  lassen 
sich  nach  folgenden  Gesichtspunkten  gliedern:   das  kritische  Problem  der 
Moral,  Försters  Kritik  der  soziologischen  Moral,  die  Ruform  des  eigenen 
Selbst   als  Grundlage  des   sozialen    Lebens,    die    christliche  Askese   und 
die  soziale  Erziehung,  Methode   sozialer  Erziehung  und    ihre  hauptsäch- 
iichcn  Anwendungen.    Im  Schlusskapitel  behandelt  der  Verf.  die  Fragen: 
soziale  Pädagogik  und  systematische  Pädagogik ;  Pädagogik  und  Philosophie. 
4.     Mit  einem  schon    oft   behandelten,    aber   immer   noch   nicht   ge- 
klärten   Thema     beschäftigt    sich    A.    Dies,    mit    der    platonischen 
Transposition  (267—307).    Im  Anschluss  hauptsächlich  an  Phaedrus, 
jedoch    auch    mit    reichlicher   Verwertung    anderer    platonischer   Dialoge, 
will    der  Verf.  darlegen    die  Transposition    der  Rhetorik,   des  Erotismus, 
des  Mystizismus  und  des  Orphismus.    Hinsichtlich  der  Transposition  der 
Rhetorik    gelangt     zur    Darstellung :     Der    Kampf   gegen    die    Rhetorik, 
Gorgias,    Euthydemus,    Republik,    das    Problem    des   Phaedrus,    Nutzbar- 
machung der  Rhetorik:    die  Apologie,    allgemeiner  Einfluss  der  Rhetorik 
auf   den  Dialog;   die  partiellen  Transpoi^itionen:    Gorgias,    Tbeaetet,   die 
totale    Transposilion    im    Phaedrus:      Programmrede    der     platonischen 
Rhetorik,  erster  Teil  des  Phaedrus  (die  Reden),  zweiter  Teil  des  Phaedrus, 
(Theorie  der  Rhetorik),    wie  in    dieser  Theorie   die   fremden  Elemente  in 
Piatonismus  umgesetzt  werden  :  die  Dialektik  ist  sich  selber  ihre  eigene 
Rhetorik.    Unter  dem  Titel  „Entwurf  einer  Studie  über  die  Trausposition 
des  Erotismus  und  des  Orphismus"  behandelt  der  Verf.  die  dem  Platonis- 
mus  vorausgehenden  Transpositionen    des  Erotismus,    platonische  Trans- 
position:  Die  Rede  des  Sokrates  im  Gastmahl,  platonische  Transposition 
in  der  dritten  Rede    des  Phaedrus,    Mystizismus   und  Orphismus    in   der 
ältesten  griechischen  Philosophie,  die  literäre  Transposition  des  Mystizis- 
mus und  des  Orphismus  bei  Pindar,  Isokrates  und  Piaton,  die  doktrinäre 
Transposition    des  Orphismu>i  bei  Piaton,    inbesondere  im  Phaedrus   und 
Phaedon.      Dem    Verfasser    ergibt  sich    das    Resultat,    dass    es    verkehrt 
ist,  »den  Piatonismus  in  durch    dichte  Scheidewände   abgetrennte  Abtei- 
lungen zu  zerlegen;   es  heisst  die  Geschmeidigkeit  seiner  Kunst  und  die 
Kraft    der   Konzentration    seines    Gedankens    zugleich   verkennen,    wenn 


Annales  de  l'Institut  Supeneur  de  Philosophie  de  l'Univers.  de  Louvain.     517 

man  Piaton  zerteilen  will  in  feindliche  Ptr.sönlichkeiten  :  in  den  Sokratiker, 
den  sozialen  und  politischen  Reformator,  den  Mystiker  und  Theologen. 
Piaton  bleibt  derselbe  auf  der  ganzen  Länge  seines  aufsteigenden  und 
auf  der  ganzen  Länge  seines  absteigenden  Weges:  es  ist  derselbe  Gedanke, 

geleitet  durch  dieselbe  Kunst,  der von   den   sinnenfälligen   oder 

sozialen  oder  mythischen  gegebenen  Dingen  aus  sich  konzentriert  in  Bildern 
und  Veranschaulichungen,  in  Aupassungen  und  Kompromissen"  (306). 

5.  Aus  dem  Nachlasse  des  am  26.  August  1912  verstorbenen  ehem. 
Professors  der  Rechtswissenschaften  der  Universität  Löwen,  späteren 
belgischen  Justizministers  und  nachmaligen  Professors  in  Löwen,  L.  de 
Lantsheere,  sowie  aus  einigen  früheren  Aufsätzen  desselben  in  der 
5, Revue  Neo-Scolastique"  veröffentlicht  L.  Noel  eine  Einleitung  zur 
moderen  Philosophie  und  ein  Vorlesungsfragment  über 
Descartes  (331 — 392),  Die  Ausführungen,  die  sich  mit  der  Philosophie 
und  der  Geschichte  der  Philosophie  im  allgemeinen,  und  mit  den  unter- 
scheidenden Merkmalen  und  den  Ursachen  der  modernen  Philosophie  im 
besonderen,  sowie  mit  der  kartesianischen  Methode  beschäftigen,  geben 
Zeugnis  von  der  hohen  philosophischen  Bildung  des  berühmten  Rechts- 
gelehrten und  Staatsmannes,  L.  Noel  hat  es  nicht  versäumt,  der  Ab- 
handlung de  Lantsheeres  einen  längeren  Nachruf  (311  —  328)  voraus- 
zuschicken, in  welchem  er  die  philosophische  Stellung  desselben  an  der 
Hand  seiner  Schriften  und  Aufsätze  würdigt.  Das  Bildnis  des  (im  Alter 
von  50  Jahren  verstorbenen)  bedeutenden  Mannes  ist  dem  Nachruf 
vorangestellt. 

6.  Fr.  Aveling  veröffentlicht  seine  im  Laboratorium  für  experi- 
mentelle Psychologie  der  Universität  London  angestellten  methodischen 
Untersuchungen  über  den  „Erkenntnisprozess"  (397 — 468),  die  ihm 
ebensoviele  experimentelle  Bestätigungen  sind  für  die  in  seiner,  der 
UnivHJsität  Löwen  zwecks  Erlangung  des  Grades  eines  Agrege  ä  1' Ecole 
Saini-Thomas  vorgelegten  Abhandlung  ,,Bowusstsein  des  Universalen  und 
Individualen"  niedergelegten  Auffassungen,  Wir  müssen  uns  darauf 
beschränken,  von  der  sehr  ertragsreichen  Studie  nur  einen  Ueber- 
bliek  zu  geben.  Im  ersten  Teil  legt  der  Verf.  sein«  Theorie  des 
Erkenntni*s Prozesses  dar,  indem  er  den  Inhalt  dieser  Theorie 
kurz  formuliert,  auf  die  IJauptgtifahr  in  dieser  Frage  hinweist, 
dann  in  längeren  Ausführungen  dem  „Denken  ohne  Bilder"  sich  zuwendet 
und  schliesslich  den  psychologischen  Charakter  der  Begriffe  aufzeigt. 
Der  zweite  Teil  der  Abhandlung  bringt  neue  Bestätigungen  d.  h. 
er  führt  jetzt  das  Ergebnis  der  an  vier  Beobachtungen  vorgenommenen 
experimentellen  Untersuchungen  vor.  Die  Phänomena  werden  eingeteilt 
in  solche,  die  während  der  Uebungsperiode,  und  in  solche,  die  während 
der  Urteilsperiode  beobachtet  wurden,  worauf  die  erzielten  Tatsachen  in 
ihrer    Bedeutung    erörtert    und    analysiert    werden;    es    folgt    ein  kleiner 

l'Lilüsopliibclits  JuhiLuch  l'J.:i  "  «^«^ 


518  Chr.  Schreiber. 

Abschnitt  über  die  Gleichzeitigkeit  der  Begriffe,  worauf  der  Verf.  in  sehr 
lichtvoller  Weise  den  Verlauf  und  die  Ergebnisse  seiner  Ausführungen 
in  neun  Punkten  zusammenfasst. 

7.  Der  durch  mehrere  ins  Deutsche  übersetzte  pädagogische  Schriften 
auch  in  weiteren  deutschen  Kreisen  bekannte  Dominikaner  Gillet  erörtert 
das  pädagogische  Problem  (473 — 531).  Wiederum  müssen  wir  uns 
mit  einer  kurzen  Inhaltsangabe  seiner  Darlegungen  begnügen.  Zunächst 
hebt  Gillet  die  Aktualität,  aber  auch  die  Komplexität  des  pädagogischen 
Problems  hervor.  Dann  gibt  er  einen  Entwurf  eines  Kurses  der  Päda- 
gogik, bei  dem  in  drei  Teilen  zu  handeln  sei  vom  pädagogischen  Ideal, 
von  der  pädagogischen  Realität  und  von  der  pädagogischen  Methode. 
Das  pädagogische  Ideal  wird  in  Beziehung  gesetzt  zur  Soziologie,  wobei 
sich  der  Verf.  mit  Dürkheim,  Belot,  Draghicesco  und  Marceron  aus- 
einandersetzt, und  zur  Religion,  wo  er  es  hauptsächlich  auf  Belot  absieht. 
Dann  zur  pädagogischen  Realität  übergehend  beweist  er,  1°.  dass  die 
moralische  Erziehung  nicht  absehen  kann  von  der  psychologischen 
Individualität  der  Kinder,  wie  die  Erfahrung  sie  uns  offenbart; 
2".  dass  die  katholische  Lehre  weit  entfernt  ist  von  einer  Nichtbeachtung 
der  individuellen  Bedingungen,  denen  die  moralische  Erziehung  unter- 
worfen ist,  sondern  in  dieser  Hinsicht  vielmehr  alle  Ergebnisse  der  Wissen- 
schaft annimmt  und  sie  vervollständigt.  Der  dritte,  etwas  sehr  kurz 
geratene  Teil  gibt  einige  Richtlinien  hinsichtlich  der  Fragen:  Die  Er- 
ziehung und  die  Methode  des  religiösen  Unterrichts,  der  Erzieher  und 
die  Methode  der  moralischen  Erziehung. 

8.  A.  Michotte  und  Th.  Portych  liefern  eine  zweite  Studie 
über  das  logische  Gedächtnis  unter  dem  Titel:  „Die  Reproduktion 
nach  zeitlichen  Intervallen  von  verschiedenen  Längen" 
(535 — 656).  Mit  der  Gründlichkeit  und  Genauigkeit,  die  man  an  Michotte 
gewohnt  ist,  wird,  nachdem  das  Problem  skizziert,  d  ie  üntersuchungsmethode 
angegeben  und  der  Untersuchungsplan  entworfen  ist,  in  drei  Kapiteln 
abgehandelt  über: 

I.  Korrekte,  falsche  und  nicht  erfolgte  (reactions  nulles)  Reaktionen, 
die  verschiedenen  Komplikationsstufen  der  Reaktionen :  direkte  und  indirekte 
Reproduktionen,  die  verschiedenen  Komplikationsstufen  der  indirekten 
Reproduktionen. 

II.  Analyse  und  Häufigkeiten  der  verschiedenen  Zwischenglieder 
(intermediaires) ;  falsche  Worte,  visuelle  Bilder,  Gedanken  (die  relationeilen 
Gedanken,  die  bestimmten  Reproduktionen,  die  Verzögerung  der  Relation, 
die  nicht-relationellen  Gedanken),  die  Verteilung  der  Zwischenglieder 
gemäss  der  Komplikationstufe  der  Reaktionen,  Beziehungen  zwischen  den 
Reproduktionsprozessen  und  denen  der  Einprägung,  die  Häufigkeit  der 
„Zwischenglieder"  (intermediaires)  in  den  falschen  und  nicht  erfolgten 
Reaktionen. 


Annales  de  l'Institut  Superieur  de  Philosophie  de  l'Univers.  de  Louvain.     519 

III.  Im  dritten  Kapitel  folgen  allgemeine  Erwägungen :  über  den 
Einfluss  der  Zeit  auf  die  Prozesse  der  Reproduktion,  über  die  indivi- 
duellen Differenzen,  über  die  Rangordnung  und  die  Rolle  der  Zwischen- 
glieder. 

9.  Den  Schluss  des  Bandes  bildet  die  Abhandlung  von  L.  Noel 
über  das  „Problem"  der  Erkenntnis  (663—688).  Der  Verfasser 
beabsichtigt  nicht,  neue  Wege  zu  weisen  für  die  Lösung  des  Erkenntnis- 
problems —  den  einzig  gangbaren  Weg  hat  Mercier  gezeigt  — ,  sondern 
er  will,  den  Spuren  Merciers  folgend,  einiges  zur  Erweiterung  und  Ver- 
tiefung sagen,  in  der  Art,  wie  es  Sentroul,  Sertillanges,  Geoy,  Rousselot 
u.  a.  getan  haben,  und  in  steter  Fühlungnahme  mit  dem  hl.  Thomas. 

Auch  dieser  zweite  Band  der  Annales  ist  ein  rühmliches  Zeugnis 
für  den  echt  wissenschaftlichen  und  gut  modernen  Geist  am  höheren 
Philosophieinstitut  zu  Löwen.  Die  oben  skizzierten  Abhandlungen  zeichnen 
sich  samt  und  sonders  aus  durch  eine  achtunggebietende  Beherrschung 
der  Literatur,  durch  echt  wissenschaftliehe  Gründlichkeit  und  kritischen 
Sinn,  sowie  —  was  nicht  unerwähnt  bleiben  darf  —  durch  grosse  Klarheit 
und  üebersichtlichkeit. 

Fulda.  Dr.  Chr.  Schreiber. 


33* 


Zeitsclirifteiiscliaii. 


A.  Philosophische  Zeitschriften. 

1]  Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.    Herausgegeben  von 
E.  Meumann  und  W.  Wirtli.     Leipzig  1913. 

27.  Bd.,    1.    und   2.  Heft:    W.  Hellpach,    Vom    Ausdruck    der 
Verlegenheit.    S.   1.     „Ein  Versuch  zur  Sozialp.syclioloi^ie  der  Gemüts- 
bewegungen'*'.    Dift  Verlegenheit    ist  eine    sozialpsychische   Erseheinung ; 
sie  entsteht  nicht  nur  vor  andern,    sondern   setzt  selbst  die  Anwesen- 
heit  einer   mitmenschlichen    Kreatur   voraus.     Sie   entsteht  in    drei  Si- 
tuationen: „1.  wenn  wir  auf  Heimlichkeiten  betroffen  werden  (wozu  auch 
Unwahrheit  gehört),  2.  wenn  wir  unsere  Persönlichkeit  fühlen  oder  glauben 
(dazu    gehört   im    be.sonderen   das   sexuelle  Umworbensein),    3.  wenn  wir 
von  einem  andern    etwas  erreichen  wollen,  dessen  Durchsetzung  unsicher 
ist  (dazu  gehört  im  besonderen  die  sexuelle  Werbung),  oder  auch  schon, 
wenn  wir   einem    anderen    etwas  missliches    oder    von    uns    für    misslich 
gehaltenes   mitteilen   sollen".     Also  „erstens  ist  tie  immer  gebunden  an 
die  physische  Anwesenheit  der  zweiten  Person.     Zweitens  ist  sie   immer 
gebunden  an  eine  Befürchtung,  die  auf  gegen  die  erste  Person  gerichtete 
seelische  Erlebni.sse  der  zweiten  Person  abzielt    (Urteile,    Gedanken,    Ge- 
fühle,  Entschlüsse  usw.  —  Was  wird    der  von    mir    denken!).     Dnttens 
wird  sie  oft  gefördert  durch  Einfühlung  der  ersten  Person  in  die  zweite, 
wobei  das  KrfüUtsein  der  beiden  ersten  Bedingungen  Voraussetzung  bleibt". 
Sie  entsteht  besonders  den  Höheren  gegenüber.    Ausdruck  der  Verlegen- 
heit  ist  vor  allem   das  Erröten,  während   die  verwandte  Befangenheit 
sich    zwischen    Erröten    und  Erblassen  teilt.     Damit    ist    oft    verbunden 
Hitzegefühl,  Prickeln  der  Haut,  Trockenwerden  der  Lippen,  Herzklopfen, 
Schweiss,   besonders   auf   der    Stirne.     Auffällig  ist  das  Zittern  und  die 
Stimmveränderuug,    beim  weiblichen    Geschlechte   wird    der   Atem    tiefer 
und  rascher,  der  Busen  „wogt".     Willküi  liehe  Bewegungen   sind :  rasches 
Einziehen  und  Ausstossen  der  Luft  durch  die  Nase,    Hüsteln,  Räuspern. 
Zur  Verhüllung  der  Verlegenheit  dienen  Umherirren  und  Niederschlagen 
der  Augen,  Bedecken  des  Gesichts  mit  der  Hand  oder  mit  dem  Fächer 
(„Insichhineinkriechen").     Die  Kleider  werden  geordnet,  gezupft,  mit  der 
ührkette  wird  gespielt,  der  Griff  in  die  Frisur.   Die  Miene  wird  bestimmt 


Zeitschriitenschau.  521 

durch  die  Augenbewegungen,  eigentümlicher  Ausdruck  d*^r  Mund-  und 
Wangengegend,  „lächeln",  lachen,  züngeln.  Es  treten  auch  Hemmungen 
ein,  geistige  Leere,  Regungslosigkeit,  Stottern,  unzusamm-^nliängendes 
Reden.  —  Th.  Haering,  Untersuchungen  zur  Psychologie  der 
Wertung.  S.  63.  Voruntersuchungen  über  die  psychologische  Konsti- 
tution der  „Relationsstiftungen"  hatten  gezeigt,  dass  die  Relationsstiftung 
im  herkömmlichen  Sinne  diesen  Namen  gar  nicht  verdient.  „Es  kann 
keine  Relation  bewusst  erlebt  werden,  die  nicht  schon  vorher  als  einheit- 
liches Erlebnis  wenigstens  intentional  gegeben  wäre.  Es  handelt  sich 
psychologisch  vielmehr  in  solchen  Fällen  um  einen  Akt  der  Ergänzung 
eines  (intentional  gegebenen)  Erlebnisganzen  bei  gegebenen  Teilen  oder 
um  einen  Akt  der  Subsumtion  des  Gegebenen  unter  dasselbe.  Der  Bogriff 
der  Relationsstiftung  im  gewöhnlichen  logischen  Sinne,  als  Verbindung 
von  Fundamenten,  ist  auf  Grund  einer  bewussteu  aposterioristischen 
Analyse  des  an  sich  psychischen  einheitlichen  Erlebnisses  auf  logischem 
Gebiet  erwachsen,  und  wo  er  psychologisch  vorkommt,  niemals  konsti- 
tutiv im  engeren  Sinne.  Demzufolge  kann  auch  eine  Finalrelation  ur- 
sprünglich psychologisch  nicht  sozusagen  aus  zwei  Erlebnissen  geschaffen, 
sondern  nur  als  Einheit  erlebt  werden".  Finalrelation  ist  auch  die  Wertung. 
Vf,  handelt  zunächst  von  den  ,, ökonomischen  Wertungen".  Darunter  ver- 
steht er  alle  „diejenigen,  die  sieh  irgendwie  mit  Gebrauchsgegenständen 
beschäftigen,  die  im  Ganzen  des  menschlichen  Lebens  irgendwelche  Ver- 
wendung finden".  Es  ergeben  sich  zwei  phänomenologische,  zwei  grund- 
legende Typen :  gefühlsmäfsige  und  intellektuelle.  Letzterer  ist  Subsumtions- 
wertung.  Ein  Gegenstand  wurde  für  wertvoll  geschätzt,  wenn  er  der 
Sphäre  eines  absoluten  Wertes  angehörte,  wenn  er  in  Finalrelation  zu 
ihm  stand.  Die  gefühlsmässige  geht  zwar  unmittelbar  auf  den  Gegen- 
stand, aber  auch  sie  entspringt  der  Subsumtion,  der  sie  freilich  genetisch 
vorausgehen  muss.  „Der  Gegensatz  von  Wert  und  Unwert  wurde  als  ein 
auch  im  Erlebnis  selbständiger  gegenüber  dem  von  Wert  und  Wert- 
widrigkeit festgestellt,  und  nur  letzterem  auf  unserer  Entwicklungsstufe 
der  von  Lust  und  Unlust  gleichgesetzt".  „Die  psychologische  Funktion 
des  Massstabes  der  Wertung  wurde  als  ein  mehrfaches  Einstellungs- 
erlebnis mit  intentionaler  Zuordnung  definiert".  ,,Da  das  ökonomische 
Werterlebnis  nur  als  ein  Werterlebnis  in  ökonomischer  Beziehung  oder 
psychologisch  als  Zugehörigkeitserlebnis  zu  der  Sphäre  ökonomischer 
Einstellung  (als  Erlebnis  der  Uebereinstimmung  eines  Gegenstandes  mit 
einer  ökonomischen  Tendenz  bzw.  intendierten  Sphäre)  beschrieben  werden 
kann,  so  kann  die  differentia  specifica  von  anderen  Arten  der  Wertungen 
nur  durch  Näherbeatimmung  der  Art  der  hier  im  Spiele  stehenden 
Sphären  logisch  bestimmt  werden".  —  R.  Friednianii,  Vorwort  zur 
Charakterologie.  S.  195.  Ueber  die  Definition  des  Charakters  selbst 
streitet  man.     Er   ist   zu    bestimmen   als  „ein  sich  stets  wiederholender 


522  Zeitschriftenschau. 

ReaktioDsformenkomplex,    der  zwar  nicht  generell  (interindividuell)  auf- 
zufassen ist,    der  aber  trotzdem  bei  den  verschiedensten  Konstitutionen 
als  typisch  immer  wiederkehrt".    Die  erste  Aufgabe  der  Charakterologie 
ist,   die   Bedingungen    aufzusuchen,   welche   die  einzelnen  typi.«chen    Re- 
aktionsformenkomplexe entstehen  lassen.  „Denn  diese  einzelnen  sind  natür- 
lich nichts  anderes  als  verschiedene,  bestimmte  Grundeigenschaften,   die 
in  jeder  Psyche  vorauszusetzen  sind.     Die  quantitativen  Veränderungen 
dieser  Grundeigenschaften    geben   dann    die    einzelnen    unterschiedlichen 
Typen.     Die  Struktur  sämtlicher  individueller  Phänomene   ist  also  nach 
dem  Kausalprinzip  nichts  anders  als  ein  Produkt  verschiedener  genereller 
Eigenschaften  variabeler  Intensität".    Charakterologie  kann  nur  betrieben 
werden  durch  Objektivierung  der  eigenen  Psyche.    „Nur  jene  Individuali- 
täten sind  uns  fassbar,  welche  in  quantitativer  Nähe  zu  unserem  eigenen 
Typus  sind".  „Und  darum  wird  auch  eine  Gesamtlösung  unseres  Problems, 
die  gleichzeitig  eine  sicher  begründete  Klassifikation  der  Typen  erwarten 
lässt,    nur   als  Synthese   zahlreicher    Einzelmonographien    möglich  sein". 
„Kein  Mann  wird   uns   je   die   letzten  Aufschlüsse   über  die  Frauenseele 
geben  können,  denn  das,  was  er  in  einer  Frau  sieht,  sind  nur  ungefähre 
Vermutungen  analog  seiner  eigenen  Natur".  Die  ,, Psychologie  der  Frauen 
können    diese   allein   uns   geben".   —   H.  Schmitt,    Psychologie    und 
Logik   in  ihrem  Verhältnis  zur  Sprache.    S.  204.     Bei  Betrachtung 
der  Sprache  „ist  es  notwendig,  dass  wir  den  Satz  ins  Auge  fassen,  denn 
er  ist   die   relativ  selbständigste  Einheit".     Am  einflussreichsten  sind  in 
neuerer  Zeit  die-Satzdefinitionen  von  Wundt   und  Paul  gewesen.     Beide 
sind  unzutreffend.     Es  ist  vielmehr   zu  definieren:    „Unter    einem   Satze 
verstehen  wir  eine  lautlich  dargestellte  oder  lautlich  vorgestellte,  begriff- 
lich geklärte,    d.  h.  objektivierte  Tatsache  des  Bewusstseins,    sofern  der 
im    Begriff   vollzogene    Objektivierungsakt    in    der  wahrnehmbaren    oder 
vorgestellten  Lautung  als  tatsächlich  vollzogen  erkennbar  ist,  oiine  dass 
der   Gesamtsprechakt    von   Ergänzungen    durch    die   Situation    und   Be- 
reicherung   aus   dem  Milieu  unabhängig  wäre".  —    J.  M.  Urban,    Ein 
Apparat  zur  Erzeugung  schwacher  Schallreize.  S.  232.  —  P.  Köhler, 
Ein  BeitrBg  zur  Traumpsychologie.    S.  235.     Ein  religiöser  Traum, 
der  die  Theorie  des  Vf.s  (Bd.  XXIII,  S.  425)  stützen  soll.  —  Literatur- 
bericht: K.  Seeberger,  Wilhelm  Wundt   und   seine  Kritiker.     S.  1. 
Psychologische    Zentralprobleme:    „Entweder    muss    die    Welt    als    eine 
materielle,    oder    sie   muss    als    eine    geistige   Einheit  von    uns    gedacht 
werden,  sofern  sie  überhaupt  als  eine  Einheit  gedacht  werde,  ein  drittes 
gibt  es  nicht".     „Seele   und  Leib   sind   nicht   an   sich,    sondern    nur    in 
unserer  Auffassung  verschieden".    Dieser  Ausgangspunkt  der  Wundtschen 
Metaphysik  und  Psychologie  endet  mit  der  Selbstauflösung  des  Geschehens 
überhaupt.  —  Einzelbesprechung. 

3.  und  4,  Heft :  A.  Gregor,  Die  hautelektrischen  Erscheinungen 


Zeitschriftenschau.  523 

in   ihren  Beziehungen   zu   Bewusstseinsprozessen.    S.  241.     „Ver- 
bindet   man    die    Hände    einer    Versuchsperson    mittels    unpolisierbarer 
Elektroden  unter  Verwendung  einer  Zwischenflüssigkeit  mit  einem  empfind- 
lichen Galvanometer,  so  erhält  man  nach  Ausschaltung  des  Eigenpotentials 
der    Elektroden    einen   Ausschlag    des  Galvanometers,    der    durch    endo- 
somatische,   also  im  Körper  des  Individuums  gelegene  elektromotorische 
Kräfte    bedingt    ist;    was    daraus    hervorgeht,    dass    mit    der    Lage    der 
Extremitäten    zu   den  Polen   des  Galvanometers   auch   eine  Umkehr   der 
Richtung    des    Stromes    erfolgt.     Werden   nun    geeignete   Reize    auf   die 
Versuchspersonen  ausgeübt,  so  finden  deutliche  Ausschläge  des  Galvano- 
meters statt,  welche  vorwiegend  auf  einer  vorübergehenden  Abschwächung 
der   genannten   elektromotorischen  Kräfte    beruhen  .  .  .  Bei  Verwendung 
von  starren  Elektroden    (Zink -Zink,    Zink -Kohle)   treten   zu  den  endo- 
somatischen  noch  episometische  Kräfte  hinzu,  deren  Sitz  zwischen  Haut 
und  Elektrode  zu  denken  ist".    Ergebnisse:  Empfindungen  von  differenter 
Gefühlsbetonung  'sind  von  qualitativ   gleichen  psychogalvanischen  Reak- 
tionen begleitet,    und  zwar    gilt    dieser  Satz    sowohl   für   die  durch  epi- 
wie   endosoraatische   elektromotorische  Kräfte    bedingten  Schwankungen. 
Ausgesprochene  psychogalvanische  Reaktionen  sind  auch  im  Gefolge  von 
Reizen,  die  Empfindungen  mit  indifferenter  Gefühlsbetonung  auslösen,  zu 
beobachten.     Aktuelle   Affekte    können   unter   Verwendung    von    starren 
Elektroden    einen    sehr    ausgesprochenen    elektromotorischen    Ausdruck 
finden,    und   zwar   ergeben  sich   für  Erregungs-  und  Spannungszustände 
besonders  charakteristische  Kurvenformeo,  an  deren  Zustandekommen  die 
Tätigkeit  der  Schweissdrüse  wesentlich  beteiligt  ist.    Zwischen  dem  Aus- 
druck aktueller  und  reproduktiv   ausgelöster  Affekte  bestehen  quantita- 
tive Uebergänge.     Die  Qualität    des    reproduzierten  Affektes   kommt    im 
Kurvenbild  nicht  zum  Ausdruck.    Geistige  Ermüdung  bewirkt  eine  Herab- 
setzung der  Reaktionsfähigkeit.     Im  Affekte   sind  psychogalvanische  Re- 
aktionen   auf   äussere  Reize  vermindert    oder  fehlen  ganz.     Bei  Wieder- 
holung eines  Reizes  erfolgt  eine  individuell  verschieden  rasch  eintretende 
und  anhaltende  Verminderung  der  psychogalvanischen  Reaktion,    welche 
auf  einer  Abstufung  der  affektiven  Wirkung  des  Reizes  beruht".  —  Th. 
Haering,  Untersuchungen  zur  Psychologie  der  Wertung.    S.  285. 

D.  Die  moralischen  Wertungen.  „Auch  die  moralischen  Wertungen  haben 
sich  uns  als  Ergebnisse  der  Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung 
mit  bestimmten  Arten  von  psychischen  Tendenzen  und  Einstellung  er- 
wiesen, eben  mit  denen,  die  wir  die  moralischen  heissen  .  .  .  Eine  solche 
Wertung  kommt  daher  auch  hier  nur  vor  in  der  Form  der  Subsumtion". 

E.  Die  logischen  Wertungen.  „Hier  liegt  nur  die  am  weitesten  fort- 
geschrittene Verabsolutierung  der  an  sich  relativen  Werte  vor.  Pnn- 
zipiell  aber  ist  auch  hier  das  Werterlebnis  nichts  anderes  als  ein  Zu- 
gehörigkeitserlebnis zu  (Subsumtion    unter)  einem  Wertzusammenhang". 


524  Zeitsch  li  f  tonschan.  ,* 

Ueberhaupt  hat  die  Analyse  ergeben,  dass  alle  Wertungen  immor  auf 
vorausgesetzten  Werten  beruhen,  womit  die  Ansprüche  einer  rein  psycho- 
logischen Werttheorie  zurückgewiesen  sind.  —  0.  Selz,  Die  Gesetze 
der  produktiven  Tätigkeit.  S.  367.  „Alle  produktive  Tätigkeit  besteht 
in  der  Umwandlung  von  Tatöächlichkeiten  in  Mittel  zu  bestimmten  Zwecken 
und  in  der  Schaffung  theoretisch  praktisch  oder  ästhetisch  wertvoller 
tatsächlicher  Produkte  durch  die  Anwendung  dieser  Mittel.  —  R.  Müller- 
Freienfels,  Der  Einfluss  der  Gefühle  und  motorischen  Faktoren 
anf  Assoziation  und  Denken.  S.  400.  Die  Assoziationspsychologie 
vfirsagt  ganz  und  gar,  um  den  Verlauf  d^r-s  Denkens  zu  erklären.  Selbst 
die  Zielvorstellung  versagt  oft,  vielmehr  sind  Gefühle,  Stellung- 
nahmen, Willensphänomene  usw.  herbeizuziehen,  —  W.  Wirth,  Eine 
Bemerkung"  von  G.  E.  Lipps  zu  den  mathematischen  Grundlagen 
der  sogenannten  unmittelbaren  Behandlung  psycho  -  physischer 
Resultate  kritisch  erörtert.    S.  431. 

2]  Rivista  dt  Fiiosofia  Neo-Scolastica.    Pubblicata  per  cura 
della  Societä  italiana  per  gli  studi  füosofici  e  psicologici,  direlta 
dal  Dott.  Agostino  Gemelli.    Direzione:    Milano,   Via  Maron- 
celli 23.    Amministrazione :  Firenze,  Libreria  Editrice   Fioren- 
tina.     Erscheint  alle  zwei  Monate   in  Heften  zu  je  wenigstens 
120   Seiten.    Abonnement:  Italien  10  Z,.,  Ausland  12,50  L 
Anno  V.  Nr.  2  (20  Aprile  1913):   Comnnicazione  p.  113:   Die 
Redaktion  gibt  Kenntnis  von  der  durch  sie  ins  Leben  gerufenen  „italie- 
nischen Gesellschaft  für  philosophische  und  psychologische  Studien"   und 
teilt    die    in    der    ersten    Sitzung    der    Gesellschßft    vom  15.  April  d.  J. 
beschlossenen    Satzungen    der   Gesellschaft    mit.  —   G.  B.  Calisse,    Gli 
argomenti  di  Zenone  d'Elea.    p.  116.     Die  Argumente  Z^nons  gegen 
die  Realität   der    Bewegung,    so  wie   sie   uns  Aristoteles  überliefert  hat, 
werden    dargelegt    und    entkräftet.  —  E.  Cliiocehettl,    La  filosolia    di 
Benedetto  Croce.  p.  133.    Der  Verf.  setzt  seine  ausgezeichnete  Analyse 
und  Kritik  der  Philosophie    des  Neuhegelianers  B.  Croce  fort,    indem  er 
He^el  und  Croce   in  Vergleich   zu  einander  stellt.  —  A.  Masnovo,    La 
veritä   ontologica   e   la  veritä   logica   secondo   il   Card.   Mercier. 
p.  152.    Der  Verf.  legt  die  Unzulänglichkeit  der  Definition  Merciers  von 
der    ontologischen    und    logischen    Wahrheit    dar     und    weist    auf    die 
Schwankungen  hin,    deren  Mercier   sich  in  dieser  Frage  schuldig  macht. 
—  G,  Molteni,  II  matorialismo  storico  di  Engels,   p.  161.    D«r  Vf. 
bespricht  das  Buch  „Der  geschichtliche  Materialismus  bei  Friedr.  Engels" 
von  Rudolf  Mondolfo  (Genua  1912,  Formiggini):  ,,Die  Rechtfertigung,  die 
Mondolfo    Engels  widmet,    ist    eine    bewundernswerte    und    gelehrte    Er- 
weiterung   hinsichtlich    Engels'    der    schon    von  Croce    gegebenen   Inter- 
pretation der  Philosophie  im  allgemeinen  und  des  geschichtlichen  Materia- 


Zeitschriftenschau,  525 

lismus  der  beiden  Urheber  des  wissenschaftlichen  Sozialismus  inabesondere, 
mit  besonderer  Bezugnahme  auf  Engels;  und  deshalb  zeigt  sieh  uns 
Mondolfo  als  der  gelehrteste  Theoretiker  des  Neu.sozialismus;  aber  sein 
Gesichtspunkt  bleibt  noch  diskutievbar  und  kontrovers.  Die  Verbesserunf 
die  er  am  Gedanken  Engels'  vornimmt,  ist  gewöhnlich  berechtigt,  aber 
es  ist  mehr  eine  theoretische  Verbesserung,  als  eine  geschichtliche  Recht- 
fertigung" (p.  178).  —  D.  Laiina,  II  problema  della  realtä  secondo 
Uli  filosofo  della  eontingenza.  p.  179.  Der  Verf.  unterzieht  den  Imma- 
nentismus, idealistischen  Monismus  und  Pantheismus  von  Emil  Meyerson 
an  der  Hand  von  dessen  Werk  „Identite  et  Realite  (Paris  1912,  Alcan) 
einer  eingehenden  Kritik,  besonders  unter  dem  erkenntnistheoretischen 
Gesichtspunkt.  —  A.  Cappellazzi  verteidigt  (p.  200  f.),  gegen  einen 
Aufsatz  von  B.  Varisco  (Professor  an  der  Universität  zu  Rom)  im 
Januarheft  1913  der  „Cultura  Contemporanea",  die  Wissenschaftlichkeit 
und  Beweiskraft  des  Aufbaues  der  christlichen  Ap  olog  et  ik.  —  Schluss 
der  Auseinandersetzung  zwischen  G.  Tredici  und  B.  Varisco  bezüglich  der 
Kritik  Tredicis  an  Variscos  „Massimi  problemi"  (p.  211),  —  Fr. 
Olgiati  berichtet  (p.  213  ff.),  in  durchweg  ablehnender  Weise,  über  die 
Konferenzen  des  französischen  Philosophen  Boutroux  in  Rom  und  Mai- 
land über  „Laicite  et  Laicisme",  „Science  et  scientisme" ,  „Religion 
et  vie".  —  M.  Ponzo  gibt  (p.  220  ff.)  einige  kritische  Bemerkungen 
zum  2.  Kongress  der  italienischen  Gesellschaft  für  Psychologie  (Rom 
27. — 29.  März  1913).  — -  Rezensionen,  bibliographi.sche  Notizen,  Zeit- 
schriftenschau. 

B.  Zeitschriften  vermischten  Inhalts. 

1]  Vierteljahrsschrift   für   Wissens chaftUche    Philosophie 
und  Soziologie.  Herausgegeben  von  P.  Barth.  Leipzig  1912, 

36.  Jahrgang,  1.  Heft:  Kleimpeter,  Zur  Begriffsbestimmung 
des  Phänoraenalismus.  S.  1.  Vielfach  wird  von  den  Kritikern,  z.  B. 
Külpe,  der  Phänomenalisa.us  falsch  verstanden.  „Die  Realitäten,  das 
Wirkliche  oder  Gegebene  sind  ihm  die  Bewustseinserscheinungen  splbst, 
nicht  aber  irgend  ein  hypothetisches  transzendentes  X."  —  K.  Gerhards, 
Zur  Kontroverse  Phuick-Mach.  S.  19.  Mach  Phänomenalist,  Planck 
Realist.  —  K.  Marfoe,  Beiträge  zur  Logik  und  ihren  Grrenzwissen- 
schaften.  S.  69.  VI.  Ueber  die  Gleichförmigkeit  in  der  Natur.  —  E. 
Rothacker,  Zur  Methodenlehre  der  Ethnologie  und  Kulturgescliichts- 
sehreibuug.  S.  85.  Während  in  der  Geschichtsschreibung  die  moderne 
Richtung  eine  ,, genetische"  und  „kulturhistorische"  Methode  befolgt, 
wendet  sich  die  neueste  Richtung  in  der  Ethnologie  gegen  jedes  „evolutive" 
Verfahren  (Graebner,  W.  Schmidt).  Die  Parole  der  ersteren  war  Völker- 
glaube, die  der  zweiten  Entlehnung.     Diese  berücksichtigt  hauptsächlich 


526  Zeitschriftenschau. 

die  Wirklichkeit,  generalisiert  weniger.  „Die  Säuberung  der  idiographi- 
scheu  Fragestellung  von  allen  illegitimen  naturwissenschaftlichen  Ueber- 
resten,  ist  ein  ausgezeichnetes  Verdienst  dieser  neuen  Richtung  auch 
um  die  logische  Methodenlehre".  —  Besprechungen. 

2.  Heft.  K.  Marbe,  Beiträge  zur  Logik  und  ihren  Grenz- 
wissenschaften. S.  139.  Vif.  Logik  des  Existenzbegriffes.  Existenz 
hat  viele  Bedeutungen:  1.  Gegenstand  des  Erkennens,  2.  unmittelbar 
Gegebensein,  3.  Ursachen  von  Erlebnissen,  4.  logische  Existenz  als  Merk- 
mal aller  richtigen  urteile,  5.  imperative  Existenz.  „Es  hat  gar  keinen 
Sinn,  über  die  Existenz  einer  Sache  zu  streiten,  wenn  man  sich  nicht  genau 
darüber  geeinigt  hat,  was  man  für  eine  Existenz  meint  —  eine  Forde- 
rung, die  freilich  weder  in  der  Gegenwart  noch  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  jemals  erfüllt  wurde."  —  F.  M.  Urban,  üeber  die  Unter- 
scheidung zwischen  logischer  und  empirischer  Wahrheit.  S.  195. 
Die  logische  Wahrheit  besitzt  ein  System,  das  durch  rein  logische  Prozesse 
aus  einigen  Fundamentalsätzen  abgeleitet  ist.  Die  empirische  Wahrheit 
eines  Satzes  besteht  darin,  dass  er  mit  den  Daten  der  Erfahrung  überein- 
stimmt. —  D.  Gusti,  Ein  Seminar  für  Soziologie,  Politik  und  Ethik 
au  der  Universität  Jassy.  S.  229.  „Ein  Beitrag  zur  Universitäts- 
pädago'gik."  —  F.  Müller-Lyer,  Die  phaseologische  Methode  in  der 
Soziologie.  S.  241.  Die  phaseol.  Methode  ist  die  der  ,, Richtungslinien". 
„Wenn  wir  die  einzelnen  Entwicklungsphasen  in  eine  Reihe  bringen  und 
jede  Phase  mit  der  folgenden  vergleichen,  so  erkennen  wir  die  Richtung, 
in  der  sich  die  Entwicklung  bewegt,  und  diese  Richtung  weist  nun  unter 
Umständen  mit  grosser  Bestimmtheit  in  die  Zukunft  hinaus."  —  Char- 
lotte Hamburger,  Unser  Verhältnis  zur  Sinnenwelt  in  der  mathe- 
matischeu  Naturwissenschaft.  S.  257.  „Ein  Weg  von  Mach  zu 
Kant."  —  Besprechungen. 

3.  Heft.  R.  Hörn,  Psychische  Kausalität.  S.  323.  Die  Lehre 
vom  psychophysischen  Parallelismus  als  Einleitung  in  das  Problem.  Der 
Begriff  des  „Ich"  im  Sinne  einer  immateriellen  Substanz  (Lotze,  Busse, 
Külpe,  Schwarz,  Sigwart,  Liebmann).  Wundt  und  der  Neumaterialismus 
(die  Assoziationsgesetze),  die  unbewussten  Phänomene  (Höfiding,  Paulsen, 
Ebbinghaus,  B.  Erdmann,  Lipps.)  „Es  handelt  sich  also  nur  um  eine 
nachträgliche  Synthese  aller  unserer  Willensvorgänge,  oder 
wie  ich  lieber  sagen  möchte,  um  eine  nachträgliche  Summation 
und  Zusammensetzung  aller  unserer  inneren  Erlebnisse." 
—  Fr.  Kuntze,  Natur-  und  Geschichtsphilosophie.  S.  383.  Die 
Methodik  des  transzendentalen  Realismus,  Grundlage  der  Betrachtung. 
„Es  existiert  unsere  Erscheinungswelt  und  Wollenswelt  nur 
als  ein  gemeinsames  Gebiet  zwischen  unserer  Eindrucksfähigkeit 
und  den  auf  uns  einwirkenden  Dingen  an  sich."  —  K.  F.  Wize,  H. 
Vaihingers  Philosophie  der  Fiktion.    S.  413.     „Die  Philosophie  des 


Zeitschriftenschau.  527 

,Als  Ob'  hat  ihre  festen  Wurzeln  in  der  Wissensciiaft  als  Ganzes  nun 
auch  in  der  Geschichte  gefasst.  Deshalb  wird  sicherlich  auch  ihr  Ein- 
fluss  ein  dauernder  sein,  ja  sie  dürfte  wirklich  zum  , Eckstein'  der 
Philosophie  werden."  —  Charlotte  Hamlburger,  Unser  Verhältnis  zur 
Sinnenwelt  in  der  mathematischen  Naturwissenschaft.  S.  425.  Ein 
Weg  von  Mach  zu  Kant.  „Der  Naturwissenschaft  eröffnen  die  Unter- 
suchungen Kants  die  Augen  über  ihre  eigenen  philosophischen  Voraus- 
setzungen und  weiterhin  ganz  allgemein  über  unser  Verhältnis  zur 
Sinnenwelt."  —  Besprechungen. 

4.  Heft :  W.  Burkemph,  Biologische  Bedeutung  des  Erkennens 
und  Pragmatismus.  S.  477.  „1.  Die  bestimmte  Aufgabe  des  Erkennens 
macht  eine  bestimmte  Struktur  der  Erkenntnis  a  priori  notwendig.  2.  Die 
meisten  Anwendungsweisen  des  pragmatischen  Prinzips  sind  Zweck- 
anpassungen von  sekundärer  Bedeutung,  die  sich  der  Struktur  a  priori 
fügen  müssen.  3.  Peirce  und  Dewey  erkennen  die  intellektualistischen 
Wahrheitskriterien,  wenigstens  implicite,  an.  4.  Die  religiöse  Anwendungs- 
weise James'  and  der  extremen  Pragmatisten  widerstreitet  den  intellek- 
tualistischen Wahrheitskriterien,  dem  natürlichen  Wahrheitsempfinden  und 
der  biologischen  Zweckmässigkeit,  5.  Die  Zerrüttung  des  Wirklichkeits- 
begriffs bei  James  zeigt  den  natürlichen  Widerspruch  zum  Denken, 
6.  Der  Pragmatismus  schafft  nicht  Frieden,  sondern  Anarchie  in  der 
Philosophie". 

2]  Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie. 

Herausgegeben  von  E.  Commer.     Paderborn  1912. 

27.  Bd.  1.  Heft:  Gr.  M.  Mauser,  Roger  Bacon  und  seine  Ge- 
währsmänner, speziell  Aristoteles.  S.  1.  Obgleich  er  gegen  die 
Auktorität  ins  Feld  zieht,  war  Bacon  „doch  ein  blinder,  übertriebener 
Anhänger  der  menschlichen  Auktorität,  weil  er  ein  Traditionalist  war." 
Bacon  war  ein  grosser  Verehrer  des  Aristoteles,  aber  kein  Aristoteliker, 
er  kannte  ihn  zu  wenig,  schöpfte  aus  unechten  Quellen  und  missverstand 
ihn.  —  D.  Feuling,  H.  Bergson  und  der  Thomismus.  S.  33.  Ob- 
gleich aus  zwei  ganz  verschiedenen  Gedankenwelten  heraus,  stimmt 
Bergson  mit  Thomas  vielfach  überein;  darum  könnten  die  Thomisten 
manches  aus  Bergson  gewinnen,  aber  auch  Bergson  würde  viel  aus 
Thomas  gewonnen  haben.  —  Fr.  Wagner,  Der  Begriff  des  Guten 
und  Bösen  nach  Thomas  v.  A.  und  Bonaventura.  S.  55.  Die  Begriffs- 
bestimmung beruht  auf  aristotelischer  Grundlage.  Bonaventura  bestimmt 
das  Gute  nach  dem  letzten  Ziele,  Thomas  zunächst  nach  der  mensch- 
lichen Natur,  aber  diese  hat  ihre  Norm  im  Endziele.  —  W.  Schlössinger, 
Die  Stellung  der  Engel  in  der  Schöpfung.  S.  81.  „6.  Die  Geisterwelt, 
der  vornehmste  Teil   des   Universums".    -    Literarische   Besprechungen. 


528  Zeitschriftenschau. 

2.  Heft:  Schreiben  Pius  X.  an  P.  J.  Gredt.  S.  135.  —  Fr. 
Wagner,  Der  Begriff  des  Guten  und  Bösen  nach  Thomas  v.  A. 
und  Bonaventura.  S.  136.  4.  Die  sittliche  Qualität  der  nicht  auf 
das  Ziel  gerichteten  Handlungen.  Bonaventura  wie  Thoraas  gibt  au, 
dass  solche  Handlungen  ihrer  Art  nach  gut  sein  können.  5.  Die  indiffe- 
renten Handlungen.  6.  Die  Nebenbedeutungen  des  Guten  und  Bösen. 
7.  Die  vom  irrigen  Gewissen  diktierten  Handlungen.  „Beide  Denker 
stimmen  darin  übereiu,  dass  nach  ihnen  zu  einer  guten  Handlang  auch 
der  Glaube  an  ihre  Güte,  d.  h.  ein  gutes  Gewissen  gehört,  und  dass  der 
Mangel  dieses  guten  Glaubens,  also  das  schlechte  Gewissen,  jede  Hand- 
lung schlecht  macht."  —  W.  Schlössinger,  Das  Yerliältnis  der  Engel- 
welt zur  sichtbaren  Schöpfung.  S.  158.  1.  Zur  materiellen  Welt  im 
allgemeinen.  2.  zum  Measchen  insbesondere.  ,,Was  wir  eigentlich  dies- 
bezüglich erkennen,  sind  eigentlich  recht  allgemeine  Prinzipien,  aus 
welchen  wir  die  allernächsten,  aber  auch  noch  die  allerallgemeinsten 
Konklusionen  ziehen.  So»  bescheiden  dies  Resultat  auch  sein  mag,  es  ist 
doch  ein  recht  grosser  Gewinn  für  uns.  Die  allgemeinen  Prinzipien  und 
Konklusionen  zeigen  uns  die  Stellung  des  Engels  in  der  Schöpfung  als 
eine  einzigartige,  vorzügliche,  seinen  Einfluss  auf  die  materielle  Welt 
und  namentlich  auf  uns  Menschen  als  einen  durchgreifenden,  eindringenden, 
effektvollen.  Sie  lehren  uns  das  ganze  Universum  und  uns  in  demselben 
mit  ganz  anderen  Augen  betrachten,  bieten  uns  Menschen  manches 
Trostreiche  und  Hoffnungsvolle  in  den  Trübsalen  dieser  Zeit,  lehren  uns 
mit  erleuchteten  Blicken  lesen  im  grossen  Buche  der  Schöpfung  und 
der  mit  ihr  gegebenen  und  in  ihr  z.  T.  realisierten  Regieruugspläne 
Gottes,  lehren  uns  Menschen  Demut,  Bescheidenheit  und  Unterwerfung, 
da  sie  unsere  ganze  Schwäche,  Hinfälligkeit,  Geringheit  in  diesem  Uni- 
versum klar  vor  Augen  stellen.  Wir  beschliessen  mit  den  Worten  des 
hl.  Thomas :  Miniraum  quod  potest  haberi  de  cognitione  rerum  altissi- 
marum  desiderabilius  est,  quam  certissima  cognitio,  quae  habetur  de 
miniraus  rebus."  —  J.  Leonissa,  Wahre  und  falsche  Mystik.  S.  268. 
„Ein  bescheidener  Rundgang  durch  die  neueste  myatische  Literatur." 
Immer  wieder  muss  nachdrücklich  betont  werden,  dass  bei  Mystik  das 
Wesentliche  streng  unterschieden  werden  rauss  vom  Zufälligen,  nicht 
Notwendigen,  Akzidentellen.  Wesentlich  nun  ist  der  Mystik  die 
vollkommene  Gottvereinigung,  nicht  notwendig  aber  sind  ihr  die 
ganz  ausserordentlichen,  wunderbaren  Er-scheinungsweisen,  wie  Visionen, 
Offenbarungen  und  dergl.  —  Literarische  Besprechungen. 

3.  und  4.  Heft:  H.  Kirfel.  Kritische  Bemerkungen  zu  einer 
neuen  Darstellung  der  Gottesbeweise.  S.  275.  Bezieht  sich  auf  das 
Handbuch  der  Apologetik  von  Kneib.  Er  hat  in  seiner  Darstellung  der 
Gottesbeweise  eine  Fülle  von  Material  zusammengetragen  und  eine  Reihe 
interessanter  moderner  Philosophen,  die  mit  denselben  zusammenhängen, 


Zeitschrift  enschau.  529 

diskutiert,  leider  steigt  aber  die  spekulative  Durcharbeitung  de.s  Stoffes 
nicht  auf  gleicher  Höhe.  —  G.  M.  Mauser,  Drei  Zweiller  am  Kausal- 
prinzip im  14.  Jahrh.  S.  29,  291.  Es  sind:  Peter  d'Ailiy,  Nikolaus 
von  Austricuria  und  W.  Okkam.  Peter  ist  Nomiualist.  Die  Gottesbeweise 
hält  er  für  unkräftig.  Er  war  zugleich  Voluntari«t.  Nikolaus  ist  noch 
radikaler,  er  ist  allgemeiner  Skeptiker..  Er  spricht  jedem  syllogiotischen 
Beweisverfahren  die  Gültigkeit  ab.  Okkams  System  „charakterisiert  sieb 
als  empirischer  Intellektualismus  oder  wenn  man  will  intellektualistischer 
Empirismus.  Es  bedeutet  einen  Triumph  des  absoluten  Individualismus." 
Der  Grund  seiner  Kausalskepsis  liegt  in  seiner  bloss  quantitativen 
Begriffslebre.  —  Fr.  Wagner,  Der  ßegriff  des  Guten  und  Bösen  nach 
Thomas  v.  A.  und  IJonaveiitura.  S.  306.  Worin  beide  übereinstimmen, 
ist  Gemeingut  der  jetzigen  Theologie  und  war  es  schon  damals.  „Die 
Unterschiede  aber,  die  sich  bei  ihnen  finden,  sind  charakteristisch  für 
die  Geistes-  und  Gemütsrichtung  beider  Männer  und  sind  zugleich 
zurückzuführen  auf  die  Quellen,  aus  denen  sie  hauptsächlich  ihre  theo- 
logische xixid  besondere  philosophische  Belehrung  schöpfen".  Bonaventura 
war  bekanntlich  mehr  Piatoniker  und  Augustinusschüler,  Thoraas  als 
Philosoph  wesentlich  Aristoteliker ;  daher  sei  bei  jenem  die  stärkere  Be- 
tonung des  affektiven  Elementes  im  Willeiasleben,  insbesondere  der  tharitas, 
sowie  überhaupt  des  üebernatürlichen,  der  im  sittlich  Guten  liegenden 
Beziehung  zu  Gott,  sodass  er  beinahe  das  Gute  mit  dem  übernatürlich 
Guten  identifiziert;  dagegen  bei  Thomas  die  relativ  grössere  Bedeutung, 
die  er  dem  natürlich  Guten  und  dem  Verhältnis  der  Handlungen  zur 
Vernunft  beilegt,  ohne  jedoch  jemals  zu  vergessen,  dass  das  Gute  im 
vollen  Sinne  nur  aus  der  charitas  hervorgeht.  —  St.  Lisincki ,  Die 
gratia  capitis  in  Christus  nach  der  Summa  theol.  des  Alexander 
von  Haies.  S.  343.  —  Jos.  Leonissa,  Zur  Frage  der  Areopagitika. 
Tritt  gegen  Pölzi  für  die  Echtheit  ein  —  H.  Kirfel,  Gottesbeweis 
oder  Gottesbeweiso  beim  hl.  Thomas  v.  A.  ?  Gegen  A.  Audiu ,  der 
behauptet,  Thomas  habe  nur  einen  Gottesbeweis  beabsichtigt.  —  Hugo, 
Nestorius  und  seine  Irrlehre.  S.  460.  Gegen  Junglas.  —  Litera- 
rische Besprechungen. 


} 


Miszellen  und  Naclirichten. 


Die  Kathoden-  und  Kanalstrahlen  lassen  einen  tiefen  Blick  in  die 
Konstitution  der  Materie  tun*). 

Wird  in  ein  evakuiertes  Glasrohr  mit  zwei  eingeschmolzenen  Elek- 
troden ein  starker  elektrischer  Strom  gesandt,  so  gehen  von  der  nega- 
tiven Elektrode,  der  Kathode,  Strahlen  in  das  verdünnte  Gas  und 
bringen  es  zum  Leuchten,  und  wo  sie  auf  die  Glaswand  treffen,  zeigt 
sich  hellgrüne  Fluoreszenz.  Dies  sind  die  sogenannten  Kathodenstrahlen. 
Durch  einen  Magneten  wird  das  Strahlenbündel  von  seiner  gradlinigen 
Richtung  abgelenkt ;  von  einer  negativ  geladenen  Platte  wird  der  Strahl 
abgestossen,  von  der  positiven  angezogen.  Daraus  schliesst  man,  dass 
die  Kathodenstrahlen  aus  sehr  schnell  von  der  Kathode  abfliegenden 
negativ  geladenen  Teilchen  bestehen. 

Um  das  Wesen  dieser  Teilchen  zu  bestimmen,  hat  man  die  Grösse 
der  Ablenkung  durch  das  elektrische  oder  magnetische  Feld  und  ihre 
Geschwindigkeit  gemessen.  Die  Geschwindigkeit  der  Teilchen,  welche 
der  Grösse  der  Ablenkung  umgekehrt  proportional  ist,  wurde  bei  einer 
Spannung  von  10  000  Volt  ungefähr  ^/s  der  Lichtgeschwindigkeit  6  .  10^  cm 
pro  Sek.  gefunden. 

Je  grösser  die  Elektrizitätsmenge  der  einzelnen  Teilchen  ist,  desto 
stärker  ist  die  Ablenkung,  aber  um  so  kleiner,  je  schwerer  sie  sind. 
Daraus  lässt  sich  ihre  Ladung  und  das  Verhältnis  der  Ladung  zur 
Masse,  ^'m ,  berechnen.  Dasselbefand  sich  stets  bei  allen  Gasen  1,8.10''; 
auch  die  Elektroden  konnten  aus  jedem  beliebigen  Metall,  Platin,  Alu- 
minium bestehen. 

Daraus  ergibt  sich  das  wichtige  Resultat,  dass  die  Kathodenstrahlen 
aus  einer  Substanz  bestehen,  die  allen  Elementen  gemeinsam  ist. 

Um  dieselbe  genauer  kennen  zu  lernen,  verglich  man  sie  mit  den 
elektrolytischen  Befunden.  Man  weiss,  wie  viel  Elektrizitätseinheiten 
erforderlich  sind,  um  aus  Salzsäure  ein  Gramm  "Wasserstoffatome  aus- 
zuscheiden. Diese  Zahl  besagt  dasselbe  wie  die  „spezifische  Ladung", 
die  für  das  elektrolytische  Wasserstoffjon  lO'^  beträgt.  Das  ist  der 
1800.  Teil    des    für    die   Kathodenstrahlteilchen   gefundenen  Wertes  von 

1)  Dechend,  „Die  Kanalstrahlen  und  ihre  Bedeutung  für  die  Erforschung 
der  Materie",  Die  Naturwissenschaften  1912,  8.  Heft,  S.  181  ff. 


Miszellen  und  Nachrichten.  531 

1,8  .  10"^.  Darum  muss  entweder  die  Ladung  eines  Kathodenstrahl- 
teilchens  ISOOmal  grösser  sein  als  die  des  elektrolytischen  Wasserstoff- 
jons, oder  die  Masse  des  ersteren  ist  ISOOmal  kleiner  als  die  des 
letzteren.  Nun,  die  Masse  des  Wasserstofijons  lässt  sich  berechnen, 
und  die  Ladung  der  Kathodenstrahlen  fand  Thomson  ganz  gleich  der 
des  elektrolytischen  Wasserstoffjons.  Daraus  ergibt  sich,  dass  die  Kathoden- 
strahlteilchen  eine  ISOOmal  kleinere  Masse  als  die  des  Wasserstoff- 
atoms haben. 

Da  nun  jedes  Element  solche  Teilchen  aussenden  kann,  so  müssen 
sie  ein  allen  Atomarten  gemeinschaftlicher  Bestandteil  sein.  Die  Ladung 
ist  immer  dieselbe:  4,8.  10-w  elektrostatische  Einheiten.  Darnach  sind 
die  Atome  zusammengesetzt,  aber  damit  ist  nur  ein  gemeinschaftlicher 
Bestandteil  gegeben ;  was  die  Elemente  unterscheidet,  muss  noch  bestimmt 

werden. 

Dazu  können  die  Kanalstrahlen  dienen.  Wird  die  Kathode  in 
einem  Entladungsraume  durchbohrt,  so  gehen  in  entgegengesetzter 
Richtung  zu  den  Kathodenstrahlen  nach  hinten  in  den  Gasraum  leuch- 
tende Strahlen,  welche  auf  die  Glaswand  treffend  Fluoreszenz  bewirken, 
aber  keine  hellgrüne,  sondern  braunrote.  Wegen  ihres  Durchgangs  durch  den 
Kanal  der  Kathode  nannte  sie  ihr  Entdecker  Goldstein  Kanalstrahlen. 

Zunächst  erwiesen  sich  diese  Strahlen  durch  das  elektrische  Feld 
unablenkbar.  Doch  fand  später  Wien,  dass  sie  durch  starke  Felder 
ablenkbar  gemacht  werden  konnten,  indes  nur  ein  Teil ;  der  andere  Teil 
ging  weiter.  Später  fand  er  jedoch,  dass  durch  ein  neues  Magnetfeld 
auch  diese  abgelenkt  wurden.  Dagegen  wurde  ein  früher  ablenkbarer 
Strahl  im  neuen  Magnetfeld  unablenkbar.  Daraus  ergibt  sich,  dass  im 
Kanalstrahl  ein  steter  Wechsel  zwischen  geladenem  und  ungeladenem 
Zustand  stattfindet. 

Die  Geschwindigkeit  wuchs  wie  bei  den  Kathodenstrahlen  mit  der 
Spannung  bei  20000  Volt  2  .  10«  cm  pro  Sek.,  die  spezifische  Ladung 
war  gleich  10*,  gleich  der  des  elektrolytischen  Wasserstoffatoms,  woraus 
zu  schliessen  ist,  dass  die  Kanalstrahlen  des  H  aus  dem  elektrolytischen 
Hjon  bestehen.  Für  0-Strahlen  fand  er  das  Verhältnis  der  Ladung  zur 
Masse  16mal  kleiner,  entsprechend  dem  16mal  grösseren  Atomgewicht 
des  Sauerstoffs. 

Spätere  Untersuchungen  haben  das  gleiche  Resultat  für  andere  Ele- 
mente nachgewiesen,  „und  es  besteht  kein  Zweifel  mehr,  dass  es  möglich 
ist,  jedes  Element  in  Kanalstrahlenform  überzuführen«.  Auch  Thomson, 
der   zuerst   nur   für   H  es   nachweisen    konnte,    hat   später   zugestimmt. 

Die  Kanalstrahlen  unterscheiden  sich  von  den  Kathodenstrahlen  da- 
durch, dass  die  Elektronen  von  diesen  immer  dieselbe  Ladung  (und  zwar 
negative)  und  Masse  besitzen,  während  sie  bei  den  Kanalstrahlen  für  die 
verschiedenen  Elemente  verschieden  sind. 


532  Mis Zeilen  und  Nachrichten. 

Nach  diesen  Beobachtungen  lässt  sich  einigermassen  ein  Bild  von 
der  Struktur  der  Atome  gewinnen. 

Die  Elektronen,  kleinste  Teilchen  der  Kathoden  (oder  /9-Strahlen), 
können  bei  grosser  Geschwindigkeit  dicke  Platten  durchqueren,  ebenso 
wie  die  Röntgenstrahl'^n  und  die  y-  und  «-Strahlen  der  radioaktiven 
Substanzen,  welch  letztere  schnell  bewegte  positiv  geladene  Helium- 
atorae  darstellen, 

Sie  müssen  also  durch  die  Atome  selbst  hindurchdringen.  Nun  haben 
eingehendere  Forschungen  gezeigt,  dass  nicht  alle  Strahlen  durch  eine 
auch  ganz  dünne  Schicht  hindurchgehen,  einige  werden  absorbiert,  andere 
von  ihrer  gradlinigen  Richtung  abgelenkt  (zerstreut),  aber  bei  verschiedenen 
Substanzen  gesetzmä.ssig.  Lenard  fand  das  Gesetz;  „Gleichgewicht.s- 
mengen  der  verschieden.sten  Substanzen  zeigen  gleiche  absorbierende  oder 
zerstreuende  Wirkung  auf  die  Kathodenstrahlen".  Diese  Wirkung  des 
Atoms  ist  also  proportional  dem  Atomgewichte.  Darum  muss,  was  in 
der  Materie  auf  die  Kathodenstrahlen  wirkt,  in  den  verschiedenen 
Atomen  in  Quantitäten  vorhanden  sein,  die  dem  Atomgewichte  pro- 
portional sind. 

Wenn  nun  die  Atome  auf  die  Kathodenstrahlen  einwirken,  so  müssen 
in  ihnen  elektrische  oder  magnetische  Felder  vorhanden  sein,  denn  nur 
solche  können  die  negativen  Elektronen  beeinflussen.  Und  zwar  müssen 
diese  Felder  bei  schwereren  Atomen  grösser  sein  als  bei  leichteren.  Die 
negativen  Elektronen,  die  zu  lO-i^  (.(vqi  berechnet  worden  sind,  stellen 
die  Grenzen  der  Teilbarkeit  der  Elektrizität  und  die  negativen  Enden 
dwr  elektrischen  Felder  dar. 

Da  aber  die  Atome  neutral  sind,  müssen  ausser  den  negativen 
Elektronen  in  ihnen  auch  positive  vorhanden  sein.  Nicholson  erklärt 
nun  die  Struktur  des  Atoms  in  der  Weise,  dass  die  negativen  Elektronen 
um  die  positiven  rotieren.  Der  einfachste  Fall  wäre  der,  dass  ein  nega- 
tives Tim  ein  po.sitives  rotiert;  aber  diese.s  System  könnte  nicht  stabil 
sein,  weil  es  elektromagnetiache  Energie  ausstrahlen  müsste. 

Anders  bei  Kombinationen  von  zwei,  drei,  vier  und  fünf  Elektronen. 
Nicholson  denkt  sich  den  Kern  aus  mehreren  positiven  Ladungen  be- 
stehend, in  dem  die  Elektronen  zu  einer  grösseren  Kugel  zusammen- 
geschmolzen sind.  Die  negativen  bilden  in  gleichen  Abständen  von  ein- 
ander einen  Ring  um  den  Kern,  so  dass  bei  der  Rotation  die  Stabilität 
des  Systems  erhalten  wird. 

Darnach  ergaben  sich  vier  ürelem  ente,  aus  denen  alle  bekannten 
Elemente  mathematisch  abgeleitet  werden  können.  Dieselben  sind  aber 
keine  blossen  mathematischen  Konstruktionen,  sondern  werden  von  der 
Spektralanalyse  als  wirkliche  Elemente  nachgewiesen.  Das  Element  mit 
doppelter  Ladung  nennt  Nicholson  Coroniura;  sein  Spektrum  wurde  in 
der  Sonnenkorona  nachgewiesen:  drei  Ladungen  gaben  das  Spektrum  des 


Miszellen  und  Nachrichten,  533 

Wasserstoffs,  vier  das  Nebnlium  mit  dem  Spektrum  der  Sternennfbel, 
das  Element  mit  fünf,  Protofluor  genannt,  soll  auch  in  der  Soonenkorona 
vorkommen.  Das  Atomgewicht  des  Coronium  berechnet  sich  auf  0,6l3, 
das  des  H  ist  bekannt:  1,008,  das  des  Nebuüum  berechnet  sich  auf 
1,6277,  das  Protofluor  auf  2,3607.  Aus  den  drei  letzteren  lassen  sich  alle 
Atomgewichte  der  bekannten  Elemente  ableiten.  Sie  stellen  die  Summe 
von  ganzen  Vielfachen  der  Atomgewichte  dieser  drei  Urelemente  dar. 

Eine  Bestätigung  dieser  Theorie  ergibt  sich  aus  der  merkwürdigen 
üebereinstimmung  der  Berechnungen  mit  der  Beobachtung. 

Auf  Grund  einfacher  Annahmen  berechnete  Nicholson  die  Verhält- 
nisse, welche  die  Schwingungszahlen  der  Elektronen  in  den  von  ihm 
konstruierten  Atomen  annehmen  müssen.  Er  fand  nun  alle  Spektral- 
linien des  hypothetischen  Elements  Nebulium  der  Astronomen  mit  den 
für  sein  Nebulium  berechneten  identisch,  ebenso  deckten  sich  die  16 
Linien  der  Sonnenkorona  mit  den  für  sein  Protofluor  berechneten.  Noch 
mehr:  er  sagte  auf  Grund  seiner  Rechnungen  voraus,  dass  das  Nebulium 
eine  noch  nicht  beobachtete  Linie  von  der  Wellenlänge  435.3  i^u  aus- 
senden müsse.  Eine  alte  revidierte  Platte  zeigte  in  der  Tat  die  wegen 
ihrer  Schwäche  übersehene  Linie,  und  eine  neuere  Aufnahme  des  Orion- 
nebels bestätigte  den  Befund  vollkommen  ^). 

H.  Baerwald  entwirft  auf  Grund  der  Arbeiten  Lenards,  eines 
Führers  auf  dem  Gebiete  der  Elektronenlehre,  folgendes  Bild  von  der 
Struktur  der  Materie  2). 

Den  letzten  Elementen,  den  Elektronen,  ist  ein  elektrischer  Charakter 
zuzusprechen,  und  damit  ist  zugleich  zum  Ausdruck  gebracht,  dass  wir 
einen  prinzipiellen  Unterschied  zwischen  Elektrizität  und  Materie,  oder, 
da  wir  Elektrizität  als  aus  Aether  gebildet  annehmen,  zwischen  Materie 
und  Aether  nicht  mehr  zu  machen  vermögen,  sondern  diese  als  aus 
jenem  gebildet  und  nur  durch  besondere  Struktur  ausgezeichnet  ansehen. 

Dabei  lassen  wir  es  dahingestellt,  ob  wir  uns  das  Elektron  als  einen 
Wirbelring  in  der  reibungslosen  Flüssigkeit  des  Aethers  zu  denken  haben 
oder  als  eine  Art  Blase,  eine  Vakuumstelle  in  ihm.  Im  ersteren  Falle 
könnten  wir  die  Kraftlinien  des  Elektrons  als  Stromlinien  ansprechen, 
die  sich  mit  dem  Wirbelring  verketten,  im  letzteren  als  Wirbelfäden. 

Nach  den  bis  jetzt  vorliegenden  Tatsachen  muss  man  annehmen, 
dass  die  Verschiedenheit  der  positiven  und  negativen  Elektrizität  nur 
auf  verschiedener  Struktur  beruht,  ihre  Substanz  aber  die  gleiche  ist. 
Die  positive  Einheit  mag  aus  einem  Ring  von  Elektronen  bestehen. 

Aus  der  Verbindung  von  positiven  und  negativen  Einheiten  ent- 
stehen  nach  Lenard  die  Dynamiden,  Kraftzentrendipole,   deren  jeder 

»)  Vgl.  Die  Naturwissenschaften  1912,  10.  Heft,  S.  237  fi'. 
"^  Ueber  die  Förderung  unserer  Kenntnis  vom  Bau  des  Atoms  durch  die 
Erforschung  der  positiven  Strahlen.    Die  Naturw.  1913,  S.  355  ff. 

Philo«ophisclies  Jahrbuch  1913.  "4 


534  Miszellen  und  Nachrichten. 

eine  positive  und  eine  negative  Einheit  enthält.  Sie  sind  nicht  ganz 
neutral,  darum  muss  „die  potenzielle  Bindungsenergie  bei  den  nicht  ab- 
gesättigten positiven  bzw.  negativen  Teilchen  viel  grösser  sein  als  bei 
den  neutralen". 

„Denken  wir  uns  also  die  Atome  aufgebaut  aus  Dynamiden  und 
Dynamidengruppen,  so  lässt  sich  auf  Grund  theoretischer  Berechnungen 
wie  experimenteller  Analogien  mit  einem  solchen  Bilde  manche  Tatsache 
deuten,  der  gegenüber  die  alte  Atomtheorie  ratlos  war;  vor  allem  das 
periodische  System  der  chemischen  Elemente,  In  den  Elementen  sehen 
wir  die  lebensfähigsten  aller  möglichen  Dynamidengruppen." 

„Von  hier  aus  erscheint  das  Weltbild  in  einer  Einheit  zusammen- 
gefasst,  in  der  es  keinen  Gegensatz  mehr  zwischen  Materie  und  Aether, 
Mechanik  und  Elektrodynamik  gibt". 


Die  Wandlung  im  philosophischen  Denken  Galileo  Galileis. 

(Ein  Vorbericht  nach   bisher  unbearbeiteten  Jugendwerken.) 

Weil  wir  eines  Gewinnes  nicht  verlustig  gehen  wollen,  den  wir  schon 
seit  langem  eingebracht  haben,  möge  hier  in  kurzem  Vorbericht  der  Hin- 
weis auf  eine  Wandlung  im  philosophischen  Denken  Galileo  Galileis,  des 
grossen  Reformators  der  Renaissance-Wissenschaft,  seine  Stelle  finden. 

Für  Gedankenkreise  auf  ei  nzel  wissenschaftlichem  Gebiete,  deren 
heutige  Gestalt  in  ihren  entscheidenden  Anfängen  auf  Galileis  geniale  An- 
bahnung unbestritten  zurückzuführen  ist,  hat  E.  Gerland  ein  ähnliches 
soeben  wieder  betont,  in  seiner  kürzlich  erschienenen  ausgezeichneten  Ge- 
schichte der  Physik  ^),  die  für  dieses  Gebiet  eine  lang  ersehnte  Abschluss- 
leiatung  bedeutet,  zumal  sie  auf  den  reichen  Ergebnissen  neuester  wissen- 
scbaftsgeschichtlicher  Einzelforschungen,  eines  P.  Duhem,  E.  Wohlwill,  E. 
Wiedemann  und  seiner  Schule  u.  a.,  aufbaut.  Gerlands  Quellenbeachtung 
und  (mehr  noch)  die  fast  vollständige  Heranziehung  der  neueren  Galilei- 
Foischung  rückt  die  Tatsache  in  eine  schärfere  Beleuchtung,  dass  wir 
es  auf  den  hauptsächlichsten  Forschungsgebieten,  wie  z.  B.  der  Mechanik, 
in  der  Falllehre,  und  erst  recht  in  den  Gedanken  Galileis  über  das 
Hiramelsbild  mit  späteren  entscheidenden  Alterswendungen  zu  tun  haben, 
die  den  Meister    mit  teils  zögerndem,    teils   festem  Schritt   über  frühere 


0  E.  Gerland,  Geschichte  der  Physik  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum 
Ausgange  des  18.  Jahrhunderts.  (Für  die  Druckl.  durchgesehen  von  Dr.  H.  v. 
Steinwehr).  München  und  Berlin  1913,  R.  Oldenbourg.  17  M.  (In  dem  grossen 
Akademiewerke  der  Geschichte  der  Wissenschaften  in  Deutschland  der  24.  Band.) 
—  Bei  einer  demnächst  erfolgenden  Besprechung  müssen  wir  mit  der  schuldigen 
Anerkennung  des  Werkes  immerhin  einige  gewichtige  Momente  der  Kritik  ver- 
binden, soweit  die  Darstellung  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  in  Frage 
kommt. 


Miszellen  und  Nachrichten.  535 

Grenzlinien  hinwegschreiten  liessen  —  dem  vollen  Ideal  der  nuova  scienza, 
und  dem  neuen  Himmelsbild  entgegen. 

Wie  die  Wissenschaftsgeschichte  so  von  einem  Ruck  im  Werdegang 
des  grossen  Programmators  einer  neuen  Naturansicht  reden  muss,  so 
werden  wir  auch  in  der  Philosophie  g  eschi  chte  mit  Phasen  der 
philosophischen  Geistesentwicklung  Galileis  zu  rechnen 
und  eine  Entwicklungslinie  festzulegen  haben,  die  vorläufig  einen 
auffallenden,  scharfen  Wendepunkt  der  Kurve  zeigt,  wenn  nicht  der 
Schwankungen  noch  mehr  sich  finden  werden! 

Denn  eine  —  bisher  unterbliebene  —  Bearbeitung  von  Jugend- 
schriften aus  dem  Jahre  1584,  die  A.  Favaros  sehr  verdienstvolle  National- 
ausgabe der  Werke  aus  dem  Autograph  zum  ersten  Male  zugänglich 
machte  ^),  förderte  reiche  Aufschlüsse  über  die  philosophischen  Versuche 
des  jugendlichen  Galilei,  der  hier  Philosophie  mit  spärlicher  Einzel- 
wisaenschaft  verbindet  und  sich  in  einer  in  vielen  Einzelzügen  sehr 
symptomatischen  Traktatenfolge  gewissermassen  Rechenschaft  gibt  über 
einen  Wissensbestaud,  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  damaligen  Kos- 
mologie, der  hinsichtlich  seiner  systematischen  Geschlossenheit  wenigstens 
als  recht  achtenswert  bezeichnet  werden  darf. 

Die  beiden  erhaltenen  Fragmente  bergen  einen  Traktat,  der  sich 
auf  den  Stoffkreis  der  aristotelischen  Bücher  de  caelo  bezieht;  ferner 
den  Rest  einer  Untersuchung,  die  u.  a.  das  vielerörterte  Problem  der 
akzidentellen  Veränderung  behandelt  (de  intensione  et  remissione),  und 
zuletzt  eine  Abhandlung  zur  Elementenlehre  (tract.  de  elementis).  Wir 
vermuten  übrigens  hinter  diesen  Schriften  ein  Analogen  zur  heutigen 
Dissertation,  wenn  nicht  eine  redigierte  Kollegsammlung. 

Ihrer  Form  nach  folgen  diese  Jugendfragmente  durchaus  den  scho- 
lastisch-literarischen Gepflogenheiten;  als  eigentlichen  , Kommentar 
zum  L.  de  caelo"  kann  man  das  erste  Fragment  nicht  ansehen,  wie  es 
P.  Duhem  in  einer  kurzen  Erwähnung  will  2). 

Nach  unserer  1910  schon  festgelegten  3)  und  im  wesentlichen  bestehen 
bleibenden  Charakteristik  des  philosophischen  Lehrgehalts  steht  Galileo 
Galilei    in   diesen  lateinisch  verfassten  luvenilia  durchaus   im  Rahmen 


0  S.  die  Edizione  nazionale  der  Werke  Galileis,  besorgt  von  A.  Favaro, 
Florenz  1890  ff.     Die  luvenilia   sind   im  1.  Bande  enthalten,   1890,   S.  15—177. 

■')  Eine  solche  finden  wir  in  seinen  bedeutenden  Origines  de  la  Statique 
(Paris  1905),  t.  I  p.  237  s.  Sie  bezieht  sich  mit  einigen  Zeilen  auf  das  erste 
Fragment,  aber  nicht  ohne  leicht  missverständlich  zu  sein,  da  sie  augenschein- 
lich nicht  auf  Durcharbeit  des  Ganzen  beruht.  Gerland  schreibt  Duhem  nur 
aus  und  übersieht  erst  recht,  wie  schon  Duhem,  das  Vorwort  des  Herausgebers 

Favaro. 

ä)  Prof.  A.  Dyroff  (Bonn)  wies  in  den  Uebungen  zur  Renaissance  die  Auf- 
gabe an,  und  der  Seminarbericht  (W.  S.  1910)  bietet  die  referierende  Skizze. 
6  '  34* 


5B6  lVlis'/5 eilen  und  Nachrichten. 

der  scholastischen  philosophischen  und  einzelwissenschaft- 
lichen Tradition;  bestimmend  bleibt  für  die  gesamte  Darlegung  die 
konservative  Linie  der  führenden  Scholastik,  im  grossen  Ganzen  mit  be- 
merkenswerter Tendenz  zu  der  Ausprägung,  die  sie  in  der  Form  des 
Thomismus  gefunden  hat.  Und  die  Ausführungen  wahren  eine  ganz 
bezeichnende  Unberührtheit  von  Renaissance-Eigentümlichkeiten,  die  in 
der  damaligen  gedanklichen  Umgebung  keine  geringe  Verbreitung  zeigen 
und  in  vielem  als  Entartungsformen  der  gesunden  Tradition  anzusprechen 
sind,  wie  Astrologismus  u.  a.  m.,  ferner  eine  deutliche  Absage  an  eine 
nenplatonische  Denkweise,  in  jeder  Form,  der  antikisierenden  oder  der 
arabistischen.  Daneben  steht  eine  Reihe  von  Zeichen  des  Renaissance- 
zeitalters, die  als  die  verständliche  Frucht  der  Fortentwicklung  zu  werten 
sind,  wie  die  breite  Heranziehung  des  zu  jener  Zeit  ja  relativ  vollkommen 
rezipierten  antiken  und  patrietischen  Ge-iankenstoffes,  mit  eigenartigen 
Ansätzen  zu  einer  problemgeschichtlicheu  Betrachtung,  welche  diesen 
Hochstand  der  Rezeptiousbewegung  auszubeuten  sucht;  der  Autor  wird 
so  vielfach  zum  anregenden  Referenten  über  manche  Problementwicklung- 
Dass  der  Natur  der  Sache  nach  der  geozentrische  Standpunkt  mass- 
gebend bleibt,  bedarf  keiner  näheren  Ausführung. 

Der  Gewinn  wird  vorerst  der  sein,  dass  sich  zur  künftigen  Aus- 
c^estaltung  eines  vollendeteren  Bildes  der  philosophischen  Persönlichkeit 
Galileis  erhebliche  neue  Antriebe  ergeben,  und  auch  die  Richtung 
im  wesentlichen  feststeht,  in  der  sie  sich  zu  vollziehen  hat. 

Denn  das  Ergebnis  legt  zwei  bedeutsame  Restfragen  beson- 
ders nahe,  mit  deren  Beantwortung  das  Teilergebnis  zum  weit  er- 
trag enden  Resultate  wird:  I.  Wie  tief  geht  die  Wandlung  von  diesem 
philosophischen  Jugendvorsuch  zum  abgeschlossenen  Altersdenken,  auf 
welchem  Gebiete  und  in  welcher  Hinsicht  hat  sie  sich  im  wahren  Sinne 
als  eine  „ümkippung"  durchgesetzt,  um  mit  einem  berühmten  Worte 
zu  reden!?  Auf  metaphysischem  Gebiete  steht  sie  fest;  die  metho- 
dologische gueue  Einstellung",  Umkehr  oder  —  Einkehr  aber  wer- 
den wir  allerdings  kritischer  zu  prüfen  haben  und  hinsichtlich  des  Neo- 
logischen an  ihr  heute  geltende,  von  nicht  zu  unterschätzenden  Autori- 
täten gestützte  Auffassungen  auf  ein  mittleres  Mass  zurückbringen 
müssen.  Zum  mindesten  wird  die  künftige  Formel,  mit  der  die  philo- 
sophiegeschichtliche Forschung  das  geistige  Gegenbild  zu  Galileis  Denken 
zu  geben  beansprucht,  an  Einfachheit  erheblich  verlieren  und  eine  wesent- 
lich kompliziertere  werden,  Dass  der  weitere  Ausbau,  der  unsere  Auf- 
gabe   bleibt,    u.  a.  auch    zu    Cassirers  Ausführungen  ^)   ergänzend-modi- 


')  S.  in  dessen  Werke  „Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und 
Wissenschaft  der  neueren  Zeit"  Bd.  I  (2.  Aufl.  1911)  den  Abschnitt  über  Galilei ; 
Cassirer  greift   im  wesentlichen  Prantls  Urteile    auf.   Ob   übrigens   nicht   für 


Mis55ellen  und  Nachrichten.  537 

fizierend  Stellung  nehmen  muss,  lässt  sich  schon  voraussagen.  Wird 
aber  dadurch  etwa  in  epigonemhaftem  Nörgeln  der  Genialität  des  Meisters, 
die  ihn  hat  weiterbringen  sollen,  entscheidend  Abbruch  getan, 
wenn  wir  im  Verlauf  dieser  Forschungen  den  breiten,  mitbestimmenden 
Einschlag  des  reichen  Materials  von  Anregungen  und  Hilfen  besser 
werden  vortreten  lassen,  das  Galilei  aus  der  Tradition  und  dem  um- 
gebenden, durchaus  nicht  allerorts  stagnierenden  Wissenschaftsleben 
hat  aufnehmen  können  und  aufnehmen  müssen?  Müssen  —  schon  auf 
dem  Wege  der  erwiesenen  scholastischen  Jugendbildung,  deren  Gesamt- 
erfolg im  Ganzen  doch  nie  zu  streichen  ist! 

Und  von  besonders  werbendem  Reize  ist  die  zweite  Abschlussfrage:  Wo 
liegen  die  inneren  —  und  auch  äusseren  ~  Gründe  des  grossen  Umlernens 
in  philosophischen  Dingen,  das  wir  und  soweit  wir  es  behaupten  dürfen, 
welches  sind  die  treibenden  Faktoren?  Dar  gerade  bei  Galilei  sehr  delikaten 
Quellenfrage  gilt  es  neben  anderen  auch  hier  wiederum  —  und  für  die 
Psychologie  des  grossen  Naturwisseuschaftlers,  für  das  Verständnis  der 
realen  seelischen  Mächte,  die  in  seiner  ganzen  geistigen  Eigenart  be- 
wurzelt waren  und  für  ihn  zum  Gedankenhebel  wurden,  wird  manch' 
bedeutsamer  Zug  gewonnen  werden.  — 

Im  Sinne  der  hier  gezogenen  Grundlinien  soll  die  Forschung  zu 
Ende  geführt  werden,  falls  nicht  schon  vorher  die  Darstellung  und  Beur- 
teilung der  Jugendphilosophie  Galileis  für  sich  abgetan  wird, 

Bonn.  Hr.  Rüster. 


Prantls  Hauptwerk,  die  bei  aller  tendenziösen  Einseitigkeit  so  unentbehrliche 
Geschichte  der  Logik  im  Abendlande,  ein  anastatischer  Neudruck  veran- 
staltet werden  könnte  ? 


Philosophischer  Sprechsaal. 

Religion  und  religiöse  Lehre. 

Von  Dr.  Elisabeth  Thiel  in  Berlin. 


Es  ist  eine  ganz  richtige  Bezeichnnng  für  das,  was  das  Wesen  des  Menschen 
ausmacht,  wenn  gesagt  wird:    Der   Mensch    ist   das  Wesen,    das  Religion   hat. 
Religion  ist  in  Verbindung  mit  Sprache,  mit  Kunst  und  Recht  das  unterscheidende 
Kennzeichen  des  Menschen,  und  unter  diesen  vier  Grundformen  alles  mensch- 
lichen  Geisteslebens    steht   die  Religion   als    alles  bestimmende  Macht   an  der 
Spitze.     Man  kann  darum  dea  Satz    auch  umkehren    und   sagen:    Religion   ist 
das,  was  den  Menschen  zum  Menschen  macht.     Dass  ein  Wesen,    das    uns   in 
der  irdischen  Wirklichkeit  begegnet,    irgend    etwas   besitze,   was    der    Religion 
auch  nur  von  ferne  ähnlich  wäre,    ist   völlig   ausgeschlossen.     Dagegen   haben 
niemals  Forscher,  die  ohne  Vorurteile  mit  reinem  Sinn  für  die  Tatsachen  beob- 
achteten, in  irgend  einem  Teile  der  Welt  Menschen  gefunden,  die  ohne  Religion 
gewesen  wären,  weder   in   alter  noch  in  neuerer  Zeit.     Darüber   sind  die  Ver- 
treter  der  Anthropologie  völlig    eines   Sinnes.     Ueberdies  kommt  es  auf  dieses 
bloss  erfahrungsmässige  Beobachten   allein   nicht   an,    sondern  weit  mehr  ent- 
scheidet  die   rechte   Einsicht  in   die  Natur  des  Menschen.     Gesetzt,    es  würde 
irgend  einmal  irgendwo   ein  Bruchteil   eines   menschlichen  Stammes  gefunden, 
bei  dem  sich  von  einer  Religion  nichts  feststellen  Hesse,  so  würde  der  Kenner 
des  menschlichen  Geschlechts,  seiner  Daseinsformen  und  seiner  Geschichte  ein 
volles  Recht  haben  zu  behaupten:    Das   ist   keine    regelmässige,    sondern  eine 
monströse  Erscheinung    und   zeigt    uns    die  menschliche  Natur    nicht    in  ihrer 
Vollständigkeit,    sondern   im  Zustande  der  Verkrüppelung  und  Verkümmerung; 
solche  Menschen,    die  keine  Religion  haben,   stehen  den  Tieren  näher  als  den 
Menschen.    Drum  ist  die  Umkehrung  des  an  den  Anfang  gestellten  Satzes  auch 
in  der  Form  der  Antipositio  richtig :   Was  keine  Religion  hat,  das  ist  auch  kein 
Mensch,   höchstens  ein  menschenähnliches  Wesen  im  Zustande  der  Entartung. 
Nun  hört  man  jedoch  vielfach  von  Leuten,  die  sich  für  aufgeklärt  halten, 
die  Meinung  vertreten :  In  früheren  Jahrtausenden  und  Jahrhunderten  habe  die 
Religion  eine  grosse  Rolle  in  der  Welt  gespielt   und   die  Menschen  vollständig 
beherrscht;  jetzt   aber  sei  es  ganz  anders  geworden.     Seitdem  die  grosse  Auf- 
klärung in  die  Welt  eingedrungen  sei,  nehme  die  Macht  der  Religion  fortwährend 
ab;    sie   sei  jetzt  schon  viel  geringer  geworden,    und  schliesslich  werden   alle 
Religionen  aus  der  Menschenwelt  völlig  verschwinden  und  nur  noch  der  helle 
Verstand  und  die  Aufklärung  herrschen.     So  hat  schon  um  das  Jahr  1800  ein 
bekannter,  höchst  aufgeklärter  Berliner  Bibliotliekar,  namens  Biester,  geweissagt: 


Philosophischer  Sprechsaal.  539 

es  werde  nicht  mehr  50  Jahre  dauern,  dann  werde  der  Name  Jesus  von  Naza- 
reth  vöUig  vergessen  sein  und  gar  nicht  mehr  genannt  werden.  Diese  Weis- 
sagung ist  augenscheinlich  nicht  eingetroffen.  Aber  das  hindert  nicht,  dass 
viele  andere  sich  mit  aller  Zuversicht  ähnlichen  Zukunftshoffnungen  hingeben 
und  das  Bestehen  der  Religion  nur  noch  für  eine  Frage  der  Zeit  ansehen. 

Merkwürdig!  Die  aufgeklärten  Menschen  können  sich  gar  nicht  vorstellen, 
wie  es  möghch  sei,  dass  andere  Menschen  nicht  so  aufgeklärt  sind,  wie  sie, 
und  dass  diese  anderen  Menschen  sogar  die  aufgeklärte  Meinung  ausdrücklich, 
ja  mit  Abscheu  von  sich  weisen,  wenn  sie  ihnen  entgegengebracht  wird.  Diese 
Widersacher  der  Religion  in  ihrer  grossen  Aufklärung  verlassen  sich  auf  die 
Erfahrung,  auf  das,  was  sie  mit  ihren  Ohren  hören  und  mit  ihren  Augen  sehen, 
und  in  dieser  Erfahrung,  so  behaupten  sie,  komme  nichts  von  Religion  vor. 
Es  scheint  aber  vielmehr,  dass  dieser  Menschenschlag  doch  eigentlich  der  Er- 
fahrung sehr  wenig  vertraut,  sich  vielmehr  lieber  eine  Erfahrung  ausdenkt  und 
ausmalt,  wie  sie  eigentlich  sein  müsste,  um  von  ihnen  Beifall  und  Billigung 
zu  erlangen.  Die  wirkliche  Erfahrung  zeigt,  dass  rings  in  der  Christenheit  zum 
Christfest  die  Glocken  läuten,  die  Kerzen  brennen,  die  Lieder  klingen  und  die 
ganze  Welt  widerhallt  von  Lob  und  Preis  des  Heilands  und  Erlösers,  den 
Gottes  überschwengliche  Liebe  der  Welt  gespendet  hat.  Und  so  zeigt  zu  anderer 
Zeit  aus  anderem  Anlass  die  wirkliche  Erfahrung  die  gleiche  Erscheinung  in 
anderer  Färbung  und  Stimmung.  Ja  noch  mehr.  Das  Christentum  breitet  sich 
seit  den  letzten  Jahrhunderten  mit  erneuertem  Aufschwung  mächtig  aus  und 
erobert  sich  sämtliche  Weltteile  und  die  ganze  Inselflur,  z.  T.  Schritt  für 
Schritt  langsam  in  längeren  Zeiträumen  das  Unchristliche  verdrängend,  z.  T. 
mit  gewaltigen  Siegerschritten  Könige  und  Völker  zu  sich  herüberziehend.  Jene 
Aufgeklärten  tun  so,  als  wäre  das  alles  nur  Kleinigkeit ;  dagegen  das  in  diesem 
Jahre  erschienene  Buch  oder  der  in  der  letzten  Nummer  der  Zeitschrift  ver- 
öffentlichte Artikel  voll  Gift  und  Galle  gegen  alle  Religion  und  gegen  das 
Christentum  insbesondere,  das  sei  etwas  Grosses  und  Mächtiges  und  werde  der 
Herrschaft  der  Religion  sicher  ein  Ende  machen.  Man  kann  darauf  in  aller 
Herzensruhe  erwidern :  weder  das  Buch  noch  der  Zeitungsartikel,  und  wenn  es 
tausende  von  Büchern  und  zehntausende  von  Zeitungsartikeln  wären,  hat  irgend 
eine  Macht,  die  Religion  zu  erschüttern  oder  auch  nur  tiefer  zu  schädigen; 
gegen  sie  wird  keine  Gewalt  jemals  aufkommen.  Im  Gegenteil:  dass  man  sie 
so  eifrig,  mit  so  ingrimmigem  Hass,  ja  mit  solcher  Wut  bekämpft,  das  ist  das 
sicherste  Zeichen  von  der  ungebrochenen,  der  siegreichen  Macht  der  Religion 
bis  auf  unsere  Tage.  Was  keine  Macht  und  keine  Bedeutung  mehr  hätte,  was 
von  selber  zu  erlöschen  im  Begriffe  wäre,  das  würde  kein  verständiger  Mensch 
noch  erst  umständlich  und  mühsam  bekämpfen  wollen.  Man  rennt  doch  offene 
Türen  nicht  ein  und  schiesst  nicht  nach  Sperlingen  mit  Kanonen.  Die  Sache 
liegt  vielmehr  so:  Der  Hass  gegen  die  Religion  nimmt  gerade  deshalb  die 
Gestalt  des  ingrimmigen  Fanatismus  an,  weil  man  sich  im  Gefühle  gar  nicht 
verbergen  kann,  dass  die  Tatsachen  doch  nicht  recht  stimmen  wollen,  und  dass 
die  Macht  der  Religion  über  die  Gemüter,  statt,  wie  man  es  gern  möchte,  ab- 
zunehmen und  zu  schwinden,  vielmehr  stetig  wächst  und  zunimmt. 

Und  so  sagen  wir's  denn  ruhig  heraus  mit  klarem  Blick  in  die  Wirklich- 
keit der  Tatsachen  und  ohne  uns  von  Wunsch  und  Neigung   in  unserer  Beob- 


I 


540  Philosophischer  Sprechsaal. 

achtung  der  Dinge  und  in  unserem  Urteil  über  die  Dinge  irgend  beirren  zu 
lassen:  es  hat,  so  lange  es  eine  Christenheit  auf  Erden  gibt,  nie  eine  Zeit  ge- 
geben, in  der  die  Macht  der  Religion  über  die  Gemüter  der  Menschen  eine  so 
grosse  gewesen  wäre,  wie  in  der  gegenwärtigen  Epoche,  und  niemals  eine  Zeit, 
wo  alle  Gestaltung  der  irdischen  Dinge  so  entscheidend  unter  der  Macht  der 
Religion  sich  vollzogen  hätte,  wie  in  der  Gegenwart.  Die  Formen  der  Herr- 
schaft der  Religion  haben  sich  in  mancher  Beziehung  geändert ;  das  täuscht  den 
Blick  der  Menschen,  die  nur  das  Aeussere  sehen  und  nur  nach  dem  Aeusseren 
urteilen.  Dafür  haben  sich  die  geistigen  Kräfte  der  Religion  und  ihre  Wirkungen 
wesentlich  gesteigert,  weil  es  überhaupt  auf  Erden  heller  geworden  ist,  weil 
die  Wissenschaft  und  ihre  Ausbreitung  gewachsen,  die  religiöse  Lehre  viel  mehr 
Menschen  zugänglich  geworden  ist  als  sonst,  und  weil  der  Staat  seine  zwingende 
Macht  von  dem  Gebiete  der  Religion  zurückgezogen  hat,  sodass  nunmehr  jedem 
Menschen  die  ausdrückliche  Möglichkeit  und  die  Notwendigkeit  vorbehalten  ist, 
sich  selbständig  zu  entscheiden,  für  oder  gegen,  wo  die  Menge  in  früheren 
Zeiten  oft  nur  blind  mitlief  ohne  inneres  Verständnis  und  ohne  innere  Teilnahme. 
Dadurch  wird  es  verständlich,  dass  heule  die  geschlossenen  Massen  derjenigen, 
die  sich  für  die  grosse  Sache  entschieden  haben,  so  unendlich  viel  mehr  be- 
deuten als  früher,  insbesondere  wo  es  auf  äussere  Wirksamkeit  in  der  Gestaltung 
der  Dinge  dieser  h-dischen  Welt  ankommt. 

Die  aufgeklärten  Leute  berufen  sich  für  ihre  geringschätzende  Meinung 
von  (Jer  Religion  auf  die  hohe  Wissenschaft,  deren  sie  sich  rühmen,  und  auf 
die  massgebende  Bedeutung  der  verständigen  Einsicht.  Es  wird  sich  daher  der 
Mühe  verlohnen,  die  Religion  überhaupt  einmal  daraufhin  anzusehen,  was  in 
ihr  die  Lehre,  der  Intellekt  und  die  Wissenschaft  bedeutet,  und  ob  wir  darin 
für  die  Religion  bauende,  hilfreiche  oder  zerstörende,  verderbliche  Kräfte  zu 
erblicken  haben.    Einer  solchen  Betrachtung  sind  die  folgenden  Blätter  geweiht. 

L 

Wir  handeln  zunächst  von  dem  äusseren  Dasein  der  Religion, 
wie  sie  sich  hier  auf  dieser  Erde  darstellt,  mitten  unter  den  anderen  Er- 
scheinungen, die  die  Erde  gleichfalls  bietet.  Das  Wort  „Religion"  ist  mehr- 
deutig und  wird  von  den  verschiedenen  Forschern,  die  über  das  Wesen  der 
Religion  gehandelt  haben,  in  sehr  verschiedenem  Sinne  gebraucht:  eine  uner- 
schöpfliche Quelle  von  Missverständnissen  und  Streitigkeiten,  in  die  sich  die 
Leute  verwickeln,  weil  sie  meinen,  sie  handelten  von  demselben  Gegenstande, 
wenn  sie  dasselbe  Wort  gebrauchen.  Für  uns  ist  es  deshalb  das  erste  Er- 
fordernis, dass  wir  genau  bezeichnen,  was  wir  unter  dem  Worte  „Religion" 
verstanden  wissen  wollen.  In  den  geläufigen  Büchern  über  die  Religions- 
philosophie wird  „Rehgion"  im  Sinne  von  Religiosität  gebraucht,  als  eine  be- 
sondere Art  von  subjektiver  Stimmung,  von  Anschauung  und  Gefühl,  etwa  wie 
Schleiermacher  die  Sache  fasst:  die  Religion  sei  die  Stimmung  des  Gemütes, 
alles  einzelne  als  Teil  des  Ganzen,  alles  Beschränkte  als  Darstellung  des  Un- 
endlichen hinzunehmen,  oder  auch  sie  sei  das  Gefühl  schlechthinniger  Ab- 
hängigkeit. Mit  diesem  Gebrauche  des  Wortes  ,, Religion"  haben  wir  es  nicht 
zu  tun.  Wir  nehmen  das  Wort  in  dem  Sinne,  wie  man  von  jüdischer,  christ- 
licher, mohamedanischer  Religion  spricht,  d.  h.  von  grossen  menschlichen  Ge- 
meinschaften, die  in  geschichtlicher  Existenz  vorhanden,  Millionen,  ja  Hunderte 


Philosophischer  Sprechsaal.  541 

von  Millionen  Menschen  durch  die  wechselnden  Generationen  hindurch,  über 
Jahrhunderte  und  Jahrtausende  hinweg  in  enger  Verbindung  zusammenhalten 
und  damit  die  allergewaltigsten  historischen  Wirkungen  üben.  In  dieser  Be- 
trachtungsweise befinden  wir  uns  in  völliger  Uebereinstimmung  mit  den  Aus- 
führungen, die  Adolf  Lassen  in  seiner  bekannten  Schrift;  „Ueber  Gegenstand 
und  Behandlungsart  der  Religionsphilosophie"  1872  dargelegt  hat. 

In  diesen  grossen  geschichtlichen  Gebilden  stellt  sich  die  Religion  dar  als 
eine  Vielheit  von  Religionen,    die   alle  den  einen  Begriff  der  Religion  als  ihr 
gemeinsames  Wesen  in  verschiedenen  Formen  zur  Verwirklichung  bringen- 
Was  ist  nun  die  Religion,  die  in  dieser  Vielheit  der  Religionen  das  gemeinsame 
begriffliche  Wesen  ausmacht?  Um  die  Frage  zu  beantworten,  müssen  wir  uns 
an  die  Erfahrung  halten   und   an   die  Fülle  der  Tatsachen  anknüpfen,    die  sie 
uns  kennen  lehrt.    Ueberall,  wo  Religion  ist,  sehen  wir  die  Menge  der  Menschen 
in  gemeinsamem  Tun  und  nach  gemeinsamer  Gewohnheit  Gott  oder  Götter  ehren, 
ihnen  dienen,  ihren  Vorschriften  gehorchen,   zu  ihnen  beten,   ihnen  Gaben  als 
Opfer    darbringen,  von    ihnen    sich   Rat   und  Anweisung,    Aufschluss  über  Zu- 
künftiges erbitten  und  Lohn  oder  Strafe  als  Vergeltung  ihrer  Taten  und  Unter- 
lassungen erwarten.     Wie  die  Götter  selber  keine  Gegenstände  der  wahrnehm- 
baren Sinnenwelt  sind,   so   sind  auch  die  Zwecke,   die  die  Menschen  mit  dem 
Dienste  der  Götter  anstreben,  keine  Zwecke  des  äusseren,  des  sinnlichen  Lebens. 
Nicht  das  Nützliche  und  Angenehme,  sondern  das  Heilige  und  Göttliche  ist  das 
Begehrte,  innerer  Friede,  ewige  Seligkeit,    und  damit   tritt  die  Gottesverehrung 
als  das  Herzstück  der  Religion  aus  dem  Umkreis  der  spezifisch  irdischen  Tätig- 
keiten als  etwas  deutlich  Abgetrenntes  heraus.     Erhebung  des  Sinnes  über  das 
Gewöhnliche,  Feier,   Begeisterung,   Andacht  ist  das  Kennzeichen  des  religiösen 
Tuns  und  der  religiösen  Stimmung.    Religion  bezeichnet  im  menschlichen  Leben 
den  Festtag,  die  Befreiung  von  irdischer  Sorge  und  niederer  Not ;  darum  umgibt 
sie  sich  gern  mit  künstlerischem  Schmuck,  mit  heiterer  Pracht  und  Schönheit, 
bald  in  jubelnder  Frende,  bald  in  tiefer  Trauer  sich  bewegend.    In  aller  Feier 
hält  sich  die  feiernde  Gemeinschaff  den  Gott  gegenwärtig  vor  Augen  und  ver- 
setzt sich  in  seine  Geschichte  mitten  hinein,    um   das   göttliche   Leben   mitzu- 
leben  und  die  göttlichen  Geschicke  zu  teilen.     Eine  gemeinsame  Ueberzeugung 
hält  die  Menschen  zusammen;   das   entsprechende  Tun    ist   selbstverständlich; 
der  heilige  Wille  der  Götter,   ihre  Forderung  und  ihr  Gesetz  sind  bekannt  und 
unzweifelhaft  gewiss,    und  es  wäre  Frevel,   dagegen   zu  Verstössen.     Die  einen 
sind  in  der  Gemeinschaft  die  Leitenden  und  Wissenden;  sie  haben  von  allem, 
was  zur  Rehgion  gehört,  bestimmte,  ausdrückliche  Kenntnis  durch  Ueberlieferung 
von  alter  Zeit   her;    die    anderen,    die    Masse    der    Geleiteten    und    zu    Unter- 
weisenden, haben  kein  so  ausdrückliches  Wissen,   sondern  folgen  der  Autorität 
der  höher  Erleuchteten.     Alles,  was  den  Menschen   als  hoch  und  erhaben,   als 
wertvoll  und  überragend  gilt,  steht  unter  dem  Schulze  der  Götter  und  empfängt 
durch  göttliche  Bestätigung  eine  Macht  über  die  Gemüter;  die  Götter  schützen 
das  Recht  und  den  Staat,  die  Sprache  und  die  Nationalität,  die  Kultur  und  die 
Gesittung.    Das  Selbslbewusstsein  des  Volkes  von  seinem  Eigensten  verschmilzt 
aufs  innigste  mit  dem  Bewusstsein  von  den  Göttern  und  den  göttlichen  Geboten. 
So  haben  wir  denn  in  aller  Religion  diese  verschiedenen  Elemente:  1.  den 
Kultus  als  den  äusseren  Ausdruck  gemeinsamer  Goltesverehrung,  2.  das  Ethos 


542  Philosophischer  Sprechsaal. 

als  die  Anforderung  der  Götter  an  die  Willensäusserung  der  einzelnen  wie  an 
die  der  Gesamtheit,  und  endlich  3.  den  gemeinsamen  Kreis  von  Vorstellungen 
über  die  Götter,  über  ihr  Wesen,  ihr  Leben  und  ihr  Tun,  ihr  Verhältnis  zur 
Welt  und  zum  Menschen.  Diese  drei  Elemente  zusammenwirkend,  aus  einer 
Wurzel  fliessend  und  durch  gleiche  geistige  Bestimmtheit  zusammengehalten, 
bilden  das,  was  man  eine  Religion  nennt.  In  jeder  bestimmten  Religion  sind  sie 
eigentümlich  gestaltet ;  in  der  einen  Religionsform  ist  das  eine  dieser  Elemente, 
in  der  anderen  das  andere  mehr  ausgebildet ;  die  überwiegende  Macht  und  Herr- 
schaft ist  zwischen  ihnen  sehr  verschieden  verteilt :  aber  jede  Religion  hat  diese 
drei  Elemente  als  konstitutive  Merkmale  und  aus  ihrer  besonderen  Eigentüm- 
lichkeil fliesst  alles,  was  für  die  jedesmalige  Religionsform  charakteristisch  ist. 
Religion  ist  als  solche  gemeinsame  Gotlesverehrung.  Wo  scheinbar  viele 
Götter  verehrt  werden,  da  sind  auch  diese  vielen  Götter  nur  die  verschiedenen 
Gestalten,  in  denen  sich  das  eine  Göttliche,  das  dem  Bewusstsein  immer  gegen- 
wärtig bleibt,  den  Menschen  darstellt.  Mit  den  Göttern  ist  dann  auch  gegeben 
eine  höhere  jenseitige  Welt  über  der  realen  sinnlichen  Welt,  mag  auch  jenes 
Jenseitige  von  den  noch  ungeschulten  Gemütern  immer  noch  in  den  Formen 
der  Sinnlichkeit  aufgefasst  werden.  Eng  damit  verbunden  ist  ferner  die  Er- 
scheinung des  Göttlichen,  die  Theophanie,  die  Kundgebung  des  Göttlichen  als 
Offenbarung  und  Orakelspruch;  die  Betätigung  der  Götter  als  Wunder  zur 
Hilfe,  Rettung  und  Strafe  und  ihre  Gnadengegenwart  in  Trost,  Frieden  und 
Beseligung. 

Woher  die  Religion  stammt,  ist  nicht  eigentlich  unsere  Frage.  Diejenigen, 
die  immer  nur  an  das  Natürliche  und  Sinnliche  denken,  leiten  auch  die  Religion 
ab  aus  der  Furcht  des  natürlichen  sinnlichen  Menschen  vor  übermächtigen 
Naturgewalten,  die  ihn  bedrohen,  und  aus  der  Unwissenheit,  die  ihm  die 
wahren  Ursachen  und  Zusammenhänge  der  Dinge  verbirgt.  Aber  die  Unmög- 
lichkeit, daraus  die  wirkliche  Erscheimmg  der  Rehgion  zu  erklären,  liegt  auf 
der  Hand.  Der  Mensch  kann  anbeten  nur  das,  dem  er  sich  wesensverwandl 
fühlt;  das  dunkel  gefühlte  und  klar  gedachte  Ideal  eines  Wesens  ist  ihm  das 
Göttliche.  In  diesem  Sinne  ist  Anbeten  der  Adel  der  menschlichen  Natur,  und, 
dass  er  Götter  verehrt,  ist  der  Stempel  seiner  göttlichen  Bestimmung.  Damit 
ist  auch  der  Anfang  und  die  Entstehung  der  Religion  gegeben.  Nicht  alles  hat 
einen  Anfang;  es  gibt  auch  solches,  was  ewig  ist.  Die  Annahme,  der  Mensch 
habe  mit  kluger  Absicht  die  Religion  gemacht,  ist  widersinnig;  richtiger  wäre 
es  zu  sagen,  dass  die  Religion  den  Menschen  gemacht  hat.  Die  Religion,  auch 
noch  in  ihrer  verkümmertsten  Form  ist,  sofern  sie  Religion  ist,  Gottes  Mit- 
teilung an  den  Menschen,  und  nur,  was  daran  Wahn  und  Verkehrtheit  ist, 
stammt  vom  Menschen.  Die  gemeine  Manier,  die  niedersten  Formen  der  Re- 
ligion als  Zeugen  anzurufen,  um  die  Religion  als  solche  verdammen  zu  können, 
beweist  nur  den  niederen  Sinn  und  Unverstand  derer,  die  so  verfahren.  Viel- 
mehr, von  der  Betrachtung  der  höchsten  Form  muss  man  ausgehen,  um  die 
niederen  zu  verstehen.  Das  Christentum  als  die  absolute  Religion  beweist  uns 
worauf  die  Religion  von  je  angelegt  war,  und  wovon  die  niederen  Religions- 
formen abgefallen  sind. 

Die  konkrete  Form  also,   in   der   die  Religion  vollkommen  vorhanden  ist, 
ist  die  religiöse  Gemeinschaft.    Im  Christentum,  wo   die  Form   der  religiösen 


Philosophischer  Sprechsaal.  543 

Gemeinschaft  ihre  höchste  Ausbildung  gefunden  hat,  steht  sie  in  voller  Selbst- 
ständigkeit allen  anderen  Formen  der  menschlichen  Gemeinschaft,  auch  dem 
Staat  und  der,  wirtschaftlichen  Gesellschaft  gegenüber,  und  behauptet  ihre 
Eigenschaft.  Hier  hat  man  für  die  religiöse  Gemeinschaft  das  Wort  „Kirche'' 
geprägt.  Die  Sache  ist  somit  älter  als  der  Name.  Jede  Religion  ist  als  solche 
eine  Kirche.  Sie  ist  es  ausserhalb  des  Christentums  nur  in  unvollkommener 
Form.  In  dieser  irdischen  Welt  existiert  also  die  Religion  nur  in  der  Form 
der  Kirche,  und  es  gibt  keine  Religion  anders  als  in  kirchlicher  Form.  Mit  der 
Durchbildung  der  Kirche  als  der  Form  der  religiösen  Gemeinschaft,  wie  sie  das 
Christentum  vollzogen  hat,  ist  aber  weiter  auch  zweierlei,  was  in  den  niederen 
Religionen  nur  in  unentwickeltem  Zustande  vorhanden  war,  zur  Vollendung 
gereift :  die  Kirchenverfassung  und  die  Kirchenlehre.  Von  der  Kirchenverfassung 
bemerken  wir  hier  nur,  dass  in  der  Religion  Christi  die  Kirche  die  Aufgabe 
überkommen  hat,  bestimmte  äussere  Institutionen  auszubilden,  sich  Machtmittel 
und  Vermögen  zu  sichern  und  innere  rechtliche  Ordnungen  herzustellen.  Auch 
diese  Aufgabe  steht  im  Dienste  ihrer  höchsten  Zwecke.  Es  gilt,  ihren  Bestand 
als  selbständige  Maclit  inmitten  der  anderen  Träger  von  Macht  und  Autorität 
in  den  irdischen  Verhältnissen  aufrecht  zu  halten  und  unter  allen  Umständen 
ihre  segensreichen  Funktionen  an  den  wechselnden  Generationen  der  Mensch- 
heit mit  steigendem  Nachdruck  üben  zu  können.  Das  mag  an  dieser  Stelle 
über  diesen  Punkt  genügen.  Dagegen  haben  wir  eingehender  zu  handeln  über 
den  anderen  Funkt,  die  Kirchenlehre. 

II. 

Dass  zu  den  konstitutiven  Merkmalen  der  Religion  ein  Kreis  von  Vor- 
stellungen über  die  Götter,  über  den  Menschen,  die  Aussenwelt  und  ihre  gegen- 
seitigen Verhältnisse  gehört,  haben  wir  oben  gesehen.  In  der  Tat  ist  keine 
Religion  denkbar,  wo  sich  solch  ein  Kreis  von  Vorstellungen  nicht  fände.  Aber 
in  den  unvollkommenen  Rehgionen  bleibt  dieses  Element  der  Theorie  und  des 
Wissens  unentwickelt.  Man  kommt  über  den  sinnlichen  Ausdruck  in  konkreten 
Gestalten  und  Geschichten  nicht  hinaus:  man  bleibt  so  in  mehr  oder  minder 
sinniger,  mehr  oder  minder  phantasievoller  Mythologie  stecken  und  versucht  es 
gar  nicht,  zu  gesicherten  Begriffen  von  wissenschaftlicher  Art  zu  gelangen,  oder, 
wo,  wie  bei  den  Hellenen,  im  Zusammenhange  wissenschaftlicher  theoretischer 
Untersuchungen  auf  philosophischem  Gebiete  sich  auch  eine  Theorie  von  den 
göttlichen  Dingen  einstellt,  da  steht  sie  im  ausgesprochensten  Gegensalz  gegen 
den  in  der  Volksrehgion  herrschenden  Kreis  von  Vorstellungen  mythischer  Art 
und  sucht  sich  irgendwie  mit  ihr  abzufinden,  entweder  in  ausdrücklichem 
Kampf,  oder  durch  künstliche  Deutung  oder  durch  eine  Nachgiebigkeit  gegen 
das  Bedürfnis,  die  mit  irgend  etwas,  was  wie  Anerkennung  der  Wahrheit  aus- 
sähe, gar  keine  oder  nur  ganz  entfernte  Verwandtschaft  hat.  Sobald  die  reli- 
giöse Gemeinschaft  aus  unbestimmteren  und  zerflosseneren  Formen  sich  inner- 
lich fester  sammelnd,  äusserlich  entschiedener  abschliessend,  als  gesicherter  Bau 
eine  Kirche  aufrichtet,  nimmt  die  Sache  eine  ganz  andere  Wendung.  Zunächst 
hat  Christus  selbst  ihr  ein  absolut  festes  Gefüge  gegeben.  Man  erinnere  sich 
[i  an    seine  Worte,    in    denen    er   hinwies,    dass   er    die   Vervollkommnung,    die 

'^  Vollendung    des   mosaischen    Gesetzes    beabsichtige;    an   die    Bergpredigt,   das 

•'.;t  Fundament  religiösen  Lebens;    an   seine  Worte,    in   denen   er  sich  selbst  zum 


544  Philosophischer  Sp  rechsaal. 

Mittelpunkte  der  Beligion  setzte.  „Ich  und  der  Vater  sind  Eins",  „Ich  bin  der 
Weinstock,  ihr  seid  die  Reben",  „Wer  an  mich  glaubt,  der  wird  leben".  Die 
von  Christus  gestiftete  Religion  trat  in  eine  Welt  hoher  G«isteskultur,  deren 
Bedürfnis  eine  solche  Selbständigkeit  der  religiösen  Gemeinschaft  entsprach. 
Es  war  gezwungen,  sich  so  zu  verfassen,  weil  es  sich  der  ihm  feindseligen 
Macht  des  Staates  gegenüber  zu  behaupten  hatte.  Inmitten  eines  von  Wissen- 
schaft durchdrungenen  Geschlechtes,  dessen  religiöses  Sehnen  von  dem  Streben 
nach  wissenschaftlichen  Aufschlüssen  unabtrennbar  war,  nahm  das  Christen- 
tum notwendig  die  Form  einer  ausgebildeten  Lehre  an,  weil  diejenigen,  die  in 
festem  Glauben  sich  ihrem  Heiland  zuwandten,  wissenschaftlichen  Gedanken- 
ausdruck für  das  selbstverständliche  Erfordernis  jeder  Innerlichkeit  und  jeder 
Ueberzeugung  ansahen.  Schon  mit  den  Tagen  der  heiligen  Apostel  Paulus, 
Johannes,  Petrus,  Jakobus  beginnt  die  Richtung  auf  eine  ausdrückliche  christ- 
liche Lehre  wirksam  zu  werden.  Der  Einfluss  hellenischer  Philosophie  trieb 
auf  diesem  Wege  weiter.  Zu  Zwecken  der  Polemik  als  die  Angreifenden,  der 
Apologetik  als  die  Angegriffenen  bedienten  sich  die  hochgebildeten  Christen  der 
Waffen  der  Wissenschaft,  und  seit  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts 
gab  es  eine  eigentliche  christliche  Theologie  von  feinster  Durchbildung,  die  sich 
nun  nicht  mehr  im  Gegensatz  zu  der  Religion  der  Massen,  sondern  ausge- 
sprochener Weise  in  ihrem  Dienste  als  ihre  Stütze  und  Befestigung  eine  mass- 
gebende Stellung  in  den  Geistern  verschaffte. 

Somit  war  denn  weiter  ein  Moment  von  grosser  Wichtigkeit  gegeben.  Die 
Kirche  hatte  sich  behufs  ihres  eigenen  Bestandes  eine  Lehre  in  wissenschaft- 
licher Form  angegliedert,  die  zugleich  als  Hilfsmittel  zu  dienen  bestimmt  war, 
für  die  Erweckung  des  Glaubens  in  den  Herzen  der  Menschen  und  als  bewusster 
Ausdruck  für  den  heiligen  Inhalt,  an  dem  der  Glaube  festhielt.  Indem  die 
Kirche  so  das  ihr  Eigene  festlegte,  bezeichnete  sie  damit  zugleich  das,  was  sie 
als  ihr  fremdartig  und  zuwiderlaufend  von  sich  ausschloss.  Das  Bedürfnis  der 
Kirche,  sich  in  sich  zu  befestigen,  und  ihrer  von  Gott  verliehenen  Gaben  froh 
zu  werden,  erwies  sich  zugleich  als  die  Notwendigkeit,  das  Abweichende,  ihrem 
Geiste  und  der  göttlichen  Offenbarung  Widersprechende,  was  sich  in  ihrem 
Schosse  Bürgerrectit  zu  erwerben  suchte,  mit  Entschiedenheit  als  fremdartig  zu 
bezeichnen  und  abzuweisen.  So  ergab  sich  das  Streben,  die  religiöse  Lehre 
als  Grundlage  der  religiösen  Gemeinschaft  immer  genauer  festzustellen  und  an 
ihren  formulierten,  durch  kirchliche  Autorität  sanktionierten  Ausdruck  alle  die 
zu  binden,  die  innerhalb  der  Kirche  ein  Amt  der  Lehre  und  Seelsorge,  ein 
priesterliches  Amt  zu  führen  auserlesen  und  weiter  auch  alle  diejenigen,  die 
in  gläubiger  Einheit  mit  der  Kirche  zu  leben  und  zu  sterben  bestrebt  waren. 
Es  wurden  bestimmte  Sätze  als  kirchliche  Dogmen  festgestellt,  die  für  alle 
Lehre  und  Verkündigung  innerhalb  der  kirchlichen  Gemeinschaft  verbindlich 
waren,  und  Bekenntnisse  in  knappster  Form  verfasst,  die  den  Glaubensinhalt 
in  einer  allen,  auch  den  wissenschaftlich  minder  Gebildeten,  zugänglichen  Form 
ausdrückten  und  dem  allgemeinen  Gedächtnis  als  gemeinsames  Losungswort 
einprägten.  Erst  so  ausgerüstet,  mit  einer  wissenschaftlich  durchdachten  Theo- 
logie, mit  einem  in  strengem  Gedankenausdruck  das  Wesentliche  feststellenden 
Dogma  und  mit  für  alle  als  Erkenntnismittel  dienenden  Bekenntnissen  versehen, 
nimmt  das  Christentum  mit  vollem  Recht  für  sich  in  Anspruch,  der  Form  wie 


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Philosophischer  Sprechsaal.  545 

dem  Inhalte  nach,  die  absolute  Religion  zu  sein  und  die  Verheissung  des  von 
seiner  irdischen  Laufbahn  scheidenden  Herrn  zur  vollen  Erfüllung  gebracht 
zu  haben,  dass  der  heilige  Geist  sie  in  volle  Wahrheit  führen  werde. 

Dieses  ist  der  Punkt,  an  dem  der  Widerspruch  gegen  die  Kirche  am  häufig- 
sten und  am  leidenschaftlichsten  einsetzt.  Auch  wenn  man  den  Kultus  und 
das  Ethos,  die  anderen  beiden  wichtigsten  Attribute  der  Kirche,  gelten  zu  lassen 
sich  mehr  oder  minder  willig  herbeilässt :  mit  der  Kirchenlehre  vermögen  solche, 
die  sich  für  freie  Geister  ausgeben  möchten,  am  wenigsten  sich  einverstanden 
zu  erklären.  Wozu  denn  auch  eine  solche  bestimmte  Lehre?  Ginge  es  nicht 
viel  besser  ohne  sie  und  ihren  Zwang  auf  die  Gemüter  und  die  Gedanken  der 
Menschen?  Wäre  nicht  eine  Kirche  ohne  Dogmen  und  ohne  formulierte  Be- 
kenntnisse, wo  jeder  über  die  heiligen  Dinge  denken  darf,  wie  er  mag,  das 
eigentliche  Ideal  von  Religion?  Würden  damit  nicht  alle  die  schmerzlichen 
Konflikte,  in  die  das  feststehende  Dogma  mit  der  zeitlich  fortschreitenden 
Wissenschaft  notwendig  geraten  muss,  auf  die  einfachste  Weise  der  Lösung 
entgegengeführt?  In  früheren  Zeiten,  wo  noch  der  Irrtum  und  die  Unwissenheit 
auf  Erden  herrschten,  da  war  es  noch  eher  möglich,  den  Gläubigen  eine  be- 
stimmte Lehre  mit  der  Autorität  der  Kirche  aufzudrängen.  Aber  heute,  wo  die 
Wissenschaft,  insbesondere  die  Naturwissenschaft,  und  die  historische  Kritik  so 
grosse  Entwicklung  gebracht  hat,  dass  nunmehr  alles  Dunkel  verscheucht  und 
alle  Geheimnisse  aufgehellt  sind,  da  ist  die  kirchliche  Lehre  nicht  einmal  für 
die  ungebildeten  grossen  Massen  noch  geniessbar  oder  glaubwürdig.  Zudem, 
die  Religion  hat  ja  mit  Erkenntnis  und  Verstand  gar  nichts  zu  schaffen.  Ihr 
Reich  liegt  in  den  Gefühlen  und  Ahnungen,  nicht  in  Begriffen  und  Grund- 
sätzen. Ja,  bei  neueren  Schriftstellern  kann  man  so  wundersame  Sätze  lesen, 
wie  den:  dass  Religion  und  theoretisches  Erkennen  entgegengesetzte  Geistes- 
tätigkeiten sind,  oder  dass  Religion  praktisches  Gesetz  des  menschlichen  Geistes 
ist  ohne  alle  Berührung  mit  dem  Intellekt,  Sätze,  mit  denen  als  selbstverständ- 
lich hingestellt  wird,  dass  der  Intellekt  in  jedem  Sinne  dem  religiösen  Gebiete 
völlig  fern  bleiben  muss. 

Die  vollkommene  Verkehrtheit  solcher  Gedankengänge  nachzuweisen,  be- 
darf es  keiner  grossen  Anstrengung.  Dass  uns  erfahrungsmässig  in  jeder 
Religion  Anschauungen  und  Vorstellungen  begegnen  über  göttliche  und  mensch- 
liche Dinge,  haben  wir  schon  oben  bemerkt.  Aber  was  ist  das  für  eine  kind- 
liche oder  barbarische  Ansicht  vom  menschlichen  Geiste,  als  lasse  sich  der 
Anteil  des  Intellekts,  des  Nachdenkens  und  der  Erkenntnis  von  irgend  einem 
Gebiete  menschlicher  Geistestätigkeit  geradezu  ausschliessen !  Der  menschliche 
Geist  ist  doch  nicht  mit  einem  Möbel  zu  vergleichen,  in  dessen  einer  Schublade 
der  Wille  und  das  Begehren,  in  der  anderen  das  Gefühl  und  der  Affekt,  in  einer 
dritten  der  Verstand  und  die  Reflexion  stecken!  Vielmehr,  der  Geist  ist  einer 
und  als  einer  betätigt  er  sich  in  jeder  seiner  Funktionen;  nur  nach  dem  Ueber- 
wiegen  der  einen  oder  der  anderen  Richtung,  die  sie  innehält,  unterscheidet 
m.an  die  Arten  seiner  Betätigung.  Wo  der  Geist  tätig  ist,  da  ist  er  auch  als 
Intellekt  tätig,  welche  anderen  Richtungen  seiner  Vermögen  dabei  auch  mit- 
wiüken.  Und  nun  gar  in  der  Religion,  die  mehr  als  irgend  etwas  anderes  den 
ganzen  Menschen  in  aller  Fülle  seines  Wesens  und  seiner  Erscheinungsformen 
in   Anspruch   nimmt,  —   da   sollte   diese   eine   Grundfunktion   seines  Wesens 


546  Philosophischer   Sprechsaal. 

ausser  Tätigkeit  gesetzt  werden  können?  Niemand  kann  Gott  verehren,  ohne 
ein  Wissen,  was  er  sich  unter  Gott  vorzustellen  hat,  oder  Gott  um  etwas  an- 
flehen, ohne  dass  er  zu  Gottes  Güte  und  zu  seiner  Macht  sich  irgendwie  ein 
Herz  fassen  könnte.  Die  sittlichen  Gebote,  die  die  Kirche  vorschreibt  als  durch 
Gottes  Willen  geboten,  müssen  nicht  allein  dem  Gläubigen,  der  sie  üben  soll, 
bekannt  sein,  sondern  er  muss  auch  irgendwie  ihren  Sinn  und  Zusammenhang, 
ihren  Zweck  und  ihre  Begründung  einsehen,  wenn  er  mit  seiner  Innerlichkeit 
dabei  beteiligt  sein  soll.  Der  heilige  Vorgang,  die  geweihte  Handlung,  kann 
nicht  Andacht  und  Sammlung  wecken,  wenn  der  Betrachtende  sich  nicht  seine 
Gedanken  macht  über  die  hohe  Bedeutung  und  den  ernsten  Zweck  dessen, 
was  er  beobachtet.  Irgend  welche  Gedanken  macht  sich  jeder  Mensch  bei 
allem,  woran  er  beteiligt  ist,  und  irgendwie  ist  sein  Verstand  dabei  mittätig. 
Hat  er  nicht  die  rechten  Gedanken,  so  hat  er  falsche,  und  ist  sein  Verstand 
nicht  erleuchtet,  so  ist  er  dumpf  und  niedrig ;  aber  ausschalten  lässt  sich  Ge- 
danke und  Verstand  auf  keine  Weise.  Kein  Gefühl  und  keine  Stimmung  lässt 
sich  in  dieser  Weise  isolieren,  kein  Begehren  und  keine  Willensregung;  ein 
Denken,  eine  Vorstellung,  eine  Ansicht  und  eine  Meinung  vom  Gegenstande  ist 
immer  dabei  mit  im  Spiele.  Es  beweist  eine  völlige  Verkennung  der  mensch- 
lichen Natur,  wenn  man  den  Intellekt  von  irgend  einer  menschlichen  Be- 
tätigung und  nun  gar  von  der  religiösen  ausschliessen  will,  die  alle  Kräfte  des 
menschlichen  Herzens  und  Geistes  in  Anspruch  nimmt. 

Darum  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache,  dass  religiöse  Erziehung  in  reli- 
giöser Unterweisung  wurzelt  und  die  Anleitung  zu  rechter  Andacht  zugleich 
eine  Anleitung  zu  rechtem  Denken  ist.  Die  Kirche  hat  ihre  Lehre  ausgebildet 
nicht  in  einseitig  doktrinärem  Interesse,  sondern  in  rechter  Erwägung  der  An- 
forderungen der  Wirklichkeit  auf  Grund  der  reichhaltigsten  Erfahrung  über  das 
Bedürfnis  des  Menschenherzens  wie  über  die  Bedingungen  für  den  Bestand  der 
kirchlichen  Gemeinschaft.  So  ist  die  Kirchenlehre  eine  heilige  Sache,  ein  un- 
abtrennbares Attribut  der  kirchlichen  Lebensbetätigung  und  ein  nie  hoch  genug 
zu  preisendes  Mittel  der  kirchlichen  Wirksamkeit  für  das  Kommen  des  Reiches 
Gottes  und  für  die  Heiligung  seines  Namens. 

Aber,  wendet  man  ein,  die  Kirchenlehre  ist  vor  Jahrhunderten  festr;estellt 
und  die  Wissenschaft  hat  seitdem  so  grosse  Fortschritte  gemacht,  dass  die 
Kirchenlehre  nunmehr  veraltet  ist.  Hier  begegnet  uns  regelmässig  eine  merk- 
würdige Erscheinung.  Es  ist  ein  sonderbarer  Irrtum,  der  sich  bei  den  Menschen 
immer  wieder  erneuert,  dass  jedes  Geschlecht  die  Einsichten,  die  gerade  jetzt 
die  neuesten  sind,  auch  für  die  abschliessenden  hält  und  dem,  was  man  heute 
für  das  Richtige  hält,  ewige  Gültigkeit  zuschreibt.  Zwar  hat  man  fortwährend 
das  Schauspiel  vor  Augen,  dass  in  weltlichen  Dingen  die  Ansieht,  die  vor 
einem  Jahrzehnt  die  allgemeine  war,  heute  von  allen  aufgegeben  ist,  und  dass 
das  Lehrbuch,  das  der  vorigen  Generation  als  das  massgebende  diente,  heute 
unbrauchbar  ist.  Aber  es  gibt  sehr  wenig  Menschen,  die  sich  das  zu  Herzen 
nehmen  und  aus  diesem  Grunde  der  allerneuesten  Theorie  einen  gewissen 
Zweifel  entgegenbringen.  Die  Hypothesen  der  Naturwissenschaft  wechseln;  neu 
gefundene  Tatsachen  und  gründlichere  Ueberlegung  zerstören  sie  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit.  Die  Anschauungen  der  Historiker  über  die  Ereignisse  der 
Vergangenheit,  ihren  Zusammenhang  und  ihre  Bedeutung  wechseln ;  dieselben 
Personen,  ihre  Charaktere  und  ihre  Handlungsweisen  werden  zu  verschiedenen 
Zeiten  unter  ganz  verschiedene  Gesichtspunkte   gestellt   und   ganz  verschieden 


Philosophischer  Sprechsaai.  547 

beurteilt.  Gewiss,  die  Wissenschaft  schreitet  fort ;  d.h.  sie  wechselt  fortwährend 
ihre  Ansichten,  und  ist  dazu  gezwungen  dadurch  am  meisten,  dass  ihr  fort- 
während neues  Material  an  Talsachen  zuwächst,  das  den  Sachen  und  den 
Menschen  ein  ganz  verändertes  Ansehen  verleiht.  Es  wäre  die  vollkommenste 
Torheit,  wollte  man  das  nur  von  der  Wissenschaft  vergangener  Zeilen  gelten 
lassen,  aber  von  der  Wissenschaft  der  Gegenwart  leugnen.  Die  gegenwärtig 
herrschenden  wissenschaftlichen  Theorien  sind  in  dieser  Beziehung  nicht  besser 
daran  als  die  aus  früherer  Zeit,  sondern  schlechter,  ganz  einfach,  weil  sich 
jetzt  die  Zeiten  lebhafter  und  schneller  umroUen  als  jemals  zuvor,  wegen  der 
besseren  Mittel  des  Transports,  des  allgemeineren  und  lebhafteren  Verkehrs 
zwischen  den  Weltteilen  und  der  so  sehr  gesteigerten  Berührung  zwischen  den 
verschiedenen  Abteilungen  der  Menschheit.  Allen  Respekt  vor  der  Wissenschaft 
vorbehalten:  aber  je  entschiedener  sie  ihre  Sätze  ausdrückt,  desto  grösseres 
Misstrauen  ist  geboten.  Die  heute  herrschenden  Anschauungen  werden  nicht 
dauern,  sondern  vorübergehen  und  anderen  Platz  machen,  und  der  Widerspruch, 
der  in  ihrem  Namen  gegen  die  Kirchenlehre  erhoben  wird,  ist  von  keiner 
ernsthafteren  Bedeutung,  als  der  Ansturm  des  wechselnden  Windes  gegen  den 
unerschütterlichen  Felsen. 

Höchst  sonderbar  ist  es,  wenn  man  dabei  das  Recht  gerade  des  modernen 
Geistes  gegenüber  den  uralten  kirchlichen  Ueberlieferungen  mit  ganz  besonderem 
Nachdruck  hervorhebt.  Man  braucht  ja  nur  näher  nachzusehen,  um  zu  linden, 
dass  es  mit  dieser  angeblichen  Modernität  in  Wirklichkeit  gar  nicht  weit  her 
ist.  Was  sich  als  das  Modernste  gibt,  das  erweist  sich  bei  .  genauerer  Be- 
trachtung als  eine  Sammlung  von  uralten,  längst  abgetanenen  und  immer  wieder 
mit  einem  neuen  Anstrich  versehenen  Ladenhütern,  die  aus  dem  Lager  der 
Naturalisten,  Materialisten  und  Sensualisten  stammen.  In  der  Tat  bringt  der 
natürliche  Verstand,  der  sich  gegen  die  Lehren  der  Kirche  aufbäumt,  nichts 
wirklich  Neues  hervor.  Vom  ersten  Tage  an  hat  die  Kirche  sich  gegen  eben 
diese  Irrtümer  zu  wehren  gehabt,  die  jetzt  umlaufen,  teilweise  mit  neuem  Namen 
oder  neuer  Verbrämung,  als  Monismus,  Pantheismus,  Skeptizismus,  Positivismus, 
Agnostizismus.  Es  ist  immer  derselbe  profane  Verstand  und  dasselbe  gott- 
entfremdete, alles  Ewige  leugnen  wollende  Herz,  das  gegen  die  Lehre  der  Kirche 
seine  bessere  Einsicht  in  die  Wagschale  wirft.  Genau  so  modern  wie  die 
gegenwärtige,  ist  jede  frühere  Zeit  auch  gewesen.  —  Nicht  einmal  zu  einer 
neuen  Ketzerei  reicht  die  Produktivität  dieser  Heutigen  hin.  In  Wahrheit  sind 
es  alte  Irrtümer,  die  unter  dem  Namen  der  Modernen  gegen  die  alte  Wahrheit 
ins  Feld  ziehen,  und  wie  sie  vormals  unterlegen  sind,  so  werden  sie  auch  jetzt 
abgetan  werden.  Denn  die  Wahrheit  bleibt  doch  schliesslich  die  Siegerin  über 
all  ihre  Feinde. 

Es  gibt  eben  ewige  Wahrheit,  wenn  es  auch  so  viele  verkennen  und  leug- 
nen, und  diese  steht  in  ausgesprochenem  Gegensatze  zu  der  wechselnden  Tages- 
gesinnung und  zu  den  vergänglichen  Theorien.  Von  der  Mathematik  wagt  es 
niemand  zu  bestreiten,  dass  sie  ewige  Wahrheit  enthält,  die  der  zufälligen 
Meinung  völlig  entrückt  ist.  Leider  aber  ist  diese  Wahrheit  rein  formell  und 
abstrakt  und  bietet  dem  auf  das  Ewige  gerichteten  Verlangen  des  Herzens  nichts. 
In  der  Mathematik  ist  kein  Trost  zu  holen  und  kerne  Hoffnung  für  Leben  und 
Sterben  und  für  die  wechselnden  Geschicke  hier  auf  Erden.  Aber  auch  das 
inhaltsvolle  Ewige,  das  Herz  und  Seele  Labende,  den  Geist  über  alle  Not  und 
allen  Jammer  des  Irdischen  Erhebende  lebt;  es  ist  vorhanden,  mitten  unter 
uns,  als  die  göttliche  Offenbarung,  wie  sie  der  Kirche  anvertraut  ist,  als  die 
Gottesgedanken  mit  dem  Gepräge  der  Ewigkeit,  mit  denen  der  heilige  Geist  sich 
in   dieser   irdischen  Menschheit   gegenwärtig    erweist,    um    sie   zu   trösten,    zu 


I 
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548  Philosophischer  Sprechsaal. 

sammeln  und  zu  erleuchten.  Diese  Ewigkeitsgedanken  als  der  Schatz  der  Kirche 
sind  die  Gedanken,  die  die  Geschicke  der  Menschheit  von  Anfang  an  geleitet 
haben  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Von  diesem  Gedanken  getragen  sind  die 
Geschlechter  der  Menschheit  auf  Erden  gewandelt  und  dahingegangen  in  das 
Reich  der  Ewigkeit;  im  Lichte  dieser  Gedanken  haben  sie  auf  Erden  ihren 
Beruf  erfüllt  und  die  Hoffnung  auf  den  ewigen  Frieden  im  Jenseits  in  ihrem 
Herzen  festgehalten.  Diese  Gedanken  haben  den  besten  Teil  der  Menschheit 
bisher  geleitet  und  werden  auch  ferner  ihre  Ewigkeitsmacht  behaupten.  Die 
Meinungen  und  Theorien  der  modernen  Zeit  werden  ihnen  ebensowenig  an- 
haben können,  wie  die  aller  vergangenen  Zeiten. 

Die  grossen  Geheimnisse  des  Daseins  sind  Geheimnisse  gebheben  trotz 
allen  Glanzes  der  modernen  Aufklärung.  Das  tiefe  Dunkel,  das  auf  allem 
Leben  und  Sterben,  Entslehen  und  Vergehen,  auf  allem  Gewinnen  und  Verlieren, 
Jubeln  und  Klagen  ruht,  ist  durch  keine  Wissenschaft  gelichtet  oder  zu  lichten. 
Es  ist  nicht  der  wertlosere  oder  minder  erleuchtete  Teil  der  Menschheit,  den 
diese  Geheimnisse  beunruhigen,  dieses  Dunkel  ängstigt.  Es  sind  doch  wohl 
die  tiefer  angelegten  Gemüter,  die  idealer  gerichteten,  die  in  den  göttlichen 
Offenbarungen,  wie  sie  in  der  Kirchenlehre  formuliert  sind,  Antworten  auf  ihre 
Fragen,  Heilung  für  ihre  Aengste,  Tröstung  in  ihren  Leiden  suchen.  Die  Heil- 
anstalt der  Kirche  übt  ihre  beseligende  Wirkung  mit  vielen  und  reichen  Mitteln; 
unter  diesen  Mitteln  ist  die  Kirchenlehre  doch  vielleicht  das  mächtigste.  Durch 
diese  Lehre  wird  das  Kind  vorbereitet,  die  grossen  Mysterien  des  Daseins  als 
solche  ins  Herz  zu  schliessen  und  von  dem  Irdischen  hinweg  sich  seinem 
Gott  zuzuwenden,  wird  Jüngling  und  Mann,  Jungfrau  und  Weib,  in  lebendigem 
Glauben  befestigt  und  bei  allem,  was  gut  und  fromm  und  heilig  ist  festgehalten, 
und  Greis  und  Greisin  segnen  spät  die  frühe  Stunde,  wo  ihnen  die  Geistesaugen 
für  das  Verständnis  der  göttlichen  Geheimnisse  sind  geöffnet  worden.  Von  der 
Kirche  ist  die  Kirchenlehre  ein  unabtrennbares  Attribut.  Solange  die  Kirche 
die  Stätte  des  Trostes  und  die  Quelle  des  Heils  bleibt  für  alle,  die  in  diese 
Welt  hineingeboren  werden,  solange  wird  die  Kirchenlehre  fortfahren  zu  be- 
stehen und  ihre  segensreichen  Funktionen  zu  üben. 

Die  moderne  Wissenschaft  von  heute,  wie  die  der  Zukunft,  wird  also  gut 
tun,  sich  auf  diese  Tatsache  einzurichten  und  mit  ihr  auszusöhnen.  Im 
Kampfe  mit  der  Kirche  wird  die  Wissenschaft  ihre  Triumphe  nicht  erringen ; 
das  gilt  für  alle  Zukunft,  wie  es  für  alle  Vergangenheit  gegolten  hat.  Aber 
im  Bündnis  mit  der  Kirche  und  im  Dienste  der  Kirche  kann  die  Wissenschaft 
Grosstaten  verrichten.  Denn  die  Kirche  ist  der  Menschen  wegen  auf  die  Wissen- 
schaft angewiesen  und  bedarf  ihrer  Unterstützung.  Wissenschaftliche  Untersuchung 
versieht  sie  mit  neuen  Hilfsmitteln  der  Erkenntnis  und  Verkündigung.  Wissen- 
schaft hilft  ihr,  die  von  Gott  ihr  anvertrauten  Schätze  richtiger  zu  verstehen 
und  besser  zu  würdigen,  ihr  Werk  an  den  Seelen  nach  besseren  Methoden 
zu  treiben  und  ihre  Einrichtungen  in  dieser  irdischen  Existenz  innerhalb  der 
weltlichen  Mächte  stets  zweckmässiger  fortzubilden.  Die  Mittel  des  Beweises 
und  der  Verteidigung,  der  Abwehr  gegen  die  Feinde  der  Kirche  werden  durch 
Wissenschaft  verstärkt  und  vertieft.  Eine  von  Gottes  Geist  durchwaltete 
Wissenschaft  ist  somit  ein  Lebenselement  für  die  Kirche.  Wissenschaft  und 
Kirche  können  und  sollen  in  engem  Bündnis  zusammenstehen  für  die  obersten 
Zwecke.  Das  ist  Gottes  Ordnung  und  Gebo!,  und,  dass  auch  darin  Gottes  Wille 
geschehe,  dafür  sollten  alle  Gutgesinnten  zusammenwirken. 


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Philosophisches  Jahrbuch 


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