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Philosophisches Jahrbuch.
Jahrgang 1913.
PMlosopMsches Jahrbuch.
Auf Veranlassung und mit Unterstützung
der
Görres-Gesellscliaft
unter Mitwirkung- von
Dr. Jos. Pohle, Dr. Chr. Schreiber,
o. ö. Prof. an der Universität ^"^^ Prof. an der phiios.-theol. Lehranstalt
zu Breslau
zu Fulda
herausg-eg^eben von
Dr. Const. Gutberiet,
Professoi an der philos.-theologischen Lehranstalt in Fulda.
26. Band.
Fulda 1913.
Druck und Kommissions - Verlag der Fuldaer Actiendruckerei.
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5
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"7 b
Inhalt des Philosophischen Jahrbuches.
26. Jahrgang. 1913.
I. Abhandlungen. Seite
1. Demuth, M., Friedrich Nietzscht^s Erkenntnistheorie . . 451 — 485
2. Endres, J. A., Studien zur Geschichte der Frühscholastik.
Die Dialektik im 11. Jahrh. — Anselm der Peripatetiker . 85-93
3. — , Berengar von Tours lüO-169
4. — , Gerard von Czanäd ; . . . 349-359
5. Ettlinger, M., Der Anpassungscbarakfer der spezifischen
Sinnesenergien im Lichte der vergleichenden Psychologie 44—67
6. F eulin g, D., Zur Psychologie des Zweifels 336-348
7. Gemelli, A., Die Realisierung 360-379
8. Grünholz, E., Eine kritische Untersuchung über das Denken
im Anschluss an die ['cilosophie Wilhelm Wundts ... 305 — 327
9. Gut beriet, C, Der Streit um die Relativitätstheorie . . 328 — 335
10. — , Differenzielle Psychologie 1 — 21
11. — , Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz 421 — 450
12. Kopp, Gl, Die erste kathohsche Kritik an Kants Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten 170—177
13. Rolfe s, E., Zu dem Gottesbew^eise des IjI. Tnomas aus den
Stufen der Vollkommenheit 146 — 159
14. Rüster, H., Zum philosophischen Schaffen G. v. Hertlings 495 — 502
15. Rutz, 0., Die Seele als formgestaltende Kraft .... 68—84
16. Schmitfranz, P., Die Gestalt der platoniscnen Ideenlehre
in den Dialogen „Parmenides" und „Sophistes" .... 125 — 145
17. Sladeczck, Fr. M., Kants Lehre vom Bewusstsein . . 486—494
18. Switalski, W., Vaibingers „Philosophie des Als Ob" . 22-43
II. Rezensionen und Referate.
1. Annales de l'Institut Superieur de Philosophie de l'Universite
de Louvain (Tome II) (Chr. Schreiber) 514 — 519
2. Baur, L., Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste,
Bischofs von Lincoln (M. Wittmann) 196-198
3. Baeumker, Fr., Die Lehre Anselms von Canlerbury über
den Willen und seine Wahlfreiheit (M. Wittmann) . . . 195 f.
4. Christiansen, Br., Von der Seele. L Teil: Von der Seele
(C. Gutberiet) 188—192
5. Donat, J., Summa Philosophiae Christianae. IV. Cosmo-
logia (Chr. Schreiber) 503
6. Dreiling, R., Der Konzeptualismus m der Universalienlehre
des Franziskanererzbischofs Petrus Aureoli (P. Minges) . 510 — 512
7. Emmel, Wundts Stellung zum relig. Problem (R. Stolz le) 105
VI
Seite
8. Fidler, Fr., Vom Zuge der Menschheit, I. Teil. Die lo-
gische Konstruktion des Hauptproblems der Metaphysik
(C. Gutberiet) 182-186
9. Geijer, R., Die Situation auf dem psychologischen Arbeits-
felde (C. Gutberiet) 386—390
10. Gemelli, A., Ernesto Haeckel, e A. Brass, Le falsificazioni
di Ernesto Haeckel (Chr. Schreiber) 103
11. -, Piccola biblioteca scientiüca della „Rivista di Filosofia
Neo-Scolastica", 1.-3. Heft (Chr. Schreiber) .... 101 f.
12. Gossler, W. v.. Die analytische und .synoptische Begriffs-
bildung bei Sokrates, Piaton und Aristoteles (M. Meier) . 506
13. Grabmann, M., Thomas von Aquin (Reifes) . . . . 391 f.
14 Gründer, H., De ({ualitatibus sensibilibus (P. Bernhard) 179 f.
15. Heussner, A., Die philosophischen Weltanschauungen und
ihre Hauptvertreter, 2. Aufl. (R. Stölzl e) 187 f.
16. Jäger, W , Studien zur Entstehungsgeschichte der Meta-
physik des Aristoteles (G. Wunderle) 107—110
17. Kaufmann, H., Die Unsterblichkeitsbeweise in der kathol.
Literatur (R. Stölzle) , . 106
18. Klimke, Fr., Der Monismus und seine philosophischen
Grundlagen (J. Pohle) 380-385
19. — , Monistische Einheitsbestrebungen und katholische Welt-
anschauung (G. Gut beriet) 96 f.
20. Knauth, A., Die Naturphilosophie Joh. Reinkes und ihre
Gegner (R. Stölzle) 188
21. Koch, E., Was ist die Ursache der Bewegung, der Kraft,
des Lebens? Woraus besteht die Welt? Gibt es eine ewige
Wahrheit? (C. Gutberiet) 384—386
22. Krebs, E. , Theologie und Wissenschaft nach der Lehre
der Hoch-scholastik (Geyer) 395—399
23. Külpe. 0., Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft (R.
Stölzle) 181
24. Lehmen, A., Theodicee, 3. Aufl. (Chr. Schreiber) . . 104
25. Meier, M., Die Lehre des Thomas vonA(|uino De passionibus
animae in (juellenanalylischer Darstellung (G. Wund er le) 508 — 510
26. Needon, P»., Die Leetionum praxis des Magisters Johannes
Theill (1. Beihelt) iK. A. Leimbach) HO
27. Ostler, H., Die Realität der Aussenwelt (W. Switalski) 178 f.
28. Pesch, H., Lehrbuch der Nationalökonomie (C. Gutberiet) 512 f.
29. Potempa, V., Der Phaidros in der Entwicklung der Ethik
und der Reformgedanken Piatons (Rolf es) 390 — 392
30. Reiner, J., Philosophisches Wörterbuch (R. Stölzle) . 112
31. Richarz, F, M. Deutinger als Erkenntnistheoreliker (R.
Stölzle) 105 f.
32. Rohner, A., Das Schöpfungsproblem bei Moses Maimonides,
Albertus Magnus und Thomas von Aquin (C. Gutberiet) 507 f.
33. Sattel, Begriff und Ursprung der Naturgesetze (R. Stölzle) 104 f.
34.' Schneider, A., Die philosophischen Grundlagen der mo-
nistischen Weltanschauungen (S. Aicher") . . . 187
VII
Seite
35. Schneider, W., Der neuere Geisterglaube (Chr. Schreiber) 504 f.
36. Stauden niaier, L., Die Magie als experimentelle Natur-
wissenschaft (G. Gutberiet) 97 — 101
37. Steinbüchel, Th., Der Zweekgedanke in der Philosophie
des Thomas von Aquino (N. Kaufmann) 393—395
38. Thomin, E., Weltordnung und Bittgebet (J. Koch) . . 399—401
39. Vaissiere, de la, J., Elements de psychologie experimentale
(J. Fröbes) 192—195
40. Verworn, M. , Kausale und konditionale Weltanschauung
(R. Stölzle) 94-96
41. Vogt, P., Die Gesichtswahrnehmung nach ihren psycho-
physischen Bestandteilen (P. Bernhard) . . . . . . 180 f.
42. Willmann, 0., Aus der Werkstatt der philosophia perennis
(R. Stölzle) 199 f.
43. Wun d er le, Die Naturphilosophie R. Euckens (R. Stölzle)
44. Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts
I. Jahrg. Erstes Beiheft : Die Lectionum praxis des Magisters
Johannes Theill. Zweites Beiheft : Historisch-pädagogischer
Literatur-Bericht über das Jahr 1910 (K. A. Leimbach) 110—113
in. Zeitsclii'iftenschau.
1. Annales de philosophie chretienne 412 — 414
2. Archiv für die gesamte Psychologie 113—115, 20Ö— 206,
402—405, 520—524
3. Archiv für systematische Philosophie 211 — 215
4. Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie . . 527—529
5. Revue philosophique 415 — 417
6. Revue Neo-Scolastique 119 f.
7. Rivista di Filosofia 221 — 224, 414 f.
8. Rivista di Filosofia Neo-Scolastica 215—221, 524 f.
9. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Soziologie 525 — 527
10. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 117 f., 410-412
11. Zeitschrift für Psychologie ■ . . . 115—117, 206—211,405-410
IV. Novitätenschau des Jahres 1911.
L Allgemeines.
A. Lehrbücher der Philosophie 225—227
B. Philosophische Zeitschriften 227—233
C. Sammelwerke und einzelne Schriften berühmter
Philosophen 233—239
D. Philosophische Schriften vermischten Inhalts . . . 239 — 250
II. Logik und Erkenntnistheorie.
A. Lehrbücher 250 f.
B. Beiträge zur Logik und Erkenntnistheorie .... 251 — 254
S7
VJlI
Seite
III. Psychologie.
A. Lehrbücher 254—25
B. Beiträge zur empirischen Psychologie ...... 257 — 263
C. Beiträge zur rationellen Psychologie 263 f.
IV. Naturphilosophie und Anthropologie . . . . 264—268
V. Theodicee 268 f.
VI. Allgemeine Metaphysik und Ontologie . . . 269
VII. Ethik, Natur- und Völkerrecht; Sozial- und
Rechtsphilosophie. ;
A. Lehrbücher und allgemeine Darstellungen .... 269 — 271
B. Beiträge zur Ethik 271—274 ,
C. Beiträge zur Gesellschaftslehre und zum Völkerrecht 274 — 276 j
Vlll. Aesthetik und Theorie der schönen Künste . . 276—278 j
IX. Religionswissenschaft.
A. Religionsphilosophie 278 — 281 |
B. Vergleichende Religionsgeschichte ■• . 281 — 283
X. Geschichte der Philosophie.
A. Lehrbücher und allgemeine Darstellungen .... 283 Jt.
B. Beiträge:
a) Zur antik -heidnischen Philosophie 284 — 286
b) Zur mittelalterlichen Philosophie 286 ,
c) Zur neueren Philosophie 287 f.
d) Zur neuesten Philosophie 288 — 293
V. Miszellen und Nachrichten.
1. Die Funktion der Zirbeldrüse 121 f.
2. Die Kathoden- und Kanalstrahlen 530—534
3. Die Wandlung im philosophischen Denken Gahleo Galileis 534 — 537
4. Eine Metaphysik der Entwicklung 296 — 298
5. Eine neue Energetik 123 f.
6. Eine neue philosophische Zeitschrift „für positivistische
Philosophie" 419 f.
7. Eine neue Theorie der Erlösung 119 — 121
8. Grundlagen einer organischen Weltanschauung .... 298 f.
9. Max Stirner redivivus 294—296
10. Neueres über den Hautsinn 418 f.
1 1 . Ueber die Funktion der Punktaugen der Insekten . . . 122 t.
VI. Philosophischer Sprechsaal.
1. A. Gemelli, Eine neue Richtung in der scholastischen
Philosophie . . .• 300—304
2. E. Thiel, Religion und religiöse Lehre 538—548
c
I.
Philosopt JahrbucI] der Görr es - Gesellscliaft.
26. Band. 1. Heft.
DiÄerenzielie Psychologie.
Von Prof. Dr. C. Gutberiet in Fulda.
Was will diese neue Wissenschaft?
Die differenzielle oder spezielle Psychologie ist nicht etwas
ganz Neues. Die „Charakterologie" hat schon im griechischen Alter-
tum ihre Vertreter gefunden (die Temperamentenlehre des Galen,
die Charaktere von Theophrast) und ist seitdem nicht ganz ausge-
storben. Selbst Kant gibt in seiner Anthropologie eine „anthropo-
logische Charakteristik" von der Person, dem Geschlecht, dem Volke,
der Gattung. Den Namen Charakterologie hat zuerst Bahnsen im
vorigen Jahrhundert angewandt, in neuester Zeit ist die ditTerenzielle
Psychologie unter dieser Benennung von den Franzosen gepflegt
worden. Von ihnen ist das Wort „Charakterologie" für differenzielle
Psychologie geprägt worden.
Von der differenziellen Psychologie, wie sie nun jetzt betrieben
wird, unterscheidet sich die alte Charakterschilderung durch den
wenig methodischen Betrieb. Es sind zufälhge Beobachtungen, ver-
bunden mit philosophischen Ideen, welche sie zugrunde legt, während
unsere Wissenschaft exakte Empirie verlangt, die Methoden der ex-
perimentellen Psychologie der Forschung akkommodiert. Freilich den
Charakter des Menschen festzustellen, hat auch dieser experimentelle
Betrieb noch nicht vermocht, dazu sind die erzielten Resultate noch
ungenügend, und man wird die alte Charakterologie überhaupt nicht
gut entbehren können. So werden z. B. die „Grossen Männer" von
0 s t w a 1 d auch den experimentierenden Psychologen wichtige Dienste
leisten können bei der Bestimmung der Eigenart hervorragender
Geister.
Mehr noch als die Charakterologie ist schon früher die Psy-
chognostik betrieben worden, und zwar als Physiognomik, Phreno-
logie und Graphologie. So suchte Lavater aus' den Gesichtszügen,
Gall aus der Bildung des Schädels, Abbe Michon aus der Schrift
eines Menschen sein seelisches Wesen zu bestimmen.
Die Phrenologie oder Kranioskopie, von Gall eine Zeit lang
eifrig belriebon, später aber in argen Misskredit geraten, ist neuer-
dings wieder von Mob ins mehr naturwissenschaftlich rehabilitiert
worden, der z. B. für mathematische Anlage eine Stelle über dem
Auge massgebend sein lässt.
Philosophisches Jahrbuch 1913. 1
2 C. Gutberiet.
KrnsIliclitT isl die Graphologie in neuester Zeit wieder ge-
pflegt worden. Aber hier kann man leicht die Probe auf die
Richtigkeit der Deutung einer Handschrift machen, wobei sich nur
im allgemeinen eine Uebereinstimmung mit dem Charakter ergibt.
Graphologische Untersuchungen hat der bekannte experimen-
tierende Psycholog A. Binet nach der statistischen Methode ange-
stellt, welche nicht besonders günstig für den Wert dieser Schrift-
kund'enkunst ausgefallen sind. Nicht einmal in bezug auf das Ge-
schlecht des Schreibenden, das noch am ehesten in der Handschrift
sich ausspricht, konnten so sichere Resultate, wie sie ein gericht-
liches Guiachten fordert, erzielt werden. B. benutzte die Adressen
von 180 Briefkouverten, zur Hälfte von Männern, zur Hälfte von
Frauen verschiedenen Alters und Bildungsgrades, die er zur Beur=
teilung, d. h. zur Bestimmung des Geschlechtes, zwei berühmten
französischen Graphologen und auch mehreren Laien vorlegte. Der
berühmteste Graphologe Crepieux-Jamin machte 79%, der andere
75%, die Laien 73— 66"/'o richtige Bestimmungen.
Binet selbst teilt die Menschen nach der Erkennbarkeit ihrer
Handschrift in drei Kategorien: 1. Personen, deren Geschlecht aus
der Schrift deutlich erkannt wird; 2. deren Schrift das Geschlecht
zvveifelhalt lässt; 3. deren Schrift das verkehrte Geschlecht indiziert.
Neuerdings will man nicht die Schrift, sondern das Schreiben
als Kennzeichen des Charakters gelten lassen. Nicht einmal lässt
sich die normale von der pathologischen Handschrift sicher unter-
scheiden. Denn ,.es kommt zweifellos vor, dass sicher kranke Per-
sonen in ihrer Schrift nichts von ihrer abnormen Eigenart bekunden".
Aber es gibt ein grosses, „für die Persönlichkeitsforschung höchst
interessantes und bedeutsames Gebiet, auf dem wir durch eine fort-
schreitende Vertiefung unseres Wissens vom Bewegungsablauf und
aller ihn beeinflussenden Faktoren vorwärts zu kommen hoffen
dürfen" ').
Die differenzielle Psychologie, wie sie jetzt betrieben wird, ist
wesentlich exakt experimentell, in dem Sinne, dass sie eine Ab-
zweigung der allgemeinen experimentellen Psychologie darstellt. Diese
erforscht die allgemeinen Gesetze des Seelenlebens, jene nimmt
gerade die Variation innerhalb des allgemeinen zum Gegenstand,
und zwar iiandelt sie vom Wesen der Variation selbst, von ihrer
Ausdehnung und ihren Ursachen, von Arten derselben, den Typen
und Stufen, von der Korrelation der Variationen. Sodann geht sie
aber auf die einzelnen Varietäten selbst ein, auf die verschiedenen
Begabungen, Tem[)eramente, Stände, Alter, Geschlechter. Li diesem
Sinne ist sie „spezielle Psychologie", aber eben deshalb ist diese
Benennung zu eng für die ganze Wissenschaft. Darum nennt sie
Stern besser differenzielle Psychologie. Auch die anderen
vorgeschlagenen Benennungen, wie Charakterologie, Ethologie, sind
') E. H i r l in Arch. f. d. ges. Psych. 23. Bd. S. 339 ff.
Differenzielle Psychologie. B
zu enge, und „individuelle oder Individualpsychologie" wäre wohl
geeignet, ist aber schon für die der „Völker"- und „Sozialpsycho-
logie" entgegengesetzte Einzel-Psychologie fixiert.
An spezialpsychologischen Untersuchungen mit Hilfe des Experi-
mentes haben wir keinen Mangel. Es gibt kaum eine Seelentätigkeit,
kaum eine Eigenschaft, kaum einen Stand usw., die nicht experimentell
erforscht worden Avären. Wir haben eine sehr reiche Psychologie
des Kindes, des Weibes, des Genies, des Verbrechers, der Hyste-
rischen, des Gedächtnisses, des Gefühles und der einzelnen Gefühle,
selbst der Langeweile. Aber das Verdienst, eine eigene Wissenschaft
der differenziellen Psychologie in Angriff genommen zu haben, ge-
bührt dem rühmlichst bekannten Experimentalpsychologen W. Stern.
In seiner Schrift : „Die differenzielle Psychologie in ihren methodischen
Grundlagen" ^) gibt er eine systematische Darstellung von der Me-
thodik und den Problemstellungen, den Variationen und Korrelationen "
der seehschen Phänomene, von der Individualität,
An der Hand dieses Werkes wollen wir einen kurzen Ueber-
blick über diese neue Wissenschaft geben; nur hier und da fügen
wir eine ergänzende Bemerkung hinzu, zumal wo es sich um neueste
Feststellungen handelt, die Stern noch nicht bekannt sein konnten.
Denn jeder Tag bringt Neues auf diesem Gebiete.
Mit welchem Eifer die differenzielle Psychologie betrieben wird,
zeigt „die gemeinschaftliche Vorbereitung" psychologischer Unter-
suchungen. Zwei von der Gesellschaft für experimentelle Psvcho-
logie ausgehende Unternehmungen: .,die Methodensammlung"" von
Sommer und das ..Berliner Institut für angewandte Psychologie"
sind auf dieses Ziel gerichtet. Sommer trägt Methoden, Apparate,
Versuchsanordnungen zusammen und stellt sie Interessenten zur
Verfügung.
Auch das Berliner Institut bietet die Methoden, insbesondere Hilfs-
mittel der Sammelforschung: Fragebogen, Personalbücher, Tests usw.,
es gibt aber auch allgemeine Anweisungen für ständig wiederkehrende
Untersuchungszwecke: Anweisungen für Forschungsreisende, für
Kinderbeobachtung, für Psychographie usw^
Zusammengehen ist auf diesem Gebiete schon darum gefordert,
weil die Probleme sich auf Grenzgebieten zu andern Fächern,
z. B. zur Pädagogik, zur Ethnologie, zur Psychiatrie, Soziologie usw.
bewegen. Fachmänner dieser Wissenschaften müssen also zu Rate
gezogen werden. Ferner kann sich der differenzielle Psychologe
nicht mit einer oder der anderen Methode begnügen, er muss eine
Kombination mehrerer vornehmen, der einzelne kann aber nicht alle
beherrschen.
Während der generelle Psycholog mit einigen Versuchspersonen,
manchmal mit einer, ja mit sich selbst, wie Ebbinghaus bei der
Gedächtni.sforschung, sich begnügen katm, muss der differenzielle ein
0 Leipzig 1911, Barth.
4 C. Gutberiet.
reiches Material, zahlreiche Individualitäten untersuchen; diese stehen
aber dem einzelnen nicht zu Gebote.
Darum niuss der Psychologe die Erhebungen anstellen,
die am einfachsten durch Fragebogen bewerkstelhgt werden. Doch
ist die Technik der Fragebogen eine recht mühevolle. Fehlerquellen
sind bei diesen Fernmethoden viel zahlreicher gegeben, als bei den
Ichmethoden. Bei diesen können die Fragen, Instruktionen so genau
gestellt, wiederholt, die Antworten geprüft werden, dass Missverständ-
nisse, schiefe Auffassungen, Mangel an Aufmerksamkeit und Geschick-
Uchkeit der Prüflinge leicht erkannt und verbessert werden können.
Bei den Fragebogen schieben sich Mittelspersonen ein, die das Resultat
sehr zweifelhaft machen können, da eine so genaue Fassung der
Fragen, dass sie von jedem Individuum leicht und sicher beantwortet
werden könnten, nicht möglich, auch nicht einmal ratsam ist. Denn
dann merkt der Gefragte, was gesucht wird, und das wirkt, wie
bekannt, sehr stark suggestiv auf die Antwort im Sinne der Frage.
Ist aber die Frage unbestimmt, dann wird in das Ungewisse
hineingeraten.
Vielfach schieben sich sogar mehrere Mittelspersonen, eine ganze
Kette von Vermittlungen, ein, und bei jedem neuen Ringe kann die
Uebertragung fehlerhafter werden. Wenn z. B. Schüler befragt werden
sollen, so muss das durch den Lehrer geschehen. Dieser wird aber
durch den Einfluss, den er auf die Kinder hat, leicht Antworten
erzielen, die seiner Anschauung entsprechen.
In grossartigem Massstabe wurde die Erhebung von der Society
for psychical research in England angestellt, welche über telepathische
Erscheinungen, insbesondere Anmeldungen Sterbender, Gewissheit ver-
schaffen sollte. Ein ungeheueres Material wurde aufgebracht, aber
bis auf den heutigen Tag stehen sich Gläubige und Ungläubige über
diesen Punkt gegenüber. Ebenso umfassend sind die Erhebungen
des Amerikaners Stanley Hall speziell über die Kindespsychologie,
die in dem pädagogischen Seminar der Clark University zentralisiert
sind. Angesehene Pädagogen machen ihm sogar den Vorwurf des
Sports auf diesem Gebiete. Dies kann aber der Brauchbarkeit der
Methode selbst keinen Abbruch tun.
Ganz im Gegensatze zu der bisherigen experimentellen Psycho-
logie, welche sich eng an die naturwissenschaftlichen Methoden an-
Hchloss und geschichtliche Daten missachtete, muss die diffe-
renzielle Psychologie historischen Personen besondere Aufmerksam-
keit schenken. Die Individualitäten, welche „geschichtlich" geworden
sind, stellen meistens markierte, hervorragende Persönlichkeiten dar.
flie gerade recht eigentlich Objekte dieser Wissenschaft sind. Ihre
Biographien versuchen meist alle Seiten ihres Wesens zur Darstellung
zu bringen. Das historische Material steht auch so reich zu Gebote,
ist ohne eigene Bemühungen so leicht zu beschaffen, dass es bei
der Darstellung der Individualitäten nicht unbenutzt gelassen werden
darf. Die Geschichte zeigt uns auch unmittelbar den Zusammen-
Differenzielle Päychologie. 5
hang psychischer Erscheinungen durch den Verlauf der Ereignisse;
manche Probleme können nur geschichtlich gelöst werden, wie z. B.
das Vererbungsproblem, das die Kenntnis einer längeren Reihe von
auf einanderfolgenden Generationen einer Familie verlangt.
hl neuester Zeit hat man versucht, die experimentelle Methode
mit der historischen zu verbinden, indem man mit den Werken
geschichthcher Personen experimentierte, insbesondere Zeichner,
Dichterund Musiker „studierte". Man untersucht, indem man die Ein-
fühlung benutzt, welchen Eindruck ihre Produktionen auf mehrere
Personen machen, welche Stimmung sie hervorrufen, welche körper-
lichen Veränderungen sie hervorrufen, und schliesst dann auf die
gleichen Zustände im Verfasser. Am eingehendsten hat Ü. Rutz
diese „Resonanzmethode" behandelt und inbezug auf Musiker
und dann auch auf die Dichter angewandt. Er fand, dass beim
Singen verschiedener Stücke auch die Körperhaltung eine verschiedene,
für jedvO Färbung des Stückes charakteristische ist. So unterscheidet
er drei T^^en von Kunstwerken, mit den entsprechenden körper-
liehen Veränderungen: einen dunkel weichen Typus (Mozart,
Schubert^, der wagerechte Vorwölbung des Unterleibs verlangt, den
hell weichen (Beethoven, Weber) mit Vorwölbung des Brustkastens,
Zurückziehen des Unterleibes, den hellharten (Wagner), bei welchem
die Rumpfmuskeln nach abwärts geschoben und der Körper gestreckt
wird. Auch die Dichter zeigen diese Typen, Goethe den ersten,
Schiller den zweiten, Heine den dritten.
Marie Wagner hat gefunden, dass jeder Künstler einen be-
stimmten Bewegungskomplex bei der Linienführuug ausführe. Will
man sie genau kopieren, so muss man diese Bewegungen genau
nachmachen, und wenn die Kopie genau ist, zeigt der Kopist, welche
Bewegungen dem Künstler eigentümhch sind. Bei Raphael sei die
Handbewegimg weitausladend in flachen Kreisen ; bei Michel Angelo
kurz in sich geschlossenen Kreisen. Diese Methode bedarf noch sehr
der Ausbildung.
Eine hervorragende Rolle in der experimentellen Psychologie, ins-
besondere in der differenziellen, spielt der Test. Bei seiner ersten An-
wendung glaubte man in einigen Minuten die ganze Individualität eines
Menschen erforschen zu können. Dieses Prüfungsexperiment ist im
Grunde eine Stichprobe: aus einer P^igensehaft sucht man die andere
zu erschliessen. Stern definiert den Test: Er ist „ein solches Ex-
periment, das bestimmt ist, in einem gegebenen Fall die individuelle
psychische Beschaffenheit einer Persönlichkeit oder eine einzelne
persönliche Eigenschaft von ihr festzustellen. Es ist also weniger
Forschungs- als Prüfungsexperiment, es hat diagnostische Bedeutung".
Man setzt dabei voraus, dass man durch das Experiment eine
Eigenschaft, etwa die hitelligenz, aus gewissen Aeusserungen erkennen
könne, sodann auch, dass der zu Prüfende einer grösseren Klasse
von Individuen angehört, der man ihn einreihen will, um ihm darin
seinen Platz anzuweisen.
6 C. Gutberiet.
Die Aulänge dieses Experimentes waren noch sehr unvollkommen;
es war nur eine modifizierte Anwendung der herkömmlichen experi-
mentellen Methoden ; hatte man bisher mit einer Methode mehrmals
untersucht, so wandte der Test mehrere Methoden in einem ein-
maligen Verfahren an. So prüfte Cattell dynfimometiischen Druck,
Maximalgeschwindigkeit einer Armbewegung. Minimaldistanz zweier
noch unlerscheidbarer Reize, Schmerzschwelle für Druck, Unter-
schiedsschwelle für Gewichte, Zahl der nach einmaligem Hören be-
haltenen Buchstaben usw. Aber dies alles gibt kein Gesamtbild der
geistigen hidividualität, auch nicht der besonders in Betracht kom-
menden Inlelligenz. Einen Fortschritt brachten in Frankreich Binet
und Henri durch die „Testserien", und in Deutschland die Test-
vorschläge von Kraepelin, die freilich auch nicht „die persönlichen
Grundeigenschaften des Individuums", wie er versprochen, boten,
sondern nur die Dynamik der geistigen Leistungsfähigkeit, insofern sie
durch Uebung, Ermüdung, Ruhe, Erholung, Alkohol usw. beeinflusst
wird und so bestimmt werden kann. Seitdem ist die Intelligenz-
prüfung Hauptaufgabe der Test geworden. Eine solche wird durch
praktische Zwecke nahe gelegt. Die Nachweise der Befähigung
durch Prüfung, die ärztliche Begutachtung von Schwachsinnigen,
die Einrichtung des Unterrichts nach der Begabung lässt eine schnelle
und genaue Prüfung sehr wünschenswert erscheinen.
Am meisten hat für die Ausbildung der Testprüfung Binet
geleistet, er hat sie zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Früher hat
man den Symptomwert einer durch Prüfung ermittelten Eigenschaft
nicht genug berücksichtigt, nämlich ihren Zusammenhang mit einer
daraus zu erschliessenden Eigenschaft, noch weniger den Gesamt-
symptomwert, von mehreren solcher Eigenschaften für die Er-
schliessung einer unbekannten Fähigkeit, der unvergleichlich grösser
sein^wird, als der der einzelnen Komponenten. Dies tut Binet in
seinen Staffelserien.
Stern stellt folgende Leitsätze für die Testforschung auf:
,,Der?^Test ist nur eine, nicht die Form der psychologischen
Individualilätsforschung. Vor allem macht er die nicht-experimentelle
Beobachtungsmethode nicht überflüssig; er ergänzt sie zwar, wird
aber durch sie ergänzt, ist oft auf sie zur Sicherung und Erweiterung
seiner Befunde geradezu angewiesen und muss für viele Fälle hinter
ihr zurücktreten".
„Die reine Testprüfung ist nur als ,psychographis(lies Minimum'
zu bezeichnen, sie dient als Notbehelf, wo Zeitmangel oder andere
Umstände ergänzende Methoden nicht zulassen, und sie dient als
Vorarbeit, um aus einer grossen Masse diejenigen Individuen heraus-
zufinden, die dann für eine genauere psychographische Untersuchung
in Betracht kommen".
Folgende Anforderungen stellt er an einen möglichst voll-
kommenen Test :
Difl'erenzielle Psychologie. 7
„1. Er soll einen möglichst hohen Symptomwert haben, d.h.
ein mögüchst eindeutiges Kennzeichen für die zu untersuchende
psychische Beschaflenheit des Prüflings bilden".
,,2. Er soll einen moghchst breiten Symptomwert haben, d. h.
einen recht grossen Bruchteil der zu untersuchenden Eigenschaft
repräsentieren, so dass, um die Eigenschaft im ganzen zu charakte-
risieren, eine Mindestzahl von Tests nötig ist".
„3. Er soll die Einordnung des Geprüften in eine feststehende
Gruppierung oder Rangordnung mit Sicherheit gestatten".
„4. Er soll eine möghchst leichte Anwendbarkeit besitzen,
also die zu grosse Belästigung der Versuchspersonen, die Benutzung
empfindlicher und schwer transportabler Apparate und ähnUches
nach Kräften vermeiden".
,,5. Er soll eine möglichst weite Anwendbarkeit haben, d.h.
an sehr vielen und sehr verschiedenartigen Personen und Personen-
gruppen unter relativ vergleichbaren Bedingungen anzustellen sein".
Die Intelligenzprüfung hat am meisten Interesse bei den Päda-
gogen gefunden. Der hervorragendste Vertreter der experimentellen
Pädagogik, E. Meumann, hat darüber eine sehr instruktive Ab-
handlung^) geliefert, in der er zunächst die verschiedenen Zwecke
darlegt, derentwegen diese Prüfung unternommen wird, wobei die
pädagogischen die Hauptrolle spielen, daneben kommen eigenthch
nur psychiatrische in Betracht, die den Mangel an der normalen
Intelligenz feststellen wollen. Nach ihm gibt es eigentlich keinen
andern Weg, die Intelhgenz eines Menschen festzustellen, als den
Test; denn ausserdem müsste man sämthche intellektuelle Prozesse
durchprüfen, was in der Praxis schwer ausführbar ist. Er unter-
scheidet zwei Arten von mental tests:
1. Man' entnimmt die Probe (test) einer Methode der experi-
mentellen Psychologie und modifiziert die Prüfung sinnlicher Tätig-
keiten so, dass auch die höheren geistigen Funktionen daran be-
teiligt erscheinen. Am bekanntesten sind die Messungen der Raum-
schwelle durch Aufsetzen von Zirkelspitzen. Je weiter die Zirkel-
spitzen geöffnet werden müssen, um noch zwei Punkte wahrzunehmen,
um so geringer wird die liautempfindlichkeit. Daraus schloss man
dann auch auf eine geringere geistige Leistungsfähigkeit, wie sie zum
Beispiel nach Ermüdung eintritt.
2. Man kann aber auch eine komplexe Geistestätigkeit zugrunde
legen, z. B. eine Schularbeit, und nach deren Güte beurteilen, wie
weit die Fähigkeiten des Kindes reichen.
Beide Arten der Tests haben ihre Vorzüge und Nachteile; sie
beide machen aber zwei Voraussetzungen, die festgestellt werden
müssen : „1. dass sich bei jeder geistigen Tätigkeit mehr oder weniger
alle Seiten des Bewusstseins betätigen ; ist dies der Fall, so können
wir in der Tat aus dem Ausfall jeder psychischen Leistung auf die
>) Zeitschr. f, experim. Pädagogik 1910, U. Bd. S. 68 ff.
8 C. Gutberiet.
Entwicklung und Ausbildung aller psychischen Funkiiunen schliessen;
2. dass sowohl in der relativen Ausbildung (Vollkommenheit) als in
der relativen Entwicklung (während des Kindesalters) der einzelnen
geistigen Funktionen bestimmte Abhängigkeiten (Korrelationen) be-
stehen, auf Grund deren wir aus der Ausbildung der einen auf die
Ausbildung (Entwicklung) anderer schliessen können".
Keine von diesen beiden Voraussetzungen ist aber bis jetzt
experhnentell bewiesen, und nach Meumann treffen sie sicher nicht
ganz zu. Soll man sie deshalb aufgeben? Nein, sondern die Test-
methoden, weil sie am leichtesten, schnellsten zur Intelligenzprüfung
führen, sind zu verbessern. Dazu macht Meumann folgende Vorschläge :
,,1. Man untersucht die Intelligenz niemals nur mit einem oder
wenigen Tests, sondern stets mit Testsreihen, Serien von Intelligenz-
prüfungen (wie de Sanctis, Binet und Simon Goddard), die so zu-
sammengestellt werden, dass man sicher sein kann, möglichst alle
Hauptfunktionen der Intelligenz geprüft zu haben (wenigstens die
Aufmerksamkeit, das Behalten und Wiedererkennen, das anschau-
hche Darstellen, das Arbeiten mit abstrakten Wortbedeutungen und
das Denken)-'.
„2. — und dies scheint besonders wichtig — man gibt die Absicht
auf, mit einigen oder wenigen Tests die allgemeine InteUigenz zu
bestimmen (da bei den Testmethoden wohl immer gewisse Seiten
der Intelligenz unbestimmt bleiben), vielmehr sucht man an Stelle
der allgemeinen Intelligenz die höhere Intelligenz zu bestimmen,
oder das, was die höhere Intelligenz im besondern ausmacht'-.
Dazu bedarf es allerdings einer Einigung darüber, was wir unter
höherer Begabung verstehen.
Manche verstehen darunter die Kombinationsgabe; andere die
Fähigkeit zur Synthese zerstreuter Vorstellungen. Meumann versteht
darunter ,,die denkende Verarbeitung gegebener Eindrücke oder Vor-
stellungen, samt den verschiedenen Eigenschaften derselben, wie der
Schnelligkeit, Gründlichkeit, Allseitigkeil, Selbständigkeit zu denkender
Verarbeitung von Vorstellungen oder Eindrücken", welche Begriffs-
bestimmung übrigens mit den vorigen zusammenfällt.
„Wir müssten dann also, statt mit den Tests die gesamte oder
allgemeine Intelligenz bestimmen zu wollen, diese so einrichten,
dass wir neben den wichtigsten Elemontarfunktionen vor allem die
Kombinationsgabe oder Fähigkeit zu denkender Verarbeitung von
Eindrücken und Vorstellungen prüfen und ihre Ausbildung bei dem
Individuum messen".
,,Dies erreicht man am besten durch alle die Methoden, die das
Arbeiten mit abstrakten Elementen, mit leitenden oder Zielvor-
stellungen, mit Lösung gewohnter und leichter und inhaUsrrichei-
Anknüpfung neuer Vorstellungs- (oder Wahrnehmungs-jKombinationen
an die Zielvorstellung prüfen".
Auch auf diesem so eifrig gepflegten Gebiete der Intelligenz-
prüfung durch die Testmethode, welche nach Meumanns Ansicht
I
Differenzielle Psychologie. ^
wegen ihrer praktischen Brauchbarkeit unentbehrlich ist, bestätigt
sich, was wir von der experimentellen Pädagogik überhaupt, nach
Vorgang Wundts, mehrfach ausgeführt haben, es muss darin noch
viel gearbeitet werden, um sichere Grundlagen für eine neue Päda-
gogik zu gewinnen.
Die Variationen
sind das eigentliche Material-Objekt der differenziellen Psychologie.
Dieselben sind totale, wenn sie das ganze Subjekt umfassen,
partiale, wenn sie einzelne Merkmale des Individuums betreffen,
unter den Merkmalen haben allerdings manche eine zentrale Be-
deutung, indem sie den eigentlichen Charakter des Individuums be-
stimmen. Die Voluntaristen z. B. sehen den Willen als Grundeigen-
schaft, die Intellektualisten den Intellekt als solche an.
Es gibt aber nicht bloss Variationen zwischen Mensch und
Mensch (Intervariation), sondern auch zwischen Zuständen desselben
Individuums (Intravariation) : diese kann dazu dienen, die erstere
besser zu verstehen. Kraepelin z. B. benutzt die Ermüdung dazu,
um die psvchotischen Zustände zu erklären.
Die aligemeinste Variation ist Normal, U eher normal. Unter-
normal, die auch im gewöhnlichen Leben schon erkannt und be-
nannt wird. Aber der Begriff des Normalen, von dem der des
üeber- und Unternormalen abhängt, wird nicht immer richtig defi-
niert. Man kann wohl sagen; Normal ist der Durchschnittsmensch,
aber genau ist diese Begriffsbestimmung nicht. Denn der Durch-
schnittswert stellt nur ein^n Punkt dar, die Normalität hat aber eine
grosse Ausdehnung. Wahr ist auch, dass gewöhnlieh der grössere
Teil normal ist, aber die Erfahrung lehrt, dass ganze Gesellschaften
einer geistigen Epidemie anheimfallen können.
Der Begriff ist nicht quantitativ, sondern qualitativ zu be-
stimmen. Normal ist der Mensch, der für die Aufgaben des mensch-
hchen Lebens ausgerüstet ist. Diese Ausrüstung und die speziellen
Aufgaben sind aber so mannigfaltig, dass sofort die Breite der
Normalität verständlich wird.
Mit dem Begriffe des Normalen ist der des Unternormalen und
Uebernormalen gegeben. Merkwürdigerweise können sich beide Be-
griffe begegnen; häufig wird das übernormale Genie als pathologisch,
unternormal bezeichnet, sein Tun widerspricht allerdings dem gewöhn-
lichen Leben, es ist an diesem gemessen ebenso zweckwidrig wie
das der Narren. Das Genie hat aber wirkhche höhere Aufgaben zu
erfüllen; es muss den Fortschritt über die Norm hinaus fördern,
daher der Widerspruch mit dem Alltäglichen.
Man ist sehr geneigt, die Abnormität eines- Merkmals aul die
ganze Individualität auszudehnen. Dagegen findet Stern:
„Wir haben durchaus kein Recht, aus der etwa festgestellten
Abnormität dieser oder jener Einzeleigenschaft ohne weiteres einen
Schluss auf die Abnormität ihres Trägers als Individuums abzuleiten.
10 C. Gutberiet.
— Aber es ist andeibciLs iiidit niöglicli, die festgeslellle Abiiuniiitäl
einer Perriönlichkeil auf eine einzelne Eigenschaft als alleinigen Ur-
(juell zurückzuführen". Gerade in unserer Zeit hat man angefangen,
mikroskopische Untersuchungen der Abnormitäten anzustellen, wie
der Phobien, der sexuellen Perversitäten, der Spaltung der Persön-
lichkeiten usw., und daraus die Persönlichkeit zu erklären versucht.
Am schrollsten geschieht dies von den Freudschen „Psychoanalyti-
kern", die irgend ein Erlebnis des jugendlichen Sexuallebens „zu
dem alles durchdringenden Fäulnisstoff der Persönlichkeit" machen.
Eine schon etwas speziellere Einteilung der Individualitäten
liefern die psychologischen Typen. Stern gibt davon folgende,
nicht besonders klare Definition:
„Ein psychologischer Typus ist eine vorwaltende Disposition
psychischer oder psychophysischer neutraler Art, die einer Gruppe
in vergleichbarer Weise zukommt, ohne dass diese Gruppe eindeutig
und allseitig gegen andere Gruppen abgegrenzt wäre".
Am meisten der Erklärung bedarf der Ausdruck ,,psychophysisch
neutraler Art". Darunter sind Dispositionen zu verstehen, die nicht
rein psychisch und nicht rein physisch zu fassen sind.
Der Typus darf nicht mit der „Klasse", etwa der Spezies oder
Gattung, verwechselt werden. Die Spezies sind gegen einander scharf
abgegrenzt. Das müssen auch die Deszendenztheoretiker zugeben.
Die jetzt bestehenden Arten sind mit verschwindenden Ausnahmen
gegen einander abgegrenzt. Dagegen sind die Grenzen zwischen
Typus und Typus fliessend; die Zwischenformen sind nicht Ab-
normitäten, sondern sind eher als die Regel anzusehen. Der Typus
ist eben eine Idealform, der sich die einzelnen Glieder in zahlreichen
Nuancen nähern können. Verfehlt ist darum die Temperament-
einteilung Kants, die eine starre sein soll. Auch Hey man s glaubt
von 102 auf ihr Tejnperament untersuchten Individuen jedes in ein
bestimmtes Fach einweisen zu können.
Ein weiterer Unterschied zwischen Typus und Klasse bestellt
darin, dass ersterer Partialvariationen, letztere Totalvaria-
tionen darstellt. Nur inbezug auf ein oder mehrere Einzel-
inerkmale gehören die Glieder eines Typus zusammen, inbezug auf
andere gehören sie einem andern Typus an. Die Eigenschaften einer
Art dagegen kommen allen Individuen zu, und sie fehlen bei andern
Arten. Dagegen kommt es kaum vor, dass alle, welche z. B. dem
visuellen Typus angehören, auch dem auditiven angehören, und dass
die dem ersleren nicht angehörenden nie in dem zweiten vorkommen.
An die Stelle der einfachen Totalkorrelation der Merkmale zu ein-
ander treten bei den Typen sehr viele verschiedene Grade der
Korrelation. Nach dem Grade der Korrelation, dem Zusammen-
sein mehrerer Typen in einem Individuum, können zwei Haupt-
formen unterschieden werden.
Differenzielle Psychologie. 11
Der Komplextypus und der Typenkomplex.' Bei
ersterem ist die Verwandtschaft zweier Typen so stark, dass man
von der Anwesenheit einer Eigenschaft auf die andere schliessen
kann. Haben z\vei Typen, die in einem Individuum vereinigt sind,
kein gemeinschaftliches Merkmal, so besteht bloss ein Typen-
komplex.
Der Komplextypus kann bis zum Totaltypus sich steigern und
dann nähert er sich der Spezies^). Solche Totaltypen sind der
Negertvpus, der Famihentypus der Habsburger, der Typus des Ver-
brechers, des Weibes. Populäre Darstellungen haben es immer mit
solchen Totaltypen zu tun, sie repräsentieren aber eigentlich nur
ideale Formen.
Beim Komplextypus unterscheidet Stern noch einen homogenen,
wenn die in einem Individuum verbundenen Typen grosse Aehnlich-
keit mit einander haben, und heterogene, wo dies nicht der Fall
ist. Die Aehnhchkeit selbst kann wieder eine inhaltliche oder eine
formale sein. Ein homogener v^ürde z. B. der Typus des Musikali-
schen, bei dem alle Einzelfunktionen Beziehung auf musikahsche
Eindrücke haben, sein; dagegen ist der Typus des Sanguinikers,
wenn man ihn durch Lustcharakter der Gefühle und schnellen ilachen
Ablauf der Beaktionen konstituiert sein lässt, fast heterogen.
Von jeher hat man eine Gliederung der Typen zunächst nach
allgemeinen Theorien versucht. So unterschied Galen nach den
vier Säften: Blut, Schleim, gelbe Galle, schwarze Galle, deren
Mischung das menschliche Temperament bestimmen : Sanguiniker,
bei denen das Blut vorherrscht, Phlegmatiker (Schleim), Choleriker,
Melancholiker. Plato unterschied nach den drei Seelenteilen: Ver-
nunftmenschen (Philosophen), Mutmenschen (Krieger), Begierde-
menschen (Handwerker).
Nach der neueren Theorie von den drei Seelenvermögen unter-
scheidet man Verstandes-, Willens-, Gefühlsmenschen. Gall unter-
scheidet die Menschen nach dem Vorwiegen der Höcker und Wülste
im Schädel. Dürr unterscheidet eine Anzahl von Aufmerksamkeits-
typen nach der Verschiedenheit einiger Begleiterscheinungen der Auf-
merksamkeit wie Ermüdbarkeit und andere psychophysische Prozesse.
M Stern scheint den Unterschied zwischen Typus und Spezies etwas zu
schroff zu bestimmen. Auch in den bestehenden gegenwärtigen Arten ist die
Abgrenzung gegen einander nicht immer so leicht. Es geht eine Art in die
andere über, und es ist oft schwierig, einen festen Markstein anzugeben, hn
l^aufe der Zeiten sind die Grenzen manchmal verschoben worden. Es ist oft
Sache des botanischen Taktes, die Spezies von einer Variation, einer Spielart
zu unterscheiden, statt der blossen Varietät eine neue Art zu statuieren. Auch
das andere Merkmal des Typus, dass er nach einer Richtung mit dem einen,
nach der anderen mit einem dritten, vierten Uebereinstimmung zeigt, findet
sich bei den Arten. A.W ig and macht besonders diese Kettenverwandt-
schaft der Arten gegen eine Abstammung geltend. Es kommt bei der Ab-
grenzung sehr auf die Bedeutsamkeit der charakterisierenden Merkmale
an, die mathematisch sich nicht bestimmen lässt.
12 C. Gutberiet.
Am berühinlesteii ist die Gliederung der TeinperauieiiLe von
Kant geworden, der auch Wundt im wesentlichen beisUmml. Die
vier bekannten Temperamente von Galen wurden so psycliologisch
"begründet. Indem man die Gegensätze: Schwach und stark mit
den beiden langsam und schnell in dem psychischen Prozesse sich
kreuzen lässt, erhält man den Sanguiniker mit schwachem
schnellem Verlauf des psychischen Prozesses, den Choleriker mit
schnellen starken, den Phlegmatiker mit langsamen schwachen, den
Melancholiker mit langsamen starken Alfekten. Andere nehmen
drei Gegensätze, indem sie z. B. Lust und Unlust oder aktiv und
passiv dazu nehmen, und erhalten 16 Temperamente, Meumann
nimmt noch leichte, schwere Gefühlserregbarkeit hinzu, und kommt
mit zweigliederigen Komljinationen zu zwölf Temperamenten: Lust-
Unlust kombiniert er mit jeder andern der drei Formen.
Schon die Buntscheckigkeit der so konstruierten Typen,
noch mehr die Unmöglichkeit, wirkliche Vertreter dafür zu finden,
zeigt, dass die Theorie mehr wissenschaftlich begründet werden muss :
,,Die Typenlehre ist ein Gegenstand der differenziellen Psychologie
und umss mit deren eigenen Methoden und Gesichtspunkten bear-
beitet werden".
Damit hat man auch bereits angefangen, aber auch hier noch
zu schematisch verfahren ; die so gefundene Einteilung z. B. der Vor-
stellungstypen in visuelle, auditive, motorische ist zu grob,
jedenfalls verallgemeinert die Charakterisierung der einzelnen Typen
zu sehr.
Es bedarf einer Verbindung von Methoden und zwar : ,,Die Fest^
Stellung von Typen erfolgt durch inter-individuellen Vergleich intra-
individueller Disposition3verhaItnis.se". Natürlich müssen recht viele
Individuen genau untersucht und dann exakt mit einander verglichen
werden.
So ergibt sich vor allem ein subjektiver und ein objektiver
Typus. Der Unterschied zeigt sich deutlich beim Reagieren, bei
Beantwortung eines Reizes mit einer Bewegung. Der eine „erwartet
sein eigenes Losbrechen", der andere , .erwartet den Eindruck",
„für jenen ist der Reiz die Auslösung, für diesen die Ursache der
Bewegung".
Auch die psycho physische Messung der Reiz- und Unter-
sfhiedsschwelle zeigt diese beiden Typen. Die einen konnten den
Eindruck rein und unverfälscht angeben, die andern waren in ihrem
Urteile stark von Erwartung, Stimmung usw. abhängig. Messmer
hat beim Erkennen kurz exponierter Reize konstatiert, dass
die einen ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Reiz richten, andere
Muktuiercn, den Reiz mit Erinnerungsbildern verbindend.
Pfeiffer hat bei Schülerinnen zwei Typen von Interessen-
richtung gefunden: bei dem einen gefallen mehr Gedichte, Themata
von subjektiver Färbung, etwa lyrische Ergüsse, hei dem andern
jnehr objektive Darstellungen, Erzählungen.
Differenzielle Psychologie. 13
Korrelation.
Von grösster Bedeutung für die differenzielle Forschung ist die
Korrelation: der Zusammenhang der verschiedenen Eigenschaften
eines Individuums unter einander. Mit ihrer Feststellung lässt sich
aus einer beobachteten Disposition auf andere und möglicherweise
auf die ganze IndividuaUtät schliessen.
Die Korrelation ist systematisch zuerst in England durch Galton,
in Deutschland durch Spearmann behandelt worden, Betz hat das
Thema mathematisch behandelt.
Wie lässt sich aber ein solcher Zusammenhang von Eigenschaften
feststellen? Stern antwortet:
„Zwei Merkmale stehen dann in Korrelation, wenn bestimmte
Varianten des einen bestimmten Varianten des andern mit einer ge-
wissen Wahrscheinhchkeit zugeordnet sind". Die Variation braucht
nicht gerade in gleicher Richtung bei beiden zu erfolgen, sie brauchen
nicht gleichmässig mit einander zu wachsen oder abzunehmen, son-
dern es kann auch mit dem Wachstum der einen der Rückgang
der andern vorhanden sein. In beiden Fällen aber hat man bloss
Wahrscheinhchkeit, nicht Gewissheit, wie in der Naturwissenschaft,
wo man sicher aus der gleichzeitigen Variation zweier Phänomene
auf ihren Zusammenhang schUesst, entweder auf Abhängigkeit von
einem äusseren Faktor oder auf gegenseitige Einwirkung oder
auf Einwirkung eines derselben auf das andere. Hier kann man
nämlich die beiden Glieder isolieren, andere Einflüsse ausschalten:
psychische Eigenschaften sind aber so innig in einem Individuum
verwachsen, dass man nicht sicher entscheiden kann, ob nicht
andere, dritte Faktoren ihren Einfluss geltend machen. Es gibt
daher mannigfache „Korrelationsgrade", d. h. Grade der Wahrschein-
lichkeit des Zusammenhanges, die man selbst mathematisch zu be-
stimmen unternommen hat".
Man kann die Variationsabhängigkeit in zweifacher Weise er-
forschen, entweder an einem einzelnen Individuum, an dem man die
notwendigen Merkmalsreihen durch häufige Prüfungen erzielt (intra-
individuell), oder indem man zwei Merkmale an sehr vielen Individuen
studiert (interindividuell).
Man hat übrigens Korrelationen gefunden, ohne dass man Kor-
relationen direkt aufsuchte. So prüften Krueger und Spear-
mann die so disparaten Funktionen der Tonhöhenunterscheidung,
des Kombinierens, der Tastschärfe, des Addierens und des Auswendig-
lernens usw. und glaubten zwischen solchen Funktionen, die an-
scheinend wenig verwandt sind, Korrelation nachweisen zu können,
wie zwischen Addieren, Tastschärfe und Tonunterscheidung.
Mehr haben die Amerikaner sich mit den Korrelationen be-
schäftigt. Nach Bagley zeigen psychische Tests keine Korrelation
mit Klassenrang. Brown fand starke Korrelation des Kombinierens
mit mechanischem Gedächtnis und mit der Wirkung e'mev geo-
14 G. Gutberiet.
metrischen Täuschung. Wissler fand bei 325 Knaben keine Kor-
relation zwischen optischem und akustischem Silbenlernen, Reaktions-
zeilen und abstrakte Sätze - lernen. Die physischen Tests zeigen
Korrelation unter einander, nicht mit den psychischen,
Kine reiche Ausbeute für Korrelationserhebungen bieten Cha-
rakteristiken, die aus pädagogischen oder psychographischen
Motiven verfasst werden. Insbesondere könnten die Schulzeugnisse
sehr gute Dienste tun, weil hier das Material fast unerschöpflich ist.
Am lleissigsten ist bis jetzt die Korrelation zwischen Gedächtnis und
Versland erforscht worden. Aber es ist kaum mehr erkannt worden,
als was man schon von vorneherein erwarten muss: zwischen
mechanischem Gedächtnis und InteUigenz besteht wenig Zusammen-
hang, er ist aber um so stärker, als die Gedächtnisleistungen durch
das Erfassen des Sinnes, Verständnis des Zusammenhangs usw.
beeinflusst werden.
Von vorneherein scheint der Befund von Brown, dass bei Addi-
tionen zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit des Arbeitens starke
Korrelation be.-^tehe, wenig wahrscheinlich, tatsächhch fand Ransch-
burg keine Korrelation zwischen Tempo und Richtigkeit des Rechnens.
Man nimmt gewöhnlich an, und es scheint auch sehr natürlich,
dass wer „leicht lernt, auch leicht vergisst" ; Busemanns Versuche
sollen dies widerlegen.
Oft ist die Frage erörtert worden, ob es ein oder mehrere
Gedächtnisse gebe, ob die Gedächtnisse für Zahlen, Namen, Gesichter,
Orte von einander unabhängig sind. Allerdings gibt es markante
Fälle, in denen ein spezielles Gedächtnis stark entwickelt ist, aber
es zeigt sich doch meist die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses
gleichmässig für alle Gebiete. Eingehende Untersuchungen haben
Spearmann und Krueger über Auswendiglernen von Silben und von
Zahlen angestellt und Korrelation gefunden ; andere Forscher haben
die Korrelation erweitert und gefunden, dass die Uebung auf einem
Gebiete das Gedächtnis auch auf andern vervollkommnet. Brown
fand starke Korrelation zwischen dem Gedächtnis für frühere geo-
metrische Lehrsätze mit der gesamten geometrischen Begabung, aber
geringe zwischen dieser und rechnerischen Leistungen.
Der ständige Zusammenhang mehrerer Eigenschaften muss einen
inneren Grund haben: Man hat ihn in einer Grundeigenschafl,
einem Grundfaktor, einem Zentrallaktor gesucht. Heymans gibt die
Temperamente als solche Grundeigenschaft an, weil mit denselben
(;ine grössere Zahl von Eigenschaften regelmässig gegeben ist. Mit
dieser Frage haben sich besonders Spearmann und Krueger be-
sehältigl. Sie formulieren ihre auf nicht sehr viele Experimente
gestützte Hypothes-e über den „Zentralfaktor" in folgender Weise:
„Die Leistungsfähigkeiten irgend einer Person in zahlreichen sehr
verschiedenen Richtungen (Unterscheidung von Tonhöhen, Addieren
von Zahlen, Ausfüllen von lückenhaften Texten, Geschwindigkeit des
Schreibens, Lesens und Zählens) weisen hohe und konstante Kor-
Öifferenzielle Psychologie. 15
relatioiieii unter einander auf . . . Nach den numerischen Verhält-
nissen aller dieser Korrelationen scheint man berechtigt zu sein, sie
als Wirkungen eines gemeinsamen Ze n tralfaktors aufzufassen.
Die Erklärung scheint psycho-physiologisch erfolgen zu müssen. Die
bisher gesammelten Erfahrungen deuten möglicherweise darauf hin,
dass das eine Nervensystem allgemein eine gesteigerte plastische
Funktion besitzt gegenüber dem andern. Diese funktionelle Tüchtig-
keit wäre die Bedingung für die Ausgestaltung von präziser und
konstanter funktionierenden Leistungskomplexen, was sich denn auch
auf den verschiedensten psycho-physiologischen Gebieten in einer
grösseren Genauigkeit und zugleich Geschwindigkeit der Leistung
geltend machen würde" *). Doch stellen sie diese Erklärung noch
mit aller Reserve hin.
Dagegen erklärt Lucka die Erforschung der „Grundfunktion"
als die eigenthche Aufgabe der „Charakterologie" d. h. differenziellen
Psychologie. Er führt aus : Zweifel an der Verwendbarkeit elementarer
seelischer Funktionen zur Charakterisierung von Individuen werden
besonders geteilt von Binel, Henri, Ribo t, Paulhan, Fouillee;
sie halten nur die komplexeren Erscheinungen des Seelenlebens für
kennzeichnend ; die elementaren sind ja auch bloss Abstraktionen. Auch
die deutschen Psychologen teilen diese Ansicht, so besonders W. Stern
mit seinen „Typen". Die Zahl der „Kästchen", in welchen darnach
die Individuen untergebracht werden müssen, schwankt zwischen
20 und 800. Diese atomistische Empfmdungssynthetik kann nur
ein Signalement geben. ,,Aber es ist das Signalement und der
Steckbrief einer Person, keine Charakteristik, psychische Anthropo-
metrie, Psycho metrie, keine Psychologie". Die Charaktero-
logie „will von innen heraus feststellen, was einem Menschen
wesentlich ist". „Die Frage nach einer Grundfunk tion im
Seelischen, die als Charakteristikum par excellence das ganze Ver-
halten des Individuums bestimmt, muss für eine Charakterologie
in den Mittelpunkt gestellt werden". Dieselbe muss alle anderen
Funktionen durchdringen und beherrschen, sodass man von ihrer
besonderen Gestaltung aus von Individuum zu Individuum in die
tiefsten Verzweigungen des Seelischen eindringen kann. Kein einziger
der üblichen Tests leistet dies. Als charakterologische Grundfunktion
stellt Lucka das seelische Erlebnis auf^).
Sicherer sind die Ergebnisse der Experimenie, welche die Ab-
hängigkeit eines einzigen Merkmals von seinen Ursachen festzu-
stellen versuchen. Insbesondere ist die Frage, ob Erblichkeit
oder Milieu für gewisse Eigenschaften von Einfluss sind. Sehr
reichhaltig sind in dieser Beziehung die bisherigen Untersuchungen
von Galt on und Pearson. Sie fanden, dass das Milieu nur einen
geringen Einfluss übt, den allergrössten die Vererbung.
') Zeitschr. f. Psychologie 44. Bd. S. 50 ff.
'-) Archiv f. d. ges. Psych. 1907 10. Bd. S. 211: E. Lucka, Das Problem
einer Charaklerologie.
16 C. Gutberiet.
Heroii fand bei 4000 Schulkindern, dass die häuslichen Ver-
hältnisse keine Korrelation mit der von den Lehrern beurteilten
Intelligenz hatten. Elder.son und Pearson wollen sogar gefunden
haben, dass der Alkoholismus durchaus nicht die ihm zugemessene
Rolle als Ursache psychischer und physischer Minderwertigkeit besitzt.
Dagegen wies Galton nach, dass hervorragende Begabung in gewissen
Familien erblich ist. In Familien, deren Angehörige in Oxford
studiert hatten, fanden Schuster und Eiderson eine starke Korrelation
zwischen Vätern und Söhnen, eine etwas schwächere zwischen
Brüdern.
Heymans und Wiersma haben eine grosse Anzahl von
Eltern und Kindern untersucht und daraus auf die hohe Bedeutung
der \^ererbung geschlossen.
,,Die vorliegenden Zahlen weisen überall in unzweideutiger
Weise auf die Erblichkeit hin; und fast überall ist diese Hin-
weisung eine durchgängige und ausnahmslose". „Nicht so ganz
durchsichtig sind die Verhältnisse inbezug auf die Richtung der
Erblichkeit. Doch ist die gleichgeschlechtliche bedeutend frequenter
als die gekreuzt geschlechtliche". ,,Es scheint sowohl die rein väter-
liche und die rein mütterliche wie die gleichgeschlechtliche Erblich-
keit in hohem Grade bevorzugt zu sein" ^).
Diese Forscher suchen sogar nach ihren Erfahrungen rechnerisch
„das Mass zu bestimmen, in welchem einerseits die Geschlechts-
anlage, abgesehen von allen direkten väterlichen und mütterlichen
Erblichkeitseinflüssen, und in welchem andererseits eben diese väter-
lichen und mütterlichen Erbhchkeitseinflüsse die Entstehung be-
stimmter Charaktereigenschaften bedingen"-).
Zu diesem Zwecke mussten sie die charakteristischen Eigen-
schaften des Mannes und Weibes auf statistischem Wege feststellen.
Es ergab sich, ,,dass schmerzHche Ereignisse bei Frauen länger
als bei Männern nachwirken, und dass jene mehr in ihren S^'m-
pathien wechseln, mehr veränderungssüchtig, dagegen weniger für
neue Auffassungen zugänglich sind, als diese". Die Resultate „weisen
fast durchgängig auf eine ausgesprochene Inferiorität in den
intellektuellen Leistungen des weibhchen Geschlechtes hin".
Doch ist zu bemerken, „dass die Frauen in praktischem Sinn und
Geist nicht oder kaum hinter den Männern zurückstehen, und in der
Kunst des Gespräches sowie in manueller Geschicklich-
keit dieselben weit hinter sich lassen, während sie auch für Musik
und Schauspielkunst besser als die Männer beanlagt zu sein
.scheinen". Die Frauen sind „reinlicher und ordentlicher, geduldiger
bei Krankheiten und in höherem Masse psychischen Störungen aus-
gesetzt". Die Grundzüge des Unterschiedes der Geschlechter sind
') Zeitschr. f. Fsycli. von Ebbingbaus 190G 42. Rd. S. 258 ff. : „Beiträge
zu einer speziellen Psvcliol. auf Grund einer Massenuntersucliung".
-') A. a. 0. S. 821.'
Differenzielle Psychologie. 17
„die grössere Aktivität und Emotionalität, sowie der geringere Egois-
mus der Frauen". -- Bei der älteren Generation findet sieh
„ein stärkeres Nachwirken früherer \^orstellungen und Gefühle". Als
Gesamtbild des Unterschiedes zwischen der älteren und jüngeren
Generation stellt sich heraus : „Erstens eine deutlich ausgesprochene
Tendenz zur Herabsetzung der Aktivität und zum sittlichen Rück-
schritt bei beiden Geschlechtern. Und zweitens, jene erstere Tendenz
teilweise kompensierend, ein nicht weniger deutlich ausgesprochener
Aufschwung des weiblichen Geschlechtes, zunächst vorwiegend auf
intellektuellem Gebiete mit auffallender Verstärkung aller abstrakten
oder supersozialen Neigungen bei den Frauen ; und sodann die merk-
liche Steigerung ihres Selbstgefühls". „Bei den Männern zeigt die
jüngere Generation eher eine Abnahme der InteUigenz, sie sind in
den abstrakten wie in den anderen Tugenden zurückgegangen . . .
jene Frauen haben ein Ideal, diese Männer nicht" ^).
Gegen diese Untersuchungen hatte eine Dame den Einwand er-
hoben, sie seien nur von Männern angestellt, welche die Frauen
nicht verständen. Darum wurden nun Fragebogen an Frauen ge-
sandt, und aus 147 Antworten ergab sich:
,, Unser früheres Ergebnis, dass die Frauen durchschnittlich
aktiver, mehr emotionell beanlagt und weniger egoistisch sind als
die Männer, ist auch das Ergebnis der jetzigen Untersuchung, und
unsere damals ausgesprochene Vermutung, dass die intellektuelle
Insuffizienz der Frauen hauptsächlich auf ihrer Emotionalität und
ihrer Neigung zum Konkreten und Anschaulichen beruhen dürfte,
findet in den jetzt vorliegenden Resultaten eine sehr erfreuliche Be-
stätigung" ^).
Das Individualitätsproblem
wird von der differenziellen Psychologie unter ganz anderen Ge-
sichtspunkten behandelt als in der Metaphysik. Diese sucht das
Wesen der Individualität: das, was das Individuum zum Indi-
viduum macht, zu erforschen, jene aber will die Individualitäten
kennen lernen. In der Auffassung mancher Philosophen berühren
sich beide Standpunkte, wenn sie z. B. das Gefühl als das Wesen
der Individualität, der Persönlichkeit bezeichnen. Wer nun das Ge-
fühl als Zentralfaktor aller Eigenschaften ansieht, gibt im Grunde
eine differenzielle psychologische Antwort auf die Frage : Was macht
das Wesen der Individualität aus?
Es ist aber eine weitverbreitete Meinung, dass das Individuum,
das einzelne, nicht Gegenstand der Wissenschaft sein könne, diese
habe nur allgemeine Gesetze zu erforschen und festzustellen, weshalb
sie der Geschichte, die mit Personen und Ereignissen sich beschäftigt,
') Zeilschr. f. Psych, von Ebbinghaus 1907 45. Bd. S. 1 ff. : G. Heymans
luiil E. Wiersma, „Beiträge zur speziellen Psvchologie anf Grund einer Massen-
untersuchung".
■') A. a. 0. 1908 46. Bd. S. 321,
Philosophisches Jahrbuch 1913. ^
18 C. Gutberiet.
also einzelnes behandelt, den Charakter einer wahren Wissen-
schaft abspricht. Aber nach Winde Ib and gibt es neben nomo-
thetischen Wissenschaften auch idiographische, und Rickert
stellt sogar die Geschichte, deren Objekt das System von Wert-
systemen ist, über die Wissenschaften der Gesetzessysteme. Auch
das geringste menschliche Individuum in seiner Selbstbestimmung
hat einen höheren Wert, als die ganze materielle Welt mit ihren
starren allgemeinen Gesetzen ; menschhches Leben, obgleich es fast
ganz von Zufälligkeiten gebildet wird, muss unser Interesse, und
damit unseren Forschungstrieb mehr anregen, als das blinde Wirken
der Naturkräfte.
Die differenzielle Psychologie verfolgt aber neben den rein theo-
retischen auch praktische Zwecke für Pädagogik, Rechtspflege usw.
Damit ist sie direkt auf das Individuelle angewiesen. Die Wissen-
schaft des Arztes darf nicht beim Studium allgemeiner physiologischer
Gesetze stehen bleiben, er muss den einzelnen Kranken zu beurteilen
wissen, wobei ihm die allgemeinen Gesetze wohl behilflich sein
können, aber den besten Teil muss seine Einzelkenntnis leisten. So
muss der Pädagoge nicht bloss Pädagogik studieren, sondern auch
seine einzelnen Schüler kennen lernen, um sie sachgemäss unter-
richten und besonders um sie erziehen zu können.
Neben der generalisierenden Psychologie muss darum auch der
individualisierenden Psychographie ein Platz eingeräumt werden.
Dieselbe wurde bisher schon ausgiebig in der Biogra})hie ge])flegl
und ebenso in der künstlerischen Darstellung von wirklichen oder
erfundenen Charakteren. Hier tritt aber die Einheil der Persön-
hchkeit in den Vordergrund, während die Psychographie im
engeren Sinne mehr die Einzelheiten der Persönlichkeit ins Auge
fasst. Stern definiert:
„Unter , Psychographie' verstehen wir im Gegen.satz zur Bio-
graphie diejenige Methode der Individualitätsforschung, welche nicht
von der Einheit, sondern von der Mannigfaltigkeit der im Indi-
viduum vorhandenen Merkmale ausgeht und diese ausschliesslich
oder vorwiegend nach psychologischen Gesichtspunkten ordnet". Ein
.,Ps ychogramm" ist die für irgend eine bestimmte Persönlichkeit X
durchgeführte Anwendung der psychographischen Methode.
Die Psychographie um.fasst ein weit ausgedehnteres Gebiet, als
die Biographie. Diese behandelt bloss hervorragende Persönlich-
keiten, jene aber alle, selbst minderwertige, wie Verbrecher, Psycho-
pathen usw.
Die Psychographie steckt sich eine dreifache Aufgabe. Erstens
sucht sie die Struktur der Individuahtät zu erforschen, die Art
und Weise, wie die verschiedenen Merkmale sich an-, in- und über-
einunderfügen. Zweitens will die Psychographie dem Biographen
in die Hunde arbeiten. Sie zeigt ihm Gesichtspunkte, die aus dem
geschichtlichen Verlaufe nicht zu tage treten. Drittens kann sie
praktischen Zwecken dienen. Sie zeigt dem Lehrer, Richter ein
Differenzielle Psychologie. 19
nicht beobachtetes Merkmal durch ein anderes, das als Symptom
von der Psychographie festgestellt ist.
Ein „psychographisches Schema" ist eine Liste, welche die Ge-
sichtspunkte enthält, nach denen ein Psychogramm anzufertigen ist.
Stern verlangt ein „Generalschema", das er definiert: „Eine nach
übersichthchen Einteilungsprinzipien geordnete Liste aller derjenigen
Merkmale, die für die Erforschung von Individualitäten möglicher-
weise in Betracht kommen können, ohne Rücksicht auf apriorisch
angenommene ,Wesentlichkeit' und auf die besonderen Absicliten der
einzelnen hidividuahtätsuntersuchungen". Er selbst hat ein solches
Schema für das „Institut für angewandte Psychologie" ausgearbeitet,
und obgleich es noch sehr unvollständig, war, hat es der Individual-
forschung doch schon sehr gute Dienste geleistet. Später hat er
ein detaillierteres gegeben. Von Vorteil freilich ist es noch, Teil-
schemata zugrunde zu legen, wie das bei dem Psychogramm von
dem Dramatiker Holfmann Margis mit Erfolg versucht hat.
Dieses ist das vollständigste Psychogramm, das überhaupt bis
jetzt geliefert worden ist. Alles, was von und über Hoffmann zu
erreichen war, wurde herangezogen: seine Werke, Handschriften,
Zeichnungen, Briefe, Tagebücher, Musikalien, Biographien und Urteile
der Zeitgenossen. In diesem Vollbilde erscheint Hoflfmann vielfach
in neuem Lichte; es werden bisher übersehene psychische Eigen-
schaften einbezogen; es zeigt sich deuthch die Struktur der Indi-
vidualität : das Spiel und Gegenspiel verschiedener Elemente und die
auffallende Verträglichkeit sehr verschiedener Begabungen, von musi-
kalischen, literarischen und zeichnerischen, auch tritt das Verhältnis
von Naturell und Leistungen deutlich hervor.
Gleichen Bestrebungen entstammen die Psychogrannne franzö-
sischer Psychologen, welche Zeitgenossen zum Gegenstande haben,
Toulouse hat Psychögramme von Zola und Poincare entworfen,
die aber noch auf einer tiefen Stufe der Forschung stehen. Das
Verfahren ist ziemlich mechanisch, es werden die damals (am Ende
des vorigen Jahrhunderts) gebräuchUchen Tests über Seh- und Hör-
schärfe, Farben-, Formen-, Zahlen-, Wort- und Satzgedächtnis,
Pieaktionszeiten und Assoziationen in Anwendung gebracht; dies alles
hat aber wenig Beziehung zur genialen x\nlage, die erforscht werden
sollte. Ganz anders die Psychögramme, die Binet von hervor-
ragenden Dramatikern und von dem jungen Maler Tade Styka
entworfen hat. In einer feinsinnigen und eindringenden Analyse des
Dramatikers Hervieu sucht er die ,,creation litteraire" in ihren
Bedingungen, Dispositionen und Aeusserungen darzulegen.
Am umfangreichsten sind die schon erwähnten Massenunter-
suchungen der holländischen Psychologen Heymanns und Wiersmas,
welche Psychögramme durchschnittlicher Menschen auf Grund einer
sehr grossen Zahl von Vollpsychogrammen der einzelnen unter-
suchten Personen zu gewinnen suchen. F's liefen bei ihnen 2415
ivädi dem von ihnen entworfenen Schema gewonnene Psychögramme
20 C. Gutberiet.
ein: Eigen^cbafton wiirrlon in den Zählkarten erfragt. Die Psycho-
gramme verfolgten allgemeinere Ziele, z. B. Verhalten der beiden
Geschlechter in psychischer Beziehung, Erblichkeit psychischer
Eigenschaften ^) Dafür mussten sie aber Psychogramme der einzelnen
Individuen haben.
Verhältnismässig leicht sind psychographische Sprach-
statistiken zu gewinnen, um so die Eigenart der Sprache eines
Individuums zu charakterisieren. Dabei untersucht man den Umfang
und die Verteilung des Wortschatzes, den Prosarhythmus, die Sprach-
melodie, den Styl usw. So hat Lutoslawski die „Stylometrie"
auf die Dialoge Piatons angewandt, um deren chronologische Reihen-
folge zu bestimmen: aus dem Vorkommen von gleichen Worten in
zwei oder mehreren Dialogen deren Gleichzeitigkeit gefolgert.
Die Streitfrage, ob Bacon von Verulam der grosse Dramen-
dichter „Shakespeare" sei, glaubt Mendelthal sprachstatistisch ent-
scheiden zu können. Er zählte in den Dramen die zwei-, drei- und
mehrbuchstabigen Worte, stellt deren Häufigkeiten durch eine Kurve
dar, die bei Bacon einen andern Verlauf zeigt als bei Shakespeare.
Exakter sind die Teilpsychogramme, die auf sprachlichem Wege
den T)T)us einer Person, ob auditiv oder visuell, darzutun suchen.
So haben Kurt und Maria Groos die lyrischen Gedichte Schillers
auf Ausdrücke, die der Farbenwelt und der Tonwelt entnommen
sind, untersucht. Sie fanden, dass akustische Ausdrücke bei Schiller
in relativ grosser Häuligkeit auftreten, weshalb sie aber bloss als
Hypothese die Zugehörigkeit Schillers zum auditiven Typus annehmen.
Was R. Wagner anlangt, so fanden Ilse Netto und Marie Groos
im Ring der Nibelungen : ,,1. Die Phantasie Wagners arbeitet im
,Ring' stark mit optischen Phänomenen, während das Gebiet der
Gehörserscheinungen nur eine mittelstarke Verwertung findet. 2. Im
akustischen Gebiete ist das .Sprechen' bei Wagner (und Cornelius)
viel stärker, die Rubrik der ,nichtsinnlichen Geräusche' viel schwächer
als in den bisher untersuchten Gedichten Goethes und Schillers ver-
treten" 2).
Aus diesem Befunde ersieht man, w^ie zweifelhaft der Schluss
von den Sprachmitteln auf auditiven oder visuellen Typus ist.
VVagner gehört doch ganz sicher dem auditiven Typus an, und
doch hat er mehr optische als akustische Worte. Es ist ja auch
bekannt, dass der Mensch in seiner Alltagssprache sich natürlicher
ausdruckt, als in seinen literarischen W^erken; jene könnte besser
als Grundlage für die Aufstellung eines Typus dienen, jedenfalls darf
sie dabei nicht ausgeschlossen sein.
Die Bevorzugung von ojitischen oder akustischen Bildern wechselt
aucii im Laufe der Jahre, der Typus aber ist angeboren. So linden
') Neueslens haben sie auf diesem statistischen Wege gefunden, da'^s mil
•»iner jeden neuen Generation eine Verbesserung; der psychischen Eigenschaften
jinlrill: Empfehlung der Ehe (Zeilschr. f. Psvcli. 1912 S. 1 iL).
■■) Archiv f. d. g. Psycli. 1911 21. Pd. S. 401 ff.
Differenzielle Psychologie. 21
K. und M. Groos: dass Schiller in seiner Jugend doppelt so viel
optische Ausdrücke hat wie Goethe. Später sinkt die „Optik" merk-
lich, während sie bei Goethe mit zunehmenden Jahren zunimmt.
Bei beiden steigt mit dem Alter das Grün, sinkt das Rot ; bei beiden
mehren sich die Ausdrücke nach dem Hell hin.
Wir besitzen bereits eine Menge kasuistischer Psychogramme,
oder doch Ansätze dazu, die weniger im Interesse der Wissenschaft
als aus speziellen Bedürfnissen angefertigt werden, und es sind nichl
ausgezeichnete Persönlichkeiten, ihre Objekte, sondern Spezialitäten,
wie Verbrecher, verschiedene Arten von Irren, von mediumistischen
Individuen, von ungewöhnlich begabten Menschen usw. Es sind
freilich mehr Biographien, wie sie z. B. der „Neue Pitaval" für Ver-
brecher liefert. Flournoy hat sehr eingehende Schilderungen des
bekannten, von ihm beobachteten Mediums geliefert, Schrenck-
Notzing von perversen Geschlechtsmenschen. Besonders interessant
sind die "Psychogramme, die Mindersinnige selbst von ihrem Seelen-
leben geben, wie die Selbstbiographie von der taubblinden Helen
Keller, und die von Fachpsychologen gelieferten Darstellungen der-
selben ausserordentlichen Persönlichkeit, wie von Stern, und von der
ihr sehr verwandten Laura Bridgmann von Jerusalem.
Am auffallendsten ist die Begabung der Rechenkünstler;
diese haben denn auch in hervorragender Weise die Aufmerksamkeit
der Psychologen auf sich gezogen : von ihnen besitzen wir die meisten
Psychogramme. Binet hat eine Psychologie der berühmten Rechen-
künstler (zugleich von virtuosen blinden Schachspielern) Inaudi
und Diamanti geschrieben, wobei sich recht auffälhg der Unter-
schied zwischen auditivem und visuellem Typus ergab. G.E. Müller
hat eingehend den deutschen Rechenkünstler Rückle analysiert und
eine Theorie vom Vorstellungsleben darauf aufgebaut. Eine lange
Liste von bekannt gewordenen Rechenkünstlern gaben Syripture
und Mitchell und leiten daraus ein (Teil-)Psychogramm solcher
Wundermenschen ab.
Viel häufiger als die Wundermenschen sind die Wunder-
kinder, von denen viele eben nur durch Frühreife sich hervor-
tun, nicht durch dauernde ausserordentliche Begabung. Von ihnen
besitzen wir denn auch ziemhch eingehende Beschreibungen. So
von dem in elf Sprachen dichtenden Mädchen EUsabeth Kulmann
(von Thomson), von einem ungarischen siebenjährigen Komponisten
(von Revecz) usw.
Auch die unternormalen Kinder haben vielfache Beachtung ge-
funden, aber am fleissigsten sind bis jetzt die gewöhnUchen normalen
Kinder systematisch beobachtet und beschrieben worden. Es existiert
bereits eine reichhaltige Literatur über die Psychologie des
Kindes, zu der in hervorragender Weise gerade Stern beigesteuert hal.
Wir haben über dieselbe jeweilig im ,Phil. Jahrb.' eingehend referiert.
\'ailiiiigers „Philosophie des Als Oh".
Von Universitäts-Professor Dr. W. Switalski in Braunsberg (Ostpr.).
Die Philosopliie der Gegenwart ist in zwei Lager gespalten: Auf der
einen Seite gewinnt die Ueberzeugung, dass ein fruchtbares Philosophieren
ohne Anerkennung letzter, unverrrückbar fester, apriorischer Elemente un-
möglich ist, vor allem seit den epochemachenden Untersuchungen Husserls
immer zahlreichere Vertreter; anderseits sind aber die Anhänger der
positivistischen und psychologislischen Pachtung noch keineswegs gewillt,
vor der „reinen Logik" das Feld zu räumen; der anglo-amerikanische
Pragmatismus schien ja der empiristischen Denkweise neue brauchbare
Waffen zu Hefern. Eine eigentümliche Sonderstellung nimmt der Neu-
kantianismus der Marburger Schule ein. Energisch betont er die Not-
wendigkeit apriorischer, konstruktiver Prinzipien, aber, indem er ihre Fest-
stellung von dem steten Flusse des Bewusstseinslebens abhängig macht,
nähert er sich doch dem Relativismus der Erfahrungsphilosophie.
l
Von neuem entbrennt nun der Streit zwischen den beiden Lagern
durch das gross angelegte Werk de.s bekannten Kantinterpreten Vaihinger,
das als stolze Devise auf dem Titelblatt das Urteil F. A. Langes über die in
ihm enthaltenen Untersuchungen zeigt: „Ich bin überzeugt, dass der hier
hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnis-
theorie werden wird". Von Anhängern des Psychologismus auf das
freudigste begrüsst (vgl. z. B. W. Jerusalem in „Zukunft" 25. Mai 1912,
Julius Schultz in „Kantstudien" XVII Heft 1 und 2 S. 85 ff.) findet
es auf der Gegenseite eine ebenso entschiedene, zum Teil ironische Ab-
lehnung (Ferd. Jakob Schmidt in „Preuss. Jahrb." Dezember 1911, April
1912), während objektivere Beurteiler eine zum mindesten reservierte Haltung
unter Hervorhebung gewichtiger kritischer Bedenken einnehmen (Kurt
Sternberg in „Kant.studien" XVI Heft 2 und 3 S. 328-338; vgl. auch
die sachliche, im wesentlichen ablehnende Stellungnahme i\l. Ettlingers
im „Hochland" November 1911 S. 243 f.).
') Die Philosophie des Als Üb ; System der theoretischen, praktischen und
religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus-
Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Herausgegeben von H. Vaihinger.
Berlin 1911, Reuther & Reichard. gr. 8«. XXXV und 804 S. geh. 16^., geb. 18 J^.
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 23
Das Werk hat eine eigentümhche Geschichte: Der erste und zweite
Teil ist in den Jahren 1876—78 im Manuskript fertiggestellt, und auch der
dritte, historische Teil basiert (mit Ausnahme zweier kleinerer Abschnitte,
die Kant und Nietzsche betreffen) der Sache nach vollständig auf Kollekta-
neen, die aus den Jahren 1875—78 stammen (V). So erklärt es sich,
dass der Verfasser dieses Werkes, als er nach mehr als dreissig Jahren
(im Jahre 1911) seine Veröffentlichung unternahm, sich nur als „Heraus-
geber" bezeichnen wollte. Der inzwischen ergraute Autor, der an dem
Werke seiner Jugend im wesenthchen nur redaktionelle Aenderungen vor-
nahm, will damit andeuten, dass es einer entschwundenen Periode seiner
Geistesentwicklung entstammt, so sehr er auch in den Grundzügen durchaus
mit den im Werke gemachten Aufstellungen auch jetzt noch sich einver-
standen erklärt, denn „ein philosophisches Werk, das nach dreissig Jahren
veraltet ist, ist überhaupt nicht philosophisch im prägnanten Sinne des
Wortes" (VI).
Den Anlass zur Herausgabe des Werkes gab die Beobachtung, dass
seit den achtziger Jahren immer entschiedener Strömungen in der philo-
sophischen Denkbewegung sich geltend machten, die den in ihm behandelten
Problemen und ihrer Lösung in mehr als einer Hinsicht verwandt sind.
Der Verfasser nennt selbst diese Strömungen (IX f.) : es ist zunächst der
Voluntarismus, wie wir ihn einerseits bei Paulsen und Wundt und
andererseits in engerem Anschluss an Fichte hei Eucken bzw. bei Windel-
band und Rickert vorfinden. An zweiter Stelle führt er die biologische
Erkenntnistheorie eines Mach und Avenarius an. Hierzu kommt die Philo-
sophie von Friedrich Nietzsche und die neueste Moderichtung, der
Pragmatismus. Das sind die vier wichtigen Momente, welche heute
— nach der Auffassung des Autors — das Verständnis seines Werkes er-
leichtern, „ja seine Einführung überhaupt wohl erst ermöglichen, Momente,
die damals im Jahre 1877 noch völlig fehlten" (IX).
Das Problem, das den Verfasser beschäftigt, formuliert er selbst kurz
und prägnant : „Wie kommt es, dass wir mit bewusst falschen Vorstellungen
doch Richtiges erreichen?" (VII). Den Anstoss zu der Beschäftigung mit
diesem logischen Problem gab ursprünglich „eine mehr stilistische
Beobachtung". „Philologische Studien", so äussert sich der Verfasser
in der ursprünglichen, im Werke nicht mit abgedruckten Vorrede (vgl.
Kantstudien XVI Heft 1 S. 109), „hatten mich auf die Notwendigkeit ge-
führt, dem logischen Werte der Partikeln besonders nachzuforschen ;
und unter den Partikeln reizten insbesondere die zusammengesetzten
die Aufmerksamkeit, vornehmlich die Partikel Verbindung -»als ob« oder
>wie weun« war mir bei der Lektüre häufig aufgestossen". „Bei dem
eingehenden Studium der Mathematik, der Mechanik und der Philosophie
und insbesondere derjenigen Kants fand ich jene Partikelverbindung häufig
angewendet". Die Fiktion als methodologisches Prinzip tritt auf diese Weise
24 W. Switalski.
dem Verfasser entgegen und regt ihn zu weiterem Nachdenken an, l^ic
„logische Theorie der Fiktionen", die hieraus im Geiste des Verfassers
entstand, verdankt nach seiner eigenen Angabe mannigfache Anregung und
Bestätigung den Ausführungen Langes in seiner „Geschichte des Materialis-
nms'- (a. a. 0.) und Lotzes geistvollen Bemerkungen über das Verhältnis
von Fiktion und Hypothese (vgl. VIII). Seine Untersuchung nennt er in
seinem ersten Vorwort direkt einen „Versuch, die Forschungen in der
Psychologie, insbesondere Steinthals psychologische Gesichtspunkte mit
den logischen Untersuchungen eines Lotze und Sigwart zu verschmelzen
und besonders auf die erkenntnistheoretischen Fragen anzuwenden"
(a. a. 0. 112).
Wie aktuell die Darlegungen Vaihingers sind, ersehen wir aus der
von ihm selbst gegebenen Uebersicht über parallele Erscheinungen in der
modernen philosophischen Literatur (XI ff.): Namen von gutem Klang, so
z. B. Laas, Dilthey, Wundt, Meinong, H. Maier, Cornehus, Baldwin u. a.,
treten uns hier entgegen. Auf dem Gebiet der naturwissenschaft-
lichen Erkenntniskritik (Lipps, P. Volkmann, Poincare, Enriquez a. a.),
der Mathematik (Couturat, Russell, F. Klein), der Aesthetik (K. Lange,
Groos u. a.), der Ethik (Marchesini, Simmel), der Religion s philo-
sophio und Metaphysik (Paulsen, Lipsius, Bergson, der Sym^bolo-
Fideismus von Sabatier und der mit ihm zusammenhängende Modernis-
mus usf.), und in den neueren Interpretationen der Kantischen
Ideenlehre (Görland, B. Bauch, 0. Ewald, Simmel u. a.) erblickt er
geistesverwandte Bestrebungen. Vaihinger ist der Ueberzeugung, dass seine
„Philosophie des Als Ob", die nach seiner Ansicht die richtig verstandene
Doktrin Kants im modernen Gewände bietet, als Konzentrationspunkt für
alle genannten Tendenzen dienen kann (XIV, XV). Mit einer unserer Meinung
nach bemerkenswerten Anpassung an die neu- idealistische, aut
Fichte, Schelling und Hegel zurückführende Strömung der Gegenwart nennt
er seine Stellungnahme zu den philosophischen Problemen nicht mehr, wie
im ursprünglichen Vorwort (a. a. 0. 112), einfach „kritischen Positivismus",
er bezeichnet sie jetzt in etwas paradoxer Weise als „idealistischen
Positivipmus".(XIV): „denn", so fügt er zur Erklärung bei, „sie erkennt
ja eben (neben aller Mabnvmg zur kritischen Auslese) den hohen ästhetischen
und ethischen Werth der rehgiösen Fiktionen an und tritt für deren
Aiifrechterhaltung mit Entschiedenheit ein".
Man darf somit gespannt sein, den eigentlichen Lehi-gchalt dieses
Systems genauer kennen zu lernen.
( '.liarakteristisch für die Untersuchungsmelhode Vaihingers ist die un-
eingeschränkte Anwendung der biologischen Auffassungsweise auf die
Durchforschung der logischen Probleme. Er betont mit Recht (9) : „Wenn
Vaihingers „Philosophie des Als üb". 25
man als Zweck des Denkens die Erkenntnis („Theorie") ansieht, so wird
man die logischen Funktionen ganz anders betrachten, als wenn der Zweck
des Denkens und Erkennens schliesslich ins Praktische gesetzt wird". Er
selbst entscheidet sich nun für das zweite Glied dieser Alternative:
Wie die physiologischen Vorgänge, wie ferner „die Vorstellungsbewegung . . .
in ihrer stetigen Abänderung in hohem Grade die Anforderung der Zweck-
mässigkeit" (2) erfüllt, so gehören auch die Denkprozesse zu den orga-
nischen Bildungsvorgängen. „Die Psyche ist . . . eine organische Ge-
staltungskraft (Steinthal), welche das Aufgenommene selbständig zweck-
mässig verändert und ebenso sehr das Fremde sich anpasst, wie sie sich
selbst dem Neuen anzupassen vermag" (a. a. 0.). „So ist (auch) die lo-
gische Funktion eine Tätigkeit, w' eiche ihren Zweck passend erfüllt
und zur Erfüllung dieses Zweckes sich den Verhältnissen
und den Gegenständen zu akkomrnodieren, zu adaptieren
versteht" (4). Der Zweck der Denkfunktion besteht aber in der Auf-
gabe, aus den gegebenen „Empfindungsverbänden" „ein solches Weltbild"
zu produzieren, ,,dass nach diesem das objektive Geschehen berechnet und
unser handelndes Eingreifen in den Gang der Geschehnisse erfolgreich aus-
geführt werden könne" (5). Das Denken findet also seine Bestimmung „in
der Verarbeitung und Vermittelung des Empfindungsmaterials zur Erreichung
eines reicheren und volleren Empfindungslebens" (8). All die „kunstreichen
Hilfsmittel" und „verwickelten Prozesse", deren das entwickelte Denken
sich bedient, entstehen „nur durch die ungemein sinnreiche Modifikation
und Spezifikation (einiger) weniger Grundtypen und Grundgesetze, die sich,
teils gedrängt durch die äusseren Voraussetzungen und Umstände, teils
getrieben durch immanente Entwicklungskeime, zu jenem reichen, unend-
lichen Wissenssysteme entfalten, auf das der Mensch so stolz ist" (9).
„Die eigentUchen Grundprozesse verlaufen (aber) in dem Dunkel des Un-
bewussten". „Es handelt sich (also) für die Logik darum, die dunkel
und unbewusst arbeitende Tätigkeit des Denkens zu be-
leuchten" (10\ „Die eigenthche Kunst des Denkens ist, das Sein auf
ganz anderen Wegen zu erreichen, als diejenigen sind, welche das Sein
selbst einschlägt" (11, vgl. Lotze). „Vom Standpunkt des objektiven Ge-
schehens aus betrachtet, sind die Operationen des Denkens oft recht ver-
schlungen und erscheinen sogar oft als unzweckmässig, ja, sie sind es
nicht selten auch; . . . gerade darin bewährt sich die organische Natur
der logischen Funktion, dass sie immer zweckmässiger, eleganter, spar-
samer reagiert" (a, a. 0., vgl. Avenarius). „Die Wege des Denkens" dürfen
also nicht „für Abbilder der realen Verhältnisse selbst" genommen werden,
aber ihre „Zweckmässigkeit manifestiert sich darin, „dass die logischen
Funktionen, wenn sie nach ihren eigenen Gesetzen arbeiten,
schliesslich doch immer wieder mit dem Sein zusammen-
treffen" (12j.
26 W. Switalski.
Wiclitig für das nähere Verständnis dieser „Wege des Denkens" ist
nun die Unterscheidung der „Kunst rege In" und der „Kunstgriffe" des
Denkens: „Kunstregeln sind das Zusammen aller jener technischen
Operationen, vermöge welcher eine Tätigkeit ihren Zweck, wenn auch mehr
oder weniger verwickelt, so doch direkt zu erreichen weiss, und welche
aus der Natur jener Tätigkeit und der sie reizenden Umstände unmittelbar
folgen". „Kunstgriffe aber sind solche Operationen, welche, einen fast
geheimnisvollen Charakter an sich tragend, auf eine mehr oder weniger
paradoxe Weise dem gewöhnlichen Verfahren widersprechen" und dabei
„Schwierigkeiten, welche das bezügliche Material der betreffenden Tätigkeit
in den Weg wirft, indirekt zu umgehen wissen" (17). Die „Fiktionen"
sind nun solche „Kunstgriffe", sie sind „Hilfsbegriffe und Hilfsoperationen
des Denkens" (18). „Die Fiktionen sind psychische Gebilde. Aus sich
selbst spinnt die Psyche diese Hilfsmittel heraus ; denn die Seele ist er-
finderisch: den Schatz an Hilfsmitteln, der in ihr selbst liegt, entdeckt sie,
gezwungen von der Not, gereizt von der Aussenwelt" (18 f.).
..Als allgemeiner Typus der Fiktion" ist „die Formierung solcher
Vorstellungsgebilde" zu nennen, „welche in der Wirklichkeit keinen Ver-
treter finden" (24). Von den eigentlichen Fiktionen, „welche nicht nur
der Wirklichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchs-
voll sind", sind nun aber die ,, Halbfiktionen" zu untersclieiden, „Voistellungs-
gebilde, welche nur der gegebenen Wirklichkeit widersprechen, resp. von
ihr abweichen, ohne schon in .sich selbst widerspruchsvoll zu sein" (24).
Zu den ersteren rechnet Vaihinger den Begriff des Atoms, des Dinges
an sich u. ä., während er als Beispiel der letzteren die künstliche
Einteilung; anführt. „Das Denken beginnt zuerst mit leichteren Ab-
weichungen von der Wirklichkeit (Halbllktionen), um zuletzt, immer kühner
geworden, mit solchen Vorstellungsgebilden zu operieren, welche nicht mehr
bloss dem Gegebenen widersprechen, sondern auch in sich selbst wider-
spruchsvoll sind". Beide Arten sind also nicht streng geschieden, sondern
durch allmähliche Uebergänge verbunden (a. a. O., vgl. 123).
Der Begriff der „Fiktion", in dem „das freigestaltende Moment" „das
hervorstechendste Merkmal" (129) ist, ist aber noch nicht eindeutig genug fest-
gestellt: es gilt, die wissenschaftliche Fiktion von anderen, besonders
von den ästhetisch-praktischen Erdichtungen abzugrenzen (129 f.).
Vaihinger schlägt vor, den Namen „Fiktion" für den wissenschaftlichen
Kunstgriff zu reservieren und darunter „jede bewusste, zweckmässige, aber
falsche Annahme" (130) zu verstehen. Bei allen Erdichtungen ist „die
Apperzeption einer Wahrnehmung durch ein Analoges das Grundmotiv"
(130, vgl. Steinthal). Die ursprünglichsten Fiktionen oder, wie Vaihinger
sie nennen will, .^Figmente" sind nun die mythologischen ,. Gebilde,
welche aus empirischen Elementen frei zusammengesetzt sind". Von den
eigentlichen „Fiktionen" scheidet sie der Mangel jeder Zweckbestimmung
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 27
hinsichtlich einer genaueren Anpassung an die Wirkhchkeit. Dasselbe gilt von
den „ästhetischen Fiktionen" (131 f.), die aber insofern mit den wissen-
schaftlichen sich vergleichen lassen, als beide „nicht Selbstzweck, sondern
Mittel zur Erreichung höherer Zwecke'' sind. Ueber die Auswahl der
„guten" Fiktionen entscheidet in der Aesthetik „der gute Geschmack", in
der Wissenschatt „der logische Takt" (132 vgl. 134 f.). „Diejenige Vor-
stellung ist »wahr«, welche den Zweck alles Denkens am besten erfüllt,
nämlich das Objektive zu berechnen, zu begreifen. Diejenige ästhetische
Fiktion ist »schön«, welche den Zweck des Dichtens, nämlich ästhetische
Empfindungen zu erwecken, am besten erfüllt" (136). Besonders wertvoll
ist die Abweisung des „reinen Positivismus", die Vaihinger in diesem Zu-
sammenhange bietet: „Nur die stumme Anschauung, die schweigende
Beobachtung z. B. eines Registrierapparates oder eines sonstigen In-stru-
mentes oder Vorganges ist reiner Positivismus" (139). „Selbst der
nüchternste Beobachter in der Wissenschaft, der vollendete Positivist, kommt
nicht ohne Fiktionen aus; „denn selbst das geringste, nüchternste Urteil
(ist) nicht ohne Kategorien möghch — und dies sind schon Fiktionen"
(138). — Wie übrigens die wissenschaftliche Fiktion mit der „willkürlichen
Annahme" nicht zusammenfällt (vgl. auch 140), so ist sie auch von Be-
griffen, wie „Irrtum" und „Lüge", zu trennen, sofern man darunter ,, über-
flüssige und unzweckmässige" (141) oder ,, unerlaubte" (142) Gebilde ver-
steht. Allerdings sind diese Begriffe nach Vaihinger unter einander nahe
verwandt, so dass er nicht nur behauptet, das höhere Leben beruhe auf
edlen Täuschungen, sondern geradezu das paradoxe Urteil fällt, „dass
Wahrheit nur der zweckmässigste Irrtum sei" (143; vgl. 192).
Noch gilt es, „Fiktion" von „Hypothese" abzugrenzen (143 ff.). Beide
sehen sich äusserlich sehr ähnlich, aber, während die Hypothese „stets auf
die Wirklichkeit geht", während sie „als wahr, als wirklich, als realer
Ausdruck eines Realen" nachgewiesen werden will (144), beurteilen wir
die Fiktion nach ihrer Zweckmässigkeit (144 Anm.). „Hypothese und
Fiktion sind nicht etwa graduell verschieden, sie sind qualitativ
anderer Natur" (147). Die Hypothese soll verifiziert werden, die Fiktion
dagegen, „soweit wir sie als provisorisches Hilfsgebilde bezeichnet haben,
soll im Laufe der Zeit wegfallen und der wirklichen Bestimmung
Platz machen, soweit sie aber echte Fiktion ist, soll sie wenigstens logisch
ausfallen, sobald sie ihre Dienste getan hat" (147; vgl. 127, 172). Die
Fiktion kann man „mit einem Balkengerüste vergleichen, das nach voll-
endetem Bau wieder abgebrochen wird, die Hypothese dagegen mit dem
Balkengerüste, welches in dem Bau selbst mit verwertet wird als inte-
grierender Teil des Baues" (148 Anm.). „Die Hypothese ist also ein Re-
sultat des Denkens, die Fiktion ein Mittel und eine Methode des-
selben" (149). „Die Hypothese will entdecken, die Fiktion erfinden"
(a.a.O.). „Der Verifizierung der Hypothese entspricht die Justifi-
28 W. Switalski.
ziernng der Fiktion'' (150; vgl. 610). Trotz dieser Häufuujf prägnanter
Unterschiede gesteht freilich der Verfasser, dass eine Scheidung in concreto
sehr schwierig ist. Die Grenzen beider spielen eben in einander. „Was
heule Hypr.these ist, kann morgen Fiktion sein; ja was dem einen Fiktion
ist, kann dem andern Hypothese sein" (153; vgl. auch 603—612).
Die sprachliche Ausdrucksform der Fiktion wird für gewöhnlich durch
die Partikel „als ob" oder „wie wenn" (lat. : quasi, sicut; engl.: as if;
franz. : comme si, que si ; griech. : o)«,* et (lOGsl), wg ehe [Druckfehler : cjg ii)
eingeleitet (155). „Der psychische Vorgang (des damit bezeichneten) Gleich-
ni.'T.ses besteht nach Steinthal darin, dass eine Anschauung durch ein Ver-
hältnis apperzipiert wird, nicht durch den Inhalt einer Vorstellungsgruppe
also, sondern nur durch die Form derselben" (a. a. 0.). Steinthal über-
sieht aber, wie Vaihinger hinzufügt (157), dass sich Fiktionen auf ver-
gleichende Apperzeptionen zurückführen lassen, d. h. dass Kompa-
rativgruppen neu geschaffen werden (155 f.): „Wenn nämlich die ver-
gleichende Apperzeption nicht direkt mögUch ist, weil die Kluft zwi.schen
der Apperzeptionsmasse und dem zu Apperzipierenden zu gross ist, so wird
ein i\liltelbegriff formiert; indem dieser Mittelbegriff die beiden wider-
sprechenden Elemente, von der Apperzeptionsform ein
Element (beim Atom z. B. Unteilbarkeit des unendlich Kleinen) und
von der zu apperzipierenden Vorstellung das entgegen-
gesetzte (beim Atom : ins Unendliche teilbare Ausdehnung) in sich ver-
einigt, kann er die Vermittel ung ermöglichen, indem dann das
zu Apperzipierende zuer.st von dem Mittel begriff und dieser Mittel-
begriff selbst dann erst von der ersten Apperzeptionsform apperzipiert
wird" (157). „Schliesslich kommen alle Fiktionen auf versuchte Ver-
gleiche hinaus" (a. a. 0.). „Demnach ist die Vergleichung und schliess-
lich die Verschmelzung des Gleichen in der Seele das eigentliche
psychologische Prinzip der Logik und Erkenntnistheorie"
(158). Aber die Vergleichung ist bei der Fiktion ganz eigener Art: sie ist
weder reale Analogie, noch auch ein blosser Tropus (162): Die
Fiktion setzt eine an sich unmögliche Bedingung und fügt die Forderung
bei, trotzdem „die Annahme formal aufrecht zu erhalten" (163; z.B. ,,die
Materie muss so betrachtet werden, wie sie zu behandeln wäre, wenn
sie aus Atomen bestehen würde" [a. a 0.]). Als Hypothese würde dieselbe
Annahme in eine andere Form zu kleiden sein, etwa so (166): „Nur unter
der Voraussetzung, dass und wenn es Atome gibt, ist die empirische Er-
scheinung der Phänomene erklärbar" (zum Sinn der Als - ob - Betrachtung
vgl. auch 578-591).
Eine „Aufzählung und Einteilung der wissenschaftlichen Fiktionen"
zeigt uns nun, wie weit verbreifet, ja geradezu das ganze Denken durch-
dringend die Anwendung dieses Hilfsmittels nach Vaihinger ist (25-- 123,
328 — 576). Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, alle einzelnen
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 29
*
„Fiktionen" nufzuziihlon. Wir beschränken nns vielmehr darauf, die Ge-
dankengäni^e hervorzuheben, die entweder nnpere Zustimmung oder unseren
Widerspruch besonders herausiordern. Da werden wir zuerst uneingeschränkt
die Bemerkung biUigen können, dass „die ideale Isolierung und
Spaltung des Gegebenen, die diskursive Trennung desselben in verschiedene
Seiten einer der am meisten angewandten Kunstgriffe des
Denkens" ist (34). „Wo wir nicht die Gesamtheit der Verhältnisse (bei
der „oft unendlich komplizierten Verflochtenheit der Wirklichkeit" 341)
übersehen können, abstrahieren wir von einem Teile freiwillig; wenn wir
das Gesamtergebnis vieler gleichzeitiger Ursachen nicht zu berechnen im
stände sind, lassen wir einige weg und vereinfachen das Problem" (343).
Diese „neglektive oder abstraktive Methode" veranschaulicht er an einem
„Standardbeispiel" (29; vgl. 343 f.), nämlich an der „Art und Weise, auf
welche Adam Smith die Nationalökonomie begründete". „Mit sicherem
Takte griff er die Hauptsache heraus, nämlich den Egoismus, und formulierte
seine Annahme so, dass alle menschlichen Handlungen ... so betrachtet
werden können, als ob ihr treibendes Motiv einzig und allein der Egois-
mus wäre". Vaihinger unterlässt es aber auch nicht, das Gebiet zu nennen,
auf dem die genannte Methode die fruchtbai'slen Ergebnisse gezeitigt hat:
ich meine die theoretische Mechanik. „Gerade in der Berechnung
der mechanischen Verhältnisse der Körper werden zur leichteren Austührung
dieser Berechnungen Nebenursachen vernachlässigt und die ganze mecha-
nische Bewegung usw. betrachtet, als ob sie nur von jenen abstrakten
Faktoren abhinge" (30 f.).
Der Nominalismus, dem der Verfasser als Positivist huldigt, zeigt .sich
naturgemäss deutlich bei der Betrachtung der abstrakten Begriffe und der
Allgemeinbegriffe (vgl. „Summatorische Fiktionen" 53 f., 399 — 417 ; „Methode
der ab.strakten Verallgemeinerung" 76 — 79, 383 — 398) : Die Allgemein-
begriffe sind „rein summatorische Fiktionen, d. h. Ausdrücke, in denen
eine Summe von Phänomenen nach ihren Hauptzügen zusammengefasst
wird". „Die begrenzende Macht für den oft unbestimmten Umkreis und
Inhalt des allgemeinen Begriffs ist der Gestalttypus, der den einheit-
lichen Charakter vieler Wahrnehmungen ausmacht. Dieser einheitliche
Charakter liegt in den Wahrnehmungen selbst und bewirkt eben die ps yc hö-
rn echani sc he Verflechtung und Assoziation der Vorstellungen" (400).
Der Zweck des Allgemeinbegriffes, von dem Vaihinger die AUgemein-
vorslellung nicht scharf genug trennt (400 f.), beruht in der Ermöglichung
des Klassifizierens, Ordnens, Begreifens, Beweisens und Schliessens (401,
Steinthal). So hat diese reine Fiktion doch eine „positiv-praktische Be-
rechtigung" (401 Anm.). „Man kann die AllgemeinbegrilTe Gleichheits-
zentrcn nennen, welche die logische Bewegung der Vorstellungen regulieren"
(407). „Die Allgemeinbegriffe und Allgemeingesetze spielen also nur eine
dienende Rolle. Wie der Hebel weggelegt wird, wenn er seine Arbeit
30 W. Switalski.
.^'etan liat, so tritt das Allgemeine auf die Seite, nachdem es zur Bestimmung
des Einzelnen gedient hat" (408). Zu diesen „summatorischen Fiktionen"
gehurt nun aber nach Vaihinger auch „der Begriff eines Dinges . . ., und
die Redeweise, dass das Ding eine Eigenschaft habe, beruht auf der Hilfs-
vorstellung, als ob dieses Zusammen noch etwas ausser und neben
den Eigenschaften wäre, wie die Gattung noch als etwas ausser und neben
der Vielheit der Einzeldinge Existierendes gedacht wird" (412: „Abbreviatur
vermittelst Hilfsworten").
Auch die abstrakten Begriffe, die übrigens von den Allgemein-
begriffen wenigstens theoretisch scharf zu sondern sind (399, 2 : „Isolation"
und „Generalisation"), sind „Fiktionen" : „Die abstrakten Begriffe sind . . .
Partialbegriffe, welche von ihrem Ganzen losgerissen sind" (384).
„Der Fehler aller Scholastik besteht darin, dass sie aus diesen Fiktionen
selbständige Wesen macht" (386). „Man verwechselt Faktum, und Fiktum,
...man nimmt das Instrument für die Sache, zu deren Bear-
l)eitung es dient" (394). „Einer der genialsten Kunstgriffe des Denkers"
(Denkens?) ist die ,, Methode der abstrakten Verallgemeinerung" (78), durch
deren Anwendung „das Bestehende, Einzelne allgemein genommen als
Spezialfall vieler anderer Möglichkeiten" gedacht wird (als Beispiele mögen
Begriffe wie der „n-dimensionale Raum", das „Bewusstsein überhaupt"
dienen). Eng verwandt damit ist das Verfahren, das Vaihinger (meines
Erafhtens missverständlich) „die Methode der unberechtigten Uebertragung"
nennt (80) : Er versieht darunter Kunstgriffe, wie sie die Mathematik vor-
zugsweise verwendet. Sul)sumtion des Krummen unter das Gerade, des
Kreises unter die Ellipsenformel, Anwendung des Infinitesimalbegriffs zur
rechnerischen Bewältigung des Stetigen usw. (80—86, 451 — 571).
Die soeben berührten mathematischen Kunstgriffe bahnen uns den Weg
ziun Verständnis der „juristischen Fiktionen" (46 — 49) : Beide sind „reine
Produkte einer freischaffenden Tätigkeif des menschUchen Geistes" (70;
vgl. 47)'. ,,ln der fictio juris wird etwas Nicht-Geschehenes als geschehen
oder umgekehrt betrachtet oder wird ein Fall unter ein analoges Verhältnis
gebracht in einer Weise, die der Wirklichkeit schroff widerspricht" (48).
In die modernsten Gedankenkämpfe und zugleich in das Zentrum der
Denkweise Vaihingers werden wir bei Betrachtung der ,, symbolischen
Fiktionen" (39 — 46) hineinversetzt. Das Apperzeptionsmiltel der „symbo-
lischen" Friktion ist ebenfalls die Analogie. Mythologie und Poesie sind
die Gebiete, auf denen sie besonders Anwendung findet. Die Auffassung
der religiö.sen Lehren als reine Symbole geht, wie bekannt, auf Kanl
zurück. Vaihingers Verdienst ist es, erschöpfende Queüenbelege für den
religiösen Symbolismus Kants beigebracht zu haben (vgl. u. a. 638, 641,
647-655, 683 ff., 689 ff., 710, 734 f.) Instruktiv ist auch die „Nachlese
aus Kants Briefen, Vorlesungen und nachgelassenen Papieren" (711 ff.). Als
eifrigen Verfechter des Symbolismus in der Religion und damit als Fort-
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 31
Setzer von Kants echter Lehre nennt Vaihinger Forberg, dessen in dieser
Frage grundlegender Autsatz über die „Entwicklung des Begriffs der Re-
ligion" in der Philosophiegeschichte bisher nicht hinreichend gewürdigt
wurde (736 —753). VonForberg und von Fichte zugleich ist Schleier-
macher beeinflusst (753; vgl. 40 f.), von dem freilich wie von den übrigen
symbolistischen Theologen (De Wette, Biedermann, Lipsius) die Grenze
zwischen religiösen „Fiktionen" und „Hypothesen" nicht genügend beachtet
wird. Ganz in die Bahnen der reinen ,, Fiktionen" lenkt dagegen F. A.
Langes „Standpunkt des Ideals" ein (755 ff.), dessen für die gesamte
P'iktionstheorie charakteristische Ansicht der Verfasser im allgemeinen zu-
stimmend ausführlich darlegt (755 — 771; vgl. auch das über Nietzsche
Gesagte: 788 — 790). Wie für die symbolistische Religionsphilosophie Gott
nicht „Vater" der Menschen, sondern nur so zu betrachten ist, „als ob er
es wäre" (41), so ist für diese Denker auch die Metaphysik überhaupt
„Metabolik, Hyperbolik, Metaphorik" (42). Ja, das gesamte Erkennen,
insofern es nur an der Hand „analogischer Apperzeptionen" erreicht wird,
ist eigentlich nur „symbolisches" Vorstellen (42 f.). Allerdings unterscheidet
Vaihinger zwischen „realen" und „bloss fiktiven" Analogien (45), doch
im Rahmen seiner Gesamtauffassung besteht diese Sonderung schwerlich
zu Recht (vgl. z. B. 88 — 90). — Wie alle Fiktionen, so haben auch die
symbolischen praktische Bedeutung: so die „Fiktion" der Freiheit, der
Unsterblichkeit und des höchsten Ideals (59 — 69) als ,, fiktive Grundlagen
der Sittlichkeit", so der Begriff des „Unendlichen" als Hilfsgebilde der
Forschung (87 ff.), so endlich auch der Begriff des „Absoluten" (114 - 116):
,,Auf dem Standpunkt des kritischen Positivismus gibt es also kein Ab-
solutes, kein Ding an sich, kein Subjekt, kein Objekt; es
bleiben einzig und allein die Emplindungen übrig, welche da sind, welche
gegeben sind, aus denen die ganze subjektive Welt aufgebaut ist in ihrer
Scheidung physischer und psychischer Komplexe".
Wir sind damit bereits bei den erkenntnistheoretischen Konse-
q 11 e n z e n der „Fiktionstheorie" angelangt. Vaihinger widmet ihnen einen
Ijesonderen Abschnitt : ,,Aus dem Chaos der Empfindungen tritt die ge-
schiedene Anschauung hervor". „Die Anschauung ist schon ein durch die
psychische Attraktion der Elemente zu Stande gekommener Verband von
Empfindungserkenntnissen" (286). ,,Wenn die Psyche das ihr dargebotene
Material der Empfindungen, also die ihr einzig und allein gegebene Grund-
lage mit Hilfe der logischen Formen verarbeitet, wenn sie das Empfundene
sichtet und von dem gegebenen Empfindungsmaterial gemäss jenen logischen
Funktionen geradezu Teile wegschneidet und andererseits zu dem unmittel-
bar Gegebenen subjektive Zusätze beimischt — und eben in diesen Opera-
tionen besteht der Erkenntnisprozess — , so entfernt sie sich von der ihr
gegebenen Wirklichkeil" (287). Flier setzt die Frage ein: „Wie kommt
es, dass — trotzdem wii' im Denken mit einer verfälschten Wirklichkeil
32 W. Switfil.^ki.
i-eclinon — ilocli Has piaktischo Resultat sich als richtig erweist" (289)?
,.Dic richtige (kritische) Stimmung, welche wir den logischen Funktionen
und ihren Produkten entgegenbringen sollen" (293), wird in uns durch die
Erwägung hervorgebracht, dass „das Denken und die logische Funktion
nicht der Mittelpunkt (ist), in dem die Radien der Welt zusammenlaufen",
dass vielmehr die logische Funktion „im Haushalte der Natur (nur) eine
bescheidene Rolle (spielt)" (292). „Der wahre Kritizismus oder logische
Positivismus geht vorurteilsfrei und kalt an die Untersuchung des Denk-
instrumentes" (295). Er ist gewöhnt, „in den Denkgebilden zunächst
nur subjektive Produkte zu sehen" (a. a. 0.) und ,, fordert für die Annahme
der Realität eines jeden Denkgebildes und jeder logischen Bildungsform
einen speziellen Beweis" (296). Von diesem „allein gültigen und brauch-
baren Grundsatze" aus erscheint nun „die Differenzierung des Empfmdungs-
chaos in Dinge und Eigenschaften", in „Ganzes und Teile" (wie überhaupt
alle kategoriale Einordnung) als „rein subjektive Tat" (297). Nur die Kate-
gorie der Zeit scheint eine Ausnahme zu machen, denn wir hören (298):
„Gegeben sind der Seele ausser dem Material der Empfindungen als solcher
noch die Zeitverhältnisse, in welcher (welchen?) sie in dieselbe ein-
treten". „Mit der blossen Einfügung, Subsumtion der Empfindungen unter
die Kategorien (ist) noch gar keine Erkenntnis gewonnen" (302).
Die Kategorien haben als „Mittel zu praktischem Handeln sehr hohen Wert",
aber keinen „eigentlich wissenschaftlichen Erkenntniswert" (303). Die Er-
kenntnis ist „gewissermassen nur das Abfallprodukt der logischen Funktion"
(307). „Die Kategorien sind nichts als bequeme Hilfsmittel, um die
Empfindungsmassen zu bewältigen". „Begreifen ist ein aus der
empirischen Umsetzung der Empfindung in Kategorien uns wohlbekanntes
Lustgefühl". „Der Wunsch, die Welt zu begreifen, ist nicht bloss ein
unerfüllbarer, er ist auch ein törichter Wunsch" (310). „Die Welt selbst
(ist) nicht begreiflich, nur wissbar" (311). Unter „Wissen" der Welt
versteht dabei Vaihinger im Sinne des Positivismus das Herausschälen des
Gegebenen in seiner „nackten Reinheit, mit Zerstörung aller subjektiven
Auffassungsformen und Zutaten und mit bewn.5ster Erkenntnis der Fiktionen
als Fiktionen d. h. als notwendiger, brauchbarer, nützlicher HilfsbegrilTe"
(a. a. 0.). Die Meinung, da.ss die Anwendung der Kategorien uns wahre
Erkenntnis verschaffe, beruhe auf der „petitio principii" : „was ein richtiges
Handeln ermöglicht, . . . muss auch objektiv wahr sein" (326). Demgegen-
über betont Vaihinger noch einmal: „Das eigentlich Wertvolle an den
logischen Formen und Gesetzen ist immer nur das empiriscli
]3eobachlete, nämlich das Vorhandensein unabänderlicher Sukzessionen und
Koexistenzen, nicht aber die spezielle Form, in welche diese
Beobachtung gekleidet ist", nämlich die kategorialen Aussagen
Diese .sind nur ,,Vehikel zur Einleitung iirnl Külirung des Pro-
z e s .s e s der \' u r s l e 1 1 u n g s b e w e g u n g" (327).
Vaihingers „Philosophie des Als ob". 33
Die vielseitige Anwendung der „Fiktion" im modernen Wissenschaits-
betriebe und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung veranlasst Vaihinger,
die „fiktive Tätigkeit der Deduktion und Induktion als ein
gleichberechtigtes drittes Glied im System der logischen Wissenschaft"
hinzuzufügen (124). Werden doch „durch die Fiktion Vorstellungs-
gebilde und Formen geschaffen . . ., welch.e verschiedene
einzelne Fälle ... zu vergleichen ermöglichen..., die ohne
sie nicht oder nicht so leicht in Beziehung gesetzt werden
könnten" (188). Das „fiktive Urteil" bildet eine „Modalitätsform" für
sich. Es unterscheidet sich auch von dem ihm sonst verwandten „proble-
matischen" Urteil : denn „das (fiktive) Urteil wird vollzogen mit gleichzeitigem
Protest gegen objektive Gültigkeit, aber mit ausdrücklicher Wahrung der
subjektiven Bedeutung" (592 f.). Sonach ist das fiktive Urteil eine höchst
eigentümliche Komplikation, es ist negativ,, insofern die Gleichsetzung von
A und B als eine ungültige deutlich ausgesprochen wird; es ist positiv,
insofern die Möglichkeit, dieses ungültige Urteil doch als gültig zu behandeln,
bejaht wird ; in dieser selben Hinsicht ist es auch kategorisch, während es
doch andererseits einen hypothetischen Bestandteil enthält ; ... es ist
problematisch, assertorisch, sogar eventuell apodiktisch, insofern es diese
Behandlungsweise einfach ausspricht oder ihre Möglichkeit oder Notwendig-
keit besonders hervorhebt" (594'. „Zwischen dem Handeln als ob und
dem Meinen, Glauben, Wissen, dass — besteht nicht eine graduelle Diffe-
renz, sondern eine spezifische" (598). An dieser Eigenart des fiktiven
Urteils ändert der Umstand nichts, dass es oft — missverständlich genug
— in einfach kategorischer Form ausgesprochen wird (^601 ; z. B. „der Kreis
ist ein Polygon"). In einer „U eher sieht der fiktiven Elementar-
methoden" (116 — 123) bietet nun Vaihinger einen ersten Entwurf einer
methodologischen Behandlung dieses eigenartigen logischen Gebildes. Er
versucht durch „Aufzählung der fiktiven Grundprozesse" den Weg zu einem
natürlichen System der Fiktionen zu bahnen. Als „ersten fiktiven
Denkprozess" führt er die Zerlegung an: Das gegebene Wirkliche,
aber Unbegreifliche wird in zwei zusammengehörige Werte zerlegt : man
„erreicht dadurch erstens die Möglichkeit praktischer Berechnung, zweitens
den Schein der Begreiflichkeit" (117): Einheit — Vielheit, Ding — Eigen-
schaft, Ursache — Wirkung, Subjekt — Objekt, überhaupt alle Kategorien sind
Beispiele für dieses Denkverfahren. Besonders in der Mathematik und
Physik ist diese Methode gebräuchlich (116, 118). Aus diesem Verfahren
ergibt sich die Regel : „Fiktive Wertpaare, in welche das Wirkliche künst-
lich zerlegt ist, haben nur zusammen Sinn und Wert" (118). — „Dem Pro-
zess der Zerlegung steht der entgegengesetzte der Zusammenfassung
zur Seite". „Das beste Beispiel hierfür sind die Allgemeinbegriffe" (119).
Zusammenfassende Ausdrücke „ermöglichen nicht bloss Beschleunigung der
Rechnung, sondern auch leichtere Behaltbarkeit und ausserdem Verallge-
Pliiloaophisches JahrbucI: 1913. "
84 W. Switalski.
meinerung der Resultate, Uebersichtlichkeit der Ausdrücke" ; aber auch sie
dürfen nicht für das Wirkliche gehalten werden, sondern nur die zusammen-
gefassten „x, y, z usf." (119 f.). — „Die dritte fiktive Grundmethode ist
die symbolische Bezeichnung" (120). „Als ein vierter Grund-
prozess ist etwa zu bezeichnen die Isolierung" (121), als fünfter die
.,Generalisation" und endlich die „unberechtigte Uebertragung" (z. B. Sub-
sumtion des „Krummen" unter das „Gerade", s. oben). — Wenn wir nun
aber verstehen wollen, wie wir durch Fiktionen, also durch bewusste Ab-
weichungen von dem Tatbestande, gleichwohl zu „richtigen" Resultaten
gelangen, so müssen wir noch einer Methode gedenken, nämlich der
,, Methode der Korrektur willkürlich gemachter Differenzen" (194—219).
Bereits Lotze macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, die bei einer
künstlichen Einteilung sich ergebenden Kombinationen „durch
nebenhergehende Ueberlegung, durch eine Schätzung des ver-
schiedenen Wertes der Merkmale . . ., welche auf Kenntnis der Sache,
auf richtigem Gefühl, oder nur auf einem erratenden Geschmack beruhen",
zu berichtigen (195 f.) Bei den ahstraktiv-neglektiven Fiktionen
besteht die Korrektur darin, dass „die vernachlässigten Elemente . . . nachher
wieder zu ihrem Rechte kommen (müssen), wenn nicht Irrtümer entstehen
sollen" (197). In den Fällen, in welchen „die fiktive Subsumtion . . .
durch Vermittelung eines fiktiven Vorstellungsgebildes stattfindet", muss
der Fehler „rückgängig gemacht werden, indem das fiktiv eingeführte Ge-
bilde einfach wieder hinausgeworfen wird. Beruht aber die Einführung
auf einem logischen Fehler, so kann das Hinauswerfen auch nur durch
einen logischen Fehler stattfinden" („Methode der entgegengesetzten
Fehler", vgl. 197 f.). „Der ganze Fortschritt des Denkens beruht nur
auf solch entgegengesetzten Operationen oder Fehlern : in diesem Hin und
Her be.steht einzig und allein der logische Fortschritt, der keine gerade
Linie ist, sondern ein beständiges Lavieren gegen einen jn-
günstigen Wind" (208). So ist „das Denken ein regulierter
1 rrtum" (217), und in diesem Sinne nennt Vaihinger, wie bereits hervor-
gehoben, die Wahrheit den „z weckmässigsten Irrtum" (vgl. noch
192, 217), ein paradoxes Wort, mit dem wir passend die Quintessenz des
Vaihingerschen Werkes kennzeichnen können.
III.
Vaihinger beschliesst die Vorrede seines Werkes mit dem vielver-
heissenden Ausspruch : ..So wie es nun ist, mag es manchem das lösende
Wort in quälenden Problemen bringen, manch anderen aus dogmatische)'
Ruhe in neue Zweifel stürzen, bei vielen Anstoss erregen, aber hoffentUch
auch einigen neue Anstösse geben" (VI). Hat es wirklich das „lösende
Wort" gesprochen? Und welcher Art sind die „Anstösse", die es gibt?
Zu diesen Fragen müssen wir jetzt, wenigstens prinzipiell, Stellung nehmen.
Vaihingers „Philosophie des Als ob". 35
Bevor wir indes an diese wahrlich nicht leichte Aufgabe heranziehen,
seien einige Bemerkungen betreffs der äusseren Form des Werkes ver-
stattet: Der ungeheure Umfang (800 Seiten) fällt auf. Bei genauerer
Lektüre gewinnt man auch den Eindruck, dass zur gründlichen Behandlung
des Problems im Sinne des Verfassers die Hälfte des Umfanges genügt
hätte. Die Ausführung hätte sicher an Klarheit und Durchsichtigkeit ge-
wonnen. So wie es jetzt vorliegt, ist es überreich an Wiederholungen,
die nicht lediglich durch die uns wenig übersichtlich scheinende Disposition
veranlasst sind. (Nur nebenbei sei erwähnt, dass sich in dem Buche sehr
viele, zum Teil sinnstörende Druckfehler finden. Einer sei hier erwähnt:
S. 200 letzte Zeile muss es [nach der Fermatschen Formel] (6 + 1)^
(9 — 6 — 1) = 98 heissen.) Die Breite und die dadurch bedingte Schwer-
fälligkeit der Ausführungen scheint mir übrigens zur Genüge erklärt zu
werden durch die peinliche Sorgfalt des „Herausgebers", die Arbeit mög-
lichst im ursprünglichen Zustande zu veröffentlichen. Diesem vom Stand-
punkte philologischer Treue durchaus erwünschten Bestreben möchten wir nun
freilich vom philosophischen Standpunkte den Wunsch nach einheithcher
Durchorganisierung des Stoffes als mindestens gleichberechtigt entgegenstellen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei aber gleich hinzugefügt, dass dieser
Wunsch nicht etwa der Beobachtung einer zusammenhanglosen und in-
konsequenten Darlegung entsprungen ist : Im Gegenteil, es muss rühmend
hervorgehoben werden, dass der Verfasser seinen Grundgedanken von An-
fang bis zu Ende in voller Schärfe zur Geltung zu bringen versteht.
Was nun die Beurteilung des Inhalts anbetrifft, so wollen wir die
philosophiegeschichtlichen Abschnitte des Werkes von vorneherein aus-
scheiden. Nicht als ob sie uns unbedeutend erschienen! Im Gegenteil,
gerade diese reichhaltigen Ausführungen, die ebenso von der philologischen
Akribie des Verfassers, wie von der philosophischen Verarbeitung des
Materials Zeugnis ablegen, gehören zu dem Instruktivsten von allem, was
dieses Werk bietet. Gleichwohl wollen wir uns ein näheres Eingehen auf
die hier gebotenen Angaben versagen, indem wir eine kritische Stellung-
nahme zu ihnen kompetenteren Forschern überlassen. Nur eine Bemerkung
sei erwähnt : Mit Kurt Sternberg (Kantstudien XVI Heft 2 und 3 S. 334)
sind wir der Meinung, dass Kant in seiner Auffassung der Kategorialbegriffe,
trotz einiger unleugbarer Anklänge an eine rein fiktive Interpretation, der
Vaihingerschen Ansicht doch nicht so nahe kommt, als dieser es annimmt.
Den eigenthchen Gegenstand unserer Kritik soll nun aber die rein philo-
sophische Seite des Werkes, seine logischen und erkenntnistheoretischen
Behauptungen, bilden; nur um dafür eine möglichst objektive Grundlage
uns zu schaffen, haben wir zunächst eine allerdings selbständig angeord-
nete, aber inhaltlich znm grössten Teil wortgetreue Darstellung der Vaihinger-
schen Ansichten zu geben versucht. Den Gesamteindruck dieser Skizze
können wir wohl in die Worte zusammenfassen, dass Vaihinger uns die
3*
36 W. Switalski.
Unmöglichkeil aller Erkenntnis als Erfassung der Wirklichkeit (die nega-
tive Seite seiner Lehre) und die Unentbehrlichkeit der logischen Bear-
beitung des Erfahrungsmaterials für ein richtiges Reagieren auf die Eindrücke
der Wirklichkeit (positiv-praktische, „pragmatistische" Seite seiner
AuHassung) zu begründen versucht hat. Ist ihm nun dieses Unternehmen
gelungen?
Forschen wir zunächst nach den Voraussetzungen, mit denen dieser
., kritische" Positivismus rechnet! Grundlegend ist hier nun die Annahme
einer „Wirklichkeit", die von einer „unwandelbaren Gesetzmässigkeit" (289)
beherrscht ist, und einer ,, Psyche", deren Denken nur „eine bescheidene
Rolle im Haushalt der Natur" (292) spielt, und die „eine stets sich
selbst vervollkommnende Maschine" ist, „welche den Zweck
erfüllt, möglichst sicher und rasch und mit geringstem Kraftaufwand die
lebenerhaltenden Bewegungen des Organismus auszuführen" (178).
Die ,, instinktive, unbewusste Zwecktätigkeit der Psyche" wird von Vaihinger
immer von neuem als treibendes und richtunggebendes Agens all ihrer
Lebensäusserungen hervorgehoben. Freilich macht er gelegentlich die Ein-
schränkung, dass er „diese teleologische Ableitung nur heuristisch gelten
lassen" wolle (320), aber seine Gesamtauffassung ist derart in dieser bio-
logischen Anschauungsweise verankert, dass wir in ihr nicht lediglich eine
heuristische Annahme, sondern vielmehr ein konstitutives Prinzip seiner
Lehre sehen müssen. — So fällt schon recht viel aus dem, wie es doch
den Anschein halte, alles umfassenden Rahmen der „Fiktionen" heraus:
Die Natur, das Gebiet des Seins, das seine eigenen Wege, unbeirrt um das
Denken der ,,P.syche", geht, und dieses Denken selbst mit seiner es un-
bewusst, aber auch unumschränkt beherrschenden Zielstrebigkeit, das
Denken, das im Dienste des Organismus an die „Wirklichkeit" sich anzu-
passen sucht, das „Umwege" einschlägt und die Wirklichkeit „verfälscht",
nur um besser an sie heranzukommen, und um den Organismus zur
Selbsterhallung und Selbstbehauptung immer geschickter zu machen. Wo-
durch vergewissern wir uns aber von der Existenz und der Beschaffenheit
dieser Voraussetzungen? Doch durch das Denken selbst? Also kann doch
nicht alles, was das Denken feststellt, ins Bereich der Fiktion versetzt
werden '. Und die Wahrheit, sie ist doch mehr als der „zweckmässigste
Irrtum"! -- Wir sehen: will man im Sinne der relativistischen Auffassung
Vaihingers jedes absolute Fundament des Erkennens leugnen, so kommt
man um eine inigeheure „petilio principii" nicht herum. Da sind doch
die transzendentalen Idealisten, welche die Wirklichkeit aus Setzungen des
reinen Denkens abzuleiten versuchen, und die Vertreter der ,, reinen" Er-
fahrung, welche jede Scheidung in Subjekt und Objekt aus dem ursprüng-
lich „Gegebenen" eliminieren, trotz aller willkürlichen Einseitigkeit ihrer
T«ndenz nach konsequenter!
Vaihingers ., Philosophie des Als ob". 37
Doch, tun wir Vaihinger nicht etwa Unrecht? Betont er nicht aus-
drücklich, dass das Wirkliche eben nur die „Empfindungen" sind? So
scheint auch sein Standpunkt ein positivistischer im strengsten Sinne des
Wortes zu sein. Was heisst aber „Empfindung"? Liegt nicht in diesem
Worte selbst die Differenzierung in Subjekt und Objekt bereits enthalten?
Vollends, wenn man mit Vaihinger die von subjektiven Einfiiissen unab-
hängige, der Tätigkeit des psychischen Ordnens widerstrebende Koordination
und Sukzession der Empfindungen als etwas ihnen selbst Anhaftendes
betont! Hat doch der Hauptbegriff der Ausführungen Vaihingers, der Begriff
der „Fiktion" selbst, keinen Sinn, wenn nicht dem „fingierten" Gebilde
eine davon abweichende Wirklichkeit gegenübersteht, wie denn ja auch
Vaihinger selbst „reale" Vorgänge von „fiktiven" unterscheidet, ohne uns
allerdings zu sagen, wie wir von „realen" Vorgängen überhaupt sprechen
können, wenn wir in keiner Weise der Wirklichkeit beim Erkennen hab-
haft werden können 1 Der Unterschied der „Semifiktionen" von den Fiktionen
beruht ja nach Vaihinger auf ihrer grösseren Annäherung an die „realen"
Verhältnisse, und die „Hypothese" vollends tendiert nach ihm (im Gegen-
satz zur Fiktion) auf eine direkte Erfassung des Realen hin! Es bleibt
also dabei, das Reale in seiner gesetzmässigen Ausstattung und Ordnung
und mit seiner Scheidung in „Wirkhchkeit" und „handelnde Subjekte" ist die
grundlegende, dogmatische Voraussetzung des Vaihingerschen Systems,
und zwar eine Voraussetzung, die seinen Folgerungen direkt widerspricht.
Wie steht es nun mit der „Fiktionstheorie" selbst? Müssen wir etwa
als Gegner der Grundvoraussetzung Vaihingers leugnen, dass das Denken
sich überhaupt der Fiktionen bedient? Keineswegs! Wir sehen es vielmehr
als ein Verdienst der modernen Logik an, dass sie uns die oft so ver-
schlungenen, mit der Wirklichkeit nicht immer parallel laufenden Pfade
des diskursiven Deckens immer klarer zum Bewusstsein bringt. Und in
dieser Hinsicht hat gerade Vaihinger, wie wir uneingeschränkt zugeben,
durch seine tiefdringenden Untersuchungen über den Fiktionsbegriff einen
überaus wertvollen Beitrag geliefert, um einer Verwischung der Grenzen
zwischen Hypothese und Fiktion und damit einer verhängnisvollen Ver-
wirrung in der Abschätzung der Denkresultate vorzubeugen. Man darf
aber die Bedeutung des Fiktionsbegriffs nicht überspannen und in der Ent-
deckerfreude nicht überall „Fiktionen" finden wollen ! Sonst schwebt man
in Gefahr, bei aller Hinneigung zum Nominalismus einem eigenartigen
Begriffsreali smus zu verfallen, für den die „Fiktion" zum Allheilmittel für
alle Erkenntnisschwierigkeiten sich gestaltet!
Vaihinger ist vom psycho genetischen Standpunkt aus durchaus im
Recht, wenn er von allmählichen Uebe^r gangen der Semifiktionen
in echte Fiktionen spricht und auf das „Gesetz der Ideen Verschiebung"
(219 ff.) aufmerksam macht, demzufolge „eine Anzahl von Ideen ver-
schiedene Stadien der Entwicklung durchlaufen, und zwar das
38 W. Switalski.
der Fiktion, der Hypothese, des Dogmas, und umgekehrt . .."(219V
Vom erkenntniskritischen Standpunkt indes muss auf eine exakte
Definition der einschlägigen Begriffe Gewicht gelegt werden, weil sonst alle
Bestimmungen flüssig werden, und dadurch eine reinliche Scheidung und .
Beurteilung der Begriffsbedeutungen unmöglich gem.acht wird; nicht, wie
wir — auf Umwegen und Irrpfaden — zur Erkenntnis gelangen, ist ja
das Grundproblem der Erkenntniskritik, sie fragt vielmehr, was Erkenntnis
ist, und erst in zweiter Linie, inwiefern w i r Erkenntnisse erwerben ! Von
diesem Standpunkt aus erscheinen uns nun aber die Begriffe der Halb-
fiktion und der Fiktion nicht erschöpfend genug definiert, und in diesem
Mangel erblicken wir gerade den Grund für die unseres Erachtens allzu
radikale Anwendung des Fiktionsbegriffs in der erkenntnistheoretischen Be-
trachtung. Wenn nämlich Vaihinger die Halbtiktionen als „Vorstellungs-
gebilde" bezeichnet, „welche nur der gegebenen Wirklichkeit widersprechen,
resp. von ihr abweichen, ohne schon in sich selbst widerspruchsvoll zu
sein", so scheint uns diese Definition zu negativ zu sein. Das „Abweichen"
der Halbfiktionen von der Wirkhchkeit setzt doch auch eine gewisse
Uebereinstimmung voraus. Die „künstliche Einteilung" z. B. enthält ja un-
fraglich ein fingiertes Moment: der vom Ordner selbständig gewählte Ge-
sichtspunkt braucht mit dem „natürlichen System" in keiner Beziehung
zu stehen, und doch: dass der Ordner von diesem einmal gewählten Ge-
sichtspunkte aus nur eine bestimmte Anzahl von Objekten und zwar streng
in einer exakt angebbaren Reihenfolge zusammenfassen muss, liegt nicht
mehr in seiner Gewalt, es ist in der Natur der Gegenstände begründet.
Und dieses selbe „fundamentum in re" muss Vaihinger selbst bei den
Allgemeinbegriffen und bei den abstrakten Begriffen anerkennen, ein Zu-
geständnis, das aber seinem extremen Nominalismus keineswegs günstig ist:
Ist nämhch für die Zusammenfassung der Einzelinhalte in den „summa-
torischen Fiktionen" (Allgemeinbegriffen) der in den Wahrnehmungen "or-
findliche „Gestalttypus" massgebend, so kann eben die Zusammenfassung
nicht als rein fiktiv bezeichnet werden ; ihr hegt ein reales Moment
zu Grunde, und so sehr es wertvoll ist, vor der VerdingUchung der Be-
griffe zu warnen, so sehr muss auch nachdrücklich auf dieses realistische
Motiv aller Verallgemeinerungen hingewiesen werden. Das Gleiche gilt
von den „abstrakten" Begriffen, die als solche unfraghch wiederum „entia
rationis" sind, aber auch hier finden wir ein „fundamentum in re": die
an sich unselbständigen Teile könnten nicht herausgelöst werden, wenn
sie nicht in den konkreten Gegenständen enthalten wären. Es ist dem-
nach unberechtigt, lediglich aus dem „fiktiven" Charakter dieser Denk-
produkte erkenntnistheoretische Konsequenzen zu ziehen ; es gilt vielmehr,
mit Sorgfalt den in ihnen wirksamen realistischen Motiven nachzuspüren,
um an ihrer Hand einen Begriff von der Wirklichkeit zu erhalten, der
diese zwar nicht „abbildet", wohl aber zuverlässig von ihr Kunde gibt.
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 39
Voraussetzung ist es allerdings, dass die das Sein beherrschende Gesetz-
mässigkeit, die ja auch Vaihinger annimmt, uns nicht völlig transzendent
bleibt, oder, anders ausgedrückt, dass Denken und Sein, so sehr ihre Wege
auch im einzelnen auseinandergehen, doch in ihrer grundlegenden Gesetz-
mässigkeil übereinstimmen. Dass diese alles wissenschaftliche Forschen
erst ermöglichende Voraussetzung übrigens keine blind hingenommene „Ver-
mutung" ist, wird uns klar, wenn wir nur mit Husserl zwischen Natur-
und Idealgesetzen des Denkens genau unterscheiden : Nur die letzteren,
mit Einsicht am Denkgegenstand konstatierten Gesetzmässigkeiten treten
uns, eben weil sie an ihm festgestellt sind, zugleich als Fundamental-
gesetze des Gegenstandes und damit alles dessen, was „Gegenstand"
ist, entgegen, und diese mit Einsicht zu erfassende Koinzidenz zwischen den
Fundamentalgesetzen des Denkens und des Seins begründet unsere Ueber-
zeugung von der „Wahrheit" d. h. von der objektiven Gültigkeit unserer
Erkenntnisse. Sie ermöglicht auch die einzig und allein befriedigende
Antwort auf die Grundfrage des Verfassers: „Wie kommt es, dass wir mit
bewusstfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen ?" Denn die schliess-
liche Antwort Vaihingers, dass die nachträgliche Korrektur oder Elimination
der bewusst falschen Voraussetzungen eine Anpassung an die Wirklichkeit
erklärt, weist selbst über sich hinaus auf das weitere Problem: Was ver-
stehen wir unter zweckmässiger Anpassung? Und wie ist ein derartiger
Zweckzusammenhang zwischen psychischen Gebilden und physischen Vor-
gängen denkbar V Beides Fragen, die unseres Erachtens auf jene Koinzidenz
von Denken und Sein zurückweisen. Wir sind uns voUbewusst, dass wir
mit diesem „objektivistischen" Standpunkte von dem Kantischen Kritizismus,
wenigstens wie er gemeinhin aufgefasst wird, abweichen ; wir glauben aber
auch, dass eine rein subjektivistische Deutung Kants, die Auffassung also,
welche die Kluft zwischen Subjekt und Wirklichkeit als gegeben und un-
überbrückbar ansieht, eine dogmatische Voraussetzung ist, die das Erkenntnis-
problem von vorneherein in falsche, allzu enge Bahnen lenkt und ver-
wirrt. — Es ist nur natürlich, dass für unseren Standpunkt auch die Kate-
gorien eine andere Bedeutung gewinnen, als für den Verfasser. Kategorien
sind keine Fiktionen, so richtig es auch ist, dass z. B. die Scheidung von
„Ding" und „Eigenschaft" nur eine nachträgliche, durch unser Denken be-
wirkte ist, und dass die leere Etikettierung der einzelnen Elemente der
Wirkhchkeit als „Ursachen" oder „Wirkungen" uns keinen Schritt auf dem
Erkenntniswege weiterführt. Die von uns formulierten Kategorien sind
vielmehr Hinweise auf reale Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten, Strebe-
pfeiler unseres Erkenntnisgebäudes, die selbst auf einer apriorischen Gesetz-
mässigkeit des Gedachten gründen und deshalb imstande sind, unserem
stetig sich entwickelnden Erkennen festen Halt zu gewähren. Mögen im
Fortschritt der Wissenschaften neue Kategorien gefunden werden (man
denke an die Methodologie der Geisteswissenschaften!), mögen die alten
40 W. Switalski.
eine prägnantere Fassung erhalten, — ohne jenes objektive, als uner-
schütterlich vorauszusetzende Fundament wäre aucli dieser Fortschritt nicht
denkbar! Und so bietet die Anwendung der Kategorien auf die Wirklich-
keit nicht bloss den Anschein der Begreifiichkeit, sondern vollgültige
Erkenntnis ! Wenn wir von den wahrgenommenen Inhalten aus nach der
zu gründe liegenden „Substanz" forschen, so liegt das erkenntnisfördernde
Moment hier eben in der Unbefriedigung mit den anscheinend regellos
wechselnden Inhalten. Und die konkrete Sukzession der Inhalte, die bei
aller kausalen Erklärung nach Vaihinger die eigentliche Erkenntnis be-
gründen soll, wird doch selbst als solche nur deshalb erkannt, weil in ihr
die kausale Gesetzmässigkeit festgestellt wird. Allerdings verwenden wir
eine andere Terminologie als Vaihinger, — eine Differenz, die auf sach-
liche Unterschiede zurückweist: Was Vaihinger „wissen" oder „erkennen"
nennt, ist für uns ein „Vorfinden" oder „Anerkennen", und nur dem
sachlich bedingten Ordnen der Inhalte, ihrer Zurückführung auf letzte Gründe
und Gesetze schreiben wir „Erkenntnis-'wert zu. Eine von diesem Stand-
punkt aus berechtigte Folgerung ist es auch, dass wir die Ideen „Gott",
„Freiheit", „Unsterblichkeit" nicht einfach mit Vaihinger in das Gebiet der
„Fiktionen" verweisen, dass wir vielmehr Handhaben zu besitzen glauben,
um im Fortschritt des Erkennens uns von der realen Bedeutung dieser
Ideen zu vergewissern. Dieser Hinweis mag genügen. Wir werden auf den
„Fiktions"charakter dieser Ideen weiter unten von einer anderen Seite her
zurückkommen.
Den Ausführungen des Verfassers über die „reinen" Fiktionen, also
über die „in sich selbst widerspruchsvollen Hilfsgebilde des Denkens"
(mathematische Fiktionen, Fiktionen der Naturwissenschaft, juristische
Fiktionen) können wir uneingeschränkter zustimmen : sie können nicht
„verifiziert", d. h. als tatsächlich vorhanden konstatiert, sondern nur „justi-
fiziert", als brauchbare Hilfsmittel anerkannt werden. Aber auch hier
erhebt sich ein Bedenken: Was heisst „justifizieren" V Wofür sollen die
Fiktionen ,. brauchbar" sein? Man sieht, ihre „praktische" Bedeutung ist
nicht eindeutig genug bezeichnet. Wir glauben durchaus im Sinne des
Verfassers die Antwort auf die gestellte Frage folgendermassen geben zu
können : Die Fiktionen sind „brauchbar" für den jeweiligen Zweckzusammen-
hang, um dessentwillen sie aufgestellt sind. Sie werden ..justifiziert", in-
sofern ihre Zweckdienlichkeit anerkannt wird. Ihre ,. praktische" Bedeutung
richtet sich demnach nach dem Gebiet, für das sie verwendet werden.
Daraus folgt, dass die Fiktionen auf dem wissenschaftlichen Gebiete
den Zwecken theoretischer Erfassung dienstbar sind: hier werden sie
justifiziert, insofern sie die theoretische Erfassung ermöglichen oder ei'-
leichtern.
Indem wir so die Eigenart des theoretischen Erfassens betonen,
Verstössen wir allerdings gegen einen Fundamentalsatz der Vaihingerschen
Vaihingens „Philosophie des Als ob". 41
Doktrin, die alle und jede psychische Betätigung, also auch das Denken,
in den Dienst der „Selbsterhaltung" des Organismus stellt und so rein
praktischen Interessen — mit bevvusster Vernachlässigung des theo-
retischen Momentes — unterwirft. Wir müssen deshalb unsere Unter-
scheidung genauer rechtfertigen. Zu diesem Zwecke ist es erforderlich, sich
wieder den Unterschied der psycho genetisch-biologischen und der
erkenntniskritischen Betrachtungsart zu vergegenwärtigen. Dass unser
Denken im Haushalt unseres Organismus eine bestimmte dienende Rolle
2u erfüllen hat, dass diese Aufgabe des Denkens in der immer allseitigeren
Orientierung innerhalb der Umwelt und in der Auswahl der zweckmässigen
Reaktionsweisen besteht, und dass deshalb das praktisch Brauchbare und
Fruchtbare der Denkbetätigung nicht immer mit der sachlichen und formalen
„Wahrheit" der Denkresultate zusammenfällt (64 f.), — das alles können
wir uneingeschränkt unterschreiben. Aber es ist damit keineswegs erwiesen,
dass das Denken nur diesen Zwecken dienen soll, ja, es ist direkt zu be-
streiten, dass es auf die Dauer selbst diese Aufgabe zweckdienlich erfüllen
kann, wenn es sich nicht — bei seiner Betätigung - immer entschiedener
von allen praktischen Tendenzen emanzipiert : Wie die Verwertung der
physikalischen Prozesse im Organismus ihre eigene Gesetzmässigkeit nicht
ersetzt, sondern voraussetzt, so entscheidet die teleologische Be-
trachtung des Denkens nichts über die immanenten Gesetze und Ziele
des Denkens. Diese immanente Struktur des Denkens kann nun keine
biologische Methode ermitteln: logische Analyse und erkenntnis-
kritische Ausdeutung sind hier allein massgebend. Bei einer derartigen
Betrachtung müssen wir aber „Denken" als sachUch bedingtes Vergleichen,
Unterscheiden, Ordnen und „Erkennen", als denkendes Erfassen des sach-
lich Gegebenen definieren, unbeschadet aller transzendenten, auf die Er-
haltung des Organismus abzielenden Aufgaben des Denkens. Wir sehen
also, die „Theorie" lässt sich nicht restlos auf die „Praxis" zurückführen :
sie ist und bleibt vielmehr die Leuchte, die mit ihrem eigenen, nicht von
der Praxis erborgten Lichte auch die dunklen Pfade der Umwelt erhellt.
Das Handeln regt uns zum Denken an, die Not des Daseins drängt uns
zur Verfeinerung der Denkbetätigung, das alles ist wahr, aber das Denken
bleibt doch seinem idealen Gehalte nach etwas der Praxis gegenüber
Selbständiges : es lässt sich nicht als „Instrument" des Handelns definieren,
ohne damit auch diese Bedeutung zu verlieren.
Das theoretische Erfassen der Wirklichkeit, das wir so allen pragma-
tistischen Reduktionsversuehen zum Trotz in seiner Eigenart und in seinem
Eigenwert zu wahren versuchen, ist dabei auch nach unserer Auffassung
kein Abbilden der Wirklichkeit, kein einfaches Hinnehmen. Es .ist ein
Verarbeiten der Eindrücke, eine stetig fortschreitende Vertiefung in den
Wirklichkeitsgehalt, aber eben zum Zweck der Eruierung dessen, „was ist".
Unser Erkennen ist und bleibt ferner Stückwerk, weil es von der Schale
42 W. Swjtalski.
mühsam zum Kern vordringt, und es bedarf in der Tat häufig Hilfs-
konstruktionen, die eine Ergänzung bieten für die Lücken unseres Wissens-
gebäudes und die durch stetig neue „Anpassung" verbessert oder durch
andere Konstruktionen ersetzt werden (vgl. die Ersetzung der „Atomhypo-
ihese" durch die „Elektronentheorie"); aber dieser Relativismus unseres
Erkennens ist nur denkbar, weil das zu Erkennende auf fester Basis ruht :
sonst wäre ja ein ..Anpassung" ein Widerspruch in sich (vgl. Switalski, „Der
Wahrheitsbegriff des Pragmatismus nach W. James", 1910, und „Probleme
der Begriffsbildung" Philos. Jahrb. Januar 1912).
Mit dieser entschiedenen Betonung der Eigenart des theoretischen Ver-
haltens hängt naturgemäss eine von Vaihinger abweichende Auffassung des
Wahr hei tsbegriffs zusammen. Vaihinger unterscheidet, obwohl er nur von
einer „doppelten" Wahrheit spricht, eigentlich eine dreifache: zunächst
die Wahrheit als Feststellung der unabänderlichen Sukzessionen (die eigent-
lich „reale" Wahrheit) ; dann die „Wahrheit" der Formen des Denkens,
von der der Satz gelte, dass „die Wahrheit der zweckmässigste Irrtum"
sei (192 f.), und endlich die „Wahrheit" der „Als-Ob"-Betrachtung (760 ff.),
die nur eine bildliche ist („Wahrheit" soll hier nur den idealen Wert
gewisser Fiktionen bezeichnen). „Wahr" im ersten Sinne sind nach Vaihinger
die Empfindungen, ihre Koexistenz und Sukzession, „wahr" im zweiten Sinne
die Semifiktionen und Fiktionen, sofern sie wissenschaftlich brauch-
bar sind, „wahr" im dritten Sinne endlich sind für den Verfasser die
religiösen Grundbegriffe.
Dass wir die Kluft zwischen den beiden zuerst genannten Bedeutungen
der „Wahrheit" nicht anerkennen können, ist oben bereits näher begründet.
Hier wollen wir unser Augenmerk auf den dritten Wahrheitsbegriff, den
Vaihinger im Anschluss an Lange formuliert, richten: Es erscheint uns
zunächst misslich und irreführend, in Anpassung an den Sprachgebrauch
von „religiösen Wahrheiten" zu sprechen, wenn man ihren Lehrgehalt
leugnet und sie nur als Fiktionen, wenn auch als wertvolle Fiktionen,
gelten lassen will. — Im Hinblick auf die Einheit der menschlichen Natur
ferner und auf die teleologische Bedeutung des Denkens im Dienste dieser
Einheit - ein Motiv, das gerade der biologischen Betrachtungsweise ent-
nommen ist — muss gegen die radikale Trennung des W^issens vom Glauben,
der Wirklichkeit vorn Ideal protestiert werden : ein auf rein fiktiver Grundlage
ruhender Glaube, ein erdichtetes Ideal ist ein Schemen, das an sich keine
Motivationskraft für den normalen Menschen hat; nur in Anlehnung an
eine Gesetzmässigkeit, von deren Realität man überzeugt ist, können
Fiktionen Bedeutung erhalten und insofern das Handeln bestimmen : ge-
lrennt von ihr sind es reine Illusionen, denen nur Selbsttäuschung Wert
beimessen kann. Der ideale Wert der rehgiösen Wahrheit kann, so
wollen wir uns positiv ausdrücken, nur dann aufrecht erhalten werden,
wenn sie „Wahrheit" im strengen Sinne ist, wenn sie also, — so „rätsei-
Vaihingers „Philosophie des Als Ob". 43
hafl" auch der „Spiegel" sie wiedergibt, in dem wir sie schauen, —
doch auf durchaus realer Basis beruht und auf eine ewige „Wahrheit"
zurückführt.
Wir verhehlen uns nicht, dass wir damit eine Auffassung vertreten,
die der Vaihingerschen diametral gegenübersteht : Vaihinger ist Kantianer
in dem Sinne, dass er die „Rechte" des Erkenntnissubjekts, seine „Autonomie"
und sein „schöpferisches" Verhalten beim Formen der Wahrheiten betont.
„Wahr" muss also für ihn das und nur das sein, was den „Bedürfnissen"
(im edelsten und umfassendsten Sinne) des Subjekts irgendwie entspricht.
Wer dagegen mit uns im Hinblick auf die unverrückbar gültigen Werte,
an die der Menschengeist sich gebunden sieht, und auf die Umwelt, von
der er sich in vieler Beziehung abhängig fühlt, das Subjekt in einen um-
fassenderen, weltumspannenden Zusammenhang hineinstellt, für den behält
die Wahrheit ihren überindividuellen, allgültigen Charakter, und, was wir
„Wahrheit" nennen, ist nur eine Aneignung jener für sich bestehenden
Wahrheit, ein mehr oder minder gelingendes Erfassen der Wirklichkeit an
der Hand der transsubjektiven und doch in unserem Innern herrschenden
Idealgesetze.
Vaihinger konnte somit uns nicht „das lösende Wort in quälenden
Problemen bringen". Aber dankbar erkennen wir an, dass die von seinem
Werk ausgehenden Anregungen vielfach fruchtbar sind, Anregungen posi-
tiver Art, insofern Vaihinger mit Nachdruck eine sorgfältige Scheidung des
Subjektiven vom Objektiven in unserem Erkenntnisganzen als unabweisbar
notwendig erweist, und nicht minder wertvolle Anregungen in negativer
Hinsicht, indem sein Werk zur kritischen Stellungnahme und damit zur
Klärung der eigenen Ansichten geradezu herausfordert.
Der Allpassungscharakter der spezifischen
Sinnesenergien im Lichte der vergleichenden
Psychologie.
Von Dr. Max Ettlinger in München.
Einem eben erst aufblühenden Wissenszweig, wie die Tierpsychologie
einer ist, steht es sicherlich am besten an, zunächst einmal das reich-
zuströmende Licht der Tatsachen auf sich wirken zu lassen, die junge
Kraft in deren Sichtung und sachlichen Ordnung vor allem anderen zu
erproben. Die Zahl der neuerkannten Probleme wird auf diesem Gebiete
noch für geraume Zeit grösser bleiben als die Zahl der befriedigenden
theoretischen Lösungen. Und doch hiesse es die Entsagung zu weit treiben,
wollte man denen, die sich das tierpsychologische Tatsachenmaterial hin-
reichend zu eigen gemacht haben, noch alle und jede hypothetischen Aus-
blicke verwehren, aus denen auch für die weitere empirische Forschung,
mag sie nun zur Bestätigung oder Widerlegung führen, neue Antriebe sich
auslösen können.
Naturgemäss eröffnen sich die Ausblicke zu neuartiger tierpsycho-
logischer Hypothesenbildung zuerst nach der Seite, von wo dem neuen
Spezialgebiet alle wichtig.sten Anregungen, Problemstellungen, Analogie-
erkenntnisse gekommen sind und immer wieder kommen werden, nach
der Seite der Psychologie und spezieller der Psychophysik des mensch-
lichen Seelenlebens. Für gar manche psychophysischen Grundfragen, die
allein aus den Forschungen am Menschen ungelöst geblieben sind oder
hinsichtlich deren sich wenigstens die gegensätzlichsten Theorien noch un-
entschieden gegenüberstehen, vermag die Tierpsychologie bereits ihre
erkenntnismehrende Hilfskralt darzubieten. Und wo sie noch keinen end-
gültigen Entscheid bringt, räumt sie doch oft wenigstens allzu einseitige,
rein anthropozentrisch gedachte Hypothesen aus dem Weg.
In diesem Sinne habe ich es unlängst versucht, den Streit zwischen
nalivistischen und empiristischen Raumsinntheorien schlichten zu helfen,
und in den „Münchener Philosophischen Abhandlungen" einige Richtlinien
entworfen „zur Entwicklung der Raumanschauung bei Mensch und Tier"
im Sinne einer phylogenetischen Lokalzeichentheorie *). In ähnlichem
') „.Müiich. Pliilo.s. Abhr, Lcii)/.;- 1011, S. 77 ■.)'.).
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 45
Sinne Hessen sich bereits auch, wie hier wenigstens angedeutet sei, für
die kontroversen Interpretationen des Weber-Fechnerschen Gesetzes und
des Talbotschen Gesetzes mancherlei theoretische Aufschlüsse daraus ge-
winnen, dass beide Gesetze für Reizvorgänge an höheren und niederen
Tierorganismen und — wie Pfeffer 1884 und Wiesner 1880 zuerst
betonten und andere neuerdings bestätigten M ■ — sogar auch noch für Reiz-
vorgänge an Pflanzen sich als gültig erweisen. Auch für den Entscheid
so wichtiger und kontroverser Spezialtheorien, wie sie sich z. B. hinsichtlich
der Grundlagen des Farbensehens gegenüberstehen, lassen sich die Fest-
stellungen über den Farbensinn höherer und niederer Tiere — so hat
neuerdings wieder Minkiewicz betont — nicht länger ignorieren.
Hier beschränken sich meine Bemühungen auf ein anderes psycho-
physisches Grundgesetz, die Lehre von den spezifischen Sinnes-
energien, und es kann hoffentlich auch für solche, die den vorgeschlagenen
Lösungen noch grundsätzliche Bedenken entgegenstellen, wenigstens das eine
mit voller Ueberzeugungskraft dargetan werden, dass diese Lehre ohne viel-
fältige Berücksichtigung der tierpsychologischen Erkenntnisse gar nicht mehr
sachentsprechend und zeitgemäss formuliert und interpretiert werden kann.
Die Wissenslage ist für uns in gar mancher Hinsicht eine andere ge-
worden, als sie im Jahre 1826 war, da der grosse Forscher und Denker
Johannes Müller, der Begründer eines neuen Zeitalters in der Physio-
logie, zuerst seine Lehre von den spezifischen Sinnesenergien entwickelte.
Zwei Voraussetzungen von allgemeinerem naturphilosophischem Inhalt
setzte er grade bei der Formulierung dieser Lehre als feststehend voraus:
Erstens die vitalistische Auffassung der Lebensvorgänge, zweitens die
Konstanz der Arten. Beide Voraussetzungen werden heute lebhaft um-
stritten. Das Verhältnis zum Vitalismus gilt es hier nur zu fixieren, das
Verhältnis zur Deszendenztheorie hoffen wir ein wenig klären zu helfen :
Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, dergestalt, wie sie von
Johannes Müller selbst aufgestellt wurde, ist ohne Zweifel unvereinbar mit
einer Ausdehnung des Entwieklungsgedankens auf das psychophysische
Gebiet. Darum konnte ich noch 1908, geblendet von dem fast unbestritten
andauernden Ansehen der Lehre namentlich in physiologischen Kreisen,
sie in meinen wesentlich Methoden-Fragen gewidmeten „Untersuchungen
über die Bedeutung der Deszendenztheorie für die Psychologie'" als eine
unüberbrückbare Schranke der psychischen Entwicklung bezeichnen. So
war auch die Lehre von Johannes Müller zweifellos gemeint, der durchaus
an der Unveränderlichkeit der Arten festgehalten hat und eine Erklärung
für die jedem Sinnesnerven innewohnende spezifische Kraft nur in recht
verschwommener Art durch Rückverweis auf seine vitahstische Grund-
') Vgl. G. Fiingsheim, Die Reizbewegiingen der PHanzeii, Berhn 1912,
S. Ui5 fr., 281 ff. u. a.
46 Max Ettlinger.
ansieht zu geben wusste. „Wir sind genötigt", schreibt Müller einmal,
„jedem Sinnesnerven bestimmte Energien im Sinne des Aristoteles zuzu-
schreiben, welche seine vitalen Qualitäten (anderwärts sagt er auch : vitalen
Potenzen. E.) sind" . . . „Die Empfmdung des Tones ist . . . die eigentüm-
liche Energie des Hörnerven, die des Lichtes und der Farben die Energie
des Gesichtsnerven" usw. Diese Energien sind nach Müllers Meinung
bei einer jeden Art von Anfang an unveränderlich gegeben und bestehen
unveränderlich fort; eine Vorstellung, gegen die sich aus wesentlich
empirisch-psychologischen Gründen zuerst Hermann Lotze und Adolf
Horwicz gewendet haben, während mehr auf Grund der physiologischen
Tatsachen und Theorien Ernst Mach in seiner Wiener Akademie-Rede
1866 und Ewald Hering 1870 in seiner Rede über das Gedächtnis die
Anwendung der Entwicklungslehre auf die Theorie der Sinnesempfindung
gefordert haben. Es existiert aber bisher, soweit ich sehe, nur ein nam-
hafter Versuch, diese Forderung auch in die Praxis zu übersetzen, näm-
lich eine Entwicklungstheorie der Sinnesqualitäten zu geben, ohne dabei
das Gewicht der von Müller ins Licht gestellten tatsächlichen Gesetz-
mässigkeiten zu verkennen. Wilhelm Wundt war es, der bereits 1874
in der ersten Auflage seiner „Grundzüge der physiologischen Psychologie"
anstelle der MüUerschen Lehre sein „Prinzip der Anpassung der Sinnes-
funktionen an die Reize und der Sinneswerkzeuge an die Funktionen" ge-
setzt hat. Dieses Prinzip aus tierpsychologischen Neubefunden empirisch
zu bestätigen und theoretisch weiter auszubauen, schwebt uns als not-
wendiges und aussichtsreiches Endziel vor*).
Zunächst gilt es, sich der Tatsachen in kurzem Ueberblick zu er-
innern, auf die Müllers Lehre sich gründet, und denen auch
jeder Ersatz versuch gerecht werden muss:
Die Ton den peripheren Sinnesorganen dem nervösen Zentralorgan
zugeleiteten Erregungsformen kommen uns bekanntlich, je nach ihrem Ur-
sprung, in sehr verschiedener Qualität zum Bewusstsein. Die Schallreize
auf das Ohr erleben wir als Töne, die Lichtreize auf das Auge als Farben,
die Reizungen der Hautsinnesorgane je nach ihrer Modalität als Druck-
empfmdungen, Wärme oder Kälte usf. Hätte es nun bei diesen Fällen
adäquater Reizung, wo also Schallreize auf das Gehörorgan, Lichtreize auf
das Sehorgan und ähnliches mehr wirken, sein Bewenden, so wäre das
Gesetz der Sinnesempfindungen ein sehr einfaches. Tatsächhch ist dem
aber bekanntlich nicht so, sondern es werden, wie bereits Aristoteles
*) An Wundts Darstellung in der neuesten, sechsten Auflage seiner
„Grundzüge" (Leipzig 1908 I 499 ff.) wird im obigen des öfteren angeknüpft.
Reiches Material bietet ferner namonllich auch die Schrift von Rudolf Wein-
mann, „Die f.ehre von den speziiischen Sinnesenergien", Hamburg und
Leipzig, 1895.
i
Der Anpassungscharakler der spezifischen Sinnesenergien. 47
wusste, auch inadäquate Reize, die irgend ein Sinnesorgan treffen, sofern
sie überhaupt eine Empfindung auslösen, nicht nach ihrer eigenen Natur,
sondern gemäss der Modalität des erregten Sinnesorganes zum Bewusstsein
gebracht. So löst z. B. auch eine hinreichend starke mechanische oder
elektrische Reizung des Auges Lichtempfindung aus; ähnlich bewirken
mechanische Erschütterungen des Schädels oder pathologische Veränderungen
im Gehörorgan ohne jeden äusseren Schallreiz Ohrenklingen; mechanische
oder elektrische Reizung von Geschmacks- oder Geruchswerkzeugen erleben
wir unter Umständen als Geschmacks- und Geruchsnüancen und ähn-
liches mehr. ♦
Aus diesen und verwandten Tatsachen leitet Johannes Müller in einem
nicht nur rein psychophysisch, sondern auch erkenntnistheoretisch belang-
i'eichen Gedankengang zunächst für die Qualitäten des Gesichtssinnes, für
Helligkeiten und Farbigkeiten, die Lehre ab, dass sie nicht als etwas
Fertiges in der Aussenwelt existieren, „von welchem berührt der Sinn nur
die Empfindung desselben hätte; sondern die Sehsinnsubstanz bringt sich,
von jedwedem Reize, welcher Art er immer sein mag, aus ihrer Ruhe zur
Affektion bewegt, diese ihre Affektion in den Energien des Lichts, Dunklen,
Farbigen selbst zur Empfindung", und für alle Sinnesmodalitäten formuliert
er es 1840 im „Handbuch der Physiologie" ganz allgemein gültig: „Die
Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes
der äusseren Körper zum Bewusstsein, sondern die Leitung einer Qualität,
eines Zustandes des Sinnesnerven, zum Bewusstsein, veranlasst durch eine
äussere Ursache, und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnes-
nerven verschieden, die Sinnesenergien".
H e 1 m h 0 1 1 z glaubte bekanntlich mit seinen Farben- und Tontheorien
dieses Gesetz auch noch weiter auf die einzelnen Qualitäten der höheren
Sinne, die verschiedenen Farben und Töne, ausdehnen zu können, anderen
gilt die Blix-Goldscheidersche Entwicklung spezifischer Kälte- und
Wärmepunkte, differenter Geschmackspunkte durch Oerwall, difierenter
Geruchsregionen durch Zwarderaaker als neue Bestätigung des Müller-
schen Prinzips. Aber in Wahrheit hat diese noch feinere Spezialisierung
innerhalb der einzelnen Empfindungsmodalitäten, die sich keinesfalls bis
in die letzten Einzelheiten durchführen lassen, mit dem ursprünglichen
Müllerschen Prinzip so lange nicht notwendig etwas zu tun, als nicht der
Tatsachennachweis erbracht wird, dass auch innerhalb dieser engeren
(irenzen inadäquate Reize nur die spezifische Wirkung hervorbringen
können. Von einem solchen Nachweis aber kann, soweit ich sehe, nirgends
die Rede sein.
Selbst die inadäquaten Modalitätsreize, auf denen die ursprüng-
liche Müllersche Lehre beruht, begegnen recht ernsthaften Einwänden
bereits bei Lotze. Namentlich aber hat in neuerer Zeit Max Dessoir
48 Max Eltlinger.
in seiner Abhandlung über den Hautsinn i) die Wahrscheinlichkeit recht
gut begründet, dass sich zu den primären inadäquaten Reizen in vielen
Fällen sekundär auch adäquate Reizungen gesellen können. Am unmittel-
barsten einleuchtend ist dies wohl bei der elektrischen Reizung der che-
mischen Sinne, also des Geschmackes und Geruchs. Hier können sehr
leicht durch elektrolylische Zersetzungen des Speichels, bzw. Nasenschleims
adäquate Reizungen entstehen. Man hat geradezu von einem elektrischen
Geschmack als einer besonderen Qualität gesprochen, und eines elektrischen
Geruchs glaube ich mich selbst aus der langwierigen elektrolytischen Be-
handlung von Nesenwucherungen zu erinnern. Ebenso erscheinen bei
elektrischen Reizen auf das Auge Zersetzungen des Sehpurpurs, bei mecha-
nischen Erschütterungen entstehende Schallwellen, bei einem Schlag auf
das Auge entstehende Aetherwellen nicht gänzlich ausgeschlossen, obwohl
freilich diese Ausflüchte doch manchmal allzu künstlich sind, um nament-
lich für das optische Gebiet als hinreichend zu gehen.
Aber ein Haupteinwand bleibt unter allen Umständen bestehen : dass
es sich nämlich im Vergleich zu den adäquaten Reizungen hier doch um
relativ sehr seltene Fälle handelt, die augenscheinlich anormaler Art sind
und nur durch sehr künstliche gewaltsame Eingriffe entstehen oder krank-
haften Ursprungs sind. Dessoir gibt mit Recht zu bedenken, „dass ein
ganzes Menschenleben ablaufen kann, ohne dass auch nur e i n solcher Fall
zu verzeichnen ist. Und man halte demgegenüber die unendlich vielen
adäquaten Reizungen, die die Sinne eines jeden Menschen innerhalb der
kürzesten Zeit treffen".
Ehe man aus solchen anormalen Fällen allzu weitgehende Schlüsse
auf die allgemeine Natur der Sinnesempfmdung zieht, müsste man sich
zum mindesten der Fälle erinnern, die gegen eine völlige Be-
schränkung des einzelnen Sinnesorgans auf eine bestimmte
Empfind ungsmodalität ins Feld geführt werden können : da liesse
sich zunächst als allgemeine Gegeninstanz anführen, dass die Sicherheit,
mit der wir bei den sogenannten höheren Sinnen die Modalitäten aus-
einander halten, mit der wir z. B. Töne von Farben unterscheiden, für
die sogenannten niederen Sinne keineswegs im gleichen Masse gilt. Be-
sonders die Unterscheidung von Gerüchen und Geschmacksempfindungen
bereitet bekanntlich oft so grosse Schwierigkeiten, dass wir in dieser
Hinsicht häufigen Verwechslungen unterliegen und mindestens, wie ich
schon an anderer Stelle betonte 2), eine andere Sinnesraodalität, näm-
lich die kinästhetische Erfahrung der spezifischen Einstellungsbewegungen,
zu deutsch : Schnüffeln oder Schmatzen zu Hilfe nehmen müssen,
'; Vgl. M. Dessoir, lieber den Haulsinn im , Archiv f. Physiologie',
•lahrg. 1892 S. 175 ff.
') Zur Entwicklunjf der Raninanschauung bei Mensch und Tier. S. 88.
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 49.
um eine sichere Modalitätsunterscheidung zustande zu bringen. Leicht
können auch Temperatur- und Berührungsreize von sehr niedriger Intensität
mit einander verwechselt werden. Ueberhaupt steht es gerade mit den
verschiedenen Modalitäten des Hautsinnes ganz allgemein so, dass sie
wenigstens bei minimalen und maximalen Grenzfällen ihrer Intensität nicht
leicht und sicher auseinander gehalten werden. Und eine Modalität wenig-
stens tritt bekanntlich bei übermässiger Reizung sämtlicher Sinnesorgane
schliesslich überall gleichmässig ein, nämlich die Schmerzempfindung.
Diesem letzten Einwand wusste Mfiller nur durch die ungenügende Aus-
flucht zu entgehen, dass auch dann der Schmerz auf den verschiedenen
Sinnesgebieten eine spezifische Färbung bewahre, eine Ausflucht, die keinen-
falls ausreicht. Denn damit ist ja zum mindesten ein erhebUches Zurück-
treten des spezifischen Charakters zugestanden. Einen weiteren allgemeinen
Einwand liefert die Entdeckung des sogenannten statischen Sinnes, dessen
spezifische Empfindungsqualitäten überhaupt nur äusserst unvollkommen
unterschieden werden können und in dem körperlichen „Gemeingefühl"
aufgehen; am ehesten können sie noch dann erkannt werden, wenn das
Organ seinen Dienst versagt.
Eine weitere Instanz schon aus der menschlichen Sinneserfahrung
gegen die unbedingte Geltung der Lehre von den spezifischen Sinnes-
energien und für eine Anpassungstheorie kann daraus gewonnen werden,
dass wenigstens bei einem höheren Sinn des Menschen, nämlich beim
Gehörsinn, der genetische Zusammenhang mit der Erschütterungswahr-
nehmung eines Statolithenorgans noch wahrnehmbar ist. Bei den tiefsten
Tönen mit langsamster Schwingung können nämhch die einzelnen Tonstösse
noch einigermassen mit dem Ohr herausempfunden werden, während sie
bekanntlich bei den höheren, musikalisch brauchbaren Tönen ganz ver-
schmolzen sind; in diesem Zusammenhang darf auch auf den Bericht der
bekannten Taubstummblinden Helen Keller verwiesen werden, die sich,
des Gehörsinns gänzlich beraubt, doch noch auf eine für uns schwer fass-
liche Weise an den Tonerschütternngen beim Orgelspiel ei'freuf.
Neben solche einzelnen psychologischen Handhaben, die sich bereits
beim Menschen für eine Anpassungstheorie der Sinnesenergien gewinnen
lassen, stellt sich gleich bedeutsam ein allgemeiner physiologischer Tat-
bestand: Wenn wir nämhch die einzelnen Sinnesorgane beim Menschen
daraufhin vergleichen, wie sehr bei ihnen die Schutzvorrichtungen gegen
inadäquate Reizeinwirkung und die positiven Hilfsvorrichtungen für die er-
leichterte Zufuhr adäquater Reize ausgebildet sind, so ergeben sich augen-
fällige Unterschiede. Bei den sogenannten höheren Sinnen des Menschen,
bei Ohr und Auge, sind Schutzvorrichtungen (man gedenke nur der
tiefen Einlagerung der empfindlichen Teile) und Hilfsapparate (es genügt
schon der Verweis auf die Hchtsammelnde Linse und die schallverstärkende
Ohrmuschel) offenbar in viel höherem Grade ausgebildet und spezialisiert
Philosophisches Jahrbuch 1913. 4
50 Max Ettlinger.
als bei den Organen des Geschmacks und Geruchs oder gar des Haut-
sinns. Sofern man nicht auf jede Erklärung solcher Verschiedenheiten
verzichtet, können sie nur als verschiedene Grade der Anpassung des
Organs an seine spezifische Funktion verstanden werden.
Neben den allgemeingültigen Gründen für eine Anpassungstheorie aus
der Psychophysik des Menschen dürfen ferner, da auch die MüUersche Lehre
auf so seltene und anormale Erfahrungen des Sinneslebens sich beruft,
als Instanzen unserer Auffassung noch einige anormale Fälle hier an-
geführt werden. Vor allem ist an die sogenannten Synästhesien zu denken,
z. B. an das Farbenhören oder den Farbengeschmack, wobei bekanntUeh
auf die Reizung eines einzigen Sinnesorganes mit Empfindungen einer oder
mehrerer anderer Modalitäten ganz ursprünglich geantwortet wird, also
z. B. auf die Reizung des Gehörorgans mit Farben („audition coloree"),
oder, wie noch jüngst Downey im „American Journal of Psychology"
(1911, Seite 528 fl.) berichtet hat, auf die Reizung des Geschmacksorgans
mit einer Kombination von Farben- und Tastempfindungen. Bei der Ur-
sprünglichkeit, welche solchen Erscheinungen bei manchen Personen eignet,
ist es verfehlt, sie immer auf indirekte zentrale Auslösung zurückzuführen,
und die Vermutung in Jodls „Lehrbuch der Psychologie" ist keinesfalls
von vornherein von der Hand zu weisen, dass hier „vielleicht Atavismus
aus der Zeit der Gehirnentwicklung vorliegt, da bei unvollkommener Diffe-
renzierung der Gehirnorgane die nämlichen Zentren Reize von verschiedener
Modalität verarbeitet hatten". Noch eine andere anormale Erscheinung
kann hier nicht ganz mit Stillschweigen übergangen werden, obgleich sie
freilich durch den Missbrauch von okkultistischer Seite in üblen Ruf ge-
kommen ist, nämlich die angebliche Verlegung von spezifischen Empfindungen
der höheren Sinne, speziell des Gesichtes, an Körperstellen, wo nur Haut-
sinnesorgane in Betracht kommen können. Auch Johannes Müller hat dieser
Fälle gedacht und sie kurzerhand mit den Worten abgefertigt: „All das
Sehen mit der Herzgrube ist Märchen oder Betrug". Obwohl ich. wie aus
anderen Publikationen zu ersehen, der Letzte bin, der zu irgendwelchen
Zugeständnissen an okkultistische Geheimniskrämerei geneigt ist, muss doch
zugestanden werden, dass die berichteten Fälle nicht mehr so kurzerhand
in das Reich der Fabel verwiesen werden können, als es zu Müllers Zeiten
noch möglich sein mochte. Wenn man sich auch kaum für die Tatsäch-
lichkeit irgend eines der berichteten Fälle voll einsetzen kann, so lässt
sich doch gerade aus der Analogie mit tierpsychologischen Beobachtungen
die Möglichkeit solcher Sinnesverlegungen nicht ganz in Abrede stellen:
denn wie man bei Hysterischen und bei Hypnotisierten neben der Aus-
schaltung und Einengung einzelner Sinnesbereiche eine erhebliche quantita-
tive Verschärfung anderer noch funktionierender Sinne allgemein zugesteht,
z. B. Hyperakusie, so scheint mir auch eine aussergewöhnliche qualitative
Ausdehnung der Möglichkeit nach nicht ausgeschlossen. Aber ein solches
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 51
ultimum refugium ist glückliclierAYeise keineswegs nötig, um den Ersatz
der Müllerschen Spezifitätslehre durch eine Anpassungslehre
im Sinne Wundts zu begründen.
Sobald man neben den Tatsachen des menschlichen
Sinneslebens auch die des tierischen ins Auge fasst,
scheinen uns die Gründe für eine .solche Umgestaltung der
Theorie in Fülle zuzuströmen.
Zunächst fällt hier, rein experimentell-technisch gesprochen, je weiter
wir in der Tierreihe nach abwärts steigen, desto mehr die Schwierigkeit
hinweg, den tierischen Sinnesorganen auch inadäquate Reize beizubringen.
Wir sehen immer mehr jene Schutzvorrichtungen in Wegfall kommen,
welche es uns z. B. so sehr erschweren, auf die Netzhaut des raensch-
Hchen Auges andere als optische Reize mit Sicherheit einwirken zu lassen.
Auch die Gehörorgane sehen wir nicht mehr so tief eingelagert, so sicher
geschützt und für inadäquate Reize fast unerreichbar. Aber nicht nur die
Schutzvorrichtungen gegen inadäquate Reize kommen immer mehr in Weg-
fall, je weiter wir in der Tierreihe herabsteigen, auch die besonderen
positiven Hilfsapparate, die der spezifischen Reizart angepasst sind, z. B.
bei dem Gehörorgan die Schnecke samt cortischem Organ, deren Einzel-
heiten ganz auf die feinsten Abstufungen der Schallwellen abgestimmt
sind, machen immer einfacheren Vorrichtungen Platz oder kommen ganz in
Wegfall, sodass die Organe immer mehr und immer allgemeiner auch
anderen Reizklassen zugänglich werden. Schliesslich reduzieren sich, zu-
nächst immer noch vom Standpunkt der äusseren anatomischen Betrachtung
ausgesprochen, 'die so fein spezialisierten Sinnesorgane der höheren Tiere bei
den niederen gänzlich auf jenes allgemeine Hautsinnesorgan, welches
schon Aristoteles als das Ursinnesorgan postuliert hat, und zuallerletzt ist
auch von einer Differenz zwischen Sinnesorgan und sonstigen Körperorganen
nicht mehr die Rede; bei den einzelligen Protozoen fällt das alles in eins
zusammen.
Es ist gewöhnUch Sitte, diese hier nur rasch angedeutete anatomisch-
morphologische Stufenreihe von Formen der tierischen und mensehUchen
Sinnesorgane in der umgekehrten Reihenfolge vor Augen zu führen, näm-
lich als einen zwar noch lückenhaften, aber doch in gewissen Grundzügen
schon recht wahrscheinlich erschlossenen phylogenetischen Stamm-
baum. Und angesichts dieses sicherhch eindrucksvollen Bildes pflegt man
ohne weiteres den Appell zu erheben: Wie will man behaupten können,
dass die spezifischen Sinnesenergien ungewordene und unveränderliche
Potenzen seien, da doch die Werkzeuge, deren sie sich bedienen, so
offenkundig als Ergebnisse einer ganz allmählichen Entwicklung sich er-
weisen! Ganz so einfach, als es nun ist, diese Frage zu stellen, vermag
aber die Antwort denn doch nicht auszufallen. Denn diese Frage geht aus
Ton der irrtümlichen, obschon sehr beUebten Anschauung, dass man aus
4*
52 Max E 1 1 1 i n g e r.
der Struktur eines Organs ohne weiteres bindende Schlüsse auf die Art
seiner Funktion ziehen könne, sodass dann der Stammbaum der Funktionen
eigentlich nur ein Abklatsch vom Stammbaum der Strukturen wäre. Tat-
sächlich ist dem aber keineswegs so. Während wir es nämhch in der Reihe
der Strukturen immer nur mit quantitativen Grössen und Grössenunter-
schieden zu tun haben, haben wir es bei den Funktionen immer auch mit
qualitativen Unterschieden zu tun, die oft genug eine allmähliche Ableitung
auseinander auf gar keine Weise zulassen, seibat da nicht, wo es die
Strukturenreihe noch so wahrscheinlich erscheinen Hesse. Gilt diese Un-
reduzierbarkeit auf blosse quantitative Unterschiede nun schon von vielen
anderen gemeinhin als rein physiologisch bezeichneten Funktionen jedes
lebenden Organismus (das dürfte der eigentliche Grund sein, weshalb Hering,
Rosenthal, Verworn u. a. den Begriff der spezifischen Energien weit über
den ursprünglichen Sinn hinausdehnenj, so gilt diese Unreduzieibarkeit erst
recht und ganz gewiss in weitem Umfang von den psychophysischen
Funktionen. Zwischen Tonempfindungen und Farbenempfindungen, oder
zwischen Tastempfindungen und Geschmacksempfindungen gibt es, wir
mögen sie variieren oder reduzieren, wie wir wollen, keine allmählichen
quantitativen Uebergänge, sondern eine jede einzelne Empfindung bleibt
letzlenends sui generis, eine jede von ihnen ist in keine andere Modalität
ohne Sprung überführbar. Diese letzte Eigenart der Sinnesmodali-
täten schliesst aber selbstverständlich keineswegs aus, dass viele von ihnen
gleichzeitig miteinander und verschmolzen miteinander gegeben zu sein pfle-
gen, und lerner schliesst diese letzte Eigenart der Sinnesmodalitäten keines-
wegs in sich, dass nun jede dieser spezifischen Funktionen auch ausschliess-
lich und unveränderlich an ein spezifisches Organ, an eine spezifische Struktur
gebunden sein muss, und darum nur bei der adäquaten Erregung gerade
dieser Struktur ins Dasein treten kann. Und eben diese zu weit gehende
SpezialZuweisung der Funktionen an die Strukturen nimmt die MüUe'-sche
Lehre von den spezifischen Sinnesenergien irrtümlich an. Sie erklärt es
wenigstens hinsichtlich der Sinnesmodalitäten für gänzlich ausgeschlossen,
dass durch die Erregung desselben Nervenelements, derselben Nervenfaser
jemals verschiedene Modalitäten ins Bewusstsein treten können. Nach
Müllers Lehre, wenigstens in ihrer eigentlichen Form, eignet dem einzelnen
bestimmten Nervenelement nur ein einfaches Können, kein mehrfaches
Können.
Diese Lehre nun, selbst wenn sie sich für die Funktionsweise des
menschlichen Nervensystems aufrecht erhalten Hesse, scheitert unbedingt
an den Tatsachen, welche die vergleichende Psychologie, oder genau gesagt,
die vergleichende Psychophysik bei den Tieren ausser Zweifel gestellt
hat. Es mnss genügen, aus der Fülle der Tatsachen, welche hierfür
zum Beleg gegeben werden könnten, und deren Gesamtanführung fast schon
Der Anpassungscharakter Her spezifischen Sinnesenergien. 53
einen kurzen Abriss der Tierpsychologie bedeuten würde, einige besonders
typische und zweckdienUche Beispiele herauszugreifen:
Auf Grund der Funktionen, nicht etwa nur der Struktur, müssen wir
bei zahlreichen Tieren neben den spezifischen Sinnesenergien auch
„Wechselsinnesorgane" und geradezu ,, Universalsinnesorgane"
annehmen, die also nicht etwa nur für eine bestimmte Klasse der inadä-
quaten Reize, sondern für mehrere oder gar für alle Reizklassen empfind-
lich sind. Solche Uebergangs-Sinnesorgane hat bereits im Jahre 1875 der
Anthropologe Johannes Ranke, gewiss kein Freund voreiliger Ent-
wicklungshypothesen, angenommen^). Neuere und umfassende Belege sind
namentlich von Willibald A. Nagel in seinen ,, Vergleichenden physio-
logischen und anatomischen Untersuchungen über den Geruchsinn und
Geschmacksinn und ihre Organe" (Stuttgart 1894) erbracht worden.
Als Beispiel seien die Hautsinnesorgane in den Fühlern und sonstigen
empfindlichen Teilen der Weinbergschnecke angeführt, für die es
J. Meisenh e im e rs Monographie neuerdings bestätigt^). Das Auf-
treten von spezifischen Sinnesenergien im eigentlichen Sinne erweist
sich bei solchen vergleichenden Untersuchungen als parallelgehend zum
Beginn der Ausbildung eines Zentralnervensystems, also etwa mit den
Hydroidpolypen einsetzend, eine Tatsache, die sicherlich auch nicht der
allgemeineren psychologischen Bedeutung entbehrt. Wo noch gar kein
Nervensystem ausgebildet ist, mangeln auch alle eigentlichen spezifischen
Organe, also vor allem bei den Protozoen. Wohl aber weisen bereits diese
primitivsten aller Lebewesen eine geradezu universelle Reizbarkeit auf
durch mechanische, chemische, thermische, elektrische und in einem be-
schränkten Sinne auch photische Reize. Und da sie keineswegs jedes
Lernens aus ihren sinnlichen Erfahrungen entbehren, scheint bereits bei
ihnen der Analogieschluss auf irgend welches primitivste Art begleitenden
Bewusstseins hinreichend fundiert zu sein. Jedenfalls ist so viel Tatsache,
dass, wie Max Verworn es einmal ausdrückt, sämtliche Reizarten, die bei
höheren Tieren und Menschen Wirkungen auslösen, dies auch bei den Ur-
tieren tun, sodass also ihr einzelliger Leib gewissermassen zugleich ein
Universal-Sinnesorgan im umfassendsten Sinne darstellt.
Es fehlt aber auch bei diesen ursprünglichsten Lebewesen keineswegs
mehr ganz an Ansätzen zur Ausbildung zunächst noch qualitativ unbe-
stimmter, nur durch einen höheren Empfindlichkeitsgrad ausgezeichneter,
primitivster Sinnesorgane. Der erste Entwicklungsschritt wird also, was
wegen der theoretischen Tragweite hervorgehoben sei, nicht durch quali-
1) In der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie Bd. 25 S. 143 ff. : „Bei-
träge zur Lehre von den Uebergangs-Sinnesorganen. Das Gehörorgan der Acridier
und das Sehorgan der Hirudineen".
■') Leipzig 1912, S. 39 ff.
54 Max Ettlinger.
tative Auslese, sondern durch örtliche Auslese, durch beginnende Lokali-
sierung reizbarster Stellen vollzogen. H. S. Jennings, heute wohl die
bedeutendste Autorität für das Verhalten der niedersten Organismen, sagt
hierüber: „Bei einzelligen Organismen ohne Nervensystem können bestimmte
Teile des Körpers empfindlicher sein, als die übrigen, und so eine den
Sinnesorganen beim höheren Tier vergleichbare Stelle bilden. Ob eine
solche Stelle für eine Reizform empfindlicher und zugleich für andere un-
empfindlich werden kann, wie bei höheren Organismen, scheint nicht fest-
gestellt zu sein ')". Bezeichend ist ferner für diese primitivsten Sinnes-
organe der Einzelligen, als welche man z. B. die Wimperhärchen (Cilien
der darnach sogenannten Ciliaten) ansprechen kann, dass sie zugleich noch
andern physiologischen Funktionen, vor allem als Bewegungs- und Sekretions-
Organe dienen.
Bei den mehrzeUigen Tieren begegnen wir sehr bald Sinnesorganen,
deren besondere Empfindlickeit für einzelne Reizklassen ausser Frage steht.
Aber diese ihre Empfindlichkeit beschränkt sich noch lange nicht auf eine
einzige, bestimmte Reizklasse; ihre spezifische Qualität ist also mindestens
eine mehrfache und darum eben dem MüUerschen Begriffe widersprechend.
Nagel z. B. unterscheidet bei den Metazoen, also bei den vielzelligen
Tieren, ausdrücklich „Universal-Sinnesorgane" und „Wechsel-Sinnesorgane".
Als Universal-Sinnesorgane bezeichnet er diejenigen , mittels deren ein
Lebewesen sämtliche Gattungen von Reizen wahrnimmt, die für das Tier
überhaupt normaler Weise wahrnehmbar sind. „Es gibt Wesen", so schreibt
er zusammenfassend, ,. welche, mit einerlei Sinnesorganen ausgestattet,
gleichwohl verschiedene Sinne besitzen, bei denen eine gewisse Unter-
scheidungsfähigkeit für mehrere Reizarten zweifellos vorhanden ist, wenn
man auch annehmen muss, dass Zahl und Verschiedenheit der einzelnen
Erapfindungsqualitäten bei diesen Tieren geringer ist, als bei solchen mit
spezifischen Sinnesorganen". Neben den Universal-Sinnesorganen nimmt
dann Nagel noch eine besondere Klasse der Wechsel-Sinnesorgane an, die
immerhin noch der Wahrnehmung mehrerer Reizklassen, z. B. der che-
mischen und thermischen, gleichzeitig oder wechselweise als Organe dienen.
R. Hesse und F. Doflein in ihrem weit über populäre Orientierung
hinaus fördernden Werke „Tierbau und Tierleben" 2) bezeichnen solche
vielseitig leistungsfähigen Organe noch zutreffender als „anelektive Sinnes-
organe", bei denen also die beschränkende Auslese auf eine einzige Funktion
noch nicht vollendet ist. Solche Organe sitzen z. B. an den Stielzangen
(Pedicellarien) der Seeigel, wo sie nach UexküU^) auf mechanische bezw.
chemische Reize hin verschieden abgestufte Reaktionen einleiten.
*) Das Verhalten der niederen Organismen. Deutsch. Leipzig und Berhn
1910, S. 409.
') Bd. I, Leipzig und Berlin 1910.
') Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909, S. 112.
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 55
Fast noch beweiskräftiger für unsere Auffassung als das Dasein viel-
klassiger Reizrezeptoren ist eine zweite Tatsachenklasse, bei der jede
anderweitige InterpretationsmögUchkeit gänzhch fehU, nämUch der allent-
halben bei niederen Tieren nachweisbare Tatbestand, dass die Lokalisierung
der spezifischen Reizbarkeit auf deren schon eigens angepasste Organe noch
keineswegs eine vollkommene ist. Zu den bekanntesten Beispielen solcher
unvollkommenen Lokalisierung gehört die bleibende Lichtreizbarkeit
solcher Tiere, bei denen bereits ziemhch hohe Augenformen ausgebildet
sind, auch dann noch, wenn man diese Augen entfernt. Schon Vitus
Grab er') sprach deshalb von einem photodermatischen Sinn, neuere nennen
ihn zutreffender ,,photoskioptisch", weil es sich gesichertermassen nicht um
eine Farbenunterscheidung, sondern um ein Reagieren auf Helligkeitsunter-
schiede handelt, bei denen übrigens das Mitwirken beträchtlicher Wärme-
differenzen durch geeignete Versuchsanordnung ausgeschlossen werden kann.
Genannt sei von neueren Belegen nur F o r e 1 s Nachweis der Lichtreaktion
bei Ameisen mit überfirnissten Augen '^), oder Hadleys Nachweis der Licht-
reaktion bei geblendeten Hummern^), und als besonders drastisches Bei-
spiel bei Loebs und Parkers geköpften Planarien*) oder Eyclshymers
geköpften Olmen^). Als verwandtes Beispiel sei die Hautempfindlichkeit
vieler Haie für starke Geschmacksreize, z. B. für Vanilin oder Chinin, ausser-
halb des Maules angeführt, wie sie bereits Nagel betont und neuerdings
Sheldon beim 'Hai 6), Parker beim Zwergwels'') ermittelt haben.
Eine dritte beweiskräftige Klasse von Tatsachen, die freilich schon
etwas mehr auch auf theoretischen Boden führt — aber man darf sagen auf
bereits recht festen Boden — , bildet der sogenannte phylogenetische
*) Fundamentalversuche über die Helligkeits- und Farbenempfindlichkeit
augenloser und geblendeter Tiere, in den Wiener Akademie-Berichten. Math.-
naturw. Klasse, Bd. 87 (1883).
'*) Vgl. A. F 0 r e 1 , Das Sinnesleben der Insekten, München 1910, S. 48 ft.
und 242.
') Vgl. Fh. B. Hadley, The reaction of blinded Lobsters to light, im
American Journal of Physiology, 21 (1908) 180 ff'.
*) Vgl. J. Ijoeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und
vergleichende Psychologie, Leipzig 1899; G. H. Parker und F. L. Burnetl
im American Journal of Physiology, 4 (1901) 373 ff.
5) Vgl. A. G. Eyclshymer, The reactions to light of the decapited young
Necturus, im Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18 (1908)
303 ff. Zahlreiche weitere Beispiele vgl. bei M. F. Washburn, The animal
mind, New-York 1908, im Kapitel VII : The Vision zerstreut, ebenso bei S. 0. Mast,
Light and the Behavior of Organisms, New-York 1911.
") Vgl. P. E. Sheldon, The reactions of the Dogfish to cheraic»! stimuh,
im Journal of Comparative Neurology and Psychology, 19 (1909) 237 S.
') Vgl. G. H. Parker, On the Stimulation of the Integumentary Nerves
of Fishes by Light, im American Journal of Physiology, 14 (1905) 413 IL
56 Max Ettlinger.
Funktionswechsel der Sinnesorgane. So lassen sich z. B. nach Nagel bei
den Hautsinnesorganen nahverwandter Insektenfamilien durchaus homologe
Nervenendigungsapparate nachweisen, deren Strukturunterschiede aber doch
schon die Anpassung an verschiedene Funktionen bekunden. „Ja selbst
innerhalb einer Art und selbst auf den symmetrisch gelagerten Punkten
eines Tieres ist ähnliches möglich". Meistens handelt es sich dabei um
Differenzierung zwischen Tastsinn auf der einen und chemischem Sinn,
also Geruch oder Geschmack, auf der anderen Seite. Auch bei nabver-
wandten Mollusken sind an verschiedenen geeigneten Körper.stellen die Haut-
sinnesorgane offenbar zu spezifischen Geschmacks- oder Geruchsorganen
entwickelt worden. Ein Beispiel gibt etwa E. Radi in seinen „Unter-
suchungen über den Gehörsinn der Insekten" im „Biologischen Zentral-
blatt", Band 25 (1905). Er fasst die von Graber als Gehörsorgane ange-
sprochenen Organe als eine Art Uebergangsorgane vom Tastsinn zum Gehör-
sinn auf. Die Herkunft des Gehörorgans aus einem in der sogenannten
statolithen Form ausgebildeten Erschütterungsorgan bei niederen Lebewesen,
das man bezeichnenderweise auch Seismographenorgan genannt hat, kann
hier in ihren wahrscheinlichen Einzelheiten nicht geschildert werden. Man
möge das etwa bei Arnold Lang in seiner Studie: „Ob die Wassertiere
hören" (1902) nachlesen. Dass aber auch bei uns Menschen noch Spuren
dieses üebergangs von Erschütterungswahrnehmungen zu Hörwahrnehmungen
vorhanden sind, wurde bereits erwähnt. Auch bei Tieren lassen sich ähn-
liche üebergangserscheinungen feststellen. So scheint z. B. schon bei
Tieren, die nur über Otozysten, aber über keine Schnecke verfügen,
eine Unterscheidung der Tonhöhe nachweislich zu sein. Dafür spricht
nicht nur die genau abgestufte Länge der sogenannten Hörhaare, sondern
auch das experimentelle Ergebnis, zu dem schon Victor Hensen 1863
gelangt ist, als er seinem Versuchskrebs einzelne Klapphorntöne zum besten
gab, wobei die Hörhaare je nach ihrer Länge auf bestimmte Töne durch
Schwingungen ihrer Basalteile reagierten. Weitaus besser vorstellbar sind
uns, wenn auch nicht die Uebergänge zwischen zwei verschiedenen Sinnes-
modalitäten, so doch zwischen den verschiedenen Qualitäten einer und der-
selben Sinnesmodalität, die sich aber auch als verschiedenartige Ent-
wicklungsstufe derselben darstellen, und zwar erschliesst sich uns diese«
Beispiel gerade bei unserem höchstentwickelten Sinne, dem Gesichtssinn.
Hier sind wir nicht auf blosse Analogien und wissenschaftliche Ahnungen
angewiesen, sondern wir können den Unterschied zwischen Farbensehen
und blossem Hell-Dunkel-Sehen unmittelbar im allmählichen Uebergang er-
leben. Wir alle werden bekannthch unter bestimmten Umständen farben-
blind und sinken damit in dieser Hinsicht auf eine Leistungsstufe des
Gesichtssinnes herab, die bei den Tieren bis recht hoch hinauf, nämlich
bis in den Bereich der Wirbeltiere hinein, verbreiteter ist, als man früher
glaubte. Viele Tiere, denen man nach oberflächlichen Beobachtungen einen
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 57
ausgebildeten Farbensinn zusprach, unterscheiden nach den Ergebnissen
sorgfältiger Experimente nur Helligkeilsstufen. Ihr ganzes Auge leidet
also an dem gleichen Mangel, der bei uns nur noch dem äussersten Netz-
hautumkreis anhaftet, wie sich bei ausschliesslich seitlichem, indirektem
Sehen leicht prüfen lässt. Auch für andere tierpsychologische Feststellungen
primitiver Sehleistungen verfügen wir über ganz entsprechende eigene Er-
fahrungen. Wenn z. B. für das Eulenauge, wie schon Abelsdorff feststellte,
oder für das Auge der Tanzmaus nach Yerkes' schönen Untersuchungen,
der blaue Teil des Spektrums einen verhältnismässig grösseren, der rote
einen geringeren Reizwert hat, als normalerweise beim Menschen, so
erinnert das unmittelbar an die Verhältnisse, die auch das menschliche
Auge beim Dämmerungssehen und im Zustande der Dunkeladaptation auf-
weist, vor allem an das Purkinjesche Phänomen. Charcots Angabe, dass
bei tabischer Optikus-Atrophie die Farbenunterscheidung vor allen übrigen
Gesichtsqualitäten verloren geht, kann vielleicht auch als ein Hinweis auf
ihren späten Erwerb gedeutet werden ').
Als vierte Tatsachengruppe, die sich ebenfalls mit dem Müllerschen
Prinzip in seiner alten Fassung nicht in Einklang bringen lässt, sei des
Funktionswechsels bestimmt lokalisierter Organe im Verlauf der
individuellen Entwicklung gedacht, für die man darum die Be-
zeichnung als Wechselsinnesorgane am passendsten reserviert hätte. Die
deuthchsten Beispiele hierfür bieten sich beim Uebergang von Amphibien
aus dem Wasser- zum Landleben. Hier werden nämlich, worauf F. Leydig
bereits 1857 hinwies, die nur im Wasserleben brauchbaren, vermutlich
für die Wasserströmungen empfindlichen Organe der Seitenlinie teils
für die Zeit des Luftlebens durch überwuchernde Verhornung geschützt,
teils gehen sie bei der Metamorphose ganz verloren und werden durch
Tastflecke ersetzt. Man darf das in Parallele setzen zu der Umbildung der
Zungenftapillen des menschlichen Säuglings, wenn er von flüssiger Nahrung
zu fester übergeht. An Stelle der langen Fadenform tritt dann durch Ab-
stossungen und Verhärtungen die Keulenform. Aehnliche Beispiele bieten
die Sinnesorgane und speziell Ocellen der Insektenlarven mit vollkommener
Metamorphose.
Eine fünfte Instanz für die Anpassungstheorie, bei der uns der Ent-
wicklungszusammenhang verschiedenklassiger Sinnesorgane unmittelbar vor
Augen tritt, ergibt sich aus einigen Erfahrungen bei Regenerations-
experimenten. So gelangten z. B. Gurt Herbst^) und T. H. Morgan 3)
*) Erinnert sei auch an die schon bei Romanes und Frey er auftretende
Hypothese, dass sich der Farbensmn aus dem Temperatursinn entwickelt habe
*) Bei Herbst, Ueber die Regeneration von anlennenähnlichen Organen
an Stelle von Augen, im Archiv für Entwicklungsmechanik, II (1896) 544 .ft.,
9 (1899) 215 ff.
•) Vgl. T. H. Morgan, Regeneration and liability to injury, im Zoological
Bulletin 1^1898) 287 ff.
58 Max E 1 1 1 i n g e r.
unabhängig von einander zu der Feststellung, dass bei verschiedenen höheren
Krebsarten, wenn man ihnen Auge samt Augenganglion herausnahm, an
Stelle dessen föhlerähnliche Organe, Antennen, also eine wesentlich nie-
drigere Form nachgebildet wurde. Bei anderen solchen „heteromorphen
Regenerationen" ist die atavistische Deutung noch weniger zu bestreiten.
Eine letzte verwandte Instanz ergibt sich aus dem vikariierenden
Hervortreten niederer Sinnesorgane, wenn die Funktion höherer
während vieler Generationen ganz oder teilweise unterbunden worden ist. So
stellte z.B. Gustav Alexander') am Maulwurf, bei dem die Funktion der
Augen bekanntlich sehr beschränkt ist, eine aussergewöhnliche Entwicklung
des statischen Organs fest, speziell das Vorhandensein der bei anderen höheren
Säugetieren fehlenden Macula neglecta. Ein ganz analoger Fall begegnet,
worauf ich durch P. Erich Wasmanns gütigen Hinweis aufmerksam
wurde ^), in einem ganz anderen Bezirk des Tierreichs, nämlich bei unter-
irdisch lebenden Ameisen aus der Unterfamilie der Dorylinen, speziell der
Art Eciton. Hier sind an Stelle der gänzlich verlorenen Netzaugen mehr
oder minder entwickelte Ocellen gänzlich neugebildet worden, deren höhere
Formen sogar die Färbungsunterschiede ihrer Ameisengäste wahrzunehmen
vermögen ').
Gerade dieses phylogenetische Hervortreten von Ersatzorganen verdeut-
licht uns in besonders anschaulicher Weise die ursprüngliche Einheit und
den niemals ganz aufgehobenen Zusammenhang aller spezifischen Sinnes-
energien, hinsichtlich dessen man viel eher unmittelbar auf die vitaiistische
Grundvorstellung des organischen Lebens sich stützen darf*), als hinsicht-
lich der Unveränderlichkeit und Grundverschiedenheit der spezifischen
Sinnesenergien.
Auch einem Johannes Müller konnten übrigens trotz seines Festhaltens
an der Konstanztheorie die stammesgeschichtlichen Anpassungsvorgänge bei
den Sinnesorganen vieler Tiere nicht entgehen. Nur hat er sich leider auf
die Beobachtung der negativen Anpassungsvorgänge, der Rückbildungen bei
Funktionsverlust, beschränkt, die ja namentlich bei den schmarotzenden
») Vgl. G. Alexander in der Zeilschrift für Psycholog;ie Bd. 38 (1905)
24 ff.
^1 P. Wasmann gab diese Ergänzung, als ich den ersten Teil dieser
Arbeit auszugsweise in einer Sektionssitzung der Gorresgesellschaft zu Freiburg
im Oktober 1912 vortrug. Kine kürzere Zusammenfassung gab ich bereits auf
dem Berliner Kongress für experimentelle Psychologie, im April 1912 (vgl.
Kongressbericht) und in extenso eine früheste Fassung in der Wiener Gesell-
schaft für Psychologie im November 1911.
•') Vgl. Erich Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen',
Stuttgart 1909, 52 ff.
*) Vgl. die entsprechende theoretische Verwertung der Herbstschen Ver-
suche bei Gustav Wolff, Zur Psychologie des Erkennen«. Leipaig 1897.
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 59
Tieren ganz augenfäüig sind. In seiner zweiten Mitteilung über die Sinnes-
organe der Myxiniden (einer Familie der Rundmäuler) hebt er irn Jahre
1836 hervor, wie diese im Innern von Fischen schmarotzenden Tiere ihre
Augen rückgebildet haben, und stellt Betrachtungen darüber an, wie hier
durch die Beschränkung der Aussenwelt auch die Natur des Sinnesorgans
beschränkt wird, was ganz entsprechend dem umgekehrten Falle sei, wenn
Menschen durch den Verlust eines Sinnesorganes eines Teils der Aussenwelt
verlustig gehen. Schade nur, dass Müller diesem umgekehrten Falle fehl-
sinniger Menschen nicht noch weiter nachgegangen ist; denn gerade sie
hätten ihn darauf hinweisen können, dass dem Verlust auch ein gewisser
Gewinn entsprechen kann, da die dem fehlsinnigen Menschen verbliebenen
Sinnesmodalitäten häufig eine erhebUche ontogenetische Verfeinerung zu
erfahren pflegen. Besonders bekannt ist die ausserordentliche Verfeinerung
des Tastsinnes und des Geruches bei Blinden oder gar Taubstummblinden.
Helen Keller z. B. vermag alle ihr bekannten erwachsenen Personen am
mdividuellen Geruch zu unterscheiden: ebenso die einzelnen Lebensalter
unbekannter Personen : auch von einem halben Dutzend Rosen vermag sie
eine jede am Geruch wieder zu erkennen und ähnl. mehr, sodass sich
W. Lubosch*) auf Grund dieser Angaben sogar zu der Annahme veran-
lasst findet, es müsse hier im Gehirn ein Ueberspringen des Reizes auf
alle anderen zentralen Sinnessphären stattfinden, vor allem auf die ausser
Funktion gesetzten Gesichts- und Gehörssphären, eine Annahme, die nur
unter der Voraussetzung diskutabel wäre, dass an Stelle der MüUerschen
Spezifitätslehre eine Anpassungstheorie im Sinne Wundts gesetzt wird.
Aber auch wenn man von diesen sehr hypothetischen zentralen Ersatz-
bildungen absieht, muss auf Grund der ausserordentlichen Funktionsver-
feinerung eine Abstufung der peripherischen Erregungsvorgänge im Geruchs-
organ angenommen werden, wie sie sonst bei diesen niederen Sinnen nur
im Tierreich ihre völligen Analogien hat. Wären von vornherein mit den
Sinnesmodalitäten auch die QuaUtäten des Geruchssinnes in unabänderhcher
Weise auf eine bestimmte Anzahl spezifischer Energien beschränkt, so
bliebe die ontogenetische Fortbildung zu solcher Feinheit unbegreiflich.
Mit diesen kurzen und lückenhaften Andeutungen seien die Tatsachen-
gruppen beschlossen, welche ein Festhalten an der MüUerschen Lehre in
ihrer ursprüngUchen Form auszuschHessen scheinen und ihren Ersatz durch
eine phylogenetische Anpassungstheorie erforderlich machen. Wenn wir
nun zu einem ebenso skizzenhaften Entwurf von Richtlinien einer
solchen Anpassungstheorie übergehen, so finden wir in den bisherigen
theoretischen Kontroversen, von denen ausser Lotze, Hering und Wundt,
namentlich noch die Zusammenfassungen von Weinmann und As her
*) Vgl. W. L u b 0 s ch, Vergleichende Anatomie der Sinnesorgane der Wirbel-
tiere (Aus Natur und Geiitesweh Nr. 282, Leipzig 1910, S. 29).
60 Max Ettlinger.
hervorgehoben seien '), vorwiegend eine Frage ausgiebig behandelt, die uns
eigentlich für das psychologische Problem von minderem Belang erscheinen
will, nämlich die Frage nach dem Sitz der spezifischen Sinnes-
energien, seien sie nun ursprünglich und unveränderlich gegeben, oder
durch Anpassung erworben. Ein kurzes Eingehen erscheint aber doch un-
erlässHch, weil Wundt gerade aut diesen Punkt besonderes Gewicht legt.
.Johannes Müller ist noch in seinem „Handbuch der Physiologie" (1840)
darüber im Zweifel, ob der Sitz der spezifischen Sinnesenergien in den
zuleitenden Nerven oder im Gehirn und Rückenmark zu suchen sei. Sicher
erscheint ihm nur das eine, dass die Zentralorgane auch unabhängig von
den Nervenleitern der bestimmten Sinnesempfindung fähig sind. Später
war man vielfach geneigt, die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien
mit der Abgrenzung der einzelnen Sinnessphären auf der Grosshirnrinde in
engsten Zusammenhang zu bringen und damit geradezu zu identifizieren.
Hermann Munk sieht in der Lokalisationstheorie den ersten faktischen
Nachweis der Müllerschen Lehre und sucht bekanntlich die Lokalisation
noch erheblich weiter ins einzelne auszubauen, hierbei noch vielen Ein-
wendungen ausgesetzt. Wenn Munck z. B. eine Projektion der Retina in
der Sehsphäre als Repräsentation der einzelnen Netzhautabschnitte durch
bestimmte Teile der Sehsphäre annimmt, so liegt es doch viel näher, wie
Monakow einwendet, diese Beziehungen mit den entsprechend abge-
.stuften Augenbewegungen als mit den einzelnen Sinneswahrnehmungen in
direkten Zusammenhang zu bringen. Die phylogenetische Lokalzeichen-
theorie, wie ich sie in den „Münchner philosophischen Abhandlungen" zu
entwickeln suchte, kann diesen Einwand nur bestärken ^j. Vor allem aber
stehen, abgesehen von solchen theoretischen Einwendungen, einer so de-
taillierten Lokalisation bestimmte Erfahrungen im Wege, nach welchen die
einzelnen Beziehungen zwischen Peripherie- und Zentralorganen überhaupt
nicht als dermassen fest und unveränderlich gelten können. Es gilt gerade
hier das Prinzip ganz zweifellos, aus welchem Wundt zum Widerspruch
auch gegen die allgemeine Lokalisationstheorie in ihrer üblichen, man darf
sagen, dogmatischen Form gelangt ist. Dieses von Wundt stark betonte
und mit der Anpassungstheorie in engen Zusammenhang gebrachte Prinzip
ist das des zentralen Funktionswechsels und der Stellvertretung, oder tatsäch-
licher bezeichnet, es sind die von Armin von Tscher mak in Nagels
Handbuch (Band IV, 1909. Seite 87 fl'.) zusammengefassten Restitutions-
und Kompensationserscheinungen nach umschriebenen und ausgedehnteren
Gehirnverletzungen. Mag man nun auch den experimentellen Nachweis
solcher vikariierenden Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen des Zentral-
') Vgl. Leon A s h e r , Das Gesetz der spezihschen Sinnesenergien und
seine Beziehung zur Entwicklungslehre in der Zeilschrift für Sinnesphysiologie,
41 fl906) 157 fl.
') Vgl. a. a. 0. S. 98 u. ü.
Der Anpassiingscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 61
Organs noch nicht als gegen jeden Zweifel gesichert ansehen, gewisse Zu-
geständnisse machen doch auch die extremsten Lokalisten schon dadurch,
dass sie zwischen absoluten und relativen Rindenfeldern unterscheiden,
dass sie ferner, je tiefer man in der Tierreihe herabsteigt, um so mehr
eine Ersatzmöglichkeit durch die subcortikalen Zentren zugestehen, und
das? sie schhesslich auch eine teilweise ontogenetische Vervollkommnung
und feinere Ausbildung der Lokalisationsbeziehungen anerkennen ; denn
damit die spezifische Gehirnsphäre überhaupt die entsprechenden Em-
pfindungsmodalitäten anklingen lassen kann, ist es in jedem Fall nötig,
dass das zugehörige Organ schon einige Zeit funktioniert hat. Wie könnten
sonst bei Blind- oder Taubgeborenen die betreffenden Empfindungsmodali-
täten ganz ausfallen, obgleich die zentralen Leitungen bei ihnen ursprüng-
lich intakt sein können ! Wie könnten sonst bei frühzeitigem und dauerndem
Ausfall der peripherischen Funktion die in nächster Beziehung dazu
stehenden Partien des Zentralorgans verkümmern ! So erscheint es schon
aus den Beobachtungen am Menschen und an höheren Tieren ganz un-
möglich, die spezifischen Sinnesenergien allein auf der Gehirnlokalisation
beruhen zu lassen und sie nicht auch mit der funktionellen und struktu-
rellen Verschiedenheit der äusseren Sinnesorgane, über die wir viel besseren
Bescheid wissen, in engsten Zusammenhang zu bringen. Erst recht aber
wird diese einseitige Zurückführung auf die zentrale Lokalisation unmög-
lich angesichts der Verhältnisse bei den niederen Tieren, bei denen wir ja
schon vor der Ausbildung eines nervösen Zentralorgans, z. B. schon bei
den sogenannten Reflexrepubliken, wie Uexküll deshalb seine Seeigel
nennt, und noch weiter in der Reihe herab, spezifische Sinnesorgane und
spezifische Empfindungsmodalitäten zu konstatieren haben. Bei den Rippen-
quallen z. B. finden wir den sogenannten Sinneskörper, ein statisches Organ,
selbst noch ohne besondere nervöse Leitungsbahnen, nur durch die Er-
regungsfortpflanzung von Zelle zu Zelle in der Flimmerrinne funktions-
fähig, und wenn wir schliesslich selbst bei den Protozoen schon den be-
scheidensten Anfängen spezifischer Sinnesorganisation begegnen, so begreift
sich gegenüber allen extremen Lokalisationsthcorien die Mahnung des
Protozoen-Forschers J e n n i n g s :
„Es ist zweifelhaft, ob das Nervensystem überhaupt als der aus-
schliessliche Sitz von irgend etwas angesehen werden darf; seine
Eigenschaften sind nur Steigerungen der aUgemeinen Eigenschaft des
Protoplasmas".
Jedenfalls wäre das Problem der spezifischen Sinnesenergien auf keinen
Fall damit einer wirklichen Lösung wesentlich nähergebracht, dass man
irgend einen Sitz der Energien nachweisen würde, mag er nun in der Peri-
pherie, dem Zentrum, in den Leitungsbahnen oder allenthalben liegen,
sondern das Grundproblem bliebe dann immer noch das gleiche: wie näm-
62 Max Ettlinger.
lieh die Sinnesenergien zu diesem Sitz gekommen seien;
anders und besser ausgedrückt, wie sich die Festigung der spezifischen
Funktionen, die offenbar in der Organismenreihe eine fortschreitende ist,
von Stufe zu Stufe vollzogen hat.
Diese Frage nun kann unmöglich einer Lösung näher gebracht werden,
wenn man nicht aus den Ergebnissen der Tierpsychologie im engeren und
eigentlichen Sinne, also aus der Lehre von den Bewusstseinsvorgängen bei
den Tieren, zu lernen sucht, was in dieser Beziehung nur irgend in Er-
fahrung gebracht oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erschlossen
werden kann. So wenig jemals die Lehre von den spezifischen Gehirn-
lokalisationen überhaupt hätte erdacht und ausgebildet werden können,
wenn wir nicht aus unmittelbarer Selbstbeobachtung über die verschiedenen
Modalitäten der Sinnesempfindung Bescheid wüssten, ebensowenig ist der
Entwurf einer psychophysischen Entwicklungsreihe auch nur in den rohesten
umrissen möglich, wenn wir nicht die Ireihch nur indirekt erschliessbaren
Bewusstseinszustände und Bewusstseinsdifferenzen der einzelnen Tier-
arten nach bester Möglichkeit als Aufschlussmittel verwerten.
Dass wir dabei auf Analogieschlüsse angewiesen sind, ist selbstverständ-
lich und kein gar so grosses Unglück, als es von manchen Skeptikern
gegen alle Tierpsychologie dargestellt wird. Auf den gleichen Analogie-
schluss sind wir ja auch im Grunde bei allen Bewusstseinsvorgängen jedes
Nebenmenschen angewiesen, ohne uns hierdurch den Aufbau einer ver-
gleichenden, differenziellen und schliesslich genetischen Psychologie irgend
verwehren und versperren zu lassen. Und in der Tierpsychologie haben
wir sogar noch den Vorteil, es sicherlich stets mit einfacheren Bewusstseins-
zuständen zu tun zu haben, auf die wir eher von uns aus Rückschlüsse
machen dürfen, als wenn wir es mit höheren Daseinsformen zu tun hätten.
Wir müssen uns nur stets ganz besonders derjenigen Erfahrungen und
Beobachtungen erinnern, die wir gerade mit herabgesetzten und einfacheren
Bewüsstseinszuständen auch bei Menschen zu machen in der Lage sind,
und müssen uns, da es sich um Beobachtungen des Sinneslebens handelt,
ganz vornehmlich jener Unterschiede der Ausbildungsstufen erinnern, die
auch bei unseren menschlichen Sinnesmodahtäten gegeben sind und von
jeher zur Unterscheidung niederer und höherer Sinne Anlass
gegeben haben, einer Unterscheidung, die gerade durch Beiziehung der tier-
p.sychologischen Erkenntnisse hinwiederum einen viel besseren und klareren
Sinn bewirkt.
Wenn wir einmal ganz allgemein unsere sogenannten niederen Sinne,
also die Modalitäten des Hautsinnes, ferner Geruch und Geschmack, mit
den höheren Sinnen, nämlich Gesicht und Gehör, vergleichen, so fällt vor
allem zweierlei in die Augen :
L dass die höheren Sinne unvergleichlich reicher an Qualitätsunter-
schieden und Kombinationsmöglichkeiten sind.
-M
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 63
2. dass die niederen Sinne in viel engerer und mittelbarer Beziehung
stehen zu dem, was man am besten als sinnliche Gefühle zu be-
zeichnen pflegt : zu Schmerz und Wollust.
Bei Geschmacks- oder Temperaturempfindung z. B. treten gewöhnHch
die genaueren Qualitäten weitaus zurück hinter den sogenannten Gefühls-
betonungen. Wir unterscheiden die verschiedenen Geschmacks- und Geruchs-
nuancen vorwiegend als angenehm oder unangenehm und haben dafür nicht
eigene sprachliche Bezeichnungen, wie für die verschiedenen Töne oder die
verschiedenen Farben. Am allermeisten treten die sogenannten Gefnhls-
betonungen vielleicht hervor beim statischen Sinn, bei dem die Bewusstseins-
qualitäten am allerwenigsten ausgebildet sind, und dessen wir überhaupt
nur durch den Beitrag gewahr werden, den er dem sogenannten Gemein-
gefühl des Gesamtkörpers zubringt. Eine gesonderte Empfindungsqualität
eignet ihm eigentlich nur bei intensiven Störungen, in der Empfindung
des Schwindligwerdens, und auch hier bei vorwiegender unlustvoller
Gefühlsbetonung.
Auch bei den höheren Sinnen ist es, wie schon früher erwähnt, mög-
lich, sie bis zu jener Grenze zu bringen, wo die besonderen Qualitäten
ganz zurücktreten und schliesslich in der Schmerzempfindung verschwinden.
Wenn es also nach Aussage unseres Bewusstseins nicht möglich ist,
die einzelnen Sinnesmodalitäten und -qualitäten in unmerklichen Ueber-
gängen ineinander überzuführen, so kann doch jede von ihnen mehr oder
minder zurücktreten, und sie alle haben das Schicksal gemeinsam, sich in
einer eigenen, nicht mehr spezifisch bestimmten Modalität der Schmerz-
und Wollustdimension auflösen zu können.
Diesem unmittelbaren Befund der Bewusstseinsanalyse entspricht nun
in grossen Zügen das, was uns alle funktionellen und strukturellen
Analogieschlüsse über das bewusste Sinnesleben der Tiere wahrschein-
Uch machen. Bei den höchsten Wirbeltieren ist es durchaus wahrscheinlich,
dass sie alle Empfindungsqualitäten mit uns teilen, auch die der höheren
Sinne. Bei ihnen ist der Farbensinn gegen jeden Zweifel sichergestellt und
ebenso die Unterscheidungsfähigkeit der Tonhöhe. Georg Fr. Nicolai hat
ja mittels der Pawlowschen Speichelreflexmethode bei Hunden sogar ein
absolutes' Gehör nachgewiesen \). Allerdings ist auch bei den höheren Tieren
schon das eine auffällig, dass ihre höheren Sinne erst viel später funktions-
fähig werden als die niederen. Und bei pathologisch reduzierten Verhältnissen,
wie den grosshirnlosen Hunden von Goltz oder Sherrington, bleibt nur
noch die Reaktion auf die niederen Klassen der Sinnesreize unzweifelhaft ;
wo das Tier auf Töne zu reagieren scheint, ist die Reaktion auf blossen
Vibrationsreiz nicht ausgeschlossen. Wenn wir in der Tierreihe weiter
*) Vgl. G. F. Nicolai, Die physiologische Methodik zur Erforschung der
Tierpsyche usw., im Journal für Psychologie und Neurologie X (1907'>.
Ct\ Max Ettlinger.
herabsteigen, finden wir gerade die höheren Sinne verhältnismässig bald
auf einfachere Dimensionen reduziert. Der Gesichtssinn reduziert sich schon
bei vielen Wirbeltieren und fast bei allen Wirbellosen auf Hell-Dunkel- und
auf Umrissunterscheidung.
Bei den niederen Tieren schwindet auch bald, rein strukturell be-
trachtet, die komplizierte Zusammensetzung des Gehörs- und Gesichtsorgans,
und selbst da, wo das Auge aussergewöhnlich hoch ausgebildet ist, wie bei
gewissen Tintenfischen, stammt die Retina doch nicht, wie bei Wirbel-
tieren, aus einer Ausbuchtung der Gehirnrinde. Das Auge der W^irbellosen
kann vielmehr ausnahmslos aus dem Hautsinn allein abgeleitet werden.
Beim Auge und Ohr der Wirbeltiere dagegen handelt es sich um ein Zu-
sammentreten verschiedenartiger Bestandteile, die ursprüngHch auch ver-
schiedenen Funktionen gedient haben, und dann erst im Verlaut der
Stammesgeschichte zu einer einheitlichen Funktion zusammengetreten sind,
sodass sich hier die Auffassung der höheren Sinnesmodalitäten
als Verschmelzungsprodukt von niederen nahelegt, wie das auch
ohnehin in den rein psychologisch fundierten Farben- und Tontheorien schon
zum Ausdruck gekommen ist.
Da.ss auch bei solcher Auffassung die Entwicklungsmöglichkeit noch
rätselhaft genug bleibt, soll selbstverständlich nicht im geringsten in Abrede
gestellt werden. Ein plötzliches, mutationsartiges Auftreten der neuen
Empfindungsmodalitäten, die Annahme einer phylogenetischen
Farbenschwelle und Tonschwelle bleibt unerlässlich, wie wir denn
überhaupt eines solchen nur teleologisch begreiflichen Schwellenbegriffes *)
bei keiner Art von Sinnesentwicklung entbehren können, mögen wir nun
auch annehmen, dass sich der Funktionswechsel noch so allmählich voll-
zogen hat, dass insbesondere der ausschliessliche Gebrauch für die neue
Funktion erst stufenweise mit dem beständig wachsenden Ausschluss der nun
inadäquat gewordenen Reizklassen und der beständig besseren, positiven,
selektiven Regelung für die adäquate Reizzufuhr Hand in Hand gegangen ist.
Wie nun auch bei den niederen Sinnen ein allmähliches Zurücktreten
der Empfindungsqualitäten in der absteigenden Entwicklungsreihe sich zeigt
und auch hier die Annahme bestimmter phylogenetischer Modalitäts-
schwellen unerlässlich bleibt, das auch nur mit einigen hypothetischen
Andeutungen klarzustellen, erscheint bei unserem noch so lückenhaften
Wissensstand als allzu gewagt. Es mag daher der Hinweis genügen, dass
gerade ein so spezieller Kenner dieser Verhältnisse wie Nagel in seinen
„Vergleichenden Untersuchungen über Geruch- und Geschmacksinn" sich
*) Die teleologisc})e Bedeutung auch schon der gewöhnlichen psycho-
physischen Reizschwelle hat bereits U exküll (Umwelt und Innenwelt der
Tiere S. 192^ betont. Ich gedenke die Teleologie des Schwellenbegriffs
noch eigens zu bebandeln.
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 65
auch bei den niederen Sinnen noch zu einer weiteren Unterscheidung von
primitiven und abgeleiteten Sinnen genötigt findet, wobei er den abge-
leiteten Sinnen vor allem den besonderen Vorzug des besseren räumlichen
Lokalisationsvermögens zuschreibt. Auf diese Weise ergeben sich ihm aus
einem primitiven, mechanischen Sinne die Ableitungen : Tastsinn, Gleich-
gewichtssinn und Gehörsinn, und aus einem ursprünglichen, undifferen-
zierten, chemischen Sinn die Modalitäten : Geruch und Geschmack, von
denen gerade der Geruch bei vielen niederen Tieren sich durch ein be-
sonderes räumliches Lokalisationsvermögen auszeichnet, sodass man hier-
für eigene Ausdrücke, wie Riechsinn oder topochemischer Sinn zu suchen
nötig fand. Gerade für dieses höhere räumliehe Lokalisations-
vermögen der von Nagel sogenannten abgeleiteten Sinne, glaube
ich in meiner Studie über „Die Entwicklung der Raumanschauung" bereits
einige vermehrte Verständnismöglichkeit erschlossen zu haben, da ja die
höhere Ausbildung der Reizlokalisation immer mit bestimmten Bewegungs-
antworten auf die Reize zusammenhängt, Bewegungsreaktionen, die bei
den ursprünglichsten Lebensformen noch in Ortsveränderungen des ganzen
Körpers bestehen mussten, aber bei den höher ausgebildeten Organismen
sich alsbald auf sogenannte Einstellungsbewegungen ihrer Sinnesorgane
reduzieren. Damit trifft nun die allgemeine Beobachtung der vergleichenden
Psychologie zusammen, dass, je weiter wir im Tierreich herab-
steigen, desto mehr die Anzeichen sich mehren, es eigne
den Sinnesreizen auf psychischem Gebiet immer weniger
die Kraft, auch spezifische bewusste Sinnesqualitäten, eigentliche
Sinnesbilder auszulösen; sondern das psychische Korrelat besteht
immer ausschliesslicher nur in qualitativ unbestimmbaren Trieben, in irgend-
welchem nur etwa kinästhetisch noch etwas differenzierterem innerem Be-
wegungsdrang. Ein solcher Bewegungsdrang ist auch unserer menschlichen
Sinneserfahrung gerade bei unserem primitivsten Sinn keineswegs fremd,
sondern z. B. bei den Störungen des Gleichgewichts in dem starken Drang
zur Kompensationsbewegung sehr fühlbar. Diese kinästhetischen Bewegungs-
triebe teilen mit jener sinnlichen Gefühlsmodalität, die wir als die letzte
und allgemeinste erkannten, mit der Schmerz-Wollustdimension, die Eigen-
schaft, nur eben diese eine Dimension zu haben. Alle unsere ursprüng-
hchen Bewegungstriebe teilen mit den Bewegungen der primitivsten Lebe-
wesen der Protozoen das allgemeine Charakteristikum, dass sie entweder
reizverstärkend oder reizmindernd sind, und zwar ist diese Bewegungs-
richtung offenbar bestimmt durch jene letzte Gefühlsdifferenz zwischen
Schmerz und Wollust, über welche hinaus keine weitere Vereinheitlichung
und keine weitere genetische Ableitung mehr möglich ist. Es ist auch
unmöglich, für die Tatsache, dass bei allen Stufen der Organismenwelt, und
gerade bei den niedrigsten, unter normalen Bedingungen auf lebensnützliche
Reize im allgemeinen mit lustmehrenden, positiven Hinzubewegungen, auf
Philoiophischee Jahrbuch 1013. &
66 Max Ettlinger.
lebensschädliche Heize aber mit schmerzabwendenden, negativen Hinweg-
bewegungen reagiert wird, noch eine weitere genetische Gesamterklärung
zu geben. Auch hier stehen wir wieder vor einer letzten Gesetzmässig-
keit allen organischen Lebens, die sich nicht erst allmählich ent-
wickelt haben kann; und müssen abermals auf jene vitalistische Grund-
gesetzlichkeit zurückkommen, die Johannes Müller tür die spezifischen
Sinnesenergien zu früh in ausschliessliche Rechnung gesetzt hat.
Freilich ist mit diesen Darlegungen die Entwicklung der spezifischen
Sinnesenergien erst zu einem geringen Grad aufgehellt, und das meiste
bleibt noch zu tun. Auch Wundt vermag von hier aus nur noch einen
kleinen Schritt weiter vorwärts zu dringen, indem er speziell für die
Entstehung des Sehorgans sein sogenanntes Prinzip der Farben-
photo g r a p h i e ') entwirft, nach welchem die photochemische Wirkung
des Lichtes auf gewisse organische Substanzen die Eigenschaft zu haben
scheint, sie unmittelbar durch entsprechend gerichtete Zersetzungsprozesse
zur Produktion eben jenes Farbstoffes zu veranlassen, welcher der
QuaUtät des einwirkenden Lichtes entspricht. In der Tat gibt es Fälle
ontogenetischer Farbanpassung, am bekanntesten beim Chamäleon 2), bei
Schmetterhngsgruppen und Raupen, und am besten untersucht von Gamble
und Keeble und neuerdings von Romuald Minkiewicz bei je nach ihrer
Umgebung farbwechselnden Krebsarten (Hippolyte varians bzw. Maja), wo
man diesen Farbwechsel mit dem Gesichtssinn und den dauernd auf ihn
einwirkenden Farbreizen in gewisse gesetzmässige Beziehungen bringen kann.
Gerade Minkiewicz betont, dass bei den sich in verschiedene Farben mas-
kierenden Krebsen (Maja) eine bestimmte Art andauernder „chromotropischer
Stimmung", gewissermassen ein physiologisches Gedächtnis an ihr früheres
farbiges Milieu, lange über dessen unmittelbaren Einfluss hinaus erworben
wird, und bringt die Fortdauer dieser Chromotropie mit einer korrelativen
Lagerung des Augenpigments in noch näher aufzuklärenden, aber sicher
bestehenden Zusammenhang '^j.
An diese Verhältnisse beim optischen Organ erinnern Zusammen-
hänge bei anderen Sinnesorganen, die wir allerdings erst in
empirischen Regeln aussprechen können; so darf man z. B. von vornherein
Gehörorgane gerade bei "solchen Tieren vermuten, die auch selbst Töne
hervorbringen; ein ausgebildeteres Geruchsvermögen bei solchen Tieren,
') Grundzüge der physiol. Psychologie 1 C' 1908) 518 f.
') Hierüber schon Ernst Krücke 1851 und 1852; Neudruck in Oslwalds
Klassiker der Naturwissenschaft Nr. 43.
') Vgl. R. Minkiewicz, Versuch einer Analyse des Instinktes in den
Zoologischen Jahrbücliern, Abteilung für Systematik. 28 (1910) 155 fT. — Auch
E. D e g n e r, Leber Bau und Funktion der Krusterchromatophoren in der Zeit-
schrift für wi?;senschaflliche Zoologie, 102 (1912) 1 ff. betont, dass „alle bis-
ht-rigen Korschiuigen die wichtige Rolle der Augen dargetan haben".
Der Anpassungscharakter der spezifischen Sinnesenergien. 67
deren Haut Riechstoffe ausscheidet u. dgl. m. ^) Ob es aber möghch ist
unter Benutzung dieser heuristischen Anhaltspunkte zu einer weiteren gene-
tischen Aufklärung der niederen oder gar der höheren Empfindungsenergien
zu gelangen, das muss hier, wie noch vieles andere, dahingestellt bleiben.
Jedenfalls aber sind hinsichtlich der Lehre von den spezifischen Sinnes-
energien durch Berücksichtigung der tierpsychologischen Tatbestände ältere
Probleme der Lösung nähergebracht und ganz neue Probleme aufgerollt
worden, an denen man nicht deshalb, weil sie grosse Schwierigkeiten be-
reiten, vorübergehen darf, sondern die angefasst und besserer Lösung
nähergebracht sein wollen.
Mag sich nun aber die Umbildung der Müllerschen Lehre im einzelnen
gestalten, wie immer, und die Wundtsche Fassung der Anpassungstheorie mehr
oder minder modifizieren, eine wichtige Folgerung philosophischen
Inhalts scheint sich aus solchem Umbau dieser wichtigen, psychophysischen
I. ehre auf alle Fälle zu ergeben : Sie verliert damit ihren im erkenntnis-
theoretischen Sinne subjektivistischen Charakter, welchen schon Du B o i s-
Reymond erkannte, als er in seiner Gedächtnisrede auf Johannes Müller
dessen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien als eine physiologische
Entsprechung zu Fichtes subjektivem Idealismus bezeichnete. Demgegenüber
hat gerade die Anpassungstheorie zur Voraussetzung die Anerkenntnis einer
realen Aussenwelt mit realen Qualitäten. Sie bedeutet, wie schon Joseph
Geyser in seinem Lehrbuch der Psychologie neuestens andeutete, eine
Rehabilitation aristotelischer Grundansichten.
Ueber diese erkenntnistheoretischen Folgerungen aus dem Anpassungs-
charakter der spezifischen Sinnesehergien werde ich mich demnächst an
anderer Stelle eigens des näheren aussprechen. Hier genügt es, zum
Schlüsse zu betonen, dass die fortschreitende Ausbildung und Anpassung
der spezifischen Sinnesenergien nicht als eine wachsende Subjektivierung,
sondern im Gegenteil als eine fortschreitende Entsubjektivierung des sinnlichen
Weltbildes sich darstellt. Je höher und spezieller wir die Sinnesorgane
und ihre Funktionen entwickelt finden, desto weniger dienen sie nur erst
zur Weckung von Schmerz und Wollust, die auch den Wurm bewegen ;
desto tauglichere Werkzeuge werden sie, um schhesshch in den Dienst
und unter die Kontrolle jener höheren, geistigen Erkenntniskräfte zu treten,
die dem Menschen allein vom Urheber und Lenker aller Entwicklung vor-
behalten worden sind.
*) Beispiele siehe etwa bei Maas und Renner, Einführung in die Biologie,
München 1912, S. 320 und 334 f.
Die Seele als toruigestalteiide Macht.
Von Dr. Ottmar Rutz in München.
I. Einleitung.
Die neue Methode zur Erkenntnis der Gemütssphäre und ihrer Vor-
gänge nahm ihren Ausgangspunkt von den Entdeckungen, die der Vater
des Verfassers, Josef Rutz, bei Gesangstudien machte : er bemerkte
nach vielen Versuchen, dass sich bei der Wiedergabe von Gesangs-
werken, wenn der Sänger sich so recht in den Gefühlsgehalt des be-
ireffenden Werkes seelisch versenkt, die ganze Haltung des Körpers, die
„Einstellung" gewisser grosser Körpermuskeln ändere. Es geschah das
aber nur bei solchen Werken, die dem Sänger vor dieser Aenderung
der Körperhaltung, wie der Sänger zu sagen pflegt, nicht recht „lagen",
also grosse Schwierigkeiten bei der Wiedergabe bereiteten und sozu-
sagen einen inneren Widerstand entgegensetzten. Bei
anderen Werken war ohne weiteres — also ohne die Umstellung der
Körpermuskeln — eine vollbefriedigende Wiedergabe möglich. Lediglich
im Wege praktischer Beobachtung gelang es dann Josef Rutz, eine ganze
grosse Zahl von Arten der Körperhaltung festzustellen, deren Annahme
allein jeweils die ausdrucksvollste und am wenigsten anstrengende Wieder-
gabe dem Sänger ermöglichte. Als Erklärung für diese auffällige Tat-
sache führte er bereits die Gemütsart (das Temperament) des Tondichters
an : die besondere, in dem wiederzugebenden Werk ausgedrückte Gemüts-
art mache die Wiedergabe in einer ganz bestimmten Körpereinstellung
und dem davon abhängigen Stimmklang nötig. Sein Hauptziel bildete die
Verbesserung der praktischen Wiedergabe der Tonwerke. Nach seinem
vorzeitigen Tode war es seiner Mitarbeiterin und Frau, Klara Rutz, zu
verdanken, dass die mühsam in fast 80 Jahren festgestellten Körper-
einstellungen und die Anweisungen zu ihrer praktischen Annahme nicht
verloren gingen. Von ihr hat der Verfasser sie erfahren und wurde er in
ihrer praktischen Anv/eisung unterrichtet. Nach Jahren der praktischen
Arbeit zusammen mit Frau Klara Rutz, nach eingehenden Studien des
Verfassers, insbesondere auf anatomischem, physiologischem und psycho-
logischem Gebiete, und weiteren neuen Feststellungen sind die Haupt-
ergebnisse der Forsdiunji nun folgende.
Die Seele als formgestaltende Kraft. 69
II. Seele und Nerven.
Nach der herrschenden Meinung sind alle wichtigen seelischen Funk-
tionen an einen Teil des Gehirnes, die Grossgehirnrinde, gebunden. Dort
ist der Sitz der Verstandes-, wie der Gemütssphäre. Alle sinnlichen Wahr-
nehmungen, vor allem aber alles seelische Fiihlen und Denken, ist von
der Unversehrtheit des Gehirns und namentlich des Grossgehirns abhängig.
Wenn wir fühlen oder denken, werden bestimmte Teile des Gehirns in
Erregung versetzt. Alle Erregungen unserer Gemütssphäre führen auch zu
Erregungen des Gehirns. Ueber das Gehirn hinaus werden aber — wie
man schon bisher wusste — die vom Gehirn zu den anderen Teilen des
Körpers führenden Nerven erregt. Das sind einerseits Nerven, die vom
Gehirn direkt zu den Organen des Körpers führen : sogenannte Gehirn-
nerven, andererseits Nerven, die erst unter Vermittelung des Rücken-
marks die Organe des Körpers versorgen : Rückenmarksnerven. Die
Gehirnnerven versorgen vor allem : Augen, Ohren, Nase, Mund und Zunge,
Gesichtsmuskeln, Kehle, Lunge mit Herz, Luftröhre und Bronchien, ferner
Herz, Herzbeutel und Blutgefässe. Diesen Organen stehen andere Organe
und zwar vor allem die grössten Rumpfmuskeln gegenüber, welche samt
und sonders durch Rückenmarksnerven versorgt werden.
Bisher hat man besonders beachtet, dass die von Gehirnnerven ver-
sorgten Organe bei Gemütserregungen auffällige Veränderungen zeigen :
die Gesichtsmuskeln werden bei Trauer oder Freude und anderen Gefühlen
in bestimmter eigenartiger Weise zusammengezogen oder gespannt. Phy-
siognomiker und Bühnenkünstler haben schon bisher alle diese Gebärden
studiert. Die Psychologie hat namentlich in neuer Zeit, abgesehen von
den „Ausdrucksbewegungen" des Gesichtes, die Veränderungen im Blut-
unilauf und in der Atmung beachtet, die bei den verschiedenen Gefühls-
erregungen vor sich gehen.
Alles dies wurde schon bisher unter den gemeinsamen Begriff des
Gemütsausdruckes, der Ausdrucksbewegungen, gebracht. Nach den
neuen Forschungen, deren Ergebnisse hier in Kürze dargestellt werden
sollen, ist der Bereich des Gemütsa.usdruckes ein weitaus grösserer.
War man schon bisher der Ansicht, dass fast jedes seehsche Erlebnis eine
intellektuelle und zugleich eine sensuelle (gemütliche) Seite habe, so werden
wir an einer Reihe von Tatsachen nachweisen, dass die Erregungen der
Gemütssphäre im Menschen zeitlich viel länger dauern, als man bisher
wusste, und dass sie entsprechend ihrer Dauernatur zu dauernder Nerven-
erregung fuhren. Erregt werden aber durch die seelischen Vorgänge
nicht bloss Gehirnnerven, sondern vor allem die Rückenmarksnerven,
die die grossen Körpermuskeln versorgen. Zum grössten Teil bilden diese
Muskeln die Wand des Leibes, zum Teil ziehen sie, Zwerchfell genannt,
quer durch den Körper, wodurch die Brusthöhle mit Lunge und Herz von
der Unterleibshöhle räumlich getrennt wird. Der Inhalt der Brust- und
70 Ottmar Rutz.
Bauchhhöhle ist im allgemeinen weich und nachgiebig und muss sich den
Formen, welche die Muskeln, je nach ihrer Anheftung an das Skelett, den
Leibeswänden geben, in jeder Weise anpassen.
III. Hauptarten (Typen) der Seelen- und Nervenerregung.
So kommt es, dass die infolge Gemütserregung herbeigeführte nervöse
Erregung der von Rückenmarksnerven versorgten grossen Körpermuskeln
die Körperformen in gewissen Beziehungen gestaltet. Das geschieht in
ganz eigenartiger Weise. Die verschiedenen Arten der Gemütserregung,
die man schon bisher zum Teil rein erfahrungsmässig beobachtet hatte —
es sei an die alte Temperamentlehre erinnert - haben genau zugehörige
(adäquate) Erregungsarten der Nerven. Je nach dieser nervösen Erregungs-
art werden stets andere Muskelpartien in Erregung versetzt und dem
betrachtenden Auge andere Foi-men des Körpers sichtbar. Eine Hauptart
der Gemütserregung — es ist das ungefähr diejenige, welche mit der des
sanguinischen Temperaments zusammenfallen dürfte — führt zur
Erregung von Rückenmarksnerven, die zu oberst vom Rückenmark nach
den Muskeln, die sie versorgen, abzweigen. Es sind das die sogenannten
Halsnerven, und zwar unter ihnen besonders derjenige Nervenzweig,
welcher die Zwerchfellteile versorgt. Das Zwerchfell zerfällt in mehrere
Teile : einen Lenden-, Rippen- und Brustteil, und jeder dieser Teile wird
von ganz besonderen Nervenzweigen versorgt, die unabhängig von einander
in Erregung geraten können. Bei allen Menschen, welche das sanguinische
Temperament oder - wie die neue Lehre zu sagen pflegt ~ heisse und
zugleich milde Gemütserregungen besitzen, gewahrt der Betrachtende,
dass sie ihren Unterleib ständig vorgewölbt halten. Diese ständige Vor-
wölbung des Unterleibe? ist nur dadurch erklärbar, dass diese Personen
das ganze Zwerchfell oder Teile desselben dauernd zusammengezogen
halten. Prinzipiell muss nämlich eine Zusammenziehung des Zwerchfells
zur Vorwölbung des Unterleibs führen. Denn das Zwerchfell ist derart
zwischen Lunge und Leibesinhalt eingelagert und derart in abgespanntem
Zustande nach oben ausgewölbt, dass eine Zusammenziehung, auch nur
von Teilen, eine Verminderung der Auswölbung und damit eine Ver-
minderung des Rauminhaltes der Bauchhöhle nach oben zu bewirkt. Bei
dauernder Zusammenziehung schiebt die infolgedessen herabgestiegene
Doppelkuppel des Zwerchfells den Inhalt des Unterleibs notwendig nach
vorne.
Die Art der Gemütserregung, das heisse und weiche Fühlen, die zur
Dauererregung des Zwerchfells führt, wird von der neuen Lehre aus
praktischen Gründen in Kürze als Typus I bezeichnet.
Man kann darum in Kürze vom Typus I der Gemütserregung, wie
auch vom Typus I der Körperform oder Körperhaltung sprechen. Diesen
Typus der Körperform : ständige Vorwölbung des Unterleibes, unter gleich-
Die Seele als formgestaltende Kraft. 71
zeitiger schwacher Hebung der Brust, verbunden mit einer gewissen Ge-
drungenheit der ganzen Erscheinung, erkennen wir häufig an Statuen,
deren Modelle dem italienischen Volke entstammen. Wir finden sie
z. B. bei der bekannten Statue Cäsars, bei Statuen altrömischer Kaiser.
Wir treffen sie auf Gemälden italienischer Meister dargestellt. Man
bemerkt sie in ganz gleicher Weise bei Männern wie Frauen, bei Menschen
höheren oder jüngeren Alters. Wir gewahren den Typus I der Körper-
form z. B. auf Gemälden von Tintoretto (Susanna im Bade), Michelangelo
(Gefesselter Sklave), Giorgione (Venus), Masaccio (Die Vertreibung aus dem
Paradies), Tizian (Venus von Madrid).
Einen scharfen Gegensatz hierzu bilden jene Menschen, deren anders-
geartete Gemütserregung — kühle und milde Gefühlserregung — zur
Dauererregung anderer Rückenmarksnerven, nämlich derjenigen führt, welche
vor allem den queren Rumpfmuskel versorgen. Dieser Muskel umspannt
ungefähr wie ein Gürtel den Leib in Taillenhöhe. Wenn der ihn ver-
sorgende Nerv in Dauererregung versetzt und dadurch der Muskel zusammen-
gezogen wird, so bewirkt er eine Verengerung der Unterleibshöhle und
einen Druck nach oben. Das hat zur Folge, dass der Brustkorb sich aus-
weitet und nach vorne gewölbt wird : Typus II der Körperhaltung. Wir
finden ihn vor allem im Bereich des deutschen Volkes. Die Zahl der
Werke, auf denen wir ihn dargestellt finden, ist aus ganz bestimmten Gründen
— infolge des Einflusses der meist dem Typus I angehörenden Kunst Italiens
und der dem Typus III (siehe später) angehörigen griechischen Kunst —
nicht so gross. Menschliche Körper, die deutlich den Typus II zeigen,
finden wir auf Gemälden Memlings (Letztes Gericht, Danzig), Lukas Cranachs
(Quellnymphe). Riemenschneider hat den Körper des Typus II bei Adam
und Eva (Würzburger Schloss), der Büssenden Magdalena dargestellt. Zu-
meist zeichnen sich die Gestalten mit diesem Typus durch eine grössere
Schlankheit des Körpers aus.
Eine weitere grosse Gruppe bilden die Angehörigen des Typus III
mit dem kühlen und starken Fühlen. Diese Art der Gemütserregung
bewirkt eine dauernde Zusammenziehung der sogenannten schiefen Rumpf-
muskeln in der Richtung nach abwärts, was im allgemeinen einer starken
Streckung des Körpers und zwar notwendigerweise nach der Anlage der
betreffenden Muskeln nach rückwärts oder vorwärts abwärts entspricht.
An Statuen und auf Gemälden finden wir diesen Typus namentlich bei
den alten Griechen und den Franzosen dargestellt. Ich erinnere da an die
besonders straff und schlank erscheinenden Körperfiguren vom Aegina-
tempel, an die Statuen der Polyklet und ihrer Schüler. Sogar die weib-
lichen Gestalten der Griechen erscheinen gegenüber den italienischen —
wie das schon von anderer Seite bemerkt wurde ^) — gewissermassen
') Gaupp. Die äusseren Formen des menschlichen Körpers, Jena 1911,
S. 32 f.
72 Ottmar Rutz.
energischer, straffer. Die Zusammenziehung der nach rückwärts abwärts
verlaufenden schiefen inneren Rumpfmuskeln macht sich in einer starken
Abwinkelung des Rumpfes bemerkbar. Wir sehen diese z. B. deutlich auf
einem Relief an der Kathedrale zu Bourges, Dieses wie das übrige An-
schauungsmaterial finden wir z. B. bei Hausenstein, Der nackte Mensch,
in reicher Fülle. Man vergleiche etwa die Maja Goyas mit der Venus von
Tizian oder Giorgione, um zu erkennen, wie deutlich sich in der Form-
gebung des ganzen Körpers der Unterschied in der Gemütserregung des
Typus 111 und des Typus I ausdrückt.
IV. Seelenausdruck im ganzen Körper.
Der Seelenausdruck beschränkt sich also nicht bloss
auf das Gesicht, sondern erstreckt sich auf den ganzen
Körper. Je nach der Art der Seelenerregung ist die Innervierung des
ganzen Körpers und damit Muskelspiel, Form des Körpers, Bewegungsart
der Arme und Beine und des übrigen Körpers, Blutumlauf und Atmungs-
tätigkeit eine andere. Die Beobachtung und Erfahrung des täglichen Lebens
zeigt, dass ein Mensch regelmässig sein ganzes Leben hindurch bei
allen seinen Handlungen und in jeder Lebenslage seine typische Inner-
vierung und Körperhaltung, entsprechend einer einzigen bestimmten
Hauptart seiner Gemütserregung, besitzt. Es sind das die bisher be-
schriebenen drei Hauptarten, Typen. Das scheint zunächst vielleicht
verwunderlich. Es enthält aber nicht mehr Verwunderliches, als die Tat-
sache, dass — wie man schon bisher nach der Temperamentlehre annahm
— jeder Mensch ein bestimmtes Temperament besitzt, das sein ganzes
Leben hindurch gleich bleibt. Dem entsprechend bleibt ihm auch jene
Innervierungsart, die vor allem die Formgebung seines Körpers bewirkt,
sein ganzes Leben hindurch als „Ausdruck seines Seelischen".
Es gelten allerdings einige bestimmte Ausnahmen. Wie man schon
bisher wusste, kann der Mensch durch seinen bewussten Willen, also ver-
standesmässig, den Ausdruck der Freude oder der Trauer usw. unter-
drücken. Genau so kann er den übrigen körperlichen Muskelausdruck
seiner allgemeinen Gemütserregungsart unterdrücken, z. B, die Zusammen-
ziehung der betreffenden Muskeln, wenn nicht unterlassen, so durch
Zusammenziehung anderer Muskelpartien ersetzen. So kann es auch vor-
kommen, dass der Träger des Typus II der Haltung (mit zusammen-
gezogenem querem Rumpfmuskel) absichtlich und bewusst die Muskel-
einstellung des Typus I annimmt. Aus besonderen Zwecken, nämlich
z. B. dann, wenn er in Befolgung einer der jetzt vielfach gelehrten „Atem-
melhoden" sich eine ganz besonders tiefe Atemversammlung angewöhnen
will, wodurch er manchmal auf die Haltung des Typus I kommt. Das ist
nämlich noch eine weitere Besonderheit, dass jeder Typus der Haltung
auch stets die Art der Atemversammlung regelt. Der Typus I versammelt
Die Seele als forrntjestaltende Kraft. 73
die Hauptmasse der eingeatmeten Luft tiefer als der Angehörige des
Typus II. üm.gekehrt kann es dann vorkommen, dass der Träger des
Typus II, der recht tief zu atmen sich bemüht, die Zusammenziehung des
queren Rumpfmuskels aufgibt.
Eine andere Ausnahme kann sich vielleicht durch irgend eine Arbeits-
gewöhnung des täglichen Lebens ergeben. So z. B., wenn der Träger des
Typus 11 bei vielem gebücktem Sitzen sich unwillkürlich und unbewusst
eine ganz schlaffe Haltung angewöhnt, die auch zu einer Erschlaffung
speziell des queren Rumpfmuskels führt. Bei solchen Personen pflegt dann
eine vollkommen tonlose, wie erstorbene Stimme hörbar zu sein, oder sie
wirken, da ihnen jede Tonfülle fehlt, mit Pressen und Quetschen auf Kehle
und Stimmbänder ein.
Die wichtigste Ausnahme ereignet sich dann, wenn jemand aus dem
Grund die Haltung seines Typus verlässt, weil er die Gemütserregungen
eines anderen Menschen mit anderem Typus unbewusst und ungewollt
seelisch nachfühlt, insbesondere die Gemütserregungen, die der andere
in einem Sprachwerk, in einer Tondichtung, oder einem Werk der bildenden
Kunst ausgedrückt hat.
V. Musik- und Sprachwerke.
Damit kommen wir zu dem weiteren grossen Gebiet, in dem sich das
SeeUsche und zwar das Gemütsleben als gestaltendes Prinzip er-
weist. Das Seelische gestaltet nicht bloss den Körper und seine Bewegungen
durch Dauerinnervierung. Es verleiht auch allen Werken der mensch-
lichen Tätigkeit, namentlich den künstlerischen Werken, aber auch solchen
ohne künstlerischen Formenwert, eine seiner Art nach ganz bestimmte Ge-
staltung. Jeder Typus der Gemütserregung hat seine besonderen Form-
merkmale. Die Musikwerke und Gesänge von Tondichtungen mit Typus I
zeichnen sich durch grosse Gleichmässigkeit in Rhythmus, glatten Melodie-
fluss, stark gewölbte melodische Linien und Neigung zu sehr raschem Tempo
aus. Weiterhin vermeiden sie allzu grosse Gegensätze in der Lautheit.
Die Werke des Typus II unterscheiden sich vor allem durch die Neigung
zu langsamerem Tempo und flacherer Melodie. Den stärksten Gegensatz
zu den Werken des Typus I bilden die des Typus III : ihr Rhythmus ist
ungleichmässig, ihre Melodien fliessen nicht glatt dahin, sondern eckig,
kantig, unter Bevorzugung kleinster und übergrosser Intervalle. Das Tempo
ist im allgemeinen langsam. Die Gegensätze in der Lautheit sind gross.
Das gilt alles nur im allgemeinen und nur verhältnismässig. Auch die
Werke des Typus I weisen oft langsame Tempi auf, aber das langsame
Tempo des Typus I ist im Verhältnis zu dem langsamen Tempo des
Typus II oder III doch wieder rascher.
Für Sprachwerke, und zwar für Sprachrhythnms und Sprachmelodie,
also für das „Sprach musikalische" gelten die gleichen Prinzipien.
74 Ottmar Rutz.
Das Spiacl)meludi.sehe, das erst durch die Arbeiten von Eduard SieversM
und seiner Anhänger, insbesondere von Franz Saran^), tatsächlich fest-
gestellt und wissenschaftlich bearbeitet wurde, richtet sich also nach den
gleichen Ausdrueksgesetzen, wie die reine Musik.
Den praktischen Beweis kann sich jeder erbringen: Nur wenn man
denjenigen Typus der Haltung bei Wiedergabe einer Tondichtung, eines
Liedes, eines Sprach werkes, sei es auch nur eines Briefes, verwendet,
welcher der Gemütsart des Verfassers zugehörig (adäquat) ist, kann nian
den natürlichen, sozusagen selbstverständlichen Ausdruck erzielen. Wendet
man einen andern Typus an, so wird nicht bloss der natfirliche Ausdruck
gestört, sondern auch die technische Anstrengung der Kehle mehr oder
weniger vermehrt. In besonderen Fällen kann es sogar vorkommen, dass
der Wiedergebende heiser wird oder sich bei, häufiger Wiederholung, wie
das in der Praxis des Bühnenkünstlers, des Lehrers usw. vorkommt, sogar
für längere Zeit schädigt.
Häufig treibt den wiedergebenden Künstler eine gewisse Gleichgestinmit-
heit des seelischen Fühlens zur Wiedergabe eines bestimmten Meisters.
Da deckt sich dann der Typus des wiedergebenden Künstlers mit dem des
schaffenden. Die Rolle, Partie, das Werk ist diesem Wiedergebenden so-
zusagen auf den Leib geschrieben. Aller natürliche Ausdruck des Seelischen
ist dann ohne weiteres ganz gleichmässig vorhanden. Ist jedoch der
Gefühlstypus des wiedergebenden Künstlers ein anderer als der des
schaffenden Künstlers, so vermag sich oft der wiedergebende voll und
ganz in den schaffenden umzufühlen und körperlich umzustellen. Gelingt
ihm das jedoch nicht, so ergeben sich die genannten Konflikte : dann wird
der Typus des schaffenden Künstlers unterdrückt, gewaltsam umgemodelt
und verzerrt, oder es entstehen laue Kompromisse. Hier ist dann auch
der Grund dafür zu suchen, warum oft einem Künstler, der auf lange
Jahre der Ausbildung zurückblickt, gewisse Werke, trotzdem er unsägliche
Mühe auf sie verwendet, immer wieder, mehr oder minder missglücken.
Der Künstler lässt eben nicht von den Ausdrucksmitteln seiner seelischen
Art und will seine Ausdrucksmittel dem Werke aufzwingen. Das Werk
aber trägt nach Rhythmus und Melodie die ganz anderen Ausdrucks-
iiierkniale einer anderen seelischen Art. Will der Künstler das Werk mit
vollem Seelenausdruck und bestem technischem Gelingen wiedergeben, so
mu.ss er diejenigen Ausdrucksmittel anwenden, welche dieser besonderen
seelischen Art zugehören.
Da zeigt sich dann, dass die besondere Einstellung der Körpermuskeln
stets eine besondere Art des Stimmklanges mit sich bringt. Wie oft
schon hat der kunstliebende Laie, wie der speziell Gesangskundige, eine
') Vgl. z. B. Rhythmisch-melodische Studien, Heidelberg 1912, Karl Winter.
') Verslehre. Handbuch von Matthias.
Die Seele als formgestaltende Kraft. 75
auffällige Verschiedenheit des Stimmcharakters bei verschiedenen Völkern
und einzelnen Personen festgestellt, Verschiedenheiten, die mit Tenor-,
Bass- oder Sopran- und Altlage, also mit der Höhe des Tones nichts zu
tun haben. Diese Verschiedenheiten beziehen sich vielmehr bald auf die
Färbung, bald auf den Weichheitsgrad der Stimme, auf ihre Grösse, ihren
besonderen dramatischen oder mehr lyrischen Beiklang. Nach den neuen
Untersuchungen und Beobachtungen ist es nun so, dass zu jeder Art des
Seelischen als Ausdruck, unmittelbar bedingt durch die Einstellung des
Körpers, eine besondere Art des Stimmklanges gehört. Der Typus I des
Fülilens (das milde und zugleich heisse) hat die dunkle und zugleich
weiche Stimme zum Ausdruck, der Typus II des Fühlens (das milde und
kühle) die helle und zugleich weiche Stimme, der Typus III des Fühlens
(das energische und kühle) die helle und metallisch - harte Stimme. Je
nach der Muskeleinstellung wird die Resonanz, vor allem der in der
elastischen Lunge versammelten Luft wie auch der angrenzenden Leibes-
wände, eine andere. Auch die Atemtätigkeit und die Lage der Haupt-
masse der eingeatmeten Luft ist je nachdem verschieden. So erkennen
wir, dass die Seele als gestaltende Macht sogar die Arten der Atmung und
Luftversammlung regelt.
VI. Bildende Kunst und Baukunst.
Bei Werken der Malerei und Bildhauerkunst offenbaren sich die Aus-
drucksmerkmale der Gemütsarten in der Linienführung in ähnlicher Weise,
wie in der melodischen und rhythmischen Linienführung der Musikwerke.
Genau wie das Nachfühlen bei den Sprach- und Musikwerken den reiz-
empfindlichen Wiedergebenden veranlassen kann, unbewusst und unwill-
kürlich die adäquate Ausdruckshaltung des Schöpfers anzunehmen, so kommt
es vor, dass der reizempfmdliche Betrachter eines Bildes oder einer Statue
die Ausdruckshaltung des Schöpfers annimmt, wenn er sie — bei gleicher
Gemütsart — nicht schon besitzt. Das stimmt mit dem schon bisher ge-
lehrten Gesetz der Psychologie überein, dass der Ausdruck einer Gemüts-
bewegung stets die Tendenz in sich trägt, beim Beschauer den gleichen
Ausdruck hervorzurufen.
Besonders einfach und überzeugend zeigt sich der Ausdruck der
Gemütsarten an den Werken der Baukunst. Die stark gebogene und
geschmeidige Linie, als Ausdruck des heissen und milden Fühlens, bringt
der in Itahen, ebenso wie das Tonnengewölbe, heimische romanische
Baustil. Als die Eroberervölker mit dem kühlen und starken Fühlen
(Araber usw.) auf die Bauten dieses Stiles trafen, da waren sie bemüht,
möglichst die Ausdrucksmerkmale ihres Fühlens wenigstens noch hinzu-
zufügen. Sie stellten deshalb die spitzigen und geradlinigen Minarets neben
die schon vorhandenen romanischen Bauten und verwandelten die stark
gebogene Linie des romanischen Stiles in die ihrem Fühlen mehr adäquate
76 Ottmar Rutz.
des Ilachen Hufeisenbogens. Den Ausdruck des starken und kühlen Fühlens,
das bei den Franzosen, trotz vieler Rassenmischung, entsprechend dem
keltischen Urstamme vorherrschend geblieben ist, finden v^ir auch im
gotischen Baustil mit seiner flachgebogenen Linienführung und den Spitzen.
Den reinsten Ausdruck des starken und kühlen Fühlens gewahren wir
an den Ausdrucksmerkmalen der alten griechischen Kunst: da herrscht
stets die „kühle" gerade Linie und der unmittelbar energisch-heftige Ueber-
gang in Form eines spitzen Winkels oder eines rechten Winkels. Die
gerade Linie herrscht auch bei den alten Aegyptern. Der Ausdruck des
weichen und kühlen Fühlens findet sich in den alten indischen und chine-
sischen Bauten. Einen im deutschen Sprachgebiet herrschenden Baustil,
welcher Ausdruck des dort tatsächlich bei den Menschen vorherrschenden
weichen und milden Fühlens wäre, hat es augenscheinlich bisher nicht
gegeben. Gerade übrigens auf dem Gebiet der Bauwerke ist zu beachten,
dass Zweckmässigkeitsgründe und technische Gesichtspunkte vielfach allein
herrschen, insbesondere bei blossen Wohnbauten. So ist ein Dach, das
mit Rücksicht auf den besseren Abfluss des Regens möglichst spitz winkeUg
und steil gehalten wird, natürlich nicht Ausdruck einer besonderen Art
des Fühlens. Der Ausdruck des Fühlens, verbunden mit künstlerischer
Gestaltung, pflegt vielmehr erst dann Platz zu greifen, wenn es sich um
Schaffung von Gebäuden handelt, die einem höheren Zweck dienen sollen,
um Kirchen, Staatsbauten usw.
Vli. Praktische Versuche mit den Typen.
Es mag wohl den einen oder anderen Leser interessieren, sich selbst
praktisch von der neuen Sache zu überzeugen. Ich bringe deshalb einige
Beispiele, die man in verschiedenen Arten von Körperhaltung und Stimm-
klang nach folgenden Anweisungen wiedergeben möge '). In erster Linie ist
dabei zu bedenken, dass jeder Wiedergebende, mag er Sopran, Alt, Tenor
oder Bass sein, einen der sogenannten drei Typen, eventuell mit bestimmten
Unterarten, die innerhalb des Typus bestehen, bereits besitzt, und zwar
regelmässig, nicht infolge eines äusseren Zufalles, einer Arbeitsgewöhnung,
sondern infolge der von innen heraus wirkenden Macht seiner seelischen Art.
Man spreche also der Reihe nach folgende Gedichtstellen:
L Abend wirds, des Tages Stimmen schweigen.
Röter strahlt der Sonne letztes Glühn;
Und hier sitz' ich unter euren Zweigen,
Und das Herz ist mir so voll, so kühn !
■) Wer sich näher mit der Sache befassen will, sei auf die beiden im
Verlag von Oskar Beck, München, erschienenen Bücher verwiesen : a. Rutz, Neue
Entdeckungen von der Stimme, Mk. 5 ; b. Rutz, Sprache, Gesang und Körper-
hall ung, Handbuch, Mk. 2,80.
Die Seele als formgestaltende Kraft. 77
Alter Zeiten alte treue Zeugen,
Schmückt euch doch des Lebens frisches Grün,
Und der Vorwelt kräftige Gestalten
Sind uns noch in eurer Pracht erhalten.
2. Dein Bildnis wunderselig
Hab ich im Herzensgrund,
Das sieht so frisch und fröhlicii
Mich an zu jeder Stund.
Mein Herz still in sich singet
Ein altes schönes Lied,
Das in die Luft sich schwinget
Und zu dir eilig zieht.
3. In mein gar zu dunkles Leben
Strahlte einst ein süsses Bild ;
Nun das sü.«!se Bild erblichen,
Bin ich gänzlich nachtumhüllt.
Wenn die Kinder sind im Dunkeln,
Wird beklommen ihr Gemüt,
Und um ihre Angst zu bannen.
Singen sie ein lautes Lied.
Ich, ein tolles Kind, ich singe
Jetzo in der Dunkelheit;
Klingt das Lied auch nicht ergötzlich,
Hat's mich doch von Angst befreit.
Wer den Typus 1 als A u s d r u c k seines Seelischen und also auch den
seelischen Typus 1 besitzt, bei dem klingt die unter Ziffer 1 genannte
Dichterstelle von Körner sozusagen natürlich. Für Beispiel 2 von
Eichendorf f stellt .sich ein übertrieben dunkler Klang, für Beispiel S
von Heine ein übertrieben dunkler und zugleich übermässig weicher
Klang ein.
Wer dagegen den Typus 11 besitzt, bei dem klingt das erste Beispiel
zu hell, sozusagen äusserlich aufgefasst, Beispiel 2 dagegen natürlich, Bei-
spiel 3 zu weichlich.
Wer endlich den Typus III anwendet, bei dem klingt das erste Bei-
spiel unangenehm hart und hell (offen), Beispiel 2 hart, wenn schon in der
hellen Färbung entsprechend, erst Beispiel 3 befriedigt im Ausdruck
vollkommen.
Allerdings kann es vorkommen, dass ein sehr reizempfindlicher mit-
fühlender Leser unbewusst .seinen Typus der Haltung unter dem Einfiuss
des aus der Dichterstelle wirkenden seelischen Gehaltes ändert und dadurch
die Eigenart seines eigenen Ausdruckstypus nach Helligkeit oder Härtegrad
der Stimme zugleich ändert. Da wirkt eben dann die nachgefühlte Seelen-
7H Ottmar Rutz.
pnecung auf seine Rückenmarksnerven und daniil auf die Tätigkeit seiner
j^rossen Körperniuskeln ein. Sehr häufig aber ist das Gegenteil, dass man
von der Muskeleinstellung, die dem eigenen Fühlen entspricht, nicht
loskommt.
Es wird nun geu^iss auch den Leser interessieren, zu erfahren, wie
man bewusst und willkürlich die richtigen (adäquaten) Ausdruckshaltungeii
zu den oben genannten Beispielen annimmt. Man richte sich dabei nach
folgenden Angaben:
1. Den sogenannten Typus 1 der Körperhaltung, den wir, um bunt
durcheinandergewürfelt einige Namen zu nennen, an Nachbildungen Cäsars,
römischer Kaiser, an Napoleon, Goethe, Heyse, Schubert, Brückner ge-
wahren, kann willkürlich nach der folgenden Anweisung nur derjenige an-
nehmen, der ihn nicht schon gewohnheitsmässig besitzt:
Man schiebe den Unterleib wagerecht nach vorne und behalte diese
Vorwölbung bei. Die Stimme erhält hierdurch einen dunklen und weichen
Klang. Atem tief (Dauerzusammenziehung des Lendenteils des Zwerchfells).
2. Der sogenannte Typus 11 der Körperhaltung, den wir an Friedrich
dem Grossen und regelmässig an den Hohenzollern der Neuzeit, an Schiller,
Beethoven, Weber, Schillings gewahren, wird willkürlich von dem, der ihn
nicht schon gewohnheitsmässig besitzt, folgendermassen angenommen:
Man schiebe die Unterleibsmuskeln gleich oberhalb der Hüften wage-
recht nach rückwärts und wölbe die Brust vor. Stimmklang hell und
weich. Atem höhßr als bei Typus I (Dauerzusammenziehung des queren
Bauchmuskels).
3. Der sogenannte Typus III der Haltung, den wir regelmässig an den
Statuen der alten Griechen, an Liszt, Richard Wagner gewahren, wird
willkürlich von dem, der ihn nicht gewohnheitsmässig besitzt, in folgender
Weise angenommen:
Man schiebe die Muskeln an den Seiten des Rumpfes schräg entweder
abwärts vorwärts oder abwärts rückwärts. Stimmklang hell und hart,
Atem bei Muskelschub nach vorwärts abwärts höher, nach rückwärts ab-
wärts tiefer (Dauerzusammenziehung entweder der äusseren oder der inneren
schiefen Bauchmuskeln).
Für jeden Fall der praktischen Annahme ist daran festzuhalten, dass
die durch eine Muskelbewegung eingeleitete Einstellung der Muskeln
dauernd beizubehalten ist, ebenso lange, als man den betreffenden Typus
gebrauchen will.
Jeder Typus hat sein allgemeines Kennzeichen ; Typus I zeichnet sich
durch Erweiterung der Unterleibshöhle (Bauch, Abdomen) aus, Typus II
durch Erweiterung der Oberleibshöhle (Brust, Thorax), Typus III durch
mit Streckung und Abwinkelung des Körpers verbundene Schubrichtung
der Muskeln nach abwärts (absteigend, deszendent). Nach diesen Merk-
Die Seele als formgestaltende Kraft. 79
malen lassen sicii die Typen der Haltung auch kurz als Abdominal-,
Thorakal- und Deszendenzhaltung bezeichnen.
Besonders interessant ist es da, wenn man etwa bewusst den Typus 111
annimmt und zwangsweise auf das Gedicht von Körner anwendet.
VIII. Versuche mit Unterarten.
Bisher war stets von den Hauptarten, den Typen, die Rede. Die Natur
ist aber auch da nicht so einfach, wie man vielleicht anfangs annehmen
möchte. Innerhalb des allgemein Typischen bestehen bestimmte Unter-
arten. Zwei besonders wichtige Unterarten werden uns sofort bewusst,
wenn wir den oben genannten Beispielen die drei folgenden jeweils
gegenüberstellen.
1. Schaff das Tagwerk meiner Hände,
Hohes Glück, dass ich's vollende ;
Lass, 0 lass mich nicht ermatten !
Nein, es sind nicht leere Träume,
Jetzt nur Stangen diese Bäume,
Geben einst noch Frucht und Schatten.
2. In Liebesarmen ruht ihr trunken.
Des Lebens Früchte winken euch^
Ein Blick nur ist auf mich gesunken,
Doch bin ich vor euch allen reich.
Das Glück der Erde miss ich gerne
Und blick, ein Märtyrer, hinan,
Denn über mir in goldner Ferne
Hat .sich der Himmel aufgetan.
3. 0 lieb, .so lang du lieben kannst, o lieb, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst
und klagst.
Spricht man nacheinander das Gedicht von Körner und das gleich
hier vorstehende, unter Ziffer 1 genannte, so stellen sich, je nach den
individuellen Besonderheiten der sprechenden Versuchsperson, folgende
Bemerkungen ein. Wer das Gedicht von Körner in höherer Tonlage spricht,
der lässt bei dem andern Gedicht seine Stimme in tiefere Lage sinken.
Wer dagegen umgekehrt das Gedicht von Körner in tiefer Lage zu sprechen
pflegt, der lässt bei dem andern Gedicht seine Stimme noch tiefer sinken.
Achtet man dagegen auf den befriedigenden Ausdruck, so stellt sich bei
allen Versuchspersonen, die absichthch darauf acht geben, die Tatsache
ein, dass man - - von einzelnen Ausrufen abgesehen — das Gedicht von
Körner in tieferer Lage liest, als das andere Gedicht, das von Goethe
stammt. Die gleichen Bemerkungen macht man bei den anderen Gedichten.
Will man Eichendorff im Ausdruck natürlich sprechen, so muss man ihn
80 Ottmar Rutz.
im allgemeinen tiefer legen als Uhlands Hohe Liebe (Beispiel 2), Heine
muss man tiefer legen als Freiligrath (Beispiel 3).
Diese merkwürdigen Erscheinungen haben ihren Grund — wenn wir
die Tatsachen zu erklären suchen — in Gefühlsverschiedenheiten, die
innerhalb des Typus bestehen. Goethe, wenn schon der Hauptart
nach dem heissen und milden Fühlen (Typus I) angehörig, ist etwas kühler
als der hochgradig feurige Körner, der die wärmste Art innerhalb des
Typus I besitzt. Eichendorff fühlt wärmer als ühland, Haine wärmer
als Freiligrath. Kurz, als Gegensätze bezeichne ich diese zwei Arten
als warme und kalte Art. Diese Artenverschiedenheit der Wärme inner-
halb des Typus führt zu ganz bestimmten Nervenerregungen und damit
zu bestimmten körperlichen Einstellungen.
Praktisch nimmt man dieselben, soweit man nicht die eine oder andere
Art selbst besitzt, folgendermassen an:
1. a) Bei Typus I und II findet die Ergänzung zur kalten Art
folgendermassen statt :
Man ziehe nach Annahme der typischen Muskeleinstellung die Vorder-
seite des Leibes in Taillenhöhe jeweils 3 bis 4 Finger rechts und links
von der Mittellinie des Körpers nach dem Innern des Körpers herein
(Dauerzusammenziehung des geraden Bauchmuskels, der besonders an
römischen und griechischen Statuen deutlich zu sehen ist).
b) bei Typus I und II findet die Ergänzung zur warmen Art folgender-
massen statt:
Man ziehe nach Annahme der typischen Muskeleinstellung die Vorder-
seite des Leibes in Taillenhöhe jeweils ungefähr zwei Handbreit rechts und
links von der Mittellinie des Körpers nach dem Innern des Körpers herein
(Dauerzusammenziehung eines Teiles des inneren schiefen Bauchmuskels).
2. Bei Typus III findet die Ergänzung zur kalten und zur warmen Art
dadurch statt, dass man, mag der Muskelschub schräg nach vorwärts —
kalte Art — oder schräg nach rückwärts abwärts — warme Art — erfolgt
sein, die unter 1 b genannten Stellen nach aussen vorwölbt (Dauerzusammen-
ziehung eines kleinen Teiles des Zwerchfelles). Der Artenunterschied
zwischen „warm" und „kalt" ist also hier gleich durch die erste Be-
wegung schon mit gegeben.
Form des Stimmklanges: Bei der kalten Art ist der Stimmklang in
der höheren Tonlage jedes Menschen, sei er Tenor, Sopran, Alt oder Bass,
runder als in der tieferen Tonlage, wo er breiter ist. Bei der warmen
Art ist es gerade umgekehrt: da ist in der hohen Tonlage der Stimm-
klang breiter, in der tieferen runder. Statt „runder" kann man auch
sagen „gedeckter", „zusammengefasster", .statt breiter „offener", „flacher".
Auch diese Klangverschiedenheiten werden durch die verschiedenen Ein-
stellungen der Muskeln, die auf die Resonanz und die Kehle in bestimmter
Weise einwirken, verursacht.
Die Seele als formgestaltende Kraft. 81
Wer die Einstellung der kalten ArL hat, sprichi iu jedem Typus regel-
mässig mit der runden Form in hoher Tonlage, die er überhaupt dann
bevorzugt. Wer gewohnheitsmässig die Einstellung der warmen Art hat,
spricht regelmässig mit der runden Form in tiefer Lage, welch letztere
er bevorzugt. Zeitweise kommt es (wohl infolge Störungen in der Muskel-
innervierung) vor, dass er im täglichen Leben die Einstellung der warmen
oder kalten Art aufgibt : es verliert sich dann der ausgeprägte Wechsel
zwischen runder und breiter Form, und er spricht dann entweder in allen
Lagen (hohen oder tiefen) gleichmässig rund oder gleichmässig breit. Bei
der Wiedergabe kann er dann mit diesem „primitiven", nämlich artenlosen
Typus die hohen oder tiefen Töne nicht recht bewältigen. Auch stellt sich
beim längeren Sprechen Ermüdung ein. Der artenlose (primitive) Typus
weist ferner die Klangmerkmale jedes Typus übertrieben auf (wenn nicht
gewaltsam dagegen eingewirkt wird) : der primitive Typus I klingt ganz
weich und dumpf (dunkel), der primitive Typus II ganz weich und hell
(flötenähnlich), der primitive Typus III unangenehm hart und hell.
Die Versuchsperson muss sich möglichst bald bemühen, festzustellen,
ob sie als Ausdruck ihrer Seelenart die warme oder kalte Art hat oder
am Ende nur den primitiven Typus.
Mancher Leser wird vielleicht im Singen die Unterschiede im Klang-
charakter noch deutlicher hören. Ich nenne als ganz einfache Beispiele :
für Typus I warm die bekannte Hymne „Gott erhalte Franz den Kaiser"
von Haydn (auch auf den Text „Deutschland über alles" gesungen), für
Typus II warm „Heil Dir im Siegeskranz" auch als „Heil unserm König,
Heil" gesungen), für Typus III warm die Marseillaise. Für die kalte Art
des Typus I nenne ich das Lied von Schubert „Am Brunnen vor dem
Tore", für Typus II kalt „Es steht ein Baum im Odenwald", für Typus III
kalt „Die Uhr" von Löwe.
Auch bei diesen Beispielen vertausche man absichtlich die ver-
schiedenen Arten der Körperhaltung und des Stimmklanges und beachte
dabei aber wohl, dass man einen Typus und eine Art regelmässig als
Ausdruck seines eigenen Fühlens besitzt, in welchen man ohne weiteres
nach Annahme eines anderen Typus oder einer anderen Art zurückverfällt,
sozusagen von selbst.
Diese praktischen Versuche zeigen so recht deutlich und handgreif-
lich, wie einschneidend die Wirkung des Seelischen ist: Selbst ganz ein-
fache Melodien und Wortfolgen tragen nach Rhythmus und Melodie so
deutlich die Ausdrucksmerkmale der Gefühlsart ihres Schöpfers in sich,
dass die zwangsweise Wiedergabe mittels nichtpassender Ausdrucksmittel
ein Misshngen der Wiedergabe herbeiführt. Stets ist da eine unangenehme
Kontrastwirkung bemerkbar : eine störende Diskordanz zwischen der wieder-
gegebenen Melodie oder Wortfolge mit ihren prägnanten Ausdrucksmerk-
malen und den angewandten Ausdrucksmitteln. Die Konkordanz stellt
philosophisches Jahrbuch 1913. 6
g2 Ottmar R u t z.
sich erst ein, wenn man sicli Itörperlich nach Art der adäquaten Ausdrucks-
haltung umstellt.
IX. Zusammenfassung.
Die gestaltende Macht des Seelischen wird somit zum Unterpfande für
die Echtheit der Werke: Mit Hilfe der Typenlehre können wir fest-
stellen, ob zweifelhafte Stellen oder Werke von einem bestimmten Autor
herrühren oder nicht. Das gilt ebenso für Musikwerke wie für Sprach-
dichtungen, Prosa wie Poesie. Die bisherigen Forschungsergebnisse in
dieser Richtung habe ich in meinem Buche „Musik, Wort und Körper als
Gemütsausdruck" (Seite 684 ff.) dargestellt. Was das musikalische Gebiet
betrifft, so können wir nun mit aller Bestimmtheit z. B. das Joh. Sebastian
Bach zugeschriebene Lied „Willst Du Dein Herz mir schenken" dem
Italiener Giovannini zuschreiben. Wir können jetzt die von Goethe
stammenden Gedichte des Buches Suleika aus dem West-östlichen Diwan
von den Gedichten der Freundin Goethes, Marianne von Willemer, ab-
sondern. Ganz besondere Perspektiven ergeben sich jetzt für die Säuberung
der Gesänge Homers von eingeschobenen Stellen. Denn vielfach hat es
der Zufall gefügt, dass der Interpolierende einen anderen Typus oder eine
andere Art des Gemütsausdrucks und damit einen anderen Rhythmus und
eine andere Sprachmelodie besitzt, als der Hauptverfasser. Nach ähnlichen
Gesichtspunkten hat .schon Eduard Sievers bezüglich mittelhochdeutscher
Gedichte Textkritik getrieben (vgl. Seite 152 ff. meines Buches). Für die
Bibelforschung wird die Typenforschung ebenfalls von nicht zu unter-
schätzender Bedeutung sein. Einige Beispiele hierfür habe ich ebenfalls
in dem genannten Buche (Seite 123 ff.) gebracht. Da es sich erst um den
Anfang einer neuen Wissenschaft handelt, so bewegen sich die Versuche
in dieser Richtung allerdings nur in bescheidenen Grenzen.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Ausführungen, die ledig'ich
einen Ueberblick geben sollen, auf Einzelheiten einzugehen, insbesondere
auf Einzelheiten über den Zusammenhang zwischen den seelischen Er-
regungen und der Tätigkeit des Kfirpers, auf nervenphysiologische und
muskelphysiologische Fragen, wie andererseits auf Fragen der künstlerischen
Wiedergabe und des künstlerischen Schaffens, wie der öffentlichen Kritik
dieser beiden. In allgemeinster Weise lassen sich jedoch die Ergebnisse
der neuen Forschung etwa in der Weise zusammenfassen, wie ich es auch
in dem Vorwort zu dem oben genannten Buche getan habe : Von jeher hat
Musik als die seelenvollste aller Künste gegolten. Der formgestaltenden
Macht des Gemütslebens untersteht ebenso das Sprachrausikalische
des geschriebenen und gesprochenen Wortes: Rhythmus, Tempo, Melodie
der Rede und Dichtung, der Sprachwerke schlechthin. Der Gemütsausdruck
gestaltet aber nicht bloss die hörbare Materie, er beeinflusst bestimmend
die sichtbare: die Werke der Malerei, Bildhauer- und Baukunst. Hand-
Die Seele als formgestaltende Kraft. 83
Schrift und Schriftarten. Der menschliche Leib selbst tritt uns in Form
und Gestalt in vieler Beziehung als ein Produkt der formenden Kraft des
Gemütslebens, als Gemütsausdruck entgegen.
Diese Macht des Gemütslebens über das Körperliche, den menschlichen
Leib und die ihn umgebende Materie ist keine Alleinherrschaft. Mehr oder
weniger herrschen daneben Verstand, Zweckmässigkeit und bestimmte
Naturgesetze. So gelten daneben die Gesetze der reinen physikalisch-
mechanischen Verursachung für alle Materie. So suchen wir meist ver-
geblich in den Werken der Technik nach Merkmalen des Gemütsausdrucks.
Gerade aber die Kunstwerke besitzen sie im höchsten Grade : Künstlerische
Formen gibt es nur als Aus drucks formen. Darüber hinaus trägt sehr
vieles, was der Mensch schafft, die Ausdrucksmerkmale, ohne künstlerisch
wertvoll zu sein. Wo nur immer das Gemütsleben, zumeist neben dem
Intellekt, den Menschen bei seiner Tätigkeit bestimmend beeinflusst, da
werden ganz bestimmte Merkmale des Ausdrucks erkennbar.
Im Besitze dieser Erkenntnis eröffnen sich uns neue Wege zur Seele.
Die Vielgestaltigkeit des Gemütslebens wird uns so recht an dem Reichtum
der hör- und sichtbaren Ausdruckstatsachen klar: jeder allgemeinen
Art des Fühlens, den Stärke- und Hitzegraden, den Beweglichkeitsverschieden-
heiten der Gemütserregung, Lust und Unlust, sind ganz bestimmte Klassen
von Ausdrucksmerkmalen beigeordnet. Zum grossen Teile machen sie die
Originalität eines Schaffenden aus. Denn jede Persönlichkeit verwendet
zum originalen Schaffen nur ganz bestimmte, „zugehörige" (adäquate)
Ausdrucksmittel und vermeidet die ihrer Gefühlsart fremden (inadäquaten).
Daraus ergeben sich für den schaffenden und wiedergebenden Künstler
mannigfache wichtige Forderungen. Es gibt keine stilgemässe "Aufführung
einer Ton- oder Sprachdichtung, wenn nicht von den Wiedergebenden
unter gleichzeitigem Nachfühlen des seelischen Ausdrucksgehaltes die zu-
gehörigen (adäquaten) Ausdrucksmittel nach Körperhaltung, Stimmklang,
Vortragsart und Pantomimik angenommen werden. Ein volles künst-
lerisches Geniessen ist nicht anders möglich als auf der Grundlage der
Gleichgestimmtheit des Gemüts, des seelischen Nachfühl ens. Die bis-
herige Vernachlässigung dieser Fähigkeit zum Nachfühlen hat die grössten
Ungerechtigkeiten gegen Tonschöpfer, Dichter und bildende Künstler zur
Folge gehabt. Ohne Nachfühlen kein Verstehen! Ohne die
Pflege des Gemütslebens überhaupt keine Kultur, keine
echte Kunst! Gerade der Künstler möge sich immer und immer dessen
erinnern, was er schon bisher beherrschte, aber oft unter dem Einfluss
rationalistischer Tendenzen zu vergessen drohte: dass der Urgrund aller
Kunst im Gemütsleben, nicht im Intellekt, nicht in der technischen Uebung
ruht. Der berechnende Orchestervirtuos der Moderne, für den es keine
technischen Schwierigkeiten gibt, steht weit unter dem unbewusst aus
6*
84 Otimar Rutz, Die Seele al^5 formgestaltende Kraft.
.«teinem Gefühlsleben schöpfenden und künstlerisch gestaltenden Tondichter
mit einfacher Technik und schlichtem Orchester. Die Ueberschätzung der
reinen Vernunft, der Gesetze der Anpassung und Zweckmässigkeit, ihre
einseitige Pflege haben auf künstlerischem Gebiet wie son.st viel geschadet
und systematisch ein Höchstes und Edelstes im Menschen unterdrückt,
verkümmert und in der allgemeinen Wertschätzung herabzusetzen versucht:
den Born des Fühlens, das Gennitsleben, das, unbekümmert um die nur
für die Sphäre des Intellektuellen und die Materie geltenden Gesetze der
Anpassung und Zweckmässigkeit, in seiner Eigenart durch Jahrtausende
gleichbleibend von Generation zu Generation sich vererbt und dadurch zum
vornehmsten Merkmal der Rasse wurde. Die allgemeine Bildung, die
Schulbildung und Erziehung wird in Zukunft ein Hauptgewicht auf die
Pflege des Gemütslebens und seines Ausdrucks (der Ex-
pression) legen müssen. Die einseitige logische Betrachtung aller Dinge
muss durch diese Pflege, den Expressionismus, wenn man diese
Richtung so bezeichnen will, ergänzt werden. Sonst wachsen die nüchtern-
logischen Pedanten in immer zunehmender Weise in allen Berufen zum
Schaden der Gesamtheit heran, droht der Intellektualismus noch mehr
als schon bisher die Weltanschauung zu verkümmern und in die Künste
einzudringen.
Die Gegner einer rein materialistischen Weltanschauung erhalten somit
ein wuchtiges Beweismaterial dafür, in wie hohem Grade das Seelisch-
Gemütliche über den menschlichen Körper und die Materie überhaupt
herrscht.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik.
Von Prof. Dr. J. A. Endres in Regensburg.
Die Dialektik im 11. Jahrhiuidert.
Als die Zeitverhältnisse im Verlaufe des 11. Jahrhunderts wieder einen
Aufschwung des geistigen Lebens ermöglichten, war es natürlich, dass sich
derselbe zunächst auf jenem Gebiete zeigte, welches seit dem Beginne des
Mittelalters aller höheren Bildung zugrunde lag, in den freien Künsten.
Während aber bisher diese letzteren fast ausschliesshch in den Klöstern
und an den Domstiften eine Freistätte gefunden hatten, womit sich wie
von selbst die Beziehung zum theologischen Gebiete, eine propädeutische
Hinordnung auf die praktisch religiösen, insbesondere liturgischen Zwecke
und das Schriftstudium ergab, trat hierin jetzt allmählich eine Aenderung
ein. Schon seit geraumer Zeit waren in Italien Laien oder Kleriker nie-
driger Grade auf eigene Faust als Lehrer aufgetreten und hatten sich mit
Erfolg der Verbreitung einer auf den freien Künsten beruhenden Bildung
angenommen. Mochten sie auch manchem ihrer Schüler den Zugang zum
geistlichen Stande ebnen, so war dies doch nicht ihre ausschliessliche Ab-
sicht. Wie sie selbst in ihrer Lehrtätigkeit eine gesicherte, angesehene
und einträgliche Lebensstellung innehatten, so konnten auch ihre Schüler
teils in der gleichen Lebensaufgabe, teils in den Kanzleien der Grossen,
teils auf dem juristischen Forum ein Fortkommen finden, das einst aus-
schhesslich an den Besitz einer Weihe oder an die Erlangung eines kirch-
lichen Amtes gebunden war. Von einigen der besten Männer der Zeit ist
bekannt, dass sie ursprünglich in der Laufbahn eines Grammatikers, Dia-
lektikers oder Reehtsgelehrten gestanden waren, so von einem Petrus
Damiani, Lanfrank, Anselm von Aosta.
Hiermit war ein mehr welthch gerichteter Wissenschaftsbetrieb von
selbst gegeben, welcher bald in Lektüre, Studium und Nachahmung der
schönen Literatur des Altertums, bald in dem juristischen oder, wie es
tatsächlich auch der Fall war, in dem medizinischen Fache sein letztes Ziel
ersah. Dieser selbständige Betrieb weltlicher Wissenszweige wie überhaupt
das Aufblühen der propädeutischen Disziplinen konnte leicht einen Rück-
schlag auf die Theologie ausüben. Mehr als ein Beispiel literarischer Be-
kehrung in jener Periode redet eine deutliche Sprache über den nach-
wirkenden Einfluss und eine andauernde Anhänglichkeit, welche nament-
86 J. A, Endres.
lieh das Trivium bei Klerikern und Mönchen sich erworben hatte, und zwar
auf Kosten des theologischen Studiums. In Italien, wo der Laienunterricht
und das Laienstudium eine bemerkenswerte Rolle spielte, scheint überhaupt
bis über die Mitte des IL Jahrhunderts hinaus der theologische Betrieb
mit der Pflege der freien Künste nicht gleichen Schritt gehalten zu haben ^).
Hingegen vernehmen wir in Deutschland die Klage über die Abnahme des
theologischen Studiums, über eine Pflege der Trivialfächer, bei der man
die Theologie vergass^).
Indes eine noch viel belangreichere Begleiterscheinung trat in jener
ganzen Entwicklung zu Tage. Die bevorzugte Pflege der Dialektik ge-
stattete allmählich der Vernunft, eine selbstbewusste und selbstvertrauende
Rolle zu spielen. Indem die Vernunft sich in diese Rolle hineinlebte,
begann sie dort, wo sie das theologische Gebiet betrat, sich das „ius
magisterii" aqzumassen ^). Es gab allmählich so eingefleischte Dialektiker,
dass sie nur mehr einen Massstab in der Beurteilung der Offenbarungs-
lehre gelten lassen wollten, nämUch den der Dialektik*). So wuchs eine
eigene, bisher unbekannte Art von Litteratentum heran, über dessen Existenz
wir nicht im Zweifel sein können. Zwar hat die Zeit, wohl in gerechter
Würdigung ihrer Geistesprodukte, kaum die eine und andere Spur von
diesen letzteren bis auf uns vererbt. Vielleicht bestand auch ihr Wirken
mehr in mündlichem Vortrag als schriftstellerischer Tätigkeit. Desun-
geachtet dürfen wir ihren Einfluss auf die Zeitgenossen nicht unterschätzen.
Sonst hätten ernste und bedeutende Männer sicher nicht Veranlassung
genommen, sich in ihren Schriften gleichsam auf Schritt und Tritt gegen
sie zu wenden.
Das eigentümliche Auftreten dieser Dialektiker erinnert in manchen
Punkten an die alte Sophistik. Zu der Kleinlichkeit und geringen Bedeutung
der sie beschäftigenden Fragen stand der Nachdruck, den sie auf diese
legten, der Wert, den sie ihnen beimassen, der selbstbewusste Ton, mit
dem sie sie deklamierten, in umgekehrtem Verhältnisse. Die Rolle, welche
') Vgl. Giesebrecht, De litterarum studiis apud Italos primis medii
aevi saeculis, Berlin 1R45, 15 und 21.
-) fere omne litterale defecit Studium, solumque avaritiae, invidiae et
contentionis remansit exercitium. Nam et si qui sunt, qui sub scholari ferula
Grammaticae et Dialecticae studiis imbuuntur, haec sibi sufficere arbitrantes,
divjnae paginae omnino obliviscuntur. Williram von Ebersberg im Prolog zu
seiner Paraphrase des Hohen Liedes, Oesterr. Vierfeljahrsschr. f. kath. Theologie
3 (1864) 96.
*) Vgl. Petrus Damiani, Opusc. 36 De divina omnipotentia etc. c. 5
M. 145, 603 D.
*) Dialecticos quosdam tarn simplices inveni, ut omnia sacrae scripturae
dicta iuxta dialecticae auclorilateni consiringenda osse decernerent. Otloh,
Dialog, de tribus quaestionibus, Prol., M. 146, 60 A.
Studien zur Geschichte der Früh«cholastik. 87
dereinst in der Sophistik ein übermütiger Subjektivismus und Skeptizismus
gegen die Vernunfterkenntnis spielte, übernahm bei ihnen der Rationalis-
mus gegenüber einem tausendjährigen religiösen Glauben. Der dialektische
Streit um des Streites willen scheint für manchen von ihnen ein Lebens-
element gewesen zu sein und der höchste Triumph, einfache Gemüter, wie
Petrus Damiani sich ausdrückt, in die Schhngen ihrer Fangschlüsse
zu ziehen.
Ein ziemlich deuthches Bild von der Eigenart dieser grammatici,
rhetores, dialectici, sophistae, philosophi oder wie sie immer heissen mochten,
ist uns in den Schriften eines Petrus Damiani überliefert, an dessen Richtig-
keit wir deshalb noch nicht zu zweifeln brauchen, weil Damianis eigene
Stellung zu den freien Künsten nicht von der rechten Mässigung und Ein-
sicht eingegeben war.
Das auf das Aeusserliche, rein Formelle gerichtete Interesse dieser
„saeculares" führt er einmal, nämlich am Eingange der in Briefform ge-
haltenen Abhandlung „Ueber das wahre Glück und die Weisheit'' in der
folgenden Weise vor: er wisse recht wohl, so meint er, wenn dieses
Schreiben in ihre Hände komme, so werden sie ihr Auge alsbald scharf
auf den Glanz der Sprache richten, sie werden untersuchen, ob die Dispo-
sition richtig durchgeführt sei, ob mehr das kunstmässig rhetorische Kolorit
hindurchschimmere, oder ob das Thema mit Hülfe von Sätzen aus der
hohen dialektischen Kunst durchgeführt sei, man frage überdies, ob kate-
gorische oder vielmehr hypothetische Syllogismen zum Beweisverfahren
herangezogen werden '). Es ist begreiflich, dass eine Geistesrichtung, die
sich im rein Formellen, Aeusserlichen, Kleinlichen verlor, zur Behandlung
einer Materie von Bedeutung sich nicht emporzuschwingen vermochte. Als
„scholaris infantiae naeniae"^) charakterisiert Damiani einmal die sie be-
schäftigenden Probleme. Diese Bezeichnung scheint um so zutreffender
zu sein, als wir selbst den erhaltenen Proben sonst weiterblickender
Geister, da wo sie sich im Geleise der gleichzeitigen Schulweisheit bewegen,
kaum ein viel besseres Prädikat zubilligen können. Wie geringwertig er-
scheint Gerberts von Aurillac „De rational! et ratione uti" und ungefähr
noch ein Jahrhundert später Anselms „De grammatico".
Mit dem tiefen Stande eines derartigen Wissenschaftsbetriebes bringt
Williram von Ebersberg andere Erscheinungen in Zusammenhang, die
*) Non ignoro, frater, quia cum mea epistola saecularium manibus traditur,
mox eloquentiae nitor curiose perquiritur; quam consequens sit disposilionis
ordo tractatur; utrum rhetoricae facultatis color eluceat, an sententias argu-
menta dialecticae subtihtatis involvant ; quaeritur etiam utrum categorici an
potius hypothetici, quae proposita sunf, per allegationes inevitabiles astruanl
syllogismi. Petrus Damiani, Üpusc. 58 De vera felicitate ac sapientia, Prol.,
M. 145, 831 A.
■^) Id., Opusc. 36 De div. omnipotenlia, etc. c. 12, M. 145, 615 A.
88 J. A. Endres.
herrschende Gewinnsucht, die Missgunst und den Streit unter seinen Ver-
tretern'), Erscheinungen, die in anderweitigen Zeugnissen ihre Bestätigung
finden. Auch ein Lanfrank war vor seinem Eintritte ins Kloster, da er noch
als Wanderlehrer Frankreich und die Normandie durchzog, nicht nur dem
Glänze des Ruhmes, sondern auch einer mehr greifbaren Anerkennung
seiner Tätigkeit nachgegangen 2). Die herrschende Missgunst (invidia) wird
von Otloh von St. Emmeram in seinem Dialogus de tribus quaestionibus
wiederholt hervorgehoben'').
Einer besonderen Beliebtheit scheint sich bei manchen Dialektikern
der Redestreit erfreut zu haben. Sichere Anzeichen sprechen dafür, dass
sich die Wander- und Winkellehrer hierbei nicht stets auf dem Boden der
freien Künste bewegten, dass sie den Streit mit Vorliebe auf das Glaubens-
gebiet hinüberspielten*). Hier war es dann nicht schwer, einfache Gemüter
zu verwirren und in Verlegenheit zu bringen, um so weniger, als selbst
die wewecktesten Geister der Zeit über das Verhältnis von Glauben und
Wissen weder klare noch richtige Vorstellungen besassen. Mochten die
Dialektiker auch nicht von der Absicht geleitet seirt, direkt gegen das
Christentum anzukämpfen, so schmeichelte es doch ihrer Eitelkeit, durch
tadellos formulierte Syllogismen Schwierigkeiten zu verursachen und wenig-
stens auf den Widerspruch hinzuweisen, der zwischen ihren Voraussetzungen
und Folgerungen und zwischen dem Glaubensgebiete bestand. So richteten
sie ihre Schlüsse bald gegen mehr untergeordnete Punkte in Schrift und
Glaube, bald kehrten sie dieselben gegen die Grunddogmen des Christen-
tums. In der Art, wie Lanfrank die Stelle 1 Kor 1, 17: Non enim misit
me Christus baptizare sed evangelizare, non in sapientia verbi, ut non
evacuetur crux Christi erklärt, schwebte ihm offenbar seine eigene Zeit
vor. Denn die „sapientia verbi" deutet er auf die Dialektik und das syllo-
') Fere omne litterale defecit Studium, solumque avaritiae, invidiae et
contentionis remansit exercitium. Prolog zu seiner Paraphrase des Hohen Liedes,
abgedruckt in Oesterr. Vierleljahrsschr. f. kath. Theologie 3 (1864) 96.
^ Chronicon Beccensis abbatiae, M. 150, 642 C. Andere hierher gehörige
Beispiele s. bei Giesebrecht, De litterarum studiis apud Italos primis medii
aevi saeculis, Berlin 1845, 17.
*) Otloh sagt von dem Dialoge : sine auctoris titulo volui proferre, ul si
forte quispiara invidiae vel delraclionis peste captus dicta huiusmodi rugosa
ut solet fronte torvaque facie legendo adirel, nesciens quem operis huius auctorem
persequeretur, invidendo vel detrahendo levius insaniret. Ihvidis namque et
superbis pene erit evitabile, ul cuiusqiiam nofae vilisque personae scripta vel
dicta absiiue irrisione possint agnoscere. Er ersucht seinen F'reund, dafür zu
sorgen, dass nicht ad aedificationem humilium solummodo prolata invidorum
et superborum liant ludibria. Dial. de trib. quaestionibus, Prol., M 146, 59 A.
*) Damiani redet von sacrilegi dogmatis inductores: aliis quaestionum
suariim tondiculas struunt ; simpliriter gradienlibus scandala frivolae inquir
sjiionis obiciunt. Opusc. 36 De divina omnipotentia elc. c. 5, M. 145, 602 D.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 89
oistische Beweisverfahren. Und offenbar brauchte er das Beispiel, womit
er zeigt, wie durch die Dialektik das Kreuz Christi zu nichte werde, nicht
zu erfinden, sondern nur Dialektikern seiner Zeit aus dem Munde zu nehmen •).
Wenn er an der gleichen Stelle seines Kommentars zum ersten Korinther-
brief als weiteren Zielpunkt dialektischer Angriffe die Geburt der Jungfrau
namhaft macht, so wird diese Nachricht durch Zeitgenossen bestätigt,
welche den darauf bezüghehen Syllogismus der Dialektiker ausdrücklich
erwähnen 2). Der nämliche Gegenstand kehrt bei Lanfrank noch an einer
anderen Stelle wieder und zwar in Verbindung mit der Menschwerdung
und der Unsterblichkeit der Seele, wo allerdings die Bezugnahme auf die
Zeit nicht direkt ausgesprochen ist, aber auch nicht völlig ausgeschlossen
erscheint ^).
Dass indes die einseitige Betonung der Dialektik keineswegs nur stets
dem einen Zwecke diente, schlichte gläubige Gemüter in Verlegenheit und
Verwirrung zu bringen, sondern dass sie in der Tat zu einem weite Kreise
berührenden und erregenden Konflikte mit der traditionellen Kirchenlehre
führte, dafür ist, um von dem später auftretenden Roscelin abzusehen,
ein bekanntes Beispiel der Kampf Berengars gegen die orthodoxe Abend-
mahlslehre.
Ehe wir uns jedoch jenen Männern zuwenden, welche bereits eine
lebhaftere Fühlung zwischen Dialektik und Theologie bekunden, haben wir
') Sapientiam ibi dialecticam dicit, per quam criix id est mors Christi eam
simpliciter intelligentibus evacuari videtur, quia Deus immortaUs, Christus autein
Dens, Christus igitur immortalis ; si autem immortalis, mori non potuit. Sic de
partu Virginis et quibusdam aliis sacramentis. Lanfr. In 1. Cor. 1, M. 150, 157 B.
^) Veniant dialectici sive potius ut putantur haeretici, ipsi viderint ; veniani,
inquam, verba trutinantes, quaestiones suas buccis concrepanlibus ventilantes,
proponentes, assumentes et, ut illis videtur, inevitabilia concludentes ac dicant :
Si peperit, concubuit; sed peperit; ergo concubuit. Petrus Dam. 1. c. c. 10,
M. 150, 611 B. Vgl. Manegold v. Lantenbach, Opusc. contra Wolfelmiim c. 14,
M. 155, 163 A: Constanti nemque consequentia proponebant : Si peperit, cum
viro concubuit. In dem gleichen vorhin angeführten Kapitel des P. Damiani
sind die Dialektiker noch durch folgende zwei Syllogismen charakterisiert: Si
lignum ardef, profecto uritur ; sed ardet ; ergo et uritur. Sed ecce Moyses videl
rubum ardere et non comburi. Kursus: Si lignum praecisum est, non fructilicai ;
sed praecisum est; ergo non fructificat. Sed ecce virga Aaron in tabernaculo.
M. 150, 610 D.
^) Zu Kol 2, 8 : Videte, ne quis vos decipiat per philosophiam et inaneni
fallaciam secundum traditionem hominum macht Lanfrank die Bemerkung :
Tradiderunt philosophi (quos homines vocat) creatorem onmium non posse lieri
creaturam ; hominem non potuisse nasci ex virgine ; hominem mortuum revi-
vere non potuisse; considerantes elementa raundi, has visibiles crealuras, in
quibus animalia, quae nascuntur, ex utriusque sexus commistione generanlur el
in quibus, quidquid morilur, ultra vivere impossibile est. M. 150, 323 B.
90 •' A. Endres.
eines Dialektikers zu gedenken, der sich vorherrschend auf seinem Gebiete
bewegend als ein typischer Vertreter der oben charakterisierten Wander-
lehrer gelten kann, Anselni von Besäte.
Aiiselm der Peripatetiker.
Von Anselm dem „Peripatetiker", wie er sich selbst nennt, wissen wir
nur so viel, als er uns selbst mitteilt. Er stammte aus einer sehr ange-
sehenen Familie der Lombardei und widmete sich der Mailänder Kirche.
Seine Aeusserungen lassen jedoch nicht ersehen, welchen Weihegrad er
besass und welche kirchliche Stellung er einnahm. Zu Parma, wo allem
Anscheine nach die freien Künste damals, in der ersten Hälfte des 11. Jahr-
hunderts, mit grossem Eifer gepflegt wurden, oblag er seinen Studien.
Als seine Lehrer nennt er mit Stolz den Philosophen Drogo von Parma
und dessen Schüler, den Rhetor und Juristen Sichelm von Reggio. Nach-
dem er eine Schrift „De materia artis", wie Dümmler annimmt, ein Lehr-
buch der Rhetorik, und eine zweite, welche uns allein noch vorhegt, mit
dem Titel „Ret(h)orimachia", eine Beispielsammlung zu jener ersten, verfasst
hatte, begab er sich mit seinem „Rednerkampfe" ausgerüstet auf die Wander-
schaft durch Italien, Hurgund und Deutschland. In allen Städten, die er
berührte, — er nennt unter anderem Basel, Augsburg, Bamberg, Mainz,
— wies er mit stolzem Selb.stbewusstsein auf das kostbare Erzeugnis seines
Geistes hin, das die Billigung eines Drogo gefunden hatte. Auf dieser
eigenartigen Gelehrtentournee beseelte ihn nicht nur die Sorge um Ruhm
und Anerkennung, sondern die besondere Absicht, am Hofe Kaiser Hein-
richs Hl. unter dessen Klerus aufgenommen zu werden, ein Ziel, dessen
Erreichung die Anwartschaft auf hohe geistliche Würden in sich schloss.
Indes scheint sich ihm nur jener erste Wunsch erfüllt zu haben. Sein
Name lässt sich wenigstens nirgendwo unter den geistlichen Würdenträgern
des 11. Jahrhunderts ausfindig machen, wahnscheinhch deshalb, weil ihn
ein früher Tod an einer glänzenden Laufbahn hinderte, vielleicht auch des-
halb, weil die Zeitgenossen seiner Geistesart nicht jenen hohen Wert bei-
zumessen verstanden wie er selbst.
Die „Retorimachia" Anselms ist nicht ohne Bedeutung für die Wür-
digung des geistigen Lebens im 11. Jahrhundert. Wäre sie uns nicht
erhalten, so könnten wir vielleicht die Auslassungen eines Petrus Damiani
über die Grammatiker, Rhetoren und Dialektiker seiner Zeit als übertrieben
zu betrachten geneigt sein. Sie liefert uns eine Bestätigung der Schilderung,
welche der berühmte Kardinal von jenen seinen Zeitgenossen entwirft.
Da Damiani zum Teil am nämlichen Orte wie Anselm, in Parma, seine
Ausbildung genoss, so könnte man geradezu zur Vermutung kommen, er
wolle sich zuweilen direkt auf Drogo und seine Schule beziehen.
Von der „Retorimachia" erhält man den Eindruck, als ob sie eine
Maturitätsprüfungsarbeit darstellen sollte, bei welcher es für den Verfasser
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 91
darauf ankam, von den verschiedenen Kenntnissen in Grammatik, Rhetorik
und Dialektik eine Anwendung zu machen und eine Probe abzulegen. Der
Eindruck wird verstärkt durch den wiederholten Hinweis Anselms auf die
Approbation der Schrift durch seinen Lehrer Drogo.
Das Thema der Schrift bildet die Zurückweisung ehrenrühriger Angriffe
eines Gegners. Dadurch bekundet sie deutlich das praktische Ziel, in das
der Trivialunterricht Oberitaliens damals hauptsächlich ausmündete, die
juristische Verwertung. Die Ausführung Anselms kann nicht als geschmack-
voll bezeichnet werden. Als Gegner lässt er seinen Vetter Rolland auf-
treten, einen ehrenwerten Mann, wie er selbst gesteht, dem er aber ehren-
rührige Aeusserungen in den Mund legt und den er schliesslich dadurch
besiegt, dass er seine ehrenrührigen Aeusserungen überbietend, ihm selbst
die schändlichsten Verbrechen insinuiert. Auf die Darstellungsweise passt
ganz genau, was Giesebrecht von der damaligen Literatur Italiens allgemein
sagt : „Affectatum et durissimum genus dicendi scholam redolet grammati-
cam, et tarn contorta ac fucata plerumque oratio est, ut Oedipus opus sit
ad Sphingis aenigmata solvenda" ^).
Doch betrachten wir die Schrift unter dem Gesichtspunkte der Dia-
lektik. Hier fällt auf, dass er der Dialektik unter den Fächern des Triviums
die oberste Stelle einräumt und nicht der Rhetorik, wie man erwarten
sollte, eine objektire Wertschätzung, die bei Anselm auch dadurch zum
Ausdruck kommt, dass er sich selbst „Peripateticus" nennt. Im zweiten
Buche seiner „Retorimachia" erzählt er ein Traumgesicht, bei dem er zu
den elysischen Sitzen (sedes Helysiae) entrückt ward. Schon umfangen
ihn die Heiligen zum Friedenskusse. Aber alsbald treten drei wohlgestaltete
Jungfrauen auf und reklamieren Anselm sich und der Erde. Die Dialektik
ist die erste, welche ihn anredete, sie ist auch die imposanteste 2). Durch
ihr von der Rhetorik und Grammatik unterstütztes Eingreifen wird Anselm
der Erde wieder gewonnen. Hören wir, mit welch überzeugenden und für
Anselm zugleich schmeichelhaften Argumenten die dialektische „Muse"
ihren Liebling zurückfordert. Sie rühmt ihn als der Musen Führer (dux
noster inclite) und fragt, warum er sie, die lange Verlassenen (diu dere-
Hctas) im Stiche lassen wolle. Sie bezeichnet ihn anbetrachts seiner das
Gesamtgebiet der dialektischen Kunst umspannenden Kenntnis geradezu als
unentbehrlich. Denn : „Post te quidem nuUus erit, ui tu, nisi qui fuerit tu,
tu autem aliquem impossibile est fieri. Ut tu igitur, necesse est non fieri,
quia si impossibile est esse, necesse est igitur non esse"^). Schliesslich
stürzen sich die drei Musen auf ihn. Die Rhetorik umfängt ihn bedeutungsvoll
^) De litterarum studiis apud Italos. 22.
") Quarum una erat longissima, ut videretur vertice ipsa pulsare sidera,
quae, ut post cognovimus, fuit Dialectica. Dümmler 40 (vgl. Boethius, De consol.
philos. 1. I, prosa I, M. 63, 588 A).
*) Dümmler 40.
92 J. A. Endres.
am Halse, die Dialektik um die Brust, die Grammatik an den Füssen.
Jede macht gegenüber den Seligen ihr Recht auf ihn geltend, wobei die
Dialektik insbesondere betont, dass das Körperliche mit dem Unkörperlichen,
das Sterbliche mit dem Unsterblichen nicht zusammen bestehen kann').
So konsequent versteht nun freilich Anselm das Widerspi'uchsgesetz
nicht immer festzuhalten, wie die Dialektik ihn selbst durch dasselbe. Es
kommen ihm einmal bedenkliche Zweifel an einem aristotelischen Lehr-
punkte. Aus Aristoteles" Lehre wisse er, so führt er aus, dass durch die
Vermischung zweier Spezies keineswegs eine dritte erzeugt werde, dass
besonders die Natur der Dinge zwei konträre Gegensätze an ein und der-
selben Sache nicht dulde, und um so weniger, dass sie zusammen ein
Wesen hervorbringen. Allem Anscheine nach hat hier Anselm das 10. und
11. Kapitel der aristotelischen Kategorien im Auge. Der Gedanke einer
„Vermischung der Spezies" und der Erzeugung eines neuen Wesens durch
konträre Gegensätze kommt daselbst allerdings nicht zum Ausdrueke, wohl
aber, dass es unmöglich sei, dass zwei konträre Gegensätze an ein und
derselben Sache sieh finden. Denn wenn es auch ein Mittleres gebe
zwischen konträren Gegensätzen, sei es nun, dass wir dafür eigene Namen
haben, wie „grau" und „rot" als Mittleres zwischen „weiss" und schwarz",
oder nicht, so komme es doch der Eigenart jenes Mittleren zu, weder das
eine noch das andere der Extreme zu sein.
Dagegen entdeckt nun unser „Peripatetikus" eine Instanz. Durch den
Sprung von der logischen zur physischen Ordnung, — denn offenbar
schwebt ihm der Gedanke der Farbenmischung vor — , kommt er zu der
Behauptung, dass weiss und schwarz durch ihre Mischung „rot oder grau"
bewirken, dass sonach in jener Art von Mittlerem tatsächlich konträre
Gegensätze sich zusammenfinden. Ja, indem er von der Mischung der
Farben wieder zur Verbindung von Begriffen zurückkommt, stellt er die
Erzeugung jenes Mittleren kühn unter eine allgemeine Regel : „alle Spezies
entslehen durch die Verbindung zweier oder mehr Spezies, wie Mensch
aus vernünftig und sterblich" ^).
^) Corporeuni enim cum incorporeis, mortale cum imiriortalibus non esse
consistere dixit Diakctica. Dümmler 41.
') Arislotelica didicimus disciplina duarum specierum commistione tertiain
gigni minime. Perum etiam naturam pati omnino non posse, duo contraria
simul in fodern esse, vel, quod impossibilius, eandem essentiam procreare.
Quod verum sit neciie, quaerimus. Si verum, obicitur albuni et nigrnm duas
species sua commistione rubrum palliduinve conlicere et duo contraria simul
in eodeni esse, cum etiam omnes species coniunctione duarum aut plurium
videantur fieri specierum, sicut homo ex rationabili et morlali. Quae quamvis
dicanlur ditferentiae, vera tarnen ratione, sicut et alia multa qualia, sunt species
in sno dienere. Quid ijihir? Falsane prit tarn studiosae auctoritatis propositioV
Dümmler 34.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 93
Diese Entdeckung inbezug auf das Mittlere zwischen den Gegensälzen
war Anselm wertvoll. Sie bewahrte ihn und seinen „Rednerkampf'' auf
seiner dialektischen Kunstreise einmal vor einem drohenden Misserfolge.
Er selbst berichtet davon seinem Mei.ster Drogo in einem Briefe, auf den
er die Adresse setzt: Drogoni magistrissimo et eius discipulissimis Anselraus
gratia dei et vestra imperatorius capellanus.
Er erzählt, wie er sein Werk bei sich getragen und in allen Städten,
durch die er kam, als durch Drogo approbiert vorgewiesen habe. Ganz
Gallien, Burgund, Sachsen, selbst das barbarische Franken seien nur eine
Stimme des Lobes darüber gewesen. Nur Mainz war so undankbar, ihm
den verdienten Beifall anfänglich vorzuenthalten, teils aus Neid über die
Drogonische Schule und die italienische Gelehrsamkeit überhaupt, teils aus
zweifelnden Erwägungen anbetrachts des jugendlichen Verfassers und eines
so hochbedeutsamen Werkes. Ins allgemeine Lob einzustimmen, dazu war
die Moguntia zu stolz, andererseits wäre es doch zu auffällig gewesen, ein
gegenteiliges Urteil abzugeben. So stand sie wie eine Bildsäule da, sich
weder zu einem Ja noch Nein entschhessend ^).
Hier war es, wo Anselm seine dialektische Entdeckung zu Hülfe kam.
Er demonstrierte ihr nämlich in einer, wie er selbst gesteht, puerilis non
tamen inutilis disceptatio, dass es unmöglich sei, Lob oder Tadel zu unter-
lassen. Und wie gelang ihm das ? Sehr einfach. Die Moguntia teilte mit
ihm die Ansicht, dass es ein Mittleres gebe zwischen Ja und Nein, Lob
und Tadel. Nur war ihr dieses Mittlere keines von beiden (neutrum),
weder Lob noch Tadel, so dass sie auf diese Weise weder das eine noch
das andere zu tun brauchte. Anders Anselm. Das Mittlere besteht nach
ihm aus beiden Extremen zugleich. Mit diesem Mittleren ist also beides
zugleich gegeben, aber eben damit auch jedes einzelne. Eines von beiden
muss also geschehen; denn sei es, dass seine Gegnerin tatsächUch nur
eines oder beides zugleich tue, so sei es unmöglich, eines nicht zu tun,
denn mit ihrem beabsichtigtem Medium (= neutrum) käme sie ja auf
nichts hinaus ^).
Wir haben vielleicht Anselm dem Peripatetiker zu viel Aufmerksam-
keit geschenkt. Allein er repräsentiert eine Klasse von Männern, von
denen uns die Literaturdenkmäler fehlen, eine Klasse, bei welcher Dialektik
und Sophistik nahe verwandt, ja verschwistert erscheinen. Petrus Damiani
hat für die von den Zeit- und Geistesgenossen Anselms behandelten Fragen
mit Recht kein besseres Wort als „scholaris infantiae naeniae".
V Dümmler 57.
^) Dümmler 57 f.
Rezensionen und Referate.
Metaphysik.
Kausale und konditionale Weltanschauung:. Von Max Ver-
worn. Jena 1912, G. Fischer. 46 S. 1 A
Verworn, der Bonner Physiologe, ist in philosophischen Kreisen als Ver-
treter des Psychomonismus bekannt. Er nimmt auch in diesem Vortrag wieder
Stellung zu einem philosophischen Problem, zum Problem der Ursache.
Verworn erörtert zunächst den Ursache- und Bedingungsbegriff und untersucht
dann die Tragweite der konditionalen Betrachtungsweise der Dinge für die
Bildung einer Weltanschauung.
I. Der Ursachebegriff. Die gewöhnliche Auffassung unterschied bei
der Erklärung der Erscheinungen Ursache und Bedingung und hielt, wenn die
Ursache für einen Vorgang oder Zustand gefunden war, den Vorgang oder
Zustand für erklärt. Diese Auffassung hält Verworn für verfehlt. Wenn die
Ursache eines Vorgangs gefunden sei, sei der Vorgang noch lange nicht auf-
geklärt, es sei nur ein einziger Faktor aufgedeckt, von dem der Vorgang
bestimmt werde, in Wirklichkeit aber sei der Vorgang und Zustand von zahl-
reichen anderen Faktoren genau ebenso abhängig, ja es sei oft sehr schwierig,
unter den bestimmenden Faktoren des Vorgangs die Ursache herauszufinden.
Mit der kausalen Betrachtungsweise stehe man dem wirklichen Leben oft hilf-
los gegenüber. Mit der Annahme einer einzigen Ursache für einen Vorgang
komme man nicht aus. Kein Vorgang oder Zustand in der Welt sei von einem
einzigen Faktor allein abhängig. Daher habe die Naturwissenschaft dem Ur-
sachenbegriff den Bedingungsbegriff an die Seite gestellt. Die gewöhnliche Auf-
fassung eines Vorgangs sei nunmehr die. dass er einerseits von seiner Ursache,
andererseits von einer Reihe von Bedingungen abhängig sei. Die Ursache
bringe den Vorgang nur dann hervor, wenn eine gewisse Anzahl von Be-
dingungen realisiert sei. Die Frage, ob wir unter den Faktoren, welche einen
Vorgang oder Zustand bestimmen, dem einen eine grössere Bedeutung einzu-
räumen berechtigt seien als den andern, und ihn als ,,Ursache" den „Be-
dingungen" gegenüber zu stellen, verneint Verworn. Unter den zahlreichen
Faktoren, von denen der Vorgang abhängig sei, gelte der als Ursache, der
zeitlich zuletzt zu den übrigen hinzutrete. Aber man gewinne nichts für das
Verständnis und die feinere Analyse eines Vorgangs, wenn man den
zuletzt hinzutretenden Faktor als seine Ursache bezeichne. Er sei eine Be-
dingung wie die anderen Faktoren, von denen der Vorgang abhängig sei. Die
Bedingungen, von denen ein Vorgang oder Zustand abhängig ist, seien völlig
M. Veiworn, Kausale und konditionale Weltanschauung. 95
gleichwertig unter einander. Es sei Mystizismus, unter den Faktoren eines
Vorgangs solche von verschiedener Wertigkeit wie Ursache und Bedingungen
zu unterscheiden. Man müsse endlich den Ursachenbegriff als Erklärungs-
prinzip aus der wissenschafthchen Betrachtungsweise eliminieren und an seine
Stelle die streng konditionale Betrachtungsweise setzen. Das sei die exakteste
Form der Darstellung aller Gesetzmässigkeit. Die Aufgabe aller wissen-
schaftlichen Erforschung alles Seins und Geschehens könne
lediglich in der Ermittelung seiner Bedingungen bestehen.
II. Nach dieser Darlegung der Hauptsätze des Konditionismus prüft Ver-
worn die Frage, wieweit uns die konditionale Betrachtungsweise der Dinge bei
der Bildung einer Weltanschauung bringe. Verworn glaubt, dass der Kondi-
tionisraus etwas mehr sei als eine abstrakte Darstellungsmethode, er verwerfe
jeden mystischen Faktor und sei dadurch dem Kausalismus unendlich über-
legen, besonders aber lasse er viele Probleme verschwinden, die zu unfrucht-
baren Diskussionen geführt iiaben. Verworn will das durch Anwendung der
konditionalen Betrachtungsweise auf einige fundamentale Fragen der Welt-
anschauung zu beweisen versuchen.
1. Der Konditionismus löse die Frage nach den Beziehungen der
psychischen zu den materiellen Vorgängen. Wenn die sämtlichen
Bedingungen für einen Bewusstseinsvorgang eimittell seien, so sei der Bewussl-
seinsvorgang damit wissenschaftlich vollständig erforscht. Im streng empirischen
Konditionismus sei kein Platz für eine Vorstellung wie die, dass in einer
materiellen Ganglienzelle in irgend einer geheimnisvollen Weise mit ihren Atomen
verknüpft und mit deren Bewegung parallel gehend eine immaterielle Seele
wohne. Der Konditionismus ersetze den scheinbaren Dualismus des naiven
Denkens durch eine rein monistische Auffassung.
2. Ebenso löse der Konditionismus die Frage nach den Prinzipien des
Geschehens im lebendigen Organismus. Da sei kein Suchen nach
der Ursache der Lebensäusserungen, keine Fiktion vom Walten hypermecha-
nischer Faktoren, keine Entelechien ä la Driesch nötig, damit verschwinde auch
die unglückliche Streitfrage bezüglich der inneren und äusseren Ursachen der
Entwicklung.
3. In gleicherweise verschwinde vor dem Konditionismus die Lehre
von der Willensfreiheit als Wahlmöglichkeit. Es gebe für die Handlungen
des Menschen keine Wahlmöglichkeit, die Handlungen des Menschen seien immer
der Ausdruck der momentanen konditionalen Situation in den Neuronen seiner
Grosshirnrinde.
4. Auch das Vererbungsproblem löse sich durch den Konditionismus ;
ebenso wirke die konditionale Denkweise in der Pathologie befreiend und
erkläre Krankheit und Tod nicht durch eine einzige Ursache, sondern durch
das ganze Ineinandergreifen aller Bedingungen.
5. Auf dieselbe Weise werde die Frage nach der Unsterblichkeit der
Menschenseele durch die klare Denkweise des Konditionismus gelöst. Die Frage
nach dem Fortleben der Seele sei die Frage nach dem Fortbestehen von Be-
vvusstseinsvorgängen nach dem Tode des Individuums. Für eine konditionale
Auffassung seien die Bewusstseinsakte bedingt durch die Prozesse in den
96 C. Gutberiet.
Fiestandteilen der Grosshirnrinde. Mit dem Forltall itirer Ijediugungeu Iiüien
diese Bewusstseinsvorgänge auf. Also kein Fortleben nach dem Tode.
Soweit Verworn. Wir bemerken kurz : Der ganze Konditionismus ist
lediglich eine Darstellungsform, eine von tier gewöhnlichen Form abweichende
Bezeichnung. Man nennt auch das, was man sonst Ursache nannte, Bedingung
und liat dann zwar dem Worte nach keine Ursache mehr, sondern nur Be-
dingungen. In Wirklichkeit ist aber damit die Unterscheidung von Ursache und
Bedingung nichl aus der Welt gescliafft. Diese Unterscheidung ist vielmehr
nichts Gleichgültiges, sondern etwas sehr Wichtiges. Ich kann alle Bedingungen
einer Erscheinung aufzählen, damit ist die Erscheinung noch keineswegs voll-
kommen erklärt und begriffen; dazu ist vielmehr noch eine Ursache nötig.
So mögen die Bedingungen der Bewusstseinsvorgänge Gehirn und Nerven sein,
aber Gehirn und Nerven allein erklären die Bewusstseinsvorgänge keineswegs
vollständig — wir haben noch eine geistige Ursache, ein Ich, eine Seele nötig,
um die Bewusstseinsvorgänge zu begreifen. Aehnlich ist es mit der Willens-
freiheit. Gewiss ist jede Handlung durch Bedingungen determiniert, aber
nicht bloss durch diese; es ist noch ein Ich nötig als Ursache, das unter den
verschiedenen Motiven eines zum ausschlaggebenden macht. Es geht eben nun
einmal nicht an, causa und conditio zu verwechseln, oder die causa zu elimi-
nieren, indem man sie conditio tauft. Damit entfallen auch all die Konse-
quenzen für die Weltanschauung, welche Verworn leichtherzig ziehen zu
müssen glaubt.
Würzburg. Prof. Dr. R. Stölzle.
Monistische Einheitsbestrebuiigen und katholische Welt-
anschauung. Von Fr. Klimke. Freiburg i. B. 1912, Herder.
Nachdem der VI. in seinem hervorragenden Werke : „Der Monismus und
seine philosophischen Grundlagen" ') theoretisch eine gründliche Abrechnung
mit allen Formen des Monismus gehalten, wendet er das Thema in vorliegendem
Schriftchen nach der praktischen Seite. Enthält ja dasselbe einen Vortrag, der
für die Festversammlung der Akademischen Piusvereine Deutschlands während
des Katholikentages in Mainz 1911 bestimmt war, aber wegen Kränklichkeit des
Vf.s nicht gehalten werden konnte. Er zeigt die Anstrengungen, welche der
Monismus, namentlich der „Bund", für seine Sache macht, gibt aber auch zu-
gleich die Mittel an, welche wir demselben gegenüber mit Energie ins Werk
setzen müssen.
Er zeigt zunächst die Notwendigkeit, „die Uebertreibungen in der zentri-
petalen Tendenz des modernen Monismus aufzudecken, sowie die Stellung der
katholischen Weltanschauung derartigen Strömungen und Gefahren gegenüber
genauer zu formulieren".
Es sind hauptsächlich drei starke Uebertreibungen, welche der Monismus
sich zu Schulden kommen lässt.
') Eine Rezension dieses bedeutenden Werkes, welche die Redaktion be-
stellt hat, ist bis jetzt nicht eingegangen.
Monistische Einheitsbestrebungen und kath. Weltanschauung. i»7
An erster Stelle ist „seine Uebertreibung des subjektiven Emheilsbedürf-
nisses mit Hintansetzung der objektiven Wirklichkeit zu betonen". Die zweite
Uebertreibung liegt in einseitiger Betonung „der objektiven Einheitsindizien
mit Hintansetzung des strengen und nüchternen Kritizismus, der logischen und
ontologischen Prinzipien". Der dritte Fehler liegt in der „Uebertreibung empi-
rischer Gesetze und Faktoren mit Hintansetzung transzendenter Gesichtspunkte
und metaphysischer Prinzipien".
Die gemeinsame Wurzel wird mit Recht vom Vf. in dem „krank-
haften Taumel reiner Diesseitigkeit", welchem „die gesamte moderne Geistes-
lage der Kulturmenschheit" entspricht, erkannt.
Gibt es bei dieser allgemeinen Verwirrung in die düstere Nacht des
absoluten Diesseitskultes kein rettender Leuchtturm mehr? Ja. .,Es ist imsere
heilige katholische Religion".
Aber wir müssen arbeiten : „An erster Stelle bedürfen wir heute mehr als
je vielleicht des ernsleslen, vollsten, rückhaltlosesten Anschlusses an die
Quellen übernatürlichen Lebens ', an die Kirche. Und wenn unsere Gegner
sich solidarisch zu gemeinsamem Angriff zusammenschliessen, 00 bedarf es von
unserer Seite „noch mehr Zusammenschluss, noch mehr Einheitlichkeit, noch
mehr gemeinsame Arbeit".
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
Naturphilosophie.
Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft. Von Dr.
L. Staudenmaier. Leipzig 1912, Akademische Verlags-
gesellschaft.
Aus dem Titel der Schrift wird der Leser kaum den eigentlichen Inhalt
erkennen können. Er will sagen: Auf experimentellem Wege hat der Vf. alle
sogenannten magischen Erscheinungen naturwissenschaftlich erklären können.
Er war dazu in besonderer Weise befähigt, da er, als Professor der Experimenlal-
chemie im Lyzeum in Freising mit den naturwissenschaftlichen Methoden wohl
vertraut, zugleich als Theologe die sogenannten magischen Erscheinungen
ziemlich eingehend kennen gelernt hatte.
Er betrachtet die Magie nicht als Dilettantismus, sondern als ernsten Be-
ruf, in welchem er, wie dies in jedem andern der Fall ist, manche Schwierig-
keiten und Unannehmlichkeiten ertragen musste. Und zwar muss es ein wissen-
schaftlicher feeruf sein, „der eine entsprechende Vorbildung verlangt. Der
Magier muss im Gegensatz zu den meist ungebildeten Medien ein gewisses
Mass von allgemeiner, namentlich naturwissenschafthcher Bildung besitzen . . .
Selbstverständlich träume ich dabei bereits von Professuren der Magie an den
Universitäten. Die Magie wird dann zweifellos allmählich eine grosse Be-
deutung erlangen. Sie wird für das Verständnis zahlreicher Religionen, die ja
meistens Magier begründeten, von Wichtigkeit sein". „Spiritismus und Theo-
sophie, zu deren wissenschaftlicher Auffassung die Magie den Schlüssel liefert",
haben eme selbständige Religion mit vielen Millionen Bekennern, den Buddhis-
mus, begründet.
Philosophisches .Tahrbucli 1913 . 7
98 G. Gutberiet.
„Die Kenntnis des Traumlebens, Somnambulismus, Hypnotismus, des ani-
malischen Magnetismus, des Mystizismus, Spirili.snius und Okkultismus über-
liaupt wird durch die Magie eine mächtige; Förderung erfahren. Kann man
doch die entsprechenden Vorgänge an sicii selber mehr oder weniger gut in
völlig wachem und der Selbstbeobachlung fähigem Zustande herbeiführen".
Begleiten wir den Vf. ein wenig auf diesen etwas tiolperigen, für den
Pfadfinder selbst oft dornigen Wegen.
Von einem Freunde gedrängt, Experimente über einige bei den spiritisti-
schen Sitzungen vorkommende Phänomene anzustellen und speziell über die
Art und Weise, wie die Geisterschriften systematisch eingeübt werden, setzte
sich unser Naturforscher mehrere Tage lang ruhig mit Papier und Bleistift hin,
eine Zeit lang wartend, ob nicht die HamI sich bewege und zu schreiben
beginne. Aber da nichts geschah, gab er die Sache wieder auf, bis ihm der
Herr wieder stark zusetzte. Er begann von neuem und schon nach wenigen
Tagen spürte er einen Zug in den Fingerspitzen, den Bleislift seitwärts und
abwärts zu bewegen. Dieser Zug wurde in den nächsten Tagen immer deut-
licher, und er verstärkte ihn durch die Konzentration der Gedanken und mög-
lichst leichtes Halten des Stiftes. Nach und nach ging der Prozess immer
leichter, sodann bewegte sich der Slifl nach allen Richtungen und beschrieb
die sonderbarsten Schnörkel. Daraus suchte er eine planmässige Schrift zu
erhalten, um die Urheber der Zeichnungen, welche nach den Spiritisten Geister
Verstorbener sein sollen, herauszufinden.
Als er eines Abends den Bleislift wieder hielt, begann er zu schreiben:
„Julie Norne ist da". Diesen Namen hatte er als Geist eines Verstorbenen in
spiritistischen Schriften gelesen. In Gedanken fragte er, ob ein Geist da sei,
es wurde „Ja" geschrieben. Er stellte nun mehrere Fragen, namentlich aus
der Chemie ; er erfuhr aber nur ihm Bekanntes. Da der Geist ermüdet schien,
wurde die Unterhaltung abgebrochen. In den nächsten Tagen kam derselbe
Geist wieder; St. hegte aber Zweifel an seiner Realität, weil er bei den Ant-
worten selbst mitdenken musste, und die Worte, die folgen mussten, immer
schon bei ihm in Bereitschaft waren; der Eindruck freilich war der wie von
einem Fremden. In den nächsten Tagen weciiselte der Geist manchmal sein
Wesen, es kamen auch andere und erklärten : „Werner ist da", „Statl'ord ist da",
Namen, die er bei den Spiritisten gelesen halte. Die Zahl der sich Meldenden
wurde immer grösser, ihre Antworten immer tlacher, selbst moralisch defekte,
sexuelle, bösartige kamen vor. Aus dem iniu-ren Vorherwissen entwickelte sich
ein ,, inneres" Vor her hören, das auch nahe dem Uhr lokalisiert wurde. Dadurch
trat die Wirkung des Bleistiftes mehr zurück. Er fulir mechanisch die einzelnen
Buchstaben nur andeutend über das Papier hinweg. Dann legte er den Stift
weg, horchte nur auf die innere Stimme und bewegte etwas die drei Finger,
die den Stift gehalten iialten. Schliesslich wurde auch das überflüssig, und er
konnte auch so mit den Geistern sich unlerhallen.
Aber die eigene innere Stimme wiu'de immer aufdringlicher, spöttisch,
zänkisch. Gegen seinen Willen wurde ein unerträglicher Streit untei halten.
Vielfach waren die Angaben der sich meldenden Personen vöUig erlogen.
Wenn er ihnen Vorwürfe darüber machte, entschuldigten sie sich. Wir können
nicht ganz anders, wir sind böse Geisler, wir müssen lügen. Sie wurden auch
L. Staudenmaie r, Die Magie als experimenteile Naturwissenschaft. 99
grob : „Du kannst mir den Buckel naufsleigen, du Duu.mkopf, warum hast du
uns gerufen. Du quälst uns ständig". Schon der geringste unvorsichtige Ge-
danke an sein Inneres bewirkte manchmal einen Wutausbruch der inneren
Stimme. Nach dem Rate von Spiritisten, sich an einen bestimmten Geist zu
halten, verkehrte er wieder mit Julie Norne. Allein nachdem er eine Zeit lang
mit ihr gesprochen hatte, erfolgte mit ihrer oder auch anderer Stimme die
Antwort: „Wir haben dich nur zum Narren halten wollen, wir haben ge-
logen". Die Entartung ging nach allen Richtungen hin, endlos neue Geister
meldeten sich.
Daneben traten auch Gesichte auf. Zunächst fühlte er einen starken Zug
nach den Augen, ähnlich dem in den Fingern beim mediumistischen Schreiben,
es wurde ihm dunkler vor den Augen beim Hören der Stimmen, später sah er
aber wirkliche Gestalten. Als er eines Nachts in völlig wachem Zustande sich mit
den inneren sich anmeldenden Stimmen unterhielt, sah er beim Umwenden im
Bette neben sich den Kopf eines hübschen, vor kurzem gesehenen Mädchens
in verklärter Schönheit hervorragen. Da nun auch eine rauhe, unheimliche
Stimme ihm spöttisch zuflüsterte, merkte er, um was es sich handelte und wies
das Phantom schimpfend ab. Später sagte ihm eine naive freundliche Stimme :
„Das Fräulein ist wieder fort". Die sexuelle Gefahr bestimmte ihn, der Julie
Norne den Laufpass für immer zu geben.
Dagegen schienen manchmal alle Teufel los zu sein. Teufelsfratzen sah
er längere Zeit mit aller Klarheit und Deutlichkeit, die schrecklichsten Drohungen
wurden von ihnen ausgestossen. Einmal hatte er im Bette deutlicli das Gefühl,
als wenn jemand ihm eine Kette um den Hals schlinge, und hörte eine innere
unheimliche Stimme: „Jetzt bist du mein Gefangener. Ich werde dich nicht
mehr loslassen. Ich bin der Teufel". Auch nahm er einen sehr Übeln Schwefel-
wasserstoffgeruch wahr.
In der Ueberzeugung, wichtige Entdeckungen zu machen, hatte St. die
Experimente mit grösster Anstrengung bis zur Schmerzhaftigkeit fortgesetzt.
Dies ruinierte seine Gesundheit, und er mussle seine Lebensweise ändern.
Damit nahm aber auch seine Mediumität ab. Dieselbe war immer am inten-
sivsten, wenn er recht abgespannt war.
Auf Anraten des Arztes ging er auf die Jagd, aber er konnte die Hallu-
zinationen und das Grübeln nicht los werden. Seine feindseligen Geister wurden
immer wütender. Monate lang sass ihm ein Kerl, wenn er nachts nach Hause
ging, auf dem Nacken, machte spöttische Bewegungen, sumste. Noch schlimmer
ging es zu Hause. Es erfolgte ein Schlag ans Fenster, auf den Boden, an die
Wand, auf die Bücher, ein anderes Mal hörte er einen Knall, ein Krachen.
Schon früher hatte er die Wände wie mit einem Federwisch abklopfen hören,
was auch seine Mutter Minuten lang wahrnahm. Eine in seiner Nähe befind-
liche feste Substanz zersprang in kleine Stücke. Die Geister gewannen auch
Einfluss auf seinen Körper und seine einzelnen Organe, z. B. Herz und Lunge,
sodass die Atmung verändert wurde.
Schliesslich kam es zu förmlichen Personifikationen: Gesichts- und
Gehörsvorstellungen verbanden sich, so dass die auftretenden Gestalten sich
mit St. unterhielten. Besonders charakteristisch war die Vorstellung des
deutschen Kaisers und anderer hoher Persönlichkeiten. Dabei beschlicb ihn
7*
ioo C. Gutberiet.
ein erhebendes Gefühl, ein grosser Herrscher zu sein, die Brust hob sich, die
Haltung wurdß slrauim. Eine weitere PersonifikaLion war das freundlichere
„Kind", aber feindselit^ der ,.Bock-'" und ..Pferdeluss", welche speziell den
Darmkanal slark berinflussten. Der Bockfuss bewirkte ihm einen zu beiden
Seiten eingedrücklen, bockarliiren Brustkasten. Er biegt und windet den Dick-
darm, fühlt verschiedene Kunststücke mit ihm aus. Ueber der Nabelgegend
im Dickdarm fühlte St. zeitweilig ganz scharf kleine rundliche Exkremente
eines Geissbockes. Der Pferdefuss macht ihm dies nach, lehnt sich dabei aber
an das Pferd als Urbild an. Die Teufel bewirken überhaupt im Darme un-
natürliche Hemmungen und unangenehme Störungen, die Vf. durch Turnen
und andere physische oder psychische Mittel entfernen muss.
Nach Angabe der Geister sind auch die geistigen Gefühle im Darm lokalisiert.
,,So liegen die peripheren spezifischen Endnerven für die hoheitlichen und
vornehmen Gefühle in der Pylorusgegend, diejenigen für die religiösen und
erhabenen in der oberen Dünndarmgegend, für die teuflischen, geraeinen und
minder«rertigen Gefühle und Triebe zum Teil im Dickdarm (Bocksgestalten)
und Enddarmgebiet (Pferdefuss). Letzteres macht begreiflich, dass das Stinken
der Teufel in der Magie eine grosse Rolle spielt . . .'
Das sind die wichtigsten Phänomene, welche unser Naturforscher an sich
erfahren bzw. herbeigeführt hat. Dieselben werfen ein helles Licht auf
die spiritistischen und hypnotischen und andere sogenannten magischen Er-
scheinungen, zeigen deren rein subjektiven Charakter. Bei genauer Prüfung
stellen sich dieselben noch subjektiver heraus, als der Vf. zu glauben geneigt
ist. Dass er so auffallende Veränderung im Darme durch die Geister beobachtet,
erklärt sich durch sein Magenleiden, das ihn, wie er selbst mitteilt, 20 Jahre
lang zwang, sicli nach dieser Richtung zu beobachten. Sehr entschieden tritt
dabei ein weitgehender Einfluss des Psychischen auf das Physische zu tage,
auch auf diejenigen Partien, die normal dem Willen entzogen sind. Ich möchte
es gerade nicht für unmöglich halten, dass sich so, wie er glaubt, Luststellen
ausbilden lassen. Dagegen erscheint es sehr zweifelhaft, ob die Seele auch,
wie er glaubt beobachtet zu haben, über den Körper hinaus wirken könne.
Die Beeinflussung einer chemischen Wage, die Verschiebung leichter Körper
über eine glatte Oberfläche sind dafür keine zureichend glatten Beweise.
Jedenfalls würden sie die Poltererscheinungen, das Erheben von schweren
Gegenständen wie Tische nicht erklären. Die ZuhüUenalime von elektrischen
dem Medium entströmenden Schwingungen ist doch sehr hypothetisch. Ebenso
und noch mehr Bedenken erwecken die feinsten Schwingungen, welche, von den
Gedanken im Gehirn ausgesandt, eine Gedankenübertragung vermitteln sollen.
Eine solche soll z. B. auch zwischen Menschen in verschiedenen Weltteilen
stattfinden. Eine Gedankenübertragung ohne irgendwelche Signale ist überhaupt
nicht festgestellt worden. Die Anmeldungen Sterbender werden nicht allgemein
anerkannt, selbst nach den sorgfältigsten Forschungen der Englischen Gesell-
schaft für Psycliical research. Dass sich viellach Briefe von Freunden so
regelmässig kreuzen, beweist nicht, dass ihre Entschlüsse, sich zu schreiben,
von einander beeinflusst waren. Der Zufall spielt da eine grosse Rolle, sodann
wird der eine ungefähr dieselbe Zeit wieder einmal dem Freunde zu schreiben
für gekommen hallen, wie der andere.
L. Staudenmaie r, Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft. 101
Sehr problematisch ist auch die in demselben Sinne versuchte Erklärung
der Gesichtshalluzination, und, wenn auch wenig aber doch eher annehmbar, der
Gehörs- und Gefühlshalluzination, die nicht rein phantastisch sein sollen.
.,Bei der lebhaften VorsteHung eines optischen Bildes wird die Netzhaut
erregt. Diese Erregung teilt sich auch dem umgebenden Aether mit, so dass
. er in entsprechende Schwingungen gerät. Diese Schwingungen aber nennen
wir Licht. Es wird also auch wirkliches Licht erzeugt. Dieses von der Netz-
haut produzierte Licht passiert die brechenden Medien des Auges in umge-
kehrter Richtung, als es beim Sehen der Fall ist, geht also zunächst durch
Glaskörper, dann durch Linse, Pupille usw. nach aussen, und es wird an der
Stelle, an welcher man sich Licht oder ein optisches Bild vorstellt, reelles
Licht oder ein reelles Bild erscheinen".
„Stellt man sich nun in der erwähnten Weise eine Person, einen Gegen-
stand, nicht ruhend, sondern in Bewegung vor, dann wird auch das nach aussen
gelangende Bild nicht ruhen, sondern Bewegungen ausführen, vergleichbar mit
den Produktionen eines Kineraatographen".
„Aehnlich ist es bei der Gehörhalluzination. Die Erregung pflanzt sich
von der Schnecke über die Gehörknöchelchen beiderseits bis zum Trommelfell
fort. Diese setzen die umgebende Luft in entsprechende Schwingungen . . ."
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Halluzinationen rein sub-
jektiv sind. Dies zeigt uns ganz deutlich der Traum, der überhaupt, wie
manche pathologische Erscheinungen, die besten Anhalts- oder doch Ausgangs-
punkte für die Erklärung der magischen Erscheinungen bietet. Der Träumende
hört und sieht mit aller Klarheit Personen und Gegenstände. Von der Netzhaut,
die eventuell unter der Bettdecke sich befindet, können die Aetherschwingungen
durch das undurchsichtige Medium nicht hindurchdringen. Freilich auch das
Traumproblem ist noch nicht gelöst.
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
Piccola biblioteca scicntifica deila „Rivista di Filosoüa Neo-
Scolastica". Firenze 1912, Libreria Editrice Fiorentina.
Nr. 1. Recenti Scoperte e recenti Teorie nello studio dell'
origine dell' uonio. Di Agostino Gemelli. 4''^ edizione riveduta ed
aumentata. pag. 109. Lire 0,75.
Nr. 2. Le leggi dell' Ereditä. Di G. A. Erlington. pag. 51.
Lire 0,75.
Nr. 3. II Psicomonismo o Monismo psicologico. Di Bohdan
Rutkiewicz. pag. 97. Lire 0,75.
Der rührige Herausgeber der ,,Rivisia Neo-Scolasfica", P. Agostino
Gemelli, hat den Plan gefasst, eine Sammlung populär -wissenschaftlicher
Schriftchen zu begründen, in denen „die modernen Gesichtspunkte in einigen
wissenschaftlichen Fundamentalfragen popularisiert" werden sollen, im Geiste
der neuscholastischen Philosophie. Die Stoffwahl für die bis jetzt vor-
102 Chr. Schreiber.
Hegenden drei ersten Hefte verrät eine glückliche Hand, die hier behandelten
Gegenstände sind in der Tat von der höchsten aktuellen Bedeutung: Evo-
lutionismus, Monismus und Biologismus. Die Darlegungen sind von wissen-
schaftlichem Geiste getragen. Besonders hervorzuheben ist die eingehende
Verwertung der diesbezüglichen auch nichtitahenischen und darunter mit
Vorzug der deutschen Literatur.
Das erste Heft bespricht die neuen Entdeckungen und die neuen
Theorien über den Ursprung des Menschen. Die Theorie Haeckels,
Schwalb es, die Theorie der indirekten Affenabstammung und die Theorie
der Abstammung von den Protomammalen von St ratz erfahren eine kri-
tische Beurteilung und Ablehnung.
Gleichsam eine Fortsetzung des ersten bildet das zweite Heft. Nach
einer die in Frage kommenden Begriffe erläuternden Einleitung werden in
zwei Kapiteln die Men de Ischen Vererbungsgesetze in der ursprünglichen
und in der erweiterten, neueren Fassung dargelegt, um im 4. Kapitel zum
Menschen in Beziehung gesetzt zu werden. Der Verfasser schliesst: „Diese
Tatsachen sind, wenngleich fragmentarisch, doch von grossem Werte.
Wenn sie uns auch noch nicht gestatten, die allgemeinen Gesetze der Ver-
erbung festzustellen, so zeigen sie uns doch zum wenigsten, dass die erb-
liche Fortpflanzung im Menschen, wie in den anderen Lebewesen, nicht
dem blinden Zufall folgt, und dass man daher sehr wohl nach Gesetzen
forschen kann, von denen sie beherrscht ist".
Das dritte Heft hat einen doppelten Zweck: einmal die Ideen der
Psychomonisten darzulegen, sodann die Unhaltbarkeit des Psychomonismus
zu beweisen. Hierbei werden nicht alle psychomonistischen Thesen berück-
sichtigt, sondern bloss die hauptsächlichen. Die Einleitung weist hin auf
die antimechanistische Reaktion in der mechanischen Biologie. Es folgt
im ersten Kapitel eine allgemeine Charakteristik des Psychomonismus. Das
zweite Kapitel beschäftigt sich mit August Pauly und bespricht des
näheren : die Finalität und das psychische Faktum ; Natur und Ausdehnung
der psychischen Realität; das Problem der Organbildung; der Charakter,
die Bedeutung und die Dynamik des rein psychischen inneren Prozesses
der Hervorbringung von Finalität. Im 3., 4. und 5. Kapitel werden be-
handelt: die psychische Realität und die physische Reahtät; die kosmische
Ausdehnung der psychischen Realität (die „Allbeseelung"), der Psycho-
monismus und das Problem des Lebens; der Psychomonismus gegenüber der
supraindividuellen Finalität und den Offenbarungen eines allgemeinen Planes ;
die Unzulänglichkeit des Psychomonismus ; die Natur der sogenannten
Dysteleologien und der Theismus.
Wir wünschen dem neuen Unternehmen aufrichtig Glück.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
A. Gemelli, E. Haeckel et A. Brass, Le falsificaziom di E. Haeckel. 103
Ernesto Haeckel come naturalista e come filosofo e la sua teoria
suir origine scimmiesca dell' uomo. Di Dott. Agostino Gemelli.
Le falsificazioni di Ernesto Haeckel. Di Dott. A. Brass.
2^ edizione riveduta ed aumentata. Firenze 1912, Libreria
editrice Fiorentina. p. 188.
Mit grosser Energie verfolgt der Herausgeber der „Rivista Neo-
Scolastica", der Franziskanermönch P. Gemelli, das Ziel, die neu-
scholastische Philosophie in Italien, mehr als dies seither geschah, mit den
modernen philosophischen und naturwissenschaftlichen Strömungen bekannt
zu machen und ihr die wahren Errungenschaften derselben einzuverleiben,
unter entschiedener Abstossung alles dessen, was diese Strömungen Falsches
und Unhaltbares mit sich führen. Als Doktor der Medizin und Chirurgie
und Honorarprofessor der Histologie ist Gemelli in der Lage, namenthch
die naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen der Neuzeit mit
Sachverständnis zu verfolgen. Die Frucht dieser Studien hat P. Gemelli
bereits in zahlreichen kleineren und grösseren Schriften niedergelegt, die
sich eines grossen Ansehens und einer weiten Verbreitung in Itahen er-
freuen. Auch in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift behandelt er,
rieben den erkenntnistheoretischen Problemen, mit Vorliebe Fragen der
Naturwissenschaft und experimentellen Psychologie. Sehr zu statten kommt
ihm hierbei seine Kenntnis der französischen, englischen und deutschen
Literatur und sein wiederholter Studienaufenthalt an deutschen Universitäten.
Gerade die deutsche Wissenschaft ist es, die er mit Vorzug in seinen
Schriften und Abhandlungen berücksichtigt, weil er ihr einen besonders
grossen Einfluss auf das moderne Geistesleben zuschreibt. Aus dieser Wertung
der deutschen Wissenschaft heraus ist die vorliegende Schrift hervorgegangen,
die sich im ersten Teil mit Ernst Haeckel als Naturwissenschaftler und
Philosoph beschäftigt und seine Theorie der Affenabstammung des Menschen
widerlegt, und deren zweiter Teil eine Uebersetzung der bekannten Brass-
schen Streitschrift gegen Haeckel in der erweiterten zweiten Auflage mit
Abbildungen und Tafeln bringt.
Geraellis Arbeit ist für italienische Leser besonders dadurch höchst
verdienstvoll, weil sie in ausführlicher und trefflicher Weise über die
neuere und neueste deutsche Literatur zur Entwicklungsgeschichte des
Menschen unterrichtet.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
104 H. Stölzle.
Theodicee.
Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grund-
lage zum Gebrauche an höheren Lehranstalten und zum
Selbstunterrichte. Von Alfons Lehmen S. J. Dritter Band.
Theodicee. Dritte, verbesserte und vermehrte Auflage. Heraus-
gegeben von Peter Beck S. J. Freiburg i. Br. 1912, Herder,
gr. 8«. XIV, 306 S. Ji> 4.—, geb. J& 5.60.
Ueber die zweite Auflage der vorliegenden Theodicee haben wir eine
ausfiihrliche Besprechung im 19. Band dieser Zeitschrift Jahrgang 1906
Seite 199—203 veröffentlicht. Die neue Auflage ist eine vermehrte, denn
„eingefügt wurde eine Abhandlung über den Modernismus; der kosmo-
logische Beweis und die Einwendungen gegen ihn wurden erweitert, an
manchen Stellen wurden kleinere Zusätze gemacht, die Zitate wurden wohl
alle revidiert, viele früher nicht erwähnte Autoren, bei denen man ein-
gehendere Belehrung über die betreffenden Fragen finden kann, wurden
aufgenommen; fast keine Seite blieb ohne kleinere oder grössere Ver-
änderung sachücher oder stilistischer Art" (Vorwort S. VI).
Die Behandlung des Modernismus halten wir für sehr gelungen ; auf
sieben Seiten ist hier das Wichtigste zusammengedrängt ; es wird ein guter
Einblick in die Lehren des Modernismus ermöghcht und die Widerlegung ist
sehr klar und überzeugend. Recht dankenswert sind die erweiterten
Literaturangaben, die man aber gern noch allseitiger ausgedehnt sehen
möchte. Lehmens Theodicee ist von Anfang an eines der besten dies-
bezüglichen Lehrbücher auf katholischer Seite gewesen und ist es in der
dritten, vermehrten Auflage noch mehr geworden.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
ReligionsphllosophJe.
Studien zur Philosophie und Religion. Herausgegeben von
Dr. R. Stölzle. Paderborn, F. Schöningh.
7. Heft: Begritt' und Ursprung* der Naturgesetze. Von Dr.
Sattel. VIII und 252 S. 191L Jd, 6.
Der Verfasser, der sich durch zwei von mir angeregte Arbeiten über
„Deutingers Gotteslehre" und „Deutinger als Ethiker" bekannt gemacht hat, be-
handelt hier auf meine Anregung die heute viel erörterte Frage nach Begriff
und Ursprung der Naturgesetze. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem
Begriff des Naturgesetzes und untersucht, ob das Naturgesetz eine ob-
jektive Realität oder ein subjektiver Begriff oder ein subjektiv-
objektiver Begriff sei. Der Vf. entscheidet sich für das letztere und geht
Studien zur Philosophie und Religion. 105
dann im zweiten Abschnitt zur Frage nach dem Ursprung des Natur-
gesetzes über. Nach Prüfung der Frage, ob die Frage nach dem Ursprung
der Naturgesetze Sinn habe, und ob sie erlaubt sei, wird der Ursprung der
Naturgesetze untersucht. Zwei Möglichkeiten bieten sich dar : Ewige Not-
wendigkeil oder das Naturgesetz Gedanke, Wille und Alhnacht Gottes. Der
Vf. weist die erste Alternative ab und entscheidet sich für die zweite, indem
er zeigt, dass Gesetzes form, Gesetzes Charakter und Gesetzes kraft auf Gott
als den Urheber der Naturgesetze hinweisen.
8. Heft : Wuiidts Stellung- zum religiösen Problem. Ein Bei-
trag zur Religionsphilosophie der Gegenwart. Von Dr.
F. Emmel. 1912. VIII und 118 S. Jk 3.
Wundts religionsphilosophische Ideen halten zwar verschiedentlich Kritik,
aber keine zusammenfassende Würdigung erfahren Auf meine Veranlassung
unternahm Emmel diese Aufgabe. Er will Wundt gegenüber immanente
Kritik üben und legt das Hauptgewicht auf die pliilosophische Beurteilung.
Der erste Teil stellt dar: die Religion als psychologisch-genetisches
Problem und behandelt J) individualpsychologische Grundlagen der Religion,
2) Abweisung der bisherigen und Schaffung einer neuen Religionspsychologie
auf völkerpsychologischer Grundlage, 3) Ursprung und Entwicklung der Religion,
4) das psychologische Wesen der Religion, 5) kritischer Ertrag aus der ge-
samten Wundtschen Religionspsychologie. Im zweiten Teil kommt die Reli-
gion als metaphysisches Problem zur Darstellung, nämlich 1)
Wundts Metaphysik als Grundlage seiner religiösen Anschauungen, 2) die reli-
giöse Idee als Ergänzung des sittlichen Ideals, 3) Erkenntnisgrundlagen der
religiösen Ueberzeugung, 4) der Inhalt der religiösen Ideen, 5) Ueberblick und
Schluss. Der Vf. kommt zu dem paradox klingenden, aber scharfsinnig heraus-
gearbeiteten Resultat, in Wundls Weltanschauung ihrem Wesen nach Theismus
zu sehen.
9. Heft: M, Deutinger als Erkenntnistlieoretiker. Von Dr.
F. Richarz. 1912. XII und 99 S. A 2,80.
Nach einer Einleitung, die über Deutingers Persönlichkeit orientiert,
legt der Vf., dessen Abhandlung, von Prof. Dyroff angeregt, Gastfreundschaft
in den Studien geniesst, dar: 1) Grundriss der Erkenntnislehre Deutingers,
2) die subjektive Seite des Erkenntnisprozesses, 3) das Objekt der menschlichen
Erkenntnis, 4) Kategorienlehre, 5) Kriterien für die Annahme transsubjektiver
Realität, 6) Setzung und Arten der Realität, 7) Transposition, 8) Die kritischb
Stellungnahme zur Philosophie der Vergangenheit. Zusammenlassung und
Würdigung der Deutingerschen Erkenntnislehre bilden den Schluss der Arbeit.
IU6 R. Stölzle, Studien zur Philosophie und Religion.
10. Heft: Die Uiisterblichkeitsb'eweise in der katholischen
Literatur, von 1850—1900. Von Dr. H. Kaufmann.
1912. XII und 352 S. Jfe 7.
Nachdem ür. Staab auf meine Anregung „die Göttesbewe ise in der
kalholischen deutschen Literatur von 1850—1900" behandelt
hatte (s. Heft 5 der Studien ), schien es angezeigt, die spekulative Arbeit zu
würdigen, welche katholischerseits dem grossen Problem von der Unsterblich-
keit der Seele zugewandt worden war. Dieser Aufgabe unterzog sich auf meine
Veranlassung Dr. Kaufmann. Im ersten Teil wird Begriff der Unsterblich-
keit und der Seele dargelegt, im zweiten werden die Beweise für die
Unsterblichkeit der Seele behandelt, und zwar die Unsterblichkeitsbeweise
in ihrer Gesamtheit, nämlich Inhalt, Form und Reihenfolge der Beweise,
die einzelnen Unsterblichkeitsbewei^e und zwar I. die traditionellen Un-
sterblichkeitsbeweise. Hier kommen zur Sprache 1) der historische,
2) der metaphysische, 3) der teleologische, 4) der moralische, 5' der theologische
Beweis, und zwar wird bei jedem Beweis zunächst die positive Formulierung
(Name und Grundgedanke, Formulierung und Begründung, Wert und Bedeutung :
Erkenntniswert, Tragweite und Verhältnis zu andern Unsterblichkeitsbeweisen)
vorgetragen und dann die polemische Verteidigung, d. h. was an Einwänden
gegen die einzelnen Beweise vorgebracht wurde, gewürdigt. Unter II werden
die Versuche, die Unsterblichkeit der Seele auch auf anderen
Wegen dar zu tun, besprochen, nämlich der indirekte Beweis aus den Folgen
der Unsterblichkeitsleugnung, der empirische und der astronomische oder kos-
mologische Beweis; ausserdem wird die Kritik dargelegt, welche katholischer-
seits an dem religionsphilosophischen, ökonomischen, Analogie-, logischen und
mathematischen Beweis geübt wurde. Ein Literaturverzeichnis, Sach- und
Namenregister bilden den Schluss der Arbeil, die eine eingehende Uebersichl
über die Leistungen katholischerseits auf diesem Gebiete gibt. Im Schluss-
kapitel gibt der Vf. eine objektive Würdigung der Arbeit, welche von katho-
lischer Seite auf das Unsterblichkeilsproblem verwendet wurde.
11. Heft: Die Reliiii,ionsi)hilosoi)hie R. Euckens. Von Dr.
Wund er le. 1912. V und 119 S. M 2,30.
Die Literatur über Euckens Philosophie ist heute schon eine beträcht-
liche. Während aber ein grosser Teil der über Eucken erschienenen Schriften
kritiklos Kückens Ideen wiedergibt, setzt sich der Vf. mit Eucken kritisch
auseinander, von Prof. Lang - Sirassburg hierzu angeregt. Im ersten Teil
werden die Grundlagen von Euckens Religionsphilosophie dargelegt, nämlich
Euckens Verhältnis zur Philosophie der Vergangenheit, seine wissenschaftliche
Methode, und der Inhalt von Euckens Lebensanschauung. Der zweite Teil
bietet den Aufbau von Euckens Religionsphilosophie, nämlich 1) Begründung
der Religion, 2) Inhalt der Religion im allgemeinen, 3) Religion und Geistes-
leben, 4) die charakteristische Religion, 5) Euckens Stellung zum Christentum.
Würz bürg. Prof. Dr. R. Stölzle.
W. Jäger, Studien z. Entstehungsgesch. d. Metaphysik des Aristoteles. 107
Geschichte der Philosophie.
Studien zur Entstehungsgeschichte der iMetaphysik des
Aristoteles. Von Dr. Werner Wilhelm Jäger. Berlin 1912,
Weidmannsche Buchhandlung. 8". VI und 198 S. 5 A
Die Literatur über Aristoteles und seine Philosophie ist in der alier-
jüngsten Zeit um drei sehr wichtige Werke bereichert worden. Der Genfer
Philosophie-Professor Charles Werner hat in seinem Buche: „Aristote et
l'idealisme platonicien" (Paris 1910, Felix Alcan) das Verhältnis des Stagiriten zum
System seines Meisters neuerdings untersucht und auf den platonischen Ursprung
der Grundgedanken der ganzen aristotelischen Philosophie hingewiesen '). Sucht
diese Arbeit die geschichtliche Verknüpfung des aristotelischen Denkens mit
dem Piatonismus zu festigen und die Stellung des aristotelischen Systems in
der griechischen Philosophie überhaupt zu bestimmen, so beschäftigen sich die
beiden anderen Werke mit dem inneren Aufbau des Ganzen. Albert Gödecke-
meyer entwirft gleichsam den Plan der Werke des Stagiriten in seiner Studie
über „die Gliederung der aristotelischen Philosophie" (Halle a. S. 1912, Max
Niemeyer). Er verteidigt den „ausgeprägt systematischen Charakter" der Werke
des Aristoteles und hält bei Beurteilung derselben die Frage nach ihrer syste-
matischen Ordnung für entscheidend. Die uns zur Besprechung vorliegenden,
kurz vor Gödeckemeyers Arbeit erschienenen „Studien zur Entstehungsgeschichte
der Metaphysik des Aristoteles" von Werner Wilhelm Jäger vertreten im
Gegensatz dazu den Standpunkt, der Stagirife habe keine Systeme der einzelnen
Wissenschaften verfasst (160', es sei jede Gesamthypothese über die ursprüng-
liche Metaphysik und ihre Rekonstruktion als unwissenschaftlich fernzuhalten
(109); denn „die" Metaphysik des Aristoteles liabe es niemals gegeben (187),
sondern höchstens eine „primäre auf Aristoteles zurückgehende" Sammlung
(174).
Damit ist das Programm Jägers schon genugsam angedeutet : er will, wie
das in der Einleitung (1—13) zum Ausdruck kommt, nicht nach Art der früheren
Bearbeiter (Brandis, Bonitz, Seh wegler, Christ, Natorp u. a.) die aristotelische
Metaphysik hypothetisch rekonstruieren, „sondern versuchen, das Vorhandene
geschichtlich zu begreifen" (13). Man muss seinem Versuch nachrühmen, dass
er mit grossem philologischen und philosophischen Scharfsinn durchgeführt ist,
wird aber all seinen Ergebnissen nicht mit jener Sicherheil der Ueberzeugung
beipflichten können, die Jäger selbst bekundet. Es klingt manchmal fast weg-
werfend, wie er die „früheren Bearbeiter" und ihre Forschungen bewertet ;
z. B. wird auf S. 5ti eine Auffassung von Bonitz einfach „grundfalsch" genannt,
S. 98 hören wir, dass der nämliche Bonitz sich mit einer „etwas mythisch ge-
wordenen Ansicht" begnügt habe, die in Wahrheit nichts erkläre ; was Natorp
als „kaum verständlich" bezeichnet,' findet Jäger „von mustergültiger Klarheit"
(65) und anderes mehr.. Eine grössere Zurückhaltung und Selbslbescheidung.
') Werners Ansicht, dass der Gott des aristotelischen Systems l'äme du
monde sei (S. 319 ff.), steht mit den ausdrücklichen Bestimmungen des Stagi-
riten in Widerspruch. Vgl. Zellers Philosophie der Griechen II, 2 (3. Auflage
1879) 422, 5; 456, 1.
108 Georg Wunderle.
gegenüber solchen Gelehrten hätte der Arbeit Jägers wahrhaftig keinen Eintrag
getan; der Wert seiner eigenen Untersuchungen wäre dadurch nicht geschmälert
worden. Gewiss nur um der neuen, sachlichen Verdienste willen hat ihm jüngst
die k. und k. Akademie der Wissenschaften zu Wien den 1200-Kronen-Preis der
Bonitzstiflung verliehen.
Suchen wir die Hauptpunkte der Jägerschen Studien festzustellen ! I in
ersten Teil (14 — 130) wird die Komposition der Metaphysik be-
handelt. Besondere Sorgfall ist den sogenannten Dubletten zugewendet,
d. h. den doppelten Fassungen einzelner Stellen und ganzer Abschnitte. Als
kleinere Dublette sieht Jäger an A 10 (zweite Fassung von A7; S. 19), ferner
E4, 1027 b25 - 1028 a3 (S. 21 ff.), A 9, 990 b 2 — 991 b 8 und M 4, 1078
b 32 -- 5, 1080 a 11 (S. 28 ff.) ; als grosse Dublette K 1—8 (S. 63 IT.). Das letzt-
genannte Stück will er im Gegensatz zu Natorp als „vollgültige Quelle aristo-
telischer Philosophie" betrachten (S. 86) ; erhält es für den „Niederschlag einer
von BFE in mancher Beziehung abweichenden Vorlesung'' und doch für eine
Dublette zu diesen Büchern, die von Aristoteles selbst gerade wegen der Ab-
weichungen aufbewalirt worden sei (S. 88). — Denjenigen Partien der Meta-
physik, die an dem Ort, wo wir sie jetzt finden, den Gedankengang stören,
widmet Jäger eine eigene Erörterung (S. 38 ff). Als ,, erratische" Stücke
gelten ihm: M 9, 1086 a 21 10, 1087 a 25, K 8, 1065 a 27 - Schluss, 0 10,
1051 a 34 — 1052 all, Z 12 und H 6; „sie sind teils von einem Redaktor aus
dem aristotelischen Nachlass eingefügl, teils von Aristoteles selbst im Laufe
der Vorlesungspraxis in seine Papiere eingetragen" (61 f.). Die Ein- und Nach-
träge denkt sich Jäger an das Ende der Rolle, auf der die einzelne Vorlesung
geschrieben war. ,,Dort hatte man entweder leeren Raum übrig oder man
konnte den x"^'^Vi ^■"'^ bequemsten anstücken. Jedenfalls war man oft aufs
Rollenende angewiesen, wenn die Nachträge umfänglicher auslielen" (39). Ohne
die Möglichkeil dieser Annahme Jägers zu leugnen, glauben wir doch nicht so
rasch an die Wirklichkeit derselben, dazu müsste vor allem auch der Vor-
gang der Buchteilung, wie wir ihn S. 148 ff. schildern hören, geschichtlich
festgestellt sein. Zudem dürften nicht alle obengenannten Partien unter die
,, erratischen" Stücke gezählt werden, unseres Erachtens am wenigsten Z 12.
Mangel äusserer Zeugnisse lässt sich in diesen schwierigen Fragen kaum
aufwiegen. Von besonderer Bedeutung ist die Erörterung des Verfassers üb«r
die zusammenhängenden Stücke unserer Metaphysik (90—113). Er
selbst fasst das Schlussergebnis folgendermassen zusammeir : ,,An die historische
Uebersicht A und die beiden koordinierten Einleitungen BTE und K 1 — 8
sollte die Ausführung, bestehend in der Lösung der elf in der Einleitung noch
nicht angerührten Probleme, ansetzen. Stücke dieses Hauptteils der grossen
Vorlesung über Metaphysik sind'uns in IMN erhalten. Diese hängen unter
einander zum Teil nicht zusammen und beweisen durch ihren Inhalt, dass wir
grosse Stücke des Hauptteils nicht besitzen, darunter die eigentliche »eoloyia,
sei es weil sie nicht niedergeschrieben wurden, sei es, weil sie der Zeit als
Opfer anheimgefallen sind . . . die Bücher ZH 9, welche in dem vulgären Text
zur Not mit der vorangehenden Einleitung zusammengeflickt sind, gehören in
die erwähnte Hauplvorlesung ebensowenig hinein" wie a, J, A. ,,Sie bilden
eine kleine Vorlcsungsgruppe für sich. Mit welchen anderen metaphysischen
W. Jäger, Studien z. Entstehungsgesch. d. Metaphysik des Aristoteles. 109
Spezialun) ersuchungen zusammen Aristoteles sie gelesen haben kann, oder ob
er sie, wie er das so oft tat, als Einzelvorlesung behandelt hat, wissen wir
nicht. Ebensowenig haben wir noch eine Vorstellung davon, in welcher Reihen-
folge die nach der Einleitung folgenden Stücke der Hauptvorlesung sich ordneten,
und ob sie sich überhaupt unmittelbar aneinander reihten. Auf keinen Fall
aber dürfen wir sagen, wir besässen einen grossen Teil oder den grössten Teil
der Hauptvorlesung intakt, wir dürfen auch nicht von einer >Hauptreihe«
sprechen, weil wir eben die Reihe selbst nicht mehr rekonstruieren können.
Bis zur Einleitung geht das allenfalls, von da nicht mehr" (112). Jägers Urteil
scheint uns doch zu pessimistisch zu sein ; solch ein Wirrwarr ist auch die
„vulgäre" Metaphysik des Aristoteles, wie sie uns jetzt vorliegt, nicht. Das
bezeugt ihre Gedankengliederung, die sich trotz vieler Sprünge und Unklar-
heiten im Grossen und Ganzen deutlich bestimmen lässt. Gödeckemeyers
lichtvolle Darstellung (in seiner eingangs erwähnten Schrift 126 ff.) darf als
neuester Beleg dafür gelten. Das freilich muss zugestanden werden : ,,Der Ge-
danke von der ursprünglichen Selbständigkeit der Bücher aristotelischer Schriften
lässt sich mit Erfolg für textkritische Fragen weiter ausdehnen, als es bisher
geschehen ist". So Gödeckemeyer in Hinnebergs Deutscher Literaturzeitung
1912, Nr. 16 , Sp. 982. — Zu den in die Metaphysik eingedrungenen
Büchern gehört nach Jägers Ansicht vor allem «, das er im Widerspruch mit
Lasson als ein echt aristotelisches, aus dem vnö/uvrjfja des Pasikles in die
Metaphysik gelangtes nqooifjiov zur Naturphilosophie erklär! (118). Buch .4 soll
durch Andronikus in die Reihe der Metaphysikbücher aufgenommen worden sein;
A hält Jäger mit Bonitz für eine selbständige Einzelvorlesung zur Begründung
der Fundamentalphilosophie ; das Buch soll die schon im späteren Altertum
nicht mehr vorhandene oder überhaupt nicht niedergeschriebene 9eoXoy(tt er-
setzen. K 9—12 ist als unaristotelisch auszumerzen.
Der zweite Teil von Jägers Studien (^131-188) hat zum
Gegenstande die literarische Stellung und Form der Meta-
physik. Er wird eingeleitet von einer äusserst lehrreichen, auch kultur-
geschichtlich interessanten Untersuchung über die Publikation der antiken
Lehrschriften. Die wichtige Frage der exSoaig der aristotelischen Bücher
löst Jäger mit dem begründeten Hinweis darauf, dass Aristoteles seine eigent-
lichen Lehrschriften (loyoi, f^d9oSoi) der alten, jonischen Sitte gemäss durch
Vorlesung in einem bestimmten wissenschaftlichen Kreise herausgegeben habe.
„Diese iSyai sollen taw bleiben, im Hause, am Herde der strengen Wissenschaft :
Schuleigentum" (144); für die „literarischen" Werke (d.h. die Dialoge) ist zur
Veröffentlichung das Erscheinen beim ßißhonwXtj? notwendig (143). „Merk-
würdig, dass von Piaton nur Literarisches erhalten ist, von Aristoteles nur
Wissenschaftliches" (147). Unter i^toTe^neol XöyoL sind zu verstehen „die nicht
nach aristotelisch-peripatetischer Methode erzeugten, in der zeitgenössischen
wie früheren Philosophie gebräuchlichen ^ö|ai, Jicn^fafi?, löyoi, yvtäfiat, kurz das,
was nicht eigentlich der Schule {toI? i'aw) eignet. Den Gegensatz zu k^toTt^iKol
löyoi. machen die xara (piloaocpiar köyoi aus . . . dies sind die >nach aristotelischer
Methode angestellten Deduktionen« (Diels), die sich von den i^wreQtKol Xöyoi,
welche vom i'vSo^or ihre a<poq,u7} nehmen und daraus in sophistisch-dialektischer
Weise ihre Schlüsse ziehen, unterscheiden wie die emaTtj/uij von der Sl^a" (134).
110 K. A. Leimbach.
— In der Frage der B u c h t e i 1 u n g geht Jäger von einer Voraussetzung aus,
die wir in dieser übertriebenen Form nicht als bewiesen erachten können; er
meint nämlich, dass jedes der sogenannten Melaphysikbücher „eine relativ in
sich gesclilossene oder gar absolut für sich stehende Kompositionseinheit und
Untersnchungseinheit bildet" (173). Hiermit wird eine gewiss nicht der Unter-
lage entbehrende Hypothese einfach als Tatsache hingestellt. Die Folgerungen,
die Jäger daraus zieht, sind für ihn natürlich ebenso gewiss wie die voraus-
gesetzte Grundannahme. Daher die Behauptung : Jedes der Melaphysikbücher
,, füllte auch eine selbständige Buchrolle, mit einziger Ausnahme der Substanz-
abhandlung, Z und H, welche sich über zwei Bücher und ursprünglich wohl
drei Rollen ausdehnte" (174). „Die Durchzählung der Rollen unter Kollektiv-
titeln beginnt sogleich nach dem Tode des Philosophen und ist etwa um
Andronikos' Zeit so ziemlich abgeschlossen. Im ganzen haben wir in der
Teilung in Bücher, wie unsere Tradition sie kennt, die Hand des Aristoteles
wieder zu erkennen" (163). — Bezüglich der Sammlung muss nach Jäger
,, zwischen einer primären, auf Aristoteles zurückgehenden, einer sekundären,
von den direkten Nachfolgern veranstalteten, einer tertiären, von noch jüngeren
Generationen vollzogenen Sammlung" unterschieden werden (174). Wenn das
alles unbestreitbar sicher wäre, dann läge auch wohl die Vermutung nahe, „dass
schon vor Andronikos, also spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr., eine Samm-
lung der Schriften der n^öntj iptloaoq/ia unter dem Titel /uera tu (pvaixi in zehn
Büchern existiert habe, sei es im Peripatos, sei es in Alexandrien" (180). Uns
scheint in diesem wie in so manchem anderen Falle Jägers Material trotz aller
lobenswerten Sorgfalt in der Analyse nicht ausreichend zu sein, um solche
Schlüsse zu rechtfertigen.
Eich statt i. B. Dr. Georg Wunderle.
ZfiitscJirift für Gt'schichte der Erziehung' und des Unterrichts.
(Neue Folge der „Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche
Erziehungs- und Schulgeschichte"). Erster Jahrgang 1. — 4. Heft.
Berlin 1911, Weidmannsche Buchhandlung^).
Erstes Beiheft: Die Lectionum praxis des 3Iagister8 Jo-
hannes Theill. Herausgegeben von Prof. Dr. R. Needon.
Zweites Beiheft : Historisch - pädagogischer Literatur-
Bericht über das Jahr 1910.
Zur Einführung bemerkt der mit der Schriftleitung betraute Professor
Dr. Max Herrmann : Es sei der Titel geändert worden, weil weitere Kreise,
durch den Namen irregeführt, der Meinung waren, es handele sich nur um
Mitteilungen über Angelegenheiten der Gesellschaft, und die Hefte unauf-
geschlagen Hessen. Nach wie vor sollen in diesen „einzelne Probleme der
^) Die Mitglieder'erhalten für den Jahresbeitrag von 5 Mk. die Zeitschrift
samt den Beiheften, ausserdem die Monumenta Germaniae Paedagogica, die von
der Gesellschaft herausgegeben werden, mit 25% Rabatt. Nichtmitglieder be-
ziehen die Zeitschrift durch den Buchhandel für 8 Mk. jährlich.
Zeitschrift tür Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. 111
nicht territorial gerichteten, allgemeinen deutschen Erziehungs- und Unter-
richtsgeschichte zur Erörterung gebracht werden. Wir wei'den den territorial
gerichteten Fragen der deutschen Unterrichtsentwicklung den gebührenden
Raum zugestehen; wir werden aber Arbeiten rein lokalgeschiehtlichen
Charakters nur dann veröffentUchen, wenn sie in irgend einer Weise das
Typische ihres Materials oder ihrer Ergebnisse betonen oder aber Ver-
hältnisse beleuchten, die vom Typischen abweichen." Eine Neuerung soll
insofern eintreten, als nicht, wie bisher, nur deutsche Verhältnisse berück-
sichtigt werden, sondern ,,der Erkenntnis Rechnung getragen wird, dass die
Probleme, die wir behandeln, in ihrer Entwicklung nicht nur national, sondern
vielfach auch von der internationalen Gestaltung bedingt sind, und dass es
ferner gelegentlich für uns wichtig sein kann, hinter das Mittelalter zurück-
gehend Erziehungsfragen des Altertums zu erörtern".
Um ein Bild von der Reichhaltigkeit der Zeitschrift zu geben, heben
wir aus den bisher erschienenen Abhandlungen folgende hervor :
Montaignes Pädagogik im Verhältnis zu seiner Philosophie. Es werden
auf Grund der Essais des genannten Philosophen dessen Anschauungen
dargelegt über die Stellung des Menschen innerhalb der Natur, über ihn
als erkennendes und intellektuelles Wesen, über sein Affektleben, über den
Menschen als handelndes Wesen. Darauf kommen zur Darlegung Montaignes
pädagogische Ansichten über die Grenze der Macht der Erziehung, über
Einzel- und Privaterziehung, über das Erziehungsziel, über Erziehungs-
methode, über die Bildungsmittel und den Bildungsstoff. Das Urteil des
Verfassers geht dahin, dass den wenigen Mängeln und Schwächen zahlreiche
Lichtseiten gegenüberstehen ; ,,man wird in Montaigne immer einen zwar
nicht tiefsinnigen, aber liebenswürdigen und durch Anschaulichkeit fesselnden
Philosophen und praktisch und gesund denkenden Pädagogen verehren".
Von weiteren Aufsätzen seien genannt : Alte Rechnungen als Quelle für
die Schulgeschichte einer deutschen Reichsstadt [Dinkelsbühl] ; Eine väter-
liche Instruktion für den Universitätsbesuch aus dem XVII. Jahrhundert;
Spielzeug vergangener Jahrhunderte (mit 5 Abbildungen) ; Alfred Heubaum
[der frühere Schriftleiter der Gesellschaft] ; Der Berliner Fröbelnachlass,
nebst einem Ueberblick über die Geschichte des Gesamtnachlasses ; Ludwig
Tiecks Anschauungen über die Erziehung ; Schwarzburg-Rudolstädter Schul-
ordnungen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und ihr Verhältnis
zu dem Schul-Methodus des Herzogs Ernst von Gotha; Die preussische
Schulpolitik in den Provinzen Südpreussen und Neuostpreussen (1795 — 1806) ;
Die Industrieschulen der Kurmark. — Es finden sich ferner in jedem Heft
der Zeitschrift noch kleinere Beiträge, Bücheranzeigen und Nachrichten.
Das erste Beiheft bietet als Beitrag zur Geschichte der Erziehung
und des Unterrichts in Sachsen „die Lectionum praxis des Magisters Johannes
Theill", der aus Naumburg a. S. stammte und 1641-1679 Lehrer in
Bautzen war.
112 R. Stölzle. J. Reiner, Philosophisches Wörterbuch.
Vor kurzem ist das zweite Beiheft erschienen, das auf 843 Seiten
in durchweg anziehend geschriebenen Abhandlungen über die historisch-
pädagogische Literatur des Jahres 1910 berichtet. Autoren-, Namen- und
Sachregister sind zur leichteren Benützung beigegeben.
Fulda. Dr, Leinibach.
Verschiedenes.
Philosophisches Wörterbuch. Von Julian Reiner. Leipzig 1912,
Otto Tobias. IV. 295 S. Ji> 5,80.
Der Vf., der einen „Grundriss der Geschichte der Philosophie" in zweiter
Auflage, eine Art pliilosophisches Lesebuch ,,Aus der modernen Weltanschauung"
in dritter Auflage, und eine Schrift „Ueber Erziehung" verüffenllichl hal, gibt
hier ein philosophisches Wörterbuch. Er benützL dabei die Wörteibücher von
Llaldwin, Eisler, Ki rchner- Michael is und will die Vorzüge dieser
Werke weiteren Kreisen dienstbar machen. Vielfach gibt der Vf. zur Erklärung
der Begriffe einfach Zitate aus philosophischen Werken, oft einander wider-
sprechende Auffassungen darbietend. Wir notieren nur, was uns unzulänglich
oder direkt falsch erscheint. Die Erklärung von Abstraktion lässt die neuere
psychologische Auffassung unberücksichtigt; Achilleus: die Erklärung ist
ungenügend: Adiaphora: sittlich gleichgültig, nicht genügende Erklärung;
aequipolent statt aequipoUenl ; die Erklärung von apodiktisch ist ungenügend.
Assimilation: die Erklärung des psychologischen Terminus fehlt. Auf-
merksamkeit: nicht entsprechend; bamalip: die Folgerung besonders
verneinend statt bejahend. — begehren, Begierde: die modern psycho-
logische Erklärung fehlt. Bewusstsein: modern psychologische Erklärung
fehlt, datisi: ungenügend erklärt; überhaupt ist die Erklärung manchmal un-
gleichmässig, insofern ein Terminus hier ausführlich erklärt, andern Orts bloss
angeführt wird ohne besondere Erklärung. Ebenso wären manchmal Beispiele
zur Illustration erwünscht; denn ohne solche ist z. B. die Erklär ang von
„Hysteron-proteron: logischer Fehler, wobei das Spätere zum Früheren
gemacht wird" unverständlich. S. 115 Z. 9 v.o.: De t er misten statt Deter-
ministen ; der Artikel Instinkt ist nicht befriedigend. Die Behauptung unter
„Kant-Laplacesche Hypothes e", dass die von Kant und Laplace fast
übereinstimmend genannt wird, ist falsch. Katharsis nach Aristoteles und
Lessing die eigentliche Aufgabe der Tragödie bezeichnend; aber wir erfahren
nichts über die Bedeutung von Katharsis. Die Charakteristik der Neuplato-
niker ist unzulänglich, ebenso die der Neupy t h ag or eer ; Geulinax statt
Geulincx (S. 169); schief ist die Charakteristik der Patristik. Philosophie
der Geschichte: unzulänglich; im Artikel Skepsis sollte Karneades
nicht fehlen. Der Vf. des Wörterbuchs zeigt grosse Belesenheit in der philo-
sophischen Literatur. Sein Buch mag für eine erste rasche Orientierung gute
Dienste leisten.
Würzburg. Prof. Dr. R. Stölzle.
Zeitsctiriftensehau.
A. Philosophische Zeitschriften.
IJ Archiv für die gesamte Psychologie. Herausgegeben von
E. Meumann und W. Wirth. Leipzig 1912.
14. Bd., 1. Heft: O. Auschütz, Spekulative, exakte und ange-
wandte Psychologie. S. 1. „Die Erfahrung der exakten Psychologie
und ihre Stellung zu andern wissenschaftlichen Erfahrungsweisen". „Die
gesamten Betrachtungen zeigen, wie sich sämtliche für die psychologische
Forschung in Betracht kommenden Gegenstände als Kollektive erwiesen,
und wie sich sowohl die Art der betreffenden Methoden als auch die jedes-
malige Schwierigkeit und das entsprechende Mass von Exaktheit nach der
Weise jener Kollektive bestimmen. In jedem Falle handelt es sich dabei
um eine umfassende Erfahrung . . . Ferner dürfte einleuchten, dass auch
alle anderen Wissenschaften nach dem gleichen Gesichtspunkt betrachtet
und eingeordnet werden könnten". — W. Benussi, Stroboskopisclie
Scheinbewegungen und geometrisch-optische Gestalttäuschungen.
S. 31. Die Auffassung gegebener Gestalten ist geeignet, bestimmte Formen
von Scheinbewegungen vorzutäuschen. „Die Tatsache, dass die unter
solchen Umständen auftretenden Scheinbewegungen, zu welchen die stereo-
skopischen Phasenbilder nicht den geringsten Anlass bieten, nur dann zu
bemerken sind, wenn die (auf stereoskopischer Grundlage) sich schein-
bewegenden oder ruhenden Linien, die vom Beobachter gesehen werden,
einheitlich als eine Gestalt erfasst werden, stellt einen neuen Beweis für
die zentrale Stellung dar, die diesem Momente der Gestaltauffassung als
Grundbedingung für das Entstehen sogenannter geometrisch - optischer
Täuschungen zukommt". — F. Parkes Weber, lieber die Verbindung
von Hysterie und Täuschungssucht. S. 6.3. Die Hysterie ist eine
pathologische Steigerung oder Erkrankung tertiärer Geschlechtscharaktere.
Solche sind alle, welche mit dem Nervensystem in Verbindung stehen, sie
kommen beiden Geschlechtern, überwiegend dem weiblichen zu. „Der
hysterische Gemütszustand ist nur eine Verstärkung oder Störung des ge-
wöhnlichen weiblichen Gemütszustandes". — Bericht über den V. Kou-
gress für experimentelle Psychologie in Berlin vom 16. — It). April
Philosophisches Jahrbuch IWi. o
114 Zeitschriftenschau.
1912. — Bericht über die Ausstellung des Instituts für angewandte
Psychologie und psychologische Samnielforschung auf dem Kon-
gress, — Literaturbericht: Zur Psychologie der absoluten und Pro-
grammmusik von K. Seeberge r. Dur und Moll von E. Waiblinger.
— Referate.
2. und 3. Heft: 0. Külpe, Wilhelm Wundt zum 80. Geburts-
tage. S. 105. „Als der berühmte Leipziger Philosoph gilt er auch den
ausserhalb der Sphäre seiner Leistungen stehenden Kreisen, und so wird
sein 80. Geburtstag zweifellos auch dem deutschen Volke ein Ehren- und
Feiertag sein können". „Dass Philosophie und Einzelwissenschaften sich
zu der Einheit eines Systems der Wissenschaft ergänzen, dass dabei den
Geisteswissenschaften ebenso eine selbständige Bedeutung zukommt wie den
Naturwissenschaften, und dass die Psychologie als Bindeglied zwischen beide
gestellt wird, — das ist die an den Namen Wundt geknüpfte unvergäng-
liche Errungenschaft unserer Zeit". Sein Name hat da eine ähnhche Be-
deutung wie der Newtons für die Naturwissenschaft und Helmholtz' für die
Tonempfindungen. Wenn die im ,, Archiv" vereinigten Schüler Wundts
auch vielfach von seinen Ansichten abweichen, so betrachten sie ihn doch
als ihren Führer und wissen sich eins mit seinem Geiste. — G. Anschütz,
Spekulative, exakte und angewandte Psychologie. S. 111. „Die
heutige Psychologie muss sich vor einem Rückfall in die alte Spekulation
hüten, sie muss sich vor allem davor zu bewahren wissen, jenen Rückfall
durch angebliche Tatsachen zu verdecken". — W. Wirth, Ein einheit-
liches Präzisionsmass der Urteilsleistung bei der Methode der drei
Hauptfälle und seine Beziehung zum mittleren Schätzungswert.
S. 141. — Th. Erismann, Untersuchung über Bewegungsempfindungen
beim Beugen des rechten Armes im Ellenbogengelenk. S. 172. Es
ergab sich unter anderm : Die Unterschiedsempfindlichkeit erwies sich bei
aktiven und passiven Bewegungen von gleicher Grössenordnung ; bei ak-
tiven ist sie vielleicht etwas grösser. „Die Beeinflussung der räumhchen
Schätzungen durch die für die Ausführung der Schätzung gebrauchte Zeit
erwies sich bei aktiven Bewegungen als nur sehr gering, bei passiven war
sie beträchtlich grösser". — F. M. Urban, Hilfstabelleu für die Kon-
stanzmethode. S. 236. — Li teraturbe rieht.
4 Heft : A. Messer, Ueber den Begriff des „Aktes". S. 245. Die
Gegner der sensualistischen und Assoziationspsychologie nennen Erlebnisse
oder Erlebniselemente, die nicht in Empfindungen und Assoziationen auf-
lösbar sind, „Akte". Aber es herrscht keine Uebereinstimmung in der Ver-
wendung des Wortes : Seine Bedeutung genau zu bestimmen, unternimmt
V. d. Pfordten in der ,, Psychologie des Geistes" (Heidelberg 1912). Geist
und Akt sind synonym. „Die Akte sind das Ich und die Vorgänge das
Mich: die Akte bilden das psychische Subjekt — der kontinuierliche Fluss
Zeitschriftenschau. 115
des zusammenhängenden Geschehens und nicht nur des Vorganges, das
Objekt. Der Akt erleuchtet blitzartig auch den gleichzeitigen Vorgang".
Dagegen sprechen grosse Bedenken. — W. Wirth, Zur erkenntnis-
theoretischen Begründung der Massmethoden für die Unterschieds-
schwelle. S. 277. Ergänzung zu der Abhandlung Bd. XX, 1 S, 52 mit
Rücksicht auf die Kritik von G. F. Lipps. — J. Lorenz, Unterschieds-
schwellen im Sehfelde bei wechselnder Aufmerksamkeitsverteilung.
S. 313. Eine der sichersten Konstanten der experimentellen Psychologie
ist die Enge des Bewusstseins : innerhalb einer kurzen Zeitdauer können
nur etwa sechs relativ selbständige Eindrücke gleichzeitig aufgefasst werden
(Wundt). Vf. fand: „Die Beurteilung mehrerer gleichzeitig erscheinender
Paare von kurzdauernden optischen Vergleichsreizen ist abhängig von ihrer
Zahl, also von der Aufmerksamkeitsverteilung, und in hohem Masse von
Assoziationseinflüssen seitens der gleichzeitig dargebotenen Elemente und
ihrer Relationen, die um so wirksamer werden, je gleichartiger und ähn-
licher die Reize sind. Die Aufmerksamkeitsverteilung und die anderen
psychischen Verhältnisse bedingen eine Abnahme in der Sicherheit der
Beurteilung, die sich aber nicht so sehr in einer Steigerung der einzelnen
Werte der Unterschiedsschwelle S, d. h. also in dem Gleichheits- und Un-
sicherheitsfalle, zeigt, als vielmehr in einer Abnahme der Präzisions-
masse. — Knight - Dunlay , Die Wirkung gleichzeitiger Reizung
von zentralen und exzentrischen Netzhautstellen. S. 343. Die gleich-
zeitige Reizung einer zentralen und einer exzentrischen Netzhaulstelle wird
nicht gleichzeitig wahrgenommen. Man schrieb das der Aufmerksamkeit
zu, die mehr auf die zentralen Reize gerichtet ist. Pauli bestreitet diese
Erklärung. Die Beobachtungen des Vf.s „scheinen dafür einen entscheidenden
Beweis zu liefern, dass in diesem, sowie in dem Koniplikationsversuche
die Täuschung von der Augenbewegung abhängt, oder wenigstens, dass
sie von beständigem Fixieren ganz beseitigt wird". — Literaturbericht.
2] Zeitschrift für Psychologie. Herausgegeben von F. Schu-
mann. 1912.
63. Bd., 1. und 2. Heft: G. Heymans und E. Wiersma, Bei-
träge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenunter-
suchung. S. 1. Siebenter Artikel, g. Die selektoriche Wirkung der Ehe.
Unter beiden Geschlechtern fanden sich häufiger bei den Verhe i rateten
vertreten: „Kühlheit und Sachlichkeit im Gespräch, Gutmütigkeit, Neigung
zum Idealisieren, Toleranz, Heiterkeit, ruhige und gleichmässige Stimmung;
häufiger bei den Nicbtver heirateten: Heftigkeit, Reizbarkeit, Lammes-
güte, Neigung zum Misstrauen, Intoleranz, düstere und abwechselnde
Stimmung". Eine Nachfrage speziell über das Gefühlsleben ergab : „In
beiden Geschlechtern finden sich häufiger bei den Verheirateten:
Leichtversöhnlichkeit, Beharrlichkeit in Sympathien, Zugänglichkeit für neue
116 Zeitschriftenschau.
Auffassungen, Haften an Gewohnheiten, Leben für die Zukunft, Ueberein-
stimmung zwischen Denken und Handeln ; häufiger bei den N i c h t v e r-
heirateten: Schwerversöhnlichkeit, Wechsel in Sympathien, festgerichtete
Meinungen, Veränderungssucht, Neigung zum Berufswechsel und zur Pro-
jektenmacherei, Leben für die Gegenwart und Widerspruch zwischen Denken
und Handeln". „Also durchschnittlich pro Generation eine Zunahme sitt-
lich wertvoller und eine Abnahme sittlich verwerflicher Eigenschaften um
etwa 1 bis 1.5 "/o". „Es ist uns also in der Ehe wohl eine bestimmt ge-
richtete, unabänderlich auf die Verstärkung wertvoller Eigenschaften hin-
arbeitende Kraft gegeben. Darum ist zu erwarten, dass sie auf die Dauer
die Gesamtentwicklung beherrschen wird". — 0. von der Pfordten,
Empfiudung iiud GefühL S. 60. Die Unterschiede zwischen Empfindung
und Gefühl sind: „1. Empfindung ist das psychophysische Element des
Seelenlebens und bezeichnet den Uebergang vom Reiz, dem rein physischen,
zur Vorstellung, dem rein psychischen Vorgang . . . Ein Komplex von Vor-
stellungen (ein Ding) besitzt eine Intensität oder Temperatur, die wir Gefühl
nennen. 2. Empfindungen sind qualitativ verschieden, spezifisch-charakte-
ristisch; dagegen gibt es nur ein Gefühl, das sich in wechselnder Stärke
auf die Vorstellungsgruppen verteilt und dessen Stärke und Bewegung das
vitale Ich, die seelische Individualität konstituiert. Empfindungen sind
einzeln, Vorstellungen haben einen Inhalt, das Gefühl ist ein Akzidenz der
Vorstellungen. Empfindungen sind intermittierende Vorgänge, Gefühl ein
dauernder Zustand. 3. Gefühle haben nur Intensität oder Stärke, denn
das Gefühl ist nur Intensität. Empfindungen haben Stärkegrade und ausser-
dem eine vitale Variabele, die wir mit Lust -Schmerz bezeichnen. Das
Gefühl aber bildet eine andere Skala, je nachdem sie diese Empfindungs-
skala beantwortet, diese bezeichnen wir am besten mit Ausdrücken, wie
Freude-Leid u. dgl. . . . Empfindungen sind lokalisiert im Körper, Gefühl
völlig zentral. 4. Empfindungen haben immer Wirkungen auf den Körper,
Gefühle prinzipiell auch, tatsächUch aber nicht immer . . . Der Ausdruck
der Gefühle kann nämlich durch den Willen verhindert werden; der
Schmerz dagegen nicht ... Affekte nennen wir so starke Gefühle . . ., denen
gegenüber der Wille ziemlich machtlos ist; diese haben dann regelmässig
wieder Ausdruckssymptome bzw. körperliche Wirkungen". — W. Frank-
further und R. Thiele, lieber den Zusammenhang zwischen Vor-
stelliingstypus und sensorisclier Lernweise. S. 96. „1. Die Menge
des behaltenen Materials war bei unseren akustischen Versuchspersonen
für die das akustische Element berücksichtigenden Einprägungsweisen am
grössten, die dem Typus entsprechenden Einprägungsweisen erweisen sich
also als die günstigsten. 2. In Bezug auf die subjektive Sicherheit, mit
der die Reaktion erfolgt, hat sich gezeigt, dass die dem Sinnestyp der
Versuchspersonen entsprechende Lernweise die subjektiv sichersten Re-
aktionen lieferte. 3. Eine Beziehung zwischen der Reaktionszeit oder der
Zeitschriftenschau. 117
Reproduktionsbereitschaft der Gedächtnisvorstellungen und dem Sinnestyp
hat sich nicht feststellen lassen. 4. Die Sinnesqualität, in der die Re-
produktion erfolgt, wird in erster Linie durch den Typus, in zweiter Linie,
eventuell auch gegen den Typus, durch die Darbietungsweise bestimmt".
— 0. Selz, Besprechung über A. Michotles und E. Prüms Etüde experi-
mentale sur le choix voluntaire. — Literaturbericht.
3. Heft : Auguste Fisciier, Neue Versuche über Reproduzieren
und Wiedererkeunißu. S. 461. „Es ist sicher, dass das Wiedererkennen
nicht einen Reproduktionsprozess von einem einigermassen erheblichen
Entwicklungsgrad zur Voraussetzung hat. Es lässt sich jedoch aus den
Versuchen nichts beibringen, das mit der Annahme eines sehr geringen
Grades von Reproduktion als notwendiger Bedingung zum Zustandekommen
des Wiedererkennens unvereinbar wäre, aber aucli nichts, was diese An-
nahme zur Erklärung unbedingt forderte. Sicher ist ferner, dass, selbst
wenn das Wiedererkennen an die Aktualisierung eines geringen Grades von
unterschwelliger Reproduktion notwendig gebunden sein sollte, dieses doch
nicht das einzige ausschlaggebende Moment für das Wiedererkennen sein
kann, vielmehr noch einer oder mehrere wesentliche Faktoren daran be-
teiligt sein müssen, denen vor allem die grossen Schwankungen in dem
Verhältnis von Reproduzieren und Wiedererkennen zur Last fallen". —
Literaturbericht.
4. Heft : K. Groos, Untersuchungen über dejs Aufbau der Systeme.
S. 241. V. Die radikalen Lösungen. Die radikale Ueberwindung eines
Dualismus besteht darin, dass der eine des fraglichen Gegensatzes aus-
geschaltet wird, während der andere mit dem An.spruch, für sich allein zu
genügen, erhalten bleibt. Ein solches Paar tritt uns am auffälligsten in
der Entwicklung des Spiritualismus und Materialismus in der cartesianischen
Weltanschauung entgegen. Als erster i-adikaler Vertreter des ersteren kann
Berkeley, des zweiten Hobbes genannt werden. — Literaturbericht.
5. und 6. Heft : W. Köhler, Bibliographie S. 321 der deutschen
und ausländischen Literatur des .Jahres 1911 über Psychologie, ihre Hülfs-
wissenschaften und Grenzgebiete. Enthält 3201 Nummern.
3] Zeitschrilt .für Philosophie und philosophische Kritik,
herausgeg. von H. Schwarz. 1912.
147. Bd., 1. Heft: Dieser ganze Band ist den Brisprecliungen von
„Vaihingers Philosophie des Als Ob" gewidmet. — P. Scliwartzkopf,
Sind nur Empfindungen wirklich '? 8. 1. „Einige Bedenken gegen die
erkenntnistheoretische Grundlegung von H. Vaihingers idealistischem Posi-
tivismus". Vaihinger hat die Grundgedanken der Kantischen Erkenntnis-
theorie bis auf einen Punkt geführt, welcher einen Abschluss dieser Deijk-
bewegung darstellt. Weiter scheint man auf diesem Wege nicht vordringen
zu können. Seinem Werke „kommt eine epochemachende Bedeutung für
das Verständnis der Philosophie Kants zu. Hat er doch durcii eingehende
118 Zeitschriftenschau.
Untersuchung der Schriften desselben endgültig festgestellt, dass schon
dieser nach den tiefsten Motiven und Konsequenzen seines philosophischen
Urteils die Ideen, vor allem die praktischen, als blosse Fiktionen gewertet
hat. Hierin ist Vaihinger also Kants echter Nachfolger". „Das Denken,
welches die Vorstellungswelt erzeugt, bedeutet ihm eine künstliche Um-
formung von Empfindungen, die ihm das einzig objektive Wirk-
liche sind. So löst sich die Vorstellungswelt, als eine mit rein
subjektiven Mitteln bewirkte Transformation von Sensationen, in ,Fik-
t i 0 n e n' auf. Dieselben sind aber zweckmässig, obgleich sie der W^irk-
lichkeit nicht entsprechen, sondern ihr widersprechen, weil sie ein Weltbild
produzieren, nach welchem das objektive Geschehen berechnet und unser
handelndes Eingreifen in den Gang der Geschehnisse erfolgreich ausgeführt
werden kann. Und zwar gilt dies für theoretisches Forschen, wie für
praktisches Handeln und künstlerisches Darstellen". — Vaihinger steht vor
der Danaidenarbeit, „dass ein fingiertes Subjekt mit bloss fingierten Mitteln
eine Welt der Fiktionen ins Dasein setzen soll. . . Hier muss der Sohn
den Vater erst erzeugen". — H. Hegeuwald, Die Gottestatsache. S. 44.
„Religionsphilosophische Erörterung im Anschluss an Vaihingers Als-Ob-
Philosophie und an Euckens Philosophie des Geisteslebens". — H. Leh-
mauu, Glaubensbetrachtuug und Geschichtsforschung in ihren Prin-
zipien. S. 82. ,,Ein Wort zur Kritik des Historismus". — P. Petersen,
Voluntarismus und Intellektualismus. S. 101. „Kritische Betrachtungen
zu E. Meumanns ,Intelligenz und Wille'." — Rezensionen.
2. Heft : G. Spengler, Das Verhältnis der ,, Philosophie des
Als-Ob" H. Vaihingers zu Meiuongs ,, lieber Annahmen". S. 129.
Vaihingers Fiktionen bestätigen und exemplifizieren zum Teil die Annahmen
Meinongs. — G. Jakoby, Der amerilcanische Pragmatismus und die
„Philosophie des Als-Ob". S. 172. Beide beruhen auf dem Begriff der
Erkenntnis als eines Lebensvorganges. „Demnach ist die Philosophie des
Als-Ob keine blosse Bestätigung des amerikanischen Pragmatismus. Sie
geht teilweise andere Wege, und in diesen anderen Wegen geht sie über
den amerikanischen Betrieb des Pragmatismus hinaus . . . Der amerikanische
Pragmatismus ist allgemeine Psychologie und allgemeine Logik und leitet
seine Sätze aus den allgemeinsten Voraussetzungen der Psychologie und
Logik ab. Dagegen ist die Philosophie des Als-Ob eine Untersuchung über
die Verfahrungsweisen der Wissenschaften im einzelnen und zieht von da
aus ihre Schlüsse". „Die Philosophie des Als-Ob kündigt sich an als
auf dem Grunde eines idealistischen Positivismus ruhend. Auch darin
unterscheidet sie sich wesentlich als , deutscher Pragmatismus' von dem
amerikanischen". — 0. Samuel, lieber diskursive Sophismen. S. 185.
Gegen B. Urbachs Erklärung der logischen Paradoxa durch Relationen.
Vf. findet in allen diesen Sophismen denselben Irrtum. „Die Verwechslung
der möglichen, mittelbaren, mit der unmöglichen , Selbstgegenständlichkeit'
von Urteilen und Begriffen". Er zeigt dies insbesondere am ,, Lügner". —
Rezensionen. — Programm der in Berlin neugebildeten Gesellschaft
für positivistische Philosophie.
Miszellen und Nachrichten.
Eine neue Theorie der Erlösung- bietet R. 0. Koppen in den
„Grundlagen zu einer Philosophie der Relation" '). Das endlich erlösende
Wort bietet die Relation. Hören wir den Vf. darüber selbst:
Die Flamme ist die sichtbar gewordene Beziehung zwischen Kohlenstoff
und Sauerstoff. Uebertragen wir dieses Bild auf den „Willen'*, so müssen
wir sagen, dass der Wille als solcher analog der Flamme als solcher gar
nichts Positives darstellt, dass er eben nur als Vorgang, nämlich als der des
Bewusstwerdens der Beziehungen zwischen Raum und Zeit, oder anders
ausgedrückt, des uns Bewusstwerdens vom Wirken der Kausalität begriffen
werden kann. Darnach ergibt sich, dass dem Willen nichts Metaphysisches
zu gründe liegt, dass er nicht das Beharrliche ist.
Beharrend wäre nur das Wirken von Zeit und Raum in ihrer Polar-
Identität, und dieses Wirken werde ich in Zukunft der Einfachheit halber
stets als die „Relation" bezeichnen. Ich setze also die „Relation" als das
zwischen allen Geschehnissen Liegende, was sich nie greifen, aber auch
nie wegdenken lässt. Sie ist mir weder Einheit noch Vielheit, noch irgend
etwas Positives, sondern lediglich ein Vorgang, dessen Begleiterscheinung
die von uns angeschaute Welt ist.
Hier liegt das grosse Mysterium eingeschlossen, das seiner Wesenheit
nach weder von den bisherigen Einheitssystemen in ihrer Starrheit noch
von der dualistischen Weltanschauung in ihrem unüberbrückten Parallelis-
mus berührt werden konnte. Diesen Philosophen musste notwendig der
„Dens" als etwas Feststehendes, Vollendetes gelten, wogegen nach meiner
Auffassung das Göttliche nur als ein Vorgang, eben als die „Relation" be-
griffen werden kann.
Mit ewiger Magnetkraft ist unser Sein, ja das ganze Sein überhaupt
mit dem Bande der Relation verknüpft, und wir gleiten an diesem Bande
dahin, scheinbar frei schwebend, ohne es jedoch jemals fahren lassen zu
können. Sie ist das Unvernichtbare an jedem Menschen, vermöge dessen
er niemals aus dem Weltganzen herausgedrängt werden kann.
Unser Wille ist weiter nichts als die „Hemmung", durch die allein
die Relation in ihrer Wirkung wahrgenommen wird. Hemmung ist für uns
') Leipzig t912, Exzelsior -Verlag.
120 Miszellen und Nachrichten.
„Zeitwahrnehmung". Wille und Anschauung sind polaridentisch und machen
ihrerseits für uns die Materie aus. Es ist also der Wille gleichsam der
„Stromunterbrecher" , ohne den das Wirken der Relation nicht wahr-
genommen werden kann. Wir sind eben gar keine festgegründeten Persön-
lichkeilen, sondern stehen da als jener ewige Weltvorgang selbst, wir sind
durch und durch Relation, die uns vermöge ihres Stromunterbrechers,
dieses Grenzpflockes unseres Vorstellungsvermögens, erst die Idee eines
selbständigen Willens, einer individuellen Persönlichkeit vortäuscht. Mein
mir durch den Bewusstseinsvorgang vorgetäuschtes Ich in seiner ihm eigenen,
sich beständig wandelnden Beziehung zur Aussenwelt, das ist meine Seele.
Die Relation bietet auch die Erlösung. Nach Durchlaufen und gleich-
zeitig in sich Aufnehmen aller voraufgegangenen Relationsvorgänge tritt der
Mensch in das Stadium des Erkennens ein. Der Erlösungsprozess
1 i n d e i statt. Die Erkenntnis der Wahrheit in jedem einzelnen Falle,
das bedeutet für uns die Erlösung. Nicht erst brauchen wir zu warten auf
eine andere Welt, auf das Jenseits der Erlösung; denn dis Erlösung ist
immer da, ebenso wie die Verstrickung in die Relation. Himmel und
Hölle tragen wir in uns zu aller Zeit. Jene ist Unwissenheit,
daher Täuschung, dieser Erkenntnis und daher Wahrheit.
Da aber die Wahrheit unendlich ist, muss auch die Erlösung in der
Unendlichkeit stattfinden, d. h. sie kann nur ausserhalb der Relation statt-
finden, nicht etwa als ein einmaliger positiver Akt, was ich stets von neuem
betone, sondern als fortwährend sich wiederholender und immer nur einer
bestimmten Relationskonstellation entspringender transzendentaler Vorgang,
der jedoch durch das jeweilige Weiterschreiten der Relation innerhalb
ihrer unterlösten Verkettungen vermöge der intermissio und remissio beständig
neue Unterbrechungen erfahren muss, und dessen grosser Segen eben
gerade darin beruht, dass die in ihm begründete Seligkeit bei gleicher oder
ähnlicher Relationskonstellation stets von neuem ihren Ewigkeitswert offen-
bart. Durch die Erkenntnis führt der Weg zum Heil, nicht durch den Willen.
Nach diesen Aufstellungen des Vf.s hat er zuerst und allein den
Himmel erobert, die ganze Menschheit befand sich bis jetzt in der Hölle !
Einer Bewertung dieser neuen Erlösungslehre ist der Kritiker über-
hoben, der Vf. gibt sie selbst:
„Es ist ein ganz eigentümliches und zugleich erhabenes Gefühl, wenn
sich einem die Welt in Formen entschleiert, wie sie die Philosophie seit
ihrem Bestehen wohl noch niemals zum Ausdruck gebracht hat, und die
durch ihr logisches Zusammenfallen auf der metaphysischen Grenzlinie
wohl auch ein gut Teil von Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch
nehmen können".
„Dass ich selbst zum Gefäss wurde, in das diese Ideen gegossen, er-
zeugt in mir eine Art Offenbarungsempfmdung, die ihrer platonischen Idee
nach einem entsprechenden Erlösungsvorgange gleichkommt".
Miszellen und Nachrichten. 121
„Es mag sein, dass es meinen Ideen zum Vorteil gereichte, dass ich
unbeirrt durch all die zahlreichen Systeme stets meinen eigenen Weg ge-
nommen habe, jederzeit nach dem tastend und suchend, was mir mit
intuitiver Bestimmtheit, zuerst allerdings in unklaren, verschwommenen
Umrissen, vorschwebte, bis sich mir in Schopenhauer die Basis bot, die
geeignet war, meinen Ideen den Durchbruch zu erleichtern".
„Und als sie endlich zum Durchbruch kamen, da empfand ich die
wahre Befriedigung und Erquickung, die jeden ehrhch Denkenden über-
kommen müssen, wenn er für eine Idee, die sich lange Zeit hindurch
mit aller Kraft an ihn geklammert hielt, ihm Erbauung und Qual zugleich
war, endlich den langersehnten Ausdruck gefunden hat. Aus dem embryo-
nislischen Gedanken ging ihm die Erkenntnis der wahren Idee auf. Er
atmet Freiheit und Höhenluft".
„Meine Philosophie hat als erste den Versuch gewagt, einen gang-
baren Weg zu zeigen zu einer endhchen Ueberbrückung der seit altersher
bis auf die heutige Zeit als unüberwindlich betrachteten Kluft zwischen
Idealitätsphilosophie und Naturwissenschaft, und es ist sicherHch kein
schlechtes Zeichen für sie, dass sie auf Fragen aus dem beiderseitigen
Lager in gleicher Weise befriedigende Antwort geben kann. Sie ist eben
eine Philosophie gerechten Ausgleichs, die beweist, dass der beiderseitige
Standpunkt, jeder seiner Idee nach, eine Wahrheit enthält, die der anderen
polar-identisch ist, und dass beide Wissenschaften ihre Vereinigung in der
Relation und der Lehre von der intermissio relationis finden müssen".
„Sollte unsere empirische Erkenntnis, die durch die Psychologie und
die Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine ungeheure Er-
weiterung erfahren hat, auch in Zukunft, was nicht zu bezweifeln ist,
grössere Fortschritte machen, so glaube ich, dass eines Tages meine Idee
von der intermissio, von dem Willen als Stromunterbrecher, auch ihre
empirische Bestätigung finden wird, und dass die Neugestaltung des Idea-
lismus über Schopenhauer hinaus auf Grund der von mir geschaffenen
Basis zu einer notwendigen Forderung werden wird". (!)
Die Funktion der Zirbeldrüse. Ueber die Bedeutung der Zirbel-
drüse (Hypophyse), jenem kleinen Anhange des Gehirns zwischen den
Knochen der Schädelbasis, sind sehr verschiedene Aufstellungen gemacht
worden. Bekanntlich fasste sie Descartes wegen ihrer Mittelstellung im
Gehirn als Sitz der Seele auf. Andere bestritten ganz ihre funktionelle
Bedeutung und Hessen ihr nur die Bedeutung eines verkümmerten Organs.
Pathologische Erscheinungen, mit denen eine Veränderung der Hypophyse
verbunden war, Hessen sie als eine innersekretorische Drüse erscheinen.
Ihr Produkt wurde neuerdings mit sexueHer Erregung in Verbindung ge=
bracht : es solle den diesbezüglichen Rausch bewirken.
122 Misz eilen und Nachrichten.
Eine sichere Erklärung ist deshalb so schwer, weil die Exstirpation
sehr schwierig ist und, vielfach an Tieren vorgenommen, nicht glückte. B.
Aschner 1) hat nun eine Methode ersonnen, die Operation gefahrlos aus-
zuführen. Die Versuche zeigten, dass junge Hunde, denen im zweiten Monate
die Hypophyse entfernt worden, in ihrer ganzen Entwicklung ganz hinter
ihren normalen Brüdern aus gleichem Wurfe zurückbheben. Diese waren
im Alter von einem Jahre grosse ausgewachsene Tiere, während die ope-
rierten noch die Wollbehaarung des Säuglings trugen, Milchzähne hatten
und klein, unförmlich, fett waren. Sie sassen .stupide in einer Ecke ihres
Käfigs, spielen und bellen nicht, ihre Temperatur ist um 1 — Vh^C. niedriger.
Auch das Skelett behält seine kindlichen, zarten Verhältnisse, die
Epiphysenfugen bleiben offen. Die Schilddrüse zeigte sich kolloidal ent-
artet, die Rinde der Nebennieren verdickt ; das entspricht der ander-
weitigen Beobachtung, dass Drüsen mit innerer Sekretion sich stark beein-
flussen. Dieselben scheinen einer Entgiftung der Stoffwechselprodukte zu
dienen. Die operierten Tiere waren darum weit empfindhcher gegen In-
fektionen. Der Eiweissstoffwechsel sank auf Vs — V» des normalen. Die
Geschlechtsorgane waren schlecht entwickelt, der Geschlechtstrieb fehlte;
Exstirpation der Hypophyse während der Gravidität unterbrach diese.
Damit ist die evolutionistische Annahme von der rudimentären Natur
der Hypophyse widerlegt.
lieber die Funktiou der Puiiktaugen der Insekten herrscht noch
grosse Unsicherheit unter den Zoologen. Sehr eingehend sind ihre Facetten-
augen untersucht, und ziemlich übereinstimmend ihre Bedeutung für das
Sehen von Bewegungen bestimmt worden. Neben diesen grossen, seit-
lich gestellten, aus einer grossen Anzahl von Linsen zusammengesetzten
Sehorganen besitzen Insekten und Spinnen noch einfache Stirnaugen, Ozellen,
Stemmen, Punktaugen, gewöhnlich in der Dreizahl, bei den Spinnen 2 — 8.
Stirnauge ist eigentlich nur eines, neben dem seitlich zwei andere stehen.
Neue Untersuchungen über ihre Anatomie und Physiologie haben R.
Demell und L. Scheuring angestellt^), und eine ganz neue Auffassung
derselben plausibel gemacht. Die bisherigen Erklärungen weisen sie als
unbefriedigend zurück, mit Ausnahme der von M. de Serres, Kalbe,
Hesse und Link, nach welchen sie in Verbindung mit den Facettenaugen
schneller Fortbewegung dienen. Durch das Zusammenwirken beider Systeme
werde ein grösseres Gesichtsfeld, insbesondere auch nach oben erreicht.
Die speziellen Hypothesen dieser Vorgänger lehnen die Verfasser aber ab.
So widerlegen sie die Meinung von Hesse und Link, dass die Ozellen der
Regulation der Körperhaltung beim Fliegen dienen, die guten Flieger er-
') Pflügers Archiv f. Physiol. 1912 S. 1 ff. Naturw. Rundsch. 1912 S. 55 ff.
2) Zeel. Jahrbücher 1912 Bd. 31 S. 519 ff. Die Bedeutung der Ozellen der
Insekten.
Miszellenund Nachrichten. ' 123
leiden weniger Veränderung der Körperlage beim Fliegen als schlechte.
Eine Untersuchung der Anatomie des Punktauges ergab, dass sie weder
weit- noch kurzsichtig sind. Damit fällt die Hypothese vieler, dass sie dem
Nahesehen dienten. Ihre anatomisch-physiologische Ausbildung widerlegt
auch die Behauptung, dass sie bedeutungslos, verkümmerte Organe seien.
Die Funktion des Dämmerungssehens (Forel, Lubbock u. a.) ist auszu-
schHessen, da z. B. die Bienen nur im Sonnenlichte gut sehen, nicht in
der Dämmerung.
Reaumur hatte beobachtet, dass nach Ausschaltung der Facetten-
augen die Insekten nicht mehr sehen ; daraus folgt nicht, dass sie funktions-
los sind, sondern „dass die Ozellen der normalen Funktion der
Facettenaugen bedürfen, wenn ihre eigenen Impulse in geordneter
Weise wirken sollen". Da die Facettenaugen räumlich gesonderte Bild-
punkte (Formen) gut unterscheiden, bleibt für die Stemmen nur die Ent-
fernungslokalisation als Funktion übrig. Ohne die Ozellen wären die In-
sekten nur innerhalb des binokularen Sehraums zur Entfernungslokalisation
befähigt, so können sie auch nach oben lokalisieren.
Tatsächlich fanden die Verfasser, dass das gesamte Sehfeld der Ozellen
in das Sehfeld der Facettenaugen fällt. Ferner ist ein mittlerer Ozellus
nur vorhanden, wenn der binokulare Sehraum stark ausgebildet ist.
Im Gehirn fanden sie eine Verknüpfung der Nerven der Ozellen und
der Facetten; die Ganglien beider Systeme stehen in sehr direkter Ver-
bindung. Die Ozellen können also recht wohl die Entfernungslokahsation
der Facetten fördern. Allerdings gilt dies alles nur für die Imagines, nicht
für die Larven, die ja nicht fliegen^).
Eine neue Energetik bietet L. Gilbert in der Eröffnung einer
Reihe wissenschaftlicher Arbeiten „Fundamente des exakten Wissens" 2),
die er selbst „eine mehrjährige Hirnevolution, eine physiologische Ent-
wicklung in einem Individuum" benennt. Er bezeichnet es als das erste
System der Energetik seit Robert Mayer. Was wird Ostwald dazu sagen?
Doch worin besteht die neue Entdeckung?
„Sein Werk stellt über den Begriff der Arbeit den höheren des Wirkens
und der Wirkungskette auf, krönt das Werk R. Mayers, Helmholtz', Joules
und der anderen ab, indem es den bisherigen Satz von der Erhaltung der
Energie zu einem Detail reduziert, über dem zwei grundlegendere und um-
fassendere Erhaltungssätze stehen; Die Grunderhaltung und die Erhaltung
der Arbeitskette. Es zeigt in der Grunderhaltung, wie alte Werte in sich
selbst unzerstörbar sind, selbst die der Form und die seelischen, weil sie
alle nur Anschauungsseiten einer einzigen grossen Einheit, des korrelären
') Vgl. Naturw. Rundschau 1912 Nr. 40 S. 510 ff.
-) Neue Energetik, Dresden 1912.
124 Miszellen und Nachrichten.
Monismus, sind. Es zerstört die Entropiefabel und die Möglichkeit einer
kinetischen Theorie in der Materie : das Märchen von der rasenden Rotation
der Atome Kelvins. Es zeigt, wie aus Gleichgewichten und Gegensätzen
wieder Gegensätze und Ausgleichungen entstehen; und wie diese Aus-
gleichungen wieder unter einander streitende Gegensätze bedeuten, wodurch
das grosse, endlose, ewige Weltwirken bedingt ist".
Von dieser angeblich neuen Entdeckung verspricht sich der Entdecker
einen vollen Umschwung unseres Wissens, es ist „ein System, das in sich
die ganze Triebkraft enthält zur endlosen Entfaltung unseres Wissens auf
diesem Gebiete".
Eine Kritik dieses Systems ist überflüssig, nur den Anspruch auf eine
ganz neue Entdeckung kann es nicht erheben; denn es repristiniert nur
die (flia und das vEly.og des alten Griechen und die Identitä des Gegen-
satzes von Hegel. Der Verf. behauptet mit diesem ausdrücklich, „dass die
identische Gegensätzlichkeit oder das Korrelat eine Haupt- und Grundformel
alles Denkens bildet".
Pllilosopli. Jalirbfich der Görres-ßesellscfiaff.
26. Band. 2. Heft.
Die Gestalt der platoiiisclien Ideeiilelire in den
Difilogeii „Farmen ides'' und .,Soi)histes".
Von Dr. phil. Paul Schmitfranz in Rheine.
Wohl bei keinem bedeutenderen Philosophen lässt sich mit ge-
ringerer Bereclitigung von einem System sprechen als bei Platoii.
önerniüdhch hat er an dem Gebäude seiner Philosophie gearbeilel,
bald diesen bald jenen Teil umändernd oder erweiternd, und er lial
sich auch nicht gescheut, einen Teil niederzureissen , der den
Forderungen seiner eigenen eindringenden Kritik nicht mehr ent-
sprach. Gerade die Fundamente des stolzen Baues seiner Ideen-
lehre trugen den Keim zu schweren Erschütterungen in sich. Denn
indem Piaton der Welt der sinnlichen Erscheinungen eine völlig
abgesonderte ideale Welt gegenüberstellte, erwuchs .seiner Dialektik
die schwierige Aufgabe, die Beziehungen dieser beiden Welten auf-
zuhellen. Schon dieses eine Grundproblem hat mannigfaltigejWand-
lungen in Piatons Anschauungen hervorgerufen '). Ist somit seine
Philosophie in ständiger Entwicklung geblieben, so ist es nicht leicht,
bestimmte Abschnitte in dieser Entwicklung zu unterscheiden und
dementsprechend die Dialoge einzuteilen. Am besten scheint es mir
immer noch, zwei Perioden zu unterscheiden, deren erste, die so-
kratische, etwa durch den „Staat" abgeschlossen wird, deren zweite,
charakterisiert durch eine Revision der gesamten platonischen Philo-
sophie und insbesondere der Ideenlehre, durch die beiden Dialoge
Parmenides und Sophistes eingeleitet wird. Die in diesen beiden
Dialogen hervortretende Neugestaltung der Ideenlehre soll der Gegen-
stand der nachfolgenden Erörterung sein. Bevor ich jedoch in die
Erörterung eintrete, muss ich vorausschicken, dass ich mich der
durch Natorp^) u. a. vertretenen Auffassung der Ideenlehre nicht
anzuschliessen vermag, wenn ich auch dem Scharfsinne, mit dem
Natorp die platonischen Dialoge interpretiert hat, meine Bewunderung
nicht versagen kann. Aber eine prinzipielle Auseinandersetzung mit
0 Aus diesem Grunde halte ich es auch für verfehlt, von einander ab-
weichende Anschauungen PJatons in verschiedenen Dialogen in Einklang mit
einander bringen zu wollen. Ich habe mich daher in der folgenden Unter-
suchung meistens damit begnügt, abweichende Ansichten in anderen Dialogen
lediglich festzustellen.
-) P. Nalorp, Piatos Ideenlehre, Leipzig 1903.
Philosophisches .Jahrbuch 1913. •'
12G • Paul Scliniilliuiiz.
dieser Richtung würde über den Rahmen unserer Untersuchung hinaus-
gehen Deshalb kann ich auch auf die sehr ins einzelne gehende
Arbeil Harünanns \) nur kurz eingehen,
I.
Der Dialog ..Parmenides" zerfällt in zwei scharf von einander
gelrennte Hauplteile, in deren erstem Parmenides schwerwiegende
IJedenken gegen die Ideenlehre vorbringt. Diese Einwendungen will
ich zunächst der Reihe nach erörtern.
Bei der Kritik der Schrift Zenons hat Sokrates die Ideenlehre
als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Das gibt dem Parmenides
Veranlassung zu fragen, ob Sokrates auf allen Gebieten eine Unter-
scheidung zwischen Ideen und Einzeldingen mache, und er stellt
ihm vier Klassen von Ideen vor, zuerst die logischen Begriffe der
Aehnlichkeit, Einheit, Vielheit und die ethischen des Gerechten,
Guten und Schönen, dann folgen die Ideen des Menschen, des Feuers
und des Wassers und zuletzt verachtete und geringfügige Dinge wie
Haare. Lehm, Schmutz. Flinsichtlich der unkörperüchen Dinge, also
der beiden ersten Klassen, ist Sokrates ohne weiteres geneigt, Ideen
anzimehmen ; bezüglich der dritten Klasse hat er oft geschwankt,
und hinsichtlich der vierten möchte er zunächst jede Annahme von
Ideen abweisen, wenn er sich auch oft Gedanken gemacht hat, ob
nicht doch von allen Dingen ohne Unterschied Ideen anzunehmen
seien. Diese Inkonsequenz wird von Parmenides getadelt und mit
der jugendlichen Unreife des Sokrates entschuldigt. Dass Piaton
hier seinen Lehrer eine solche Unsicherheit hinsichtlich des Geltungs-
bereichs der Ideen bekunden lässt, ist um so auffallender, als er im
., Staat", der doch wohl vor dem „Parmenides'' geschrieben ist. aus-
drücklich erklärt hat, dass für alles, was denselben Namen trüge,
auch Ideen angenommen werden müssten -). Und gleich darauf
spricht Piaton beispielsweise von der Idee eines geringfügigen Gegen-
standes, einer /Inr^. Wenn wir also die Priorität dieser Stelle des
,, Staates" aufrecht erhalten wollen, so erscheint obige Abstufung der
Ideen immerhin in einem etwas seltsamen Lichte ^). Vielleicht liegt
darin ein Hinweis auf den Gedankengang, den Plalon durchgemacht
hat. Der Ausgangspunkt seiner Ideenlehre liegt ja darin, dass er
die schon von Sokrates angenommenen allgemeinen Begriffe auf das
Gebiet des Seienden übertrug. Nun ist es klar, dass ihm die All-
gemeinheit der Begriffe der Aehnlichkeit, Einheit und Vielheit oder
') N. Hartman«, l'lalos Logik des Seins, Giossen 1909.
'■') Polit. X, 596a: tiöo; yä^ nov 7i tv exaoToy (l(')9a/jey tlS-kjOui nSQi exaoTa
7« noUiä, ; ol; ravcdv ovoua Eni(peQOfier. — Ich habe nach der Ausgabe von J.
Burnel, Piatonis ^opera, Oxford 19C0— 1907 zitiert.
*) Diejenigen freilich, die an eine gesonderte Herausgabe der einzelnen
Teile des „Staates" glauben und einzelne Abschnitte desselben nach dem
., Parmenides" ansolzon, werden in dieser Stelle d(s „Staates" leichl eine Ant-
wort auf Jenes HcJenkcn <les I^armenides sehen.
Die Gestalt der platonischen kieenlelire in „Pannenidos" n. ,.Si))il)iste.s". \'}7
des (jerechlen, Guten und Schönen eher zum Bewusstsein kam als
die der BcigTÜTe der Substanzen, da er ja bei diesen erst die Gattung
aufstellen musste, um sie in das Gebiet der Allgemeinheit zu er-
heben ^). Dazu kommt noch ein anderes Moment. Die Ideen der
lügischen und ethischen Begriffe widersprachen nicht dem Bilde, das
Piaton sich von dem idealen Jenseits als einer Welt des Schönen,
Guten und Vollkommenen gemacht hatte. Bedenklicher war das
schon hinsichtlich der dritten Klasse, und bei der vierten trat die
Disharmonie vollends zu Tage. Im übrigen deutet der Tadel, den
Parmenides dem Sokrates ob seiner Inkonsequenz zuteil werden
lässt, vielleicht darauf hin, dass tatsächlich Gegner Piatons seine
Lehre durch solche Einwände lächerlich zu machen suchten, und
dass Piaton glaubte, sich dieser nicht besser erwehren zu können
als dadurch, dass er sie jugendlicher Unreife zieh.
Grössere Schwierigkeiten bereitet schon der nächste Einwand
des Parmenides, der sich auf das "Verhältnis der Einzeldinge zu den
Ideen bezieht. Sokrates hatte dieses Verhältnis kurz zuvor als ein
Teilnehmen oder Teilhaben bezeichnet (129a -c: /tteTaiafißdrsa,
ftsTtxstv). Parmenides zeigt nun, dass die Einzeldinge entweder an
der ganzen Idee oder an einem Teile derselben teilhaben müssen.
Im ersten Falle, meint Parmenides, wenn die ganze Idee in jedem
der vielen gesondert von einander bestehenden Einzeldinge vor-
handen sei 2), müsse sie notwendig von sich selber gesondert sein.
Diesem Einwand begegnet Sokrates nicht ungeschickt mit dem Ver-
gleich vom Tageslicht: auch der Tag sei nur einer und doch an
vielen Orten zugleich, ohne von sich selber getrennt zu sein. Er
hätte, noch hinzufügen können, dass er auch an jedem der vielen
Orte ganz sei; denn dadurch hätte er den weit plumperen Gegen-
vergleich des Parmenides vom Segeltuch unmöglich gemacht^). Im
anderen Falle, wenn die Dinge an einem Teile der Idee Anteil haben,
geht die von Piaton so oft betonte Einheit der Idee verloren. Damit
ist Sokrates zu dem Geständnis gezwungen, dass er nunmehr nicht
weiss, wie er sich das Verhältnis von Ideen und Einzeldingen er-
klären soll. — Fragen wir uns nun, wie Piaton sonst über dieses
Verhältnis gedacht hat, so ist festzustellen, dass er in den älteren
Dialogen von einer „Anwesenheit" der Ideen in den Dingen spricht,
z. B. Lach. 189 e [naQayiyveodai), Gorg. 497 e, 498 d, 506 d {tzuq-
ovola^^coQsivai, TiaQayiyvso^ai)^). Im Symposion (211a -b) wird
>) Vgl. G. Schneider, Die platonische Metaphysik auf Grund der im
Philebus gegebenen Prinzipien in ihren wesentlichsten Zügen dargestellt,
Leipzig 1884, 69.
^) Dass Parmenides hier die Vorstellung vom Vorhandensein der Idee in
den Dingen mit der von der Teilnahme der Dinge an der Idee verwechselt,
hat schon Raeder bemerkt (Piatons philosophische Entwicklung, Leipzig 1905, 303).
=») Im übrigen wird durch solche Gleichnisse, so gut sie auch gewählt
sein mögen, nichts bewiesen.
*) Im Euthyd. 301a spottet Dionysodoros über diese naqovaia, und im
Lysis 217 b - e wird nur mit Vorbehalt von ihr gesproclion ; vgl. Raeder, Piatons
philos. Entwicklung 166.
9*
li^g Paul Scliniil franz.
die Möglichkeit eines solchen VerhüUnisses zwischen Ideen und Dingen
abgewiesen, und hier findet sich zum ersten Male die Darstellung
vom Teilhaben der Dinge an der Idee '). Im ,.Phädon" (100 d) bedient
sich Piaton der Ausdrücke ,. Anwesenheit" und „Gemeinschaft", er-
klärt aber zugleich, er wolle kein bestimmtes Urteil abgeben -). Kurz
vorher und nachher ündet sich uEitxeii (100c), t-iETaGyaoi^ (101),
iiFTa/iafifiäieii' (102 b). Im „Philebos" (1 5 b; wird der Schwierigkeil
dieser Frage nochmals Erwähnung getan ^), ohne dass eine Lösung
gegeben wird ; es wird nur auf die Dialektik als Mittel zur Lösung
verwiesen*). Im ,,Timaeus" endlich wird sowohl die Annahme des
Vorhandenseins der Ideen in den Dingen als auch die der Anteil-
nahme der Dinge an den Ideen als unmöglich zurückgewiesen ^). Es
ist nun meines Erachtens nicht zu leugnen, dass hier ein deutlicher
Wechsel der Anschauungen sich bemerkbar macht. Zuerst ist nur
von der Anwesenheit der Idee in den Dingen die Rede, dann wird
unter Ablehnung dieser Annahme eine neue aufgestellt von der Teil-
nahme der Dinge an der Idee, dann soll in einer Zeit des Zweifels
und der Unsicherheit die Frage unentschieden bleiben, und schliess-
lich werden beide Annahmen als unmöglich abgelehnt^). Jedenfalls
sieht man, dass Piaton sich zu den verschiedensten Zeiten mit dieser
Frage beschäftigt, und dass sie ihm anscheinend viel Kopfzerbrechen
verursacht hat. Zu einer reinen Lösung ist er wohl nie gekommen;
ja man muss Apelt^) recht geben, wenn er meint, die Grundlagen
der platonischen Philosophie hätten eine Aufklärung dieses Verhält-
nisses überhaupt nicht zugelassen. Da nun aber diese ganze Frage
sich besser im Zusammenhang mit den anderen Einwänden des
Parmenides erörtern lässt, will ich zunächst die beiden noch übrigen
Einwände besprechen.
Nachdem Parmenides die Einheit der Idee nochmals betont hat.
wendet er sich zu einem neuen Einwand gegen die Ideenlehre, der
diese Einheit schwer zu erschüttern droht. Denkt man sich Ideen
und Einzeldinge von einander gesondert sich gegenüberstehen, so
ergibt sich, dass beide an einer dritten Idee, an einer Idee höherer
*) Synip. 211 a: oväinov oy hr irEQU) iivi, . . . uXV avio xaü^ uvzo //f5^'
avTov uotoetSi; atl oi; tu öe i^dlie nävTa xaiii exeäov «eTf;fO)'ra tqÖttov riva
roLOVToy . . .
^) Phaed. 100 d : on oCx ällo ti. noisl «vtÖ xa/.6y tj ^ ixeivov rov xai.ov eXre
■naoovfiia tHif xoiyioyi'a shf onj] drj xnl onoH TiQoaysi'Ofjsytj' ov yno trt tovto
•') Phileb. 15 b: usra Se toZt^ ky toZ; yr/yojut'yOLg av xai untiqoi; elre Sie-
aTtanuEyrjv xcu noXXa ysyoyvTay dsre'oy, fl'.^-' ol>]y aCrtjy avTtj; XcaQt'g.
' *) Vgl. 0. Apelt, Beitnij;e zur Geschichte der griech. Philosophie, Leipzig;
1891, 4L
^) Tim. 52a: öuoXoytjiioy 'iy fisy dvai i6 xaia Tavra eiSo; f/O'S aytyitjTor
xai ayo'de^Qoy, ovre eii eavTo flads^^öueyov allo aXXo'Jty olre avro elg alXo noi lov.
"') Schon hieraus ergibt sich,' dass es nicht angeht, mil Natorp (Piatos
Ideenlehre 228) ilioKe Ausdrücke der Teilnahme usw. für blosse Metaphern
zu ha'ten.
") Heiträge 41.
Die Gestalt der platonischen Ideenlehi'e in „Parmenides" u. „Sophisles.". 129
Ordnung teilhaben, und dieser Prozess muss bis ins Unendliche
lortgesetzt gedacht werden, sodass an die Stelle der Einheit der Idee
eine unendUche Vielheit tritt. Gegen diesen Einwand weiss Sokrates
sich nicht anders zu verteidigen, als dass er die Sonderexistenz der
Ideen ganz aufgibt und sie als blosse Gedanken in der Seele fasst;
auf diese Weise würde ihre Einheit gewahrt. Darauf erwidert
Parmenides, jeder Gedanke müsse ein Objekt haben, und dieses
Objekt sei eben nichts anderes als die Idee, wie sie vorher aufge-
fasst wurde; die Schwierigkeit bliebe also bestehen. Ausserdem,
wenn die Ideen Gedanken seien und die Dinge an ihnen teilnähmen,
so müssten die Dinge entweder aus Gedanken bestehen und somit
denken, oder sie müssten, obwohl sie die Gedanken in sich auf-
genommen hätten, doch nicht denken können. Beides erklärt So-
krates für ungereimt und sucht einen neuen Ausweg darin, dass er
die Ideen als Musterbilder {rcaQa(hiyi.ta%a) setzt und die Sinnendinge
als deren Abbilder (öiiiotc')f.iaTa), sodass die Beziehungen zwischen
beiden nur darin beständen, dass letztere den ersteren ähnlich wären.
Parmenides weist diese Annahme zurück, indem er zeigt, dass es
dann wieder ein gemeinsames Drittes geben müsste, dem beide ähn-
lich seien, und so fort ins Unendliche. Es würde sich also wieder
dieselbe Schwierigkeit erheben wie vorher.
Dieser Einwand des Parmenides ist unter dem Namen des
iQiTog äv&QO)7T,os bekannt und findet sich z. B auch bei Aristoteles
{Metaph. A9, 990 b). Baeumker^) hat gezeigt, dass Polyxenos,
ein Schüler des Megarikers Bryso, Zeitgenosse und Gegner Piatons,
sich dieses Arguments gegen Piaton bedient hat. Der Einwand wird
also von Polyxenos selbst oder aus seiner Umgebung stammen,
d.h. er ist höchst wahrscheinüch megarischen Ursprungs. Die
völlige Subjektivierung der Idee, durch die Sokrates zunächst ihre
Einheit zu retten sucht, findet sich sonst wohl nicht bei Piaton.
Dagegen ist es ihm ganz geläufig, das Verhältnis zwischen Ideen und
Dingen als das der Aehnlichkeit zu bezeichnen ^).
Ich komme zu dem letzten Einwand, den Parmenides als den
wichtigsten (jtiiyioTov 133 b) bezeichnet. Wenn die Welt der Ideen
für sich besteht, gesondert von der Sinnenwelt, wie ist es dann
möglich, dass der Mensch die Ideen erkennt? Denn dazu gehört die
Erkenntnis an sich, und diese besitzt nicht der Mensch, sondern
nur Gott, der dafür andererseits von der Erkenntnis der mensch-
lichen Dinge ausgeschlossen ist. Das letztere findet Sokrates wunder-
fich, wagt aber im übrigen keine Widerlegung des Einwandes. Im
„Staat" (V 476 e — 478 d) hielt Piaton es noch für möglich, dass der
Mensch die Ideen erkenne ; denn dort werden die Ideen als Objekte
des Wissens bezeichnet, die sinnlichen Erscheinungen als Objekte
der Vorstellung. Aber schon im „Phädr." (247d — e) wird zwischen
') lieber den Sopliisten Po1yxeno.s. l^hein. Mus. N. F. XXXIV M (T.
•-) Vgl. z. B. Staat VII 514 ff., X 50(ib, Phaeär. 250a, 251a, T/waet. ITOe,
Tim. 28 c.
180 Paul Seh mit fr an X.
dem idealen und dem Einzelwissen unterschieden, und der Einwand
des Parmenides stellt sich nur als eine weitere Folgerung aus dieser
Unterscheidung dar.
Sieht man von der minder wichtigen Erörterung über den Um-
lang der Ideen ab, so bleiben drei Unklarheiten hinsichtlich der
Ideenlehre bestehen, nämlich die Frage nach dem Verhältnis der
Sinnenwelt zu der der Ideen, das Argument vom tquo^ äf^Qorio^:
und die Frage der Erkennbarkeit der Ideen. Bevor ich die Bedeutung
dieser Probleme für Piatons Lehre erörtere, wäll ich kurz auf die
Frage nach ihrer Herkunft eingehen. Welche Gründe konnten
Piaton veranlassen, selbst so gewichtige Bedenken gegen seine Lehre
hier zu äussern? Es wäre ja möglich, dass sie ihm selbst aufge-
slossen seien, und dass er sie sich gewissermassen von der Seele
schreiben wollte. Wahrscheinlicher aber ist, dass sie von anderer
Seite gegen ihn erhoben w'urden, und dass eine öffentliche Erörterung
sich nicht vermeiden liess. Nun hatten wir schon oben gesehen,
dass der Einwand vom tQuoL; äri)^Qi'>no^ höchst wahrscheinlich
megarischen Ursprunj^s ist. Dieser Umstand sowie die Tatsache,
dass dieser zweite Einwand sow'ohl wäe der erste vor allem die von
Piaton so oft betonte Einheit der Idee in Frage stellen, lässt uns
die Urheber der Angriffe bei den Megarikern suchen, von denen wir
ja wissen, dass sie von der sokratischen BegrilTslehre ausgehend
vor allem die Einheit des Seienden im Sinne der Eleaten betonten.
Zur Begründung ihrer Lehre bedienten sie sich des Zenonischen
Verfahrens. Dazu würde stimmen, dass Zenon und nachher Par-
menides als Gegner des Sokrates auftreten. Gegen diese Annahme
könnte nun sprechen, dass Aristoteles an der oben erwähnten Stelle
der Metaphysik das Argument vom rQiTO^ ä\i)Qw7io^ ohne Angabe
der Herkunft oder des Urhebers vorbringt. Daraus folgerte z. B.
Ueberweg\), dass der ,, Parmenides'- unecht und erst nach Aristo-
teles' Metaphysik geschrieben sei; denn sonst müsste Aristoteles als
Plagiator gelten. Andere haben, um Aristoteles von diesem Vorwurf
zu befreien, angenommen, Aristoteles habe den Einwand mündlich
in der Akademie oder in einer verlorenen Jugendschrift zuerst er-
hoben und ihn dann später als nicht hinreichend widerlegt von
neuem vorgebracht. Demgegenüber haben schon Apelt und Raeder'-)
gezeigt, dass alle diese Bedenken bei der Annahme vom megarischen
Ursprung des Einwands fortfallen; denn dann muss man ihn als
allgemein bekannt voraussetzen, sodass Aristoteles ihn ohne Angabe
der Quelle wiederholen konnte ^).
') Fr. Ueberweg, llnlersuchimgen über die Echlheil und Zeitfolge plalo-
nischer Schriften und über die Haupfmomente aus Piatos Leben, Wien 1861, 17ß ff.
'-') Apelt, Beiträge ")4, und Raeder, Piatos philos. Entwicklung 306.
•') Unerürlert soll hierbei die Frage bleiben, ob man bei einem Schrifl-
steller des Altertums dieselbe Peinlichkeil in der Angabc der Urheberschaft
voraussetzen darf wio bei cinein modernen Schriftsteller,
Die Gestalt der platonischen Ideenlehre in „Parmenides" u. „Sophistes". 131
Es bleibt mir nunmehr die wichtige Frage zu erörtern : Wie
stellt sich Piaton zu den gegen seine Lehre gemachten Einwänden?
Hat er ihre Berechtigung anerkannt? Meine Ansicht geht dahin, dass
Piaton ihre Berechtigung anerkannt hat und für den Augenbhck
nicht imstande war, sie zu widerlegen. Das eine steht jedenfalls
fest, dass Piaton die Schwierigkeiten nicht für so bedeutend ansah,
dass sie ihn zum Verzicht auf seine Ideenlehre gezwungen hätten. Die
Ueberzeugung von der Existenz der Ideen stand ihm unerschütterlich
fest, mochte es seiner Dialektik auch für den Augenblick schwer
fallen, die Beziehungen jener zur sinnlichen Welt zu klären. Das
scheint mir unzweifelhaft hervorzugehen aus den Worten des Parme-
nides (135 b-c), dass, wer auf die Annahme von Ideen verzichtet,
damit die MögUchkeit wissenschaftlicher Untersuchuug völlig ver-
nichtet. Eine Andeutung dieses Sachverhalts kann vielleicht in den
Worten des Parmenides gefunden werden, es bedürfe eines hoch-
begabten Mannes, um noch die Annahme von Ideen aufrecht zu er-
halten, aber eines noch viel bewunderungswürdigeren, um diese
Annahme anderen in der richtigen Weise begreiflich zu machen
(135 a-b). Piatons inneres Gefühl machte also jeden Zweifel an der
Existenz der Ideen unmöglich und liess ihn vielleicht dunkel eine
Lösung der Schwierigkeiten ahnen, aber er war noch nicht zu der
Klarheit durchgedrungen, die erforderlich ist, um andere in einer so
schwierigen Frage zu belehren^).
Für die Annahme, dass Piaton die Berechtigung der Einwürfe
gegen seine Lehre anerkannte, scheinen mir zunächst zwei äussere
Umstände zu sprechen, einmal die schon oben erwähnte Tatsache,
dass Piaton den einen Einwand im ,,Philebos" wiederholt, ohne ihn
zu widerlegen, dann aber auch der Umstand, dass Sokrates hier als
junger Mensch die Ideenlehre vertritt. Denn als solcher konnte er
am leichtesten die Zurechtweisungen des Parmenides hinnehmen^).
Wichtiger aber scheinen mir folgende Gründe:
Es ist zunächst von grosser Wichtigkeit, festzustellen, dass
Parmenides ausdrücküch die Schwierigkeiten der Ideenlehre daraus
herleitet, dass die Ideen von den Sinnendingen geso nd er t werden.
So sagt er 133a: 'O^ät,- ovi'. fpdtai, o) ^o'jxQaTeg, öat] ?/ dnoQia,
eäi Tig [log] eidf] oiia avrd xaO-' avrä dioQl.^t]tai; — Kai fidÄa-
Ev Toivvv loS^i, ffdvai, ort w^' ercog elnelv ovdenoj dTirfi avitjs oof]
ioTiv rj dnoQLa, si ev sidng exaoiov täiv ovrtov dei ri d(fOQi^6fi€vog
&j]Oeig. Und 134 e — 135 a : Tavta /iievroi, w ^cöxQatsg, ecp] 6
naqi^icvidi]g^ yal en älka riQog tovioig Tidvv no/.ld dvayxeioi' ey/n
id sidi], El slolv avtat al Idsai riöv oWoj;^ y.al OQtelzai zig aviö
TL exaofov sldog. Und Parmenides lässt sich diese Sonderung aus-
') Ich bin mir wohl bewusst, dass dem letzten Moment wenn überhaupt
eine, so jedenfalls eine sehr untergeordnete Bedeutung zukommt.
') Dass sich für Platon dadurch zugleich die Möglichkeil bot, das Gespräch
zwischen Parmenides und Sokrales als ein wirklicli erfolgtes hinzustellen,
kommt meines Erachlens erst in zweiter Linie inbelracht.
132 Paul Seh niitf ranz.
(Irücklich von Sokrates bestätigen 130b: Kai fioi eiie, aviog av
nvio) öii\f)7]oai tog '/.eycig, y.oQig ,«£i sidi] avrd äria, xc>(i}g rff
id lovior av ^leTE/ßvia : In der Tat ist es gerade die scharfe
Sonderung der Ideen von der Welt des Entstehens und Vergehens,
aus welcher der Ideenlelue die Schwierigkeiten erwachsen. Da gilt
es nun zunächst zu zeigen, dass Piaton in der Tat diese Trennung
gelehrt hat, und dass die von Parmenides angegrifTene Lehre somit
Piatons eigene Lehre ist. Ich will nicht darauf eingehen, dass
Piaton die Ideen stets (besonders im ,,Phädon") als ..für sich"' be-
stehend bezeichnet, und dass Aristoteles stets gerade gegen diese
Loslösung der Ideen seine Kritik richtet; sondern ein kurzer Blick
auf die Genesis der ideenlehre wird zeigen, dass Piaton zu dieser
Sonderung notwendig kommen musste. Aus der Kenntnis der
herakliteischen Lehre hatte Piaton die Ueberzeugung gewonnen, dass
nicht die sinnlichen Erscheinungen in ihrer individuellen Verschieden-
heit und beständigen Veränderung Gegenstand des Wissens sein
könnten^). Aber auch die sokratischen allgemeinen Begriffe trugen
den Stempel der Subjektivität an sich, also auch sie konnten nicht
der wahre Grund des Seins sein. Es musste also auf dem Gebiete
des Seins ihnen völlig entsprechende Korrelate geben, und das sind
die Ideen. Sollten diese der wahre Grund alles Seienden, die stets
sich gleich bleibenden Objekte der Erkenntnis sein, so musste Piaton
sie der Sphäre des Entstehens und Vergehens gänzlich entrücken,
sie scharf trennen von der V^elt der sinnlichen Erscheinungen. Dem
entsprechen denn auch die, Prädikate, die Piaton den Ideen beilegt;
sie sind vor allem einheitlich und unveränderlich („Phaed.'" 78 d).
Denn gerade die bunte Mannigfaltigkeit und die beständige Ver-
änderung sind es ja, die die Sinnendinge untauglich machen, Gegen-
stand des Wissens zu sein/ .Die Welten der Ideen und der Sinnen-
dmge stehen also gewissermassen als selbständige Faktoren einander
gegenüber, und in dicjsem Sinne konnte Piaton den letzteren eine
gewisse Realität zuerkennen, wenn er sagte, es gebe zwei Arten
des Seienden, die Ideen und die Dinge („Phaed." 79 a). Von diesem
Standpunkt der Ideenlehre aus, den wir als den ontologischen be-
zeichnen knnnfMi, musste es schwer lallen, die Beziehungen zwischen
Ideen- und Sinnenwelt klarzustellen. Eine Teilnahme der Dinge an
der Idee inusste zu einer Teilung der ,t Idee führen. Der Ausweg,
die Ideen als,, Gedanken zu fassen, den:Platon den Sokrales hier
versuchen lässt, verbot sich schon von selbst durch die Erwägungen,
die gerade zur Absonderung der Idee.^geführt hatten. Nicht minder
grosse Schwierigkeiten bot bei der gesonderten Stellung der Idee
die Frage nach ihrer Erkennbarkeit. Es könnte nun auffallend er-
.scheinen, dass Piaton hier nicht auf den Ausweg verfallen ist, die
Erkenntnis auf dväinr^aig zurückzuführen, wie er es in früheren
Dialogen getan hat^). Aber von der diäfnt-aig ist in den späteren
M Vgl. Aris!., Meitiphvs. M 4. 10781., 12 ff.
*) Vgl. z. 13. Men. 81 II., Phaed. 72 e 0., Phaedr, 249 c.
Die Gestall. der platonischen Ideenleiire in „Parnienides" u. „Sopliistes". loo
Dialogen uichl mehr die Piede, sondern Piaton siidil im ,,Philebos"
nach einer anderen Möglichkeit, die Erkenntnis zu erklären.
Etwas anders liegt die Sache beim Einwand vom rQifog äi ÜQOTiog.
Er ist aus dem nämhchen Gedanken heraus geboren wie die Ideen-
lehre, nämlich dass das einer Vielheit Gemeinsame von dieser ge-
trennt und als für sich bestehende Wesenheit gesetzt wird. Diesen
Prozess wollen die Urheber des Arguments vom rQno^ äidQuino^
auch auf den so entstandenen allgemeinen Begriff und die unter
ihm befassten Einzeldinge anwenden, was natürlich unmöglich ist.
Es ist nun anzunehmen, dass Piaton bald zu dieser Ueberzeugung
gelangt ist , denn im ,,Philebos", wo für den einen der beiden
anderen Einwände eine Lösung versucht ist, der andere aber als
noch nicht geklärt wiederholt wird, fehlt dieser völlig. Wenn ihn
trotzdem i\ristoteles wieder vorgebracht hat, so liegt das daran, dass
er die Idee nicht als Genus (im Verhältnis zum Individuum), sondern
gewissermassen nur als ideales Sinnending betrachtete ^).
Wenn das bisher Gesagte richtig ist, wenn Piaton für den Augen-
blick nicht imstande war, die Einwände des Parmenides zu wider-
legen, so ergibt sich daraus schon von selbst, dass der zweite Teil
des ,, Parmenides" eine Widerlegung — sei es direkt oder indirekt
— nicht enthalten kann. Eine andere Frage aber ist es, ob nicht
die Untersuchungen des zweiten Teils ein Ergebnis zeitigen, aus dem
sich Folgerungen für die Ideenlehre ziehen lassen, und aus diesem
Grunde will ich den zweiten Teil kurz besprechen. Parmenides gibt
eine Untersuchung über das Eine (lo fV) und das Andere [id älXa)
und es wird gezeigt, welche Forderungen sich ergeben aus der
Setzimg des Einen sowohl für das Eine wie für das Andere und aus
der Verneinung des Einen sowohl für das Eine wie für das Andere.
Da nun in jedem dieser vier Fälle die Untersuchung jedesmal nach
zwei entgegengesetzten Fiichtungen hin geführt wird, so ergeben sich
im ganzen acht Abschnitte. Will ich nun die Bedeutung dieser
Untersuchung klarlegen, so muss ich zunächst zeigen, wie die Aus-
drücke To £1 und id ü'/J.a zu verstehen sind. Es geht meines Er-
achten? nicht an, to cv der Idee und id dl'/M den Einzeldingen
ohne weiteres gleichzusetzen; da aber Piaton das Verhältnis der
Idee zu den Einzeldingen als das der Einheit zur Vielheit auffasst,
so wird man nicht umhin können, das Resultat der Untersuchung
auch auf die Ideenlehre anzuwenden. Vorläufig aber wird man gut
tun, diese Ausdrücke dem abstrakten Charakter der Untersuchung
entsprechend im weitesten Sinne zu nehmen. Worauf sie zielen, das
zeigt der Zweck dieser ganzen Untersuchung, den ich folgender-
massen fassen möchte : Piaton erwidert durch den zweiten Teil des
„Parmenides" seinen Gegnern: Ihr habt zwar von eurem eleatisch-
megarischen Standpunkt aus als Verfechter der Einheit des Seienden
gewichtige Bedenken gegen meine Lehre und besonders gegen die
') Alctoph. 1> -, '.)'t71) ]1; ovte yuQ fxfhoi oviVfr uXXo i.'ioiovf )/ itr'jQionovi
(t'idlovi, ovd^ ovTot td e'iötj aXX" ij aia!irjrd at'dtcc.
134 Paul Schmi tfranz.
Einheit der Idee vorgebracht, aber ich werde euch zeigen, und 5;.\var
mittels eures eigenen Verfahrens, dass es um eure Einheit des
Seienden noch viel schlimmer bestellt ist, denn eine Einheit ohne
Vielheit lässt sich überhaupt nicht denken.
Doch damit greife ich schon dem Ergebnis der Untersuchung
vor ; kehren wir also zu ihr zurück, lieber den Wert dieser Unter-
suchung herrschen bei den Erklärern die verschiedensten Ansichten.
Die einen, wie z.H. Ribbing'), sehen darin ein mit logischer
Schärfe konsequent durchgeführtes Bevveisverfahren, ein anderer,
Apelt-), hält das Ganze für eine dialektische Spielerei; wieder
andere wählen einen Mittelweg, indem sie zwar das Vorhandensein
einzelner Sophismen zugeben, im übrigen aber die Untersuchung für
durchaus ernstgemeint halten. Für mich würde es zu weit führen,
die einzelnen Abschnitte aul' ihre Folgerichtigkeit zu untersuchen.
Aber über zweierlei, den^e ich, wird man sich einigen kcinnen :
Schon Schleiermacher^) hat erkannt, dass die Schlussfolgerungen,
die Piaton aus den verwickelten Auseinandersetzungen zieht, zum
Teil auf viel einfachere Art hätten gefunden werden können, und
Horn^) hat dies im einzelnen nachgewiesen^). Die Schlussergebnis.se
behalten also aut jeden Fall ihre Richtigkeit. Zuzweit ist zu beachten,
dass selbst Apelt, der doch den extremsten Standpunkt hinsichtlich
der Verwerfung der ganzen Untersuchung einnimmt, das wenigstens
als [)ositiven Gedanken der Untersuchung ansieht, dass der Begriff
des Einen ohne den des Vielen nicht denkbar ist''). Dies geht be-
sonders aus dem zweiten Abschnitt hervor, für den ich auf die
Ausführungen von Hörn ^) verweise. Daraus ergibt sich dann jene
Auffassung des Dialogs, die ich oben formuliert habe. Diese Auf-
fassung wird noch klarer, wenn man aus dem Ergebnis der Unter-
suchungen des zweiten Teils die Folgerungen für die Ideenlehre
zieht. Denn wenn Piaton diese Folgerungen auch nicht ausgesprochen
hat, gezogen hat er sie sicher, und gerade sie werfen erst ein
klärendes Licht auf die Auffassung des ganzen Dialogs sowie auf
den inneren Zusammenhang seiner beiden Teile. Im ersten Teile
des ,,Parmenides" hatten die P^leaten gezeigt, dass, wenn man die
Einheit der Idee von der Vielheit der Erscheinungen trennt, d. h.
wenn man zwei Prinzipien annimmt, diese Auffassung grossen
^) S. Ribbing, Genetische Darstellung der plalonisclicn Ideenlehre, Leip/^ig,
1S()3, I 257.
=) Beiträge 4 f.
•'') Piatons Werke 1 2. 67.
*) F. llorn, Platonsludien, Neue Folge, Wien 1904, IW ff.
"j Das gill besonders für den wicht i^'en zweiten Abschnrll und ist auch
von Natorp (Piatos Ideenlehre 241) wenigstens für diesen Abschnitt anerkannt.
Wenn aber Flalon gerade hier in der übermütigsten Weise mit Beweismitteln
um sich wirft, so ist darin jenes mühevolle Spiel {n^ayjuaTBiwdTjz naiSiä) zu
suchen, von dem Parmenides 137 b spriclit, und das als eine köstliche Ver-
spottung der sopliistisclien ]")iaicklik angesehen werden muss.
") Apelt, Pieiträge 4ü.
') Platonsludien, Neue Folge, 124 ff.
Die Gestalt der platonischen Ideenlchre in „Parmenides" u. „Sophistes". 135
Schwierigkeiten begegnet. Demgegenüber musste die eleatische Auf-
fassung von der Einheit des Seienden, welche die Vielheit der Er-
scheinungen als nicht wirklich oder als blossen Schein ausschliesst,
als die einzig mögliche erscheinen. Nun zeigt Piaton, dass eine
Einheit ohne Vielheit nicht denkbar ist, und damit ist der eleatische
Standpunkt abgelehnt und der platonische als durchaus möglich
erwiesen.
Nun hat Zell er*) aus dem Ergebnis der Untersuchung, dass
eine Einheit ohne Vielheit nicht denkbar sei, weiter geschlossen, dass
dann jene scharfe Sönderung von Ideen und Dingen nicht mehr
aufrecht erhalten werden könne, dass vielmehr Piaton hier zu jener
Ansicht gekommen sei, die Zeller die Inhärenz der Erscheinungen
in den Ideen nennt. Aber diese Folgerung ist viel zu weitgehend
und wird durch keine anderweitigen Aeusserungen Piatons gestützt;
denn was Zeller für seine Auffassung vorbringt, hat sich als unzu-
reichend erwiesen -).
Wenn nun auch durch die Untersuchungen über Einheit und
Vielheit die Ideenlehre sich als möglich erwiesen hat, so sind damit
doch immer noch nicht die Einwendungen des Parmenides wider-
legt. Es bleibt uns also die Aufgabe, zu untersuchen, ob sich aus
dem „Sophistes" für ihre Beurteilung wie lür die Ideenlehre im
allgemeinen etwas gewinnen lässt.
II.
Der Dialog ,, Sophistes" hat zunächst den Zweck, das Wesen
des Sophisten zu definieren. Es werden zu diesem Zwecke mittels
der diaiQsaig eine Reihe Definitionen aufgestellt. Da diese aber
nicht befriedigen, gelangt man schliesslich dahin, den Sophisten als
einen Menschen zu bezeichnen, der einen blossen Schein des Wissens
ohne Wirkhchkeit zu erzeugen vermöge. Da erhebt sich denn die
schwierige Frage, was denn überhaupt der Schein oder das Nicht-
seiende bedeute, und es wird hier von neuem das schon im „Theaetet"
erörterte, aber noch nicht gelöste Problem gestellt : Wie ist es mög-
lich, etwas Falsches auszusagen oder vorzustellen? Denn wenn
jemand behauptet, dass das möglich sei, so setzt er voraus, dass das
Nichtseiende sei (236 e -237 a). Damit bietet sich Piaton eine will-
kommene Gelegenheit, in einer längeren Digression das Wesen des
Nichtseienden zu untersuchen. Als Ziel dieser Untersuchung wird
angegeben, zu beweisen, dass das Nichtseiende in gewisser Beziehung
ist und das Seiende in gewisser Beziehung nicht ist 3).
Bei der Untersuchung über das Wesen des Nichtseienden stellt
sich indessen bald heraus, dass es nicht geUngen wird, zu einem
0 E. Zeller, Platonische Studien, Tübingen 18^), 150 fC Später hat Zeller
hekannllicli seine Ansidit wesenllicii modiliziert.
=) Viil. darüber Aiifh, Beiträge 37 ff.
) L41 d : TU TS /ur^ or wi f'an xmä n xa\ lo or av naht' oi; ovx eaii n-ij.
13(> Paul Schmitf ranz. ,
befriedigonden Ergobnis /u gelangen, bevor das Wesen des Seienden
deliniert ist. Es miiss also zuHcächst die Frage beantwortet werden :
Was ist das Seiende? Die Antwort auf diese Frage sucht Plalon
zunächst bei den anderen philosophischen Systemen, und zwar be-
.<chäftigt er sich zuerst mil den Philosophen, die eine bestimmte
Zahl ') des Seienden angenommen haben. Er zeigt, dass man, wenn
man zwei Prinzipien annehme, notwendig zu einer Dreiheit oder
Einheit gelangen müsse (243 e - 244 a): die Annahme der Einheil
dagegen führe in jedem Falle über die Einheit hinaus zu einer Mehr-
heit von Prinzipien (244 b — 245 e). Da somit diese Untersuchung
zu grossen Schwierigkeilen geführt hat, wendet sich Piaton zu den-
jenigen Philosophen, die über die Qualität des Seienden Unter-
suchungen angestellt haben. Hier stehen sich zwei Richtungen
gegenüber: die einen, die Materialisten, sprechen nur dem Körper-
lichen ein wirkliches Sein zu, definieren Körper und Substanz als
identisch (246 b: ravToi' ovjua y.ai ovoiai' oQuouaioi): die anderen,
von Piaton eidon (filoi genannt, finden das wahre Sein nur in ge-
wissen Ideen (246b: ror.id äria y.ai docö/naja sidrj ßiaLÖ^isvoi iT>r
d'/.r^iHvrjv ovolar drai). Mit diesen „Ideenfreunden" müssen wir uns
zunächst beschäftigen. Denn für die Beurteilung der Frage, wie
Piaton si'^h im ,,Sophistes" zur Ideenlehre stellt, ist es von Be-
deutung, zu wissen, wen er unter diesen eidcöv qiloi verstanden
hat. Eine Einigung über diese Frage ist bisher nicht erzielt und
wird auch wohl nie zustande kommen. Die einen glauben hier die
Lehre der Megariker, andere Piatons eigene Lehre, wieder andere
beide zugleich einer Kritik unterzogen. Daneben findet sich dann
noch die Meinung, die Ideenfreunde seien Schüler Piatons, die noch
auf einem Standpunkte der Ideenlehre ständen, den ihr Meister
I)ereits verlassen hätte, und endlich die Ansicht, die hier kritisierte
Lehre sei die von den Megarikern falsch verstandene Lehre Piatons,
die dieser hier Von allen Missverständnissen befreien wolle ^). Ich
bin der Ansicht, dass es Piatons eigene bisherige Lehre ist, die hier
zur P>örterung steht. Die Gründe, die gegen diese Annahme ins
Feld geführt werden, laufen zumeist auf zwei von Zeller mehrfach ^)
vorgebrachte Bedenken hinaus. Das eine lautet dahin, dass Piaton
.seine eigene Lehre nicht mit solcher Ironie hätte kritisieren können,
wie er es 246b — c tut. Demgegenüber hat Raeder*) mit Recht
darauf hingewiesen, dass es ein grosser Unterschied ist, ob Piaton
selbst oder, wie hier, der eleatische Fremdhng das Wort führt. Wenn
Piaton wirklich, wie ich weiter unten zeigen werde, seine Ansichten
») Vgl. H. Ronitz, Plaloni.sche Studien, Berlin 1886, 1(51 Anm. 7.
-) Die anderen Ansichten über diese Frage kommen wohl nicht mehr in
beliachi. Die ausserordentlich reiche Literatur darüber ist verzeichnet von
\L Zeller, Philos. der Griecli. II 1 * 252 ff., und 0. Apelt in seiner Ausgabe des
„Sophislos", Leipzig 1897, 144 L
•'i Fhilos. der Griech. II 1' 2ü?, f.: Sil/.un'j,sbericlite der jireuss. Akad. d.
Wibs. 1887, 201) L; Archiv für Gesch. der Philos. X, 1807, 501 f.
■*) Piatons philos. l':nlvvickl. 328.
Ol
Die (iestalt der platunir^clieii Ideenlelire in ,,PariJieiiiLle.:;" ii, „Si)[jlii?;Uiä". 13.
in etwa geilnder-L hat, so war es nur nalürlich, dass er nicliL den
Sükrates zum Vertreter seiner neuen Anschauungen machte, und dass
er die neue Hauptperson mit einer gewissen überlegenen honie die
alle Lehre kritisieren liess. Das andere Bedenken Zellers macht
geltend, dass die Lehre der stdow (piloi mit der bisherigen platoni-
schen Lehre nicht übereinstimme. Das bedarf der näheren Unter-
suchung^). Piaton sagt zunächst von den Ideenfreunden, sie sähen
das wahrhafte Sein in vor-id äzra y.ai daiöiiaia dör^ (246 b). Auch
Zeller bezweifelt nicht, dass das mit dem ülDereinstimmt, was Piaton
im ,,Phaedon" und „Staat" gelehrt hat. Dagegen würde es auf die
Megariker nach allem, was wir von ihnen wissen ^), nur schwer zu
beziehen sein; denn deren Lehre war eleatisch und kannte nur ein
Seiendes, aber keine ddi]^). Weiter heisst es von den Idealisten,
dass sie das, was die Materialisten Sein nennen, als „bewegliches
Werden" [yeieoiv dvr ovoia^ (fSQü/ieu^v, 246c) bezeichnen. Das
stimmt zu der Kritik, die Piaton im ,,Theaetet" an der Lehre der
Herakliteer übt. Dort wendet er sich mit scharfen Worten gegen
die Herakliteer, die nicht das eigentliche Sein, sondern nur das
Werden, das „bewegliche Sein" [rijv (j:i£Q0fisv7]i' ovoiav, 179 d), auf-
fassen können. Die Ideenfreunde lehren ferner, dass man durch den
Leib mittels der Sinnenwahrnehmung mit dem Werden, durch die
Seele mittels des Denkens mit dem wirklichen Sein Gemeinschaft
habe i 248 a). Diese Lehre, die auf die Megariker nicht passen würde ^),
stimmt dagegen wieder zum „Theaetet" (184 {].), wo gezeigt wird,
dass die Ideen (das Sein) von der Seele selbst ohne die Vermittlung
der Sinne erfasst werden, während die Wahrnehmung der Sinne auf
das Werden zielt. Endlich sind die Ideahsten der Meinung, dass
nur das Werden Teil hat an der Möglichkeit, zu leiden und zu
wirken, während dem Sein keine dieser Möglichkeiten zukommt
(248 c). Auch das ist durchaus platonisch. Denn schon daraus, dass
Piaton im ,,Phaed." 78 d die Ideen für unveränderlich und unbeweghch
erklärte, folgt ohne weiteres, dass sie nicht wirken können. Gerade
die durch ihre Absonderung bedingte Starrheit der Ideen machte es
ja im „Parmenides" unmöglich, ihr Verhältnis zur Sinnenwelt zu
erklären. Dass sie nicht leiden können, hat Piaton ausdrücklich im
„Symposion" (211b) erklärt. Mit dieser Lehre Piatons stehen nun
freilich zwei Aeusserungen in etwa im Widerspruch : die eine im
„Staat" (VI 509 b), w^o die Idee des Guten, die freilich über das Sein
') Zu den folgenden Ausführungen vgl. Räder, Plalons philos. Entw. 329.
■■') Und das ist in der Tat recht wenig, denn es darf nicht vergessen
werden, dass Zeller seine Darstellung der megarischen Philosophie hauptsäch-
lich auf unserer Sophistesstelle aufbaut. Dieselbe muss aber so lange aus-
scheiden, bis zweifelsfrei bewiesen ist, dass ihre Deutung auf die Megariker
zu Piecht besteht.
*) N. Hartmann, Piatos Logik des Seins 108 Anm. 1. Vgl. ferner Ueber-
weg, Echtheit platonischer Schriften 277 f.
*) Vd. C. Ritter, Bemerkungen zum Sophistes. Arch. f. Gesch. d. Philos.
XI, 1898, '22 f.
i:?S Paul S.-li Ml i tl'rair/.
crliabcn ist '), als die LJrsa(.lio des Daseins der Ideen bezeiclinet wird ;
die andcsre im „Phaedou'- (lOOd), wo es heisst, die Dinge verdankten
ilire Eigenschaften den Ideen. Hinsichllieli dieser Stelle könnte es
zweifelhal't erscheinen, ob hier in der Tat den Ideen ein Wirken
zugesprochen wird, oder ob sie nicht vielmehr als blosse Zvveck-
ursachen gekennzeichnet seien -). Dies ist sicher der Fall an einer
Irüheren Stelle des ,,Phaedon" (75a — b); dort sagt Piaton, die
Dinge verdankten ihre Entwicklung dem Streben nach der Voll-
kommenheit der Ideen ^j. Ich sehe nun besonders in der obigen
Phaedonstelle (100 d) eine Annäherung an eine Auffassung der Ideen,
die vielleicht schon länger im Bewusstsein Piatons neben der anderen
eine gewisse Rolle gespielt haben mag, die aber auch im „Sophistes"
nicht bis in ihre letzten Konsequenzen durchgedacht wird : ich meine
die Auffassung der Ideen als wirkender Kräfte. Diese Auffassung
tritt zu Tage im Zusammenhang mit einer neuen Definition des Seins.
Diese neue Definition setzt das Sein als die Möglichkeit (oder
Kraft) zu wirken oder zu leiden^). Sie taucht am Schluss der Kritik
der Materialisten ziemUch plötzlich auf, ist weder vorbereitet noch
wird sie begründet, wird aber gleichwohl von den Materialisten an-
genommen. Die Idealisten verhalten sich ihr gegenüber zunächst
ablehnend. Die Art und Weise nun, wie sie Schritt tür Schritt
nachgeben, aber doch schliesslich die Definition nur bedingt an-
nehmen, ist sehr bezeichnend ; ich will daher kurz den Gedanken-
gang dieses Abschnittes (248 a — 249 d) anführen. Die Ideenfreunde
scheiden Werden und Sein und behaupten, mit dem Werden hätten
wir Gemeinschaft durch den Körper mittels der Wahrnehmung, mit
dem Sein durch die Seele mittels des Denkens. Dieses ,, Gemeinschaft-
haben" aber, so hält ihnen nun der Eleate entgegen, ist nichts
anderes als eben jenes nddt]/iia rj nohj/na. Das w^oUen jene aber
nur hinsichtlich des Werdens zugeben, denn das Sein könne weder
wirken noch leiden. Nun müssen sie aber einräumen, dass das Sein
erkannt werde. Dass nun aber „Erkennen" eine TätigkeiL ist und
,, Erkanntwerden" ein Leiden, w'ollen sie nicht zugeben, denn sonst
würden sie sich selbst widersprechen. Wenn aber „Erkennen" eine
Tätigkeit ist, so ist „Erkanntwerden" notwendigerweise ein Leiden.
Daraus folgt, dass dem Sein, insofern es erkannt wird, die dviafUi;
Tov näoyjiv im Sinne obiger Definition zukommt. Diesen Schluss
') 509 b: ovx ovaia; ovto; tov ayad'ov, o/A' kri ETrixeiva ttj? ovai'a: TTQCaßeia
xai övva/jti vntqi^ovTo:.
') So meint Apelt Beiträge S. VII.
'^) 75 a - b ; OqiyEjai. fjEv TTavTa Tavra eivai oiov To laov, ^X^' ^^ evosBOTSQU);.
— riavTa TU kr laT: alad^rjaeaiv fxen'ov te o^t'ySTai tov o fariv i'fJo»', xai ctviov
tySeeoTS^ä eoTiv. — IfQoUvfjtiTat uer navTa Toiavr' elrai oior Exelro, emiv o'e
avTOv ipavXoTtQcc.
■*) 247 d — e : Aiyw Stj ro xa\ onoittvovv \Tivtt\ xsxTtj/uevov Svvaftiv elr ' eig
TO noielr freQor onovf nttpvxoi tiT^ fr; to nad-etv xai a/uiXQOTaTov vno tov (pavXo-
TuTov, xav el /lörot' eis anaS:, irav tovto orrcoi elrat' Tt'd'Sfiai yaq oQor [o^tCtiv] la
OTTit oi; f'aTtr ovx nXio 7« nXrji' Svra/n?.
Die Get'.laU der plalunisolien Itleeiilelnt' in ,,Pariiiei)itles" n. „Supliistes". 189
ziehL Plalon aber nicht, soudeni er folgert gleicli weiter, indem er
einen neuen Begrill' hineinbringt, dass das Sein ötd i6 rccar/fiv be-
wegt wird. Das wäre aber unmöglich bei einem Sein, das bisher
als ruhend angesehen wurde (o öi] (paf.isy ovx äv yspeaüai 718Q1 lu
rJQPfawi'^). Aber, so ruft deshalb der Eleate, sollen wir uns so
leicht überzeugen lassen, dass dem wahrhaften Sein Bewegung, Seele,
Leben und Denken wirklich nicht zukommen, dass es weder lebt
noch denkt, sondern hehr und heilig, ohne Verstand und unbewegt
dastehe ? Und nun wird weiter argumentiert, dass das Sein, wenn es
Verstand habe ^), auch Leben haben müsse, wenn Leben, auch Seele,
wenn Seele, auch Bewegung, und dass somit auch umgekehrt die
Bewegung ist. Wie nun aber ohne Bewegung keine Erkenntnis
möghch ist, so auch umgekehrt nicht, wenn alles nur Bewegung ist,
was ja schon der „Theaetet' klargelegt hatte. Es ergibt sich also,
dass das Seiende sowohl bewegt als auch unbewegt ist.
Was nun zunächst den Ursprung der neuen Definition angeht,
so herrschen darüber verschiedene Meinungen. Ausser Piaton hat
man sie hauptsächlich dem Antisthenes ^j oder Hippokrates •^) zuge-
schrieben. Da es mich zu weit führen würde, will ich auf diese
Frage nicht näher eingehen; wichtiger ist, zu untersuchen, welche
Bedeutung dieser Definition zukommt. Wenn ich sie nun auch nicht
mit Apelt ^) für einen blossen dialektischen Kunstgriff halte, so kann
ich andererseits auch nicht in ihr den Angelpunkt des ganzen
Dialogs sehen. Wenn z. B. Horn^) meint, die Definition bilde den
Abschluss der Auseinandersetzung Piatons mit früheren Philosophen-
schulen über das Wesen des Seienden, so lässt sich aus dieser
ganzen Auseinandersetzung nur folgern, dass Piaton zu einem mitt-
leren Standpunkt zwischen Eleaten und Herakliteern kommen, d. h.
sowohl Ruhe als Bewegung als seiend annehmen musste. Aus der
ganzen Auseinandersetzung zu folgern, dass das Sein die Möghch-
keit, zu wirken oder zu leiden, sei, ist ganz unmöglich. Diese Defi-
nition wird vielmehr ganz unvermittelt eingeführt. Jedenfalls werden
mit der neuen Definition die Erörterungen über das Sein nicht ab-
geschlossen, sondern sie werden weiter fortgesetzt, und zu Beginn
der neuen Erörterungen . wird betont, dass man jetzt erst recht die
Schwierigkeit einer Untersuchung über das Seiende erfahren würde
(249 d). Immerhin lässt sich nicht leugnen, dass Piaton sich hier
auf einen ganz neuen Standpunkt stellt, indem er dem Sein Bewegung,
M Nebenbei will ich bemerken, dass Hartmann (Piatos Logik des Seins
111) hier ^^ejuelv und e^ijuovr verwechselt, wie die Zusammenstellung von x^Q'-'^
und tjqe/uovv zeigt.
^) Piaton scheint also zu glauben, dass man ihm diese Eigenschaft am
wenigsten absprechen könne.
3) F. Dümmler, Antisthenica, Halle 1882, 527.
*) Apelt, Beiträge 86.
») Beitrcäge 72 ff.
«) Piatonstudien, N. F., 320 ff.
140 Haul Seil in i t fra 115:.
Lel»t^ii, S('t;le und Denken zuschreibt '). Dass dem wahrliaClen Sein
die:se bjgenscliarten zukoninieii, \\ird mit einer gewissen Feierlielikeit
versichert, die wohl die mangehide Begründung ersetzen soll. In
welchem Lichte erscheinen nun von diesem neuen Standpunkt aus
betrachtet die Bedenken, die im .,Parmenides- gegen die Ideenlehre
erhoben wurden? Man hätte doch erwarten sollen, dass Platoii mit
Hülle der neuen Auffassung der Idee als dviafu^, das noch immer
ungeklärte Verhältnis zwischen Ideen und Einzeldingen aufgehellt
hätte. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall: während im ,,Par-
menides" gegen die Erkennbarkeit der Ideen berechtigte Bedenken
erhoben wurden, wird dieselbe hier als etwas Sicheres vorausgesetzt,
und erst auf Grund dieser Voraussetzung wird es möghch, die
Ideenfreunde zu einer wenn auch nur bedingten Annahme der De-
finition gewissermassen zu zwingen. Und in dem folgenden Abschnitt
des ..Sophistes" könnte man höchstens von einer Wirkung der Ideen
unter einander gehandelt finden, von einer Wirkung der Ideen auf
die Sinnendinge ist gar nicht die Rede^). Nun ist es ja klar, dass
eine solche Erörterung sich schwer in den Rahmen des Dialogs hätte
einfügen lassen, es ist aber fraglich, ob Piaton sich überhaupt klar
darüber geworden ist, wie bei der neuen Auffassung das Verhältnis
der Ideen zur sinnlichen Welt sich im einzelnen gestalten würde.
Jedenfalls würde die konsequente Durchführung dieser Auffassung
ihn zu Anschauungen geführt haben, die mit den Grundlagen seiner
Ideenlehre, wie er sie bislang dargestellt hatte, unvereinbar gewesen
wären. Liegt vielleicht eine Andeutung dieses Sachverhalts in den
Worten, die unmittelbar an die Aufstellung der neuen Definition
geknüpft werden (247 e) : mog yocQ äv slg vöitqov iq(.dv te y.ai rovroig
eTEQov av (faveii]? Jedenfalls wissen die späteren Dialoge nichts
mehr von der neuen Auffassung der Ideenlehre. Im ,,Timaeus"
sind die Ideen wieder die unveränderlichen Urbilder, und als das
bewegende Prinzip erscheint der Weltbildner. Auch im „Philebos",
wo die im „Parmenides" erhobenen Bedenken, zu deren Beseitigung
die neue Auffassung der Ideen geboren schien, zum Teil von neuem
vorgebracht werden, ist von einer Auffassung der Ideen als wirkender
Kräfte nicht mehr die Rede. Das alles zeigt uns, dass wir die Be-
lebung der Ideen, wie wir sie hier im „Sophistes" finden, nur als
einen Versuch auffassen dürfen, den Piaton selbst sehr bald wieder
aufgegeben hat. Das lehrt uns auch das Verhalten des Aristoteles,
*) Dieser neue Standpunkt wird vielleicht in etwa vorbereitet durch
Parni. 15fia— b, wo gezeigt wird, dass die Einheit sowohl entstehen als ver-
gehen kann. Indessen ist wohl zu beacliten, dass an dieser Stelle zunächst
immer vom eleatischen Eins die Rede ist.
^) Hartmann (Piatos Logik des Seins 135 f.) behauptet, durch die xoiviovia
TiZy yfyiöy sei die Frage nach dem Verhältnis von Ideen und Dingen gelöst.
„Indem die reinen Grundbestimmungen zu einander treten, sich mischen, er-
zeugen sie den konkreten Gegenstand". Davon ist meines Erachtens im
„Sophistes" nicht die mindeste Spur zu finden.
liie Gestalt der plutonisclien Tdeenlelire in „Parnienide.s" u. „Sopliisle-i". 141
der unseren Dialog gekannt und auf ihn angespielt hat '), aber von
einer IJelebung der Ideen nichts weiss, vielmehr stets-; der Ideen-
lehre den Vorwurf macht, dass ihr das bewegende Prinzip fehle.
Der Versuch einer Belebung der Ideen bildet aber, wie schon
oben erwähnt, nicht den Angelpunkt des ganzen Dialogs, sondern
dieser ist zu suchen in der Erörterung über die y.oivonia itöv yevLÖv
und das Nichtseiende. Als letztes Resultat der Untersuchung hatten
wir oben erwähnt, dass das Seiende sowohl bewegt als auch un-
bewegt ist. Es ist aber weder mit der Bewegung noch mit der
Ruhe identisch. Da erhebt sich denn die Frage, wie es überhaupt
möglich ist, einem Subjekt ein von ihm verschiedenes Prädikat bei-
zulegen, was ja Antisthenes u. a. für unmöglich hielten. Es wird
nun gezeigt, dass wie von den Buchstaben manche zusammen-
passen, manche nicht, so auch bei den Begriffen die einen sich mit
einander verbinden lassen, andere dagegen nicht. Wie bei den Buch-
staben die Grammatik, so ist bei den Begriffen die Dialektik die-
jenige Wissenschaft, die über die verschiedenen Möglichkeiten der
Verbindung Aufschluss gibt. Sie ist die Wissenschaft des echten
Philosophen. Da es nun unmöglich ist, die Gemeinschaft aller Be-
griffe zu untersuchen, werden einige Hauptbegriffe ausgewählt, und
als solche hatten sich oben ergeben: Sein, Stillstand, Bewegung.
Da jeder dieser Begriffe mit sich selbst identisch und von jedem der
andern verschieden ist, so erhalten wir noch zwei weitere Haupt-
begriffe: Identität und Verschiedenheit. Der Begriff der Bewegung
wird nun beispielsweise in seinen Beziehungen zu den anderen Be-
griffen besprochen. Bewegung ist verschieden von allen anderen
Begriffen, also auch vom Sein, mithin ist sie nichtseiend; dasselbe
gilt auch von den anderen Begriffen. Da sie aber andererseits alle
teilhaben am Sein, sind sie auch wiederum seiend. Das Seiende
selbst ist nun auch verschieden von allen anderen Begriffen, es ist
also so vielfach nichtseiend, als es von ihm verschiedene Begriffe
gibt. Das Seiende ist also in gewissem Sinne nichtseiend. Dabei
ist zu beachten, dass unter diesem Nichtseienden nicht der konträre,
sondern der kontradiktorische Gegensatz des Seienden zu verstehen
ist 3). Das Wesen der Verschiedenheit zerfällt nun in viele Teile,
und einen dieser Teile hat das Schöne zum Gegensatz, nämlich das
Nichtschöne. Dieses Nichtschöne kommt dadurch zum Sein, dass
es von einer Gattung des Seienden ausgesondert und andererseits
einem Seienden entgegengesetzt wird, es ist also der Gegensatz eines
Seienden zu einem Seienden, das Nichtschöne ist also in nicht ge-
ringerem Grade seiend als das Schöne. Was vom Nichtschönen
gilt, hat auch für alle anderen Teile der Verschiedenheit Geltung.
Es ist also der dem Seienden entgegengesetzte Teil der Verschieden-
■) z. B. Metaph, A 9, 991 b, 3 ff.
^) z. B. Metaph. N 2. 1089 a, 1 ff.
« \ ^,^ ■ o^ÖTorj' ro firi ov ÜyiO/uev, lo; soixtv, ovx htavTiov Ti liyo/iiEv rov
ovro;, aXr tre^or iiivov.
Philosophisches Jahrbuch 19i;t. 10
l42 Faul Schill i l franz.
heil uichl minder seiend als das Seiende selbst. Dies ist nun al)er
das Nichlseiende ; also ist auch das Nichtseiende seiend. Damit ist
das 241 d gesteckte Ziel erreicht, nämlich zu beweisen, dass das
Seiende in gewisser Beziehung nicht sei und das Nichtseiende in
gewisser Beziehung sei. Es gilt nun noch das Ergebnis zu verwerten,
um die Möglichkeit der falschen Aussage zu erweisen. Zu diesem
Zwecke werden zwei Klassen von Wörtern unterschieden, Gegen-
standswörter (substantiva, opouaia) und Aussagewörter (verba, (ti^-
fiaia). Nur durch die Verbindung beider entsteht die Aussage oder
der Satz {'/.öyog). Jeder Satz muss sich auf ein Objekt beziehen
und eine bestimmte Qualität haben. Das wird an zw^ei Beispielen
klargemacht, von denen das eine ein wahres, das andere ein falsches
Urteil enthält. Der letztere Satz gibt Nichtseiendes für seiend aus ;
folglich ist also eine falsche Aussage diejenige, die Nichtseiendes
für seiend ausgibt. Diese Definition wird vom /.öyo^ auf die drei
Begriffe didioia dö^a qavzaöia übertragen, die in inniger Beziehung
zum Aö/Os' stehen. Damit ist ein Standpunkt gewonnen, von dem
aus sich das Wesen des Sophisten in einer endgültigen Definition
bestimmen lässt.
Dieser Gedankengang Piatons weist eine Reihe von Unstimmig-
keiten auf. Dieselben sind zunächt und vor allem begründet in der
Mehrdeutigkeit des Wörtchens ,.sein". Dasselbe bezeichnet sow^ohl
das Dasein als auch das Sosein. Die erste Bedeutung spielt in das
metaphysische Gebiet hinüber, die letztere ist rein logischer Natur.
Zwischen diesen beiden Bedeutungen hat Piaton nicht scharf ge-
schieden. Demgemäss entspricht das Nichtsein, das zum Gattungs-
begriff des h'TSQov gehört, der logischen Bedeutung des Seins, dem
Sosein. In der Auseinandersetzung mit den übrigen philosophischen
Systemen steht noch die erste Bedeutung des Seins im \'ordergrund,
in dem Abschnitt über die xoawit'a t<öv yeii'jy werden beide Be-
deutungen durcheinandergew^orfen. Auf ein charakteristisches Bei-
spiel dafür macht Apelt ') aufmerksam. Nachdem das Sein des Nicht-
seienden im Sinne des l'ieQoi' erwiesen ist (258b), wird unmittelbar
daraus die Unrichtigkeit des parmenideischen Verses gefolgert, der
von dem Nichtseienden im absoluten Sinne handelt (258 d). Man
möchte freilich glauben, dass Piaton der Wahrheit nahe gekommen
sei, wenn 255c- d geschlossen wird, ör und f'xsQov könnten nicht
identisch sein, weil das o'v' bald absolut, bald relativ sei, während
das fVf(>ot stets relativ sei. Aber jedenfalls hat Piaton nicht genau
zwischen den beiden Bedeutungen unterschieden-). Aehnlich liegt,
wie schon gesagt, die Sache beim ///; öv. Piaton kennt zwar in der
Theorie den Unterschied zwischen konträrem und kontradiktorischem
') 0. Apelt, Piatons Sophistes in geschichtlicher Beleuchtung, Rhein. Mus.,
N. F., 50, 1895, 429.
'^) Dies ist llorn bei seinen Ausführungen Plalonsludien N. F. 331 f.
entgangen.
Die Gestalt der plat(ini??chen I.leenlehre in „Parmeniiles" ii. „Sujjliiste.s". 14B
(legensalz ^) ; das hebt er ausdrücklk-h zweimal hervor. 257 b und
besonders 258 e, wo er sich ausdrücklich dagegen verwahrt, dass
man behaupte, er habe das Nichtseiende als den konträren Gegen-
satz des Seienden dargestellt; von diesem will er überhaupt nicht
untersuchen, ob er sei oder nicht, ob er denkbar oder ganz und
gar undenkbar sei -). Aber in der Praxis macht ihm dieser Unter-
schied doch noch Schwierigkeiten. Das zeigt sich besonders in fol-
gender Tatsache^): Piaton hatte das Sein des Nichtseienden erwiesen,
um damit die MögUchkeit falscher Aussage darzutun. Bei den prak-
tischen Beispielen aber (Theaetet sitzt, Theaetet lüegt) verweist er
zwecks Entscheidung darüber, ob diese Urteile richtig oder falsch
sind, an die Anschauung. Hinterher sucht er dann diese Entscheidung
mit dem obigen Ergebnis der Untersuchung (dass das Nichtseiende
sei) zu vereinigen. Er behauptet (263 c-d) von dem zweiten Satz
(Theaetet fliegt), er gebe Nichtseiendes (d. h. vom Sein Verschiedenes)
für seiend aus. Und doch hatte er vorher erklärt, die falsche Vor-
stellung bestehe darin, dass sie das dem Sein Entgegengesetzte vor-
stelle*). Mit der Mehrdeutigkeit des Wortes „sein" hängt endlich
noch ein anderer Umstand zusammen, auf den besonders Apelt ^)
hingewiesen hat, der Umstand, dass Piaton zwischen Vergleichungs-
formeln und wirklichen Urteilen nicht unterscheidet. So ist z. B. der
Satz „xlvj^ois ist nicht steqoi'' blosse A'ergleichungsformel, die besagt,
dass die Begriffe y.ivrioig und heQov nicht identisch sind. Und so
ist es mit den meisten verneinenden Sätzen bei Piaton, während
seine bejahenden Sätze durchweg wirkliche Urteile sind.
Aber trotz dieser Ungenauigkeiten bedeutet doch die Lehre
Piatons von der Gemeinschaft der Begriffe einen grossen Fortschritt.
Es wird hier zum ersten Male der Versuch der Aufstellung einer
Kategorientafel gemacht. Dieselbe ist allerdings keine endgültige,
denn schon im „Philebos" finden wir vier andere Kategorien, das
Unbegrenzte, Begrenzung, Mischung und Ursache. Und die Kategorien
des Aristoteles haben bekannthch mit den platonischen nichts gemein.
In welchem Verhältnis stehen nun diese Hauptbegriffe {^dyioTu eidt]
254c) zu den Ideen? Raeder^) meint, sie hätten „im Bewusstsein
Piatons denselben bedeutsamen Platz erhalten, den vorher die Ideen
einnahmen. Es bleibt jedoch der Unterschied, dass die neuen Grund-
begriffe nicht wie vorher die Ideen als für sich {awd xab' avrd)
stehend betrachtet werden, wodurch es ja, wie uns der »Parmenides«
J) Im „Protagoras" 331a kennt Piaton diesen Unterschied noch nicht.
^ ) M); tojVvv tjuai einjj tj« oti TovvavTior rov ürro; t6 ^t; 6v ano(patr6,u£yot
JolfÄWfxtv Xiysiv tu; löTtv. ^fxeli yaq ttsqI /l4£v evavTiov nvo; avrj pfai'pfu' TiaÄat
IffO^Ev, fi'r' iOTiv £iT£ fxrj, loyov ly^ov ^ xai navränaaw aloyor.
^) Vgl. dazu Bonitz, Platonisclie Studien 208 f., Apelt, Rhein. Mus., N. F.,
50, 431 ff. und Raeder, Piatons philos. Entw. 338.
*) 240 d : ^pevS^; 6 aZ Sö^a eorat TaravTia toT: ovoi So^aLovaa.
*) Rhein. xMus., N. F., 50, 421.
'•) Vgl. Raeder, Piatons philos. Entw. 332.
10*
144 Paul Seh m i l franz.
gelelii'l hat, unmöglich gouesen wäre, zu erklären, wie die Dinge
an ihnen teilhaben können". Darauf ist zu erwidern, dass diese
letztere Frage liier überhaupt nicht erwähnt wird und daher völlig
ausscheiden muss. Wenn die Untersuchung auch zum Teil einen
vorwiegend logischen Charakter trägt, so sind doch für Piaton Logik
und Metaphysik so eng verbunden, mit andern Worten Begriff und
Idee so unzertreimlich, dass wir die ^leyioca scdr^ als Ideen an-
sprechen müssen. Dafür fehlt es auch nicht an deutlichen Anzeichen;
hinsichthch dieser darf ich wohl auf Bonitz ^) verweisen. Diese
Ansicht wird aber auch noch von anderer Seite bestätigt. Nachdem
Piaton schon im ..Phaedon" (103c ff.) die Lehre von der y.ononia
gestreift hat, finden wir im ,,Theaetet" (185 c) zum Teil schon die hier
aufgestellten Kategorien. Es sind dort genannt : Sein und Nichtsein,
Aehnlichkeit und Unähnlichkeit, Identität und Verschiedenheit. Da
von diesen behauptet wird, dass sie als das wahre Wesen der
Dinge von der Seele unmittelbar erfasst würden, findet obige An-
sicht auch hierdurch ihre Bestätigung.
Ich will mich nun noch kurz mit der Erklärung auseinander-
setzen, die Hartmann ^) dem Abschnitt über die y.oivojpia twv yevdjp
gegeben hat. Er hat das ganze Problem der y.oLViovia auf das tieQoy
zurückgeführt. Davon, dass das auch bei Pia ton der Fall ist,
habe ich mich nicht überzeugen können. Er hat, wie er selbst zu-
gibt, zur Durchführung dieses Gedankens bisweilen über das bei
Piaton unmittelbar Gegebene hinausgehen müssen. Ein Beispiel
dafür habe ich schon oben erwähnt. Auch hat er seine Auffassung
zum Teil durch eine solche Erklärung der Worte Piatons gewonnen,
die ich nicht für richtig halte. Ich will dafür als Beispiel die Stelle
258 a — b anführen. Gegenüber der Erklärung, die Hartmann dieser
Stelle (133 f.) gibt, erscheint mir die einzig richtige Auffassung die
Apelts '), die durch die von Apelt angezogenen Worte 258 e geradezu
gefordert wird.
Werfen wir nun noch einen Rückblick auf die beiden Dialoge
„Parmenides" und „Sophistes"', so ergibt sich, dass beide bedeut-
same Glieder der Auseinandersetzung Piatons mit der eleatischen
Lehre sind. Diese lautete, auf die kürzeste Formel gebracht: Nur
das Eine ist seiend. Demgegenüber zeigt Piaton im ,, Parmenides",
dass neben der Einheit des Seienden sich die Melheit der Er-
scheinungen einstellt, im „Sophistes", dass mit dem Seienden das
Nichtseiende untrennbar verbunden ist. Damit ist der Eleatismus
endgültig überwunden, aber auch der frühere Standpunkt Piatons
einer Revision unterzogen. Die Ideenlehre ist damit nicht aufge-
geben, wenn sich auch freilich nicht leugnen lässt, dass sie in den
letzten Dialogen Piatons immer mehr zurücktritt. Ein Ausblick auf
') Platonisclie Studien 193 f.
- Plalo-s Logik des Seins 117 ff.
') Ausgabe des ,, Sophistes" 180.
Die Gestalt der platonischen Ideenlehre in „Parmenides" u. „Sophistes". 145
einige dieser späteren Dialoge mag diese Untersuchung beschliessen.
Ich greife dabei nochmals auf die Einwände zurück, die im ,, Par-
menides" gegen die Ideenlehre vorgebracht wurden. Wir sahen,
dass das schwierige Problem der Beziehungen zwischen Ideen und
Sinnenvvelt im „Sophistes" trotz des Versuches einer Belebung der
Ideen nicht gelöst wurde. Aber ich wies schon oben darauf hin.
dass die nämliche Schwierigkeit im ,,Philebos" nochmals erwähnt
wird, ohne dass eine Lösung gegeben wird; es wird nur auf die
Dialektik als Mittel zur Lösung hingewiesen („Phileb." 15b ff.) '). Aber
nicht die Dialektik hat uns die Lösung gebracht, sondern die my-
thische Darstellung des „Timaeus". Dort (31a — b) stehen die
Ideenwelt und die Sinnenwelt einander gegenüber, jede für sich eine
Einheit, die in eine Vielheit von Einzelheiten zerfällt-). Als Ver-
mittlerin zwischen diesen beiden Welten steht die Seele, die als das
sich selbst Bewegende, die aQyjl] y.ivf^osots, der Grund der Bewegung
und des Lebens der Körperwelt ist.
') Schneider (Die platonische Metaphysik 51 f.) hat den Versuch gemaclit,
die unklare Stelle Phileb. 1.5 h: elra nw; «v tuvt«;, ftiar ixiartir ovcrar aec T)jf
avi rjv xai utjre yeieoty /U^re oXsd^QOv TTQoriöa^ouiit^v outaz tiiru ßsßaiorara fiiav
ravitiv dahin zu deuten, dass darin die schon im jji-'armenides" erwähnte
Aporie hinsichtlich der Erkennbarkeit der Ideen enthalten sei. Diese Deutung
erscheint mir jedocli zum mindesten sehr zweifelhaft. Aber andererseits geht
aus dem „Philebos" doch hervor, dass Piaton die Erkenntnis der Ideen durch
nva/urrjoi? aufgegeben hat und in der Mathematik das Mittel sieht, um zur
Kenntnis der Ideen zu gelangen (vgl. darüber Raeder, Platons philos. Entw. 373).
-) Vgl. Raeder 382 f.
Zu (leui (iottesbcAveisc des lieil. Thomas aus deu
Stufeu der Vollkommenheit.
Eine Erwiderung.
Von Dr. E. Rolfe s in Cöln-Lindenthal.
Pater Heinrich Kirfel C. Ss. R., Professor am Kollegium des heiligen
Alphonsusi in Rom, hat im 4. Heft des 26. Bandes des Jahrbuchs fiir
Philosophie von Commer S. 454 --488 eine Abhandlung über den Goltes-
heweis aus den Seinsstufen veröffentlicht, in der er sich bemüht, einmal
die Unzulänglichkeit der bisherigen Erklärungen dieses Beweises, wie er
bei St. Thomas gelesen wird, zu zeigen und dann seinerseits die dem
Argumente bei Thomas anhaftende Dunkelheit wenigstens einigermassen zu
beseitigen. Förmlich eine neue Erklärung aufzustellen, bezeichnet er in
den einleitenden Sätzen seiner Untersuchung nicht als seine Absieht. In
dieser berücksichtigt er nun nicht zuletzt meine Exegese in der Schrift :
Die Gottesbeweise bei Thomas v. A. und Aristoteles, S. 204 ff., und gibt
ihr im wesentlichen ein zweifaches Versehen schuld; erstens, dass sie die
höchste Stufe des Seins, von der den niederen Stufen die Vollkommenheit
zufliesse, als absolut statt als relativ höchste Stufe fasse, zweitens, dass
sie den fraglichen Beweis auf Plato statt auf Aristoteles und die unmittel-
baren scholastischen Vorgänger des heil. Thomas zurückführe. Es dürfte
die Freunde und vielleicht auch die Gegner der aristotelisch-scholastischen
Philosophie interessieren, zu vernehmen, was ich auf die Kritik P. Kirfel s
zu erwidern habe, und ich hoffe, durch diese Erwiderung auch ein kleines
zur weiteren Aufhellung des schwierigen Argumentes beizusteuern.
I.
1. Ich will die Auseinandersetzung mit der Offensive, wenn ich so sagen
Süll, beginnen, indem ich die Interpretation Kirfels zu widerlegen suche,
und dann erst mich zur thetischen Behandlung der Sache wenden. Be-
trachten wir zunächst das Argument aus der höchsten Stufe der Wahrheit
und des Seins, wie es in der sogenannten Summa contra gentiles steht.
..Potest etiam et alia ratio (ad probandum Deum esse) cblligi ex verbis
Aristotelis, in secundo libro metaphysicorum, c. I, sub fine. Ostendit
enim ibi quod ea quae sunt maxirnc vera, sunt et maxime entia. In rpiarto
etiam c. IV, oslcndit esse aliquid maxime verum, ex hoc quod videmus
Zu dem Gottesbeweise des h. Thomas aus d. Slufen der Vollkominenlieit. 147
duorum falsorum unum altero esse magis falsum; unde oportet ut alterum
sit etiam altero verius. Hoc autem est secundum approximationeni ad id
quod est simpliciter et maxime verum. Ex quibus concludi potest ulterius
esse aliquid quod est maxime ens; et hoc dicimus Deum" (I, XIII).
In diesem Text wird das Dasein Gottes als des am meisten Seienden
durch folgenden Syllogismus, so scheint es wenigstens, bewiesen:
Obersatz : was am meisten wahr ist, i.st auch am meisten seiend ;
Untersatz : es gibt ein am meisten Wahres ;
Schlusssatz : also gibt es ein am meisten Seiendes.
Schon dieser Syllogismus führt, wenn wir mit Kirfel das Am-meisten
oder das Meist im relativen Sinne nehmen, in unlösbare Schwierigkeiten,
mögen wir das Meist in den Vordersätzen oder im Schlusssatz betrachten.
Denn bei dieser Voraussetzung lässt sich erstens fragen, was der Mittel-
begriff des Meist- wahren überhaupt will. Er dient zu nichts, als die Ein-
sicht, die der Schlusssatz ausspricht, aufzuhalten. Der Schlusssatz bedeutete:
Es gibt unter den verschiedenen Graden des Seins, die uns in den Dingen
begegnen, einen höchsten. P. Kirfel meint freilich S. 473, der Schritt,
der zu diesem Schlusssatze führe, sei der schwierigste des ganzen Beweis-
verfahrens beim heil. Thomas. Das kann aber bei seiner Voraussetzung
gar nicht sein; denn da ist die Behauptung des Schlusssatzes ja selbst-
verständlich und kann nur indirekt daraus bewiesen werden, dass sonst
alle empirischen Grade einen anderen, höheren über sich hätten, obschon
es aus.ser allen keinen gibt. Wer sollte also der höhere Grad sein,
der über allen und jeden Gliedern der ganzen Reihe stände? Oder wird
vielleicht der Gedanke, dass es verschiedene Stufen des Seins und der
Vollkommenheii gibt, dadurch verständlicher und anschaulicher gemacht,
dass man von verschiedenen Graden der Wahrheit redet? Gewiss nicht.
Dass ein Ding besser und vollkommener ist als das andere, leuchtet ohne
weiteres ein, nicht aber, dass eins wahrer ist als das andere. Man sucht
aber nicht das Klarere durch ein minder Klares anschaulich zu machen.
Das ist also der eine Fehler des Beweisverfahrens: Der einfache Satz,
dass es unter Vollkommenheiten verschiedenen Grades eine relativ höchste
geben muss, wird in unangemessener Weise begründet.
Ein zweiter Fehler liegt aber im Schlusssatze selbst : das Meistseiende
wird darin in dem Sinne erschlossen, als wäre es identisch mit dem
höchsten Wesen. Und doch ist offenbar in Ansehung der Vordersätze nicht
der mindeste Grund vorhanden, das Meistseiende anders als endhch, anders
als die anderen Seinsstufen zu denken. Es braucht die vorausgehende
Seinsstufe nur so zu überragen, wie diese ihre Vorgängerin. So kann ich
etwa auch aus der Tatsache, dass es Körper von verschiedener Schwere
oder spezifischem Gewicht gibt, wissen, dass es einen schwersten Körper
gibt. Das hiesse aber in keiner Weise, dass seine Schwere die absolut
grösste wäre, über die hinaus keine grössere gedacht werden könnte.
148 E. Rolfes.
Es zeigt sich also, dass das Argument aus den Seinsstufen in der
philosophischen Summe, wenn man das Meist relativ versieht, unbefriedigt
lässt : es beweist nicht das, was es beweisen soll, und schlägt zur Be-
gründung dessen, was es wirklich begründet, einen Umweg ein.
2. Sehen wir nun auch gleich, wie es bei dieser Voraussetzung mit dem
Beweis in der Theologischen Summe bestellt ist!
Wir wollen auch hier der Uebersichtlichkeit und der Bequemlichkeit
der Leser wegen zuerst den lateinischen Text hersetzen : „Quarta via (qua
probatur Deum esse) sumitur ex gradibus qui in rebus inveniuntur. In-
venitur enim in rebus aliquid magis et minus bonum, et verum, et nobile ;
et sie de aliis huiusmodi. Sed magis et minus dicuntur de diversis secundum
quod appropinquant diversimode ad alitjuid quod maxime est: sicut magis
calidum est quod magis appropinquat maxime calido. Est igitur aliquid
quod est verissimura, et optimum, et nobilissimum ; et per consequens
maxime ens. Nam quae sunt maxime vera, sunt maxime entia, ut dicitur
11 Metaphys., text 4. Quod aulem dicitur maxime tale in aliquo genere,
est causa omnium quae sunt illius generis ; sicut ignis, qui est maxime
calidus, est causa omnium calidorum, ut in eodem libro dicitur, text. eod.
Ergo est aliquid quod est causa esse et bonitatis, et cuiuslibet perfectionis
in rebus omnibus, et hoc dicimus Deum" (i, qu. 11, art. III).
Was bei der Vergleichung der Fassung des Beweises in den beiden
Summen wohl am meisten auffällt, ist der Umstand, dass der-Syllogismus
in der kleinen Summa hier in der grossen um einen Syllogismus vermehrt
wird. Dort wurde von dem Meistseienden gleich auf Gott geschlossen, hier
wird von dem Meistseienden auf die Ursache alles Seins und erst von
dieser auf Gott geschlossen. Nach P. Kirfels Vermutung hätte der Aquinale
diese Erweiterung des Beweises darum vorgenommen, weil ihm der Begriff
des Meistseienden nachträglich zu unbestimmt erschienen wäre, um ohne
Umstände mit dem Begriffe Gottes gleichgesetzt werden zu können. „Es
ist", schreibt er S. 4G9, „nicht ohne weiteres klar, dass dem so (relativ)
verstandenen Meistseienden auch wirklich gcUtliche Eigenschaften zukommen,
im Gegenteil, es könnte sogar die Versuchung nahe liegen, das tatsäch-
lich existierende Meistseiende mit dem erfahrungmässig be-
kannten höchsten Seinsgrade, also mit der menschlichen Natur, zu ver-
wechseln und infolgedessen die Göttliclikeil des Meislseienden zu bestreiten.
Um diesem Einwände vorzubeugen, musste es als geraten erscheinen, durch
die I^nfiihrung des Miltelbegriffes der Allursache die Identität des Meist-
seienden n)it Gott aufzuzeigen".
Dieser Deutungsversuch erscheint nicht besonders glücklich. Es ist
nicht glaublich, dass St. Thomas für einen Gottesbeweis nach einer so
bedcnklicheu Vermittlung gegriffen haben sollte, wie sie der Begriff des
relativ Meistseienden darstellte. Man ist nicht bloss versucht, ein solches
für endlich zu nehmen, man ist dazu in gewissem Sinne genötigt, da, wie
Zu dein Gottesbeweise des h. Thomas aus d. Stufen der Vollkommenheit. 149
wir vorhin gezeigt haben, kein Grund vorliegt, ein mehreres in den gedachten
Begriff hineinzulegen, und als Ertrag eines Beweises immer nur so viel
gelten kann, als er wirklich beweist. Wir möchten deshalb eher in diesem
Erklärungsversuch des P. Kirfel ein stillschweigendes Eingeständnis er-
blicken, dass seine Auffassung des Meistseienden nicht gut ist. Wenn das
Meistseiende nicht das absolut Meistseiende ist, so ist es nicht Gott, und
St. Thomas hätte in der Philosophischen Summe seine Leser getäuscht,
wenn er es mit Gott gleichgesetzt hätte. Dieses sein Meistseiendes aber,
das er auf grund der empirischen aufsteigenden Stufenreihe der Dinge
erschliesst, braucht im Zusammenhang der Kirfelschen Auslegung nie und
nimmer ein anderes zu sein als jenes, das die Vollkommenheit seines
Vorgängers auf der Seinsstufe in derselben Weise, also in endlichem Ab-
stände überholt, wie dieser Vorgänger die Vollkommenheit der Stufe vor
ihm. Der wahre Grund für die Erweiterung des Beweises in der Theol.
Summe wird darum ein anderer sein, und es kann auch nicht schwer
fallen, hierüber sich eine annehmbare Meinung zu bilden. Der heil. Thomas
wollte etwa von vornherein, wo er die Wege der natürlichen Gottes-
erkenntnis beschreibt, den Nachweis liefern, dass Gott von der Vernunft
auch als Schöpfer gefunden werden kann. Erst die Schöpfung spricht das
Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen rein und vollkommen aus,
sie erst gibt der Religion die ausreichende wissenschaftliche Grundlage
und hält jeden Pantheismus, welche Gestalt er auch haben möge, fern.
Nun aber führt die Wahrheit, dass alles Sein ohne Ausnahme von Gott
ist, eine Wahrheit, die uns eben der vierte Gottesbeweis erschliesst, un-
mittelbar auf die Schöpfung. Denn so muss auch die Materie von ihm sein,
und so erhellt denn, dass die Dinge von Gott nicht aus einem schon vor-
handenen Stoff, sondern aus nichts hervorgebracht sind.
3. Doch ich höre unseren Kritiker Einspruch erheben. Zunächst, wird
er sagen, steht es freilich dahin, ob das erwiesene Meist absolut ist. Aber es
lässt sich eben zeigen, und es wird in der Theol. Summe gezeigt, dass
es die Ursache alles Minderderartigen und somit Gott ist. Demnach ist
also der Beweis in der Phil. Summe doch ein wirklicher Gottesbeweis,
wenn auch einer weiteren Ausführung bedürftig, und ebenso ist das Meist,
nach dem wir immer fragen, wirklich absolut, aber als solches erst nach-
träglich erkennbar.
Aber diese Einrede kann nur gelten, wenn das Meist, auch abgesehen
davon, ob es absolut oder relativ ist, sich wirklich als die Ursache jedes
Minder derselben Gattung behaupten lässt, mit anderen Worten, wenn der
zweite Syllogismus der Theol. Summe auch auf gegnerischem Standpunkte
gültig ist.
Hierüber spricht sich der Kritiker, wenn ich nichts übersehen habe,
nur an der Sielle aus, wo er sich luii den Nachwris bemüht, dass die
beiden Sätze : Die Ursache aller gleichartigen Dinge ist meistderartig und :
150 E. Rolf es.
Das Meisldeiartige ist die Ursache aller derartigen Dinge, sich umkehren
lassen. „Man braucht sich", so lässt er sich dort vernehmen, „zu diesem
Zwecke (zur Rechtfertigung der Urteilskonversion) nur an das goldene
Prinzip der Thomas-Auslegung zu halten : Formalissime loquitur S. Thomas,
und die Begriffe des Minderseienden und des Meistseienden formell zu
fassen. Das Minderseiende kann, insofern es ein bestimmtes Individuum
ist, eine Ursache haben, die auf derselben Seinsstufe steht; aber diese
Seinsstufe selbst, das Minderseiende als solches, kann nur verursacht werden
durch ein Mehrseiendes und in letzter Linie durch ein Meistseiendes, sonst
wäre es entweder unverursacht, und dagegen spricht seine UnvoUkommen-
heit und Beschränktheit als Minderseiendes, oder es wäre von sich selbst
verursacht, und dann müsste es seiner eigenen Existenz vorangehen, oder
es wäre von einem noch tiefer stehenden Sein verursacht, und das wider-
streitet der Forderung einer genügenden und proportionierten Ursache.
Umgekehrt kann das Meistseiende, wenn es nur als relatives Meist gefasst
wird, in mehreren Individuen verwirklicht gedacht werden, so lange der
Beweis seiner Einzigkeit nicht erbracht ist; aber wenn auch in diesem
Falle nicht alles Minderseiende von einem und demselben Individuum
verursacht gedacht werden müsste, so wird doch .notwendig alles von
jenem höchsten Sein als solchem verursacht. Man kann also ruhig sagen,
dass einerseits die Ursache aller gleichartigen Dinge am meisten derartig
ist, und dass anderseits das Meistderartige als solches Ursache alles
Minderderartigen als solchen ist" (462 f.).
Was ist hierauf zu erwidern? Wir möchten, wenn es nicht etwa ver-
letzend lautet, sagen, dass das so sorgfältig formulierte Fazit: das Meist-
derartige als solches ist Ursache alles Minderderartigen als solchen, nur
Worte bringt. Was ist denn das Meistderartige als solches? Soll es abstrakt
verslanden werden, als grösste Wärme z. B. oder als grösste Schwere?
Aber ein solches Abstraktum existiert nicht. Die Wärme existiert nur am
Warmen, die Schwere am Schweren. Oder soll es formell verstanden
werden, so dass z. B. die Ursache des Warmen immer ein Warmes oder
Wärmeres wäre? Aber das ist nicht nötig. Die Vollkommenheit der W^irkung
braucht nicht formell in der Ursache zu sein, .sie braucht nur virtuell in
ihr zu sein. Können z. B. nicht zwei gemischte Elemente einen Körper
mit ganz neuen Eigenschaften bilden ? Wasserstoff und Sauerstoff sind Gase,
in bestimmter Mischung aber Wasser. Umgekehrt ist das Schwerste nicht
Ursache alles minder Schweren, etwa das Blei, um vulgär zu reden, Ur-
sache aller Schwere. Oder soll endlich das Meistderartige unterschiedslos
verstanden werden, d. h. unangesehen, ob es die betreffende Eigenschaft
selbst hat oder nur in anderen hervorbringen kann? Dann würde der Aus-
druck gewiss eigentümlich gebraucht werden, wichtiger aber ist, dass eine
Erschleichimg vorläge. Wer sagt : da.< Meislderartigc ist Ursache alles
Minderderartigen, setzt stillschweigend oder ausdrücklich voraus, dass nichts
Zu dem Goüesbeweise des h. Thomas aus d. Stufen der Vollkommenheit. 151
Unvollkommenes und Beschränktes aus sich oder unverursacht sein kann,
und doch ist gerade dieses der Satz, der zu beweisen wäre.
Diese kurzen Erwägungen möchten hinreichend dartun, dass das relativ
Meistderartige als Ursache des Minderderartigen von dem Kritiker nicht
erwiesen ist und wohl auch nicht erwiesen werden kann. Das war es aber
ihm zufolge, was der neue Syllogismus, der über die Phil. Summe hinaus-
geht, erhärten sollte, und so scheiden wir denn auch von seiner Auslegung
der Theol. Summe mit dem Eindruck, dass sie nicht befriedigt.
II.
1. Suchen wir nun unsererseits den Sinn des Argumentes aus den Stufen
der Vollkommenheit zu bestimmen. Nehmen wir wieder zuerst den Beweis
in der Philosophischen Summe vor. Hier muss vor allem der Sinn des
maxime verum ermittelt werden. Thomas beginnt seinen Beweis mit den
Worten: „Es kann auch noch ein anderer Beweisgrund aus den Worten
des Aristoteles im zweiten Buche der Metaphysik gezogen oder abge-
leitet, colligi, werden. Dort zeigt er nämlich, dass das, was am meisten
wahr, auch am meisten seiend ist". Schlagen wir die Stelle des Philosophen
nach, so stossen wir auf folgenden Text : „Mit Recht heisst die Philosophie
auch die Wissenschaft der Wahrheit. Denn die Wahrheit ist das Ziel der
theoretischen Wissenschaft wie das Werk das der praktischen Wissenschaft.
Denn wenn die Praktiker auch betrachten, wie sich ein Ding verhält, so
sehen sie dabei doch nicht auf das Ewige, sondern darauf, wie sich das
Ding relativ und momentan verhält. Es gibt aber für uns kein Wissen um
die Wahrheit ohne die Erkenntnis der Ursache. Jedes ist aber, was es ist
unter allen am meisten, wenn es dasjenige ist, auf dessen Grund auch das
andere den betreffenden Namen und die betreffende Eigenschaft hat :
k'xaorop de fiähora avro tw^ a'/.lon\ y.ai>' o xal to/^' älloig vnäoyjei
rd ovvMvvf^iov^ wie z. B. das Feuer am meisten warm ist, weil es auch
für das andere die Ursache der Wärme ist. So ist denn auch am meisten
wahr, was für alles Spätere die Ursache ist, dass es wahr ist. Daher
sind die Prinzipien des immer Seienden notwendig immer
am meisten wahr. Denn sie sind nicht bald wahr und bald nicht wahr,
und sie haben keine Ursache des Seins, sondern sind es für das andere,
und so verhält sich denn jegliches, wie bezüglich des Seins, so auch be-
züglich der Wahrheit" {Met. II, 1, 993b 19—31).
Dieser Text scheint die Bedeutung des maxime verum mit einem
Schlage zu beleuchten. Nebenbei zeigt er auch, wie das verum gemeint
ist, wenigstens an dieser Stelle. Der höchste Grad der Wahrheit, von dem
die Rede ist, ist der absolut höchste, die absolute und höchste
Wahrheit, Gott, in.sofern er Prinzip, schöpferisches Prinzip aller
Dinge, auch der inkorruplibelen tliinnielskörper, ist. Er ist unter den
Prinzipien des immer Seienden zu verstehen, wenn auch hier von einer
152 E. Rolf es.
Mehrheit von Prinzipien geredet wird. Denn es ist des Aristoteles Gewohn-
heil, einen Gegenstand, den die Untersuchung einschliesst, zunächst auch
im Ausdruck unbestimmt zu lassen, bis der Forlgang der Untersuchung
Klarheit über ihn bringt. Wir stehen hier im Eingang der Metaphysik,
und erst an ihrem Schluss wird er erklären, dass die Ursache aller Dinge
nur eine ist. Wenigstens hat Thomas, auf dessen Auffassung es hier an-
kommt, die Prinzipien des immer Seienden so verstanden. Er schreibt
im Kommentar zu dieser Stelle lib. 11, lect. II: „Die himmlischen Körper
haben eine Ursache nicht nur, sofern sie bewegt sind, wie einige gemeint
haben, sondern auch, sofern sie sind, wie der Philosoph hier ausdrücklich
sagt. Und dem muss so sein, weil notwendig alles Zusammengesetzte und
Teilhabende auf das, was durch seine Wesenheit ist, als auf seine Ur-
sachen zurückgeführt wird. Nun sind aber alle körperlichen Wesen inso-
fern aktuell seiend, als sie an gewissen Formen teilhaben. Daher ist es
notwendig, dass die (vom Stoffe) getrennte Substanz, die durch ihre Wesen-
heit Form ist, Prinzip der körperlichen Substanz sei".
Fahren wir nun in der Betrachtung des Textes bei Thomas fort.
.,Auch im vierten Buche der Metaphysik zeigt Aristoteles, dass es ein
Meistwahres gibt". Es ist sehr zu bemerken, dass der vorausgehende Ab-
schnitt, wenn man ihn mit diesen W^orten zusammenhält, den Eindruck
einer gewissen Selbständigkeit und Abgeschlossenheit macht. „Es kann",
so lautet er, „auch noch ein anderer Beweisgrund aus den Worten des
Aristoteles im 2. Buch der Met. entnommen werden. Denn er zeigt daselbst
dass, was am meisten wahr, auch am meisten seiend ist". Wenn nun fort-
gefahren wird : „Auch im 4. Buch der Metaph. zeigt er, dass es ein Meist-
wahres gibt", so muss jeder sehen, dass eine neue, der vorausgehenden
nicht subordinierte, sondern koordinierte Erwägung erfolgen soll, eine
weitere Begründung der in Frage stehenden Wahrheit, die sich im 4. Buche
der Metaph. findet, wie die erste im 2. — Thomas schreibt we'ter (er
zeigt, dass es ein Meistwahres gibt): „Daraus, dass wir sehen, wie von
zwei falschen Sätzen der eine falscher als der andere ist; daher denn auch
der andere wahrer als der andere ist. Das gilt aber im Verhältnis der
Annäherung an das, was schlechthin und am meisten wahr ist". Der an-
gezogene Text des Aristoteles — er disputiert in ihm wider die Skeptiker
und ihren Satz, da.ss alles gleich wahr und gleich falsch ist — hat folgenden
Wortlaut: „Es gibt, wenn auch alles noch so sehr sich so und zugleich
nicht so verhält, doch in der Natur der Dinge ein Mehr oder Minder. Denn
wir werden wohl nicht auf gleiche Weise zwei gerade nennen und drei,
und nicht auf gleiche Weise irrt, wer vier für fünf und wer vier für
tausend hält. Wenn nun nicht jeder von beiden auf gleiche Weise irrt,
so ist offenbar der eine weniger im Irrtum und hat und sagt folglich mehr
die Wahrheit, (st nun das Mehr näher, so wird auch ein Wahres sein,
dem das Wahrere näher ist" [Met. IV, 4 Schluss).
Zu dein Gotlesbeweige des li.Tlioinas aus d. Stufen der Vcillkoinmenlieit. 153
Hier könnte es auf den ersten Blick scheinen, als oh der Text fälsch-
lich mit der Idee eines Meistwahren in Verbindung gebracht würde. Rei
Sätzen oder Urteilen gibt es kein mehr oder minder Wahr in der Art,
dass der eine wahr und der andere noch wahrer wäre, sie sind entweder
schlechthin wahr oder schlechthin falsch. Die Sät/e : 3 ist grade, 4 = 5,
4 = lOOb sind schlechthin falsch, die Sätze : 2 ist grade, 4 — 4 sind
schlechthin wahr. Wahr ist ein falscher Satz nur beziehungsweise, sofern
er wahrer als ein noch falscherer Satz, und so denn doch auch wahr ist.
Nun handelt es sich aber in unserem Falle um ein positiv Wahreres und
Wahrstes, das wahrer als anderes Wahre und am wahrsten unter allem
Wahren ist. Ein solches sollte uns ja auch in dem Text aus Met. II, 1
vorgestellt werden. Denn da handelte es sich um ein Wahres, das allem
Wahren Grund der Wahrheit ist. Sollte also nicht Thomas wirklich von
der Stelle im 4. Buche der Met. einen unrechtmässigen Gebrauch ge-
macht haben? Man findet in der Tat nicht, wie die Annäherung minder
falscher Sätze an einen einfach wahren Satz zur Begründung einer Stei-
gerung der positiven Wahrheit verwandt werden könnte.
Aber wie wäre es, wenn hier gar keine Begründung, sondern nur eine
Erklärung beabsichtigt wäre, wenn das Meistwahre, das hier mit dem
Schlechthinwahren identifiziert wird, nur zur Beleuchtung des Sinnes
herbeigezogen wird, den wir mit dem Meistwahren im 2. Buch der Met.
zu verbinden haben? In der Tat hefert es einen passenden Vergleich.
Wie das Schlechthinwahre absolut und das beziehungsweise Wahre nur
relativ wahr ist, so ist auch das Meistwahre im Sinne des Meistseienden
durch sich und das Minderwahre nur durch jenes wahr. Und wie das
beziehungsweise Wahre mehr oder minder wahr ist, je nachdem es sich
dem Schlechthinwahren mehr oder minder nähert, ihm in verschiedenem
Grade ähnlich ist, oder an ihm teilhat, so ist auch das absolut Wahre
mehr oder minder wahr, je nachdem es mehr oder minder an dem Meist-
wahren teilhat oder ihm ähnhch ist. So sind wir z. ß. bedeutet worden,
dass die ewigen Körper wahrer sind, als die vergänglichen, weil diese bald
sind, bald nicht sind, während jene immer und insofern ihrem Prinzip,
dem Meistwahren, ähnlicher sind und vollkommener an ihm teilhaben. Wir
tragen kein Bedenken, uns diese Auslegung zu eigen zu machen, da sie
einen guten Sinn gibt, und wir keine andere finden können.
St. Thomas endet seine Rede mit folgenden Worten : „Aus diesen
Daten (ex quibus) kann weiter geschlossen werden, dass es etwas gibt, was
am meisten seiend ist, und dieses nennen wir Gott". — Es kommt uns
gegenwärtig darauf an, den Sinn der Ausführung bei Thomas zu erklären.
Die Frage nach der Probehaltigkeit des ganzen Argumentes, und ob der
Beweisgang, wie Thomas ihn andeutet, sich ebenso bei Aristoteles findet,
soll erst hernach erörtert werden. Im Vorbeigehen möchten wir nur auf
die so vorsichtig gewählten Worte des Heiligen hinweisen ; er sagt : aus
154 K. Holfes.
diesen Daten kann geschlossen werden, und uichl : es folgt daraus, wie er
auch am Anfang geschrieben hatte : es kann noch ein anderer Beweis-
grund aus den Worten des Aristoteles gezogen werden, und er sagt nicht :
ex quo, hieraus, wie wenn er sich nur auf die Worte : ostendit esse ali-
quid maxiine verum bezöge, sondern ex quibus, indem er sich auf das
ganze Vorausgehende bezieht. Für jetzt also möchten wir noch weitere
Umschau in der Phil. Summe halten, ob wir nicht noch andere Auf-
schlüsse über den Sinn des so kurz gefassten Argumentes finden. Sie
könnten uns dann vielleicht auch eher zu einem Urteil über seine Gültig-
keit befähigen.
Solche Aufschlüsse können wir besonders an zwei Stellen erwarten,
erstens da, wo von der allseitigen vmd höchsten Vollkommenheit Gottes,
und dann, wo von der Schöpfung die Rede ist. Auch sie kommt hier in
Betracht, da wir, abgesehen von dem Argument in der Theol. Summe,
schon aus der Stelle im 2. Buch der Metaphysik wissen, dass Gott in
unserem Argumente als Ursache alles Wahren und Seienden in Betracht
genommen wird.
Im 28. Kapitel des 1. Buches wird der Satz von der allumfassenden
göttlichen Vollkommenheit an fünfter und letzter Stelle in folgender Weise
begründet:
„In jeder Gattung gibt es ein Vollkommenstes in der betreffenden
Gattung, nach dem alles jener Gattung Angehörige gemessen wird ; denn
dadurch erweist jedes sich als mehr oder minder vollkommen, dass es dem
Masse seiner Gattung mehr oder minder nahekommt ; so heisst das Weisse
das Mass in allen Farben und der Tugendhafte das Mass unter allen
Menschen. Das aber, was das Mass alles Seienden ist, kann nichts anderes
als Gott sein, der sein Sein ist. Ihm also mangelt keine von den Voll-
kommenheiten, die irgend welchen Dingen eigen sind ; sonst wäre er nicht
das Mass ihrer aller". Es ist offenbar, dass die Worte : „Dadurch erweist
jedes sich als mehr und minder vollkommen, dass es dem Masse seiner
Gattung mehr und minder nahekommt", den obigen Worten aus dem
Gottesbeweis : „das (dass eines wahrer ist als anderes) gilt im Verhältnis
der Annäherung an das, was schlechthin und am meisten wahr ist",
parallel smd. Nun möchte aber auch wohl zweifellos sein, dass an unserer
Stelle das Mass das bedeutet, was das denkbar und nicht bloss relativ
höchste der Gattung, was gleichsam seinem Begriffe nach und durch sich
das Betreffende ist. Das Weiss ist die absolut hellste und leuchtendste
Farbe, gleichsam das Licht, und der Tugendhafte so viel als die Tugend
.nach ihrem reinen und voUkonmienen Begriff, vor allem aber Gott als
Mass alles Seins das Sein.
Im 15. Kapitel des 2. Buches wird der Satz erhärtet: alles, was ist,
ist von Gott. Hier kommt freilich zunächst der zweite Grund, den Thomas
beibringt, in Betracht, weil aber der erste Grund für uns gleich grosse
Zu dem Gottesbeweise des h. Thumas aus d. Stufen der Vollkummenheit. 155
Bedeutung hat und auch gescliielitlicli als Gegenstück des ersten auftritt,
so wollen wir trotz des etwas umfangreichen Textes sie beide hersetzen,
wie sie bei Thomas auf einander folgen.
1. Grund: „Alles, was einem Ding zukommt, nicht sofern es es selbst
ist (secundum quod ipsum est, seinem Selbst nach), kommt ihm durch
eine Ursache zu, wie das Weisse dem Menschen ; denn was keine Ursache
hat, ist ursprünglich und unmittelbar; es ist daher notwendig, dass es
durch sich sei, und sofern es es selbst ist. Es ist aber unmöglich, dass
ein Einiges zweien zukoinme und (doch) jedem, sofern es es selbst ist;
denn das, was von einem seinem Selbst nach ausgesagt wird, geht nicht
über es hinaus : wie die Eigenschaft, drei Winkel zu haben, die zwei
Rechten gleich sind, über das Dreieck, von dem sie prädiziert wird, nicht
hinausgeht, sondern mit ihm konvertibel ist. Wenn etwas daher zweien
zukommt, kommt es nicht beiden ihrem Selbst nach zu. Mithin kann un-
möglich ein Einiges von zweien in der Art prädiziert werden, dass es von
keinem aufgrund einer Ursache ausgesagt wird ; sondern es muss entweder
eines die Ursache des anderen sein, wie das Feuer den gemischten Körpern
Ursache der Wärme ist, wenn schon beides warm genannt wird; oder es
muss ein Drittes Ursache beider sein, wie das Feuer für zwei Kerzen die
Ursache ist, dass sie leuchten. — Das >Sein« aber wird von allem aus-
gesagt, was ist. Mithin ist es unmöghch, dass zwei Dinge seien, deren
keines eine Ursache des Seins hätte, sondern jedes der beiden gedachten
Dinge muss durch eine Ursache, oder eines dem anderen Ursache des
Seins sein. Mithin muss von dem, dem nichts Ursache des Seins ist, alles
das sein, was irgendwie ist. Gott aber haben wir oben (1, 13) als ein
solches Seiende erwiesen, dem nichts Ursache des Seins ist. Mithin ist
von ihm alles, was irgendwie ist. — Sollte man aber sagen, das Seiende
sei kein eindeutiges Prädikat (univocum), so folgt darum der vorstehende
Schluss doch um nichts weniger; denn es wird von dem vielen nicht im
Sinne blosser Namensgleichheit ausgesagt (aequivoce), sondern im ana-
logischen Sinne (per analogiam), und so muss eine Zurückführung auf
eines stattfinden".
2. Grund : „Was einem Dinge durch seine Natur und nicht durch eine
Ursache zukommt, kann nicht vermindert und mangelhaft in ihm sein.
Denn wenn der Natur etwas Wesentliches entzogen oder hinzugefügt wird,
ist sie schon eine andere Natur; wie es auch bei den Zahlen geschieht,
bei denen die Addition oder Subtraktion einer Einheit die Spezies ändert.
Wenn sich aber bei unberührtem Bestände der Natur oder Wesenheit des
Dinges in ihm ein Minderes findet, so erhellt daraus, dass dies nicht
schlechthin von jener Natur abhängt, sondern von einer anderen Ursache,
durch deren Entfernung es vermindert wird. Was mithin einem Dinge
weniger als anderen zukommt, kommt ihm nicht bloss durch seine Natur,
sondern durch eine andere Ursache zu. Mithin wird das die Ursache von
ir>(; E. Rolf es.
allein in einer Galtung sein, fleiii das Prädikat jener Gattung am meisten
zukommt; daher wir auch sehen, wie das, was am meisten warm ist, die
Ursache der Wärme in allem Warmen und das, was am meisten hell ist,
die Ursache alles Hellen ist. Gott aber ist am meisten seiend, wie gezeigt
worden (1, 13). Mithin ist er die Ursache von allem, wovon das Seiende
prädiziert wird'".
Dieser Text möchte die erwarteten Aulschlüsse, von denen wir ge-
sprochen haben, in vollkommener Weise bringen, ja unsere Erwartungen
noch übertreffen, da er nicht bloss lür den Sinn des vierten Goltesbeweises
von entscheidender Bedeutung ist, und nicht bloss für seine Gültigkeit,
sondern beziehungsweise selbst für seine Herkunft, wie wir sehen werden.
Als Sinn dieses Beweises lässt er erkennen, dass er bestimmt ist, das
Dasein eines Meistseienden darzutun, das wesenhaft seiend ist und darum
bestehen niuss, weil es Stufen des Seins gibt und diese sämtlich durch
anderes und nicht aus sich sein würden, wenn nicht die höchste unter
ihnen aus sich und mithin wesenhaft seiend wäre. Denn alle tieferen
Stufen müssen durch anderes sein, weil sie tiefer sind, wie sich auch sagen
lässt, dass alles Seiende ausser dem einen wesenhaft Seienden durch
anderes sein muss, weil es ist.
In unserem Text wird auch ein Scheinargument beseitigt, das man für
die Meinung anführen könnte, als ob es sich im vorliegenden Gottesbeweis
nur um ein relativ Meistseiendes handele. Wir haben Aristoteles oben
sagen hören : „Jedes ist, was es ist, unter allen am meisten, wenn es das
ist, auf dessen Grund auch das andere den betreffenden Namen und die
betreffende Eigenschaft hat", oder, wie es wörtlich heisst : „das Synonyme
hat". Wenn die untere Stufe die Eigenschaft im selben Sinne wie die
höchste hat, wie kann diese sie dann im absolut höchsten Sinne haben?
Aber diesem Einwand begegnet die Darlegung bei Thomas in der schwer-
wiegenden Bemerkung am Ende des Wortlautes des ersten Grundes : wenn
auch das Sein beim Geschaffenen nicht denselben Sinn hat wie beim Un-
erschaffenen, so wird es doch mit Bezug auf das Unerschaffene so genannt,
das will sagen : wegen der Teilnahme an ihm und der Aehnlichkeit mit ihm.
Die Rechtmässigkeit der beiden wiedergegebenen Beweisgründe für den
Satz, dass alles, was ist, von Gott ist, brauchen wir hier nicht zu erhärten.
Es fragt sich, ob durch sie oder durch den zweiten von ihnen auch unser
Gotte.sbeweis gedeckt ist. Zweifellos I Er stützt sich darauf, dass es ein
Meistwahres gibt, und dies darauf, dass es eine Stufenfolge des Wahren
gibt, indem z. B. das Ewige wahrer ist als das Vergängliche. Gibt es aber
ein Meistwahres, dann auch ein Meistseiendes, beides im Sinne des durch
sich und folglich wesenhaft Wahren und Seienden.
2. Es fragt sich weiter, ob unser Gottesbeweis auch Aristoteles angehört,
insoweit die Gedanken bei ihm, auf die sich Thomas bezieht, ihn etwa
enthalten. Das kann nicht einfachhin behauptet werden. Wir haben schon
Zu dem (lottesbeweise ties li. Thunias; ans d. Stufen der VullkommenJjeit. 157
angedeutet, dass die Ausdrucksweise des heil. Thomas keine direkte aristo-
telische Herkunft des Arguments begfinstigt. Aber auch die von ihm an-
gezogenen Stellen begünstigen sie nicht. Die aus dem 4. Buch der Meta-
physik scheint zur Erhärtung eines Meistwahren iin Sinne des Goltes-
beweises ganz unbrauchbar. Denn dort hat das Meistwahre, das übrigens
dort nicht so genannt wird, sondern einfach das Wahre, einen ganz anderen
Sinn. Die Stelle im 2. Buch aber setzt das Dasein eines Meistseienden
und einer Ursache alles Seienden voraus und stellt das Meistwahre mit ihm
in Parallele. Jedenfalls fehlt hier die förmliche Erwä^untj, dass was ver-
schiedene Grade hat, in einem Grade, dem höchsten, wesenhaft sein muss.
Da nun dieser Gedanke der eigentliche Nerv des Beweises ist, so muss
man sagen, dass unser Beweis, so weit die gedachten Stellen in Betracht
kommen, Aristoteles nicht förmlich oder einfachhin angehört. Anderer-
seits kann man aber auch nicht schlechthin behaupten, dass das Argument
ihm fremd ist. Mit dem Begriffe dessen, was für alles Spätere die Ursache
der Wahrheit und darum am meisten wahr ist, hat Aristoteles jenes durch
sich und wesenhaft Wahre berührt: denn nur ein solches kann dem ge-
dachten Begriffe genugtun. Ebenso hat er den ursächlichen Zusammen-
hang zwischen dem Meistwahren und dem Meistseienden berührt, indem
er jenes auf dieses zurückgeführt hat. Aber bei ihm ist das Verfahren
synthetisch, er geht von dem Grunde auf die Folge.
Thomas aber vertauscht es mit dem analytischen Verfahren, indem er
von der Folge zum Grunde geht. Aristoteles schliesst von dem Seienden
auf das Wahre und von dem durch sich Wahren auf das Meistwahre.
Thomas schliesst von dem Meistwahren auf das durch sich Wahre und
von dem durch sich Wahren auf das durch sich Seiende. Man kann also
in gewissem Sinne sagen, dass unser Argument wirklich Aristoteles ange-
hört, und so zeigt sich denn, dass der heil. Thomas im Hinblick auf das-
selbe mit gutem Recht geschrieben hat: potest et aha ratio colligi ex
verbis Aristotelis.
3. Uebrigens wird die Herkunft des Beweises gleich noch genauer be-
stimmt werden. Jetzt nehmen wir zum zweiten Male den Beweis in der
Theol. Summe vor.
Er hat, wie wir wissen, die Eigentümhchkeit, dass das Meistseiende
als Allursache erwiesen und dann erst mit Gott gleich besetzt wird. Da
wir gezeigt haben, dass das Meistseiende ohne weiteres als das aus sich
und wesenhaft Seiende und somit als die absolute Vollkommenheit gedacht
ist, so darf man aus der neuen Form des Beweises nicht schliessen, als
ob es nicht hinreichend als göttlich erkennbar wäre. Denn es versteht
sich durchaus von selbst, dass ein solches Wesen Gott ist.
Man darf aber auch nicht meinen, dass sich das Meistseiende im
absoluten Sinne nur durch den Mittelbegriff der Allursache finden liesse,
so dass dennoch anzunehmen wäre, es sei im vorliegenden Beweise das
Philosophisches Jahrbuch 1913. j 1
158 E. Rolfes.
Meist zunächst allgemein gedacht, unangesehen nämlich, ob es absolut oder
relativ sei. Man muss hier freilich sehr gut zusehen. Es kann allerdings
das absolut Meistseiende für sich erwiesen werden und der Nachweis seiner
Stellung als Allursache erst folgen. Der Weg und die Weise dürfte von
uns schon oben einigermassen angezeigt worden sein. Es muss ein Meist-
seiendes geben, das durch sich ist. Denn alles Minderseiende ist nicht
durch sich, sondern durch anderes. Es kann aber nicht alles, was ist,
durch anderes sein. Es muss wenigstens Eines sein, das nicht durch
anderes, sondern durch sich ist, und dieses muss am meisten sein. Nun
kann aber auch — wir wollen dieses nur gleich hinzufügen — nur ein
solches sein. Denn was in zweien oder mehreren gleichzeitig ist — r und
das ist das Sein in allem Seienden — , kann nur Eines durch sich haben:
Dieses Eine muss aber auch die Ursache alles anderen sein. Denn da alles
Andere durch Anderes ist, so kann es nur von dem sein, das durch sieh ist.
Hieraus sieht man also, dass man, um zur tatsächlichen Existenz des
Meistseienden zu gelangen, nicht nötig hat, wozu man ja auch nicht befugt
wäre — vgl. bei unserem Kritiker S. 465 f. — , dem zweiten Teil unseres
Arguments vorzugreifen und die Erwägung heranzuziehen, dass alles Minder-
seiende ein Meistseiendes als Ursache fordert. Demnach kann es also
auch von dieser Seite nicht beanstandet werden, wenn man das Meist-
seiende absolut versteht. Wir haben aber auch soeben den Weg gezeigt,
auf dem man von dem Meistseienden zur Allursache gelangt, und so das
ganze Argument in der Hauptsache schon erklärt.
Doch — denn dies ist das andere, was die Fassung der Theol. Summe
von der in der Phil. Summe unterscheidet — es ist auch noch zu er-
klären, warum in jener viele Arten des abgestuften Seins genannt und
zum Beweise verwandt werden, nicht bloss die Gattung des Wahren und
des Seienden, auch die des Guten und Edlen, die ausdrücklich genannt
wird, und ähnliche, die man sich hinzudenken soll. Es hätte doch, um
das gewünschte Ergebnis herbeizuführen, genügt, einfach von den Stufen
des Seins zu reden oder etwa noch der Wahrheit, zum Zwecke der Ver-
anschaulichung nach Aristoteles. Denn die Vermittlung liegt, wie schon
gesagt, einzig in der Ueberlegung, dass alles Minderseiende von einem
Meistseienden als aus sich Seiendem ist. Wozu also noch das Gute, Edle
und dergleichen nennen? Die Antwort möchte sein, dass das Argument
so den platonischen Gedanken nähergebracht wird, denen
es, wie uns auch jetzt noch feststeht, entsprungen und förmlich entlehnt
ist. Es soll so an die Ideen erinnern, an die Ideen, die das Urbild und
Prinzip alles Erscheinenden -sind, das ihre Art hat. und deren höchste,
die Idee des Guten, alle anderen umfasst. Das ist jene Idee, die als
intelligible Wesenheit Gottes von ihm geschaut wird und der er alles Er-
schaffene in verschiedenen Abständen nachbildet gemäss den gefeierten
Worten des B o e t h i u s :
Zu dein G-oltesbeweise des h. Thomas aus d. Stufen der Vollkomiuenlieit. 159
Tu cuneta superno
Ducis ab exemplo pulchrum pulcherrimus ipse
Mundum mente gerens similique ab iinagine forinans.
Auf die Ideen scheint auch in dem dicuntur hingewiesen : magis et
minus dicuntur de diversis, secundum quod appropinquant diversi-
mode ad aliquid quod maxime est : Die Idee, der Begriff ist es, an den
man denkt, wenn man von dem Mehr oder Minder des Dinges spricht, sie
ist das Mass, an dem es gemessen wird, nicht ein relativ, ein empirisch
Meistes, sondern die vollkommene Erfüllung des Begriffs. So misst man
das Schöne an der Schönheit, das Grosse an der Grösse, das Runde an
dem Kreis, und dem heil. Thomas scheint so sehr daran zu liegen, durch
das dicuntur die Idee zu insinuieren, dass er sich nicht scheut, diesem
Wort zuliebe der Vorstellung Raum zu geben, als ob er hier von Gedanken-
dingen auf wirkliche Dinge, von einem gedachten Meist auf ein wirkliches
Meist schlösse, wie denn auch diesem Argument mehr als einmal der Vor-
wurf gemacht worden ist, dass es nach Art des ontologischen Beweises
den Uebergang aus der idealen in die reale Ordnung vollzöge.
Ob die eine oder andere Wendung oder Ausdrucksweise oder sonstige
Eigentümlichkeit des Textes wirklich die gedachte Bestimmung hat, an den
platonischen Ursprung des Arguments zu erinnern, mag problematisch sein,
viel weniger problematisch scheint uns dieser Ursprung selbst. Wir haben
die Gründe für unsere Meinung in der eingangs genannten Schrift aus-
führheh entwickelt und finden uns nicht veranlasst, hier noch einmal auf
diese Sache zurückzukommen. P. Kirfel bemerkt S. 486 a.a.O., die
von mir und anderen vorgetragenen Vermutungen über die Herkunft des
Beweises erschienen gegenstandslos, sobald man seine abweichende Inter-
pretation des Beweises gelten lasse. Wir können uns also auf den Stand-
punkt stellen, dass, solange diese seine Auslegung den von uns erhobenen
Schwierigkeiten nicht gerecht wird, auch gegen unsere Auffassung von der
Provenienz des Beweises nichts vorgebracht ist.
Uebrigens müssen wir hier zum Schluss der Diskussion doch bezüg-
lich unserer früheren Auffassung eine modifizierende Bemerkung machen,
die eines allgemeineren Interesses nicht entbehren dürfte. Wir erinnern
uns, in den Gottesbeweisen eine historische Untersuchung angestellt
zu haben, um womöglich auch das unmittelbare Vorbild oder die Vorlage
zu ermitteln, auf die die besondere Form des Beweises bei Thomas
zurückgehe. Jetzt kommt uns diese Untersuchung deplaciert vor. Die
Form des Beweises in der Phil. Summe scheint Thomas ganz selbständig
entworfen zu haben, um den Beweis an Aristoteles anzuschliessen, und
die Form in der Theol. Summe scheint nur eine ebenso selbständige
Erweiterung der ersten Form.
. !!•
Studien zur (Tescliiehte der 1^'rühscliolastik,
Von Prüf. Dr. J. A. Endres in Regensburg.
Bereiigai' von Toms.
Mannigfache Andeutungen namentlich eines Petrus Daniiani geben zu
erkennen, dass sich die Dialelitiker seiner Zeit und seines Landes nicht
ausschhesshch auf dem Boden ihrer vorherrschend formalen Kunst bewegten.
Sobald sie aber ihren Fuss, wozu die Zeitrichtung mehr und mehr drängte,
auf das theologische Gebiet setzten, war bei ihrer Neigung zum dialektischen
Streite, bei den im Halbdunkel eines ungeübten Denkens und einer un-
sicheren Erkenntnis gedeihenden sophistischen Anwandlungen, bei der der
ganzen Periode eigenen Unklarheit über das Recht und die Grenzen beider
Gebiete, des philosophischen und des theologischen, ein Konflikt unver-
meidlich. Zum offenen Ausbruch kam er jedoch nicht in Italien, aus dessen
Trivialschulen die bedeutendsten Männer der Zeit in die Reihen der kirch-
lich gesinnten Theologen übertraten, sondern vielmehr in Frankreich, wo
die sich steigernde geistige Bewegung, den seit Jahrhunderten fortglimmenden
Funken rationalistischer Denkweise zu neuern Leben entfachte.
Als Stimmföhrer und Anwalt dieser Denkweise trat gegen die Mitte
des IL Jahrhunderts Berengar von Tours auf.
Wenn der Name dieses Mannes, der doch an der Grenze der
dunkelsten Periode der Scholastik steht und an den kirchenpolitischen
Kämpfen seiner Tage keinen Teil hat, an Beriihnitheit hinter den wahrhaft
grossen Erscheinungen des Mittelalters kaum zurückbleibt, so liegt der
Erklärungsgrund hiefür weder in den Geistes- noch Charaktereigenschaften
Berengars. Er ist vielmehr auf einem andern Gebiete zu suchen. „Einen
gewissen Nimbus hat ihm (Berengar) ausser der sehr verbreiteten, nach
D. Strauss »romantischen«, Vorliebe für die Ketzerei, der Umstand gegeben,
dass er der Gegenstand jenes kleinen Lessingschen Kabinetstückes ge-
worden ist, in welchem eine wieder aufgefundene Schrift von ihm der
Welt verkündet wurde" ^).
Es ist dies die nach 1073 abgefasste 2), gegen Lanfrank gerichtete
') J. E. Erdmann, Grundriss der Gesch. d. Philosophie, 1* (1896), 276.
-) Sohnilzpv. Berengar von Tours, sein Leben und seine r>ehre, Stuttgart
1892, 89.
Studien zur Geschichte der Friihscholastik. ]61
Streitschrift De sacra coena, welche nach langen Vorbereitungen erst im
Jahre 1834, soweit erhalten, vollständig ans Tageslicht gezogen wurde '>
Reste einer früheren Schrift Berengars gegen Lanfrank hat uns letzterer
in seiner Abhandlung De corpore et sanguine Domini überliefert 2). Ausser-
dem sind noch Briefe von ihm erhalten^).
Berengar wurde am Anfange des 11. Jahrhunderts zu Tours geboren,
wo er auch seinen ersten Unterricht erhielt. Später besuchte er die be-
rühmte Schule zu Chartres, da ihr noch Fulbert vorstand. Zwei Eigen-
tümlichkeiten Berengars erinnern an seinen Aufenthalt daselbst, seine
Dichtungen in der Art Fulberts^) und seine Vertrautheit mit der Medizin^),
die bekanntlich zu Chartres besonders gepflegt wurde. Dagegen gestaltete
sich in der Folge sein Verhältnis zur Theologie \ öllig abweichend von den
Traditionen in Chartres. Nach der Rückkehr in seine Vaterstadt wurde
Berengar Scholastikus (1031), mit welcher Stellung er seit 1040 auch das
Amt eines Archidiakons von Anaers verband.
Um 1046 verbreitete sich die Kunde von seiner unkirchlichen Auf-
fassung des heiligen Abendmahls. Schon 1050 wurde Berengar auf einer
Synode zu Rom, der er selbst nicht anwohnte, als Häretiker erklärt ; aber
sowohl auf einer Versammlung zu Tours 1054, wie auf einer weiteren zu
Rom 1059 bekannte er sich unter einem Eide zur kirchlichen Lehre von
der realen Gegenwart von Fleisch und Blut Jesu Christi nach der Konse-
kration von Brot und Wein. Indes nur die Furcht vor dem Tode hatte
ihn zu jenem Verhalten vermocht. Kaum fühlte er sich wieder frei, als
er nicht nur die von Kardinal Humbert 1059 ihm vorgelegte Formel in
seinem Sinne deutete, sondern überhaupt die Beschwörung der Formel
leugnete und in einer eigenen Schrift, jener, von welcher Lanfrank die
wesentlichsten Sätze aufbewahrt hat, seinen alten Standpunkt verfocht.
Nunmehr beginnt ein weitverzweigter literarischer Kampf gegen den
Scholastikus von Tours und seine Anhänger, in welchem unter anderem
ein Lanfrank, Guitmond von Aversa und Alger von Lüttich auftraten.
Gegen Lanfrank wendet sich Berengar noch 1073 mit jener ausführlichen
Streitschrift De sacra coena, in der er mit aller Leidenschaft und in un-
gezählten ermüdenden Wiederholungen seinen alten Standpunkt verficht.
') Berengarii Turonensis de sacra coena adversus Lanfrancum. über
posterior. E codice Quelferbytano primum edideiunt A. F. et F. Th. Vischer,
Berolini 1834.
^) Sie sind zusammengestellt in der eben genannten Visclierschen Publi-
kation 8—11 und wiederholt gedruckt in den Ausgaben Lanfranks.
') Sudendorf, Berengarius Turonensis oder eine Sammlung ihn betreffender
Briefe, Hamburg und Gotha 1850, 200 ff.
*) Vgl. Clerval 78.
') Quis non miretur tuam in arte medendi, (|ua ipsis, qui se uipdicos
profifenlur, praeemincs, excellentiam ? Drogo v. Paris an Berengar, Sudendorf 200.
162 ■ J. A. Endres.
Das liinderte ihn nicht, bereits 1078 und 1079 neuerdings seine Häresie
abzuschwören, um freiUch nur das alte Schauspiel zu wiederholen, näm-
lich das Beschworene durch Verdrehung seines Inhalts zu leugnen. Im
Jahre 1080 stand er zum letzten Male vor einer Synode, um Rechenschaft
von seinem Glauben zu geben. Alsdann zog er sich von seiner Lehr-
tätigkeit und von der Welt zurück, um seine Tage als Büsser zu be-
schliessen. Nach dem fast einstimmigen Zeugnisse der alten Quellen ')
starb er 108S im Frieden mit der Kirche. Viele neuere Geschichtsschreiber
sind freilich von der Aufrichtigkeit der Bekehrung des Scholastikus, der
durch sein ganzes Leben ein seltenes Beispiel von Wankelmütigkeit gegeben
hat, nicht überzeugt'^).
Vom Standpunkte der Philosophiegeschichte aus hat Berengar von
Tours eine sehr verschiedene Beurteiluag erfahren. Auf der einen Seite
wird lediglich seine rationalistische Denkweise hervorgehoben, so von
Ritter, welcher bezüglich seines Verhältnisses zur Universalienfrage meint,
die Realität der allgemeinen Begriffe sei bei Berengar vorau-sgeselzt^). In
der Betonung des rationalistischen Momentes der Berengarschen Dialektik
stimmen Stöckl*) und Erdmann 5) mit Ritter überein. Dagegen wird von
anderer Seite der Nominalismus als die massgebende Norm seiner Ueber-
zeugung betrachtet. Mit ausdrücklicher Verwerfung des auf Realismus
lautenden Votums von Ritter spricht sich Prantl für den Nominalismus
Berengars aus*^), dessen Ueberzeugung auch Kaulich stillschweigend zu der
seinen macht ''), während Ueberweg-Heinze vorsichtiger nur davon redet,
dass Berengar von einem sensualistischen, konsequent zum Nominalismus
hindrängenden Substanzbegrifie ausgehe ''j. Auf dieser Seite stehen auch
die Franzosen, so ein Remusat, Haurcau^) und neuestens Clerval ''') , von
denen der erste von einem auf eine einzige Frage eingeschränkten Nomi-
nalismus, der zweite von einem unentwickelten Konzeptualismus, Clerval
hinwiederum von einem vielleicht mehr unbewussten Nominalismus redet.
I..elzterem scheint es kein uuwahrschpinlicher Gedanke zu sein, dass die
nominalislische Tendenz Berengars durch den Arzt Johannes Sophista dem
») Schnitzer 119.
») Ebenda 120 f.
=') Gesch. d. Phil. 7 (1844), 301) f.
*) Gesch. d. Phil. H. M.-A. 1 (18(i4), 134.
^) Grundriss d. Gesch. d. Phil. 1^ (18*36), 27(5.
«) Gesch. d. Logik 2 2 (1885), 75.
^ Gesch. d. schol. Phil, Prag 1863, 5i62.
«) Grundriss d. Gesch. d. Phil. 2» (1898), 167. |;
•M Hist. de la plül. scoL, Paris 1872, 1, 23:3. Hier findet sich auch der
Wortlaut der Stelle de R6tnusals aus Abelard I, 358.
'") Les ecoles de Chartres, Charlres 1895, 120.
^>i
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 163
Hauptrepräseutanten dieser Richtung von damals, Roszelin, eingeimpft
worden sei.
Die Mehrzahl der Geschichtsschreiber findet dem Gesagten znfolge bei
Berengar den Noniinalismus. Indes ist derselbe doch viel mehr in seine
Denkweise hineinphilosophiert worden, als aus den vorhandenen schrift-
lichen Dokumenten tatsächlich zu erweisen. Wohl lässt sich unschwer
zeigen, wie unter der Voraussetzung einer nominalistischen oder sensua-
listischen Denkweise die Leugnung der kirchlichen Abendmahlslehre nahe-
liegt. Sind lediglich die Sinne massgebend für unser Urteil, so kann von
einer VVesensverwandlung nicht die Rede sein. Allein diese Anschauungs-
weise fällt nicht ausschlaggebend in die Wagschale bei Berengar, wenn er
auch gelegentlich das Sinnenzeugnis für seine Meinung in Anspruch nimmt ^).
Nicht erkenntnistheoretische, sondern metaphysische Erwägungen sind für
ihn bestinunend. Daher müssen notwendig die Versuche, seine nomina-
listische Denkweise zu begründen, scheitern. So hat z. B. Haureau wohl
den angeblichen Nominalismus Berengars wiederholt behauptet 2), aber auch
nicht den Schein eines Beweises dafür erbringen können. Um nichts glück-
licher gestalten sich die Ausführungen Prantls. Er redet davon, dass
Berengar die nominalistische Anschauungsweise des Skotus Eriugena zu
der seinigen gemacht habe und dass er ein Hauptgewicht auf die begriff-
liche Festigkeit der menschhchen Worte lege^,. Allein wenn sich auch
Berengar häufig genug auf Eriugena beruft, so hält doch die Voraussetzung
Prantls ganz und gar nicht Stand, dass er von dort aus im nominalistischen
Sinne beeinfiusst worden wäre. Es war eine seltsame Schrulle Prantls,
dem Hofphilosophen Karls des Kahlen Nominalismus imputieren zu wollen.
Der ganz in der platonischen Denkweise sich bewegende „Eriugena ist
durchaus Realist" *). Die Betonung der bestimmten Bedeutung des sprach-
lichen Ausdrucks aber ist keineswegs eine spezifische Eigentümlichkeit des
Nominahsmus °).
') Das Sinnenzeugnis spielt bei Berengar eine Rolle namentlich in jenem
Beweise, welcher das metaphysische Gesetz zum Obersatze macht, dass die
Akzidenzien nicht ohne ihre Substanz existieren.
') Toutes ces preuves sont nominalistes et sont exposees dans le langage
de Tecole ; partout on rencontre les mots „sujet, predicat, Socrate" etc.
A. a. 0. 232.
^) Präntl a. a. 0. 75 IT.
*) Ueberweg - Heinze 159; J. Reiners, Der Nominahsmus in der Früh-
scholastik, Münster 1910, 5 (Beiträge zur Gesch. d. Phil. d. Mittelalters, herausg.
V. Gl. Baeumker Bd. VIII, Heft 5).
*) Die Stelle Berengars, welche Prantl S. 75 Anm. 3üO als Beleg für den
Nominalismus auszunutzen versucht, beweist das gerade Gegenteil, sofern darin
ausdrücklich die Geltung allgemeiner Begriffe anerkannt ist. Berengar sagt
nämlicli : pronuntiato autem eo, quod est elementum, ad plura i t ii r, nisi,
imde agas, de terra an de aqua aul ceteris, determines.*
164 J. A. Endres.
Nicht nach einem noötischen Massstabe ist die Geistesrichtung Berengars
zu bemessen, sondern nach einem allgemeineren. Es ist Rationalist oder,
um in der Ausdrucksweise seiner Zeit zu reden, er ist Dialektiker.
In den beiden Schriften, welche Berengar und sein bedeutendster
Gegner Lanfrank gegeneinander richten, fehlt es nicht an Aeusserungen,
welche den tieferen Grund, aus dem sich die Meinungsverschiedenheit der
beiden Männer ergab, enthüllen. Sie sprechen sich beide über ihren
prinzipiellen Standpunkt und ihre wissenschaftliche Richtung aus. Ihre Wege
schieden sich nicht erst an einem konkreten Punkte des Glaubensgebietes,
aber auch nicht verschiedene Richtungen inneihalb der Dialektik führten
sie auseinander, vielmehr war es die Bewertung der Dialektik als solcher,
beziehungsweise ihr Verhältnis zur Glaubenslehre, was sie prinzipiell trennte.
In hoclifeierlicher Weise, indem er Gott und sein Gewissen zu Zeugen
anruft, versichert Lanfrank, dass es seinen Intentionen nicht entspricht,
auf theologischem Gebiete rein dialektisch zu verfahren. Und wenn sich
'auch zuweilen die Dialektik als Hilfsmittel der Theologie darstellte, so
suche er so weit möglich durch gleichwertige, dem theologischen Gedanken-
kreise entnommene Sätze die Kunst zu verhüllen, um nicht in höherem
Masse auf die Kunst als auf die Wahrheit und die Auktorität der heiligen
Väter zu vertrauen zu scheinen '). Lanfrank war von dem richtigen Ge-
fühle geleitet, dass Vernunftwissenschaft und Glaubenslehre zwei verschiedene
Gebiete darstellen, und dass die Vernunft in ihrer Betätigung auf dem
Glaubensgebiete inhaltlieh von anderen Voraussetzungen auszugehen habe,
als auf dem rein natürlichen Gebiete.
Hiergegen weiss sich Berengar in vollem Gegensatze. Zwar will er
sich den Vorwurf, welchen ihm Lanfrank im Zusammenhange mit den
obigen Darlegungen macht, als ob er die heiligen Auktoritäten umgehe,
nicht gefallen lassen. In Wahrheit zieht er sie freilich zumeist nur zur
vermeintlichen Stütze seiner rationalistischen Anschauungen heran. Gleich-
wohl, so meint er, steht das (rein) vernunftmässige Verfahren bei der Er-
forschung der Wahrheit unvergleichlich höher'-), als die Verwendung von
') Teslis mihi deus est et conscientia mea, quia in tractalu divinaium
lillerarum nee proponere nee ad propositas respondere cupereni dialeclicas
quaestiones vel earum solutiones. Et si quando niateria dispiitandi talis esl, ut
per huius arlis regulas valeaf enucleatius explicari, in quanlum possum, per
aequipollentias proposilionum lego artem, ne videar magis arle quam veritale
sanctorumque patruni auctorilate coniidere. De corpore et sangine Domini c. 7.
M 150, 417 A.
^ Qnod relinquere me sacras auclorilates non dubitas scribere, mani-
festum fiet divinitate propitia, illud de calumnia scribere te, non de veritate . . .
quanquam ratione agerc in perceptione verilatis incomparabililer superius esse,
quia in evidenti res .est, sine vecordiae coecilate nullus negaveril. De sacra
coena lOU.
V
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 165
Auk(oritäts«,'riinden. Wenn er sich dialektischer Worte zur Darlegung der
Wahrheit bedient habe, so sei das nicht gleichbedeutend gewesen mit einer
Zufluchtnahme zur Dialektik, obwohl ihn auch trotz einer flerarfigen Auf-
fassung sein Schritt nicht reue. Denn in seinen Augen stehe Gottes Weis-
heit selbst und Gottes Kraft nicht im mindesten im Gegen.satze zur Dia-
lektik; Gott be.?iege vielmehr durch die dialektische Kunst .seine Feinde').
Ja, es sei ein Zeichen grösster Hochherzigkeit, in allem zur Dialektik seine
Zuflucht zu nehmen; denn zu ihr seine Zuflucht nehmen bedeute zur
Vernunft seine Zuflucht nehmen; und wer das nicht tue, der verzichte,
da er mit Rücksicht auf die Vernunft nach dem Bilde Gottes gemacht sei,
auf seine Auszeichnung und könne nicht täghch nach dem Bilde Gottes
erneuert werden 2). Alsdann führt er jene seiner Zeit geläufigen Ruhmes-
titel der Dialektik aus dem Munde des heiligen Augustinus an, welcher
von der Dialektik gesagt hatte, sie sei die Wissenschaff der Wissenschaften,
sie verstehe zu lernen und zu lehren, sie beabsichtige nicht nur das Wissen
mitzuteilen, sondern sie tue es wirklich. An ihren Betrieb habe der hl.
Augustinus die Verheissung der klarsten Erkenntnis Gottes und der Seele
geknüpft ■^). Und nun wendet er sich mit Worten, die anbetrachts seines
vor den kirchlichen Behörden an den Tag gelegten Verhaltens geradezu
als Selbstironio empfunden werden, an Lanfrank : „Du verdienst daher", so
sagt er, „darin, lieber den Auktoritäten in etwas nachzugeben, als der Ver-
nunft folgend gegebersen Falls untergehen zu wollen, die Nachahmung
keines beherzten Mannes'"»). Endlich hält er ihm entgegen, dass Lanfrank
in der Anwendung gleichwertiger Sätze, in seinem Verleugnen der dialek-
tischen Kunst, in den grossen Vorkämpfern der Wahrheit, den unbesiegten
Verfechtern christlicher Lehre, keine Gesinnungsgenossen habe 5).
So hat also Berengar seinem wissenschaftlichen Bekenntnis unum-
wunden Ausdruck gegeben. Die Dialektik ist ihm der Inbegriff aller Er-
kenntnis. Sein Grundsalz lautet: ratione agere, per omnia ad dialecticam
confugerc. Die Vernunft stellt für ihn die Norm und Quelle aller Erkenntnis
') Verbis dialecticis ad manifeslalionem veritatis agere non erat ad dia-
lerlicam confugium facere, qnancjuam si confugium illiid accipiiur, non nie
poenileal, ad dialecticam confugisse, a qua ipsam dei sapientiam et dei virlutem
vidao minime abhorrere, sed suos inimicos arte revincere. 1. c. 101.
0 Maximi plane cordis est, per omnia ad dialecticam confugere, quia
confugere ad eam ad rationem est confugere, quo qui non confugit, cmn
secundum rationem sil faclus ad unaginem dei, suum honorem reliquif, nee
polest renovari de die in diem ad imaginem dei. Ibid.
'^) Gf. August., De ordine 2, 13.
") Nee sequendus es in eo ulli cordato homini, ut malit auctorilatibus
circa aliqua cedere, quam ratione, si optio sibi detur, perire. De s. coena 1U2.
^) Item in co, quod dicis, aequipoUentia.s luas sequi te malle, ab arte
dis.simulare, non \n ca Iccum sentiunt praeclarissimi verilatis propugnalores,
dorlrinae Clirisiianae invictissimi *ssertores. Ibid.
166 J. A. Endres'.
dar. Es begreift sich daher vollständig, wie er bei der Rückschati auf die
nähere Vergangenheit von niemand mehr gefesselt wurde, als von dem
grossen Chorführer rationalistischer Denkweise im Mittelalter, Johannes
Skotus Eriugena. Bei ihm fand er den Gedanken von der Superiorität der
Vernunft über alle Auktorität formuliert, begründet ') und praktisch ver-
wertet. Bei ihm kam die Ueberzeugung von der Identität zwischen Philo-
sophie und Religion zum klaren Ausspruche 2), welcher Berengar nur eine
andere Form gibt, wenn er von der Gegensatzlosigkeit zwischen der Dia-
lektik und der göttlichen Weisheit redet und davon, dass Gott durch die
dialektische Kunst seine Feinde besiege, wenn er ferner das confugere ad
rationem zur Bedingung der Erneuerung des Menschen nach dem Ebenbilde
Gottes, also der Erlösung, macht.
Diese Ueberzeugung von der massgebenden Norm der Vernunft und
der Vernunftwissenschaft, der Dialektik, beherrschte Berengar, als er sich
der Abendmahlslehre zuwendete, welche bereits seit dem 9. Jahrhunderte
die Geister in Spannung hielt und in gegensätzliche Parteien spaltete.
Wenn er eine eigentliche Wesenswandlung bei der Konsekration von Brot
luid Wein und in der Folge die reale Gegenwart von Fleisch und Blut des
Herrn unter den Gestalten von Brot und Wein leugnet, wenn er die Ein-
setzungsworte : „Das ist mein Leib, das ist mein Blut" nur in tropischem
Sinne verstanden wissen will, wenn er nur eine moralische Vereinigung
Christi und des Empfängers des Sakramentes annimmt 3), so lässt er sich
hierbei ausschliesslich von Vernunftgründen leiten. Und zwar sind es ganz
allgemeine philosophische Argumente, die den Schluss auf einen dialektischen
Parteistandpunkt nicht gestatten.
Eine besondere Rolle spielt bei der dialektischen Begründung seiner
Ansicht das Verhältnis von Substanz und Akzidens. Berengar kennt die
Unterscheidung von Materie und Form, — er beruft «ich hierfür ausdrück-
lich auf den heiligen Augustinus — ; er kennt auch die andere von Wesen
und Dasein. Auf beide bezugnehmend äussert er sich folgendermassen :
Alles, was aus Materie und Form zusammengesetzt ist, ist ein anderes in
dem, dass es ist, ein anderes in dem , dass es etwas ist, und es kann
nicht etwas sein in dem Falle, dass es überhaupt nicht ist, d. h. was als
Substanz (subiectum) nicht ist, kann am allerwenigsten den Akzidenzien
nach sein. Würde also bei der Konsekration die Substanz des Brotes ver-
schwinden, so könnten auch die Akzidenzien nicht mehr weiter bestehen*).
») Joa. Scot., De divisione naturae 1, 69 M 122, 513 CG.
'■') De div. praedestinatione I, M 122, 357 CD.
=*) Vgl. Schnitzer 297 ff.
■•) Omne compactum ex materia et forma aliud est in eo quod est, aliud
in CO <|uod aliquid est, nee posse, aliquid esse, si contigerit ipsum non esse,
i. e. quod secunduin subiectum non sit, luinime posse secunduin accidens esse.
De Sacra coena 211, cf. 93, 194. Vgl. Boiithius, Qtiotnodo siibstantiac in co
quod sint, bonae sint, M 64, 1312 D.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 107
Umgekehrt schliesst er aus dem Bleiben der Akzidenzien auf die Fortdauer
der Brotsubstanz. Denn zwischen der Substanz und ihren Akzidenzien
vermögen wir nur durch die Vernunft, nicht durch den Sinn zu unter-
scheiden. Das Sehen der Farbe aber wie überhaupt jeglicher Eigenschaft
beruhe auf dem Sehen der entsprechenden Substanz *). Er bezeichnet es
als Wahnsinn, eine Farbe sehen zu wollen, während das Farbige unsicht-
bar bleiben soll"'^).
Weitere Einwände gegen die kirchliche oder vermeintlich kirchliche
Abendmahlslehre reihen sich um den Begriff des Werdens. Das Brot,
welches vor der Konsekration etwas Gewöhnliches (commune quiddam)
war, werde durch dieselbe der beseligende Leib Christi, aber nicht in der
Weise, dass es durch Vernichtung zu sein aufhöre und der Leib Christi
durch Neuschaffung nun zu sein beginne ; denn jener Leib, welcher seit
so langer Zeit sich seliger Unsterblichkeit erfreue, könne nicht zugleich
jetzt zu sein beginnen ^). Nur eine fleischliche Auffassungsweise könne den
Leib Christi dem Entslehen und Vergehen überantworten*). Jenem Vor-
gange bei der Konsekration misst er keine andere Bedeutung bei als der
Verarbeitung eines Stoffes zu einem Gegenstande menschlicher Kunst-
fertigkeit, etwa der Verarbeitung des Holzes zu einem Tische. Die ursprüng-
liche Wesensform des Materials gehe dabei nicht verloren. Der Gegenstand
nehme vielmehr nur eine neue Form an sich ^).
Er beruft sich ferner darauf, dass ein Körper an sich sichtbar und
greifbar ist, während der Leib Christi auf dem Altare unsichtbar sein soll,
dass eine gleichzeitige Existenz des Leibes Christi im Himmel und auf
Erden unmöghch sei^), lauter Argumente, wodurch er seine Ueberzeugung
von dem massgebenden Rechte des natürlichen Denkens innerhalb der
Glaubenslehre bekundet, ohne sich auf die Seite einer dialektischen Partei-
richtung zu neigen.
') Quis videns coloiem marmoris . . . contendat vecordissimus sc colorem
illum et non marmor videre, cum causa videndi coloris vel cuiuscunque, quod
in subiecto est, subiecli ipsius visio sif, apud ipsam, quae deus est, veritatem
subiecli et eius, quod in subiecto est, non sensu sed intellectu solo separabilium
compactricem ? De Sacra coena 182.
») Ibid. 190.
') Fit, inquam, panis, quod nunquam ante consecrationem fuerat, de pane
i. e. de eo, quod antea fuerat commune quiddam, beatificum corpus Christi, sed
non ut ipse panis per corruptionem esse desinat panis, "sed non ut Corpus
Christi nunc incipiat per generationem sui, quia ante tot tempora beata conslans
iminortalitate, non potest corpus ilkid eliam nunc esse incipere. Ib. 97 s.
*) Ib. 94.
'')... non amisit ipsa materia formam suam, ut per corruptionem sub-
iecti transiret in aliud, sed idem siibiectum praeter eam, quam habebat, aliam
nulu divino aul arliticis stuiiiu formam accepit. Ib. 79 s.
") Ib. 199 s.
168 J. A. Endres.
So findet in Berengar von Tours jene Geistesrichtnng des 11. .lalir-
liunderts, welflie die Dialektik auf das theologische Gebiet nicht nur an-
wendet, sondern innerhalb desselben über die Auktorität stellt, ihren Haupt-
repräsentanten. Berengar bestreitet die kirchliche Abendmahlslehre nicht
im Namen des Sensualismus, sondern als exklusiver Dialektiker. Das
Hereinspielen der göttlichen Allmacht bei diesem Sakramente, den Cha-
rakter des Wunderbaren, des Staunenswerten will seine Auffassungsweise
vöHig beseitigt wissen ').
Wenn oben gesagt wurde, dass den Dialektikern dieser extremen
Richtung der Beigeschmack der Sophistik anhafte, so macht hierin Berengar
keineswegs eine Ausnahme. Die erhaltenen Reste seiner Schriften liefern
nicht wenige Belege hiefür. Ausser den willkürlichen Interpretationen
von Vaterstellen ist das bezeichnendste Beispiel die Art, wie er mit der
sogenannten Humbertschen Formel verfährt 2). Von unserem Gesichtspunkte
der Betrachtung aus ist vielleicht von grösserem Interesse sein Ver.such,
zu zeigen, dass es logisch unzulässig sei, zu sagen: Brot und Wein sind
der Leib und das Blut Christi-^). Denn wenn Brot und Wein nach der
Konsekration nicht mehr vorhanden seien, so könne von ihnen auch nichts
in bejahender Weise au.«;gesagt werden. Der Grund, worauf er sich hier
stützt, ist der Satz: Non enim constare poterit affirmatio omnis parte
subruta = Nicht kann eine jede Bejahung bestehen, wenn von einem Teile
der Satzglieder (Subjekt und Prädikat) das bezügliche Substrat nicht mehr
vorhanden ist.
In De Sacra coena, ed. Vischer 234, formuliert er den Satz in
folgender Weise : Omnis enuntiatio amissa parte altera utra, praedicatum
dico atque subiectum, constare non poterit. Unter der Voraussetzung der
W^esensverwandlung sieht er in der Behauptung : ,,Das Brot des Altares ist
der Leib des Herrn" ein derartiges affirmatives Urteil. Indem er nun
jenen ersten Satz : Non enim constare poterit etc. als Obersatz benützt
und den Untersatz hinzufügt: Panis altaris solummodo est verum corpus
Christi est affirmatio parte subruta, glaubt er zu dem Schlüsse berechtigt
zu sein : Ergo affirmatio : „Panis altaris" etc. non poterit constare.
Lanfrank war es nicht schwer, ein derartiges Beweisverfahren vom
Standpunkt der formalen Logik aus zurückzuweisen. Denn Berengar operiere
mit einem Syllogismus, der zwei partikuläre Prämissen habe. Daraus
könne aber überhaupt keine Konklusio abgeleitet werden*). Dem gegen-
über ist Berengar rasch bei der Hand, jenen Obersatz und zwar mit Be-
') Per niiraculum dicis ista tieri, admirationi debere ; verius dixisses ad
iniuriam et contemptum dei. Ib. 96.
-) Ib. 80.
"'') Vgl. zum folgenden meine Abhandlung: f.anfranks Verhältnis zur Dia-
lektik, Katholik 1902, 1 272 ff.
*) Lanfr. 1. c. c. 7, M löO, 417 D.
Studien zur Geschichte der Friilischoiastik. 169
rufung auf eine älniliche Ausdiuckbweise in der lieiUgen Schrift (non
omnis = nullus) als einen universalen zu proklamieren '). Er bedenkt
nicht, dass er dadurch jede affirmative Aussage über Gegenstände, die der
Vergangenheit angehören, unmöglich machen würde. Denn wenn auch für
ihn die Formulierung jenes Satzes sicherlich nur Bedeutung haben soll in
Rücksicht auf den vorliegenden konkreten Fall, und wenn er auch nur
verhindern will, dass etwas nicht mehr mit dem Namen jenes Wesens
benannt werde, das ihm verloren gegangen ist, so reicht doch der eigent-
liche Sinn des Satzes weit über das hier intendierte Ziel hinaus.
Indem Berengar für das Altarsakrament einzig und allein nur die
Kategorie des Werdens im Sinne der Gestaltung eines vorhandenen Stoffes
zulässt, leugnet er das Mysterium und schränkt er sich auf eine rein natür-
liche, also rationalistische Betrachtungs- und Erklärungsweise ein.
in der Formulierung jenes Satzes aber bekundet er ganz die gleiche
kleinliche und wenig glückliche Originalität, die wir auch bei seinem
jüngeren Zeitgenossen Roszelin von Compiegne antreffen, wenn dieser es
verwehren will, bei einem Dinge von Teilen zu reden oder den Namen
des Ganzen noch anzuwenden, wenn ein Gegeastand eines seiner Teile,
wie das Haus des Daches, verlustig gegangen ist.
Mit Hartnäckigkeit blieb Berengar sein Leben lang bei dem einen
Thema der Abendmahlslehre stehen. Für die Dialektik, die er so hoch
schätzte, konnte er so nur die Bedeutung gewinnen, dass er auch seine
Gegner teilweise auf dieses Gebiet bei der Behandlung der Glaubenslehre
lenkte 2). Konsequenz war nicht seine Sache, sonst hätte er seiner kund-
gegebenen Ueberzeugung gemäss alle Autorität gänzlich beseitigen und
seinen Rationalismus auch auf die übrigen Glaubensdogmen ausdehnen
müssen.
^) De s. coena 110,
^) Vgl. M, Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Frei-
bnrg 1909, I 222.
Die erste katholiselie Kritik an Kants Grundlegung-
zur Metapliysik der Sitten.
Von Dr. theol. Cl. Kopp in Paderborn.
Im Jahre 1785 veröffentlichte Kant als erste seiner ethischen Schriften
die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Schon drei .Jahre später er-
schien von katholischer Seile eine umfassende, 332 Seiten fällende Kritik
dieser Grundlegung aus der Feder Stattlers'). Eine Antikritik konnte auch
nicht lange auf sich warten lassen, da man ohne Zweifel noch nie in der
Geschichte der Philosophie der theozentrischen Moral so brüsk entgegen-
getreten war. Denn die christliche Moral, die nach dem Willen ihres
Stifters nie ganz auf den „Eudämonismus" verzichten kann, erscheint Kant
') Dr. Stattler: Anti-Kant. 2. Bd. München 1788. Anhang zum Anti-
Kant in einer Widerlegung der Kanlischen Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten. — Stattler, der 1728 in Kötzting im bayrischen Walde zur Welt kam,
trat 1745 in Landsberg am Lech in die Gesellschaft Jesu ein. Schon bald nach
seiner Priesterweihe im Jahre 1759 begann sein akademisches Wirken, zuerst
als Professor der Philosophie, dann der Theologie. Als 1773 der Jesuitenorden
aufgehoben wurde, blieb er allein von seinen Ordensmitgliedern als Weltpriester
an dei- Universität Ingolstadt im Amte. Als 1781 die dortige theologische
Fakultät mit Ordensleuten besetzt wurde, erhielt er eine Pfarrei in der Ober-
pfalz. Da sein reger Geist aber mit seinen Reformideen in der Gemeinde kein
Verständnis fand, zog er nach München. Hier entfaltete er, zuerst in gänzlich
freier Müsse, dann als geistlicher Rat und Zensurrat tätig, eine sehr fruchtbare
literarische Tätigkeit. Wegen seiner reizbaren Naturanlage bat es Sl altler nie
an persönlichen Gegnern gefehlt. Weil aber sein Denken in Philosophie und
Theologie neue Bahnen suchte, hatte er auch viel mit wissenschaftlichen
Gegnern zu kämpfen, die den sensus catholicus nicht immer rein in seinen
Lehren wiederfinden wollten. Ihrem Einflüsse ist es zuzuschreiben, dass nach
einem langen Für und Wider zwei seiner Bücher — t)e locis theologicis und
Demonstratio cathoUca — im Jahre 1796 indiziert wurden. Nur ein Jahr hat
Stattler diesen Schlag überlebt. Wie Sailer berichtet, pflegte er sich m.it den
Worten zu trösten : „Ich hoffe, ich werde meinen Prozess bei Gott besser aus-
fechlen, als auf Erden" (zitiert bei G. Hu her, Benedikt Stattler und sein
Anti-Kant. Inaugural-Dissertation. München 1904. Dieses ist die einzige neuere
Schrift, die sich mit Slattler beschäftigt. Sie berücksichtigt aber nur die Kritik
Stattlers an Kants transzendentaler Aeslhetik und Kalegorienlehre).
[)ie erste kalh. Kiilik an Kanls Giundlegung ziir Melapliysik der Sitten. 171
deswegen „nicht nur als eine falsche Theorie, sondern als moralische
Perversität"). Noch heute bilden recht häufig die Hauptbegriffe, wie sie
Kant erstmalig in der Grundlegung ausgearbeitet hat, die unantastbaren
Dogmen der modernen Ethik. Seine praktische Philosophie hat ihn recht
eigentlich zum „Philosophen des Protestantismus" gemacht. Deswegen
muss es einen besonderen Reiz gewähren, den ersten Anprall der Gegen-
strömung auf katholischer Seite zu verfolgen.
Unsere Untersuchung soll sich auf die leitenden Gedanken beschränken.
Es sind die Grundbegriffe, die jedem auch bei der oberflächlichsten Be-
rührung mit der Kantschen Ethik bekannt werden. Autonomie und kate-
gorischer Imperativ des Willens, Vereinigung von Freiheit und Natur-
notwendigkeit sind diese Angelpunkte der Sittenlehre Kants.
Der eine grosse Gedanke, aus dem sich schliesslich die ganze Philo-
sophie Kants entwickelte, hat auch auf diese Begriffe geführt. Denn das
war doch das Ziel Kants : Sicherheit vor dem Skeptizismus, streng not-
wendige und allgemeingültige Grundlagen für den gesamten menschhchen
Erkenntnisbau. Wie durch die synthetischen Sätze a priori dies für die
theoretische Philosophie erreicht sein sollte, so beginnt Kant jetzt, in ähn-
licher Weise auch das Sittengesetz als eine apriorische Leistung der Ver-
nunft darzutun. Die Vernunft bringt auch hier die Form und damit die
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit von Haus aus mit, die Erfahrung
liefert auch hier nur den Stoff.
Allerdings stellt sich uns gleich am Eingange der praktischen Philo-
sophie eine ernste, prinzipielle Schwierigkeit entgegen. „Denn", so fragt
Stattler mit Recht, „warum hält doch Herr Kant dafür, oder warum sollen
wir seinen Grundsätzen gemäss dafür halten, die Beurteilungen unseres
Verstandes und unserer Vernunft, welche im theoretischen so objektiv leer
und allgemein dialektisch sind, so bald sie sich über Erfahrung hinaus-
wagen, seien doch im praktischen richtig" -) ? Aber dieser grundsätzliche
Protest ist natürlich nicht das Ende der Antikritik Stattlers. Er rüttelt
vielmehr an den Säulen der Kantschen Philosophie. Denn man wird stets
das Dilemma Kants : Erfahrung und damit zufäUige Erkenntnis — oder
Apriorismus und damit notwendige, aber phänomenale Erkenntnis nicht für
zwingend halten. Es bleibt doch noch die Möglichkeit, dass weder aus
der Erfahrung noch aus der Vernunft allein das Erkennen fliesst. Es können
doch beide, zu einem tatkräftigen Bunde vereint, gemeinsam das Erkenntnis-
geschäft betreiben, so dass die Vernunft vermöge ihrer abstrahierenden
Tätigkeit auf Grund des Tatsachenmaterials aus der Erfahrung dem
Menschen eine allgemeingültige Erkenntnis sichert. Das hat auch Stattler
») Fr. Paulsen, J. Kant 5 822.
'') a. a. 0. 16.
172 Cl. Kopp.
gewusst untl auf die sitlliclien Begriffe angewandt. Denn, wie er selireibl,
„allgemein werden solche Begriffe nicht weiter, als die Möglichkeit der
Bestini nmngen, welche sie enthalten, sich auch auf die sittlichen Hand-
lungen anderer Arten von vernünftigen Wesen erstrecken kann"'). Mit
anderen Worten : Die aus der Erfahrung herausgeschälten moraUschen Be-
griffe sind dadurch allgemein, dass der sittliche Wert in allen Einzel-
handlungen immer unverändert bleiht. Diese Möglichkeit wird der strengen
Forderung Kants in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durchaus
gerecht, dass nämlich das sitthche Gesetz „nicht bloss für Menschen,
sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt, nicht bloss unter zufälligen
Bedingungen und Ausnahmen, sondern schlechterdings notwendig gellen
müsse" 2).
Mit der Einräumung, dass die sittlichen Begriffe unabhängig von der
Vernunft ihre Unveränderlichkeit und Allgemeingültigkeit behaupten können,
wird ein anderer Nerv der Kantschen Moralphilosophie blossgelegt. Denn
jetzt tritt die Versuchung an die Vernunft heran, ihre stolze Einsamkeit
zu verlassen und sich mit den Objekten in freundliche Berührung zu setzen.
Damit ist aber — im Kantschen Sinne — die Gefahr gegeben, dass die
Objekte versuchen werden, bestimmend auf das sittliche Handeln einzu-
wirken. Und doch darf nicht der leiseste Stoss von aussen an den Willen
herantreten, wenn die Vernunft nicht selbst auf den moralischen Wert
ihres Handelns verzichten soll. Wenn nun jede Rücksichtnahme auf den
Inhalt des Gewollten die sittliche Tat trüben und fälschen muss, so bleibt
als sittlich berechtigter Bestimmungsgrund allein das nackte Vernunftgesetz
übrig, das keinen andern Befehl an den W^illen ergehen lässt, als: Handle
so, dass Du auch wollen kannst, Deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz
werden 3). Diese rein formale Bestimmung des Willens ist die einzigste
und oberste Norm des sittlich Guten und Bösen.
Aber diese Entleerung des Willens von jeder materiellen Bestimmung
hat sich nicht einmal den ungeteilten Beifall der Freunde des Kantianis-
nms erobern können. Denn, so schreibt z. B. Paulsen von der Lüge : „Nicht
darum ist Lügen schlecht, weil es nicht allgemein gesetzt werden kann,
ohne sich selber aufzuheben, sondern weil es ein wesentliches Gut, so viel
an ihm ist, zerstört, nämlich das Vertrauen, das die Grundbedingung aller
Gemeinschaft unter Menschen ist" *). Worin man nun auch immer in
diesen und allen andern Fällen den Grund der moralischen Verwerflich-
keit finden mag, das betonte auch schon Stattler, dass nichts deswegen
gut oder böse ist, weil es ein allgemeines Gesetz sein kann oder nicht.
Nach ihm sind „die Pflichten gegen sich selbst vielmehr deswegen für alle
') a. a. 0. 33.
') a. a. 0. Ausgabe Vorländer 3 28. Leipzig 1906.
») Vgl. Grundlegung a. a. 0. 20.
*) a. a. 0. 348.
Öie erste kath. Kritik an Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 173
Menschen allgemein, weil ihr Grund allen Menschen samt dem Wesen
gemein ist^). Ebenfalls müssen auch die Pflichten gegen andere „jederzeit
aus von der Allgemeinheit selbst verschiedenen Gründen erkannt werden,
welche, so oft sie bei Menschen vorhanden sind, allgemein gelten, eben
darum, weil sie hinreichend für sich selbst sind" 2).
Die von dem Willen erstrebten Objekte entscheiden also über die sitt-
hche Güte und Schlechtigkeit der Handlung. Sie bilden nach StatÜer aber
auch weiter den Gradmesser des Guten und Schlechten. Denn „je grösser
das wahrhaft Gute ist, das man will und durch sein Wollen liebt, je grosse/
ist die physische Güte desselben und folgHch auch die moralische Güte,
wenn man es frei liebt" 3).
Die Bestimmung, so zu handeln, dass unsere Tat zugleich ein allge-
meines Gesetz sein könnte, tritt nach Kant an den Menschen kategorisch
d. h. unbedingt heran. Und zwar spricht nicht ein fremder Wille mil
dieser Machtfülle in dem Menschen, sondern die Vernunft selbst ist diese
— autonome — Herrscherin. Autonomie und kategorischer Imperativ sind
mithin nach Kant unauflösUch mit einander verschwistert. Das ist der
eigentliche Kern der Kantschen Moral. Hier musste daher auch Stattler
seine besten Waffen anlegen.
Wiederum tritt er hier Kant zunächst mit der Kr. d. r. V. in der Hand
entgegen. Denn, so sagt er, die ,, kategorischen Imperative sind lauter Vor-
stellungen der Vernunft; und unerachtet Kant in seiner Kritik der reinen
theoretischen Vernunft diese Vernunft als eine reine Betrügerin feierlich
erklärt hat, gründet er auf diese ihr bloss zugedichteten Imperative die
ganze gesetzliche, ja selbst die ganze moralische Gesetze gebende Kraft"*).
Wenn Stattler nun nach dieser grundsätzlichen Ablehnung auf die
inhaltliche Würdigung eingeht, so setzt er sich gleich in den denkbar
schroffsten Widerspruch zu Kant. Denn, so stellt er fest, wenn der kate-
gorische Imperativ wahrhaft kategorisch sein soll, wenn er die Imperative
der Sinnlichkeit überwinden soll, so muss er einen unbedingten Zweck
haben. Kein Philosoph vermag nun aus seiner Vernunft einen solchen
Zweck aufzuweisen, „sofern er nicht nach vorausgesetzter vollkommener
Gewissheit vom Dasein Gottes als moralischen Gesetzgebers die Seligkeit
eines künftigen Lebens als den letzten Zweck aller Moralität für ebenso
gewiss annimmt, dem alle moralisch guten Handlungen nur als Mittel unter-
geordnet sind"^). Wenn nicht Gott uns diese ewige Seligkeit verbürgt, so
lösen sich die kategorischen Imperative für den Menschen in Rauch auf.
Denn „aus welchem Grunde soll er für die schlaffen Reize der sonst überall
') a. a. 0. 115.
•'') a. a. 0. 116.
») a. a. 0. 22 f.
*) a. a. 0. 78.
*) a. a. 0. 81. -
Philosophisches Jahrbuch 1913. 12
174 Cl. Kopp.
nur täuschenden Vernunft so grosse Achtung haben, sich für ihre schwachen
und nur blendenden Gesetze so viel interessieren? Woher soll die herr-
schende Maxime in ihm entstehen, all sein ihm offen stehendes sinnliches
Vergnügen der Vorliebe dieses blossen und noch dazu schwachleuchtenden
Ideals aufzuopfern"^)? Deswegen wird Stattler auch nicht müde, aut die
mächtigen Motive des Christentums hinzuweisen, die allein jeden Imperativ
wahrhaft kategorisch machen. Auf der ersten Stufe des sittlichen Ent-
wicklungsprozesses, wenn die Sinnlichkeit noch in ihrer ungeschwächten
Kraft dasteht, treibt die Hoffnung auf Lohn und die Furcht vor Strafe
mächtig an. Hat die Vernunft mit Hilfe dieser Bestimmungsgründe sich
allmählich den Fesseln der Sinnlichkeit entwunden, hat sie die Befreiung
und Befriedigung des sittlich-übernatürtichen Lebens gekostet, dann bilden
die Heiligkeit und die Güte des Gesetzgebers und seines Gesetzes die
edleren, aber ebenso wirksamen Beweggründe zur Erfüllung des kate-
gorischen Imperativs -).
Man sieht, die scharfen Verdikte Kants über das Ausschielen der
Tugend nach Belohnung, über das Streben, die Tugend als Durchgangs-
punkt zur eigenen Glückseligkeit zu betrachten, haben Stattler nicht
erschüttert. Er stellt stolz der Autorität Kants und seiner Anhänger
die Autorität Christi entgegen und fragt: „Warum hat denn Jesus
(^Ihristus, dem sie doch die erste moralische Meisterschaft anzustreifen
oder dessen Lehrart mit offener Stirne zu kritisieren sich mitten unter
redlichen Christen nicht erfrechen werden, warum hat er, sage ich, uns
selbst dieses oberste Prinzip aller Moralität gegeben : Liebe Gott Deinen
Herrn aus Deinem ganzen Herzen und mit aller Kraft und Stärke Deiner
Seele ; Deinen Mitmenschen aber wie Dich selbst ? Ich meines Teils kenne
kein anderes und sehe alle diejenigen für arme Pfuscher in der Moral an,
die uns eine andere oder nach ihrem Dünkel erhabenere Moral, als Jesus
Christus gelehrt hat, lehren wollen" 2). Man muss es in der Tat vermissen,
dass die Kanlsche Ethik für das eigentliche christliche Moralprinzip, die
Liebe Gottes, gar keinen Raum gefunden hat. Willmann hält den Nach-
weis Kants für eines der stärksten Stücke seiner Philosophie, „dass die
Aufstellung des götthchen Gesetzes als Moralprinzip in dieselbe Kategorie
gehört wie das Lustprinzip Epikurs" *). Und doch will auch Stattler nicht,
wie wir hörten, das göttliche Gesetz mit schlecht verhehltem Widerwillen
») a. a. 0. 83 f.
'') a. a, 0 94 ff.
■■») a. a.'O. 86 f.
■*) 0. Will mann, Geschiclile des Idealismus III, Braunschweig 1897, 466.
— Vgl. auch A. Messer, Kants Ethik. Leipzig 1904. X.Kapitel: Das Verhältnis
der Kantschen Ethik zum Eudämonismus, 219 ff. „Die Polemik Kants trifft
nur ein bestimmtes materiales Prinzip, nämlich den eigentlichen Hedonismus"
(a. a. 0. 224).
Die erste kath. Kritik an Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 175
um eines Häufleins Erdenlust oder sinnlich gedachter Himmelsfreuden v, ilien
erfüllt haben. Furcht und Hoffnung dienen als Motive nur bei dem Anfänger
in der schwersten Kunst, der Kunst der sitthehen Lebensvollendung, um
den sitthehen Imperativ kategorisch gegen den lebhaft protestierenden sinn-
lichen Menschen durchzusetzen. Aber allmählich soll alles Egoistische als
trüber Satz zurückbleiben. Ganz klar und rein wird der Wille. Er erfüllt
das Gesetz aus Liebe zu Gott, um dafür eine Glückseligkeit einzutauschen,
die Gott selber ist. Wenn eben das — um mich noch einmal auf Paulsen
zu berufen ^) — , was Kant als sein eigentliches Verdienst ansieht, nämlich
die Ausstossung der teleologischen Betrachtung aus der Moral, sein Grund-
fehler ist, dann konnte Stattler keinen tieferen und reineren Endzweck
wie Gott feststellen.
Man sieht, wie kategorischer Imperativ und Autonomie unvermerkt bei
Stattler ineinander geflossen sind. Das Wesen des kategorischen Imperativs
hatte für ihn nur ein recht geringes Interesse, da nach ihm ohne Gott
und Gottanschauung Imperative nicht mit verpflichtender Macht auftreten
können. Deswegen kennt er keine autonome, sondern nur heteronome
kategorische Imperative. Wenn er deswegen auch schon hier vornehmlich
gegen Kants Autonomie focht, so hat er damit diesen Kampf doch noch
nicht zu Ende gekämpft. Da Stattler mit aller Energie Gott in den Mittel-
punkt der Moral rückt, empfindet er auch die Selbstgesetzgebung des
Menschen als nichtig, fast als lächerlich. Zwar war ja bekanntlich Kant
durch seine praktische Philosophie auch zu Gott emporgestiegen. Aber er
ist bei ihm ein vager Begriff, ein blutleeres Gebilde geblieben. Kant ist
beinahe ängstUch, dass Gott nun mit seiner Würde Ernst machen und die
Autonomie des Menschen zertrümmern könnte. Deswegen schreibt er-
„Mag das höchste Gut immer der ganze Gegenstand einer reinen praktischen
Vernunft, d. i. eines reinen Willens sein, so ist es doch darum noch nicht
für den Bestimmungsgrund desselben zu halten" 2). Das vermag eben
Stattler nicht zu begreifen, dass ein Gott da ist und doch der Mensch ihn
als Bestimmungsgrund nicht gelten lassen darf, ohne untersittlich zu
handeln. Immer wieder stellt er, in oft ausfallender und erregter Sprache,
als oberstes Moralprinzip den Satz auf: Liebe Gott über alles, ein Satz,
der „nicht Autonomie, sondern Heteronomie des Willens zum ersten Grund
der Sittlichkeit aufstellt" 3). Nur dadurch, dass der Mensch sich diesem
von Gott selbst gegebenen Gesetze unterwirft, gelangt er zur zeithchen und
ewigen Glückseligkeit. Denn auch das betont Stattler immer wieder — fast
möchte man meinen Kant zum Trotze —, dass die Tugend Glückseligkeit
als Zweck hat, eine Glückseligkeit freilich, die letzten Endes in der Ver-
einigung mit dem persönlichen Sittengesetze, Gott, besteht. Das Gegenteil
') a. a. 0. 344.
^ Kr. d. pr. V. Ansg. Vorländer 5, Leipzig 1906, 141.
*) a. a. 0. 220.
12*
176 Cl. Kopp.
ist ihm, wie er es nennt, „spitzfindiger Stolz" ^). Und, wie er weiter
schreibt : „Die Weisheit und Güte Gottes selbst kann nur deswegen Tugend
vom Menschen fordern, weil sie will, dass er selig werde: das nur durch
Tugend möglich ist"'-'). Dadurch werden nach der Ausdrucksweise Kants
natürlich sämtliche Imperative Stattlers hypothetisch, da sie nur Mittel zum
Zweck sind. Aber Stattler bestreitet eben mit aller Macht, dass die auto-
nome Vernunft sich wahrhaft kategorische Imperative geben könne, denn
er fragt von diesem Gesetze der Vernunft: „woher es die kategorische
Kraft seines Aufgebots des Willens zu so einer durchgängigen Unterwerfung
hernehme, wenn in seiner Vorstellung nichts von einem wirkUch gewiss
existierenden Gott als Gesetzgeber vorkommt" 2).
So kann denn der Mensch nach Stattler in der Moral ohne Gott nur
kraftlose Idole aufstellen. Aber selbst wenn die Kantsche Ethik ein Ideal
wäre, so bliebe es ein unerreichbares. Denn eine Moral ist nur möglich,
wenn es eine Willensfreiheit gibt. Und dass die Freiheit des Willens, wie
sie Kant gelten lassen und beweisen will, nur eine Scheinfreiheit ist, sucht
Stattler zum Schluss seiner Kritik darzutun. Nach Kant sind Autonomie
und Willensfreiheit Wechselbegriffe. Du kannst, denn du sollst, ist die
knappe Formel, die von ihm selbst stammt. Schon in den Antinomien
hatte er eine Kausalität aus Freiheit der Naturkausalität gegenüber gestellt.
Auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten findet Kant die Lösung
in ähnlicher Weise in der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an
sich, von Sinneswelt und einer intelligiblen Welt. Dort herrscht die Not-
wendigkeit, hier wirkt die Freiheit. Freihch denken sich die Menschen
nur willensfrei, oder, wie er selbst schreibt : „Der Begriff einer Verstandes-
welt ist — nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, ausser
den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken;
welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend
wären, nicht möglich sein würde" *). Die Freiheit ist also kein Erfahrungs-
begriff, sondern nur ein Postulat, eine Idee.
Ist es aber möglich, dass ein und derselbe Mensch als Sinnenwesen
unter der Naturkausalität steht, als Vernunftwesen aber Freiheit besitzt?
ist es weiter denkbar, dass der Freiheitsgedanke nur eine notwendige Idee
ist? Diese Fragen drängten sich in aller Schärfe schon Stattler auf. Er
wendet sich lebhaft gegen die Möglichkeit, dass der Mensch frei ist als
Intelligenz, der Notwendigkeit aber als Glied der Sinnenwelt unterworfen
bleibt. ,,Wenn dem also wäre", so sagt er, „so hätte es nicht nur den
Schein eines Widerspruchs, sondern der Widerspruch stünde gewiss in
') a. a. 0. 186.
^.) a. a. 0. 186.
=»J a. a. 0. 139.
*) Grundlegung a. a. 0. 88 f.
Die erste kath. Kritik nn Kants Grundlegung zur Metaphysik Her Sitten. 17V
voller Evidenz vor Augen. Denn Notwendigkeit, so zu handeln, ist Mangel
alles gleichzeitigen Vermögens, nicht so zu handeln, und Freiheit, so zu
handeln, ist gleichzeitiges Vermögen, nicht so zu handeln" ^). Auf welche
Seite wird sich nun die Vernunft schlagen, da sie Freiheit und Notwendig-
keit unmöghch hei derselben Handlung annehmen kann? „Sie wird", so
meint Stattler, „viel eher den Begriff der Freiheit als ganz leer ansehen,
weil sie doch von dem Begriffe der Naturnotwendigkeit in der Erfahrung
Bestätigung findet; von blossen Vernunftideen aber schon aus der Kritik
des Herrn Kant gelernt hat, dass sie nur dialektische, von keinem konsti-
tutivem, sondern nur regulativem Gebrauche sind" 2). Und welche weitere
Folge muss der ehrliche Menschengeist nun ziehen? „Ist ohne Freiheit
kein Moralgesetz möglich, so ist offenbar, wenn die Freiheit eine proble-
matische Idee ist, auch das Moralgesetz eine bloss problematische Idee.
Und dann gute Nacht der moralischen Gesinnung und allem frommen
Glauben an Gott" 3),
Das wäre allerdings nur in grossen Zügen die Antikritik Stattlers. So
zeigt sie aber ihre freundUchsten und lichtvollsten Seiten. Denn sie krankt
daran, dass sie der Kantschen Schrift fast Satz für Satz folgt. Das bringt
etwas Beklemmendes und Mühsames in seine Schrift hinein, das hat auch
zu zahlreichen Wiederholungen geführt. Die entscheidenden Punkte sind
oft von vielem Nebensächlichem überwuchert, so dass man häufig manches
störende Rankengestrüpp wegreissen muss. Der scharfe Gegensatz zu Kant
hat ihn dazu geführt, zu schroff und zu einseitig die Glückseligkeit als
christliches Moralprinzip aufzustellen. Auch der ganze Ton, auf den seine
Kritik gestimmt ist, klingt uns, die wir schon infolge des zeitlichen Ab-
standes der Philosophie Kants leidenschaftsloser gegenüberstehen, zu ver-
letzend. Aber das grosse Verdienst bleibt Stattler, dass er nicht gleich
manchem katholischen Theologen der Aufklärungszeit Kant sein Hosianna
zugerufen hat, dass er vielmehr als erster katholischer Theologe umfassend
die Kantschen Moralprinzipien bekämpft hat und kräftig für den Gedanken
eingetreten ist, dass der persönliche Gott auch der Gott der Moral war,
ist und bleiben wird.
1) a. a. 0. 291.
') a. a. 0. 296.
*) a. a. 0. 29.5.
Rezensionen nnd Referate.
Erkenntnistheorie.
Die Realität der Anssenwelt. Mit einem Beitrag zur Theorie
der Gesichtsvvahrnehmung. Erkenntnistheoretische und psycho-
logische Untersuchungen. Von Dr. phil. Heinrich Ostler.
Paderborn 1912, Ferdinand Schöningh. 8«. XII u. 444 S. AS.
Der Gesenstand des vorliegenden Werkes — die Frage nach der
Existenz und Erkennbarkeit der Aussenwelt — gilt in weiten Kreisen als
das Hauptproblem, wenn nicht gar als das einzige Thema der Erkenntnis-
kritik.
In origineller Weise sucht nun Ostler dieses Problem zu lösen, indem
er sich besonders auf die Ergebnisse der modernen Physiologie und Psycho-
logie der Sinnesfunktionen stützt. Die sachkundige Orientierung über den
gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung inbetreff der ein-
schlägigen Fragen gehört unstreitig zu dem Besten, das dieses mit vielem
Fleiss und liebevoller Hingebung geschriebene Werk bietet.
Vom erkenntuisthecretischen Standpunkt aus erheben sich freilich der
von Ostler gebotenen Behandlung des Realitätsproblems gegenüber einige
gewichtige Bedenken: Die Einengung des Begriffs „Realität" auf die .Aussen-
realität" (7; vgl. indes 185) lässt von vorneherein eine methodische, all-
seits befriedigende Lösung des Problems nicht zu. Das Erkenntnissubjekt
mit seinen Anlagen wird ja als gegeben angenommen. Die Lösung bewegt
sich deshalb sozusagen auf der Peripherie, während unseres Erachtens eine
prinzipielle Betrachtung auf einer mit sorgfältiger Kritik durchgeführten
Scheidung des Subjektiven vom Objektiven im Erfahrungsbereiche beruhen
müsste. Die Realität der Aussenwelt würde dabei viel von ihrem proble-
matischen Charakter verlieren. Erst wenn von selten der Erkenntniskritik
diese Scheidung gerechtfertigt ist, und wenn man sich auf diesem W^ege
über die Bedeutung der Sinnesempfindung für die Erkenntnis ein ab-
schliessendes Urteil gebildet hat, — also erst nach der grundsätzlichen
Lösung des Realitätsproblems — haben die lehrreichen psychologischen
Ausführungen des Verfassers für die Entscheidung realistischer Spezial-
probleme ihren Wert. •
H. Ostler, Die Realität der Anssenwelt. 179
Die Charakteristik des „naiven Realismus" ist anregend und im allge-
meinen zutreffend. Bemerkenswert ist auch die gründliche, die Aus-
führungen des Gegners sorgfältig zergliedernde Kritik, die Ostler dem
Standpunkt Ed. v. Hartmanns widmet : E. v. Hartmanns Widerlegung des
Idealismus wird als inkonsequent und unzulänglich zurückgewiesen.
Der Verfasser steht überhaupt dem transzendentalen Realismus
ablehnend gegenüber. Neuscholastische Vertreter dieser Richtung werden
einer eingehenden Kritik unterzogen, in der sich viel Beachtenswertes findet.
Ostler selbst vertritt den sogenannten „direkten" Realismus, der auf
der These (138) fusst, dass „unser Wahrnehmungsbild . . . selbst etwas
Physisches" sei. Es ist also ein ,, kritischer Realismus der direkten Wahr-
nehmung". Aber wird damit das eigentliche Problem nicht gewaltsam aus
der Welt geschafft ?
Auf Widerspruch dürfte der Verfasser auch mit seiner eigenartigen
Auffassung stossen, wonach die „Gefühlswrahrnehmungen" (Haut-, Muskel-,
Sehnen- und Gelenkempfindungen sowie Organempfindungen) „als zum Ich
gehörig (im Gegensatz zu den Gesichtsempfindungen) unmittelbar gegeben"
seien (vgl. 232).
Wie denkt sich ferner Ostler die „Gewalt der Psyche", mit der sie
„das von den physischen Elementen dargebotene Material sozusagen zu jeder
behebigen Flächengrösse auswalzen" kann (vgl. 346)'? Und vfie verträgt
sich diese Annahme mit seiner „direkt realistischen" Ansicht ?
Ostler beschliesst seine Ausführung mit der seine Ansicht kurz zu-
sammenfassenden These (433): ,,Wir sind einer Aussenwelt unmittel-
bar gewiss, aber der Aussenwelt, d.h. dessen, was wir gewöhnhch
unter Aussenwelt verstehen, werden wir erst durch Kausalitätsschluss
mächtig". Ausdrücklich bemerkt er, dass er damit eine MittelsteUung ein-
nehmen will zwischen Idealismus und transzendentalem ReaUsmus einer-
seits und dem^ naiven Realismus andererseits.
Obwohl wir die von Ostler gebotene Lösung nicht für eine durchweg
einwandfreie halten, können wir das Studium seines Werkes zur Einführung
in das Reahtätsproblem doch warm empfehlen.
Braunsberg (Ostpr.). Prof. Dr. W. Switalski.
J)e qualitatibus seiisibilibus et in specie de coloribus et sonis
auetore Huberto Gründer S. J. Fribiirgi Brisgoviae 1911,
Herder, gr. 8 XII, 100. M 2.40; geb. A 3.20.
Seit Erscheinen dieses Büchleins ist manches wiederum über das
Thema desselben geschrieben worden ; auch das Philosophische Jahrbuch
hat sich unlängst (1912, S. 151 ff. ; 1913, S. 44 ff) neuerdings mit der
Frage um die Sinnesqualitäten beschäftigt. So finden wir es nicht not-
180 I'- Bernhard.
wendig, das Büchlein P. Gründers eingehender zu besprechen; denn es
bringt sachlich nichts Neues. Es ist vielmehr dazu bestimmt, die für die
virtuelle Objektivität der Sinnesqu^litäten herkömmlichen Beweise und die
Gegenbeweise in klarer Form einem Leser darzulegen, der die Frage zum
erstenmal etwas eingehender, nach streng scholastischer Methode zu
studieren wünscht.
Wir finden die Untersuchung von erkenntnistheoretischer Seite, .sowohl
in diesem Büchlein, wie auch überhaupt, bisher leider noch immer nicht
tiefgehend genug. Dies wird unseres Erachtens dann erst erfolgen, wenn
vor allem die komplexe Fragestellung genauer zergliedert und von Schritt
zu Schritt beantwortet wird. Die diesbezüghchen Vorschläge von Feuling
in diesem Jahrbuche (1912, S. 151 — 170) sind nur warm zu begrüssen.
Sodann ist es aber sehr wünschenswert, dass die in der Behandlung des
Problems vorkommenden Ausdrücke und damit bezeichneten Begriffe (wie
Erkenntnis, Wahrheit, objektivgültiger Inhalt, Uebereinstimmungsverhältnis
zwischen Erkenntnisinhalt und Erkenntnisobjekt usw.) nicht je nach der
eigenen Ansicht angepassten Deutung enger oder weiter gebraucht, sondern
methodisch diskutiert werden, um die richtige Schärfe, beziehungsweise
nötige Korrektur zu erhalten. Dann würden vielleicht manche Voraus-
setzungen und Verallgemeinerungen aufgegeben. So z. B. hängt von der
Weite meines Erkenntnisbegriffes ab, ob ich gewisse Sinnesemptindungen,
sagen wir eine Tastempfindung, VVärmeempfindung oder vielleicht noch
eine Geruchsempfindung, mit dem Prädikate Erkenntnis benennen darf:
ebenso ist es nicht apriori eine ausgemachte Sache, eine wie weitgehende
üebereinstimmung von Erkenntnis und transzendentem Objekt zur Wahrheit
der Erkenntnis gefordert werden müsse. Denn auch auf dem intellektuellen
Gebiete wird ein analoger Begriff nicht in gleicher Weise ein ,überein-
stimmendes Abbild' des Gegenstandes sein, wie ein conceptus proprius,
und folglich wird auch das Urteil, dem solche Begriffe zu Grunde liegen,
nicht in derselben Weise die Üebereinstimmung zum Ausdruck bringen,
als ein anderes, und doch wird seine Wahrheit nicht angezweifelt.
Diese kurzen Bemerkungen sollen darauf hinweisen, dass man in der
vorliegenden erkenntnistheoretischen Frage die Erfahrungstatsachen nicht
nur die PioUe von Einwänden spielen lassen, sondern sie zu der positiven
Arbeit einer präzisereu Ausbildung der Grundbegriffe der Erkenntnistheorie
benützen soll. B.
Die itjesichtswahrnelimuiig* nach ihren psycho - physischen
Bestandteilen. Von Profes.sor Peter Vogt S. J. (Sammlung
,,Natur und Kultur'\ Nr. 2.) München, Isaria- Verlag. Jio 1.
Das klar und interessant geschriebene Heft sucht die Projektionstheorie
zu verteidigen. Der Auktor verheimlicht zwar die vielfachen Schwierigkeiten
V. Vonf, [»le (ip?ichls\vahni<4iiiimig nach ihr. i)sycho-[)hys. Bestanflteilen. ISl
dieser Hypothese nicht, doch kommt er zu einem P>gebnis, das wir leider
nicht teilen können. Er meint nämlich, „dass der Auffassung, das Auge
nach seiner physikalischen Seite nicht bloss als Photographie-, sondern
auch als Projektionsapparat zu betrachten, keine ernste Schwierigkeit im
Wege steht." Doch fehlt die Hauptsache bei diesem Apparat: die ent-
sprechende Lichtquelle. Der Versuch, diese Rolle den Stäbchen der
Netzhaut zuzuteilen, erscheint minder glücklich; denn abgesehen von
manchen physikalischen und geometrischen Schwierigkeiten, halten wir es
für gar nicht wahrscheinlich, dass die zarten Stäbchen für so gewaltige
Lichteffekte gewachsen sein sollen, wie es z. B. die intensiv helle Beleuchtung
eines weiten Sehfeldes bei einem Spaziergange an einem Sommertage
fordern würde.
Auch für die Erklärung der Gesichtswahrnehmung bringt die Projektions-
theorie keinen Vorteil. Es bleibt die ganze psychologische und erkenntnis-
theoretische Frage noch offen : wie entsteht der psychische Akt und was
drückt er als unmittelbares transzendentes Objekt aus? Sehe ich das
projizierte Bild, und zwar dort, wohin es projiziert wurde, so muss das
Bild die Lichtstrahlen in mein Auge zurücksenden ; dies muss sie wiederum
projizieren usw. ; entsteht aber der psychische Akt vor dem Projektions-
bild, dann ist dieses für das Sehen bedeutungslos und überflüssig. Die
Hypothese, „dass der Mensch mit den von seinem eigenen belebten Organ
ausgehenden Strahlen in ihren Endpunkten in und durch das mittels der
Strahlen hervorgebrachte Bild den wirklichen Gegenstand berührt und
erfasst" (66), beruht auf einem weni'^ glücklichen Vergleich. Die Hand
vermag zwar mittelst eines Stäbchens den äusseren Gegenstand abzutasten,
aber das Abtasten mit dem Stäbchen ist nur deswegen möglich, weil dieses
starr ist und deswegen als Ganzes der Führung der Hand folgt. Das Auge
hat aber auf den ausgetretenen Strahl keinen Einfluss mehr und kann
wegen des ganz unstarren Zusammenhanges keinen Rückeinfluss vom
Strahl empfangen. B.
Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft.
Erkeuntiiistlieoiie uikI Naturwissenschaft. Vortrag, gehalten
am 19. September 1910 auf der 82. Versammlung deutscher
Naturforscher und Aerzte in Königsberg von 0. Külpe. Leipzig,
Hirzel. 47 S.
Nach einleitenden Bemerkungen über die Annäherung von Naturwissen-
schaft und Philosophie, speziell auch der Psychologie, und unter speziellem
Hinweis auf Kants Verhältnis zur Naturwissenschaft hebt Külpe zwei Auf-
gaben heraus, die Kant nicht erffillte, die systematische Herauslösung der
unentbehrlichen Voraussetzungen aus der Wissenschaft, in der sie wirksam
182 C. Gutberlel.
sind, and die Ausdehnung der transzendentalen Methode auf die empirischen
Wissenschaften. Külpe will aus den erkenntnistheoretischen Aufgaben, vor
welche die modernen Krfahrungswissenschaften den Philosophen stellen,
besonders das Problem der Realität herausgreifen. Er formuliert es
in vier Fragen: 1. Ist eine Setzung von Realem zulässig? hier weist er
den Konszientialismus zurück. 2. Wie ist die Setzung von Realem möglich V
3. Ist eine Bestimmung von Realem zulässig'? 4. Wie ist eine Bestimmung
von Realem möglich? Der Vf. behandelt die in Frage 2 und 4 bezeichneten
Aufgaben näher. Er lehnt Phänomenalismus und Konszientialismus mit
überzeugenden, wenn auch nicht immer leicht verständlichen Gründen ab
und tritt für einen kritischen Realismus ein. Kurz und treffend fassl
Külpe die Beziehung von Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie so:
„Dort (beim Naturforscher) ist die Natur der Gegenstand, hier (beim
Erkenntnistheoretiker) die Wissenschaft von ihr; Erkenntnis wird dort ge-
schaffen, hier bloss begriffen". Anmerkungen bilden den Schluss des Vor-
trages. Möge der Verf. seinen kritischen Realismus, mit dem er gegenüber
Phänomenalismus und Konszientialismus im Rechte ist, bald eingehend
begründet in einem grösseren Werke') darlegen.
Würzburg. Prof. Dr. R. StöJzle.
Metaphysik.
Vom Zuge der Menschheit. I. Teil : Die logische Konstruktion
des Hauptproblems der 3Ietaphysik. Von Fr. Fidler.
Hamburg 1912, Bahren.
Ein äusserst interessantes Buch. In temperamentvoller Sprache bietet
es manche treffliche Gedanken, verfolgt auch einen sehr löblichen Zweck:
es sucht der äussersten geistigen Not unserer Zeit zu steuern, indem es der
theistischen Weltanschauung zum Siege verhelfen will.
Der Titel ist etwas rätselhaft und lässt den reichen Inhalt nicht er-
kennen. Er wird vom V{. eigens erklärt :
„Man kann den Gang der Menschheit durch die Weltgeschichte treffend
mit einem gewaltigen Heereszuge vergleichen, einem Heereszuge, in welchem
Truppenkörper aller Gattungen und Individuen der verschiedensten Rang-
klassen vereinigt sind . . . Die Strecke, die jeder einzelne zurückzulegen
hat, ist sein Lebensweg ; der Erfolg dieser Summe vereinter Anstrengungen
aber ist das Fortkommen der Gesamtheit, der .Fortschritt' . . ." „Dem
Zuge voran leuchtet gleichsam die weisse Fahne des obersten allumfassenden
Menschheitsideals, das Banner der allgemeinen Menschheitshoffnung . . .
Nun ist es klar, dass der Heereszug der Menschheit der weissen Fahne
nur so lange unbedingte und freudige Gefolgschaft leisten wird, als die
^)) Der erste Band dieses Werkes: „Realisierung" belilell, ist vor kurzem
erschienen. Eine Analyse desselben behalten wir uns vor.
Fr. Fidler, Vom Zuge Her Menschheit. 183
einzelnen Glieder wirklich fest überzeugt sind, dass der Weg, den die
weisse Fahne führt, der einzig richtige ist . . . Unsere Zeit ist nun offen-
kundig eine Zeit der fortschreitenden Entwertung und des Verblassens der
Ideale. Die seelische Fahnenflucht ist heute stärker verbreitet denn je,
und die verheerenden Wirkungen dieser innerlichen Massendesertionen
machen sich mit jedem Tage furchtbarer bemerkbar. Unsere Gegenwart
ist stigmatisiert durch den Abfall vom Ideal. Das .seelische Band freudiger
Zuversicht, das den einzelnen an seine Fahne knüpfte, ist schlaff geworden,
und die soziale Ordnung wird weit weniger durch die neue Macht der
Ueberzeugung als durch die äusseren Machtmittel der Staatsgewalt und
durch den Zwang der äusseren Not des einzelnen aufrecht erhalten . . .
Wie weit aber dieser geistige Zersetzungsprozess schon fortgeschritten ist,
. . . wie viele nur gezwungen innerlich seufzen und ihr Missgeschick ver-
wünschen — diese Frage möge sich jeder in der Stille seines Herzens
selbst beantworten".
„Die Welt ist gemütskrank : das ist die ganze Diagnose. Und warum
ist sie gemütskrank? Weil uns eine einheitliche gemeinsame Grundüber-
zeugung fehlt, in deren Anerkennung wir uns alle sicher und einig wüssten.
Aber wir sind gleichsam nicht mehr eine geschlossene Phalanx, geschart
um die heilige Fahne eines gemeinsamen Ideals, durchweht von einem
Geiste, beseelt von einem Mute und entschlossen, in unbeirrbarer gemein-
samer Anstrengung einem gemeinsamen grossen Ziele zuzustreben . . . Wir
sind den Galeerensklaven vergleichbar, die ihr Gescliick zufällig an die-
selbe Galeere schmiedete".
„Jenes allumfassende Band geistiger Gemeinschaft, das in vergangenen
Tagen gewaltige Gruppen der Menschheit zur seelischen Einheit verband,
war einst die Religion, die — wie schon ihr Name besagt^ — unser aller
Herzen an ein gemeinsames höchstes Ideal, an eine gemeinsame grosse
Hoffnung knüpfte — ähnlich wie ein geheimnisvolles seelisches Band den
Soldaten an seine Fahne bindet. Dieses Band ist heute bei Tausenden
zerrissen, bei Millionen gelockert . . . Religion war einst der Nerv unserer
seelischen Einmütigkeit und eben dadurch der Lebensnerv unserer inneren
Kraft; dieser Nerv i.st heute durchschnitten, und damit ist unsere beste
Kraft gelähmt. Aus dieser Lockerung des seelischen Menschheitsverbandes
ergibt sich aber von selbst die fortschreitende Zersphtterung, wieder unsere
Schwäche. Das also ist die eigentliche Grundursache unseres Tastens und
Suchens, unseres inneren Unbehagens, unserer Unsicherheit und Ohnmacht :
uns fehlt die Religion".
„Der Heereszug der Menschheit ist ins Stocken geraten . . Alle inneren
Bande der Ordnung sind gelockert, und es ist klar, dass dieser Zersetzungs-
prozess, wenn durch entsprechend lange Zeit fortgesetzt, schliesshch doch*
trotz aller äusseren Machtmittel mit der allgemeinen Auflösung der ganzen
Ordnung enden müsste".
Ifi4 C. (iutbprlnl.
„Aber welche geistige Macht hat uns an den kritischen Punkt heran-
geführt, v/o der Zug der Menschheit mehr und mehr ins Stocken geriet?
Zweifelsohne d i e Wissenschaft". Darum kann auch nur die Wissenschaft
Hilfe schaffen. „An ihr ist es jetzt, die Führung des Zuges der Mensch-
heit, die bisher von der Dogmatik besorgt wurde, zu übernehmen". Diese
Wissenschaft kann nur die Metaphysik sein; es handelt sich um „das
zentrale Hauptproblem der Metaphysik — nämlich die grosse Frage nach
dem Dasein oder Nichtsein Gottes — sie ist offenkundig wirklich das höchste
und wichtigste Menschheitsproblem, die , Frage aller Fragen', , Problem der
Probleme', sie ist das Zentralproblem aller Wissenschaft und aller mensch-
licher Erkenntnis überhaupt".
Dagegen „ist es — um das Kind einmal beim richtigen Namen zu
nennen — eine Narrheit erster Klasse, mit den Mitteln der Naturwissen-
schaft, mit Fernrohr, Mikroskop, chemischer Formel usw. die Pforten der
Erkenntnis, die zu den Problemen der Metaphysik führen, aufsprengen zu
wollen ; denn wie sollen Instrumente und Hilfsmittel, die — und sei ihr
Bart noch so kraus — uns bestenfalls immer nur über die physische Be-
schaffenheit der körperlichen Dinge Aufschluss geben können, imstande
sein, die Riegel der metaphysischen Probleme zu heben V"
„Zusehends also spitzt sich vor unserem Auge die ganze geistige und
seehsche Krisis unserer Zeit mit all ihren zahllosen Problemen und Problem-
chen auf die eine konzentrierte Forderung zu, dass eine neue zeitgemässe,
d. h. wissenschaftlich' hinreichend fest begründete, befriedigende Lösung der
Kardinalfragen der Metaphysik gefunden werden müsse". Unsere Zeit ver-
langt aber einen „empirisch zwingenden Beweis". Der könnte in vier-
facher Weise geführt werden: 1. Wir kommen durcii unsere Kraft Gott so
nahe, dass wir ihn empirisch feststellen können. 2. Gott kommt uns so
nahe, dass wir ihn erfahren. 3. Wir haben solche Kenntnis vom Weltall,
dass wir Gott sicher leugnen können. 4. Das Weltall kommt uns so nahe.
dass Gott ausgeschlossen werden kann. Der erste Weg ist offenbar un-
gangbar. Ebenso der dritte und vierte, welche Allwissenheit verlangen.
Die Nichtexistenz Gottes ist überhaupt absolut unbeweisbar.
„Und so bleibt denn zur Entscheidung des , Problems der Probleme'
vermittelst des Wahrheitsbeweises in Himmel und Erde nichts anderes
mehr übrig, als der zweite Weg, dass .die Macht gnädig wird und herab-
kommt ins Sichtbare' (Nietzsche). Dieser Weg des positiven (direkten),
empirisch zwingenden Wahrheitsbeweises, verfolgt in der Richtung vom
beweisgebenden Objekt zum beweisnehmenden Beobachter, ist — als der
einzige von allen überhaupt vorhandenen Wahrheitsbeweisen ! — denkbar.
Nur durch den direkten, positiv empirisch zwingenden Wahrheitsbeweis
• kann also laut dem Denkgesetze das ,Problem der Probleme' im Sinne der
Forderung des Zeitgeistes zu voller Gewissheit entschieden werden! Dieser
Weg des positiven, direkten, empirisch zwingenden Wahrheitsbeweises
. Fr. Fidler. Vom Znge der Men.schheit. 185
vom Objekt zum Beobachter aber ist nichts anderes als — der Wunder-
beweis".
Mit diesem Ergebnis des Vf.s können wir uns bis auf den Schlusssatz
einverstanden erklären. Gewiss kann die Existenz Gottes nur auf empi-
rischem Wege in dem Sinne bewiesen werden, als wir von dem Gegebenen
der Erfahrung ausgehen, und finden, dass es den Grund seiner Existenz
nicht in sich haben, sondern von einer höheren Ursache hervorgebracht
werden muss. Das ist keine blosse Forderung des Zeitgeistes, sondern
ist immer gegen angeblich aprioristische Gottesbeweise von der christlichen
Philosophie (nicht Dogmatik!) betont werden. Nun kann ja wohl auch
aus den Wundern das Dasein Gottes geschlossen werden; aber das ist nicht
der einzige, nicht einmal der beste Beweis : derselbe muss sich auf die Un-
zulänglichkeit der Naturkräfte stützen, um ein Ereignis auf eine höhere
Macht zurückführen zu können. Aber gerade so verfährt der herkömmliche
teleologische, im Grunde jeder Gottesbeweis. Es ist zum mindesten ebenso
evident, dass die Zweckmässigkeit und erstaunliche Ordnung der Welt
nicht durch blinde Naturkräfte hervorgebracht werden kann, als dass Wasser
in Wein verwandelt werde. Gegen die Wunder kann man mehr Einwände
erheben, als z. B. gegen die Weltordnung; da können die Ungläubigen
sich auf die Unzuverlässigkeit der Berichterstatter stützen, verborgene
Naturkräfte vorgeben, jedenfalls den persönhchen Gott abweisen, der durch
den teleologischen Gottesbeweis unmittelbar dargetan wird. Wenn der Vf.
sich statt so viel mit Kant, auch etwas mit der christlichen Philosophie
beschäftigt hätte, würde er so weite Umwege nicht nötig gehabt haben,
auch manche Behauptungen, insbesondere die, dass noch kein stringenter
Gottesbeweis erbracht worden sei, modifiziert haben.
Sein neues Beweisverfahren ist dem Zeitgeiste gegenüber ganz un-
praktisch, denn vor nichts haben die Modernen mehr Scheu als vor Wundern,
eher lassen sie sich noch einen Gott gefallen, als ein Wunder. Eine stark
verbreitete Richtung glaubt noch an einen Gott, leugnet aber steif und fest
die Möglichkeit und noch mehr das Vorkommen von Wundern. Vf. gibt
das im Grunde auch zu, indem er am Schlüsse erklärt, dass er erst sieben
Achtel des Weges zurückgelegt, „das letzte Achtel — allerdings das
schwierigste von allen — bleibt noch zu bewältigen. Es ist dies die offene
Frage, ob der empirisch zwingende Beweis für das theistische Grunddogma,
nämhch der Wunderbeweis, möglich ist oder nicht. Die grösstmögliche
Klarstellung, wie hier die Dinge stehen, wird Gegenstand des II. Teiles
unserer Gesamtuntersuchung sein".
Aber jetzt schon kann als Ergebnis der Untersuchung eine frohe Zu-
versicht in die Zukunft gehegt werden. „Die Behauptung, dass Gott tot
ist, ist nicht nur eine unbewiesene, sie ist auch eine ewig unbeweis-
bare Behauptung, eine Behauptung also, die bei Licht besehen, jedes
wissenschaftlichen Untergrundes gänzlich ermangelt, völlig aus der Luft
186 C. Gulberlet. Fr. Fidler, Vom Zuge der Menschheit.
gegriffen ist und niemals ihre Existenzberechtigung mit den Mitteln echter
Wissenschaft wird erweisen können, so viel vergebliche Mühe man sich
damit auch schon gegeben hat oder noch geben mag. Wahr ist nur das
eine, dass man Gott totgesagt und in weiten Kreisen auch tatsächlich
totgeglaubt hat . . . den eigentlichen , Totenschein' Gottes hat noch
keiner seiner Nekrologisten je erbracht und nie wird ihn einer erbringen
können. Der zwingende Beweis für die Wahrheit des atheistischen Grund-
dogmas — in dessen positiver oder negativer Fassung — wäre dieser
Totenschein, und es ist, wie wir gesehen haben, laut den Normen des
Denkgesetzes undenkbar, dass dieser Wahrheitsbeweis je erbracht werden
könnte . . . Wer diese unanfechtbare logische Tatsache in ihrer ganzen
Tragweite einmal erfasst hat und sie zusammenhält mit der immer lauteren
und dringenderen Forderung des Zeitgeistes nach einer sicheren wissen-
schaft liehen Lösung des , Problems der Probleme', der weiss auch unter
dem Druck aller Garantien, die das Denkgesetz irgend zu bieten vermag,
zum voraus mit voller Bestimmtheit, dass diese wissenschaftliche Arbeit
auf die ,Frage aller Fragen' zuverlässig lauten muss und wird : ,Der alte
Gott lebt noch'."
Dem muss man gewiss zustimmen, aber die Atheisten haben dagegen
noch eine Ausflucht in der wissenschaftlichen Forderung : Causae non sunt
multiplicandae sine necessitate. Wenn man mit natürlichen Erklärungen
auskommen kann, muss man übernatürhche ablehnen. Viele sind nun der
Ansicht, dass es noch gelingen werde, die gesamte Weltordnung kausal
aus sich selbst erklären zu können.
Das entschuldigt aber keineswegs die Kühnheit, mit der die Atheisten
ihr Dogma von der Leugnung Gottes proklamieren. Sie können, wenn sie
sich nicht von vorneherein gegen Gott abschliessen v/oUen, wenigstens die
Möglichkeit nicht leugnen, dass die Welt von einem Schöpfer hervorgebracht
worden ist, dass folglich auch sie Geschöpfe Gottes sind. Daraus ergeben
sich aber sehr schwere Pflichten gegen den Urheber unseres Daseins. Statt
dessen spotten aber die Gottesleugner über Gott, lästern ihn. Sie setzen
sich also zum mindesten der Gefahr aus, sich schwer zu verfehlen und
sich selbst unsäglich unglücklich zu machen. Sie sollten doch wenigstens
einmal die Gründe für das Dasein Gottes prüfen, eine Wahrscheinlichkeit
können sie ihm doch nicht absprechen: diese reicht aber für jeden gewissen-
haften und ernst denkenden Menschen hin, die eventuellen Folgerungen
daraus zu ziehen, es handelt sich um die höchste aller Fragen. Statt dessen
stützen sie sich leichtsinnig auf Kant, der ja die Gottesbeweise „zermalmt'-
hat. Wenn sie auch alle Spekulationen Kants verwerfen: hierin heist es:
avzög eqa. Und doch kann jeder Anfänger in der Logik die Paralogismen
Kants in diesem Punkte aufdecken.
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
S. Aicher. A. Sehn eider, Die philos. Grundlagen d. nionisi.Wellansch. 187
Die philosophischen Grundlagen der monistischen Welt-
anschauungen. Von Prof. Dr. A. Schneider. München, Isaria-
Verlag (Sammlung „Natur und Kultur", Nr. 1). IV, 91 S. Jfe 1.
In klarer, kurzer Form gibt der Vf. in diesem kleinen Bändchen einen
IJeberbliek über die verschiedenen Richtungen des Monismus. Mit Reclit
spricht er geradezu von monistischen Weltanschauungen, da die einzelnen
Hypothesen — darum handelt es sich doch im Grunde — sehr weit aus-
einandergehen. Nach einer allgemeinen Einleitung folgt die Darstellung
und Kritik der einzelnen Systeme : Materialismus, Spiritualismus, transzen-
dentaler Monismus, psychophysischer Parallelismus und Wechselwirkungs-
theorie. Besonders gut gelungen scheint die Kritik der erkenntnistheo-
retischen Voraussetzungen des Spiritualismus. Ob sieh der Satz : „Dass
Ursache und Wirkung notwendig gleichartig, verwandter Natur sein müssen,
ist eine rein subjektive Vorslellungsgewohnheit, welche weder durch die
Erfahrung, noch durch das Denken irgendwelche Bestätigung erhalten kann"
(74), in dieser Fassung ganz halten lässt, möchte Ref. bezweifeln. Auf
das an erster Stelle behandelte Problem angewandt, würde dieses Prinzip
vielleicht zu eigentümlichen Resultaten führen. Im Schlusswort weist der
Vf. darauf hin, dass die philosophische Ausgestaltung des christlichen
Dualismus noch viel zu wünschen übrig lässt.
Tübingen. Dr. Sev. Aicher.
Die philosophischen Weltanschauungen und ihre Haupt-
vertreter, erste Einführung in das Verständnis philosophischer
Probleme. Von A. Heussner. 2. Auflage. Göttingen 1912,
Vandenhoeck & Ruprecht. 275 S. M 3,60.
Die Schrift ist aus Vorträgen, welche Heussner im Fortbildungs-
kursus des ev. Fröbelseminars in Cassel gehalten hat, hervorgegangen.
Kap. I — IV: Die Philosophie, ihr Wesen und ihre Aufgabe, der Materiali.s-
mus — die Probleme des Monismus — Spinoza, die Monadologie — Leibniz
behandeln das Weltproblem, Kap. V und VI : Der Kritizismus — J. Kant,
der Ideahsmus — Fichte, Schelling, Hegel das Erkenntnisproblem,
Kap. VII — X : Der Pessimismus — Schopenhauer, der Realismus — Ed.
v. Hartmann, der Naturalismus — Nietzsche, der Dualismus — das Christen-
tum die Lebens Probleme. Der Verf. lehnt seine Darstellung und Kritik
der Probleme an die Hauptvertreter der verschiedenen Weltanschauungen
•an und gibt einen klaren Einblick in die einschlägigen Fragen. Er huldigt
einer theistisch-christlichen Weltanschauung ; wenn man ihm auch nicht in
allen Punkten beistimmen kann, z. B. wenn er den Begriff einer ersten
Ursache als unvollziehbar erklären will, wird man doch im ganzen seil
188 C. Gutberiet.
Urteil besonnen finden und seine idealistische Richtung sympathisch be-
>en.
Würzburg. Prof. Dr. R. Stölzle.
grussen
Naturphilosophie.
l)i<^ Natiiri)hilosophie Johaiiiies Reinkes und ilire Gegner.
Von Dr. A. Knauth. Regensburg 1912, Verlagsanstalt.
IX und 207 S.
Reinke gehört zu jenen Naturforschern, welche, über die Grenzen
ihres Spezialfaches hinausblickend, sich zu einer Weltanschauung durch-
zuringen suchen, und zwar zn einer teleologischen, näher einer dualistischen.
Seine Darlegungen, speziell sein Neovitalismus, haben vielfach Erörterungen
und Widerspruch hervorgerufen; freilich waren es nicht immer tiefgehende
Ausführungen, welche Reinke entgegengesetzt wurden. Unter diesen Um-
ständen schien es angezeigt, die Frage Reinke einmal gründlich anzufassen.
Das geschah auf meine Veranlassung durch Knauth. Ich beschränke mich
darauf, eine Inhaltsangabe von der Schrift des mit grosser Selbständigkeit
arbeitenden Verfassers zu geben. Das Buch zerfällt in drei Teile. Nach
erkenntnistheoretischen und methodologischen Vorfragen werden im ersten
Teil die Grundbegriffe der Naturbetrachtung und ihr Verhältnis zur objektiv-
realen Welt betrachtet. Hier ist die Rede von Raum und Zeit, von Zweck
und Ursache, Kausalität, Gesetzhchkeit, Zufall und Notwendigkeit, Kraft,
Energie und Materie und Richtung. Der zweite Teil gibt Reinkes Theorie
des Organischen. Er behandelt das Wesen des Lebens (Finahtät im Reiche
der Organismen, die Maschinentheorie, die Dominanten), Ursprung des
Lebens, Reinkes Stellang zur Entwicklungstheorie, Psychisches, Reinkes
Neovitalismus. Der dritte Teil ist der Naturphilosophie und der Gottes-
idee gewidmet. Ein Namen- und Sachregister bildet den Schluss des mit
grosser Belesenheit gearbeiteten Buches.
Würzburg. Prof. Dr. R. Stiilzle.
Psychologie.
Von der Seele. Erster Teil: Von der Seele. Von Broder
Christiansen. Berlin 1912, Behr.
Der Vf., der durch seine Schriften : Philosophie der Kunst, Erkenntnis-
theorie und P.sychologie des Erkennens, das Urteil bei Descartes, Kant-
kritik, sich einen Namen auf philosophischem Gebiete erworben hat, übt
in dieser neuen Schrift scharfe Kritik an den Bewusstseins- und Immanenz-
philosophen, die, insoweit sie der herrschenden Monopohsierung des Be-
wusstseins entgegentritt, sehr am Platze ist, freilich zu weit geht, indem
sie das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Br. Christiansen, Von der Seele. ' 189
Er resümiert seine Kritik in folgenden Sätzen:
„Unser Weg war gegen die Mythen des Selbstbewusstseins gerichtet:
gegen das Vorurteil, Selbstbewusstsein sei unmittelbar gegeben und jedem
psychischen Phänomen verknüpft - wir fanden hingegen, dass Selbst-
bewusstsein einer Kette von Vermutungen bedarf und darum oft ausbleibt ;
gegen das Vorurteil, das Psychische werde anschaulieh gegeben — wir
fanden an keiner Stelle eine Möglichkeit der Intuition, wir erfahren von
keinem Stück des Seelischen die anschauliche Qualität, weder vom Vor-
stellen noch vom Urteilen, noch vom Vergleichen, noch vom Wollen, noch
von sonst einer Regung der Seele selbst erleben wir eine qualitative Be-
stimmtheit ; gegen das Vorurteil, das Selbstbewusstsein sei von untrüglicher
Gewissheit — denn nicht einmal jene berühmte Unbezweifelbarkeit des
Zweifels bleibt bestehen, denn der analytische Satz ,wer zweifelt, der
zweifelt' trifft nicht zu: Einer kann zu zweifeln meinen und ist schon im
Glauben, wie umgekehrt einer seine Zweifel überwunden glauben kann und
noch in ihnen befangen ist; gegen das Vorurteil, das Selbstbewusstsein sei
das Urbild alles Wissens vom Psychischen, und was wir als fremde Seele
annehmen, sei nur Nachzeichnung; denn wir fanden, dass das Selbst-
bewusstsein sich nicht vollendet ohne das Du, dass das Bewusstsein des
Vorstellens sich erst am Fremdsubjekt entwickelt und von hier zurück-
getragen wird aufs Ich . . . das ist die Summe unserer Negationen".
„Dem stellen wir positiv entgegen, dass alles Selbstbewusstsein, wie
alles Wissen vom Psychischen überhaupt, eine konstruierende Erfahrung
ist: von unserem Vorstellungsleben wissen wir nur, soweit als wir es
konstruieren nach Massgabe der vorgestellten Objekte und der objekt-
bezeichnenden Worte; von unserer inneren Aktivität wissen wir nur, so
weit wir sie konstruieren können nach dem Mass unserer äusseren Hand-
lungen oder ihrer Wirkungen".
Diese Behauptungen sind so exorbitant, dass sie einer Kritik nicht
bedürfen. Auffallend aber ist doch, dass der radikale Reformator die so
wichtige Unterscheidung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein nicht kennt.
Vom Selbstbewusstsein, welches das eigene Ich direkt zum Gegenstande
hat, kann man wohl sagen, dass es nicht unmittelbar anschaulich gegeben
ist, wir müssen es erst aus dem Icherlebnis, in dem es eingeschlossen ist,
getrennt herausheben. Dazu ist aber nicht nötig, es als Gegensatz zum
Du zu lassen, sondern es reicht der Gegensatz zum Erlebnis hin. Be-
stimmter wird es freihch durch das Du. Was aber das direkte Bewusst-
sein anlangt, so ist es bei jedem bewussten Seelenakte sehr anschauhch
vorhanden, freilich nicht in dem Sinne einer Farbe, eines Tones, oder eines
.sonstigen Objektes. Der Schmerz, die Lust, die Angst stehen doch sehr
anschaulich vor unserer Seele, des Hörens, Sehens, Vorstellens wird man
sich als seines Hörens, Sehens inne. Freilich ist die ganze Aufmerksamkeit
so auf das Gesehene, Gehörte gerichtet, dass wir auf das damit verbundene
Philosophisches Jahrbuch 1913. 13
idO G. Gnlberlet.
Bevvusstsein erst besonders unsere Aufmerksauikeit richten müssen, um
uns dessen inne zu werden.
Unter Umständen nimmt das Objekt so ganz und gar unsere Auf-
merksamkeit in Anspruch, dass das subjektive Bewusstsein ganz ausbleibt.
Diese Fälle unterscheiden wir aber ganz deutlich von denen, da wir mit Be-
wu.sst.sein uns etwas vorstellen, oder eigens auf das subjektive Moment
achten. Es gibt sogar Fälle, wo das subjektive Bewusstsein uns ganz und
gar in Anspruch nimmt, wie z. B. bei heftigen Schmerzen.
Doch hören wir die Beweise des Vf.s, sie zeigen deutlich die Miss-
verständnisse inbezug auf das unmittelbare Bewusstsein, zugleich aber auch,
dass er nicht das eigentliche Selbstbewusstsein, sondern das direkte
Bewusstwerden, den inneren Sinn versteht.
„Wenn ich versuche, mich selbst innerlich wahrzunehmen, so finde
ich die Stelle leer, an der jener Theorie gemäss qualitative Bestimmtheiten
gegeben sein müssten. Ich treffe wohl sinnliche Qualitäten, die aber Eigen-
schaften der Aussendinge umgeben, nicht der Psyche, vielleicht das Gelb
einer Zitrone, das Rot einer Rose ; das Bewusstsein aber, dessen anschau-
liche Eigenschaften ich suche, ist weder rot noch gelb. Denn nicht das
Gelb, sondern das Gelb-Vorstellen ist das Psychische. Ich suche nach
Qualitäten, die das Gelb-Vorstellen beschreiben, und finde keine. Welches
ist die anschauliche Beschaffenheit des Vorstellens ? Wie unterscheidet sich
anschaulich das Gelb-Vorstellen vom Gelb ? Wäre Selbstwahrnehmung mög-
lich, so müsste ich das Vorstellen anschauen können. Ich müsste eine
Qualität finden, die sich zum Vorstellen so verhält, wie das Gelb zur
Zitrone, solche ist nicht vorhanden".
Offenbar nimmt der Vf. anschauen im Sinne von sehen ; allerdings
sehen können wir uns und unseren subjektiven Akt nicht. Versteht man
aber darunter ein unmittelbares Wahrnehmen, so ist dasselbe gerade so
gegeben, wie beim Sehen des Rot, des Gelb. Denn es fehlen durchaus
nicht die qualitativen Bestimmtheiten, wobei freilich die quantitativen eine
wichtige Rolle spielen; denn je intensiver ein psychischer Akt, namentlich
ein Gefühl, um so stärker drängt es sich unserem Bewusstsein in seiner
qualitativen Bestimmtheit als Angst, Furcht, Leid usw. auf; wir können
freilich keine qualitativen Merkmale dieses Bewusstseins angeben, wir können
sie nur erleben. Aber ist es denn anders mit Gelb, Rot? Wir können
Farben nicht definieren, sondern müssen die Mitmenschen auf das klare
Erlebnis verweisen, das bei ihnen ebenso vorausgesetzt wird wie bei uns.
Kann es denn ein bestimmteres Wahrnehmen geben, als die unmittelbare
Geruchs-, Geschmacks-, Sehmerzempfindung V Bei letzterer ist das Objekt
oft ganz ausgeschlossen, und das Ich in seinem Leiden tritt allein ins Be-
wusstsein.
Freilich verwechselt der Vf. wieder das Bewusstsein mit dem Selbst-
bewusstsein, wenn er erklärt :
Br. Christiansen, VW der Seele. i9l
„So betonen wir denn, dass es sich für uns handelt um die Genesis
des Selbstbewusstseins, nicht des Bewusstseins. ich weiss nicht, ob es
überhaupt einen Sinn hat, nach dem Aufkommen des Bewusstseins zu
fragen; jedenfalls ist es nicht unsere Frage, wir suchen nicht, wie das
Psychische, sondern wie das Wissen vom Psychischen entspringt. Wir
fragen, ... wie hat das Subjekt Bewusstsein vom Bewusstsein? Und wenn
wir die AnschaubarkeiL des Psychischen verneinen, so sagen wir nicht, das
Subjekt habe keine Anschauung, und niclit, die Anschauung sei nicht
psychisch, sondern nur dieses, dass es den psychischen Akt des Anschauens
in keiner Weise wieder anschauen kann, und dass es keine Qualität findet,
die das Bewusstsein, das Vorstellen, das Anschauen fundamental beschreibt".
Dass das Bewusstsein vom Bewusstsein nicht anschaulich ist, dass wir
die Anschauung nicht wieder anschauen können, geben wir gerne zu, das
ist aber eine Leistung, die nicht einmal das Selbstbewusstsein ver-
langt. Denn unser Ich schauen wir wirklich in unserem Schmerz, un-
serem Vorstellen, nur nicht für sich, sondern in dem Komplexe des Ich-
erlebnisses. Dies bedarf keiner so mähevollen Reflexion, wie das Be-
wusstsein vom Bewusstsein, die Anschauung von der Anschauung. Eine
solche ist überhaupt aussichtslos.
Ebenso trifft der Satz : „Wer zweifelt, der zweifelt" nicht das Bewusst-
sein oder das Selbstbewusstsein, sondern er ist ein metaphysisches Axiom,
das aber auch nicht „konstruiert" zu werden braucht, sondern unmittelbar
evident ist nach dem Satz der Identität : A =^ A. Mit diesem Satze wider-
legt man den allgemeinen Zweifler, indem man ihm entgegenhält, dass,
wenn er an allem zweifelt, doch dieser Zweifel ihm gewiss ist. Dass er
unmittelbares, sicheres Bewusstsein von seinem Zweifel habe, setzen wir
dabei voraus, indem wir überzeugt sind, dass seine Psyche gerade so orga-
nisiert ist wie die unsrige. Wir sind von der Existenz unseres Zweifels
unmittelbar und unwiderstehbar bewusst, ebenso wie wir unmittelbar von
unserer Gewissheit überzeugt sind, was Vf. nur im Widerspruch mit sich selbst
in Abrede stellen kann. Denn ihm sind doch die Aufstellungen über die
Trüglichkeit des Selbstbewusstseins gewiss, das muss man wenigstens an-
nehmen, weil er sie mit solcher apodiktischer Zuversicht vorträgt. Wie
hat er diese Gewissheit erlangt? Durch Konstruktionen. Hatte er von den
einzelnen Momenten dieser Konstruktionen unmittelbare Gewissheit durch
das Bewusstsein, oder mussten wieder Konstruktionen helfen ? In ersterem
Falle stösst er seine Fundamentalthese um, im anderen Falle musste die
Konstruktionsmethode wieder durch Konstruktionen zur Gewissheit gebracht
werden usw. Damit wird ein processus in infmitum, ein schlechthin un-
vollziehbarer Prozess statuiert.' Mit anderen Worten : Ohne Untriiglichkeit
des Bewusstseins gibt es keine Gewissheit.
In der Herabsetzung des Selbstbewusstseins gehl der Vf. so weit, dass
er dasselbe zum Teil von der Kenntnis fremder Seelen ableitet; da
J3*
192 Jos. Fröbes.
wir durch Anschauung vom Innern unserer Mitmenschen absolut nichts
wissen können, beurteilen wir sie nach unseren Erlebnissen. Nicht minder
exorbitant ist die Behauptung, aus unseren äusseren Handlungen erführen
wir unser Inneres. Das mag bei unüberlegten, rein automatisch ablaufenden
Prozessen der Fall sein : aber im Grunde fehlt dann das Bewusstsein.
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
Elements de Psychologie experimeutale. Par J. de laVaissiere
S. J. 1912! Paris, Beauchesne. XIV und 382 S.
Vaissiere teilt den Stoff der experimentellen Psychologie in eine längere
Einleitung und 13 Kapitel. Ein UeberbUck über die Stoffanordnung darin
mag uns zeigen, wie er sein Thema versteht.
Die Einleitung (1 — 34) gibt Definitionen und Teilungen, einen Ueber-
blick über die Geschichte der experimentellen Psychologie nach Sprach-
gebieten geordnet, wobei begreiflicher Weise der französischen Literatur,
besonders Ribot, ein breiterer Raum geboten wird. Recht gut werden die
allgemeinen Methoden der Psychologie, die Selbstbeobachtung, Fremd-
beobaehtung, Experimente, Fragebogenmethode usw. dargelegt. Die An-
gaben über die quantitative Seite der Experimente halten sich freiUch nur
in Andeutungen, aus denen man deren ganze Bedeutung kaum ersehen kann.
Kapitel 1 behandelt die Tierpsychologie, besonders die beiden Fragen :
Haben die Tiere sinnliche Erkenntnis, haben sie Verstand? Zur Prüfung
der sinnlichen Erkenntnis wird das reiche Inventar der Labyrinthe, ver-
schliessbaren Kästen, Dressurleistungen herangezogen und gewürdigt. Da.s
einzige, was man hier beanstanden könnte, ist die Stellung dieses Kapitels
an den Anfang. So passend das in einer spekulativen Psychologie ist, wo
die Kenntnis der Tatsachen vorausgesetzt wird, so entspricht es der empi-
rischen Psychologie wohl eher, sie als Anhang der allgemeinen mensch-
lichen Psychologie zu geben. Denn die Erklärung der tierischen Tätigkeiten
setzt notwendig eine Menge recht komplizierter Begriffe voraus, die in der
empirischen Psychologie vom elementarsten ausgehend abgeleitet werden
sollen.
Kapitel 2 ist im ersten Teil (60 — 97) den Sensationen gewidmet. Es
behandelt auf diesem kurzen Raum nicht bloss die Empfindungen, sondern
auch die Wahrnehmungen, die psychologische Methodik, die Psychometrie :
also dasjenige, was in einer experimentellen Psychologie oft die Hälfte der
ganzen Abhandlung einzunehmen pflegt. Aus Einzelheiten sei notiert, dass
der Schmerzsinn verworfen wird, desgleichen die statischen Empfindungen
als Empfindungen. Die Gesiehtswahrnehmung wird auf 4^2 Seiten abge-
macht. Der Schluss davon : „Wir bedienen uns unserer Gesichtslinien wie
ein Blinder seines Stabes, um die Umgebung zu erforschen", ist sicher
J. de la Vaissiere, Element? de psyohologie experimentale. 193
keine genügende Lösung dieses viel diskutierten Problems. Der Tastraum
wird auf den Gesichtsraum zurückgeführt. - Betreffend der Intensität der
Empfindungen schhesst sich Verfasser Bergson an, dass es dort ein Mehr
oder Weniger nicht gibt, sondern dies nur vom Reiz ausgesagt werden kann.
Noch weniger könne die Sensation gemessen werden. Er verwirft dem-
entsprechend die Fechnersche Psychophysik, jede Idee einer Massformei,
ja selbst die Möglichkeit, das Mittel zwischen zwei Empfindungen zu finden.
Betreffend der psychophysischen Messungen denkt er sehr skeptisch. Nicht
einmal die Dauer eines psychischen Vorganges sei einer Messung fähig.
Der zweite Teil des Kapitels behandelt in ansprechender Weise alle
Fragen, die man betreffend der Vorstellungen aufzuwerfen pflegt: dass sie
von den Empfindungen nicht spezifisch verschieden sind ; an welchen
Kriterien Phantasie und Wirklichkeit unterschieden wird; der Sitz der
Empfindungen und Vorstellungen; die Aufbewahrung der Erfahrungen, auf
Grund der pathologischen Erfahrungen der Amnesie ; die Veränderung der
Bilder mit der Zeit; die Kriterien des Wiedererkennens. Er ist der Ansicht,
es gebe keine eigentlichen Sinnestäuschungen, da von uns nur das Objekt
in der Netzhaut wahrgenommen werde.
In einem kurzen Kapitel über die Gefühle wird besonders die Unter-
suchung Külpes über die Unmöglichkeit von Gefühlsvorstellungen besprochen.
Das folgende behandelt die Abhängigkeit der Bewegung von den Vor-
stellungen, nebst Ausblicken auf das Gedankenlesen usw.
Lesenswert sind die Ausführungen im 5. Kapitel über die Triebe
(196 — 240), besonders über die Instinkte beim Menschen, die Interessen
des Kindes, die Gesetze der Entwicklung der Tendenzen. Sehr glücklich
werden dabei die Erfahrungen beim Erdbeben von Messina verwertet.
Interessant sind auch die Tierexperimente über den Zusammenhang der
Gefühle mit gewissen Organempfindungen.
Kapitel 6 (241—262) betrifft das Unbewusste. Das Traumleben würde
man unter diesem Titel vielleicht nicht erwarten: desto mehr die Er-
fahrungen über doppelte Persönlichkeit, automatische Schrift und ähnliche.
Im Kapitel über Verstandeserkenntnis (263 — 280) wird der Gegensatz zur
Phantasietätigkeit erklärt, mit Benutzung der Arbeiten der Würzburger
Schule. Wenige Seiten sind den intellektuellen Gefühlen gewidmet. Die
Willensvorgänge werden nach den neuesten Arbeiten von Ach und Michotte
gewürdigt. Bei Behandlung der Ekstase wird der Gegensatz der katholischen
Mystiker und der Hysteri.schen hervorgehoben, die man heute vielfach in
Parallele setzt.
Kapitel 11 behandelt die „transzendenten Phänomene", wie sie der Ver-
fasser nennt, d. h. diejenigen, die über die gewöhnlichen bekannten Natur-
gesetze hinausgehen. Die Untersuchungen von James über die religiöse
Erfahrung werden eingehend diskutiert. Die Zeugnisse für wahre Tele-
pathie erscheinen Vaissiere nicht beweiskräftig, wenigstens nicht zum Er-
194 Jos. Fröbes.
weis eines Naturgesetzes auf diesem Gebiet. Ebenso steht er den mediu-
misfipchen Erscheinungen skeptisch gegenüber. Es folgt ein kleines Kapitel
über die individuelle Psychologie, Charakter, Temperament, die auf diesem
Gebiet herrschenden Methoden, die verschiedenen Charakterteilungen, die
Frage seiner Ausbildung usw.
Den Schluss bilden einige recht brauchbare Tabellen: eine Einteilung
der Arten der Psychologie nach Titchener, die Intelligenzprüfung der
Kinder nach Binet, eine Klassifikation der psychischen Funktionen nach
.Janet, drei verschiedene Teilungen der Geistesstörungen nach Binet, Marie
und Kraepelin. Und endlich eine sehr reichhaltige Literaturangabe zu den
einzelnen Kapiteln (gegen 30 Seiten), die ermöglicht, alle berührten Fragen
zu vertiefen.
Wie schon diese Uebersicht erkennen lässt, bietet das Buch ein ausser-
ordenthch reiches Material über die verschiedensten Gebiete der allgemeinen
Psychologie sowohl wie mancher Anwendungsgebiete, besonders der patho-
logischen. Das Angreifbarste ist wohl der Titel des Buches. Wir ver-
stehen unter experimenteller Psychologie, wie die Analogie mit der experi-
mentellen Physik und die Praxis der besten Lehrbücher (Ebbinghaus,
Titchener, Wundt, James, Lehmann, Witasek. . .) zeigt, einen syste-
matischen Aufbau von unten an, eine besonders eingehende Behandlung
der Elemente, der Empfindungen, Wahrnehmungen, Assoziationen nach ihren
genauen, wenn möglich quantitativen Beziehungen, um daraus, so weit es
möglich ist, die komphzierteren Phänomene zu erklären und abzuleiten.
Die pathologische Methode ist eine wertvolle Ergänzung dieser Deduktion,
aber immer nur eine sekundäre. Die Resultate sind einstweilen elementar,
aber, was den Kenner für alles andere entschädigt, ein sicheres solides
Fundament.
Der Verfasser stellt sich ein anderes Ziel. Für ihn ist, wie das in
Frankreich vielleicht am Platz ist, die experimentelle Psychologie eher eine
medizinische, physiologische Psychologie im Sinn von Janet und besonders
Ribot. Die Elemente, Empfindungen, Wahrnehmungen werden ziemlich
flüchtig gestreift. Beispielsweise kommt das Gesetz der identischen Seh-
richtungen, das bei der Gesichtslokalisation eine solche Rolle spielt, nicht
einmal dem Namen nach vor; der Name Herings, des unübertroffenen
Meisters der p.-:ychologischen Optik, fehlt bezeichnender Weise im Index
völlig. Die eigentliche Psychophysik, die Intensitätsmessung wird wegdisku-
tiert, die psychologischen Methoden werden nur flüchtig erklärt. Von der
exakten Gedächtnisforschung der letzten drei Jahrzehnte, auf der heute die
ganze Assoziationslehre, das Fundament der sinnhchen Psychologie, ruht,
ist so gut wie keine Rede. Das Schwergewicht der Darstellung liegt statt
dessen auf den komplizierteren höheren psychischen Prozessen, den Vor-
stellungen in ihrer normalen und pathologischen Erscheinung, dem Trieb-
leben, der Charakterforschung, den transzendenten Phänomenen usw. Die
J, de la Vaissiere, Elements de psychologie experirnentale. 195
Erklärungen sind qualitativer Natur, mit besonderer Berücksichtigung der
pathologischen Fälle. Es ist etwa vergleichbar einer populären Physik,
welche die Mechanik mit ihren allgemeinen Formeln nur kurz streift, und
das Hauptgewicht auf die anziehenderen elektrischen und optischen Er-
scheinungen legt. Sicher wird niemand die Existenzberechtigung derartiger
Darstellungen bestreiten, und vielleicht haben manche derselben mehr
Interesse an der Wissenschaft geweckt, als andere hochgelehrte, mathe-
matisch ausgerüstete Deduktionen. So mag man sich auch der schönen,
interessant geschriebenen Darstellung de la Vaissieres erfreuen und sie als
eine wertvolle Bereicherung unserer Literatur anerkennen. Nur darf man
darin nicht die experimentelle Psychologie sehen, die exakte naturwissen-
schafthche Lehre, welche für die scholastische Philosophie als positive
Tatsachengrundlage gefordert werden muss.
Valkenburg (Holland). c Jos. Fröbes S. J.
Geschichte der Philosophie.
Die Lehre Anselnis von Caiiterbury über den Willen und
seine Wahlfreiheit. Von Dr. Franz Baeumker (Beiträge
zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Bd. 10 Heft 6).
Münster i. W. 1912. VIII, 78 S. 2,75 A
Nachdem jüngst J. Fischer über die Willenslehre An sei ms kurze,
aber interessante Mitteilungen gemacht hatte ^), musste man den Wunsch
hegen, dass sich des Gegenstandes eine eindringendere Untersuchung be-
mächtige. Franz Baeumker hat sich dieser dankenswerten Aufgabe unter-
zogen und ist den unserm modernen Bewusstsein grossenteils so unge-
wohnten Gedankenwegen des mittelalterlichen Theologen nach allen Seiten
und mit grosser Sorgfalt gefolgt. Interesse weckt vor allem die Tatsache,
dass Anselm vom Willen als Vermögen oder Kraft angestammte Willens-
neigungen unterscheidet. Wie bei anderen Seelenkräften wird zwischen
Potenz und Akt ein drittes Glied eingeschaltet, eine aptitudo oder affectio,
eine unmittelbare Tendenz zur Tätigkeit, eine Willensrichtung. Als
solche dem Willen von Natur eigene Tätigkeitsrichtungen gelten zwei, der
Wille zum Guten und der zum Angenehmen, der Wille zur Rechtschafien-
heit und der zur Seligkeit. Weitaus das Hauptaugenmerk des Scholastikers
ist jedoch der Freiheit zugekehii, welche definiert wird als Fähigkeit, die
Rechtschaffenheit ihrer selbst willen zu bewahren. Eine auffallende Be-
stimmung. Klar ist ohne weiteres, dass sie in keiner Weise an aristo-
telische Gedanken erinnert, vielmehr Erwägungen theologischen Charakters
') Die Erkenntnislehre Anselms von Cantei'bury. Münster i. W. 1912
(„Beiträge" Bd. 10 Heft 3).
196 M. W ittinann.
zur Voraussetzung haben muss. A. will besonders jener Auffassung
widersprechen, welche die Freiheit in die Fähigkeit zu sündigen legt;
nicht die Fähigkeit zu sündigen, macht die Freiheit aus, da sonst Gott
und die Engel ohne Freiheit wären, sondern umgekehrt gerade die Fähig-
keit die Rechtschaffenheit zu bewahren. Auch noch andere theologische
Reflexionen scheinen mitzuwirken. Wie einleuchtet, ist die Definition zu
eng, dass aber der Gedanke einer wirklichen Willensfreiheit bei A.
vollauf zur Geltung kommt, ist nicht zweifelhaft. Die Verteidigung der
Willensfreiheit gegenüber mannigfachen Schwierigkeiten nimmt einen weiten
Spielraum ein. Naturkausalität und Freiheit werden hierbei einander scharf
gegenübergestellt. Im übrigen sind auch hier wesentlich theologische Ge-
sichtspunkte massgebend, wie der Gedanke an göttliche Allwissenheit und
Vorherbestimmung.
Was die Quellen dieser Willenslehre angeht, so wird offenbar mit Recht
vor allem auf Augustin verwiesen. Wenn daneben schon Domet de
Vorges, abgesehen von Cicero und Virgil, auch Aristoteles an-
führt, so unterüegt es keinem Zweifel, dass die Berührung mit dessen
Gedankenwelt höchstens eine ausserordenthch lose und entfernte sein kann.
Geschichtliche Bedeutung erlangt A.s Willenslehre zunächst dadurch,
dass sie auf Honorius Augustodunensis starken Einfluss gewinnt.
Möge der Verfasser das Vorhaben, dieses Verhältnis zu klären, zur Aus-
führung bringen und so bald wieder einen verdienstvollen Beitrag zur Er-
forschung der mittelalterUchen Philosophie liefern.
Eich statt. Prof. Dr. M. Wittmami.
Die philoso])hi8chen Werke des Robert Grosseteste, Bischofs
von Lincoiii. Von Prof. Dr. Ludwig Baur (Beiträge zur Ge-
schichte der Philosophie des Mittelalters. Herausgegeben von
Gl. Baeumker in Verbindung mit Gg. Frhrn. v. Hertling
und Matthias Baum gar tn er). Münster 1912, Aschendorff.
Bd. IX. XIII, 182*, 778 S.
Hat uns Baur früher schon mit einem grösseren und sehr gediegenen
Werke zur Philosophie des Mittelalters beschenkt, so tritt er dieses Mal
mit einem ungewöhnlich umfangreichen, nahezu 1000 Seiten umfassenden
„Beitrag" an die Oeffentlichkeit. Eine Gesamtausgabe der philosophischen
Schriften Grossetestes wird uns geboten. Lagen einzelne dieser Schriften
schon aus früheren Zeiten gedruckt vor, so waren sie einerseits ausser-
ordentlich selten geworden und wiesen andererseits äusserst entstellte Texte
auf. Die Herstellung einer vollständigen und kritischen Ausgabe hat eine
gewaltige Arbeit verschlungen. Dies schon deshalb, weil es bisher an
einem genügenden bibliographischen Fundamente in jeder Beziehung
Iv. Baur, Die philos. Werke des Robert Grusseteste. 197
mangelte, für jedes Werk vielmehr der handschriftliche Sachverhalt §rst
zu ermitteln war. So oft auch die vorausgehenden Jahrhunderte einen
Anlauf genommen haben, die Werke Grossetestes zu katalogisieren, durch-
weg ist die handschriftliche Sicherstellung unvollständig geblieben. Mehrere
Aristoteleskomm enfare, für welche G. auf Grund eingehender Fest-
stellungen vor allem in Anspruch genommen wird, erweisen den mittel-
alterlichen Theologen als guten Kenner des antiken Philosophen. Die Kom-
mentare zu den Handschriften des Pseudo-Dionysius Areopagita sodann
liefern den Beweis, dass G. des Griechischen so weit mächtig ist, dass er
den Urtext fortwährend zu Rate zieht. Doch scheint er sich diese Ver-
trautheit mit der griechischen Sprache erst in späteren Jahren erworben
zu haben. Von Bedeutung ist, dass er für das Uebersetzen ein philo-
logisches Programm aufgestellt hat, dessen Grundsätze von Roger Bacon
aufgenommen und weiter entwickelt wurden. Die Anregung ist also in
dieser Hinsicht nicht von Roger Bacon, sondern von G. ausgegangen. Die
selbständigen Schriften Grossetestes sind zum grossen Teil naturphilo-
sophischen Inhalts. Mehrere erfreuten sich, wie die grosse Anzahl der
Handschriften beweist, im Mitlelalter einer weiten Verbreitung. Der Ab-
handlung „lieber das Licht" (oder der Anfang der Formen) sichert der neu-
platonische Charakter, eine Art dynamischer Atomismus und eine eigen-
tümhche Zahlenmystik, ein besonderes Interesse. In einem andern Schrift-
chen wird einem mathematischen Aufbau der Naturphilosophie das Wort
geredet. Auch den metaphysischen Fragen ist G. nicht aus dem Wege
gegangen. Zu den bekanntesten und verbreitetsten Abhandlungen gehört
« in dieser Beziehung der Traktat „De unica forma ommiim". Es handelt
sich um eine Frage, mit der sich das Mittelalter im Hinbhck auf pan-
theistische Strömungen intensiv beschäftigt hat, ob nämlich und in welchem
Sinne Gott als universelle Form bezeichnet werden kann. G. hält den
Satz, dass Gott forma et forma omnium sei, grundsätzlich für richtig, deutet
ihn aber ganz im Geiste Augustins. Nicht im Sinne der Pantheisten ist
Gott als Form aller Dinge zu bezeichnen, sondern im Sinne des christ-
hchen Exemplarismus: So wie die künstlerische Idee oder Konzeption die
Form des Kunstwerkes bildet, so kann auch Gott die Form der Dinge
heissen. Der Geist Augustins waltet auch in „De veritate". Eingehend
wird darin erörtert, inwiefern der Wahrheitserkenntnis auch im Hinblick
auf bloss Tatsächliches eine Notwendigkeit anhafte. Einen stark neu-
platonischen Einschlag wieder hat „De ordine emanandi causatomm a
Deo". Grösseren Umfangs ist die hauptsächlich von Augustin und Anselm
beeinflusste Schrift über die Willensfreiheit, der in der Felge Thomas
Rradwardinus vieles entlehnt hat Bleibt die Autorschaft bei einigen Schriften
zweifelhaft, so werden andere, die bisher dem englischen Theologen zuer-
kannt wurden, als unecht erwiesen ; so die von PrantI als echt angesehenen
„Syncategorematica" .
198 R. Stölzie.
Eine eigenartige Sache ist es mit der sehr umfangreichen ,,Sumina
phüosophiae"^ welche fast allgemein unter den Werken Grossetestes auf-
gezählt, jedenfalls immer wo sie genannt wird, ihm zugeteilt wird. Sie ist
eines der bezeichnendsten und interessantesten Werke der Oxforder Schule
des 13. Jahrhunderts. Die englische Herkunft ist zweifellos ; und nicht
wenige bedeutsame Umstände weisen auf G. hin. Dennoch kann er, wie
Baur auf äussere und innere Gründe hin konstatiert, der Verfasser nicht
sein. Sehr dankenswert ist, dass das Werk gleichwohl der Oeffentlichkeit
übergeben wird. Die positive Lösung der Autorfrage wird Baur anders-
wo bringen.
Die Handschriften, auf Grund welcher Baur die Texte hergestellt hat
— im Ganzen 40 an der Zahl - , sind eingehend beschrieben und ge-
würdigt ; das Filiationsverhältnis wurde durchgehends so weit als nur immer
möglich verfolgt.
So bedeutet das vorhegende Werk in der Erforschung der mittel-
alterlichen Philosophie eine hervorragende Tat. Ein weiteres Eingehen auf
den Inhalt der veröffentlichten Schriften darf um so mehr unterbleiben, als
der Herausgeber selbst eine Untersuchung in Aussicht stellt; eine Unter-
suchung, die mit Spannung erwartet werden darf und über eine besondere
Strömung der scholastischen Philosophie sicher ganz neues Licht ver-
breiten wird.
Eich statt. Prof. Dr. M. Wittmaun.
Verschiedenes.
Aus der Werkstatt der philosophia peremiis, Gesammelte
philosophische Schriften. Von Dr. Otto Willmann. Freibnrg
1912, Herdersche " Verlagsbuchhandlung V und 311 S.
Willmann ist unermüdhch an der Arbeit, die theistisch- christliche
Weltanschauung als die allein wahre zu erweisen gegenüber dem Chaos
der Privatsysteme moderner Philosophen. Ueberall geht er darauf aus, zu
zeigen, dass bei aller Anerkennung des Guten, was moderne Philosophen
im einzelnen leisten, die Prinzipien wahrer Philosophie nur bei den
Alten, d. h. bei Plato, Aristoteles und Thomas v. Aquin, zu suchen und zu
finden sind. Das ist der Grundton, auf den diese gesammelten Aufsätze
zur Wissenschaftslehre, zur Philosophiegeschichte, zu den Streitfragen der
Gegenwart, zur theoretischen und zur praktischen Philosophie gestimmt
sind. Eingehende Kenntnis der neuen imd alten und mittelalterlichen
Philosophie befähigt den Verf., überall alte und neue Philosophie zu ver-
gleichen und das Wahre, Haltbare In geistvoller und anziehender Welse
herauszustellen. Mag Wlllmann die religiöse Grundlage der Wissenschaft,
die methodische Empirie als Wegweiser zum Theismus, die katholisch«
(). Willmann, Aus der Werkstatt der philosophia perennis. 199
Wahrheit als Schlüssel zur Geschichte der Philosophie betrachten, mag er
christliche Philosophie und modernes Philosophieren, Thomismus und
Kantianismus, Kultur und Katholizismus einander gegenüberstellen, oder
mag er die modernen Gottsucher, das moderne Geistesleben, Hauptprobleme
der Metaphysik, Naturrecht und Soziologie, pädagogische Psychologie be-
leuchten — immer ernten wir aus der Lektüre dieser auch formschönen
Darlegungen reiche Belehrung und Vertiefung; Willmann haftet nirgends
an der Oberfläche, sondern geht den Problemen auf den Grund und findet
Beruhigung und Befriedigung für sein Denken nur im Theismus. Wir
empfehlen die Lesung dieser gehaltvollen Aufsätze allen philosophisch
Interessierten.
Würzburg. Prof. Dr. R. Stölzle.
Zeitschriftensehau.
A. Philosophische Zeitschriften.
IJ Archiv für die gesamte Psychologie. Herausgegeben von
E.Meumann und W. Wirth. Leipzig 1912.
25. Bd.. 1. und 2. Heft : W. Haucker, Ueber LeruA ersuche bei
Axolotlen. S. 1. „Es wurde versucht, die Frage zu beantworten, ob und
inwieweit sich die Tiere bei der Nahrungsaufnahme täuschen lassen, und
ob etwaige üble Erfahrungen eine Nachwirkung zeigen ?" Es wurden ihnen
4 cm lange Fleischstreifen und dazwischen ähnliche Holzstücke verabreicht.
„Es zeigte sich nun zunächst, dass sämtliche erwachsene Tiere sich an
den ersten Versuchstagen öfters, zum Teil bis zu 20nial hintereinander
durch Holz täuschen liessen, dass sie aber früher oder später lernten, auf
den Unterschied von Holz und Fleisch zu achten, und dass, wenn einmal
diese Unterscheidung gemacht worden war, ziemlich gleichmässig an ihr
festgehalten wurde. Aber es zeigten sich recht beträchtliche individuelle
Verschiedenheiten sowohl inbezug auf die Zahl der Täuschungen (Fleisch-
reaktionen, positive Holzreaktionen) in den ersten Tagen, d. h. in der eigent-
lichen Lernperiode, als auch hinsichtlich der Häufigkeit der Rückfälle im
weiteren Verlauf des Versuchs". Die individuellen Verschiedenheiten lassen
sich auf 3 Typen zurückführen. — P. Schilder, Ueber autokluetische
Empfindungen. S. 36. Exner hat behauptet, dass die Wahrnehmung
von Bewegungen auf einem besonderen psychischen Inhalt beruht, und
Lasersohn hat die Gründe dafür zusammengestellt, unter anderen: „Die
Bewegung eines leuchtenden Punktes wird in der Peripherie der Netzhaut
auch dann als solche erkannt, wenn die zurückgelegte Strecke zu klein
ist, um die gesonderte Wahrnehmung zweier an den Endpunkten sitzender
Punkte zu vermitteln", Fiuppert und Basler haben dies konstatiert.
Werthheimer gibt den eigenen Inhalt des Bewegungssehens zu, fasst ihn
aber nicht als Empfindung auf. Vf. knüpft an das schon von Purkinje
und Helmholtz beobachtete Wellenphänomen an. „Fixiert man im Dunkeln
einen leuchtenden Punkt, so beginnt er sich zu bewegen. Ein zweiter
Lichtpunkt hält die Scheinbewegung nicht hintan, schwächt sie aber. Die
Bewegung tritt auch später ein. Bringt man eine grosse leuchtende Fläche
in die Nähe des Lichtpunktes, so sistiert die Scheinbewegung, tritt aber
Zeitschriftenschau. 201
nach längerem Fixieren wieder auf, wenn die leuclitenden Flächen unsicht-
bar geworden sind, durch langdauernde Reizung der gleichen Netzhaut-
stellen. Die Verringerung der Bewegung betrifft nicht die Schnelligkeit,
sondern die Exkursionsweite. Mit Abnahme der Helligkeit nimmt die
Scheinbewegung zu. Der Lichtpunkt kann bis zu 30 » aus seiner ursprüng-
lichen Lage weichen". Dieses Phänomen steht in engster Beziehung zum
Wellenphänomen, worüber Helmholtz berichtet: „Ich bemerkte eine auf-
fallende Formveränderung der geraden hellen und dunklen Linien ... Die
weissen Streuen erschienen zum Teil wellenförmig gekrümmt, zum Teil
perlschnurförmig mit abwechselnd dickeren und dünneren Stellen". Die
Versuche des Vf.s zeigten, „dass das Wellenphänomen nicht zurückgeführt
werden kann auf Augenbewegungen und auch nicht indirekt auf Bewegungs-
nachbilder, die durch Augenbewegungen hervorgerufen sind. Ein sehr
wesentlicher Teil des Wellenbewegungsphänomens geht auf retinale Pro-
zesse zurück: die Formveränderungen, die dem Phänoznen zugrunde liegen.
Zentralere Vorgänge müssen zunächst nur in dem Ausmasse angenommen
werden, als solche für das Nachbild postuliert werden müssen". „Die Zu-
gehörigkeit des von Purkinje und Helmholtz beschriebenen Phänomens zur
Gruppe der autokinetischen ist unzweifelhaft". — J. Sutter, Die Bezieliiing
zwischen Aufmerksamkeit und Atmung. S. 78. „Zusammenfassend
können wir konstatieren, dass als Folge der Aufmerksamkeitsspannung in
der Regel eine Verkleinerung der Tnspirationsdauer (J), und ausnahmslos
eine Verlängerung der Exspirationsdauer (E) auttrilt, welche von der eventuell
vorhandenen Aenderung der Län^e der betreffenden Atemlänge unabhängig
ist Die Verkleinerung des Quotienten J : E ist also die Folge einer
Aenderung in erster Linie der Exspiration, sodann aber in der weit über-
wiegenden Zahl der Fälle auch der Inspiration, und zwar in entgegen-
gesetzter Richtung". Die Atemhöhe zeigt nur eine gewisse Tendenz zur
Verkleinerung ... Die thorakale und die abdominale Atmung separat be-
trachtet zeigen im allgemeinen folgendes Bild: Bei leichter Spannung der
Aufmerksamkeit neigt die thorakale mehr zur Verkleinerung als die ab-
dominale ... Bei mittlerer A-Spannung kehrt sich das Verhältnis um. Sehr
gesetzmässig ist die Beziehung des Verhältnisses J : E., zur Aufmerksamkeits-
spannung. „Die Quotientänderung ist eine direkte Begleiterscheinung der
Aufmerksamkeitsspannung, und zwar in fester Grössenbeziehung zu der-
selben stehend. Die Gesetzmässigkeit tritt ausnahmslos in Erscheinung.
Nach den Kurven ergibt sich als Einfluss der Aufmerksamkeitsspannung:
1. der Quotient J : E verkleinert sich, 2. die Form der Inspiration und Ex-
spiration vergradet sich. 3. Die Uebergänge werden spitzer ... 4. Die
Atemlänge tendiert bei kleineren Graden der Aufmerksamkeit auf Ver-
kleinerung. 5. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann von einer
Tendenz zur Verkleinerung der Atemhöhe gesprochen werden". - Bericht
über den IV. internationalen Kongress für Kunstunterricht, Zeichneu uud
202 J^eitschriftenschaü.
angewandte Kunst, Dresden im August 1913, von E. Schrott er. —
Literaturbericht.
3. und 4. Heft : G. Störring, Experimentelle Beiträge zur Lehre
von den Bewegung;«- und Kräfte mpfindungen. S. 177. Bei den bis-
herigen Versuchen hat man zu wenig die passiven Bewegungen berück-
sichtigt, bei denen doch die Kraftempfindungen ausgeschaltet sind. Nach
Ebbinghaus und Goldscheider soll die Raumauffassung nicht von den Be-
wegungsempfindungen abhängen. Die Befunde des Vf.s widerlegen ihre
Beweisführung. „Die festgestellten Tatsachen sprechen dafür, dass die
Druckempfindungsänderungen hier die erste Rolle spielen". ,,Die Druck-
empfindungsänderungen werden durch Erfahrung so gedeutet, dass sich
dann an sie die Vorstellung einer bestimmten Bewegung anschliesst". „So
können Muskel-, Sehnen- und Gelenkempfindungen indirekt feinere Be-
wegungsschätzungen bedingen, als sie selbst herbeizuführen vermögen!"
Vf. findet, „dass bei motorischer Einstellung eine Unterschätzung der Strecke
eintritt gegenüber sensorischer Einstellung". „Bei Steigerung der Ge-
schwindigkeit kann man allgemein weder von Ueberschätzung noch von
Unterschätzung sprechen". „Daraus lässt sich schliessen, dass die Ansicht
falsch ist, dass unsere Bewegungsschätzungen wesentlich auf Schätzung der
Geschwindigkeit der Bewegung und der Dauer derselben beruhen". Dies
gilt von passiven Bewegungen, bei aktiven sind die Fehlerquellen zahlreicher,
daher eine starke Differenz zwischen aktiver und pas.siver Bewegung. Eine
Tendenz zur Flexion des Armes lässt überschätzen. -- Die bekannten
Gewichtsversuche von Müller und Schumann und die von Dresslar haben zu
der Auffassung geführt, dass für die Vergleichung gehobener Gewichte nicht
so sehr Kraftempfindungen als Anhaltspunkte dienen, als vielmehr die ver-
schiedene Geschwindigkeit, mit der die Gewichte gehoben werden. Aber
es ergab sich, dass 3,7 mal so viel Fehlurteile bei Beurteilung nach der
Geschwindigkeitsänderung zu erwarten gewesen, als wirkhch gemacht sind".
„Es ist die Zahl der Fälle um ein Achtfaches grösser, in denen ein rich-
tiges Urteil gefällt wird, obgleich nach der Geschwindigkeit ein falsches
zu erwarten gewesen wäre, gegenüber den Fällen, wo falsch geurteilt
wird in Uebereinstimmung mit der irreführenden Geschwindigkeitsänderung.
Angesichts dieser Tatbestände ist die Annahme unmöglich, dass die Ge-
schwindigkeitsänderung den besten Anhaltspunkt für die Vergleichung ge-
hobener Gewichte abgibt. Da Jacoby gezeigt hat, dass die Druck-
empfindungen bei der Vergleichung gehobener Gewichte den ausschlag-
gebenden Anhaltspunkt nicht abgeben können, so werden wir als den
besten Anhaltspunkt für die Schätzung die Kraftempfindungen selbst in
Anspruch zu nehmen haben". Auch bei Federspannungen hängt die
Feinheit der Schätzung nicht von Bewegungsempfindungen ab. Es wurden
„die Exkursionsweiten bei den verschiedenen Federn in der Normalleistung
gleich gemacht; wenn nach Bewegungsempfindungen geurteilt würde, so
Zeitschriftenschau. 003
wäre bei den WiederherstelUingsleistungen eine Uebereinstimmung der rohen
mittleren Fehler der Skalenwerte zu erwarten. Der rohe mittlere Fehler
der Skalenwerte war aber sehr viel kleiner bei der starken Feder als bei
der sehwachen". — G. Ansehütz, Tendenzen im psychologischen
Empirismus der Gegenwart. S. 189. Eine Erwiderung auf 0. Külpes
Ausführungen: „Psychologie und Medizin" und „lieber die Bedeutung der
modernen Denkpsychologie". „Um die Lostrennung der Psychologie von
der Philosophie und ihre Verbindung mit der Medizin zu beweisen, benutzt
Külpe einige Arbeiten, so insbesondere die von Binet und Simon, die dar-
tun sollen, wie sehr einerseits den Psychiatern eine bessere Kenntnis der
P.«ychologie nottut, und wie wenig andererseits die Psychologen imstande
sind, pathologisches Material zu verwerten". Der Beweis ist einseitig, aber
aus demselben ergibt sich jedenfalls keine Trennung von der Philosophie.
Ohne Philosophie läuft der empirische Psychologe Gefahr, in die schlimm-
sten Spekulationen zu verfallen. Die Ausführungen Külpes über die Be-
deutung der modernen Denkpsychologie zeigen einerseits, zu welchen
Konsequenzen der einseitig extreme Empirismus führt, andererseits aber,
wie derselbe in sich selbst den Keim zu seiner Auflösung trägt, indem er
trotz seiner vermeinthchen Unabhängigkeit von der Philosophie schliesslich
auf dieselbe zurückleitet". Külpe behauptet, dass die gesamte neuere
Psychologie auf seine Denkpsychologie hinleite. Aber „dass es schon früher
Versuche gab, die Gedankenwelt genauer zu untersuchen, wird nicht er-
wähnt. Die bedeutendsten Leistungen werden ignoriert". Man vermutet,
dass es sich bei ihm nicht „um die Bedeutung der Denkpsychologie handelt,
sondern nur einer". Ueber die Methoden wird nichts gesagt, und das
macht gerade das Wesen der Denkpsychologie aus. „Was hilft aber die
Darlegung der Bedeutung eines nicht streng definierten Etwas". Sie soll
einen günstigen Einfluss auf andere Disziplinen ausüben; dasselbe ist aber
„fast identisch mit dem Einfluss, den nach Marbe die Psychologie auf
ungefähr alle Wissenschaften ausübt". K. weist die engste Beziehung
zwischen Logik und Erkenntnistheorie einerseits und Denkpsychologie
andererseits nach. Und in der Tat sind die Probleme der Logik und
Erkenntnistheorie in dem Material der Denkpsychologie unmittelbar ent-
halten. So ergibt sich also jene eigenartige Diskrepanz: Auf der einen
Seite völlige Trennung der Psychologie von der Philosophie, auf der andern
Seite ihre unmittelbare Berührung, ja ihre gegenseitige Durchdringung.
Wenn die Denkpsychologie einen so überaus aufklärenden Einfluss ausübt,
worin besteht dann der eigentliche Vorteil ? Wird der Logiker lernen, seine
Wissenschaft nur mehr unter dem psychologischen Gesichtspunkt zu be-
trachten? Oder wird die Denkpsychologie uns nur zeigen, dass es auch
eine von ihr unabhängige Logik gibt ... Ist es die Psychologie, die uns
Kunde gibt von einem transzendentalen logischen Gegenstand ? Dürfen wir
überhaupt von einem solchen reden, ist er erlebt, postuliert, oder etwa gar
204 Zeitschriftenschau.
nur konstruiert y Ein Vorteil, den pathologische Untersuchungen der Denk-
psychologie bieten könnten, wird nicht gezeigt. Das Material, auf das Külpe
aufbaut, trägt das gewaltige Gebäude nicht ... Es kann nicht genug betont
werden, „dass gerade in der Psychologie zur Zeit die Strömungen noch zu
verschieden sind, als dass eine einzelne Richtung unternehmen könnte,
unter Nichtbeachtung der andern das Gesamtgebiet der Forschungen für
sich zu beanspruchen". Was die Methode anlangt, „so ist nicht einzusehen,
inwiefern die Entwicklung der Psychologie es mit sich gebracht haben
soll, dass auf einmal vor gut einem Jahrzehnt das Befragen anderer Indi-
viduen aufgetreten ist". Schon Galton versandte Fragebogen über das
Verhältnis von Vorstellen und Denken, „wobei sich schon längst die Tat-
sache des abstrakten Denkens gezeigt hatte, die Külpe erst 1901 entdeckt
werden lässt" und „es ist nicht erkenntlich, wie die Versuche von Müller
und Schumann über das Vergleichen von Gewichten Vorläufer derjenigen
Untersuchungen gewesen sein sollen, die Marbe 1901 mit seinen ,Experi-
mentellen Untersuchungen über das Urteil' inaugurierte. Das Verfahren,
wie wir es bei jenen Autoren finden, steht durchaus im Einklang mit den
psychophysischen Methoden, wie sie von Weber, Fechner und Volkmann
angebahnt waren. Das neue Verfahren, das prinzipiell jedoch schon seit
Galton bestand, steht aber keineswegs in der gleichen Entwicklungs-
richtung". Die spekulative Richtung hat vielmehr nach Wundt die Frage-
methode geschaffen.. Was ihren Wert selbst anlangt, so ist noch längst
nicht entschieden, dass jener Weg der unter Zuhilfenahme der Selbst-
beobachtungen anderer Individuen und unter Verwendung des so gewonnenen
Materials als alleiniger Grundlage für die Einsicht in die psychischen Tat-
bestände notwendig der einzige sei, der zur Erforschung der Denkvorgänge
führt. Ja, es i.st vorläufig nicht einmal erwiesen, dass er hat betreten
werden müssen ... Es bleibt für die Betrachtung nur ein Anhaltspunkt:
jenes Verfahren schien offenbar aussichtsvoller und vor allem bei weitem
einfacher. Aber man vergass dabei, dass die Resultate Gefahr liefen, ein
gar zu wankendes Fundament zu erhalten. Wundt konnte daher jene
Versuche als ,Scheinexperimente' ansehen. Die neue Methode „stützt sich
auf Behauptungen von anderen Personen, deren Wert wir selten kontro-
Ueren können", was schon Wundt und Titchener hervorgehoben haben.
Külpes betreffende Schriften werden von Hellpach für „eine Tat der deut-
schen Psychologie" erklärt mit ,, schlüssiger Beweisführung" und einer „um-
fassenden theoretischen Rechtfertigung'. Aber „da die Zeiten vorüber sind,
in denen der Dogmatismus herrschte, so seien unsere Ausführungen als
Erwiderung auf Külpes .Kundgebung' dem Leser unterbreitet. — W. Poppel-
reuter, Ueber die Ordnung des Vorstelliingsverlaufes. S. 208.
Revision der hauptsächhchsten elementaren Gesetze der Assoziation und
Reproduktion. „Die direkte qualitative und quantitative Grundlage der
Assoziation und Reproduktion ist nicht die Empfindung, sondern dasjenige
Zeitschriftenschau. 205
Erlebnis, welches erst seinerseits durch die Empfindung produziert wird.
Dass jede Empfindung unter normalen Verhältnissen die entsprechende
Vorstellung (sekundäres Element) hervorruft, welche die Andauer der
Empfindung überdauert, ist eine elementare Tatsache. Die eventuelle Er-
neuerung dieser , Sekundärwirkung' ist die Reproduktion. Da ein Sekundär-
erlebnis sowohl bei einer simultanen, als auch sukzessiven Mehrheit von
primären Elementen einer simultanen Totalvorstellung entsteht, von einem
Umfange, der durch die Andauer der Sekundärvvirkung bestimmt ist, so
geht bei Wiedererleben eines Teils die Reproduktionstendenz auf möglichste
Wiederherstellung des ganzen Sekundärerlebnisses, also auf die Totalität,
nicht von Glied zu Glied . . . Was ich hier als ,Sekundärerlebnis' bezeichne,
findet man in der Literatur als ,primäres Gedächtnisbild' (Fechner), ,un-
mittelbares Gedächtnis' (Wolf, Meumann), ,unmittelbare Merkfähigkeit'
(Wer nicke), ,Perseveration' (G. E. Müller), ,Reproduktion nach Aehn-
hchkeit' (Höffding), ,psychische Präsenzzeit' (Stern), ,Komplexion,
(Witasek), ,Umfang des Bewusstseins' (Wundt) und noch andere Namen".
„Unbestritten ist, dass in all den Fällen, wo nachweisbare Assoziationen
gestiftet werden, die Empfindungen entsprechende Sekundärerlebnisse zur
Folge haben". „Die Reproduktion ist eine Wiedererneuerung desjenigen
Sekundärerlebnisses, welches erst durch die Perzeptionen produziert wurde.
Es fand sich, dass bei der Reproduktion agglutinierter Totalvorstellungen
bzw. agglutinierter Sekundärerlebnisse die Teile grösserer Reproduzibilität,
also die oft wiederholten alten Teile, noch reproduziert werden, während
die früher aktuellen und von hohem Bewusstseinsgrade gewesenen Teile
bereits nicht mehr reproduziert sind". — R. Feilgenhaiier, Uuter-
suchuiigen über die Geschwindigkeit der Aufmerksamkeits-
wanderung. S. 350. „1. Die Grösse des kleinsten aktiven Aufmerksam-
keitsschrittes beträgt im Durchschnitt rund 300 a. 2. Die Grenzen der
beobachteten Geschwindigkeit liegen bei 262 und 394 a. 3. Bei den ver-
schiedenen Reizarten ergibt sich keine hervorragende Abweichung in den
Werten ; nur bei vorausgehenden optischen Reizen tritt eine Erhöhung von
35 ff ein. 4. Der Uebergang der Aufmerksamkeit von einem zum andern
Reiz ist auf demselben Sinnesgebiet ein gleitender ; sie bleibt auf derselben
Höhe. Bei disparaten Reizen ist er ein sprunghafter. 5. bie Geschwindig-
keit der Aufmerksamkeitswanderung kann mit Willkür nicht über obiges
Mass beschleunigt werden, wohl aber kann man sie verlangsamen. 6. Man
ist nicht imstande, die Aufmerksamkeit mit der grösstmöglichen Geschwindig-
keit wandern zu lassen. 7. Die Geschwindigkeit hängt ab von der Person
des Beobachters. 8. Bei optischen Reizen hat die Lage der Reize keinen
Einfiuss auf die Geschwindigkeit. 9. Ebensowenig beeinflusst die Richtung
der Wanderung bei optischen Reizen den Aufmerksamkeitsschritt. 10. Der-
selbe ist auch unabhängig von dem Gesichtswinkel, unter dem das Auge
die Reize auffasst. 11. Die Vermehrung der Reize trägt weder zu einer
Philooiphisches Jahrbuch 1913. 14
206 Zeitschriftenschau.
Erlahmung noch zu einer grösseren Geschwindigkeit bei, sie bleibt sich bei
akustischen und taktilen Reizen ganz gleich. Dagegen tritt bei optischen
individuell eine Verlangsamung ein. 12. Erkrankung und Ermüdung be-
nehmen die Möglichkeit, die Wanderung in gewohnter Geschwindigkeit
erfolgen zu lassen. 13. Die beste Disposition sowie die schärfste Einstellung
bei dem geübtesten Beobachter vermögen keine grössere Geschwindigkeit
als eine solche zu erzeugen, die nach den angestellten Versuchen für den
Betreffenden als normal anzusehen ist. 14. Die Präzision in der Beurteilung
der Aufmerksamkeitswanderung nimmt zu mit der Vermehrung der Reize.
15. Sie ist bei scharf abgegrenzten (taktilen) am grössten, bei nach-
wirkenden (optischen) am geringsten ; die akustischen stehen in der Mitte.
Bei Reizen eines und desselben Sinnesgebietes ist sie jedoch stets grösser
als bei disparaten Reizen. 16. Die Aufmerksamkeitswanderung erfolgt
zwischen disparaten Reizen im allgemeinen mit derselben Geschwindigkeit
wie auch zwischen Reizen desselben Sinnesgebietes. Wie aber bei opti-
schen Reizpaaren sich ein Anwachsen um 35 a zeigt, so ist dies auch bei
disparaten Reizen zu konstatieren, wenn der optische Reiz vorausgeht.
17. Die individuellen Unterschiede der Beobachter sowohl hinsichthch des
Aufmerksamkeitsschrittes als auch in der Präzision der Beurteilung treten
bei disparaten Reizen viel deutlicher hervor. 18. Die Präzision der Be-
urteilung ist grösseren Schwankungen bei disparaten Reizverbindungen
unterworfen und hängt nicht von dem ersten Reize ab". Wundt hatte
behauptet, es sei möglich, innerhalb 0,1 " die Aufmerksamkeit wandern zu
lassen, ja, dass die abnorm lange Dauer des Nachbildes, die er bei 0,1 "
Expositionsdauer auf 0,15" schätzt, die Möglichkeit offen lasse, dass ein
mehrfaches Wandern der Aufmerksamkeit stattgefunden habe. Diese von
Erdmann und Dodge und auch von Becher bestrittene Behauptung ist nun
endgültig widerlegt; „denn selbst die kürzesten, von mir bei meinen
Versuchen beobachteten Aufmerksamkeitsschritte lassen ein , mehrfaches'
Wandern als völlig ausgeschlossen erscheinen". Ein Wandern der Auf-
merksamkeit beim Lesen überhaupt soll damit nicht in Abrede gestellt
werden. — Literaturbericht über Jugendkunde von E. Meumann.
2] Zeitschrift für Psychologie. Herausgegeben von F. Schu-
mann. 1912.
64. Bd., 1. und 2. Heft: H. Lipinauu, Zur Lokalisatiou der
Hirnfunktioneu mit besonderer Berücksichtigung der Beteiligung
der heiden Hemisphären an den Gedächtnislei.stungeu, S. 1. Die
Ueberlegenheit der linken Hemisphäre beim Rechthänder ist bekannt. Die
Ueberlegenheit der rechten Hand ist angeboren; auch die angestrengteste
Uebung überwindet meistens nicht die Schwäche der linken Hand. Auch
das Brotschneiden besorgt instinktiv auch dann die rechte Hand. Der linken
Hemisphäre kommt ein Uebergewichl beim Sprechen, Lesen und Schreiben
i'
Zeitschriftenschau. 207
zu. Der Grund Hegt in der geringeren Qualifikation der rechten Hemi-
sphäre, Bewegungen „frei aus dem Gedächtnis" auszuführen. — 0. Yertes,
Das Wortgedächtnis im Schulkiuderalter. S. 19. „Einer je höheren
Klasse das Kind angehört, um so grösser ist der Umfang des unmittel-
baren Gedächtnisses". ,.Der Umfang des unmittelbaren Gedächtnisses wächst
— innerhalb des 6. — 11. Jahres — im geraden Verhältnisse zu de.m Alter".
„Das unmittelbare Gedächtnis des besseren Schülers hat einen grösseren,
das des schwächeren einen kleineren Umfang". Der Umfang des unmittel-
baren Gedächtnisses ist bei Mädchen mit grosser Wahrscheinlichkeit
grösser als bei Knaben. Das fmden auch Lobsien, Netzschajeff und Pohl-
mann. Er ist grösser bei wohlhabenden 6—11 jährigen Schulkindern als
bei notleidenden. Die Zeitdauer der Reproduktion ist verschieden von
1,2"— 3,1". Der Durchschnitt braucht nach einer Pause von 6 Sekunden
1,4 — 2,2", um die soeben gehörten Wortpaare mit Hilfe des Reizwortes
zu reproduzieren. „Die Zeitdauer des unmittelbaren Gedächtnisses sinkt
parallel mit der Höhe der Klassen". „Der Gedächtnisumfang, die Zeitdauer
und Leistungsfähigkeit der Knaben wächst mit dem Alter, während diese
Faktoren bei den Mädchen im Alter von 10 — 11 Jahren einen Rückfall
aufweisen". „Der allgemeine Schulfortschritt und die Zeitdauer des unmittel-
baren Gedächtnisses befinden sich in geradem Verhältnisse zu einander".
Die Mädchen reproduzieren schneller als die Knaben, die wohlhabenderen
Schüler schneller als die armen. Aus kurzer Zeitdauer kann man auf
grossen Umfang, aber nicht immer umgekehrt schliessen. Mit Ausnahme des
Alters steht Umfang und Zeitdauer im umgekehrten Verhältnisse zu ein-
ander. Daher die Formel von Ranschburg : M(emona) = A(niplitudo) durch
T(empus):M= rp. „Der Zeitwert der fehlerhaften Assoziationen nimmt
mit den steigenden höheren Klassen zu. Die durchschnittliche Zeitdauer der
Fehlreproduktionen ist schlechter (bedeutend grösser) als die der präzisen
Reaktionen" ; noch länger ist der Zeitwert der Nullreproduktionen. „Aus
einer grossen Zahl von Korrekturen können wir immer auf eine kleine Zahl
der Nullproduktionen schliessen", aber nicht umgekehrt ; dagegen „aus einer
grossen Anzahl von Nullproduktionen mit grosser Wahrscheinlichkeit auf
geringe oder gar keine Korrekturen". Mit zunehmenden Klassen und Alter
wachsen die Fehlproduktionen, nehmen die Nullproduktionen ab. Die Zahl
der Fehler steht im umgekehrten Verhältnisse zu den Nullproduktionen.
— Literaturbericht.
3 Heft : A. Guttmaun, Zur Psychophysik des Gesanges. S. 161.
Viel umstritten ist die Frage des Registers. „Unter Register versteht man
beim Gesang eine fortlaufende Reihe von Tonhöhen einer Stimme, die sich
durch eine bestimmte einheitliche eigentümliche Klangfarbe charakteri-
sieren. Die Extremen auf der einen Seite nehmen an, es gebe nur zwei
Register der menschhchen Stimme, das ,Brustregister' imd das ,Falsett-
14*
208 Zeitscl) rif I enschau.
register'. Ersteres allein sei für den Gesang brauchbar, letzleres (falsetto
— falsch) sei für den Gesang unbrauchbar. Auf der anderen Seite nehmen
manche Autoreri folgende Register an: 1. Strohbass (Kehlbass), 2. Brust-
stimme, 3. Mittelstimme (Voix mixte), 4. Falsett, 5. Fistel, 6. Pfeifregister.
„Stiinmphysiologisch und stimmpädagogisch gibt es kein Einregister" ,.Es
zeigt sowohl die optische Analyse (der Muskeln), wie die akustische Wahr-
nehmung, dass ein allmählicher Uebergang aus dem Brustregister in das
Kopfregister (resp. Falsett) wirklich stattfindet". Durch einen „Ausgleich"
der Register werden die Grenztöne je zweier Register einander ähnlich,
„so dass für das Ohr ein unmerklicher Uebergang von einem Register zum
andern stattfindet. Für unsere akustische Wahrnehmung besteht dann in
der Tat ein Einregister. Und in diesem Sinne kann man musikpsycho-
logisch und im Sinne des Endziels . jeder Gesangpädagogik vom idealen
, Einregister' sprechen". — L. Klages, ßegriif und Tatbestand der
Handschrift. S. 177. Auch das Zeichnen ist Handschrift, aber „die Be-
w^fcgung des Zeichnens ist richtungsfrei und zusammensetzend, die des
Schreibens einzügig und richtungsbestimmt". Das Besondere einer Schrift,
das sie zur Handschrift macht, ist ein zur schreibenden Person Gehöriges
oder kurz ein persönlich Besonderes. Da aber die Schrift überhaupt
durch Schreiben entsteht, so müsste dieser Tätigkeit schon das persönhch
Besondere anhaften, vermöge dessen die Schritt den Charakter der Hand-
schriftlichkeit gewänne : Die Handschrift wäre das Ergebnis der persönlichen
Schreibtätigkeit. „Sinnfällige Gesetzüberschreitung bei intendierter Gesetz-
erlüUung ist ein unerlässlicher Zug des Handschriftlichen. An der Einzig-
artigkeit . des einzelnen Lebensvorganges partizipiert auch der lebende
Organismus". „Auch im Persönlichen, als der geistigen Form des Lebendigen,
steckt diese Lebenseinheit, fähig, seinen Aeusserungen ein qualitativ unter-
scheidendes Merkmal zu verleihen: die persönliche Schreibbewegung hat
demzufolge notwendig den Charakter der Einzigkeit". Aber „jeder
Zug der Handschrift spielt innerhalb einer spezifischen Schwenkungsbreite
— das ist das zweite Grundmerkmal des Handschriftlichen". Vf. unter-
scheidet: L Künsthche Schrift: 1. Verstellte, 2. Schönschrift, erstere zer-
füllt wieder a) in verdeckte, b) gefälschte Schrift. Die Schönschrift : a) in
schulmässige (kalligraphische), b) individuelle (künstlerische, ornamentale).
IL Natürliche Handschrift: a) mehr willkürhche, b) mehr unwillkürliche,
a) zerfällt in a) beherrschter, ß) gehemmter Typus ; b) zerfällt in «) er-
worbener, ß) ursprünglicher Typus ; «) wieder in aa) schnörkelhafte, ßß) sti-
lisierte Hand.schrift. - - Literaturbericht.
4. und 5. Heft : G. Hej maus, In Sachen des psychischen Mo-
nismus. S. 241. Der psychische Monismus nimmt an, dass, soweit unsere
Daten reichen, nur Psychisches existiert, während alles Physische nichts
weiter ist, als die Art und Weise, wie Psychisches wahrgenommen wird.
Für die Begründung kommen hauptsächlich zwei Gruppen von Tatsachen
Zeitschriftensehau. 209
in Betracht: „1. Die Tatsachen, welche für eine eindeutige Zuordnung
zwischen den einem Menschen gegebenen Bewusstseinsprozessen und den
gleichzeitig von einem andern inbezug auf den ersteren zu handhabenden
Hirnprozesswahrnehmungen sprechen. Die Ueberlegung, dass jenem ersteren
seine Bewusstseinsprozesse direkt gegeben sind, während sich diesem
anderen seine Hirnprozesswahrnehmungen evident als die indirekte Wirkung
eines aussor ihm befindlichen darbieten, führt zur Vermutung, dass dieses
ausser ihm Befindliehe mit den jenen ersteren direkt gegebenen Bewusst-
seinsprozessen identisch sei; und diese Vermutung erweist sich als aus-
reichend, um von allen vorliegenden gesetzlichen Verhältnissen Rechenschaft
zu geben. 2. Die anderen Tatsachen, welche es wahrscheinlich machen,
dass jene Hirnprozesswahrnehmungen nicht nur mit den sonstigen Natur-
erscheinungen kontinuierlich zusammenhängen, sondern auch, wenn voll-
ständig gegeben, die gleiche Gesetzmässigkeit wie diese, nur in viel grösserer
Komplikation, würden erkennen lassen. Woraus dann gefolgert wird, dass
vermutlich auch die Wirklichkeit, welche in diesen sonstigen Natur-
erscheinungen zur Wahrnehmung gelangt, von derjenigen, welche in den
Gehirnerscheinungen zur Wahrnehmung gelangt, also nach 1. vom mensch-
lichen Bewusstsein, nicht dem Wesen, sondern nur der Komplikation
nach unterschieden wird". — P. v. Liebernianu und G. Revesz, Ex-
perimentelle Beiträge zur Ortliosyiuphonie und zum Falscliliören.
S. 286. Die Verfasser fanden früher, dass ein Zweiklang oder Akkord
trotz des P^'alschhörens von Komponenten desselben richtig gehört wird, und
nannten die Erscheinung Orthosymphonie. Später stellte sich heraus, dass
dies nicht immer der Fall ist. Diese Abweichungen sollten auf ihren Grund
untersucht werden. Es fand sich zunächst, dass die abweichenden Urteile
im Sinne des falschen Tones ausfielen. Das Interwall wurde wohl analy-
siert uud der starke Falschton herausgehört. Das Ohrenleiden wechselt
auch, die Orthosymphonie beruht nicht auf ungefälschter Wahrnehmung
der Schwebungen, da sie auch bei obertonfreien Tönen auftrat. Der
„Korrektionseindruck" ist eine Illusion. Beim Zusammenklingen para-
kustischur Töne ist die Verschmelzungsstufe normal. Nach Stumpf soll
die Orthosymphonie auf sekundären Kriterien beruhen, spezieil auf Gefühlen;
aber bei L. ist der Eindruck ganz derselbe wie bei normalen Verhält-
nissen. Wie soUin auch die spezifischen Gefühle erhalten sein, wenn die
anderen Merkmale verloren sein sollen? Zur Theorie heben die Verfasser
hervor, „dass die parakustischen Töne eines ihrer beiden musikalischen
Merkmale, die Höhe - im Gegensatz zur Qualität — normal erhalten
haben, wovon wir in dieser Arbeit den Nachweis liefern. Es kann dies
ein Zeichen dafür sein, dass von den psychophysischen Prozessen, die ein
Tonreiz hervorruft, die normal erhalten sind, von denen das Spezifische
des Zusammenklangs, der Verschmelzungsgrad abhängt ... Da die Höhe
der Töne des Pseudogebietes an beiden Ohren normal ist, so muss ein
210 Zeitschriftenschau.
Ton, wenn er den beiden Ohren sukzessiv vorgeführt wird, zwei Ton-
empfindungen von gleicher Höhe hören. Ist nun eine ,simultane Prime*
als ein Zusammenklang zweier Töne von gleicher Höhe anzusehen, so
müssen wir, wenn wir nun den Ton beiden Ohren gleichzeitig zuführen,
einen besonderen Fall der Orthosymphonie erhalten: es muss immer der
Eindruck der Prime entstehen, unabhängig vom Qualitätsunterschiede der
beiden Ohren . . . Das Urteil lautet stets : Ein T o n". Das absolute Gehör
erkennt die Töne normalerweise meist nach der Klangfarbe. Der Patient
urteilte hierin doppelt, einmal auf Grund der Quahtät und anders nach der
Höhe. Die Versuche lehrten, dass die Fälschung der Tonqualität auch
vom absoluten Gehör bestätigt wird, wie auch die Unverändertheit der
Tonhöhe. Schlussergebnis: „Es werden experimentelle Beweise erbracht
für die Theorie von Revesz, nach der die Tonempfindung mindestens
zwei musikalische Merkmale hat. Es dient dazu, die Beurteilung patho-
logischer Töne nach den beiden Arten des absoluten Gehörs — nach
Qualität und nach Höhe, und die Beurteilung von Intervallen in doppelter
Weise : naiv und nach Distanz" zu vollziehen. Naiv wird nach der Klangfarbe
das Intervall beurteilt, und es ist oft falsch, während nach Distanz es richtig
ausfällt. — Dieselben, Ueber eine besondere Form des Falschhörens
in tiefen Lagen. S. 325. „Bei Liebermann nehmen 1. die Töne c' und c
oft g-Qualität an. Diese Qualität ist sehr labil und hängt zum Unterschied
von Pseudotönen vom Vergleichston ab, mit dem der geprüfte Ton ein
Intervall zu bilden hat. 2. In jeder anderen Beziehung erscheinen diese
Töne normal, die Abnormität stört das Musikmachen gar nicht. Insbesondere
bleibt die Höhe dieser Töne erhalten, was als neues Argument für die
Unabhängigkeit der beiden musikalischen Merkmale dient. 3. Das ganze
Verhalten machl den Eindruck einer Abweichung, nicht den einer Krank-
heit zum Unterschied von der Parakuse. Wir halten es für eine zentrale
Erscheinung". Für letzteres spricht der Umstand, dass sich die Fälschung
auf die Qualität bezieht, auf die Eigenschaft also, die den Namen des Tones
bestimmt. Vollkommen normal bleiben dagegen die Intensität, die Klang-
farbe und die Höhe. Von dem Pseudoton ist diese Fälschung verschieden,
da jener in allen Lagen vorkommt, dieser nur in den tiefsten Lagen, wo
Liebermann die sukzessive Oktave c — c^ oft als Quarte auffasst. — Lite-
raturbericht. Tierpsychologie. M. Ettlinger, Dritter Sammelbericht. Es
werden 53 Schriften bzw. Abhandlungen angeführt. — Kleinere Be-
sprechungen.
6. Heft: K. FodoroflF, Beiträge zur Lehre von der Beziehung
zwischen Text und Komposition. S. 401. „1. Es besteht eine Beziehung
zwischen Versrhythmus und relativer Tondauer. Die mittlere Tondauer der
betonten Silben ist stets grösser als die mittlere Tondauer der unbetonten
Silben. 2. Der Unterschied in der Dauer der betonten und unbetonten
Silben ist im Kunstlied grösser als im Volkslied. 3. Auch in den Kompo-
Zeitschriftenschau. 211
sitionen von Prosatexten haben die betonten Silben eine längere mittlere
Tondauer als die unbetonten Silben. 4. In den Kompositionen von Prosa-
texten entspricht den einsilbigen Wörtern meistens im Durchschnitt eine
längere Tondauer als der einzelnen Silbe im mehrsilbigen Worte. 5. Ton-
dauerbewegungen, deren Wert von 1 verschieden ist, sind um so weniger
häufig, je grösser diese Verschiedenheit ist. Dieser Satz gilt sowohl für
Lieder als für Rezitation in Prosa. 6. Die Häufigkeit der Tondauer-
bewegung verläuft in ähnlicher Weise wie die Häufigkeitskurve der Vokal-
dauerbewegung in der Sprache. 7. Die betonten Silben der Lieder haben
meistens eine grössere mittlere Tonhöhe als die unbetonten Silben. 8. Die
musikalisch betonten Taktteile der Lieder haben meistens eine grössere
mittlere Tonhöhe als die musikalisch unbetonten Taktteile. 9. In den
Kompositionen von Prosatexten haben die betonten Silben fast stets eine
grössere Tonhöhe als die unbetonten. 10. Die Häufigkeit der Tonhöhen-
bewegungen ist eine um so geringere, je mehr sich ihr Wert vom Werte 1
nach der einen oder anderen Richtung entfernt. 11. Auch beim Sprechen
sind die Tonhöhenbewegungen, die dem Werte 1 nahe liegen, am häufigsten,
während die grösseren und kleineren Werte der Tonhöhenbewegung mit
der Zunahme vom Werte 1 im allgemeinen abnehmen". — A. Schack-
vvitz, Apparat zur Aufzeiclimiug der Augenbewegung-en beim zu-
saiinueuhäiigenden Lese«. (Nystagmograpk). Die seitherigen Veran-
staltungen zeigen Mängel. „Der Apparat muss empfindlich genug sein,
die kleinen ruckweisen Bewegungen der Augen beim Lesen auf ein Re-
gistriersystem zu übertragen. Kopf- und Lidbewegungen dürfen keinen
Einfluss haben oder müssen so mit registriert werden, dass sie sicher von
den registrierten Augenbewegungen zu unterscheiden sind". Dies und noch
andere praktische Vorteile bietet der neue Apparat. — Literaturbericht.
3] Archiv für systematische Philosophie. Herausgegeben von
L. Stein. Berlin 1912, Reimer.
XVin. Bd., 1, Heft: B. Zalai, Uiitersuchii gen zur Gegenstauds-
theorie. S. 1. II. „Ein Inhalt, dessen zeitliches Ende mit dem Anfange
eines andern Inhalts zusammenfällt, bestimmt mit seinem Gegenstande den
folgenden in einer Weise, die im Seelenleben eine unendliche qualitative
und quantitative Abstufung hat. Dieses Bestimmen, sei es auch nur eine
einfache Aussonderung des , Andern', ist die Erfüllung der Funktion des
Gegenstandes". Wir besitzen „die Bürgschaft (die man so viel sucht und
die so vermisst wird), dass das logische Denken nicht nur eine Ordnung
unserer Erfahrungen, sondern selbst unsere Erfahrung ist". — H. Werner,
Skizze zu einer Begriffstafel auf geuetischer Grundlage. S. 45.
A. Sinnliche, B. unsinnliche Reflexionsbegriffe. Erstere zerfallen in Em-
pfindungs- und Gefühlsbegriffe, letztere in dynamische und statische, er.stere
in praktische und ästhetische, letztere in apperzeptierte und abstrahierte.
212 Zeii sclnif tenschau.
Die Gefühlsbegriffe sind entweder moralische oder ästhetische. Die Re-
flexionsbegriffe werden nicht weiter eingeteilt. — J. Iljin, Die Begriffe
von Recht und Macht. S. 63. .,Vor allem wollen wir feststellen, dass
der Begriff der Macht stets in der realen Reihe liegt, stets eine ontologische
Bedeutung hat, während der Begriff des Rechts auch ausserhalb der realen
Reihe liegen kann, und das Merkmal des Seins, so oder anders konstruiert,
unter seinen Prädikaten fehlen kann". „Das Recht als Satz und als Norm
und das Recht als Macht, sind Begriffe, welche in methodologisch in-
differenten Reihen liegen". „Eine rechtliche Erscheinung ist für den So-
ziologen eine Beziehung zwischen den Menschen, wie sie sich herausstellt
nach der Anwendung der Rechtsnorm auf sie und während des ganzen
Verlaufs des realen Wirkens der letzteren". — W. Bloch, Das leli-
erlebnis. S. 89. ,,Das Icherlebnis, der subjektive Faktor oder dergleichen
darf also nicht anders gefasst werden, denn als Unterscheidung in der
Reflexion meiner Erlebnisse von denen anderer". — Rezensionen.
2. Heft: J. Iljeu, Die Begriffe von Macht und Recht. S. 125.
Man darf nicht fragen, ob Macht Recht oder Recht Macht sei, sondern
eine methodologische Untersuchnng stellt das Problem : „Darf das Recht
als Macht aufgefasst werden, und kann nicht die Unzulässigkeit seiner
Konfundierung mit der Macht in gewissem Sinne behauptet werden"? —
Fr. L. Denckuianu, Energien. S. 145. „Auf unserer winzigen Erde
machen wir die Erfahrung, dass die Naturkräfte mit einer Energie aus-
gerüstet sind, und dass die Energie des höchsten, in einem unbeschränkten
Sein stehenden Wesens das All geschaffen hat, und dass die Seele des
Menschen, die in einem beschränkten Sein steht, im Besitze einer Energie
ist". — J. Cl. Kreibig, üeber den Begriff des „objektiven Wertes".
S. 159. „Was mit dem landläufigen Namen ,objektiver Wert' rechtmässig
zum Ausdruck kommen soll, ist der Wert eines Gegenstandes nach dem
Urteil eines Idealsubjektes, welches bei vollendeter Kenntnis der Seinsstufe,
der Bestimmtheiten und Beziehungen jenes Gegenstandes, alle der Ideal-
psyche möglichen Gefühlsreaktionen ohne zeitliches Schwanken vollzieht".
— A. E, Haas, Ist die Welt in Raum und Zeit unendlich? S. Iß".
Eine Reihe grosser Schwierigkeiten erheben sich dagegen. — E. Müller,
Henri Bergson. S. 1S5. Bergson „geht auf nichts Geringeres aus, als
eine neue Metaphysik, einen neuen Spiritualismus zu vertreten. Seine Werke
zeigen die offenbare Tendenz, von Zweifel und Negation abgewandt, bis
an die Dinge, gewissermassen sogar an ,die letzten Dinge' heranzukommen.
Und dies geschieht in einer durchaus individuellen Art". In der Intuition
findet er den Kernpunkt aller Erkenntnistheorie. „Im Hintergrunde steht
der monistische Gedanke, dass es ,dieselbe Bewegung' ist, welche hier die
,Materialität der Dinge' und dort die ,Intellektualität des Geistes, d. h. die
Erkenntnis der Dinge hervorgebracht hat". - E. Hurwicz, Ludwig Knapps
,, System der Rechtsphilosophie", S. 195. Das Denksystem von Knapp
Zei tsch fif 1 ensch a u. 213
sehliesst sich eng an die Feuerbachsche Philosophie an und ist aus ihr
hervorgegangen. - Th. Leasing, Ps>yclioIog'ie in der Ahnung. S. 209.
Die „Einfühlung" ist ein „wunderliches Modewort". „Was mit dem Worte
bezeichnet wird, ist ein konipHziertes Vielerlei p.sychischer Tatsachen,
welche der exakten psychologischen Analyse sich entziehen". „Wir arg-
wöhnen, dass in dem grossen Einheilstopf Einfühking zusammengeworfen
wird, was nicht mehr mit einander gemein hat, als eben dies, dass es sich
um Vorgänge handelt, von denen — wir noch nichts wissen". Anders
„Ahnen" und „Ahnung". ,,So nenne ich jede seelische Aktivität, in
welcher mein Ich in gebundener Marschroute funktioniert, gemäss Nötigungen
einer ,Aussenwelt' ". — Rezensionen.
3. Heft: J. ZahlfleJsch, Ist die Lüge erlaubt? S. 241. „Der
Ausdruck ,Liige' erscheint als ein mit einem Janusgesicht ausgestattetes
Wort wie alle anderen, und will nur eine Idee bezeichnen, deren Realisierung
uns nicht leicht fällt, wenn Avir die aus un.serer Zergliederung des Sach-
verhaltes sich ergebenden Folgerungen ziehen. Man hat sich dieser letzteren
durch Einführung der Worte : Notlüge, Scherzlüge, Witz, Sarkasmus, Satire,
Ironie, Persiflage, Karikatur entziehen wollen". Aber ohne Erfolg. — V.
C. Franze, Grundlage der Erkenntnisgewinnung-, S. 252. Wahres
Erkennen oder Urteilen beruht auf Evidenz oder Einleuchten. Es gibt
Evidenz der Gewissheit und der Wahrscheinlichkeit. — P, v. Recheuberg-
Linten, Unmittelbares Icli-Bv'wusstsein und der Tod. S. 264. „Muss
mein unmittelbares Ich-Bewusstsein durch die Auflösung meines Körpers
vernichtet werden?" „Die mit der Empfindung verknüpften ,inneren Triebe'
und das aus dieser Verknüpfung entstehende Wollen und Denken sind un-
mittelbar gegebene und durch sich selbst wahrgenommene Wirklichkeiten.
Diese Wirkhchkeiten nenne ich in ihrer unmittelbar gegebenen Verknüpfung
mein ,Ich'. Die Tatsache dieser unmittelbar durch .sich selb.st erfolgenden
Wahrnehmung meines ,Ich' drücke ich dadurch aus, dass ich sage, dass
mein ,Ich' ein unmittelbares Bewusstsein von sich hat, oder indem ich von
einem unmittelbaren , Ich-Bewusstsein' spreche. Von dem, was ich meinen
Körper nenne, sagt mir dieses unmittelbare Ich-Bewusstsein unmittelbar
nichts. Erst au.-^ festgesetzten, nicht aus meinem unmittelbaren Ich-Be-
wusstsein stammenden Einwirkungen auf meine Empfindung schliesse ich,
dass ,ich' mit einem Körper verbunden ist. Daraus folgt aber, dass mir
mein Körper das unmittelbare Ich-Bewusstsein nicht gegeben hat. Daraus
folgt aber weiter, dass mein , unmittelbares Ich-Bewusstsein', da es nicht
aus meinem Körper stammt oder eine Funktion des Körpers ist, - • auch
nicht durch die Auflösung des Körpers vernichtet werden kann". -•- W,
Schlegel, üeber die Form des Menschen. S, 285. „Erkenntnis. Wille.
Der Mensch als Einheit und Einzelwesen. Der Mensch als Mehrheit und
fJeselle. Formbildung und Formerneuerung durch Teilung und Vereinigung".
- K. Beruhart, Die Relativität der Zeit. S. 311. „Die Zeit ist der
214 Zeitschriftenschau.
Grund, der Faktor und daher die Bedingung, die Voraussetzung und das
Medium der Widersprüche im Räume", oder da wir nun die Widersprüche
als solche, gleichviel wie, beseitigt haben, „der Verschiedenheit im Räume '.
— E. Wilkeu, Psycliologische Vernuuftkritik. S. 324. „Eine kritische
Untersuchung zum Methodenproblem in der Philosophie'-. Die psycho-
logische Vernunftkritik von Fries ist durch Nelson erneuert, von den Neu-
kantianern heftig bekämpft worden. Ihre Gründe sind nicht stichhaltig.
Die Behauptung K. Fischers, die psychologische Vernunftkritik sei eine
contradictio in adiecto ist gründlich widerlegt worden. Und was bis jetzt
gegen Nelson vorgebracht worden ist, widerlegt ihn nicht. Dagegen will
Vf. zeigen, „dass in der Tat der auf den psychologischen Grundlagen er-
richtete methodische Bau innerUch widerspruchsvoll und unhaltbar ist".
„Der höchste Punkt der psychologischen Vernunftkritik, die Prämisse, die
als Obersatz aller metaphysischen Beweise und transzendentalen Deduk-
tionen fungiert, ist der Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft".
Aber die Vernunft kann, „nachdem sie die unmittelbar nicht anschauliche
Erkenntnis als Dogma entlarvt hat, ebenfalls nicht zu deren Inhalt
Vertrauen haben. Sie würde umgekehrt damit ein Misstrauensvotum
gegen sich aussprechen". — H. H. Kerler, Kategorienprobleme. S. 344.
Im Anschluss an E. Lasks „Logik der Philosophie". Lask hat eine be-
deutungsvolle Entdeckung gemacht. Der bisherigen Erkenntnistheorie ist
ein Problem von kardinaler Bedeutung entgangen, Kants Transzendental-
philosophie hat nur das naturwissenschaftliche Erkennen untersucht. Sie
hat sich aber „nicht einfallen lassen", auf das transzendentale Erkennen
ihre eigenen Prinzipien anzuwenden. Lasks Ansicht ist es nun, „die Uni-
versaUtät des Herrschaftsbereiches des Logischen zum Bewusstsein zu
bringen : Nicht nur die sinnlichen Gegebenheiten, auch die metaphysischen
Gegenstände, und das Logische selbst in seiner logischen Form". Zu-
nächst behandelt er die Kategorien des Seins, neben welchen aber nach
Lotze auch die des Geltens, und nach Meinong noch die des Bestehens hinzu-
genommen werden müssen. Die strenge Scheidung von Geltungsgehalt und
Bestand fehlt bei ihm. „Die Zweiweltentheorie braucht sich meines Er-
achtens durch die Argumentation Lasks keineswegs als abgetan zu betrachten.
Insbesondere ist die Position Husserls nicht im geringsten erschüttert". —
Rezension. — Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der syste-
matischen Philosophie. — Systematische Abhandlungen in den Zeitschriften.
4. Heft : J. Fischer, Die Entstehuug des Geschmacks und seiue
Bedeutung für unsere Erkenntnis der Dinge. S. 367. Die Entstehung
des Geschmacks ist empirisch zu erklären; er „vermittelt das objektive
Erkennen der Einzeldinge mit ihren Fehlern und Veränderungen". „An
dem Gegensalze des Geschmacksurteils zur sinnlichen Vorstellung, des
inneren begrifflichen Bildes zum äusseren sinnlichen Bilde der Wirklichkeit
erwächst erst das Bewu.sstsein der Wirklichkeit. Wir konnten also
Zeitschriftenschau. 215
und mussten sagen, dass der Geschmack das Bewusstsein vermittelt, dass
er die Wuklichkeit dem erkennenden Denken vermittelt''. — Fr. Boden,
Der Glaube an das Böse. S. 394. „Der Glaube an das Böse ist keines-
wegs unter allen Umständen als ungünstig zu beurteilen. In gewissen Zeit-
läuften ist die Energie der Reaktion ungleich wichtiger als ihre Differenziert-
heit und Angepasstheit", Die Rechtswissenschaft glaubt noch mehr an die
Beeinflussung der Intelligenz als die Psychologie ; „in der letzteren hat die
Erfahrung den Glauben an das Böse schon stärker zersetzt als in der
offiziellen Wissenschaft". — M. Siems, Die ethischen Probleme unter
strikter Logik. S. 412, „Wenn man trotz der vielen Fehlschläge auch
heute noch ziemlich allgemein a priori an die Möglichkeit einer wahrhaft
wissenschattlichen Ethik glaubt, so sollte doch der Ethiker stets beachten,
dass neben der wissenschaftlichen Beantwortung der ethischen Probleme
ohne jeden Zweifel und in jedem Falle auch noch eine anderweitige
Stellungnahme möglich ist, nämlich eine rein persönhche. Denn so viel
ist klar: Ist es ein allgemein gültiger wissenschaftlicher Satz, dass das
moralisch Gute die Nächstenliebe sei, so hindert mich die anerkannte
Richtigkeit dieses Satzes durchaus nicht, die Nächstenliebe mehr oder
minder verächtlich zu finden und mich persönlich zum Standpunkte
Nietzsches zu bekennen". „Es ist nicht zu leugnen, dass eine Philosophie,
die da behauptet, dass das eine gut, ein anderes Pflicht und wieder ein
drittes das einzig Vernünftige sei, in jeder Beziehung , unbefriedigend' ist". —
K. Bernhard, Die Relativität des Solipsismus. S. 422. „Wir kommen
zu dem Ergebnis : der SoUpsismus ist unbeweisbar, aber unwiderlegbar".
„In Wahrheit hat das ,lch' keinen Sinn ohne die Aussenwelt, ebensowenig
wie die Aussenwelt ohne das Ich". — H. Werner, Ein Beitrag zur
Lehre logischer Substitution. S. 431. Die gewöhnliche Begriffsbildung
ist synthetisch-induktiv, die wissenschaftliche analysierend-deduktiv ; erstere
quantitativ, letztere qualitativ. „Die Negativbegriffe substituieren einander
in umgekehrter Richtung wie die analogen Positivbegriffe". „Die qualita-
tive Substitution zweier Begriffe ist der der quantitativen entgegengesetzt".
„Die Substitution qualitativer Positivbegriffe ist der Substitution analoger
Negativbegriffe entgegengesetzt". — Rezensionen.
4] Rivista, di Filosofia Neo-Scolastica. Diretta dal Doli.
Agostino Gemelli. Direzione: Milano, Via Maroncelli 23.
Amministrazione : Firenze, Libreria Editrice Fiorentina. Erscheint
alle zwei Monate in Heften zu je wenigstens 120 Seiten.
Abonnement: Italien 10 Z,., Ausland 12,50 L
Anno IV, No. 3-4 (20 Giugno 1912): C. Huit, II platonismo
in Francia nel secolo XIX. p. 321. Uebersicht über die platonische
Bewegung in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Hin-
sicht auf den mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss, der von den Ideen
216 Zeitschriftenschau.
Piatons auf Kunst, Philosophie und soziales Leben ausge'ibt wurde, und in
Hinsicht auf die hauptsächlichen Arbeiten, die vom Studium Piatons ein-
gegeben oder der Erörterung seiner Lehren gewidmet sind. — A. Padoa,
Aualisi della sillogistica. p. 337. Die Anwendung der mathematischen
Logik auf die einzelnen Syllogisformen und -Figuren der deduktiven tradi-
tionellen (^ogik zeigt die teilweise Falschheit oder Unbeholfenheit der
Syllogistik ; die deduktive Logik wird durch die mathematische Logik
um viele und sehr bemerkenswerte Urteilsformen bereich.ert. — A. Gemelli,
Psicopatie e moralitä. p. 346, Der Vf. behandelt das Verhältnis
zwischen Psychopathologie und Ethik, zwischen psychischer Anormalität
und moralischer Verantwortlichkeit. Er stellt fest: 1, Die Aequivalenz
zwischen Krankheit und moralischer Anomalie ist nicht erwiesen worden.
2. Nichts Stichhaltiges hat sich gegen- die Willensfreiheit vorbringen lassen.
3. Die „moralische Narrheit" ist in sich nicht eine khnische Form, ein
besonderer pathologischer Fall. 4. Indem die Psychopathologie gezeigt hat,
dass zwischen Krankheit und Normalität es keine streng geschiedenen
Grenzen gibt, hat sie dem Begriff der stufen weisen Verantwortlichkeit
eine Begründung gegeben. 5. Aus dem Gesagten ergibt sich für den
Ethiker die Notwendigkeit einer ausgedehnten Kenntnis der Ergebnisse
der modernen Psychopathologie und für den Psychopathologen die Pflicht
der Beachtung derjenigen Grenzen, über die hinaus seine Methoden keine
Geltung mehr besitzen. — Fr. Olgiati, Note sul problenia della
couosceuza. p. 382. Haltlos ist die erkenntnistheoretische Stellung von
G. Fonsegrive, weil pragmatistisch und bergsonianiseh, richtig ist die
Behauptung Nardis, dass man bei einem Pielativisraus der Erkenntnis
nicht stehen bleiben darf, sondern entweder vorwärts oder rückwärts gehen
muss, im übrigen aber bringt auch Nardi nicht die Lösung; ebensowenig
Mercier und die Gegner desselben: Du Roussaux und Tredici. Es
bleibt die Frage offen : Ist es wahi- oder ist es nicht wahr, dass, wer den
spontanen Dogmatismus nicht annimmt, P den Kantianismus nicht über-
winden kann, vielmehr 2*" logisch gezwungen ist, dem absoluten Idealismus
sich in die Arme zu werfen? Diesen Darlegungen fügt die Redaktion
einige Bemerkungen eines die aussersinnliche formelle Realität der sekun-
dären Sinnesqualitäten bestreitenden Mitarbeiters hinzu. — G. Mattiussi,
Esseuza ed essere. p. 305, Gegen Marxuach (Aprilheft der „/?rä.
Neo-Scol.'-'') wird der reale Unterschied zwischen Wesenheit und Dasein
aufrecht erhalten. — A. Galli, Nnovi .stiuli sperimentali sulL atto
voluutario. p. 404. Der Vf. trägt die wichtigsten Ergebnisse zusammen,
die ßoyd Barrett und M i c h o 1 1 e - P r ü m neuestens über den Wahlakt
des ireien Willens und dessen unmittelbare Voraussetzungen auf experi-
mentellem Wege gewonnen haben. — E. Chioochetti, Per studiare
Cartesio. p. 411. Einige Gesichtspunkte zum richtigen Verständnis des
Descartes und eine lebhafte Aufforderung zum nachdenkenden Studium
Zeilschrif tenschau. 217
seiner philosophischen Werke. — A. Gemelli, Alle fouti della vita.
p. 415. Im Anschluss an die Analyse und die Kritik der beiden das
Lebensprobleui behandelnden Schriften: Bohdan Rutkiewicz, II psico-
monismo o monismo biologico (1912), und William Mackenzie, Alle fonti
della vita (1912), spricht sich der Vf. über die Haltlosigkeit des Psycho-
nionismus aus. — M. de Wulf, Scolastica vecchia e nuova. p. 425.
Der Vf. verteidigt gegen Nardi seine Klassifikation der mitlelallerlichen
Systeme (in scholastische und antischolastischej und seinen Begriff der mittel-
alterlichen Scholastik, desgl. seine Auffassung über das Verhältnis zwischen
Theologie und Philosophie, historfsche Kritik und Philosophie der Geschichte ;
ferner über den Niedergang der mittelalterlichen Scholastik — Sprech-
saal. -- P.ezensionen. — Zeitschriften- und Bücherschau. — Nachrichten
(der 5. Kongress für experimentelle Psychologie in Berlin vom 16. — 29.
April 1912).
Aimo IV, No. 5 J20 Ottobie 1012): D. Laima, La dottrina
guoseologica di S. Tomaso nel momento attuale della coscieuza
fliosofica. p. 513, Ein Kapitel aus dem preisgekrönten Werke des Vf.s
über die ,, Theorie der Erkenntnis nach dem hl. Thomas". Es wird ge-
zeigt, wie die Erkenntnistheorie des hl. Thomas in ihren Grundzügen den
Anforderungen auch des modernen Denkens genügt und eine sichere Weg-
weiserin in den neuen Errungenschaften des philosophischen Fortschritts
ist. — A. Geaielli, Psicologia e patologia. p. 537. Der Wert der
pathologischen Methode in der Psychologie ; die gegen dieselbe erhobenen
Einwände. „Bei aller Anerkennung des Gewichtes dieser Ausstellungen,
die den von einigen Schulen unternommenen übermässigen Gebrauch
treffen, bleibt es dennoch wahr, dass die pathopsychologisehen Unter-
.suehungea von der grössten Bedeutung sind tür den Fortschritt der Psycho-
logie, eben als Hilfsuntersuchungen entweder für die Fälle, in denen eine
Anwendung der anderen Methoden unmöglich ist, oder doch als Kontroll-
mittel". — F. Palhories, Diea daus la philosophie de St. Boua-
venture. p. 562. Die Erkennbarkeit Gottes, die Art der Gotteserkenntnis,
die Eigenschaften Gottes, insbesondere sein Wille, die Schöpfung durch
Gott nach ihrem Wesen und ihrem Zeitpunkte in der Philosophie des hl.
Bonaventura. — E. Chiocchetti, La filosofia di Beuedetto Croce.
p. 590. Der Vf. fährt fort, das philosophische System des in hegelianischen
Bahnen wandelnden Philosophen B. Croce darzulegen, und behandelt im
vorliegenden Aufsatz „Immanenz und Geist" im System Croces. — A.
Geinells, La moderna psicologia «lel peiisiero, secoudo 0. Külpe.
p. 609. Analyse und Kritik des Vortrages, den 0. Külpe auf dem letzten
Kongress für experimentelle Psychologie in Berlin über „die moderne
Psychologie des Denkens" gehalten und in der ,Internationalen Monats-
schrift für Wissenschaft, Kunst und Technik' veröffentlicht hat. — Be,
B. (Jrüc.e e i presupposti della gnoseologia Vicliiaua. p. 618. Der
218 Zeitschriftenschau.
Vf. hatte das Buch „La filosofia di Qian BattistaVico" von Croce in
der ,,Riv. N. Scol.'' (Nr. 3—4, 1912, S. 500) einer Kritik unterzogen, die
für wahrscheinlich hielt, dass Vico — entgegen der Darstellung Groces —
keine idealistische, sondern eher einer der Scholastik nahe kommende
philosophische Richtung gehabt habe. Croce lehnt in seinem Schriftchen „Le
fonti della gnoseologla vichiana" diese Kritik ab ; der Verfasser sucht in
dem vorliegenden Artikel die Berechtigung seiner Auffassung erneut dar-
zutun. — B. Nardi. La vecchia Scolastica secondo uno scolastico
uuovo. p. 626. Antwort Nardis auf die Ausfährungen de Wulfs in der
,Mv. N. Scol.'' 4. Heft, 1912, S. 425 ff. - Fr. Olgiati, L'idealisnio
della „Scuola di 3Iarbiirgo". p. 636. An der Hand von Natorps
Vortrag „Kant und die Marburger Schule" (gehalten in der Sitzung der
Kantgesellschaft zu Halle a S. am 27. April 1912) und der anderen Auf-
sätze, die in dem (Cohen zugeeigneten) 3. Heft des 17. Bandes der Kant-
studien sowie in anderen diesbezüglichen Veröffentlichungen für und wider
erschienen sind, entwirft der Vf. ein Bild der durch die Marburger Schule
begründeten philosophischen Bewegung und deutet programmatisch kurz
die Aufgaben an, die der Neuscholastik gegenüber dem aufstrebenden
Idealismus erwachsen. — A. Masuovo, II prof. Geutile e il Tomismo
italiauo dal 1850 al 1900. p. 646. Der Vf. beschliesst seine Artikel-
serie über die mangelhafte und teilweise falsche Darstellung, die Gentile in
seiner Geschichte des Thomismus nach 1850 von der thomistischen Be-
wegung überhaupt und von Taparelli, Liberatore und Sanseverino ins-
besondere — von letzteren ausschliesslich handelt der vorliegende Aufsatz
— gegeben hat. In einem „Anhang" hat der Vf. den Wortlaut der Fragen
angefügt, welche die Kommission für den öffentlichen Unterricht, zum Voll-
zug des königlichen Dekretes vom 23. Oktober 1849, den Professoren an
den wissenschafthchen Unterrichtsanstalten zugehen liess, um über das
Verhältnis ihrer wissenschaftlichen Anschauungen zur Religion Aufschluss
zu erhalten. — Rezensionen usw.
Anno IV, No. 6 (20 Dicembre 1912). P. Rotta, Socialismo e
lilosofla. p. 705. Der Vf. bespricht die verschiedenen Versuche, den
Sozialismus an dieses oder jenes philosophische System, insbesondere an
den Materialismus, Determinismus, Positivismus, Evolutionismus, Idealismus,
Immanentismus und Intuitionismus, anzulehnen. Diese Versuche müssen
fehlschlagen, so lange als der Sozialismus nur den homo oeconomicus
kennt und keine Rücksicht nimmt auf die geistigen und insbesondere mo-
ralischen Bedürfnisse des Menschen. — B. Nardi, La teoria dell' anima
c la generazione delle forme secondo Pietro d'Abano. p. 723.
Auf Grund einer Anzahl mit einander verglichener Handschriften (woron
er eine zu Bonn vorfand) des „Conciliator differentiarum philosophorum et
praecipue medicorum" stellt der Vf. fest, dass S. Ferrari in seinem Buche
„i tempi, la vita, le dottrine di Pietro d'Abano" (Genua 1900) den mittel-
Zeitschriftenschau. 219
alterUchen Arzt-Philosophen Petrus von Abano mit Unrecht zu einem
Averroisten gestempelt hat. Seine Lehre von der Seele und von der
Hervorbringung der Formen ist vielmehr aristotelisch -thomistisch. — C.
Huit, II Platonismo in Francia nel secolo XIX. p. 738. In Fort-
setzung seiner Darstellung des Piatonismus in Frankreich im 19. Jahi hundert
spricht der Vf. von den Schülern V. Cousins. „Die vorstehenden Seiten
zeigen, wie in dem Zeitraum zwischen 1835 und 1855 Piaton in Frank-
reich lebhafte Sympathien erweckt hatte. Wie viel verschiedene Werke,
ungleich an Wert und Wichtigkeit, aber alle beseelt von dem Wunsche,
einen besonderen Punkt von Piatons Lehre oder seinen Einfluss ins Licht
zu stellen! Darf ich es trotzdem bekennen? Die Schüler Cousins sind
sichtlich stehen geblieben vor der Aufgabe, die ihren Lehrer erschreckt
hatte! Auch nach all den Studien, die ich erwähnt habe, war man
weit davon entfernt, eine vollständige und abgeschlossene Darlegung des
platonischen Systems in seiner Gesamtheit vor sich zu haben. Ausser-
dem hatten die Authentizitätsfragen, die in Deutschland so lebhaft von
Schleiermacher, Ast und Socher behandelt wurden, nicht bloss kein Echo
in Frankreich gefunden, sondern man schien nicht einmal deren Existenz
vorauszusetzen. Hieraus ergibt sich eine doppelte und beträchtliche Lagune
in der platonischen Exegese" (754 f.). — A. Dyroff, Una lettera inedita
di Vincenzo Gioberti. p. 756. Mit einem kurzen historischen Vorworte
veröffentlicht Prof. Dyroff in Bonn einen ihm vom General Clemens, dem
Sohne des bekannten Philosophen Fr. Fr. J. Clemens, zur Verfügung ge-
stellten (und jetzt der Autographensammlung der Bonner Universität ein-
verleibten) Brief Giobertis (Paris 4. Oktober 1847) an den Philosophen
Clemens, — A. Aiidin, A proposito della demonstrazione tomistica
deir esistenza di Dio. p. 758. Die „fünf Wege", auf denen der hl.
Thomas in seiner Theologischen Summe (p. 1, q. 2, a 3) die Existenz Gottes
bewiesen hat, sind nicht fünf verschiedene Wege, vielmehr bilden die ersten
drei Wege einen einzigen Gottesbeweis. Der vierte Weg ist nicht ein
eigentlicher Beweis für die Existenz Gottes, sondern fügt eine Ergänzung
hinzu zum Begriffe jener ersten und notwendigen Ursache, deren Realität
schon auf dem zweiten und dritten Wege feststeht. Der fünfte Weg ist
bloss eine Entwicklung im Begriff der ersten Ursache, nicht in deren
Erweis. So sind die „fünf Wege" nichts anderes als Sektionen einer
und derselben Hauptstrasse, — Fr. Olgiati, II positivismo integral«.
p. 769. Der Vf. sucht die Haltlosigkeit des von E. Troilo in seinen
Schriften so warm verteidigten Positivismus darzutun. — Rezensionen usw.
Anno V, Xo. 1 (20 Febbraio 1913): M BrusadelH, G. G. Rousseau
nel secondo ceutenario deHa sua nascita. p. 1. Hauptzüge der Per-
sönlichkeit und des Denkens Rousseaus. Rousseau als Soziologe in seinen
„Discours" und in seinem „Contrat social" (Forts, folgt). — L, Necchi,
1 limiti deir oggettivitä dei sensi esteiiii. p. 33. „1. Um sich einen
220 Zeitschriften schau.
exakten Begriff von dem Weil und von der Bedeutung der Tätigkeit der
äusseren Sinne bilden zu können, muss man diese Tätigkeit studieren
dort, wo sie sich äussert in der Abwehr vor dem Einflasse äusserer
Ursachen und Energien. 2 Die sensitive Tätigkeit des Menschen,
fundamental, insofern sie in den Dienst höherer psychischer Tätigkeiten
gestellt ist, stellt einen partikulären Fall dar, die einzige Ausnahme
im Tierreich. 3, Daher die Notwendigkeit, die Untersuchung über die
sensitive Erkenntnis nicht beim Menschen (Ausnahme) beginnen zu lassen,
sondern bei den Tieren (Regel). 4. Bei den Tieren hat und kann die
Funktion der äusseren Sinne nur eine praktische Wichtigkeit und Be-
deutung haben. 5. Für diesen Zweck ist die Existenz von sekundären
spezifischen Qualitäten in der Natur, die den Perzeptionen (der Farbe, des
Tones usv;-.) gegenüberstehen, nicht gerade gefordert; und da gegen die-
selbe starke experimentelle Gründe sprechen, so muss man notwendig auf
sie verzichten, und dieser Verzicht schliesst durchaus keine Unverträglich-
keit mit dem spezifischen Charakter der Sensation ein. 6. Absolut not-
wendig hingegen, gerade für die praktische Funktion der sensitiven Er-
kenntnis, ist ein Minimum von Objektivität, welches die Qualität der
primären Beziehungen oder Qualitäten von Zeit, Zahl, Raum fordert. 7. Die
sensitive Erkenntnis des Menschen nimmt natürhch Anteil an diesem Mi-
nimum von Objektivität. 8. Dieses Minimum erweist sich als notwendiges
und ausreichendes Element, um als Fundament dienen zu können für dis
Errichtung eines theoretischen Gebäudes von wahrliaft objektivem Wert"
(S. 57). - S. Beimond, La Ihigua della teodicea secondo G. Duus
Scoto. p. 58. „Duns Skotus hat sich angelegentlich mit der Frage be-
schäftigt, ob das Sein Gottes übersetzbar sei in die Formeln der Sprache,
und welcher objektive Definitionswert diesen Ausdrücken zugeschrieben
werden darf. Es ist nun meine Absicht, zu beweisen, dass er der zweiten
Frage eine verschiedene Lösung gibt, je nachdem Gott benannt wird in
seinem Sein und in .seinen unendlichen Attributen, oder nur in seinen
Beziehungen zu den Geschöpfen. Noch mehr : je nachdem die menschliche
Formel koordiniert ist der transzendentalen Wesenheit, oder Eigenschaften,
die sich gleicherweise, aber in einem beschränkten Grade und in einer
anderen Weise, in den Kreaturen finden, wird Duns Skotus bestimmt, die
genauen Grenzen des Begriffes der Eindeutigkeil in der Theodicee zu
präzisieren" (S. 58). „Duns Skotus unterscheidet in der Theodicee zwei
Kategorien von Namen: solche, die sich beziehen auf das, was Gott ist
(Wesenheit, Eigenschaften), und solche, die Beziehungen der Schöpfimg zu
Gott au.sdrücken. Nur die Namen der ersten Kategorie haben einen ob-
jektiven Definitionswert" (S. 62). Der Vf. handelt zunächst von den Namen
der ersten Kategorie (Forts, folgt) — G. Mattiu,ssi, Sülle „ciuque vie"
di S. Tomaso. p. 67. Die „fünf Wege" des hl. Thomas sind wirklich
fünf verschiedene Guttesbeweise. „Der hl. Thomas hat in 'der Summa
Zeitschriftenschau. 221
fünf allgemeine Grundbestimmungen der geschöpfliehen Dinge betrachtet,
um aus jeder derselben, unter einer verschiedenen Rücksicht, die Existenz
eines Ersten darzutun, das jegliche Vollkommenheit ist" (S. 72). —
Varisco gegen Tredicis Kritik über sein Buch „Gonosci te stesso". —
Rezensionen usw.
5] Rivista di Filosofia. Continuazione della Rivista filosofica
e della Rivista di Filosofia e Scienze affini. Organo
della societä filosofica italiana. Rologna, Formiggini. 1911.
Auno m, Fase. IV (Luglio-Ottobre 1911) : G. Marchesini, La
filosofia del „come se". p. 465. Ueber Vaihingers „Philosophie des
Als ob». — A. Zucca, Le lotte dell' individuo. p. 472. Die Kämpfe
des Individuums in der physischen, intellektuellen, ethischen, ästhetischen
Ordnung. Der Gegensatz zwischen dem Individuum und dem Unendlichen.
Sinn und Wert des Lebens und der Realität. — G. Salvador!, II signi-
ficato filosofico deir evoluzione. p. 493. Der Sinn der Entwicklung.
„Die einzige möghche Lösung, die einen Ausweg zulässt aus den unüber-
windbaren Schwierigkeiten des MateriaUsmus, des Spiritualismus und des
Dualismus, liegt in der Annahme einer psycho-physischen Realität, in der
die psychologischen Prozesse und die mechanischen Prozesse einfach die
zwei Ansichten, die zwei Seiten, die zwei Formen von innerer und äusserer
Tätigkeit eines identischen Seins darstellen" (p. 499). Entwicklung ist, wie
Giordano Bruno richtig gesehen hat, die Entwicklung des universalen
Geistes. — M. Vecehi, La logic a secondo le vedute di F. Enriques,
p. 500. Besprechung des Kapitels von der Logik in dem in 2. Auflage
erschienenen Buche „Problemi della scienza" von F. Enriques. — A. Pa-
gano, Positivitä, j?iuridicitä, eticitä. p. 508. Positives Recht, Gesetz,
Ethik. — A. Poggi, Socialismo e religione. p. 517. Die Stellung
der einzelnen geschichtUchen Formen des Sozialismus zur Rehgion. Die
Rehgion des Sozialismus ist und muss sein die Menschenhebe. —
Rezensionen usw.
Anno III, Fase. V (Novembre - Dicembre 1911): B. Donati,
Dottrina pittogorica e aristotelica della giustizia. p. 599. An der
Hand der Quellen untersucht der Vf. in eingehender und tiefgründiger
Weise den Begriff der Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen bei den
Pythagoräern und den Aristotelikern für sich und im gegenseitigen Ver-
hältnis. — P. Rotta, Ancora della filosofia di F. Paulsen. p. 672.
Eine Charakteristik der Philosophie Paulsens im Anschluss an die neue
Uebersetzung seiner „Einleitung in die Philosophie" ins Italienische. —
P. Ragnisco, La caratteristica della filosofia italiana. p. 698.
„Hat die italienische Philosophie (in ihrer seitherigen Entwicklung) eine
eigentümliche Eigenart gehabt, die sie von derjenigen der anderen Nationen
unterscheidet? Diese ihre Eigenart muss erhalten bleiben und immer mehr
Hhilogophischet Jahrbuch 1913. 15
222 Zeitschrift enschau.
zur Ausgestaltung kommen" (p. 698). Die italienische Philosophie muss
zurückkehren zum heiteren Naturalismus der Renaissance, zu jener glück-
lichen Lösung zwischen Materialismus und Spiritualismus in der Ueber-
windung des Dualismus. — L. M. Billia, Rorapicapi del Parinenide
e la tragedia del pensiero. p. 706. An einigen Beispielen wird gezeigt,
wie die ,, kopfzerbrechenden" Dialoge im Parmenides des Piaton keine
Scherze, Wortspiele, Subtilitäten sind, sondern die Einkleidung schwer-
wiegender Gedanken. — F. Bellooi-Filippi, Ancora sul teiua : ,,E il
Buddhismo uua religione o una filosofia? p. 713. Der Buddhismus
der Quellen ist eine Religion. - A. Fag-gi, Un moralista dimenticato.
p. 719. Analyse und Kritik des im Jahre 1878 unter den Zeichen P. G.
S. D. B. erschienenen dreibändigen Werkes „Etica razionale" (der Vf. ist
Pietro Giovanni Stefano Dalla Balla). — Rezensionen usw.
Anno IV', Fase. II (Marzo-Aprile 1912) : G. Zuccante, I Cire-
uaici. p. 157. Ueber Aristipp und die Kyrenaiker. — F. Weiss, II
pensiero di Giainbattista Vico. p. 180. Kritische Nachträge zu der
jüngst erschienenen Schrift „La Filosofia di G. Vico" von Croce. — M.
Losacco, La filosofia dell' organismo. p. 193. Ueber Hans Driesch,
Die Philosophie des Organischen (Leipzig 1909, zwei Bände). — V.
Macchioro, La ricerca del simbolo nelle arti figurative. p. 210.
„Mit dieser Studie . . . lege ich ein neues System vor, das uns ermög-
licht, mit grösserer Strenge die bildenden Künste, insofern sie Erzeugnisse
von Bewusstseinszuständen sind, zu bewerten. Nicht ein ästhetisches System,
sondern ein hermeneutisches : auf empirischen Grundlagen a posteriori"
(S. 21Ö), „Mein System teilt also die ganze Kunst ein in bewusste
Symbolik und unbewusste Symbolik; diese Unterscheidung wird
bewerkstelligt mit Hilfe dreier Kriterien: Grösse, Lage und Physiognomie"
(p. 225). — L. Visconti, Evoliizione e dissoluzione della coscienza
religiosa. p. 231. „Die vorliegende Untersuchung bezielt das Studium
der verschiedenen Formen und verschiedenen Haltungen des religiösen Be-
wusstseins, sowie die Phasen jenes Phänomens, das sich die Auflösung des
religiösen Bewusstseins nennt" (p. 231). — A. Bonucci, Libertä di volare
e libertä politiea. p. 231. Der Vf. tritt ein für grösste Freiheit des
Individuums im staatUchen Leben. — Rezensionen usw.
Anno IV, Fase. III (Maggio-Giugno 1912): G. Tarozzi, Empi-
rismo filosofico. p. 305. 1. Mannigfache Bedeutungen und verschiedene
geschichtliche Gestaltungen des Empirismus. 2. Der „eingeschlafene Riese"
Euckens und das unaussprechliche Individuum. 3. Der Empirismus und
die Kritik des Reduktionsbegriffes. 4. Der Begriff des Seins und die
Tätigkeit. 5, Fassungen des Empirismus bei W. James. Das chronologische
Verhältnis in der Analyse der Erkenntnis. 6. Die theoretischen Grundlagen
des Empirismus und der Begriff des Universums. 7. Der philosophische
Empirismus und die Psychologie. 8. Der Empirismus und das logische,
Zeitschriftenschau. 223
epistomologische Problem der Wissenschaft. 9. Der Empirismus und die
induktiven Grundlagen der humanitären Ethik, 10. Das ästhetische Gefühl
als synthetische Offenbarung von Humanität. 11, Die empirische Haltung
im religiösen Denken. 12. Empirismus und Humanität. — A. Faggi, II
pensiero. p, 335. Das Wesen des Gedankens bzw. des Denkens. — G.
Paladiuo, Per l'edizione critica della ,,Cittä del Sole" di Tomaso
Carapanella. p. 347. Abdruck der Vorrede zur kritischen, vom Vf. be-
sorgten Ausgabe der „Civitas solis" des Th. Campanella. — F. Belloni-
Filippi, II ,,Paticcasamuppäda". p. 361. Philologische und kritische
Richtigstellungen und Ergänzungen zur italienischen, von dem Florentiner
Sinologen Puini hergestellten Uebertragung der chinesischen Uebersetzung
des Mahäparinibbänasutta (Dighanikäya), „auf den die Nachrichten über die
letzten drei Monate des Lebens Buddhas zurückgehen" (p. 361). — A.
Mieli, Scienziati e pensatori di Kyrene. p. 367. In Ergänzung des
Aufsatzes von Zuccante (Riv. di Kilos. IV 2 [1912] 157 ff.), der die Philo-
sophen der Kyrenaischen Schule im 4. Jahrhundert v. Chr. besprach, be-
handelt der Vf. die verschiedenen Literaten und Denker, „die aus der alten
Hauptstadt des Gebietes, das Italien im gegenwärtigen Augenblick zu er-
obern im Begriffe steht", in den vorchristlichen und in den ersten christ-
lichen Jahrhunderten hervorgegangen sind. — Rezensionen usw.
Anno IV, Fase. IV (Luglio-Ottobre 1912) : A. Calcaguo, Henri
Bergson e la cultiira contemporanea. p. 407. „H. Bergson tasst in
seiner Philosophie persönlich und kraftvoll die Tendenz, welche die tiefste
Charakteristik der aktuellen philosophischen Bewegung bildet, zusammen
zu einer Wiederverbindung der Natur und des Geistes durch eine Total-
synthese des Lebens hindurch" (S. 407). — P. Carabellese, II fatto
educativo. p. 432. 1. Die „erzieherische Tatsache". 2. Zweck und
Bewusstsein in der erzieherischen Beziehung. 3. Die Einheit der „er-
zieherischen Tatsache". 4. Das erzieherische Wissen und seine Funda-
mentalprobleme. — B. Bertini Calosso, L'autonomia scientiflca della
Storia dell' arte. p. 467. Der Vf. legt dar, dass die Geschichte der
Kunst als ein selbständiger Wissenszweig anzusehen ist. -- C. Ranzoli,
La concezione del caso conie ignoranza. p. 475. „Der Begriff des
Zufalls als Unkenntnis der Ursache, der den meisten deterministischen
Systemen eigentümlich ist, hat seinen Ursprung in dem vorgefassten Streben,
die Allgemeinheit des Kausalitätsprinzips zu retten, und setzt mithin voraus,
dass der Zufall objektiv verstanden werden kann nur im vulgären Sinne
des Fehlens der Kausalität" (S. 489). — V. Neppi, La gnerra di fronte
alla ragione. p. 490. 1. Die Unzulänglichkeit eines Naturrechts für den
Krieg. 2. Bestätigung unserer Behauptung; a. Die Schlussfolgerungen einer
neuen Schrift des Professors G. del Vecchio ; b. das Kriegsrecht. 3. Unsere
Schlussfolgerung (Abschaffung des Krieges). — Rezensionen usw.
224 • Zeitschriftenschau.
Anno IV, Fase. V (Novembre-Dicenibre 1912) : R. Ardigö, Le
forme ascendenti della realitä eome cosa e eonie azione e i diritti
veri dello spirito. p. 555. „Auf Grund dessen, was wir soeben bewiesen
haben, können wir beschliessend sagen: Im Schosse des All und durch
die Kraft, die in demselben ungeschieden ist, erscheinen und folgen sich
die Geschiedenen, Ding und Tätigkeit zugleich, in aufsteigender Reihe,
vom imgestalteten Materiellen zum Organismus, dem vegetativen zuerst,
dann dem animalischen bis zum Menschen, unter dem statischen Aspekt;
und physische Tätigkeit zuerst, dann physiologische, dann psychische, die
sich der Geist des Menschen nennt, unter dynamischem Aspekt; und
indem sich die Kratt in dieser Weise immer mehr oftenbart, wird sie selber
alles" (S. 580). — A. Aliotta, I gradi della libertä morale. p 581.
Weder der absolute Determinismus, noch der absolute Indeterminismus, noch
der absolute Idealismus, noch Kants Auffassung, noch die spiritualistische
Lehre in der Form des arbitrmmi indifferentiae erklären die Grade der
Freiheit und Verantwortlichkeit ; wohl aber jener Spiritualismus, der im
Einklang steht mit den Tatsachen der Erfahrung. — B. Ginliano, II
pensiero e l'AssoIuto. p. 587. Im Anschluss an das Werk von Varisco,
Conosci te sesso, behandelt der Vf. : 1. „Erkenne Dich selbst". 2. Die
Einheit der Phänomene und des Bewusstseins. 3. Die absolute Realität
nach Varisco. 4. Transzendenz und Immanenz des Absoluten. — B. Do-
nati, II valore della guerra e la filosofia di Eraclito. p. 600, Der
Krieg als Schule der Tüchtigkeit, als Gewalttat, der Krieg und die her-
kömmliche Rechtfertigung in Erwägung seiner Ursachen und Zwecke, der
unmittelbare objektive Zweck des Krieges : der Friede ... die Lehre
Heraklits über den Krieg und seine Philosophie. — Note critlche alla
„Filosofia dello spirito" di Benedetto Croce. p. 652. Die Logik
Croces verglichen mit derjenigen Hegels inbezug auf die Theorie des Be-
griffs und auf die Klassifikation der Wissenschaften. — Rezens-onen usw.
Novitätenscliau.
Eine Bibliographie der philosophischen Erscheinungen
des Jahres 1912.
Zusammengestellt von
Prof. Dr. Pohle in Breslau und Prof. Dr. Ed. Hartmann in Fulda
Die mit einem * bezeichneten Werke gehören dem Jahre 1911 an.
I. Allgemeines.
A. Lehrbücher und allgemeine Darstellungen.
Ambrosi, L., II primo passo alla filosofia. I. Psicologia. 5* ed. Roma
Soc. Dante Alij^hieri.
*Basto8, J, de, R., Filosofia populär, Pensiamentos, maximos y pro-
verbios. Trad. de la cuarta edicion portugesa. Barcelona, Gili.
Bilharz, A., Philosophie als üniversalwissenschaft. Deduktorisch dar-
gestellt. Wiesbaden, Bergmann. 8. VII, 127 S. M. 2,80.
Braun, 0., Grundriss einer Philosophie des Schaffens als Kulturphilo-
sophie. Einführung in die Philosophie als Weltanschauungslehre.
Leipzig, Göschen. 8, 262 S. Ji 4,50.
Brochard, V., Etudes de philosophie ancienne et de philosophie mo-
derne. Paris, Alcan.
Calkins, M. W., Persistent Problems of Philosophy. 3'^ edition. New
York, Macmillan.
Cohen, H., System der Philosophie. 3. (Schlus8)-Teil Awstbetik des
reinen Gefühls. 2 Bände. Berlin, Cassirer. gr. 8. XXV, 401 und
XV, 477 S. M. 18.
Gorrea, J. A., Philosophie divine et humaine. Paris, Aillaud, Alves &^ie.
Dalman y Gratacös, F., Elementos de filosofia. Psicologia. Barce-
lona, Gili. 432 p. Pes. 7,50.
Driesch, H., Ordnungslehre. Ein System des nicht -metaphysischen
Teiles der Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung vom Wer-
den. Jena, Diederichs. gr. 8. 355 S. Ji 8.
Dubray, Ch. A., Introductory Philosophy. A Textbook for Colleges
and Schools. London, Longmans. 8. Sh. 10 6.
Egger, Fr., Propaedeutica philosophico-theologica. Septima editio re-
cognita curis F. Scbmid Brixen, Weger.
Eisler, J., Lehrbuch der Philosophie. Wien, Eisenstein.
226 Novitätenschau.
Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften. In Verbindung mit
W. Windelband, herausgegeben von A. Rüge. Tübingen, Mohr. Lex. 8.
1. Band. Logik. 2 Hälften. VIII, 275 S. M. 7.
Fague t, E., Initiation into Philosophy. From the French by H. Gordon.
London, Williams & Norgate. 8. XI, 197 p. Sh. 2/1.
Gredt, J., Elementa philosophiae aristotflico- thomisticae. Vol. II.
Metaphysica. Ethica. Ed. altera, aucta et emendata. Freiburg i. B.,
Herder, gr. 8. XIX, 447 S. M. 6,80.
Häberlin, P., Wissenschaft und Philosophie. Ihr Wesen und Verhältnis.
2. Bd. Philosophie. Basel, Kober. 8. 427 S. M. 1.
Herbertz, R., Die philosophische Literatur. Ein Studienführer. Stutt-
gart, Spemann. gr. 8. IV, 222 S. M. 5.
Heussner, A., Die philosophischen Weltanschauungen und ihre Haupt-
vertreter. Erste Einfuhrung in das Verständnis philosophischer
Probleme. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen, Vandenhoeck
& Ruprecht. 8. IV, 276 S. Jk 3,60.
Joel, K., Seele nnd Welt. Versuch einer organischen Auffassung. Jena,
Diederichs. 8. VII, 426 S. Ji 8.
Lasplasas, Dincurso sobre la filosofia. Resumen de „Mi Concepto del
Mundo". Barcelona, Imprenta Arolas.
Lechamy, Precis de philosophie. Paris, Hatier.
Lehmen, A., Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer
Grundlage zum Gebrauche an höheren Lehranstalten und zum Selbst-
unterricht. 3. Band. Theodizee. 3., verbesserte u. vermehrte Auflage.
Herausgegeben von P. Beck. Freiburg i. B., Herder, gr. 8. XIII,
315 S. Jk 4.
Levesque, Precis de philosophie. I.Psychologie. Paris, de Gigord. 8. 595p.
Lottini, J., Compendium Philosophiae scholasticae et ment^m S. Thomae
Aquinatis. Editio III. Vol. II. Cosmologia et Anthropologia.
Vol. III: Theologia naturalis et philosophia moralis. Roma, Pustet.
Meixner, M, F., Reflexionen. Grundstriche zu einer realen Philosophie.
1. Band. Wien, Frick. 8. XV, 409 S. M. 6,60.
Mercier, D., Nys, D., Arendt, A., Halleux, J., De Wulf, M.,
Simons, G., Traite elementaire de Philosophie ä l'usage des classes.
2 vol. 4^ ed. Louvain, Institut superieur de Philosophie.
Paulsen, F., Einleitung in die Philosophie. 24. Aufl. Stuttgart, Gotta
Nachfolger, yr. 8. XVI, 466 S. M. 4,50.
Perry, R B., Present Philosophical Tendencies. A Critical Survey of
Naturalism, Idealism, Pragmatism and Realism. London, Longmans.
8. Sh. 10/1.
Pctresen, N., Zur Begriffsbestimmung der Philosophie. Eine kritische
, Erörterung. Berlin, Simion. 8. 92 S. M. 2.
Petzoldt, J, Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen
Fositivismus aus historisch-kritisch dargestellt. 2. vermehrte Aufl.
Nr. XIV der Sammlung Wissenschaft u. Hypothese. Leipzig, Teubner.
8. XII, 210 S. M. 3.
Pfordten, 0. v. d., Konformismus. Eine Philosophie der normativen
Werte. 2. Teil. Psychologie des Geistes. Heidelberg, Winter, gr. 8.
X, 249 S. A 6.
Philosophie, Die der Gegenwart. Eine internationale Jahresübersicht,
herausgegeben von Arnold Rüge. II. Literatur 1910. Heidelberg,
Weiss, gr. 8. X, 306 S. M. 17,50.
Novit, ätftnschau. 227
Reiner, J., Aus der modernen Weltanschauung. Leitmotive für denkende
Menschten. 3. Auflage. Leipzig, Tobias. 8. VII, 262 S. M. 5.
— , Philosophisches Wörterbuch. Leipzig, Tobias. 8. IV, 295 S. M. 5.
Kichert, H., Philosophie. Ihr Wesen, ihre Probleme, ihre Literatur.
2. Aufl. Nr. 186 aus der Sammlung Natur und Geisteswelt. Leipzig,
Teubnei. 8. VI, 142 S. M. 1,25.
Rignano, E., Essai de synthese scientifique. Paris, Alcan. 8. XXX,
295 p.
Rüssel, B., The Problems of Philosophy. London, Williams and Nor-
gate. 12. 255 p. Sh. 1.
Schmidt, F. J., Der philosophische Sinn, Programm des energetischen
Idealismus. Nr. 2 der Wege zur Philosophie. Göttingen, Vanden-
hoeck & Ruprecht. 8. IV, 104 S. M. 1,50.
Schmidt, H., Philosophisches Wörterbuch. Leipzig, Kröner kl 8
106 S. A 1. ^ ^'
Schneider, A., Die philosophischen Grundlagen der monistischen
Weltanschauungen. Nr. 1 der Sammlung Natur und Kultur.
München, Isaria-Verlag. 8. IV, 91 S. Ji 1.
Schneider, H., Philosophie vom Zweck aus. 1. Religion und Philo-
sophie. Ihr Wesen und ihre Aufgaben in der Gegenwart. Leipzig
H.nrichs. gr. 8. 13, 232 S. J(, b.
Sortais, G., Traite de Philosophie, 3 vol. Paris, Lethielleux.
Steinilber, E., Essai critique sur les idees philosophiques contempo-
raines. Paris, Gauthier-Villars.
Stewart, H. L., Questions of the Day in Philosophy and Psychology
London, Arnold. 8. 296 p. Sh. 10/6.
Stock), A., Lehrbuch der Philosophie. Neubearbeitet von G. Wohl-
muth. 2. Bd. Lehrbuch der allgemeinen Metaphysik (Ontotogie.)
8. Aufl. Mainz, Kiecbheim. gr. 8. XI, 457 S. M. 6.
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B. Philosophische Zeitschriften.
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penences. Directeur: Dar ieux. Paraissant tous les deux mois. Paris,
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1911. Paris, Alcan. 286 p. Fr. ö.
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Annee sociologique. Periodique annuel, publie sous la direction de
E. Durkheim. 15^ annee (I9lü— 1911). Paris, Alcan. 8. i'r. 12,50.
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Br. Bauch. Die Kantstudien erscheinen in zwanglosen Heften, die
zu Bänden von ungefähr 500 Seiten zusammengefasst werden. Berlin,
Reuther & Reichard. Preis des Bandes Jk 12.
Leben, Das. Zeitschrift einer universal neuen Wehanschauung. Heraus-
gegeben von P. Becker. 2. Jahrgang. Magdeburg, Verlag der Zeit-
schrift „das Leben". 26 Nummern. M. 2.80.
Lebensreform, Die. Herausgegeben von E. W. Trojan. 19. Jahr-
gang. Schöneberg-Berhn, Verlag „Lebensreform", 24 Nummern. M. 4.
Leonardo, Rivista d'idee. Direttore Papini. Esce ogni due mesi.
Firenze, Borgo Albizi. Fr. 7,50.
Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Unter Mit-
wirkung von R. Eucken, 0. Gierke, E. Husserl, Fr. Meinecke.
H. Rickert, G. Simmel, E. Troeltsch, M. Weber, W. Windel-
*230 Novitätenschau.
band und H. Wölfflin herausgegeben von G. Mehlis. Tübingen, Mohr.
Lex.-8. Jähdich J(>. 9.
Mendel Journal. Edited by Taylor, Garnett, Evans. London.
Menschenkenner, Der. Monatsschrift für praktische Psychologie. Heraus-
gegeben von F. Dumstrey und M. Thumm Kintzel. 5. Jahrgang.
12 Nummern. Leipzig, Wigand. gr. 8, Jährlich JL 6.
M e ns ch he its ziele. Eine Rundschau für wissenschaftlich begründete
Weltanschauung und Gesellschaftsrelorm. Herausgegeben von H. Mo-
lenaar. Leipzig, Wigand. 4 Hefte M.6 (einzelne Hefte M. 1,80).
Mind. A quaterly Review of P.sychology and Philosophy. Edited by G.
F. Stoot. Vol. XXL London, Williams & Norgate. Yeavly Sh. 12.
Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für psychische Forschung.
Schriftleiter : G. Kaleta. Leipzig, Theosoph. Verlagshaus. 12 Hefte. M. 5.
Monatsschrift für Soziologie. Herausgegeben von Eleutheropulos
und R. von Engelhardt. Leipzig, Eckardt. Jährlich 12 Hefte Jd. 20.
Monismus, Der, Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kultur-
pohtik. Blätter des deutschen Monistenbundes. Herausgegeben von
J. Unold. Redaktion: A. v. Hügel. München, Verlag des deutschen
Monistenbundes. JährHch 12 Nummern. M. 3.
Monist. Edited by Carus. Devoted to the etablishment and Illustration
of the principles of Monisme in Science, Philosophy, Religion and
Sociology. Chicago, Open Court. $ 2.
Monist. Halbmonatsschrift zur Förderung einer vernünftigen Einheits-
Weltanschauung. Herausgegeben von A. Teich mann. 7. Jahrgang.
Leipzig, Teichmann. 24 Nummern Ji. 6.
Nuovo risorgimento. Rivista di filosofia, scienze, lettere, educazione
e studi sociali. Torino, Bocca. 12 Hefte.
Philosophical Review. Edited by J. G. Schurmann. Boston,
Ginn & Co. $ 3.
Philosophie de l'avenir. Revue de Socialisme rationel, paraissant
tous les deux mois. Fondee par F. B orde. Bruxelles, Manceau. 8. Fr. 6.
Philosophisches Jahrbuch. Auf Veranlassung und mit Unter-
stützung der Görresgesellschaft unter Mitwirkung von J. Pohle und
Chr. Schreiber herausgegeben von C. Gutberiet. XXVL Jahrgang.
4 Hefte. Fulda, Actiendruckerei. gr. 8. M 9.
Dazu ein Register zu Bd. 1—20 (Jahrgang 1888—1907). Bearbeitet von
Dr. Chr. Schreiber. Fulda, Actiendruckerei. gr. 8. VI, 208 S. M>. 4.
Philosophische Wochenschrift und Literatur -Zeitung.
Unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrter herausgegeben von
Jerusalem, Kinkel und H. Renner. Leipzig, H. Rohde. Jähr-
lich M. 12.
Piaton ist. Edited by Th. Johnson. 4 Hefte. Osceola, Missouri.
Proceedings of the AristotelianSociety forthe systematic Study
of Philosophy. London, Williams and Norgate. 8. Sh. 2/6.
Proceedings of the Society of Psychical Research. London, Trübner & Co.
Psychische Studien. Herausgegeben und redigiert von A. Aksakow.
Leipzig, Mutze, gr. 8. Halbjährlich JC 5.
Psychological Review. Edited by J. M. Baldwin, H. C. Warren.
New-York, Macmillan. The Review is issued in two sections: the
Article Section appears bimonthly, the Liter ary Section
(Psychological Bulletin) appears on the fifteenth of eaeh month.
Annuel Subscription to Both Sections « 4 (Postal Union $ 4,30).
Novitätenschau. 231
In Coniiection with the Review is published annualy:
Psychological Index. Index and Review. $ 4,50 (Postal Union
« 4,85). Index alone 75 (Postal Unione) Cents.
Psychologische Studien. Herausgegeben von W. Wundt. Neue
Folge der Philosophischen Studien, Die Psychologischen Studien
erscheinen in Heften zu je 4—6 Bogen, von denen je 6 einen Band
bilden. Leipzig, Engelmann.
Psyke. Tidakrift for psykologisk forskning. Herausgegeben von Syd-
ney Alrutz. Unter Mitwirkung von H. Höffding, A. Grotenfeld
et M. Vold. Stockholm, Bonnier.
Publications of the üniversity of Pennsylvania. Philosophical
Senes, edited by G. St. Fullerton and J. Mc. Keen. Philadelphia
Umversity of Pennsylvania, Press Publishers.
Rassegna critica di Filosofia, Scienze e Lettere. Foodata dal Prof
A. Anguilli. Anno XXXI. Nuova Serie. Direttori: G. A, Golozza
et E. D. Marin is. 12 Hefte. Napoli. L. 7.
Religion und Geisteskultur. Herausgegeben von Steinmann.
GöttiDgen, Vandenhoeck & Ruprecht. 4 Hefte. M. 6.
Review of Theology and Philosophy. Edited by Allan Menzies.
Edmgburgh, Schnitze & Co. Yearly Subscription Sh. 15.
Revue de l'Hypnotisme et de la Psychologie physiologique
Dirigee par Berillon. 19^ annee. Paris.
Revue de Metaphysique et de Morale. Seerefaire de la Redaction:
X. Leon. Paraissant tous les deux mois. 20^ annee. Paris, Colin
gr. 8. Un an (6 numeros): Fr. 11. Union postale Fr. 15
Revue de Philosophie. Directeur: E. Peillaube. 13« annee. Parait
tous les mois. Prix de Tabonnement : Fr. 20. Union postale Fr. 25.
Revue des Etudes psychiques. Directeur: D. Vesme. Paris
Passage Saulnier 23. Fr. 8. '
Revue des idees. ]&tudes de critique generale. Paraissant le quince
de chaque mois. Directeur: E. Dujardin. Prix du numero:
Mr. 1,40. France un an Fr. 16. Union postale Fr. 18. Admini-
stration: Paris, rue du Vingtneuf Juillet 7.
Revue des sciences philosophiques et theologiques Paris
Lecoffre. 4 Hefte ä 14 Bogen. Fr. 12.
Revue generale des sciences psychiques. Directeur: E. Bosc.
Pubhee tous les mois. Paris, Daragon. Abonnement annuel Fr. 10.
Revue internationale de Psychologie comparative Direc-
teur: A. Mailloux. Editeurs: V. Giard etE. Briere. Parait deux
fois par mois. Paris, rue du Soufflot 15. Fr. 15. Union postale
jPr. 18. '^
Revuemensuelledel'Ecole d'Ant hropologie de Paris. Dirigee
par les professeurs de cette ecole. Ir. 10.
Revue Neo-Scolastique. Publiee per la Societe philosophique de
Louvain. Fondateur : D. Mercier. Louvain, Institut superieur de
Philosophie. 19e annee, 4 numeros. Ir. 10. Union postale Fr. 12.
Revue philosophique de la France et de l'Etranger. Parait
tous les mois. Directeur: Th. Ribot. 37<= annee. Paris, Alcan. gr. 8.
Fr. 30. Pour l'Etrang. Fr. 33. . 6 • .
Revue psychologique. Directeur: M. Joteiko. Un fasc. par tri-
mestre. Bruxelles (rue Madeleine 42). Un an Fr. 10.
232 Novitätenschau.
Revue scientifique et morale du Spiritisme. Directeur: De-
lanne. 16^ annee. Parait lous le3 mois. Paris, Boulevard Grel-
mans 40. Fr. 10. '
Revue Thomiste. Directeur: R. P. Coconnier. 0. P. 20« annee.
Parait tous les deux mois. Paris, Faubourgh St. Honore 22. Fr. 14.
Rivista di Filosofia. Direttori: A. Faggi, F. Juvalta, A. Levi,
G. Marchesini, L. Valli, B. Varisco. Die Zeitschrift bildet
die Fortsetzung der Rivista Filosofica und der Rivista di Filosofia
e Scieuze affini. Modena, A. F. Formiggini.
Rivista di F ilosof ia Neo-scolastica. Segretari di Redazione:
G. Canella et A. A. Gemelli. 4 Hefte. Florenz. Libreria editr.
Fiorentina. Fr. 9.
Rivista di Psicologia applicata alla Pedagogia ed alla Psicopato-
logia. Publicata da G. C. Ferrari. Bologna. Esce ogni due niesi.
L'abonnamento annuo L. 8. Per l'Estero L. 10.
Rivista italiana di Sociologia. Consiglio direttivo : A. Bosco,
G. Gavaglieri, G. Sergi, V. Tangorra, E. Tedeschi. Roma.
Abonnamento acnuo. L. 10 (Unione postale L. 15).
Rivista mensile di Filosofia scientifica, Dircttore: Morselli.
Genova, Via Assarotti 46.
Rundschau, Ethische Moaatsschrift zur Läuterung und Vertiefung der
ethischen Anschauungen und zur Förderung ethischer Bestrebungen.
Herausgegeben und redigiert von M. Schwuntje. Berlin, Schwantje.
12 Hefte. M. 3.
Rundschau, Neue metaphysische. Monatsschrift für philosophische,
psychologische und okkulte Forschungen in Wissenschaft, Kunst und
Religion. Herausgegeben und redigiert von P. Zillmann. Berlin-
Lichterfelde, Zillmann. gr. 8, 6 Hefte. M. 6.
Seien tia. Revue internationale de synthese scientifique. Direction :
(i. Bruni, A. Dionisi, F.Enriques, A. Giardina, E. Rignano.
Editeurs: Zanichelli Bologna, Alcan Paris, Engelmann in Leipzig,
Williams & Norgate Londres. 4 numeros par an, de 200 — 300 p.
chacun. Prix de Tabonnement: 25 Fr., 20 J^., 20 Sh.
Studies in Psycholog y. Edited by Seashore. New- York, Mac-
millan. $ 1.
Studies from the Yale Psychological Laboratory. Edited
by Judd. New-Vork, Macmillan. %1.
Tijdschrift voor W ijsbegeerte. Herausgegeben von Bierens
de Haan, J. deBoer, Grondys, Kohnstamm, Meyer und
Pen. Amsterdam.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Soziologie. Gegründet von R. Avenarius. In Verbindung mit
Fr. Jodl und A. Rhiel herausgegeben von P. Barth. 36. Jahrgang.
4 Hefte. Leipzig, Reialand. M. 12.
Weg zum Licht, Monatsschrift zur Förderung geistiger Welt-
anschauung. Schriftleiter: G. Zawadzki. 4. Jahrgang. Leipzig,
Theosoph. Verlagshaus. 12 Nummern. M. 6.
Weltanschauung, Neue. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf
naturwissenschaftlicher Grundlage. Redigiert von W. Breitenbach.
Stuttgart, Lohmann. 12 Hefte. M. 4.
\
Novitätenschau. 233
Wissen und Wollen, Organ des Schafferlogenbundes für neupsycho-
logische Persönlichkeitskultur und Gesellschaftsveredelung. 2. Jahrg.
Leipzig, Excelsior-Verlag. gr. 8. 12 Nummern. M>. 4.
Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft.
Herausgegeben von M. Dessoir. Stuttgart, Enke. Lex.-8. Jk 10.
Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelforschung. Zugleich Organ des Instituts für angewandte
Psychologie und psychologische Sammelforschung. Herausgegeben
von W.Stern und 0. Lipmann. Erweiterte Fortäetzung der Bei-
träge zur Psychologie der Aussage. Leipzig; Barth, gr. 8. M. 20.
Zeitschrift für experimentelle Pädagogik, psychologische
und pathologische Kinderforschung mit Berücksichtigung der
Sozialpädagogik und Schulhygiene. Herausgegeben von E. Meumann.
Leipzig, Nemnich. 6 Hefte, gr. 8. Ji 12.
Zeitschrift für immanente Philosophie. Unter Mitwirkung
von W. Schuppe und R. v. Schubert-Soldern herausgegeben von
B. R. Kaufmann. 4 Hefte. Berlin, Phil.-histor. Verlag. Jk 10.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Hygiene.
Begründet von F. Kenisies, herausg. von M. Brahn, G. Deuchler,
0. Scheibner. Leipzig, Quelle & Meyer, gr. 8. 12 Hefte. Ji 10.
Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik. Herausgegeben
von 0. Flügel und W. Rain. Langensalza, Beyer & Söhne. 8.
6 Hefte. Ji 6.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik.
Vormals Fichte -Ulricische Zeitschrift. Im Verein mit H. Siebeck,
J. Volkelt und R, Falckenberg herausgegeben und redigiert von
H. Schwarz. 12 Hefte. Leipzig, Voigtländer. Lex.-8. Ji. 6.
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes-
organe. In Gemeinschaft mit S. Exner, J. v. Kries, Th. Lipps,
A. Meinong, G. E. Müller, C. Pelmann, L. Stumpf, Th. Ziehen heraus-
gegeben von F. Schumann und J. R. Ewald. Leipzig, Barth.
Jährlich erscheinen 2 — 3 Bände, jeder zu 6 Heften. 1 Band M. 15.
Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theo-
logie und Medizin. Herausgegeben von G. Runze, 0. Klemm,
J. Bresler. Leipzig, Barth, gr. 8. Monatl. 2 — 3 Bog. Jährl. Ji 10.
C. Sammelwerke und einzelne Werke berühmter Philosophen.
Alembert, de, Einleitung in die französische Enzyklopädie von 1751.
Herausgegeben von E. Hirschberg. I.Teil: Text. Band 140a der
Philosophischen Bibliothek. Leipzig, Meiner. 8. XXIII, 164 S. Ji 2,50.
Aristotelis Ethica Nicomachea. Edidit Fr. Susemihl, Ed. tertia.
Leipzig, Teubner.
Aristotele, Dell' anima, passi scelti e comm. da V. Allmayer, Bari,
Laterza.
Aristo te. La methaphysique, livre Jer. Traduction et commentaire par
G. Colle. Louvain, Institut superieur de Philosophie. 8. VI, 171 p.
Aristo tle's Constitution of Athens. A Revised Text by J. E. Sandys.
London, Macmillan. 8. Sh. 12/6.
Jamblichos, Theurgia, or the Egyptian Mysteries. Translated from
the Greek by A. Wilder. London, Rider. gr. 8. 284 p. Sh. 7/6.
234 NoTitätenschau.
Averroes, D., Metaphysik. Nach dem Arab. übersetzt von M.Horten.
36. Heft der Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte.
Halle, Niemeyer. 8. XIV, 238 S. Ji. 7.
Berkeley, Versuch einer neuen Theorie der Gesichtswahrnehmung, ver-
teidigt und erläutert. Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen
von R. S chmidt , durchgesehen und durch Vorwort eingeführt von
P. Barth. 143. Band der Philosophischen Bibliothek. Leipzig, Meiner.
8, Xn, 152 S. A 2,80.
Bois-Reymond, Emil du, Reden. In 2 Bänden. 2, vervollständigte
Auflage. Herausgegeben von E. du Bois-Reymond. Leipzig, Veit.
8. XXXVIII, 677 S. M. 18.
Rolin, W., Ewiges L^ben. Hauptinhalt der Gedanken über Tod und
Unsterblichkeit von L. Feuerbach. In freier Wiedergabe mit Ein-
leitung. Leipzig, Engelmann. 8. IV, 106 S. M. 1.
Bossuet. CEuvres choisies, par J. Calvet. Paris, Bloud.
Carlyle et Emerson, Correspondance. Traduction frangaise. Paris,
Goliü. X, 318 p.
Carlyle, Th., Arbeiten und nicht verzweifeln. Auszüge. Deutsch von
M. Kühn und Kretzschmar. Düsseldorf, Langewiesche. 8.
217 S. M. 1,80.
Cherfils, Gh., Systeme de politique positive ou Traite de sociologie
d'A. Comte. Paris, Giard et Briere. 8. VIII, 635 p.
Comte, A, Pages choisies. Notices et commentaires par R. Picard.
Paris, Cres. 16. 388 p.
*Comte, A., Philosophie positive. 4 vol. Paris, Flammarion.
Cournot, A, Essai sur les fondements de nos connaissances et sur les
caracteres de la critique philosophique. Nouvelle edition. Paris,
Hachette. 8. VII, 614 p
Descartes, Philosophical Works. Rendered into English by E. Haidane
and G. R. T. Boss. Cambridge, üniversity Press. 8. 388 p. Sh. 10/6.
— , R., Meditationes de prima philosophia. Im Anschluss an die Pariser
Jubiläumsausgabe nach dem zweiten Amsterdamer Drucke und der
ersten französischen üebersetzung mit Anmerkungen, neu heraus-
gegeben von C. Gut 1 1er. 2. Auflage. München, Beck. 8. XH,
296 S. M. 5.
Eckehardt's Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen
übersetzt und herausgegeben von H. Büttner. 1. Band. 2. Auflage.
Jena, Diederichs. 8. LIX, 241 S. M 5.
Emerson. Les forces eternelles et autres essais. Traduit de l'anglais
par K. Johnston. Paris, Mercure de France. 8. 241 p.
— , Society and Solitude and other Essays. New- York, Dent.
Engelhardt, E., Lebende Worte. Aus L. N. ToLstojs Werken ausge-
wählt. Regensburg, Wunderling. 16 VII, 131 S. A 1,50.
*Engels, F., Philosophie, economie, politique. Trad. par E. Laskine.
Paris, Giard et Briere. 8. CXIV, 420 p.
Ficht e's Reden an die deutsche Nation. Herausgegeben von A. Liebert.
Berlin, Deutsche Bibliothek, kl. 8. XVIII, 268 S. Ji. 1.
Fichte, J. G., Die Anweisung zum seligen Leben. Herausgegeben von
H.Scholz. Berlin, Deutsche Bibliothek, kl. 8. LIX, 234 S. M. l.
— , Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Ver-
nuuftreiche. Neu herausgegeben von F. Medicus. Band 132 c.
der Philosophischen Bibliothek. Berlin, Simion. 8. iV, 209 S. M. 3.
Novitätenschau. 2B5
Fichte, J. G., System der Sittenlehre (1812). Transzendentale Logik.
Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunft-
reiche. 6. Band der Werke Fichtes, herausgegeben und eingeleitet
von F. Medicus. Leipzig, Meiner. 8, V, 680 S. M,. 7.
— , Transzendentale Logik. Neu herausgegeben von F. Medicus. Band
132 b. der Philosophischen Bibliothek. Berlin, Simion. gr. 8. V.
298 S. M. 4.
Fragmente, Die, der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von
H. Di eis, 3. Autlage. 2 Bände. Berlin, Weidmann, gr. 8. I.Band
XVI, 434 S. M. 11. 2. Band VII, 345 S. M. 9.
Grosseteste, des Rob., Bischofs von Lincoln, philosophische Werke.
Zum erstenmal vollständig in kritischer Ausgabe besorgt von Dr. L.
Baur. IX. Band der Beiträge zur Geschichte des Mittelalters.
Münstej-, Aschendorff. gr. 8. XIII, 181 u. 778 S. mit Fig. M. 30.
He gel- Archiv. Herausgegeben von G. Lasson. 1. Heft. Hegels Ent-
würfe zur Enzyklopädie und Propädeutik nach den Handschriften
der Harvard -Universität. Mit einer Handschriftprobe. Heraus-
gegeben von J. Löwenherz. Leipzig, Meiner, gr. 8. XXIV,
58 S. M. 3,50.
Hegel's Doctrine of Formal Logik. Being a Translation of the First
Section of the Subjective Logic. With Introduction and Notes by
Macran. London, Frowde, 8. 316 p. Sh. 7/6.
Hegel. Neue Briefe und Verwandtes. Mit Beiträgen der Herren
Dr. E, Crous, Fr. Meyer, H. Nohl herausgegeben v. G. Lasson.
Leipzig, F. Meiner.
Hamster huis, F., Philosophische Schriften von J. Hilss. Karlsruhe,
Dreililien-Verlag. 8. XXX, 209 S. M. 10
Her hart, J. F., Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. 4. Aufl.
Mit Einführung herausgegeben von K. Häntscb. 146. Band der
Philosoph. Bibliothek. Leipzig, Meiner. 8 LXXVII, 388 S. M. 5.
— , Pensieri di pedagogia e di varia filosofia. Tradotti ed ordinati da
A Tom ei. Roma.
Horten, M., Die Philosophie der Erleuchtung nach Suhrawardi
(1191 t), übersetzt und erläutert. 88. Heft der Abhandlungen zur
Philosophie und ihrer Geschichte. Halle, Niemeyer, gr. 8. XI,
— , Mystische Texte aus dem Islam. Drei Gedichte des Arabi 1240.
Aus dem Arabischen übersetzt und erläutert (Kleine Texte für Vor-
lesungen und Uebungen herausgegeben von H. Lietzmann). Bonn,
A. Marcus u. E. Webers Verlag.
Höver, H, Roger Bacons Hylomorphismus als Grundlage seiner
philosophischen Anschauungen. Mit unedierten Texten aus den
Communia naturalium Fr. RogeriBacon u. 6 erläuternde Tabellen.
Limburger Antiquariat und Verlag. 8. VII, 264 S. M. 6.
Hume, D., (Euvres philosophiques choisies. Tome II. Traite de la
nature humaine. De l'entendement. Trad. de l'anglais par M. David.
Paris, Alcan. 8. 342 p.
— , Traktat über die menschliche Natur (treatise on human nature).
Ein Versuch, die Methode der Erfahrungen in die Geisteswissen-
schaften einzuführen. In deutscher Bearbeitung mit Anmerkungen
und einem Sachregister. Herausgegeben von Th. Lipps. Leipzig,
Voss. gr. 8. VIII, 380 S. M. 6.
'2SG Nnvitätenschau,
Jakobi's Spinoza-Büchlein. Nebst Replik und Duplik. Herausgegeben
von F. Mauthner. 2. Band der 1. Reihe der Bibliothek der Philo-
sophen. München, Müller. 8, 27, 344 S. Ji. 4,50.
*Jame.s, W., Memories and Studies. London, Longmans and Green.
Justinus' des Philosophen und Märtyrers Apologien. Herausgegeben
und erklärt von M. Ff attisch. I. Teil. Text. Münster, Aschendorff,
Kant, I., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 5. Aufl. Heraus-
gegeben, eingeleitet und mit Personen- und Sachregister versehen
von K. Vorländer. 44. Band der Philosophischen Bibliothek. Leipzig,
Meiner. 8. XX, 338 S. M 3,80.
— , Briefwechsel. In 3 Bänden. Herausgegeben von H. E. Fischer.
1. Band der L Reihe der Bibliothek der Philosophen. München,
Müller. 8. 15, 294 S. M. 5.
— , Critique de la raison pure. Traduction nouvelle avec introduciion
et notes, par A. Tremesaygues et B. Pacoud. 3® ed. Paris,
Alcan.
— , Critique de la raison pratique. Traduction nouvelle avec intro-
duction et notes par Fr. Picavet. 4^ ed. Paris, Alcan.
* — , Fondements de la metaphysique des mceurs. Tradition nouvelle
par H. Lachelier. 2« ed. Paris.
— , gesammelte Schriften. Herausgegeben von der königlich preussischen
Akademie der Wissenschaften. H. Band, L Abteilung: Werke. 4. Band
Kritik der reinen Vernunft. Prolegomena. Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen-
schaft. Berlin, Reiner, gr. 8. XHI, 655 S. M. 12.
— , sämtliche Werke in 6 Bänden. 1. Band, herausgegeben von F. Gross.
Leipzig, Insel-Verlag, kl. 8. 680 S. M 6.
— , Werke. In Gemeinschaft mit H. Cohen, A. Buchenau, 0. Buek,
A. Görland, B. Kellermann herausgegeben von E. Cassirer.
1. Vorkritische Schriften. I.Band. Herausgegeben von A. Buchenau.
Berlin, Cassirer. gr. 8. 541 S. Ji 9.
Kierkegaard, S., Gesammelte Werke. 5. Band. Der Begriff der Angst.
Uebersetzt von Chr. Schrempf. 9. Bd. Einübung im Christentum.
Jena, Diederichs. 8. 174 u. 243 S. M 3 v. 3,50.
Krebs, E., Scholastische Texte. I.Thomas von Aquin. Texte zum
Gottesbeweis. Ausgewählt und chronologisch geordnet. Bonn,
Marcus & Weber. 8 63 S. Ji 1,50.
Locke, John, Educational Writings. Edited by J. W. A d amson. London,
Arnold. 8. 284 p. Sh. 4/6.
Lotze, H., System der Philosophie. I.Teil: Drei Bücher vom Denken,
vom Untersuchen und vom Erkennen. 2. Teil: Metaphysik. Drei
Bücher: Ontologie, Kosmologie und Psychologie. Mit einem Anhang:
Die Prinzipien der Ethik, einem Namen- und Sachregister. Heraus-
gegeben von G. Misch. 141. und 142. Band der Philosophischen
Bibliothek. Leipzig, Meiner. 8. CXXVIII, 632 und VIII, 644 S.
M. 7,50 u. 8,50,
Lucrece, Morceaux choisis, publies par R. Pichon, 4^ edition. Parip.
Lulle, Raymond. Dialogues et cantiques d'amour entre l'ami et l'aime,
composes en catalau par le Docteur illumine et martyr Raymond
Lulle, et traduits pour la I^^^ fois en francais par A. Marius.
Bruxelles. 61 p.
Novitätenschan. 237
Maimonides, Ethics (Shemonah Perattin). Eight Chapters, A Psy-
chological and Ethical Treatise. Edited, annotated and tianslatßd
by J. Gorfinkl. London, Frowde. gr. 8. Sh. 8/6.
Maimon, S., Versuch einer neuen Logik oder Theorio des Denkens.
Nebst angehängten Briefen des Philalethes an Aenesidemus. Besorgt
von B.K. Engel. 3. Band der Sammlung Neudrucke seltener philo-
sophischer Werke. Berlin, Reuther & Reichard. gr. 8. XXXVIII,
445 S. M 7,50.
*Meredith, J. C, Kants Critique of Aesthetih Judgment, with Intro-
ductory Essay. Oxford, Clarendon Press.
Mendelssohn, M., Eine Auswahl aus seinen Briefen. Frankfurt a. M.,
Kauffmann,
Montaigne, M. de, Les essais. Vol. 4 et 5. London, Dent.
Nietzsche, Fr., Werke. 15. Bd. Nachgelassene Werke. Ecce homo.
Der Wille zur Macht. 1. u. 2. Bach. 2., völlig neugestaltete und
vermehrte Ausgabe des Willens zur Macht. — 16. Bd. Der Wille
zur Macht. 3. u. 4. Buch. 2., völlig neugestaltete und vermehrte
Ausgabe. — 18. Bd. Philologica. 2. Bach. Unveröffentlichtes zur
Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik. Leipzig, Kröner. 8.
XLVII, 502 ; XI, 574 u. XIV, 340 S. M 7, 7 u. 9.
Pegues, Tb., Commentaire francais litteral de la Somme theologique
de Saint Thomas d'Aquin. Tome VI. Toulouse, Privat. 8. VIII,
655 p. Tome VII. 572 p.
PetriCompostellani de consolatione rationis libri II. E codice
biblioth.-reg. monast. escorialeusis piimum edidit prolegomensisque
instruxit P. Petrus Blanco Soto. 4. Heft des VIII. Bandes der
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Münster,
Aschendorö. gr. 8. 151 S. M. 5.
*Pascal, B., Pensees choisies. Preface d'E. Boutroux. New-York, Dent.
Plato, Die Verteidigung des Sokrates. Kriton. Uebertragung und Er-
läuterungen von E. Müller. Nr. 9. Der Insel-Bücherei. Leipzig,
Insel-Verlag. 8. 78 S. M. 0,50.
— , Jon. With Introduction and Notes by J. M. Macgregor. Cambridge,
Univ. Press. 12. 70 p.
Piaton, Apologie de Socrate. Trad., par E. Tal bot. Paris, Hachette.
— , Apologie und Kriton nebst Abschnitten aus dem Phaidon und Sym-
posion. Herausgegeben von F. Rosiger. Kommentar. 2. Auflage.
Leipzig, Teubner. 8. IV, 86 S. Ji 0.90.
— Dialog Philebos. Uebersetzt und erläutert von 0. Apelt. 145. Band
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Miszellen und Nachrichten.
Max Stirner Redivivus. Die Theorie des „Einzigen und sein
Eigentum" wendet Prof. Dr. med. B. Ravitz auf das Leben an^). Das
Grundwesen des Menschen ist nach ihm die Selbstsucht. Er führt aus:
„Wie die Menschheit als Ganzes, so ist der Mensch als einzelner ein
Produkt des Milieu. Weil die äusseren Einwirkungen auf die Völker, dieser
,Menschheitssplitter', wie sie Ratzel genannt hat, in verschiedenen Teilen
der Oekumene ganz verschiedenartige sind, darum sind die Völker in ihrem
Ciharakter so grundverschieden von einander. Dasselbe gilt von den Indi-
vidualitäten.
Wenn man im gewöhnlichen Leben den einen Menschen einen schlechten
Charakter nennt, den andern einen guten, so tritt mit diesem Werturteil
die Relation zum Ich, zum Egoismus auf. Die Relation zur Gesamtheit
zum Staate, welche ebenfalls dieses Werturteil veranlasst, braucht uns hier
nicht zu beschäftigen. Gute und böse Charaktere gibt es zunächst nur in
Beziehung zum autozentrischen Prinzip. Denn in diesem Prinzip, im
Egoismus, ist das Wesen des Menschen enthalten.
Der Egoismus oder, um das stärker klingende deutsche Wort zu ge-
brauchen, die Selbstsucht ist die Triebkraft alles dessen, was die Menschen
tun und lassen. Nur Schwachköpfe und Dummköpfe können dies leugnen.
Denn weil alles, was wir das Geistige nennen, auf der Sinnhchkeit Kants
beruht, weil also das Physische alles bedingt, weil in uns nichts existiert,
nichts existieren kann, ohne dass eine physische Erregung von aussen
physische Vorgänge im Innern hervorgerufen hat, und weil alle diese Er-
regungen und sonstigen Vorgänge im ,,Ich" kulminieren, darum ist eines
jeden Ich der Mittelpunkt seines Seins und seiner Welt. Selbstsucht
beherrscht den Menschen und regiert die Welt; denn jede
Persönlichkeit und jedes Volk ist sich Selbstzweck. Das ist der Effekt
aller Motivationen, welche das Schicksal jeder Stunde eines Menschenlebens
bestimmen. Das Ich ist nur die Kulmination, alles andere im sogenannten
Geistigen hat der Mensch mit dem Tier gemein. Darum ist das Tierische
im Menschen dasjenige Moment, um das sich alles dreht. In Haus und
Hof und Staat, in dem, was der Mensch tut und lässt, in Liebe und Hass,
') Der Mensch. Eine fundamental-philuüophische Untersuchung. Berlin 1912.
Miszellen und Nachrichten. 295
in Rache und Mitleid, in Dankbarkeit, Gewissen und Reue, in der Sehn-
sucht nach dem Guten und Schönen: kurz in allem und jedem, was das
Leben der einzelnen Personalität ausmacht, es schmückt oder schändet,
liegt auf dem Grunde als treibende Kraft die Selbstsucht. Und das sind
die schlimmsten, brutalsten und gefährlichsten Egoisten, welche in selbst-
gefälliger Scheinheiligkeit und pharisäischer Entrüstung dies leugnen. Bei-
spiele braucht es nicht hierfür. Wer nicht bloss mit Menschen zusammen-
kommt, sondern wer sie auch zu beobachten vermag, wer sich selbst zu
erkennen imstande ist, der wird und muss mir zustimmen, wenn ich sage :
„Des Menschen Wesen ist Selbstsucht".
Die psychologische Begründung dieses Satzes ist' allerdings wurm-
stichig, aber eine durchaus konsequente Folge der tierischen Abstammung des
Menschen. Wenn der Mensch keinen Schöpfer und Herrn über sich anzu-
erkennen hat, dann ist er sich selbst Zweck, er kann sein Ich zum Mittelpunkt
all seines Tuns und Lassens machen. Alle Versuche der vornehmen, ver-
schämten Atheisten, dieser Folgerung sich zu entziehen, sind vergeblich,
viel konsequenter handeln tatsächlich die offenen Atheisten. Nur schlaue
Berechnung, welche das Ich durch allzu konsequente Selbstsucht schädigt,
nimmt auch Rücksicht auf andere. Das ist aber wieder nach dem Vf.
nur ein tierischer Zug.
„Selbstsucht ist die Triebfeder für alles menschliche Tun und Lassen,
das potenziert Tierische im Menschen ist das Bestimmende. Und es müsste
diese Welt in Atome zerfallen, wenn das Tierische sich ungehindert, durch
keine Gegenmotivation gebändigt und eingeengt, entfalten könnte. Zum
Glück für die Menschen und die Menschheit besorgen die Umstände, unter
denen der Anthropoide zum Anthropos wurde, das Korrigens in sich.
Denn der Mensch ist von Anfang an ein Heerdentier gewesen, nur durch
die Gemeinschaft mit seinesgleichen und in ihr zu dem geworden, als was
er sich uns in dieser seiner erdgeschichtlichen Entwicklung präsentiert.
Diese Gemeinschaft, die C o e n o n i e, hat den Egoismus teilweise wenigstens
zum Personalismus abgeklärt, hat des ersteren zentrifugale Tendenzen ge-
mildert, und ist immer noch dabei, im Menschen das dem Begriffe nach
Menschliche zur Entwicklung zu bringen und das tatsächlich Tierische zu
unterdrücken".
Also hält der Vf. seine allgemein naturnotwendige Selbstsucht doch
nicht aufrecht; er widerspricht ja damit auch den offenkundigsten Tat-
sachen. Von der heroischen Aufopferung christlicher Heiligen gar nicht
zu reden, es gibt auch selbstlose Atheisten. Das beweist eben, dass der
Mensch kein rein potenziertes Tier ist, dass das Geistige in ihm das
Tierische bis zu einem gewissen Grade bezwingen kann. Die Natur kann
durch verkehrte Anschauungen nicht völlig unterdrückt werden; unsere
Natur hat aber neben der Liebe zum Ich, die nicht notwendig Selbstsucht
zu sein braucht, ein angeborenes Gefühl des Mitleids, der Mitfreude, der
296 Miszellen und Nachrichten.
Sympathie. Diese Anlage lässt sich nur von den rohesten Naturen unter-
drücken, nämhch von solchen, die auf dem Standpunkte des Vf.s stehen,
Gott und Geist leugnen. Auch die selbstloseste Hingabe der Mutterliebe
weiss der Vf. tierisch zu erklären.
„Wohl gibt es auch wirkliclie Selbstlosigkeit, aber sie ist ein Züehtungs-
produkt der Coenonie, kein Entwicklungsprodukt der Natur, d. h. ist nicht
dem Menschen angeboren, sondern ihm durch das Gemeinschaftsleben,
durch die Coenonie anerzogen. Nur die Liebe der Mutter zum Kinde ist
in Wahrheit selbstlos. Aber diese Mutterliebe, die man überall dort findet,
wo eine Brutpflege vorhanden, ist kein Produkt des Verstandes oder der
Vernunft, auch dann nicht, wenn sie dem verkrüppelten oder dem miss-
ratenen Kinde gegenüber sich zeigt. Sondern die Mutterliebe ist ein Trieb,
der mit Naturnotwendigkeit sich entwickelt und der auch dann wirksam
ist, wenn das Geliebte die Liebe nicht verdient".
Also ein edelster Zug des menschlichen Herzens wird zu emem
tierischen Triebe degradiert. Ein Kind sollte doch wenigstens der eigenen
Mutter für die grossen Opfer, die nur eine Hebende Mutter bnngen kann,
nicht mit so schnödem Undank vergelten.
Nicht besser geht es der Vaterliebe.
„Die Vaterliebe ist kein Trieb; sie kommt der xMutterliebe gegenüber
gar nicht in Betracht, ist mehr ein Ergötzen, als eine Liebe. Und ihr
zugrunde liegt die Selbstsucht, die beim Weibe vom Triebe der Mutter-
liebe vollkommen gebändigt wird. Wer hat nicht Väter in Menge kennen
gelernt, die aus lauter sogenannter Liebe zu ihren Kindern diesen das
Leben verkümmert haben! Sie nannten ihr Verhalten Liebe, der kühle
Beobachter musste dafür Selbstsucht sagen, denn sich selber wollten sie
Unannehmlichkeiten aller Art ersparen ; ihr liebes Ich sollte ruhig bleiben,
und darum durfte das Kind kaum frei atmen".
Natürlich ist die eheliche Liebe nicht edler; „Der Mann — es ist das
beim Tier auch so — ist verlangend, das Weib gewährend; und dadurch
hat das letztere stets ein Uebergewicht über den Mann".
Ein solcher Zynismus ist bedauerlich, aber in mancher Hmsicht be-
lehrend. Ein enfant terrible spricht unverhohlen die absolut konsequenten
Folgerungen aus der tierischen Natur des Menschen, welche die „aristo-
kratischen" Atheisten abschütteln möchten, aus. Er gibt denselben eine
recht heilsame Lehre: Der Mensch, der in seinem Stolze seine Abhängig-
keit von Gott leugnet und sich auf sich selbst stellt, wird dadurch zum
erbärmhchsten, selbstsüchtigsten, widerlichsten Wesen degradiert.
Kine Metaphysik der Entwicklnng bietet Erik Ziese in der
Schrift: „Wachstum und Entwicklung"').
') Gedanken über das All, die Welt imd das Ich". St. Petersburg 1912.
Miszellen und Nachrichten. 297
Die moderne Welt steht unter dem Zeichen der Entwicklung. Ent-
wicklung ist das Losungswort auf allen Gebieten des Lebens und der Wissen-
schaft. Aber sehr wenig Einigkeit besteht über das Wesen der Entwicklung
selbst, darum ist eine Klarstellung darüber von höchster Wichtigkeit. Eine
solche bietet nun Ziese und zwar in fundamentalster Weise ; er behandelt
sie vom Nichts bis zur Unendhchkeit. Es ist nicht leicht, seinen auf
schwindelnden Höhen der Spekulationen sich bewegenden Gedankengängen
zu folgen. Zur Charakterisierung hebe ich einige seiner apodiktisch vor-
getragenen Sätze heraus:
Die Formen unserer Natur, die Naturgesetze, unsere Logik, Mathematik,
Ethik usw., alles das wird als fix und fertig nicht mehr entwicklungsfähig
angenommen, sie sollen ewige, im Prinzip unumstössUche Wahrheiten re-
präsentieren. Dann war es ja klar, dass wir einfach durch Weiterbau dieser
„Ewigen Wahrheiten" unser Ziel erreichen könnten. Man glaubte, wir hätten
schon die richtige Richtung und brauchten nur geradeaus (logisch) weiter
zu laufen. An dieser Voraussetzung müssen alle Versuche zur Aufklärung
unseres Lebenszweckes scheitern.
Mit den nichtssagenden, aber alles in sich schliessenden Worten der
„Annäherungen an Gott" bezeichnen wir diesen Lebenszweck — Worte, die
uns noch nicht einmal eine Andeutung über Gottes Existenz-Möglichkeit
geben. Man wollte also Gott in menschlichen Formen erkennen. Das gab
einen menschlichen Gott, aber keinen göttlichen. Und doch sagt schon
Jesus, dass Gottes Reich nicht von dieser Welt sei. Wir können unsere
Formen nur auf uns anwenden, und da wir die Ailformen noch nicht haben,
so können wir auch das Ali nicht erkennen und den Begriff „Gott" nie
wissenschaftHch definieren — aber darum auch unseren Lebenszweck nie-
mals unbeirrt klarlegen.
All-Form ist aber doch nichts anderes als formlos! Vielleicht dessen
w
Gegensatz. Oder sollte es beides sein? Wir haben dafür nur die für uns
eigentlich nichtssagenden Begriffe der Ewigkeit, des Alls, des Nichts,
Woher nun diese ganze Verwirrung? Weil wir unsere menschlichen,
augenblicklich natürlichen Formen zu klar sehen und sie auch auf das
„All" anwenden wollen, ohne die wir uns überhaupt nichts mehr vorstellen
können. Eben weil Grenzen haben Leben ist. Nur das „All" und die
„Ewigkeit" sind grenzenlos. Gott ist grenzenlos . . .
Jetzt können wir aber nicht begreifen, wie zwei so grundverschiedene
Sachen, wie Gott und unsere Natur, gleichzeitig in ein und demselben
Räume sieh befinden können. Wir versuchen es also schleunigst mit einer
„grundlegenden" Teilung in Materie und Geist . . .
Was liegt nun aber näher, als dass unsere Welt ein Teil Gottes ist?
Ein Teil hat immer Grenzen, wenn auch das All, aus dem es genommen
ist, keine Grenzen hat. Und was ist Gott anders das „All in Ewigkeit" ?
Alles an jedem Ort und zu jeder Zeit.
298 Miszellen und Nachrichten.
Wenn wir nun aber aus irgend einem Grunde nicht mehr Alles an
einem Orte und nicht zu jeder Zeit „erkennen" können, so entstehen
Grenzen, Einschränkungen — Natur und Leben.
Was wird dann aber aus unserer Entwicklung ? Ja, was sind wir dann ?
Wir entwickeln uns, heisst: wir nähern uns der Allewigkeit. Gut, dann
muss aber die All-Ewigkeit sich zum Ausgleiche dem Punkt nähern, von
dem wir ausgegangen sind, also ihrem Gegensatze — dem Nichts. In
dieser Ewigkeit sind wir doch auch mit einbegriffen, als Teil von ihr. Wie
kommt es denn, dass sich das Ganze senkt, um einen Teil zu heben?
Das ist nur so zu verstehen, dass sich das Ganze senkt, um das Ganze
zu heben. Oder dass sich überhaupt nichts senkt, nichts hebt.
Hier sehen wir zum ersten Male, wie zwei in der Vorstellung direkte
(Gegensätze im All — also ihrem Wesen nach — sich berühren. Das erste
(Heben des Ganzen) ist die im All grösstmögliche Allarbeit-Allmacht, und
diese kommt der Ruhe (dem Nichts) gleich. Es kommt eben nur auf die
Auffassung an, ob ich von etwas sage, es ist machtlos, oder es hat Allmacht.
Man denke : Ist das „All" vollkommen ohne das „Nichts" V Nein, denn
dazu fehlt ihm noch viel, nämlich seine Negation ... So entwickelt sich
das „All" über das „Nichts" zu seiner Negation, ebenso wie sich das
„Nichts" zum Plus-Minus-„A11" entwickelt, beide mit dem Bestreben, voll-
kommen zu werden. Es sind die zwei Gegensätze, die im dritten zu-
sammenkommen wollen, um eine wirkhche Vollkommenheit zu bilden,
dort aber auch zu nichts werden können, denn sie verneinen sich gegen-
seitig. Ganze Vollkommenheit ist Ruhe, Machtlosigkeit. Grösste Einseitig-
keit ist Unruhe — Allmacht.
Doch genug der Paradoxien, oder besser gesagt Paroxysmen. Solche
Blüten treibt die Auflehnung des Geschöpfes gegen seinen Schöpfer.
Grundlagen einer organischen Weltanschauung bietet M. Kr e wer
in dem 5. Band der von L. Stein herausgegebenen „Bibliothek für Philo-
sophie" *).
Geologie und Paläontologie glauben dargetan zu haben, „dass die Erde
sich einst im erstarrten Zustande befand", und ziehen daraus den Schluss,
„dass das organische Leben einen Anfang und ein Ende habe. Diese An-
nahme ist jedoch eine rein hypothetische. Um dieses zu begründen,
müssen wir zunächst auf den dem menschlichen Denken etwas fremden
Begriff des Unendlichen eingehen". „Eine organische Welt-
anschauung muss vom Prinzip des Unendlichen ausgehen".
„Denn da jeder Raum, unendlich vielmal vervielfacht, doch nicht an
die Grenze des Weltalls reicht, so ist das Weltall nach unseren Begriffen
unendlich; und da jeder Körper unendlich viel mal zerlegt werden kann,
ohne dass man begrifflich an das Ende der Teilbarkeit gelangt, so ist die
Materie unendlich klein. Die begrifflich endliche Welt ist als ein Ueber-
gangsstadium des unendlichen Weltkreisprozesses aufzufassen, in welchem
') Berlin 1912.
Miszellen und Nachrichten. 299
die unendlich kleine Materie durch einen unendlichen Vervielfältigungs-
prozess endliche Formen annimmt, die wiederum durch den unendlich
grossen Weltalldividierungsprozess in den ursprünglichen Zustand der un-
endlich kleinen Materie zerlegt werden. Die Erde ist ein Teil des unendlich
grossen Weltalls ... Sie ist eine Uebergangsform in dem eben beschriebenen
grandiosen Weltprozess und unterliegt als solche verschiedenen Trans-
formationen, ohne dass ihr Anfang oder Ende erfasst werden könnte. Die
Wissenschaft unterscheidet den Erdorganismus als anorganische und orga-
nische Materie. Sind diese beiden Arten der Materie nur durch einen
zeitlich endlichen Transformationsprozess geschieden, so sind sie begrifflich
identisch und ebenso ewig wie die Erde, sind sie dagegen durch einen
zeitlich unendlichen Prozess getrennt, so sind sie verschieden, können
durch einen endlichen Transformationsprozess aus einander nicht erklärt
werden, und sind beide ebenso ewig wie die Erde".
„Zwei Begriffskomplexe sind in jedem Menschen zu unterscheiden :
der organische und der gottähnUche. Der organische Begriffskomplex ist
die jedem lebenden Organismus angeborene, in ihm sich fortpflanzende,
durch die Kapazität der Sinne begrenzte und mit ihm vergehende Vor-
stellung der Umgebung . . . Der gottähnliche Begriffskomplex ist die durch
eine uns unverständliche Gehirnkapazität dem endlichen Organismus ent-
rissene Vorstellung der Unendlichkeit . . . Die Verbindung dieser zwei Be-
griffskomplexe in dem lebenden menschlichen Organismus zu einer Einheit
führt zu einer organischen Weltanschauung. Die Geschichte der Mensch-
heit ist die Beschreibung des Kampfes zwischen den organischen und gott-
ähnhchen Begriffen, das Ringen nach einer einheitUchen Weltanschauung".
,,Der aus den obigen Betrachtungen für eine organische Weltanschauung
folgende wichtige Schluss besteht darin, dass das Weltall eine absolute
Selbstidentität ist, weil im Weltall nichts verschwinden oder hinzukommen
kann".
„Nur die Menschheit darf durch den Schweiss des Mannes und die
Schmerzen des Weibes zur Allwissenheit und Ewigkeit streben. Die Gott-
heit ist die Idee der Menschheit".
Die Grundidee der organischen Weltauffassung ist die ewige Allein-
heit. „Diese ewige Alleinheit kann man nicht von Angesicht zu Angesicht
erkennen, man kann nur an dieselbe glauben. Im Glauben vergeistigt die
ewige Alleinheit zu Gott, welcher die Ursache und das Ziel alles Seins ist".
,,Zu der tiefen Erkenntnis der Einheit alles Seins, welche gewiss die
grösste Entdeckung des menschhchen Geistes ist, gelangte Moses auf dem
Wege eines organischen Denkprozesses". „Wie einem kleinen Kinde in
der Felskluft unter der väterlichen Hand vertrauensvoll geborgen, war es
Mose beschieden, in einer göttlichen Eingebung das ganze Weltgetriebe in
einem Moment zu erfassen und aus demselben die ewige Alleinheit zu
erkennen".
Sehr "originell! Moses Pantheist, dem die Alleinheit geoflenbart wurde
wie einem Kinde, und der zugleich diese „grösste Entdeckung des mensch-
lichen Geistes" durch einen organischen Denkprozess errang.
Philosophischer Sprechsaal.
Eine neue Richtung in der scholastischen Philosophie?
Von Dr. Agostino Gemelli 0. F. M., Herausgeber der „Rivista di Filosofia
Neo-Scolastica" in Mailand.
Aus den Beiträgen verschiedener Mitarbeiter der „Rivista di Filosofia
Neo-Scolastica" (erschienen im Jahre 1912) offenbart sich die Notwendigkeit, der
Neu-Scholastik ein neues Gepräge und den Bestrebungen, sie grösserer Vollendung
entgegenzuführen, eine neue Richtung zu geben '), nämlich das Programm, nach
dem man während der letzten 30 Jahre an der Erneuerung der scholastischen
Philosophie gearbeitet hat, zu überprüfen und nötigenfalls zu modifizieren.
Vorsichtshalber will ich jedoch gleich erklären, dass ein Programm über-
prüfen und umarbeiten nicht heisst, dessen Fundamentalprinzipien aufgeben
und zerstören. Diese bleiben dieselben, wie sie von Aristoteles bis zur Scholastik
einfachhin, von Boethius bis Skotus, von Alexander von Haies zu St, Thomas
von Aquin und St. Bonaventura sich bewährt haben, nämlich : Der Dualismus
von Subjekt und Objekt, von Welt und Gott, von Geist und Materie, ferner die
Pundamentaltheörie von Materie und Form, von Substanz und Akt, und vor
allem jene Lösung des Erkenntnisproblems, welche den Mittelweg einhält
zwischen Idealismus oder Rationalismus einerseits und Fositivismus oder
Monismus andererseits.
Aber indem man diese Prinzipien annimmt, verschliesst man sich keines-
wegs den Weg und benimmt man sich keineswegs die Möglichkeit, einer andern
Reihe wichtiger Probleme gegenüberzutreten und sie zu lösen.
Beim ersten Aufblühen der Scholastik im 19. Jahrhundert hielt man dafür,
däss zu deren Wiedererweckung es genügen würde, sie in Berührung zu bringen
mit den Fortschritten der heutigen Wissenschaft, und in die allgemeine Welt-
anschauung, die sie uns bietet, all das einzufügen, was die Wissenschaft heute
an Resultaten erzielt hat. Es entsprach dies der Ansicht, welche den Grund des
Niederganges der Scholastik darin zu sehen glaubte, dass sie sich in gewaltsamer
') Es ist nicht möglich, hier die einzelnen Artikel der Rivista namhaft
zu machen, in welchen solches zum Ausdruck kommt. Das Problem ist niemals
ex professo gestellt und behandelt worden, sondern nur nebenbei, insbesondere
bei Gelegenheit und auf Grund des kriteriologischen Problems oder aber im
Verlauf irgend einer Rezension oder eines andern Artikels. Eine systematische
Ausarbeitung dieser Ideen will mir und meinen Freunden zur Zeit noch un-
möglich erscheinen, und zwar nicht allein aus inneren, sondern auch und vor
allem aus äusseren Gründen, die sich leicht erraten lassen. Nichtsdestoweniger
gedenke ich, im ersten Heft des neuen (5.) Jahrganges (1913) der Rivista in
Form einer Programmentwicklung eine systematische Darlegung der betreffenden
Ideen zu geben.
Philosophischer Sprechsaal. 301
Weise von den übrigen Wissenschaften getrennt und die Errungenschaften,
welche die Wissenschaft inzwischen gemacht hat, nicht anerkannt habe (so
denkt z. B. De Wulf und mit ihm viele andere).
Man spricht sogar den Wunsch aus, es möchte doch in unserer Zeit ein
hl. Thomas erstehen, der die ganze moderne Wissenschaft beherrschte und in
seiner Hand vereinigte und es verstände, all dieses immense Gedankenmaterial
mit den Prinzipien der Scholastik zu durchdringen und nach denselben zu
ordnen, sozusagen zu organisieren.
Wie unvollkommen und vielleicht absurd eine solche Auffassung ist, brauche
ich nicht erst mit vielen Worten darzutun. Im Grunde genommen hatten und
haben wohl noch immer jene, welche zäh am Alten festhielten und solch
wissenschaftlichem Aufputz der Scholastik mit scheelem Auge gegenüber-
standen, ein leichtes Spiel gegenüber den Verteidigern dieser Anschauungs-
weise. Sie konnten es nicht ertragen, dass man sich lossage von den alten
Auffassungen, die doch ein harmonisches Ganzes konstituierten, um all dem
Gerumpel Platz zu machen , das die Neuerer zusammengetragen hätten, und
sie kamen schliesslich dahin, nun in gar nichts mehr nachzugeben und nichts
mehr preiszugeben. Und wenn die Neuerer dagegen protestierten, erklärten sie
laut: Nun wohlan, wir anerkennen, ganz nach eurem Wunsche, die Forderungen
der Wissenschaft ; wir anerkennen, dass, wenn die Wissenschaft etwas als Tat-
sache erwiesen hat, dies anzunehmen ist; allein eure ,, Wissenschaft" bietet
keine Tatsachen, sondern nur Hypothesen und Theorien, die nur relativen Wert
besitzen ; denn sie sind nicht bewiesen in dem Sinne und nach dem Werte,
den wir mit dem Worte ,, beweisen" verbinden.
Die letzteren, die Thomisten nämlich, hatten freilich nicht so ganz un-
recht, denn es ist in der Tat die Auffassung unannehmbar, nach welcher die
Philosophie nur die Summe aller Wissenschaften sei. Dieser Anschauung huldigt
der Positivismus, ja sie ist der reinste Positivismus. Und man muss, wenn
man aufrichtig sein will, in der Tat zugestehen, dass die sogenannten Neu-
scholastiker es nicht genügend verstanden haben, sich dem Zauber der ge-
feierten Herrin Wissenschaft zu entziehen. Und auch wir waren — es sei dies
aufrichtig zugestanden — eine Zeitlang diesem Verhängnis anheimgefallen.
Es rührt dies daher, dass die Neuscholastik derselben Zeitperiode entstammt, in
welcher der Positivismus in Blüte stand, und zu welcher man die Wissenschaft
wie einen Abgott verehrte. Es war aber und ist ein Irrtum, Wissenschaft und
Philosophie einander gleichzusetzen; Wissenschaft und Philosophie verhalten
sich heterogen zu einander; Philosophie ist etwas anderes und etwas mehr als
blosse Wissenschaft, etwas anderes und besseres als eine einfache Art wissen-
schaftlicher Behandhmgsweise oder als die Krone der Wissenschaft oder als die
Summe aller wissenschaftlichen Begriffe und Hypothesen. Wahre, aber einzig-
artige Wissenschaft ist die Philosophie ; denn sie allein ist absolutes Wissen. Jene
hingegen, welche die Philosophie mit den Errungenschaften der Wissenschaft
nur einfach vervollständigen wollen, erkennen die obengenannte Heterogenität
der beiden nicht an und zwar aus Furcht, sie möchten sonst noch rück-
ständiger gelten als selbst die Positivisten.
Ausserdem gibt es aber noch einen anderen Grund, weswegen in den
Streitigkeiten der konservativen Anhänger des alten und reinen Thoraismus mit
den freien Neuerern die ersteren leichteres Spiel hatten.
Ein philosophisches System muss als ein Ganzes gedacht werden. Es ist
nicht etwas, das nach Bedürfnis neu überfirnisst oder in irgend einem seiner
Teile neuen Einzelforderungen entsprechend ausgeflickt werden könnte, For-
derungen, die sich ergeben aus der Feststellung neuer Tatsachen oder aus dem
302 Philosophischer Sprechsaal.
Fortschritt des philosophischen Gedankens selbst. Und es genügt nicht, dass
dasselbe (ein philosophisches System nämlich) nur wieder durchdacht werde in
Verbindung und Verwertung der neuen Errungenschaften der Wissenschaft.
Freilich muss auch dieses geschehen: aber vor allem muss es wieder durch-
dacht werden als System selbst, als allgemeine Weltanschauung, als Ganzes.
Und wenn es wahr ist, dass das moderne Denken neue Forderungen an die
Philosophie gestellt hat, himmelweit verschieden von den Forderungen der
Wissenschaft, aus denen der Positivismus entsprungen ist, dann muss das
philosophische System zwar auch in Betrachtung dieser Forderungen wieder
durchdacht werden, aber so, dass die neuen Errungenschaften und die wissen-
schaftlichen Theorien nicht einfachhin anerkannt werden als etwas, das um
jeden Preis dem Ganzen einverleibt werden müsste, sondern nur als Bedingungen
— und nichts mehr — , als Bedingungen der neuen Forderungen an das philo-
sophische Denken'). Um nun unter Voraussetzung des Gesagten die Formel,
,,das scholastische System müsse in Hinsicht auf die gegenwärtigen Forderungen
des Denkens von neuem durchdacht werden", in die Tat umzusetzen, müssen
wir damit beginnen, anzuerkennen, dass die Geschichte der Philosophie nicht
eben nur die Geschichte der ,,Verirrungen des menschlichen Geistes" ist, wie
einer gesagt hat, den wir alle gut kennen, sondern die Geschichte der An-
strengungen des menschlichen Geistes, um die Lösung der grössten Probleme
zu finden. Anerkennen müssen wir auch, dass es nicht wahr ist, was man
mitunter sagt : die Geschichte des philosophischen Gedankens in der Gegenwart
sei ein Sichbegegnen und Sichdurchdringen der verschiedensten einander und
sich selbst widersprechenden Systeme ; sie ist vielmehr ein stufenweise sich
abwickelnder logischer Prozess der Höherentwicklung auf Grund kritischer
Ausscheidung einerseits und assimilierender Aufnahme andererseits. Daraus
ergibt sich als weitere Konsequenz, dass die scholastische Philosophie — will
sie anders den aktuellen Forderungen des philosophischen Denkens entsprechen
— all die verschiedenen philosophischen Systeme der Gegenwart sich vorführen
muss, um sie durch solch einen Ausscheidungs- und Assimilationsprozess zu
überwinden und zu eigener Höherentwickelung nutzbar zu machen. Das, und
das allein ist die gegenwärtige Aufgabe der Scholastik. Sie muss, um es noch-
mals und noch klarer zu sagen, ihre Richtung ändern. Solche Aenderung einer
einmal eingeschlagenen und liebgewonnenen Richtung kostet zwar Mühe und
Opfer. Wer aber Vertrauen hat zum angestammten Besitze seiner Ideen, für
den sind solche Opfer und Mühen nichtssagend. Auch wir müssen Vertrauen
haben zu unseren Auffassungen. Es war uns ein leichtes, den Positivismus zu
überwinden, eben weil wir jenes Vertrauen hatten. Mit dem gleichen Ver-
trauen wird es uns ebenso leicht gelingen, den Idealismus unserer Tage zu
überwinden.
Versuchen wir es nun also, indem wir unsere Prinzipien überprüfen und
deren Tragweite bemessen, dem Idealismus gegenüber ein Gleiches zu tun,
was die Neuscholastiker dem Positivismus gegenüber getan haben. Studieren
wir ihn recht gründlich, machen wir uns das zu eigen, was annehmbar ist ;
das übrige, was sich der philosophia perennis nicht assimilieren lässt, wird von
selbst fallen, eben weil es nicht die Wahrheit für sich hat. Erinnern wir uns
') Lassen wir somit den Positivismus nur ruhig entschlafen und wenden
wir uns zur Verteidigung dessen, was wir als Wahrheit ansahen, gegen die
kühnen Angriffe des wiedererwachten Idealismus. Wozu denn die Kräfte ver-
schleudern und die Zeit verschwenden durch Kampfespolemik gegen einen Toten
oder doch bereits Sterbenden?
Philosophischer Sprechsaal. 303
daran, dass „überwinden" nicht besagen will „zerstören", rein negative Polemik
treiben. Freilich gehört auch dieses negative Element dazu, aber beileibe nicht
dieses allein. „Ueberwinden" besagt vielmehr einen kritisierenden Prozess,
der sondert, sowohl beim Assimilieren als wie beim Verwerfen und beim Auf-
nehmen. Und deshalb pflegen wir denn auch beizeiten unseren Freunden zu
raten, Kant und Hegel und all die modernen Philosophen zu studieren. Es ist
dies zwar eine neue Aufgabe, die wir da stellen; aber es ist eine Forderung
auf Tod oder Leben, die ausgeführt werden muss, denn sonst werden uns diese
modernen Systeme derartig umschlingen, dass wir uns ihrer nicht mehr er-
wehren können. Und man fürchte nichts, wenn bei dieser Erneuerung irgend
etwas vom Alten in Wegfall kommen muss. Es werden nur temporäre Ele-
mente sein, die fallen, aber wir haben za viel Vertrauen in die ewige (unver-
wüstliche) Lebenskraft des fundamentalen Kerns der scholastischen Lehren, als
dass wir auch nur für einen Moment daran zweifeln würden, dass sie auch
nur im geringsten erschüttert, geschweige denn über den Haufen geworfen
werden könnten.
Wir können in der Tat dem Idealismus die Stirne bieten, denn wir haben
mit ihm ein Fundamentalprinzip gemein, die Absolutheit des Wissens nämlich,
die vom Positivismus nicht anerkannt worden war und konsequenterweise
auch nicht anerkannt werden konnte. So stehen wir denn fest auf dieser
gemeinsamen Grundlage, in der übrigens das Hauptprinzip der Erkenntnis-
lehre beruht, und verteidigen wir von hier aus die Philosophie der Konformität
(zwischen Subjekt und Objekt) gegen die Philosophie der Identität (von Sub-
jekt und Objekt), die stets zwischen Gegensätzen vermittelnde aristotelische
Philosophie gegen die Uebertreibungen und Einseitigkeiten der nachkantianischen
Philosophie. Aber — wie gesagt — erst nachdem beiderseits jenes Grund-
prinzip anerkannt worden und vor allem, nachdem. wir die anderen mehr oder
weniger gelungenen Versuche überprüft haben, welche zwar vom traditionellen
Standpunkt aus, aber im Bewusstsein, neuen Problemen gegenüberzustehen, zur
Ueberwindung der idealistischen Uebertreibungen und Konstruktionen jemals
unternommen worden sind. Und sind nicht in diesem Sinne der Rosminianis-
mus und der Giobertianismus solche Versuche? Das ist der Grund, weshalb
sich deren Studium so sehr empliehlt.
Und man wird den wohltuenden Einfluss des soeben entworfenen Arbeits-
programmes unschwer einsehen. Das Problem, das wir in der Gegenwart
vorab zu lösen haben, ist das Erkenntnisproblem. Wenn wir dem kritischen
Idealismus gegenüber nicht den Beweis für die Objektivität unserer Erkenntnisse
führen, sind wir überwunden. Um aber jenen Beweis führen zu können, genügt
es nicht, sich auf den naiven Realismus unserer Altvorderen zu berufen, denn
wenn es auch wahr ist, dass er die dunkele Forderung notwendiger Aner-
kennung der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnisse zum Ausdruck bringt,
so ist damit doch noch längst nicht der Zweifel überwunden, den nun einmal
der heutige Kritizismus dem menschhchen Geiste infiUriert hat. Die Neu-
scholastiker haben schon einen Schritt nach vorwärts gemacht, indem sie die
Notwendigkeit dargetan haben, dass man jene Position des Kritizismus an-
nehmen und nach einer Rechtfertigung der Objektivität unserer Erkenntnisse
sich umsehen müsse (man denke nur an den Versuch des Kardinals Mercier).
Aber das genügt noch nicht. Zu wiederholten Malen haben viele Gelehrte in
unserer Rivista di Filosofia Neo-Scolastica auf das Ungenügende dieser Lösung
hingewiesen, und die Diskussion ist noch sehr lebhaft unter unseren Freunden.
All das genügt schon deswegen nicht, weil die Geschichte der Philosophie nichts
anderes ist als die Geschichte der Anstrengungen des menschlichen Geistes zur
304 Philosophischer Sprechsaal.
Ueberwindung dieses seines Zweifels zu gelangen, veranlasst und hervorgerufen
durch die dunkele Forderung, die in seiner Tiefe liegt und auf die sich sein
Vertrauen auf die objektive Gültigkeit seiner Erkenntnisse aufbaut.
Und deswegen gerade müssen wir über den Idealismus hinwegschreiten,
um das zu erreichen, wozu der Idealismus sich als unfähig erwiesen hat ; denn
sollen unsere Anstrengungen zum Ziele führen, so müssen sie über jene hinaus-
gehen, die schon vor uns von anderen gemacht worden sind. Wer uns voran-
gegangen ist, ist auf der Bresche gefallen : aber die Leiber der Gefallenen
dienten den Siegern, um in die feindliche Festung einzuziehen. Das Vertrauen,
das wir auf den absoluten Wert unserer Erkenntnisse setzen, sagt uns, dass
wir sicher zum Ziele gelangen werden.
Wir müssen ferner beachten, dass schliesslich sich alles auf eine Frage
der Taktik reduziert. Was uns vorerst zu tun obliegt, ist, dass wir Stellung
nehmen gegenüber dem Idealismus, wie es bis vor kurzem von Bedeutung war,
den idealen und geistigen Wert unserer Erkenntnisse gegen den Positivismus
zu verteidigen. Und wenn aus Gründen der Taktik das Programm der Neu-
scholastiker bislang auf dem Begriff der Notw^endigkeit negativer und positiver
(assimilierender) Polemik beruhte und beruhen musste gegenüber dem Positivis-
mus, und wenn man darum den Experimentalwissenschaften und denen, die
sich damit befassten, Rechnung tragen musste, so muss hingegen heute die
Neuscholastik ihr Programm negativer und positiver Polemik dem Idealismus
zuwenden ; denn ein Gegner kann ja nur mit seinen eigenen Waffen bekämpft
werden und indem man sich mit ihm auf gleiches Terrain stellt.
Die Prinzipien bleiben die gleichen ; nur die Taktik hat sich geändert.
Man sucht nämlich den spekulativen Gesichtspunkt vor allem mehr hervortreten
zu lassen, um so Waffen und Terrain mit dem Gegner gemeinsam zu haben.
Das also ist die eingangs berührte Modifikation, die man dem sogenannten
Programm der Neuscholastik geben muss. Es versteht sich von selbst, dass
man mit den rein spekulativen Argumenten, wie immer, auch die experimental-
wissenschaftlichen Argumente, so weit sie für die Philosophie von Bedeutung
sind, wird in Anwendung bringen müssen. Auch wird man noch eigens jenen
Teil des Wissens verteidigen müssen, dem der Ideahsmus keinerlei Rechnung
trägt.
Das also sind, in flüchtiger Skizzierung, die programmatischen Gedanken,
die ich mit meinen Freunden seit einiger Zeit zu diskutieren pflege. Es legt
sich uns nun die Notwendigkeit nahe, ein konkretes Arbeitsprogramm zu ent-
werfen, entsprechend jenen Ideen, die nur die Bedürfnisse zum Ausdruck
bringen, die sich seit einiger Zeit in unserer Seele bemerkbar machten und die
sich auf das dunkele und noch unbestimmte Sehnen und Streben beziehen,
das wir in unserer Seele von Tag zu Tag wachsen fühlen.
Wir hoffen, dass wir in nicht allzu langer Zeit auch werden sagen können,
zu welch konkretem Arbeitsprogramm und zu welch positiven Entschlüssen
uns diese Bedürfnisse und Wünsche geführt haben werden.
Wir möchten jedoch vorerst hören, was andere, die gleich uns in anderen
Ländern an der Wiederbelebung der scholastischen Philosophie arbeiten, von
unseren oben entwickelten Ideen denken. Deshalb habe ich zugleich im Namen
meiner Freunde und Mitarbeiter, deren Gedanken in obigen Darlegungen sich
widerspiegeln, dieses Programm entworfen in der Hoffnung, bald auch die be-
währte Stimme solcher darüber zu hören, die mehr davon verstehen als wir.
'>b^
Philosoplt. Jahrbuch der Görres ^ Gesellschaft.
26. Band. 3. Heft.
Eine kritische Untersuchung über das Denken im
Anschluss an die Philosophie Wilhelm Wundts.
Von Oberlehrer E. Grünholz in Hamm i. W.
I.
Das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Welt
nennt Rudolf Eucken ^) das Problem, das heute im Mittelpunkte der
Arbeit und des Kampfes steht, ein Problem, in das alle übrigen
Probleme einmünden, und nach dessen Lösung sich .,die Bilder vom
Leben, der Begriff von der Wirklichkeit, die Fassung der Wahrheit"
verschieden gestalten. Es ist im Grunde dasselbe Problem, um
dessen Lösung sich die Philosophen seit den altersgrauen Tagen des
Heraklit und des Demokrit unablässig mühen, dasselbe Problem, das
Leibniz und der ältere Rationalismus durch die reale Macht des
Denkens oder der ^'ernunft zu lösen versuchten, dessen Lösung aber
der moderne Empirismus und Positivismus auf einem ganz anderen
Wege anstreben.
Wohl hatte Kant, als zu Beginn der Neuzeit die beiden Richtungen
des Rationalismus und des Empirismus machtvoll sich entfaltet
hatten, und damit scheinbar innerer Zwiespalt in das Problem der
Realität hineingetragen war, diesen Zwiespalt zu lösen unternommen.
Sein scharfer Geistesblick hatte wohl den tiefen Wert und die
fundamentale Bedeutung des Problems erkannt, dass ihm das Opfer
eines schlichten, einsamen Gelehrtenlebens nicht zu hoch erschien,
um der Nachwelt einen eigenen und einzigartigen Versuch einer
neuen Lösung zu bieten. Freilich nur einen Versuch, der eine
Lösung des Zwiespaltes nur dadurch zu geben vermochte, dass er
einen neuen und vielleicht schlimmeren Zwiespalt in der Lösung
selber schuf, die Grundverschiedenheit der theoretischen und der
praktischen Vernunft : dort „ein entschiedenes Nein" in der Betonung
der Unmöglichkeit für das Subjekt, der Wahrheit über die Welt der
Dinge an sich gewiss zu werden, hier der positive „Weg zu einem
Ja", der in das Reich des praktischen Handelns führt ; dort eine
Wahrheit bloss menschUcher Art, eine Gedankenwelt, nur für uns
selbst und unser Vorstellen geltend, ein Weltbild, nicht über uns
hinaus reichend, hier das gerade Gegenteil, die Wahrheit nicht bloss
') Geistige Strömungen der Gegenwart, 1909, 10 ff.
Philosophisches Jahibuch 1913, 20
306 E. Grünholz.
menschlicher, sondern absoluter Art, der Mensch, unmittelbar in
den tiefsten Gründen der Dinge stehend und fähig, aus sich selbst
eine Welt zu erzeugen, das Subjekt als moralisches Wesen der
Träger dieser Welt^).
Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, die Bemühungen darzulegen,
die darum auch trotz Kant und nach Kant bis in die Gegenwart
hinein nie ganz ausgesetzt haben, das Problem der Realität zu lösen,
den Zwiespalt zu überwinden und die Kluft zu überbrücken, die
dem Menschen das „Problem seines Grundverhältnisses zur Wirk-
lichkeit" bietet, auch nicht die Aufgabe, die Gründe aufzuzeigen,
warum die Lösung des Problems den philosophischen Systemen der
Neuzeit bisher nicht gelungen ist. Die Tatsache nur soll hier fest-
gestellt werden, die Eucken bitter beklagt, dass einstweilen noch
nirgends in den Bewegungen, die. das Problem der Realität hervor-
gerufen hat, ein fertiger Abschluss zu erblicken ist. Das Problem
bleibt ungelöst nach wie vor, „und die Menschheit verbleibt in dem
peinlichen Hin- und Herschwanken zwischen Arbeit und Seele,
zwischen der Absorbierung des Subjekts durch das übermächtige
Objekt und der Verflüchtigung des Objekts durch die Selbstherrlich-
keit des Subjekts" ^).
Bei diesem peinlichen Hin- und Herschwanken zwischen den
polaren Gegensätzen, die das genannte Problem birgt, ist es in seiner
Entwicklung notwendig gegeben, dass auch einmal die Frage auf-
taucht, „ob nicht die ganze Scheidung von Subjekt und Objekt, ob
nicht alle Anerkennung eines inneren Bereiches neben der Aussen-
welt von Haus aus verfehlt sei, ob nicht bei solcher Fassung das
Wahrheitsstreben den unlösbaren Widerspruch enthalte, zugleich
scheiden und verbinden, auseinanderhalten und zusammenführen zu
wollen" 3). So ist in der Tat, wie Eucken näher ausführt. Mach
neben Avenarius zu diesem Ergebnis gekommen, „jene Scheidung
als eine unnütze und irreleitende Verdoppelung aufzugeben". So
sucht in anderer Form aber auch Wundt in der Gegenwart von
dieser Seite aus des Problems Herr zu werden. Hierauf und auf
die Schwierigkeit, die sich für Wundt daraus ergibt, dass er posi-
tivistische und metaphysische Tendenzen trotz allem Widerstreit in
seinem System zu vereinigen sucht, macht Külpe*), einer seiner
ersten und besten Schüler, aufmerksam, eine Schwierigkeit, die un-
mittelbar das Problem der Realität berührt.
Denken und Sein bilden nach Wundt ursprünglich
eine E i n h e i t. Wie es ursprünglich kein Denken gibt, sagt er, das
nicht Erkennen wäre, so gibt es hinwiederum kein Erkennen, das
nicht unmittelbar eins wäre mit seinem Gegenstande. ,, Unsere
Vorstellungen sind ursprünglich selbst die Objekte";
'; Eucken a. a. 0. 16.
■■*) Euclven a. a. 0. 25.
*) Eucken a. a. 0. 25.
*) Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland* 108 f. und 120 f.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 307
Wundt nennt sie wegen dieser Einheit Vorstellungsobjekte.
Erst durch das „reflektierende Erkennen" geht dieser Begriff in die
beiden Begriffe der Vorstellung und des Objekts über, und von nun
an ,,ist alles Erkennen von dem Streben beseelt, jene Einheit wieder
herzustellen", ein Ziel, das dann niemals ganz erreicht werden kann
und das, gegen die „naive Erkenntnisstufe" gehalten, Wundt wie
die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter erscheint, das seit dem
Augenblick, wo der Mensch seine Vorstellungen und ihre Objekte
unterscheiden lernte, auf immer verschwunden ist^).
Das ist das onto logische Prinzip in Wundts Erkenntnis-
lehre, dessen eingehende Kritik einer späteren Abhandlung vorbe-
halten bleiben mag. Hier sei nur auf die Schwierigkeit und Unklar-
heit hingewiesen, die Kijlpe ^) in Wundts Ausführungen findet, indem
bei ihm nicht einzusehen ist, was denn nun eigentlich die Realität
ist, die Wundt im Gegensatz zu Mach rückhaltslos anerkennt, und
in welchem Verhältnis diese „Realität der Vorstellungsobjekte" zu
der bei ihrer rationalen Bearbeitung gesetzten „Realität von Denk-
gegenständen" oder ,, Gedankendingen" steht. Dies ontologische
Erkenntnisprinzip ist u. a. die Grundlage für Wundts eigenartige
Stellungnahme zum Substanzbegriff ^j mit den folgenschweren
Weiterungen, die sich daraus für ihn ergeben, bis er sich schliess-
Uch berechtigt glaubt, den modifizierten Substanzbegriff völlig zu eli-
minieren, um so den Weg frei zu bekommen für die Aktualitäts-
theorie, die seine Philosophie beherrscht.
Wundts ontolo;^isches Erkenntnisprinzip fusst aber wiederum auf
einem zweiten ebenso folgenschweren und verhängnisvollen Prinzip,
auf dem u. a. sein Voluntarismus sich aufbaut und das im fol-
genden Gegenstand der näheren Untersuchung sein soll. Das ist das
psychologische Prinzip seiner Erkenntnislehre, dass wie Denken
und Sein, ebenso auch Denken und Wollen eins sind. Aus
beiden Prinzipien resultiert, in sich zwar folgerichtig entwickelt,
Wundts voluntaristischer Monismus, der aber mit seinen
beiden Grundpfeilern steht und fällt.
II.
„Nicht objektive Realität zu schaffen . . ., sondern objektive
Realität zu bewahren, wo sie vorhanden, über ihre Existenz zu ent-
scheiden, wo sie dem Zweifel ausgesetzt ist" : das ist nach Wundt ^)
~ und mit Recht — die wahre und die allein lösbare Aufgabe der
Erkenntniswissenschaft. Und eine schwere Aufgabe zugleich, völlig
unberührt von der Wahrheit, dass Erkenntnistheorie weder die erste,
noch die einzige Aufgabe der Philosophie ist, wie Kant es wünschte,
sodass Lotze demgegenüber es als langweilig bezeichnete, wenn die
') System der Philosophie P 78 f.
■■) A. a. 0. 109.
"t F^vsl^ni der Philosophie P 254.
*) System der Ph. P 91.
20*
308 E. Grünholz.
Messer immer nur gewetzt werden, ohne dass es zum Schneiden
kommt. „Wer vom Erkennen gering denkt'', sagt Eucken ^), ,,wer
in ihm nicht mehr als ein Registrieren blosser Erscheinungen sieht,
der braucht sich über seine nähere Gestaltung und über sein Ver-
hältnis zum Ganzen des Geisteslebens keinerlei Sorge zu machen.
Wer aber in ihm eine Durchleuchtung und innere Aneignung der
Wirklichkeit sucht, dem wird jenes zu einem schweren Problem".
— Ist Wundt in seiner Philosophie dieses Problems Herr geworden?
Erkennen definiert Wundt ^) als ein „Denken, mit dem
sich die Ueberzeugung von der Wirklichkeit der Ge-
dankeninhalte verbindet". Das ,, notwendige Werkzeug aller
Erkenntnis" ist ihm also das Denken, und die P'rage: ,,Was ist
Denken?" steht deshalb auch mit Recht am Anfange seiner erkenntnis-
theoretischen Erörterungen^). Drei Merkmale sind es, die nach
Wundt den Begrifi' des Denkens erschöpfen und das Denken von
anderen Tatsachen oder Vorgängen unterscheiden: Das Denken ist
subjektive, selbstbewusste, beziehende Tätigkeit.
Das Denken ist Tätigkeit, „immerwährendes Geschehen", „kein
ruhendes Ding", kein selbständiger Gegenstand. So entschieden
wendet Wundt sich gegen die letzte Ansicht, dass er den aktuellen
Charakter des Denkens nicht eindringlich genug betonen kann, ohne
freilich anzugeben, gegen wen er sich dabei eigentlich wendet und
von wem das Denken jemals zu einem ,, selbständigen Ding" ge-
stempelt worden ist.
Das Denken ist subjektive Tätigkeit. Die Frage, wie über-
haupt die Unterscheidnng zwischen Subjekt und Objekt zustande
kommt, berührt dabei hier vorläufig nicht. Subjektive Tätigkeiten
sind aber nicht minder unser Vorstellen, Fühlen und Wollen.
,, Dennoch sind sie nicht etwa dem Denken gleichgeordnete Vorgänge,
sondern sie sind Bestandteile, aus denen alles Denken sich aufbaut.
Kein Denken ohne Vorstellungsinhalt, kein Vorstellungsinhalt ohne
Gefühlsregung, keine Gefühlsregung ohne Willensrichtung". Aber
noch mehr: jedes Denken ist nach Wundt ein Wollen.
Mögen die Elemente unserer Denkakte auch ganz oder zum Teil
ungesucht sich darbieten, „die Art, wie wir sie aneinanderfügen,
bleibt eine Tat unseres Wollens"*). Denken und Wollen sind ihm
also, obgleich er aus methodischen Gründen gesondert von ihnen
spricht, im Grunde eins. ,,Es gibt schlechterdings nichts ausser dem
Menschen noch in ihm, was er voll und ganz sein eigen nennen
könnte, ausgenommen seinen Willen"'').
Das ist die erste folgenschwere fundamentale Voraussetzung in
Wundts System, die seiner Erkennlnislehre ein charakteristisches
') A. a. 0.
5C
1,
-) System
*) System
*) System
^} System
P
76.
27 ff
HO.
375.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 309
Gepräge gibt, ohne dass er aber für diese Voraussetzung genügende
Beweisgründe erbringt. Es mag abgesehen werden von dem Wider^
Spruch, der darin liegt, dass Wundt einmal den Willen als Bestand-
teil des Denkens dem Denken unterordnet, nachher aber wieder den
Willen als das einzige, was der Mensch voll und ganz sein eigen
nennen könnte, über das Denken erhebt. Für Wundt verschwindet
der Widerspruch, wenn ihm das Denken nichts anderes als „eine
Tat unseres Wollens" ist. Aber diese letzte These hält vor der
Kritik nicht stand. Wohl lässt sich eine Abhängigkeit des Denkens
vom Willen nicht leugnen, sonst gäbe es kein willkürliches, nach
einer bestimmten Richtung hinzielendes Denken, keine formale Logik,
keine Wissenschaft. Aber andererseits gibt es auch einen Gedanken-
zwang, eine autoritative, objektive Macht des Denkens, wo nicht
der Wille das Denken bestimmt, sondern umgekehrt — und das
gerade im praktischen, zielbewussten, sittlichen Handeln — das Denken
dem Willen seine Direktiven gibt, ein Denken, das unbedingte und
objektive Zustimmung fordert, mag der Wille dabei vielleicht noch
so sehr die praktische Zustimmung versagen wollen. Zustimmung
ist in diesem Falle kein Willens-, sondern ein Erkenntnisakt, keine
Einwilligung, sondern ein Einverständnis. So sehr darum im übrigen
auch die Tatsache einer innigen Wechselwirkung zwischen Denken
und Wollen bestehen bleibt und Anerkennung fordert, so wenig
lässt sich Wundts Behauptung rechtfertigen, dass das Denken ledig-
lich Willkürhandlung ist, und ebenso sehr bleiben Denken und Wollen
nicht, wie Wundt will, im Grunde eins, sondern zwei völlig selbst--
ständige charakteristische Seiten unseres Seelenlebens.
Was aber veranlasst denn Wundt zu seiner eigenartigen psycho-
logischen Stellungnahme hinsichtlich dieser fundamentalen Seiten des
psychischen Geschehens ? Eine überraschende Antwort hierauf ergibt
sich zugleich aus der Antwort auf die Frage nach dem Subjekt,
als dessen Tätigkeit das Denken gilt. Zu dem Zwecke ist es er-
forderlich, auf Wundts Psychologie des Willens in logischer Kritik
etwas näher einzugehen.
III.
Denken, Fühlen und Wollen durchdringen sich nach Wundt bei
allen unseren Handlungen, insbesondere sind Fühlen und Wollen auf
das engste verbunden. ,, Jeder Willensvorgang setzt sich aus Gefühlen
zusammen, und von den Gefühlen schliessen diejenigen, die zudem
vorhandenen Vorstellungsinhalte in unmittelbarer Beziehung, stehen,
die Modifikationen der Lust und Unlust, deutlich schon eine bestimmte
Willensrichtung ein. Spezifisch für den Willensakt sind aber jene
Gefühle, die die Handlung selbst und ihren unmittelbaren Erfolg be-
gleiten, und deren Zusammenhang das ausmacht, was wir unser Ich
nennen. Dieses Ich ist daher nichts anderes, als die Verbindung
der fortwährend sich wiederholenden Tätigkeitsgefühle mit schwan-
kenden, nur in einzelnen ihrer Bestandteile, namentlich denen, die
310 - E- Grünholz,
sich auf den eigenen Körper beziehen, ebenfalls relativ gleichförmig
wiederkehrenden Kmpfindungen und Vorstellungen'' ^).
Ausführlicher verbreitet sich Wundt über diese Frage in seinen
psychologischen Werken. Die Gefühle, sagt er in seinen „Vorlesungen
über die Menschen- und Tierseele""), „fehlen bei keinem Willens-
vorgang . . . denn ehe das Wollen aktuell wird, kündigt es als
Willensrichtung sich an: diese Willensrichtung besteht in Gefühlen,
die aber darum kein vom Wollen in Wirklichkeit verschiedener
Prozess, sondern lediglich Bestandteile eines vollständigen Willens-
vorganges sind, die nur deshalb von dem letzteren gesondert werden
können, weil unzähligemal Gefühle in uns auftreten, aus denen sich
keine Willensakte entwickeln".
„Was ist es nun aber", so fragt Wundt weiter, „das zu dem
Gefühl hinzukommen muss, damit aus ihm ein Wollen hervorgehe?
Die im Gefühl gelegene Willensrichtung muss — so wird man im
allgemeinen auf diese Frage antworten können — in eine jener
Richtung entsprechende Tätigkeit übergehen. Nun schliesst der
Begrifl der Tätigkeit zwei Momente in sich: erstens kann von einer
solchen nur die Rede sein, w^enn irgend ein Vorgang, eine Ver-
änderung in dem gegebenen Zustande der Dinge geschieht; und
zweitens muss diese Veränderung auf irgend ein Subjekt zurück-
geführt werden, das als deren unmittelbare Ursache zu betrachten
ist". Als Beispiele nennt Wundt aus physikalischem Gebiete die
chemische Tätigkeit des elektrischen Stromes, die mechanische Tätig-
keit des Wassers, des Windes u. dgl. und gibt genau an, welches
in diesen Beispielen die Veränderungen sind (die chemische Zer-
setzung einer Flüssigkeit, die Bewegung eines Mühlrades u. a.), und
welches das die Veränderungen bewirkende Subjekt ist (der elektrische
Strom, das bewegte Wasser, die bewegte Luft). So weist Wundt
auch die bei den Willenstätigkeiten eintretenden Veränderungen auf,
die sich teils auf den Vorstellungsinhalt, teils, wie bei den äusseren
Willenshandlungen, auf unsere körperlichen Bewegungen beziehen.
Aber es liegt auf der Hand, sagt Wundt, dass mit diesen Ver-
änderungen das psychologische Wesen des Willens nicht erschöpft
sein kann, und er betont ausdrücklich, dass zu alledem die Beziehung
auf ein tätiges Subjekt hinzukommen muss, „dem wir in unserer
inneren Wahrnehmung die Eigenschaft beilegen, die unmittelbare
Ursache aller dieser Veränderungen zu sein".
Welches ist aber dieses tätige Subjekt? „Die nächste
Antwort scheint zu lauten: Das wollende Subjekt in uns ist unser
eigenes Ich". Doch diese Antwort bedeutet für Wundt, „beim Lichte
betrachtet", nichts mehr als einen anderen Ausdruck für das wollende
Subjekt selbst. Somit hängt die Antwort auf die gestellte Frage
davon ab, „genauer zu bestimmen, w^as das Ich sei". Durch eine
abermalige Analyse der Willenshandlungen gelangt W^undt zu dem
M System P 31.
») 3. Aufl. 252 ff.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 311
'»
Ergebnis, dass das Ich „der an das Wollen gebundene Kom-
plex von Gefühlen" ist und zwar der Gefühle, die die bereits
erwähnten „charakteristischen Bestandteile der Willensvorgänge" sind.
,,Auf diese Weise ist das Wollen eine Tätigkeit, bei der das
handelnde Subjekt und die von ihm ausgeführten Hand-
lungen überhaupt gar nicht von einander gesondert
werden können, weil das Subjekt selbst in nichts anderem be-
steht, als in einem Teil der Vorgänge, die wir zugleich als seine
Handlungen auffassen".
Diese Ausführungen Wundts gilt es nun im folgenden ein wenig
näher zu beleuchten.
IV.
Die Gefühle sind nach Wundt als Bestandteile eines vollständigen
Willensvorganges, in denen sich das Wollen, ehe es aktuell wird,
als Willensrichtung ankündigt, bestimmte psychische Vorgänge (Wundt
spricht freilich auch wohl von Zuständen, obgleich er, streng ge-
nommen, nur psychische Vorgänge, nur ein immerwährendes seeli-
sches Geschehen anerkennt). Diese Gefühlsvorgänge können, wenn
sie nicht abklingen oder durch andere Gefühle verdrängt werden,
zu Willensakten sich entwickeln. Auf jeden Fall sind sie nach
Wundts Ansicht Tätigkeiten, die unter Umständen in ihrem wei-
teren Verlauf Willenstätigkeiten werden können. Das letztere können
sie aber nur unter Einwirkung eines tätigen Subjekts. Streng
genommen, ergibt sich die Frage nach dem tätigen Subjekt freilich
schon vorher als die Frage nach dem fühlenden Subjekt. Aber
abgesehen davon, erwartet man wenigstens auf die von Wundt ge-
stellte Frage nach dem wollenden Subjekt, das die Gefühle zum
Uebergang in Willenstätigkeit veranlasst, eine befriedigende Antwort,
in der dies Subjekt jedem logischen Gedankengange zufolge als
von den Gefühlen verschieden erklärt wird. Denn deutlich
lautet Wundts Frage: ,,Was ist es, das zu dem Gefühl hinzu-
kommen muss, damit aus ihm ein Wollen hervorgehe?" Deutlich
gibt Wundt auch die nächste Antwort darauf: ,,Was hinzukommen
muss, ist die Beziehung auf ein tätiges Subjekt". Folgerichtig stellt
er auch noch die entscheidende andere Frage: „Was ist dieses
tätige Subjekt?" Und jetzt, wo man mit Spannung die Antwort
erwartet, da erfolgt der überraschende Salto: Das Subjekt sind
die Gefühle selbst; es ist von der Tätigkeit überhaupt
nicht verschieden. Tätigkeit ohne ein von ihr verschiedenes
tätiges Subjekt ist zwar auch für Wundt zunächst etwas Begriffs-
widriges, ein tätiges Subjekt für jede Tätigkeit folglich etwas durchaus
Denknotwendiges, was Wundt, um alle Zweifel an der Wahrheit
dieses Satzes zu beheben, durch die erwähnten Beispiele aus der
Physik erhärtet. Allein wo es für ihn gilt, die erste praktische An-
wendung von diesem Denkgesetz zu machen und das Subjekt der
Willenstätigkeit aufzuweisen, wo es gilt, den Gedanken, den er richtig
312 E. Grünholz.
einleitet, auch folgerichtig zu Ende zu denken und der unabweis-
baren und unabänderlichen, von jedem objektiven Denken zuge-
standenen Tatsache von der Existenz eines selbständigen tätigen
Seelen Wesens zuzustimmen — denn die experimentellen psycho-
phvsiologischen Fragen nach dem Verhältnis der Empfmdungsstärke
zu den Reizstärken, nach den Intensitätsschwankungen der Herz-
und Pulsbewegungen bei den verschiedeuen Gefühlsregungen, nach
der Anzahl der im Bewusstsein festgehaltenen Taktreihenglieder
u. dgl. m, sind doch nur von untergeordneter Bedeutung gegenüber
dieser Kardinalfrage — : da erklärt er die Tätigkeit selbst
als das sie verursachende tätige Subjekt, identifiziert
mit anderen Worten die Wirkung mit der Ursache, ent-
sprechend der Ungereimtheit, die man beginge, wenn man auf physi-
kalischem Gebiete etwa die Gesamtheit (den Komplex) der Flügel-
schläge einer Windmühle als die Ursache für die Bewegungen der
Windmühlenflügel erklären wollte. So begeht Wundt hier einen im
Hinblick auf seine wissenschaftliche, repräsentative Autorität unbe-
greiflichen folgenschweren Gedankenfehler, der als klassischer Typus
für seinesgleichen gelten und zugleich als vorzügliches Beispiel für
die oben aufgestellte Behauptung dienen kann, dass es sehr wohl
ein Denken gibt, das Zustimmung erfordert, dem der Wille aber
gleichwohl die Zustimmung zu versagen vermag.
Allerdings versucht Wundt an anderer Stefle sich gegen einen
solchen schweren wissenschaftlichen Vorwurf zu schützen, indem er
für das Gebiet des willkürlichen Denkens eine sogenannte „logische
Kausalität" konstruiert, deren unterscheidendes Merkmal darin
liegen soll, „dass bei ihr aus gegebenen Bedingungen eine Folge
nicht notwendig gezogen werden muss, sondern dass es unserem
Denken freisteht, ob es tätig sein will oder nicht" ^). Ueber diese
logische KausaUtät urteilt aber bereits der Herbartianer Otto FlügeP)
folgendermassen : „Es ist bekannt, dass ein Denker oft beim besten
Willen und der grössten Selbstkritik nicht alle Konsequenzen zieht,
zu denen er die Prämissen zugegeben hat, oder die Widersprüche
. nicht bemerkt, in denen er sich bewegt — das ist dann subjektive
Schwäche des einzelnen. Aber hier scheint diese Schwäche, die
willkürhch die notwendigen Folgerungen aus den Prämissen nicht
ziehen will, als das Normale hingestellt zu werden, als eine Frei-
heit des Denkens, die kaum etwas anderes als WiUkür bedeutet,
gegen welche natürlich die Wissenschaft nicht streiten kann".
Es ist stets ein bedenkliches Zeichen für die Unhaltbarkeit einer
Theorie, wenn sie sich gezwungen sieht, zur Erklärung neuer Tat-
sachen neue Voraussetzungen zu hypostasieren. Als klassisches
Beispiel aus der Geschichte der Physik kann Newtons Lichthypothese
gelten, die bei jeder neuen optischen Erscheinung, wie sie seit dem
») Logik I'^ 627.
*) Ueber Wundls Erkenntnislehre, Zeitschrift für exakte Philosophie, XII,
1883, 52.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 313
17. Jahrhundert in drängender Aufeinanderfolge bekannt wurden,
immer neue und immer mehr gezwungene Annahmen für die ver-
meintlichen Lichtmoleküle machen musste, bis sie schliesslich unter
der Wucht der einstürmenden Tatsachen zusammenbrach. Auch für
Wundts Philosophie ist es kein empfehlendes Charakteristikum, dass
er sich gezwungen sieht, zur Erklärung der psychischen Tatsachen,
wie sie von ihm versucht wird, bekannte und bewährte Grund-
begriffe der Philosophie, wie den Kausal- und den Sub.stanzbegriff,
das Bewusstsein u. a., für seine , Ansichten zurechtzustutzen und zu
modifizieren. Welche Konsequenzen dies Verfahren nach sich zieht,
zeigt bereits die Kritik seiner voluntaristischen Grundhypothese, dass
das Denken Wollen sei; statt nämlich die subjektiven Tätigkeiten
des Denkens und des Wollens folgerichtig als Tätigkeiten eines von
ihnen verschiedenen selbständigen Seelenwesens anzuerkennen, be-
zeichnet er vielmehr den Willen fälschlich als das Subjekt dieser
Tätigkeiten, dass es dann nicht mehr befremdend erscheint, wenn
das Denken als Tätijrkeit dieses subjektivierten Willens selbst ein
Wollen ist : „Unser Ich ist unser Wollen" ^). Doch was ist, beim
Lichte betrachtet, das Wundtsche Ich?
V.
Wundts Ichbegriff ist, wie schon oben kurz erwähnt, nichts
anderes, als der Zusammenhang aller Empfindungen und Gefühle,
die einen Willens- oder Apperzeptionsakt begleiten ^). Indem ,, diese
Elemente neben ihrer stetigen Veränderlichkeit zugleich einen stetigen
Zusammenhang . . . darbieten, fassen wir das wollende Subjekt als
ein bei allen seinen Veränderungen dauerndes auf". So entsteht
für Wundt der Begriff des Ich, der für sich allein genommen, voll-
kommen inhaltsleer ist, und der „in Wirkhchkeit nichts anderes ist,
als die Art und Weise, wie die Vorstellung; en und die sonstigen
seelischen Vorgänge zusammenhängen". Dass wir dieses Ich als
Subjekt zu unseren inneren Vorgängen hinzudenken, ergibt sich nach
Wundt — obgleich ihm selbst ursprünglich ein solches Subjekt eine
Denknotwendigkeit ist — aus einer ,, Analogie mit den Gegen-
ständen, die wir trotz des Wechsels ihrer Eigenschaften als die
nämlichen auffassen, weil sich all dieser Wechsel zeitlich wie räum-
lich in stetigen Uebergängen vollzogen hat". Ein „beharrendes Sein"
in diesen Dingen gibt es nicht. Die räumlichen Dinge sind vielmehr
für Wundt, wie er an anderer Stelle näher ausführt ^), nichts anderes,
als „ein bestimmter Komplex von Eigenschaften und Zuständen",
die sich ,,mit einer gewissen Konstanz" zusammenfinden. Diese be-
steht in der ,, räumlichen Selbständigkeit" und der ,, zeitlichen Stetig-
keit" der Erscheinungen. Gleichwohl sind diese Bedingungen bloss
relativer Art. Ein vollkommen zureichendes objektives Kriterium
1) System P 375.
0 Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele ^ 274 ff.
3) Logik P 461 ff.
314 E. Grünholz.
für ein Ding gibt es nicht; „die Frage, ob ein Gegenstund sei oder
nicht sei, wird also schliesslich stets durch einen Machtspruch un-
seres Denkens entschieden". Die Fähigkeit dazu besitzt aber das
Denken vermöge der „Einheit der Apperzeption" d. h, der „Selbst-
sländigkeit und Stetigkeil unseres denkenden Selbstbewus.stseins".
,,Da wir nun", so fährt Wundt an der früher zitierten Stelle fort,
,,ohne die Stetigkeit unseres Seelenlebens die Stetigkeit der objektiven
Dinge nicht zu erkennen vermöchten, so ist denn freilich in diesem
Wechselspiel der Entwicklungen das Ich sowohl Ursache wie
Wirkung. Der Zusammenhang der seelischen Vorgänge, der sich
uns in dem Begriff des Ich verdichtet, ermöglicht die Unterscheidung
der Gegenstände von ihren wechselnden Eigenschaften, und diese
Unterscheidung hinwiederum macht uns geneigt, jenem Begriff selbst
einen dinglichen Wert beizulegen". Indem nun unser Körper, an
den in unserer W^ahrnehmung das Ich gebunden ist, selbst ein
äusseres Ding ist, wird das Ich zunächst ,,ein Mischprodukt aus
äusserer Wahrnehmung und inneren Erlebnissen : es ist der Körper
mit den an ihn gebundenen seelischen Vorgängen — so lange bis
die Reflexion diese Einheit zerstört, worauf nun aber immerhin ein
blasses Abbild jener das sinnliche Ich begleitenden Dingvorstollung
erhalten bleibt". Dies blasse Abbild jenes Mischproduktes, das stets
in der , .praktischen Lebensanschauung mit ihrer naiven Sinnlichkeit
die Herrschaft führt", nennt Wundt — das Selbstbewusstsein.
Eine Kritik dieser Ausführungen, soweit sie den Dingbegriff be-
treffen, zeigt zunächst, wie Wundt sich schon bei der Definition
eines räumlichen Gegenstandes gezwungen sieht, mit Bücksicht auf
seinen Seelen- und Substanzbegriff dem Dingbegriff Gewalt anzutun
und ein „beharrendes Sein" in den Dingen zu leugnen, das, wie
Kant sagt'), ,,zu allen Zeiten nicht bloss der Philosoph, sondern
selbst der gemeine Verstand als ein Substratum alles Wechsels der
Erscheinungen vorausgesetzt haben und auch jederzeit als unge-
zweifelt annehmen werden". Dies Substrat, um dessen Begriff Wundt
trotz der unvermeidlichen Widersprüche, die sich daraus ergeben,
so gern herum möchte, kann das Denken in Wirklichkeit erst dazu
zwingen, den Begriff des objektiven Dinges zu vollziehen, das
sich ihm vermöge der ,, Einheit der Apperzeption" als ein einheit-
liches Ganzes zu erkennen gibt. Der Substanz begriff ist es
somit ganz und gar erst, der den Grund für die reale Existenz
eines Dinges ausser uns abgibt, und dieser Begriff kann nnr dann
fehlen, wenn man den Dingen eben nicht auf den Grund geht, sondern
sich gleich der Assoziationspsychologie und Aktualitätstheorie mit
einer deskriptiven Behauptung ihrer Eigenschaften und Zustände zu-
frieden gibt, wie die positivistische Philosophie es will.
Beachtenswerter für die vorliegende Untersuchung ist der Zirkel,
m dem Wundt sich in seiner Entwicklung des Ichbegriffs bewegt.
^) Kritik der reinen Vernunft, Relclamausgabe, 176.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 315
Um die Entstehung des Dingbegriffs zu erklären, appelliert er an
einen „Machtspruch unseres Denkens" und die Einheit unseres
denkenden Selbstbewusstseins. Umgekehrt dagegen sieht er sich für
die Entwicklung des letzten Begriffes gezwungen, zu einer „Analogie
mit den Gegenständen" seine Zuflucht zu nehmen und die „Stetigkeit
unseres Seelenlebens" durch die ,, Stetigkeit der objektiven Dinge"
zu erklären. Dass bei einem solchen Verfahren beide Begriffe
ihren Halt verlieren, und er für beide den Beweis schuldig bleibt,
leuchtet ihm freilich nicht ein. Vielmehr schlägt er in wohl erkenn-
barer Absicht den gangbareren Weg ein, in einem ,, Wechselspiel
der Entwicklungen" ein Zerrbild des natürlichen Ichbegriffs
zu entwerfen, von dem er dann billigerweise behaupten kann, dass
es „sowohl Ursache wie Wirkung" ist. Doch dieser Pfeil richtet
sich nach den vorhergehenden Ausführungen verhängnisvoll gegen
den Schützen selbst.
VI.
Noch ein drittes Mal — vmd damit wenden sich diese Aus-
führungen zum Ausgangspunkte zurück — begegnet uns der von
Wundt begangene Fehler in seinen ,, Vorlesungen über die Menschen-
und Tierseele" bei der Behandlung der intellektuellen Pro-
zesse und ihrer unterscheidenden Merkmale ' . Auch für diese
Vorgänge ist nach Wundt das nächste Merkmal, wie bereits mehr-
fach erwähnt, das begleitende Gefühl der Tätigkeit. Die.se Tätig-
keit ist hier aber für Wundt wieder genau dieselbe, wie die Willens-
tätigkeit. „In der Tat", sagt er, „fällt vermöge dieser subjektiven
Merkmale (der Tätigkeit und des Tätigkeitsgefühls) die intellektuelle
Tätigkeit unmittelbar unter den Begriff der freiwilligen inneren
Handlung oder der aktiven Apperzeption, und in diesem Sinne
können daher die intellektuellen Prozesse vom rein psychologischen
Standpunkte aus auch als apperzeptive Vorstellungsver-
bindungen von den Assoziationen unterschieden werden. Dabei
darf man freilich hier so wenig wie oben unter einer freiwilligen
oder willkürlichen Tätigkeit eine ursachlose Handlung verstehen,
sondern jener Ausdruck hat nur die Bedeutung, dass es sich um
Veränderungen im Bewusstsein handelt, die wir nicht auf vereinzelte
Vorstellungsverbindungen, sondern auf die vereinigte Total-
wirkung aller in uns vorhandenen Anlagen, also in letzter
Instanz auf die gesamte zurückliegende Bewusstseins-
entwicklnng zurückführen. Insofern wir das Besultat dieser
Gesamtentwicklung unser Ich nennen, betrachten wir daher
dieses Ich als die Ursache aller intellektuellen Vorgänge".
Eine nähere Kritik dieser Ausführungen folgt weiter unten. Un-
mittelbar leuchtet ein, dass auch hier der falsche Ichbegriff die Ur-
:.:'/:h.3 ::-'. dass Wundt das Denken in zu engem Sinne lediglich als
Willkürhandlung hinstellt. In Wirklichkeit wird durch einen objektiv
0 Vorlesungen^ 355.
316 E. Grünholz.
richtigen Begrifl' des Ich zunächst nur der subjektive Charakter der
Denktätigkeil erhärtet und das Subjekt dieser Tätigkeit als ein von
ihr unterschiedenes selbständiges reales Seele nvvesen be-
stimmt, dessen Existenz aus den in uns angetroffenen inneren Er-
lebnissen unzweifelhaft und mit zwingender Notwendigkeit resultiert.
Das Denken ist also — das ist das Ergebnis der bisherigen
Untersuchung — subjektive Tätigkeit. Aus diesem Merkmal
folgt aber nicht, dass das Denken identisch mit der Willenstätigkeit
ist. Ebensowenig folgt ferner daraus, dass das Denken, wie Wundt
als zweites Merkmal dafür angibt, selbstbewusste Tätig-
keit ist.
Wundt leitet dies zweite Merkmal des Denkens lediglich aus
der Beziehung der Denktätigkeit auf das wollende Ich her^). Sein
IchbegrifT hat sich aber als unzulänglich erwiesen. Damit wird auch
sein Beweis für das zweite Merkmal des Denkens hinfällig und dieses
auf das erste Merkmal subjektiver Tätigkeit reduziert.
Doch damit ist die Frage, ob das Denken selbstbewusste Tätigkeit
ist, selber noch nicht entschieden.
VII.
Ist das Denken selbstbewusste Tätigkeit? So gewiss
es ist, dass jedes selbstbewusste Subjekt ein denkendes Subjekt, wie
umgekehrt jedes denkende Subjekt ein selbstbewusstes Subjekt ist,
so wenig folgt daraus, dass das selbstbewusste Subjekt sich auch
seiner psychischen Tätigkeiten oder auch nur immer des Inhalts
dieser Tätigkeiten bewusst ist, und so unrichtig erweist sich
darum schon die Behauptung Wundts, dass alles Denken selbst-
bewusste Tätigkeit ist, einfach durch die Tatsache, dass es auch ein
unbewusstes Denken gibt, d.i. ein Denken, dessen sich das
denkende Subjekt während des Denkens selbst nicht bewusst ist,
sondern das ihm entweder gar nicht oder erst nachträglich durch
irgend einen Umstand in das Bewusstsein, besser in die Erinnerung
kommt.
Wundt freilich spottet über die Annahme eines „Unbewussten" ;
er nennt das Bewusstsein nach dieser Auffassung eine Art „Schau-
bühne, auf der unsere Vorstellungen abwechselnd als die handelnden
Personen auftreten, hinter den Coulissen verschwinden und, sobald
ihr Stichwort kommt, wieder erscheinen''; er nennt diese An-
schauungsweise so geläufig, „dass manche Psychologen und Philo-
sophen es für viel wichtiger halten, zu erfahren, was hinter den
Coulissen, im Unbewussten vor sich geht, als was sich im Bewusst-
sein ereignet"^).
Allein diese Kritik ist von derselben Weise und Wirkung, wie
die des „hölzernen Seelenatoms", des ,, isolierten, starren Wirklich-
keitsklötzchens", womit Paulsen die Seelensubstanz bezeichnet, und
') System P 31 f.
") Vorlesungen^ 260.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 317
sie erweist sich nach den Worten eines ernsten und ehrhchen
Denkers, wie Oswald Külpe ^) es ist, als ein wohlfeiler Kampf gegen
die von dem Kritiker selbstgeschaffene Anschauungsweise. Neljenbei
kann Wundt selber Ausdrücke wie „Schwelle des Bewusstseins",
„Ein- und Austritt aus dem Bewusstsein" ganz und gar nicht ent-
behren, wenn er sie auch als „bildliche Redeweisen^' bezeichnet,
„die zur kurzen Bezeichnung gewisser Tatsachen der inneren Er-
fahrung nützlich sind, in denen man aber niemals eine Beschreibung
der Tatsachen selber erbhcken darf"-). Und doch -kann Wundt
z. B. nicht umhin, von „merklichen" und „unmerklichen Empfindungen"
zu sprechen, d. h. solchen Empfindungen, „die von uns aufgefasst
werden", und solchen, ,,die wir nicht wahrnehmen, ... die wir nicht
aufzufassen imstande sind" 3). Nun besteht das Bewusstseiri nach
Wundt ,. lediglich in der Tatsache, dass wir innere Erfahrungen
machen, Vorstellungen, Gefühle, Willensregungen in uns wahrnehmen".
„Alle diese Vorgänge sind uns bewusst, insofern wir sie haben ; sie
sind uns nicht bewusst, wenn wir sie nicht haben" ^). Eine Empfindung
aber, die wir nicht walirnehmen, haben wir auch nicht, folglich sind
wir uns ihrer auch nicht bewusst. Und doch wird, wie Wundt
selber zugesteht, „die wissenschaftliche Reflexion zu dem Schlüsse
gedrängt, dass es Empfindungen . . . geben muss, die wir nicht als
solche wahrnehmen, . . . deren Dasein wir aber voraussetzen müssen,
um die wahrgenommenen Empfindungen zu erklären"^). Existieren
aber solche nicht wahrgenommenen, also unbewussten Empfindungen
in der Tat, wo ist da noch ein Grund, die Existenz eines Unbe-
wussten zu leugnen ? Wenn Wundt dagegen, um aus diesem Dilemma
herauszukommen, in dem angeführten Beispiel sich damit hilft, dass
er den Begriff der Empfindung allgemein sowohl für die merklichen,
als auch für die nicht merklichen Empfindungen gebraucht und nur
gelegentlich beide Arten' auseinanderhält, dann verschleiert er ent-
weder damit nur den festgestellten Tatsachenbestand, oder aber er
dehnt auch den Begriff des Bewusstseins über die erwähnten unbe-
wussten Vorgänge aus, die zwar objektiv vorhanden, aber als solche
für das Subjekt nicht vorhanden, weil nicht wahrnehmbar sind,
hl keinem Falle hat er freilich dann ein Recht, unbewusste psychische
Vorgänge zu leugnen.
VIII.
Von den vielen grossen Denkern aus älterer und neuerer Zeit,
die für die Tatsächlichkeit eines unbewussten Seelenlebens eintreten,
seien hier nur I^eibniz und der eigentliche Philosoph des Unbewussten,
Eduard von Hartmann genannt. So phantastisch sieh auch im ein-
zelnen die Leibnizsche Monadenlehre ausnimmt, ihre Grundgedanken,
0 Einleitung in die Philosophie * 279.
■) Vorlesungen =' 263. — ») Vorlesungen' 49 f.
*) Vorlesungen» 263. — ^) Vorlesungen ^ 49 f.
318 ß. Grünholz.
die u a. für die niederen Monaden ein unbewusstes Seelenleben an-
nehmen, sind jedenfalls einer besseren Kritik wert, als Wundt ihnen
angedeihen lässt; und die zahlreichen konkreten Einzelfälle, die Ed.
V. Hartmann zur Begründung seiner Annahme eines unbewussten
Seelenlebens anführt und denen er seine grösste Sorgfalt zuwendet,
weil auf dieser Grundlage sein metaphysisches Gebäude ruht, sind
niciit einfacli mit Wundts spöttischer Bemerkung ,, hinler den Cou-
lissen" abgetan.
Gerade Hartmann weist eine solche naive Deutung des Unbe-
wussten, wie Wundt sie den Vertretern dieser Anschauungsweise
unterzuschieben beliebt, entschieden zurück. „Das Unbewusste",
sagt er^), ,,ist nicht als ein LJntergeschoss odei Keller des Bewusst-
seins zu verstehen, in welchen der Bewusstseinsinhalt unter Ab-
streifung der ßewusstseinsform versinkt, um gelegentlich wieder
hervorzutreten. Das Unbewusste ist. kein Taubenschlag, aus dem
die \'orstellungen wie Tauben aus- und wieder einfliegen, und je
nachdem bewusst oder unbewusst heissen. Denn der Bewusst-
seinsinhalt ist nicht von der Be wusstseinsform zu
trennen, weil beide als koordinierte Wirkungen gemeinsamer Ur-
sachen gleichzeitig entstehen und vergehen".
Hartmann weist des ferneren eingehend nach, dass der Aus-
druck „Denken gleich bewusste Tätigkeit" sogar einen Widerspruch
enthält. Hartmann unterscheidet zwischen psychischen Phäno-
menen und psychischer Tätigkeit. Erstere sind immer be-
wusst, ,,eben weil sie psychische Phänomene oder Erscheinungen sind;
darin, dass sie einer Psyche erscheinen, darin besteht eben ihr
Bewusstwerden . . . Wären das Wollen und das Denken psychische
Phänomene, so gäbe es weder unbewusstes Wollen noch unbewusstes
Denken. Wer das Wollen in einem bestimmten Komplex von Vor-
stellungen, Empfindungen und Gefühlen bestellend glaubt, hat ganz
recht, unbewusstes Wollen zu leugnen, weil das, was er mit dem
Namen » Wollen < belegt, lediglich ein psychisches Phänomen und
als solches notwendig bewusst ist . . . Ueber die Möglichkeit unbe-
wussten Wollens lässt sich erst dann reden, wenn man anerkennt, dass
die charakteristischen Merkmale von Vorstellungen, Empfindungen
und Gefühlen rmr phänomenale Bewusstseinsrepräsentanten
einer ausser bewussten psychischen Tätigkeit sind . . . und dass
erst jene hinterbewusste psychische Tätigkeit das ist, was mit dem
Worte Wollen eigentlich gemeint ist . . . So ist auch über die Mög-
lichkeit unbewussten Denkens erst dann zu verhandeln, wenn man
anerkennt, dass die aufeinanderfolgenden bewussten Vorstellungen nur
die phänomenalen Fussstapfen sind, welche das ausser-
bewusste Fortschreiten der Tätigkeit hinterlässt, oder
die Reflexe, die es etappenweise ins Bewusstsein hineinwirft".
') Philosophie des Unbewussten " Vorwort XXXIV.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 319
IX.
Psychische Tätigkeiten sind also nach Hartmann absolut unbe-
wusste Tätigkeiten, die als solche „in kein Bewusstsein fallen und
von keinem zu belauschen sind, wenngleich ihre Produkte, sofern
sie psychische Phänomene sind, in ein Bewusstsein fallen müssen";
und Hartmann bezeichnet es als eine Täuschung, wenn man in dem
Wechsel und der Wandlung der psychischen Phänomene, die ihre
Produkte sind, die Tätigkeiten selbst unmittelbar wahrzunehmen
glaube, auf die man höchstens aus ihren Produkten zurückschhesstM.
Nun wollen in der Tat neuerdings die experimentellen Unter-
suchungen der Würzburger Schule, über deren wichtigste Ergebnisse
Geyser berichtet ^j, u. a. zu dem Resultat gekommen sein, dass bei
den Versuchspersonen auch „das Bewusstsein der Aktivität
beim Urteilen" vorhanden war, „das sie am deuthchsten in Form
einer auf eine anfängliche Zurückhaltung erfolgenden
inneren Entscheidung erlebten". Aber es leuchtet nach dem
vorhergehenden ohne weiteres ein, dass die betreffenden Personen
unmittelbar nur die Gefühle der „anfänghchen Zurückhaltung" und
der darauf folgenden „inneren Entscheidung'^ oder Gewissheit als
bewusste „psychische Phänomene" erlebten, während sie die Tat-
sache der „Aktivität" selbst erst aus diesen Produkten nachträglich
erschlossen, dass sie sich also in einer Täuschung befanden, wenn
sie diese ,, phänomenalen Bewusstseinsrepräsentanten" der psychischen
Tätigkeit bei der Beschreibung ihrer Erlebnisse als „Bewusstsein der
Aktivität" zu Protokoll gaben.
In Wahrheit gibt sich somit wohl die Tatsache des Denkens
durch seine Begleiterscheinungen der Vorstellungen, Empfindungen
und Gefühle dem Bewusstsein kund, nicht aber unmittelbar das
eigentliche Wesen dieser Tatsache, die Tätigkeit des Denkens selbst;
diese wird vielmehr erst aus jenen Tatsachen erschlossen, vs^enn das
denkende Subjekt, wie auch Wundt es tut, über sich selbst und sein
eigenes Denken nachzudenken beginnt. Es gibt also, mit anderen
Worten, wohl ein bewusstes oder auch selbstbewusstes
Denken, wobei das denkende Subjekt sowohl von seinem Denken
-- dass es denkt — , als auch von sich selbst als Subjekt seiner
Gedanken weiss. Aber es weiss nicht zu gleicher Zeit, wie es denkt;
es gibt somit nicht, wie Wundt behauptet, für uns ein Denken als
selbstbewusste Tätigkeit, denn die Denktätigkeit ist als solche
für uns niemals ein Erlebnis, d. h. Inhalt unmittelbarer Erfahrung.
Unmittelbarer Bewusstseinsinhalt ist vielmehr nur die blosse Tat-
sächlichkeit des Denkens, wie sie das selbstbewusste Subjekt als
spezifische innere Empfindung erfährt, und weiter nichts.
X.
^ Doch nicht die Tätigkeit des Denkens allein ist es, die für das
uchktndc Subjekt unbewusst bleibt. Es gibt auch ein unbewusstes
') A. a. 0. XXXV f.
^) Lehrbuch der allgemeinen Psychologie (1908) 395 und 434 Anm.
S20 E. Grünholz.
Denken, d. h. ein Denken, dessen Tätigkeit nicht nur, sondern
auch dessen Inhalt für das denkende Subjekt während des Denkens
unbewusst bleibt. Genaue Selbstbeobachtung niuss diese Tatsache
anerkennen. Erwähnt sei zAinächst aus der älteren Literatur die
Bemerkung eines Psychiaters (Jessen, Psychologie), die Ed. v. Hart-
niann ^) anführt: „Wenn wir mit der ganzen Kraft des Geistes über
etwas nachdenken, so können wir dabei in einen Zustand von Be-
wusstlosigkeit versinken, in welchem wir nicht nur die Aussenwelt
vergessen, sondern auch von uns selber und den in uns sich be-
wegenden Gedanken gar nichts wissen. Nach kürzerer oder längerer
Zeit erwachen wir dann plötzlich wie aus einem Traum, und in
demselben Augenblick tritt gewöhnlich das Resultat unseres
Nachdenkens klar und deutlich im Bewusstsein hervor, ohne
dass wir wissen, wie wir dazu gekommen sind".
Ein schönes ähnliches Beispiel von Selbstbeobachtung, die für
das seelische Unbewusste spricht, führt Geyser^) an: „Wenn ich
eine geistige Aufgabe . . . durchdenke, so beeinflussen mich die erst
kommenden Gedanken bereits, ehe sie in meinem Bewusstsein aktual
sind, beim Niederschreiben. Die Art dieser Beeinflussung durch das
vorwärts gelegene Unbewusste kann ich schwer beschreiben.
Aber dass sie stattfindet, dass sie mich die Niederschrift der Sätze
beginnen lässt, ehe ich sie sprachlich und sachlich ganz ausgedacht
habe, und mir gleichwohl das Bewusstsein des Verständnisses und
des Könnens gibt, das ist Tatsache".
Geyser berichtet auch über die Ergebnisse der bereits erwähnten
,, experimentell psychologischen Untersuchungen über das Denken" im
Würzburger psychologischen Laboratorium, die diese fundamentale
Seite des psychischen Problems berühren und ,,die Existenz und
Wirksamkeit von unbewusstem Psychischen als eine
experimentell festgestellte Tatsache" bezeugen^).
Wundt freilich will ein unbewusstes Denken nicht anerkennen.
Tatsachen, wie die von Geyser erwähnte, erklärt er als ., Gesamt-
vorstellungen in unserem Bewusstsein". Wenn wir im Begriffe stehen,
einen verwickelten Gedanken auszusprechen, so steht nach Wundt*)
zunächst der ganze Gedanke als „Gesamtvorstellung" in unserem
Bewusstsein. Diese ist durchaus nicht mit den Urteilen identisch,
in die sie sich zerlegen lasse. „Vielmehr können wir hier deutlich
wahrnehmen, dass zwar vor dem Aussprechen des Gedankens dieser
als Ganzes schon in uns liegt, dass aber doch die einzelnen Bestand-
teile erst in dem Masse zu klarem Bewusstsein erhoben werden,
als wir die Zerlegung wirklich ausführen".
Ganz richtig; nur vergisst Wundt hierbei, dass auch der noch
nicht au.sgesprochene Gedanke, den wir als Ganzes in uns vor-
finden, mit allen seinen wesentlichen Bestandteilen in der cha-
rakteristischen Verbindung, die eben den betreffenden Gedanken
S A. a. 0. 277. — ^) A. a. 0. 175. — =») a. a. 0. 77 f.
*) Vorlesungen^ 350 ff.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. o21
kennzeichnet, bereits auf Grund irgend einer psychischen Funklioii
entstanden sein muss, die sich zwar nicht nälier beschreiben lässL,
weil sie im Bewusstsein nicht wurzelt, die aber vorausgesetzt werden
muss, wenn überhaupt nachträglich eine bewusste Analyse des Ge-
dankens möglich sein soll. Diese ausserbewu.sste psychische Funktion,
die den Gedanken als Ganzes schon vor unserem Bewusstsein ent-
stehen lässt, ist eben das unbewusste Denken.
Die sogenannten ,, Gesamtvorstellungen" Wundts, die sieh von
den zusammengesetzten Vorstellungen dadurch unterscheiden, ,,dass
die Beziehungen ihrer Bestandteile als begriffliche Bestimmungen
aufgefasst werden", sind demnach nichts anderes, als Ergebnisse
unbewussten Denkens, wodurch sich gerade das menschhche
Seelenleben von den blossen Assoziations Vorgängen in der Tierpsyche
wesenthch unterscheidet. Der Eindruck eines roten irlauses z. B.
wird bei einem Tier immer nur eine „zusammengesetzte Ge.sichts-
vorstellung" erwecken, die zwar auch selbstverständlich der Mensch
erfährt. Aber nur dieser ist imstande, daraus weiter die sogenannte
,, Gesamtvorstellung" zu bilden, indem er die rote Farbe von der
Vorstellung des Hauses als solcher trennt. Jetzt wt>rden aber bereits,
wie Wundt selbst sagt, „Eigenschaft und Gegenstand be-
grifflich gedacht und in der Gesamtvorstehimg zu einander in
Beziehung gesetzt". Dies ,,In Beziehung setzen" ist darum nichts
anderes, als unbewusstes Denken, als dessen Ergebnis hier
zunächst die ,,Gesamtvorslellung" resultiert, die dann in der weiteren
Analyse zum Begrift'e führt.
XI.
Aus den vorhergehenden Ausführungen leuchtet jetzt auch die
Unzulänglichkeit der Begrilfserklärung ein, die Wundt für die in-
tellektuellen Prozesse gibt (vgl. Abschnitt VI). Diese sind
ihm ledighch freiwillige innere Handlungen, apperzeptive Vor-
stellungsverbindungen, die er streng von den unwillkürlichen Vor-
stellungsassoziationen ^unterscheidet. Denken vollzieht sich für ihn
nur dort, wo der Wille bewusst wirksam wird; in allen anderen
Fällen spricht er von Assoziationen, in deren „Mechanismus" er
sowohl die „vorbereitende Werkstätte des Denkens", als auch „die
Bewahrerin der Erwerbungen und Ergebnisse des Denkens" sieht ^).
Einmal entstandene apperzeptive Gedankenverbindungen, sagt er-),
gehen selbst wieder in Assoziationen über, und dieser Uebergang
bildet „einen der bedeutsamsten Bestandteile jener mannigfachen
Uebungsvorgänge, durch die willkürliche Handlungen, die ursprüng-
lich mit Absicht und Ueberlegung zustande kamen, allmählich ge-
wohnheitsmässig und mechanisch auf bestimmte äussere Anlässe
ausgeführt werden". So zieht sich auch „bei den intellektuellen
Prozessen die aktive Gedankenarbeit mehr und mehr auf die wesent-
') System P 33.
'^) Vorlesungen* 356.
Philosophisches .lahrliucli l'J13. 21
322 E. Grün holz.
liehen Momente des Gedankenverlaufes zurück, während unser Denken
über alle untergeordneten Punkte mit Hilfe logischer Assozia-
tionen hinweggleitet. Je geübter das Denken wird, um so zahl-
reicher werden diese von selbst sich darbietenden Mittelglieder, und
um so energischer kann daher die eigentliche Kraft des Denkens auf
die entscheidenden Punkte sich richten".
So also wird durch Wundt das grosse Geheimnis unseres eigenen
,, Webermeisterstücks" aufgedeckt, wie Goethe so schön und sinnig
das geheimnisvoll verschlungene Spiel unserer Gedanken nennt:
„Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schiessen,
Die Fäden ungesehen fliessen.
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt".
Nur schade, dass Wundts Erklärung selber ein grosses Geheimnis
birgt, besser eine grosse Unklarheit und Verschwommenheit zur
Schau trägt und eine grosse Lücke aufweist. Denn für das physi-
kalisch-mechanische Spiel des Webstuhls wird auch Wundt sicher
den „Tritt" und ,, Schlag" des Meisters verlangen, der die Schifflein
regt und die Fäden richtet, und er würde es als eine grosse Un-
gereimtheit bezeichnen, zu behaupten, die Fäden und Schifflein geben
sich selbst in immerwährendem gemeinsamem blindem Spiel Antrieb
und Anordnung. Für das wundervolle und ohnegleichen tausendfach
mehr verschlungene Spiel unserer Gedanken aber, da genügt für
ihn der ,, einfache Mechanismus der Assoziationen", es restlos und
befriedigend zu erklären!
Die Assoziationen kommen von selbst und gehen von selbst,
zwisehendrein werden sie Veranlassung zu neuen Assoziationen, die
sich mit den früheren vereinigen in fortwährendem „Mechanismus",
ohne dass ein Antrieb und eine Regelung für diesen Mechanismus,
verschieden von den Assoziationen, erforderhch wäre; und dieser
blinde Mechanismus führt schliessüch, wenn der „Wille" wirksam
wird, — nota bene, wenn die immer wiederkehrenden Vorstellungen
und Assoziationen in Verbindung „mit schwankenden und ebenfalls
relativ gleichförmig wiederkehrenden Empfindungen und Gefühlen"
schliesslich das geworden sind, was Wundt „Wille" nennt, — aus
der ,, vorbereitenden Werkstätte*' hinaus zum „Denken", von hier
aber wieder, „je geübter das Denken wird", in stetem Kreisprozess
zurück zur Assoziation als der ,,Bewahrerin der Erwerbungen und
Ergebnisse des Denkens". Demnach müsste schliesslich der geübteste
Denker, der gelehrteste Kopf in Wirklichkeit am wenigsten „denken"
im Vergleich zu dem gewöhnlichen Durchschnittsmenschen, der mit
seinem beschränkten Verstände vergeblich sich abmüht, eines Problems
Herr zu werden, das jener „spielend" löst!
In der Tat ist Wundt geneigt, anzunehmen, „dass der Mensch
eigentlich nur selten und wenig denkt". ,, Unzählige Handlungen",
sagt er, „die in ihren Erfolgen Intelligenzäusserungen gleichkommen.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 323
's
verdanken ihren Ursprung zweifellos der Assoziation"^). In Wahr-
heit aber ist nicht ein nur auf die entscheidenden Punkte gerichtetes
Minimum aktiver Gedankenarbeit, sondern die Beschleunigung
der Gedankenfolge ohne Verminderung der Gedanken-
mannig faltig k ei t das charakteristische Merkmal der
Denkfertigkeit. Analog hat z.B. ein geübter Klavierspieler, der
in rasendem Presto die schwierigsten Läufe spielt, keineswegs weniger
Fingerbewegungen auszuführen, als der Anfänger im Klavierspiel,
der mühsam nach den einzelnen Notenbildern erst die entsprechenden
Tasten greifen lernt; nur leistet jener dank seiner künstlerischen
Fertigkeit seine Sache in einer wesentlich kürzeren Zeit als der
Schüler.
Freilich kommt nicht jede einzelne Fingerbewegung mehr dem
Klavierkünsller zum Bewusstsein, so auch dem geübten Denker nicht
mehr jeder einzelne seiner Gedankenschlüsse. Gerade das U eber-
springen von Schlüssen beim Denken nennt Ed. v. Hartmann
eine ganz bekannte Erfahrung. ,,Das Denken würde ohne diese Be-
schleunigung so schneckenlangsam sein, dass man, wie . es denk-
langsamen Menschen jetzt noch geht, bei vielen praktischen Ueber-
legungen mit dem Resultat zu spät kommen und die ganze Arbeit
des Denkens ihrer Beschwerhchkeit wegen so hassen würde, wie sie
jetzt bloss von besonders Denkfaulen gehasst und gemieden wird" ^).
Die unbewusst gebliebenen Zwischenglieder eines solchen sprin-
genden Gedankenganges sind aber nicht, wie Wundt behauptet,
blosse Assoziationen, d. h. Vorstellungsverbindungen, ,,für welche
die Merkmale der logischen Tätigkeit nicht zutreffen" ^), sondern wirk-
liche Gedanken, d.h. Ergebnisse des Denkens; es sind mit andern
Worten nicht nur Vorstellungselemente und intellektuell passive
Vorstellungsverbindungen einer die intellektuelle Tätigkeit erst ,, ein-
leitenden Gesamtvorstellung", sondern bereits aus solchen Vor-
stellungen und Assoziationen resultierende unbewusste Begriffe,
Urteile und Schlüsse, d.h. Grundgebilde jener beziehenden
Tätigkeit, die wir vornehmlich als Denken bezeichnen.
XII.
Nun nennt aber Wundt das Merkmal der beziehenden
Tätigkeit neben dem der subjektiven Tätigkeit für das Denken
zu umfassend, dass er noch das Merkmal selbstbewusster Tätigkeit
hinzunimmt, um das Denken eindeutig zu bestimmen. So ist ihm
auch insbesondere jede unwillkürUche Assoziation von Vorstellungen
eine beziehende Funktion. ,,Die assoziierten Vorstellungen werden
durch irgend welche ihnen innerlich zukommende oder äusserlich
anhaftende Eigenschaften zueinander in Beziehung gesetzt. Diese
^^ Vorlesungen '' 416,
■') A.a.O. F 276.
') Vorlesungen^ 324, auch Logik P 13.
21^
324 E. Grünhoiz,
Beziehung ist aber keine selbstbewusste Tätigkeit. Sie erscheint als
eine dem Bewusstsein gegebene, nicht als eine von ihm erzeugte
Tatsache" ^).
Welche Bedeutung gebührt bei kritischer Bettacl.tung dem Be-
giiir „beziehende Tätigkeit"? Offenbar bezeichnet der Begriif „in
Beziehung setzen" eine subjektive Tätigkeit, die ohne ein die Be-
ziehung ausführendes Subjekt nicht denkbar ist. Vorstellungen können
wohl „duich irgend welche ihnen innerlich zukommende oder äusser-
hch anhaftende Eigenschaften", mit anderen Worten, durch irgend
einen objektiven Realgrund veranlasst unl unabhängig
davon, ob sie als Vorstellungen vermöge einer subjektiv-
psychischen Disposition aufgefasst werden oder nicht,
zu einander in Beziehung stehen oder in Beziehung treten. Darin
besteht das Wesen der assoziativen Beziehung, die als solche
real, aber rein passiv ist. Ein aktives ,,In Beziehung setzen"
der so zu einander in Beziehung befindlichen EleirCiite einer be-
steh'inden Vorstellungsverbindung dagegen ist von dieser passiven
Form der Bezieliung wesentlich verschieden und stets mit einem
Erfassen bzw. Erkennen dieser Beziehung seitens des
psychischen Subjekts verbunden. Nur diese logische Beziehung
als solche ist rein psychischer Natur. In diesem Sinne aber sind
die Assoziationen, die auch der Tierpsyche eigen sind, zwar un-
niillelbare Erlebnisse, aber keineswegs, wie Wundt behauptet, eine
„beziehende Funktion". Das aktive „In Beziehung setzen" dagegen
ist kein unmittelbares Erlebnis mehr, wie etwa die Bestandteile
einer zusammengesetzten Vorstellungsverbindung; es ist vielmehr,
wie bereits oben (Abschnitt X) erwähnt, ganz und gar der Akt einer
spezifischen trennenden Tätigkeit des psychischen Sub-
jekts, wodurch sich das menschliche Seelenleben wesentlich von
der Tierpsyche unterscheidet, eine Tätigkeit, die als solche gar
nichts weniger und gar nichts anderes als bereits das
Denken selber ist.
XIII.
In doppelter Weise kann das Denken seine Tätigkeit entfalten,
je nachdem der Denkinhalt dem denkenden Subjekt zum Bewusst-
sein kommt oder nicht. Das eine ist das bewusst- logische oder
vornehmlich das wissenschaftliche Denken, das andere das
uubewusst logische oder das natürliche Denken, wie es in erster
Linie, aber nicht allein, dem Denken des Kindes eigen ist.
Niemand — ausser den Assoziationspsychologen, wie Th. Ziehen-),
der die Assoziationen des Kindes eingehend experimentell untersucht
liat, aber als Assoziationspsychologe auch die Urteile für Assoziationen
') System F 32 f.
^) Die Ideenassoziation des Kindes. Sammlung \on Abbandlungen aus
dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie I (1898) G (vgl.
Gutberiet, Der Kampf um die Seele 11- 709 f.).
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 325
hält — wird im Ernste bestreiten wollen, dass ein Kind denken
kann; niemand aber wird anderseits ernstlich behaupten wollen, dass
ein Kind sich aller psychischen Vorgänge, die sein Denken be-
gleiten, bewusst wird. In Wirklichkeit schliesst sich der Gedanken-
kreis des Kindes und das kindliche Urteil stets eng an irgend ein
grössere.'- oder kleineres meist äusseres Erlebnis an, und bewusst
wird dem Kinde eben nur dies Erlebnis, auf das es dann unbewusst
— wenngleich selbstbewusst — in seinem Urteil reagiert.
Unbewusste Urteile und Schlüsse kommen aber auch überall
und tagtäglich in jedem natürlichen Denken vor trotz der
gegenteiligen Ansicht Wundts. Ed. v. Hartmann nennt diese Art
des Denkens, wo sich uns das Unbewusste recht deutlich offenbart,
„intuitive, intellektuelle Anschauung, unmittelbares
Wissen, immanente Logik". Er bezeichnet diese „logische
Intuition" als den ,, Pegasusflug des Unbewussten, der in einem
Moment von der Erde zum Himmel trägt", während „die diskursive
oder deduktive Methode nur der lahme Stelzenfuss des Bewusst-
Logischen ist" ^ j. — In ähnlicher Weise spricht Benno Erdmann ^)
von einem ,,un formulierten und intuitiven Denken", be-
richtet Geyser^) von einem „anschauungslosen und wortlosen
Denken".
Aus alledem geht hervor, dass Wundt den Begriff des
Denkens zu enge fasst, indem er nur die selbstbewusste logische
Tätij.;keit als Denken bezeichnet, während es in Wirklichkeit jede
beziehende psychische Tätigkeit ist, mag ihr Beziehungsinhalt bewusst
oder unbewusst verlaufen, und mag er sich in Worte kleiden oder
nicht. „Die Gedanken", sagt Geyser, „sind weit reicher als die
dürftigen Wortsymbole, an welche sie sich heften".
Im Gegensatz zum natürlichen Denken ist die bewusst-logische
Gedankenform vornehmhch Gegenstand des wissenschaftlichen
Denkens, obgleich auch in dieses manche Momente aus dem vor-
wissenschafthchen oder natürhchen Denken hineinspielen. Nur dies
bewusst logische, das eigentlich wissenschaftliche Denken ist eine
freiwillige innere Handlung, ist nach Wundt apperzeptive
Tätigkeit, d. h. eine Tätigkeit, auf die die aktive Aufmerksamkeit
oder „der Blickpuukt des Bewusstseins" sich richtet, nicht das
Denken überhaupt. — Darum fasst Wundt andererseits auch den
Begriff der Assoziationen zu weit.
XIV.
Wundt nimmt für die Assoziationen in Wirklichkeit das ganze
Gebiet der nicht apperzeptiven Vorstellungsverbindungen in Anspruch,
obgleich er zwar nur, wie bereits erwähnt, die Assoziationen als
diejenigen Vorstellungsverbindungen definiert, „für welche die Merk-
') A. a 0. 271 und 274.
'') Logik P H f.
') A. a. 0. 417.
326
E. Grünholz.
male der logischen Tätigkeit nicht zutreffen". Der Grund für diese
Unklarheit liegt darin, dass Wundt eine unbewusste Geistestätigkeit
nicht anerkennen will, was zur Folge hat, dass auch das logische
Denken für ihn stets nur eine bewusste bzw. selbstbewusste Tätig-
keit bedeutet. Und doch verfährt er inkonsequent in Wirklichkeit
so, als oh es neben dem bewusst-logischen Denken doch noch
irgend ein unbewusstes Denken gibt. Die Folge davon ist, dass er
— wenigstens in seiner Ausdrucksweise — sich in Widersprüche
verwickelt, die dann ihrerseits die Ursache für die Unklarheit und
Verschwommenheit bilden, die seine Ausführungen vielfach be-
herrschen
Schon der Ausdruck „logische Assoziationen", mit deren
Hilfe das geübte Denken ,,über alle untergeordneten Punkte hinweg-
gleitet", zeugt davon. Denn was bedeutet dieser Ausdruck, wenn
die Assoziationen Vorstellungsverbindungen sind, denen ein logischer
Charakter nicht zukommt? Ein assoziativer, d. h. nicht logischer
Verlauf von Vorstellungen, der dennoch logisch ist, ist und bleibt
ein unvollziehbarer Gedanke.
An mehreren Stellen, wo W^undt die Entwicklung des Denkens
darlegt und dabei den Unterschied der willkürlichen Denkakte von
den unwillkürlichen Assoziationsvorgängen betont, spricht er von
dem ., willkürlich fixierten Zweck des Gedankenlaufes", von der
„willkürlichen Aenderung des Gedankenlaufes". ",,Wir lenken unsere
Gedanken willkürlich hierhin und dorthin, indem wir aus einer An-
zahl unserem Bewusstsein zuströmender Vorstellungen diejenigen aus-
suchen, die in den Zusammenhang unseres Denkens passen" ^). Also
gibt es doch wohl einen Gedankenlauf, unabhängig von dem bewussten
Akte unserer Willkür ? Oder meint Wundt, wie er es folgerichtig
sollte, wo er von dem Gedankenlauf spricht, in WirkUchkeit
nur einen Vors tellungs verlauf? Warum aber dann die unklare
Ausdrucksweise ?
Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis,
die einleitend erwähnt worden ist und im übrigen einer besonderen
kritischen Untersuchung bedarf, beruht nach Wundt auf der soge-
nannten „reflektierenden Form der Erkenntnis", während
die „naive Form" oder das „naive, vorwissenschaftliche
Denken" diese Unterscheidung noch nicht kennt ^j. Nun definiert
Wundt aber die Erkenntnis als ein Denken, „mit dem sich die
Ueberzeugung von der Wirklichkeit der Gedankeninhalte verbindet".
Das Denken wiederum ist ihm ausschliesslich selbstbewusste
Tätigkeit, die also das Selbstbewusstsein oder die Selbstauffassung
des Subjekts zur notwendigen Voraussetzung hat. Wie ist es da
denkbar, dass diese selbstbewusste Tätigkeit in ihrer „naiven Form"
die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt noch nicht kennt?
1) System 33; Vorlesungen 250.
'0 System 81 ff.
Eine kritische Untersuchung über das Denken. 327
Offenbar sind es, wie diese Beispiele zeigen und mit denen die
vorliegende Untersuchung vorläufig ihren Abschluss finden möge,
schwerwiegende Widersprüche, in die Wundt durch seinen zu engen
Begriff des Denkens gerät, und die dadurch hervorgerufen werden,
dass Wundt m dem Bestreben, das Erkenntnisproblem von einer
neuen Seite her zu lösen, sich genötigt sieht, fast durchweg alle
althergebrachten Grundbegriffe der Philosophie in einer oft recht
unzulänghchen und nicht immer objektiven Kritik wesentlich umzu-
gestalten, wodurch er nicht minder und nicht zu gunsten seiner Philo-
sophie das Verständnis seiner Ausführungen wesenthch erschwert.
Dass bei einem solchen Verfahren die Lösung des eingangs erörterten
schwierigen Problems selber auf die grössten Schwierigkeiten stösst,
mögen die vorliegenden Ausführungen lehren. Sie zeigen, dass
Wundts System durch die Unzulänglichkeit seiner voluntaristischen
Grundanschauung bereits einen bedenklichen und verhängnisvollen
Riss erfährt. Denn — das ist das Schlussergebnis dieser Untersuchung :
— das Denken ist nicht ausschliesslich Willenstätigkeit. Das Denken
ist vielmehr eine im Gegensatz zur Tierpsyche dem Men-
schen eigene spezifische Tätigkeit eines selbständigen
denkenden Seelenwesens, und als solche ist das Denken,
mag es bewusst oder unbewusst verlaufen, durch die
Merkmale subjektiver und beziehender Tätigkeit völlig
eindeutig bestimmt.
Der Streit um die Relativitätstheorie.
Von Prof. Dr. C. Gutberiet in Fulda.
I.
Das von Einstein so laut verkündete Relativitätsprinzip, das in der
physikalischen Naturerklärung nur relative Bewegung anerkannt, hat einer-
seits sehr begeisterte Anhänger, andererseits aber auch entschiedene Gegner
gefunden. Der Streit tritt in sehr konkreter Form in zwei Abhandlungen
der neuen Zeitschrift „Die Naturwissenschaften" zutage, indem E. Gehrcke^)
sehr wuchtige Schläge gegen dasselbe führt und M. Born 2) dieselben ab-
zuwehren sucht.
Gehrcke führt aus:
Die Relativitätstheorie ist eine völlig neue Interpretation der für die
Elektrodynamik und Optik bewegter Körper aufgestellten Transformations-
gleichungen. Aber die Theorie muss, wenn sie wahr sein soll, auch auf
andere physikalische Gebiete anwendbar sein, und dies behaupten ja auch
ihre Apostel. Wenn sich nun zeigen lässt, dass dies nicht durchführbar
ist, so ist damit die Theorie selbst erschüttert. Auf empirischem Wege
ist nun freilich eine solche Widerlegung schwierig. Michelsohn hat nun
allerdings experimentell die Unabhängigkeit der optischen Erscheinungen
von der absoluten Bewegung nachgewiesen, aber das ist keine Folgerung
der Relativitätstheorie, sondern eine ihrer Voraussetzungen. Es gibt aber
ein€n anderen Weg, eine Theorie zu prüfen : Man analysiert die Grundsätze
derselben und untersucht sie auf ihre Vereinbarkeit ; widersprechen sie sich,
so ist die Theorie falsch. Aber auch hier entsteht eine Schwierigkeit:
das Relativitätsprinzip selbst ist nicht eindeutig definiert, nicht einmal von
Einstein selbst. Zuerst formulierte er es : als „Voraussetzung der Unab-
hängigkeit der Naturgesetze vom ßewegungszustande des Bezugssystems'''
und beschränkte es auf gleichförmige Bewegungen, nachträglich dehnte er
es auch auf beschleunigte Bewegungssysteme aus, später nahm er dies
wieder zurück.
Für translatorische Bewegungen mögen sich keine Unterschiede im
Verhalten eines bewegten Bezugssystems ergeben. „Wohl aber erzeugt die
rotatorische Bewegung von a gegen b besondere Erscheinungen auf
') 1912, Nr. 3 S. 62 ff. *
2) 1912, Nr. 4 S. 92 ff.
Der Streit um die Relativitätstheorie. 329
der Erde, nämlich Zentrifugalkräfte, die sich experimentell auch aufzeigen
lassen, z.B. durch Pendelversuche. Für rotatorische Bewegungen gilt
mithin das Relativitätsprinzip nicht, hier liegt eine Grenze des Prinzips
vor ; das Prinzip umfasst also nicht^ alle Fälle von Bewegung und ist darum
kein allgemeines Prinzip".
Mehrere Physiker haben zwar behauptet, auch die Rotation sei nur
relative Bewegung, aber Einstein selbst beschränkt sein Prinzip auf Trans-
lationen. „Daraus aber folgt, dass irdische Physiker, die in irdischen
Laboratorien Versuche anstellen, die Theorie nicht auf ihre Experimente
anwenden können. Denn wir befinden uns auf der relativ zum Fixstern-
himmel rotierenden Erde und bewegen uns ausserdem im Kreise um die
Sonne . . . Beschränkung ist hier gleichbedeutend mit Vernichtung der
Theorie".
Ein anderer Einwand betrifft die Einsteinsche Zeitdefinition in ihrer
Stellung zum Relativitätsprinzip. Einstein sagt:
„Wenn wir z. B. einen lebenden Organismus in eine Schachtel hinein-
brächten und in derselben Hin- und Herbewegungen ausführen Hessen, so
könnte man es erreichen, dass dieser Organismus nach einem beliebig
langen Fluge beliebig wenig geändert wieder an seinen ursprünglichen Ort
zurückkehrt, während ganz entsprechend geartete Organismen, welche an
dem ursprünglichen Orte ruhend geblieben sind, bereits längst neuen
Generationen Platz gemacht haben. Für den bewegten Organismus war
die lange Zeit der Reise nur ein Augenblick, falls die Bewegung annähernd
mit Lichtgeschwindigkeit erfolgte. Das ist eine unabweisbare Konsequenz
der von uns zugrunde gelegten Prinzipien, die die Erfahrung uns aufdrängt".
Also nicht rein subjektiv, sondern physikalisch soll in der langen Zeit
der Organismus unverändert geblieben sein.
Aber diese Zeitdefinition ist mit der Einsteinschen Formulierung des
Relativitätsprinzips unvereinbar.
Der dritte Einwand gegen die Relativitätstheorie betrifft ihre Ver-
werfung des A e t h e r s. Derselbe ist aber nicht nur mit ihr vereinbar,
sondern vfird sogar von ihr gefordert. Denn die Rotation kann nur relativ
in Bezug auf ein imponderabeles Medium sein, jedenfalls nicht in Bezug
auf den Fixsternhimmel.
Viertens kann die Relativitätstheorie nicht die Gravitation erklären;
Abraham hat dies früher versucht, neuerdings aber zeigt er, dass in der
Theorie kein Platz für die Erscheinungen ist, er nennt sie deshalb eine
,gestrige'.
Darum schliesst Gehrcke :
„Die klassische Relativitätstheorie, welche ein Gemisch von einander
widersprechenden Prämissen vorstellt, ist jedenfalls ein interessanter Fall
von Massensuggestion in der Physik gewesen, besonders in den Ländern
deutscher Zunge. Vor etwa zehn Jahren war Frankreich der Haupt-
330 C. Gutberiet.
Schauplatz einer physikalischen Massensuggestion, als in Nancy die N-
Strahlen , entdeckt' waren, deren Dasein dann von den verschiedensten
Beobachtern bestätigt wurde. Man kann nun die Frage aufwerfen: Wo
wird die nächste grosse Massensuggestion auf physikalischem Gebiet in
Szene gesetzt werden?"
II.
Gegen Gehrckes Artikel wendet sich M. Born in der folgenden Nummer
der Zeitschrift*). Zunächst bemerkt er, dass ein hauptsächlicher Einwand
Gehrckes sich auch gegen die von Galilei und Newton begründete klas.sische
Mechanik richtet.
„In dieser klassischen Mechanik gilt nämlich auch ein ,Relativitäts-
prinzip', das sogar auf rein mechanische Vorgänge angewandt, genau den-
selben Wortlaut hat wie das Einsteins und lautet : In zwei relativ zu ein-
ander gleichförmig und geradlinig bewegten Systemen gelten dieselben
Newtonschen Bewegungsgesetze, d. h. ein Körper A bewegt sich relativ zu
dem ersten System genau so wie ein gleichbeschaffener Körper B.
relativ zu dem zweiten System, wenn die übrigen wirkenden Körper der
beiden Systeme relativ dieselbe Lage und Bewegung und die Körper A und B
in einem Augenblick relativ zu dem betreffenden System übereinstimmende
Lage und Geschwindigkeit haben".
„Die anderen drei Einv/ände betreffen die Einsteinsche Zeitdefinition,
die Existenz des Aethers und die Gravitation. Ueber die erstgenannten
Funkte ist viel gesprochen und geschrieben worden, und man gibt allgemein
zu, dass gewisse Folgerungen aus der Einsteinschen Zeitdefinition, z. B.
das Nachgehen von bewegten Uhren gegen ruhende, höchst merkwürdig
sind, dass die Abschaffung des Aethers der Vorstellungskraft mancherlei
Schwierigkeit bereitet. Es liegen eben Widersprüche gegen altgewohnte
Anschauungen vor. Herr Gehrcke verwechselt diese leider mit logischen
Widersprächen der Theorie in sich. Dass die Theorie tatsächlich logisch
widerspruchsfrei ist, lässt sich mathematisch beweisen mit Hilfe von
Minkowskis geometrischer Darstellung in der vierdimensionalen, aus
Raum und Zeit gebildeten Mannigfaltigkeit, die er , Welt' nennt ; ohne näher
darauf einzugehen, kann ich hier nur sagen, dass jedem Satze der Rela-
tivitätstheorie ein gewisser geometrischer oder algebraischer Satz entspricht,
derart, dass ein Widerspruch in der Relativitätstheorie einen Widerspruch
innerhalb der Algebra zur Folge hätte".
„Der vierte, die Gravitation betreffende Einwand geht auf eine noch
nicht völlig geklärte Frage ein. Dass die Gravitation als Fernwirkung mit
dem Relativitätsprinzip verträglich ist, ist längst von Poincare, Min-
kowski und Sommerfeld gezeigt worden. In dem Bestreben, Nah-
wirkungstheorien der Gravitation aufzustellen, sind Einstein und Abraham
) 1912, Nr. 4 S. 92 iT.
Der Streit um die Relativitätstheorie. 331
ZU Annahmen gelangt, die der Relativitätstheorie widersprechen ; diese
beiden Theorien entbehren aber noch jeder experimentellen Bestätigung . . .
Nach dem jüngsten tiefsinnigen Untersuchungen G. Mies zur ,Theorie der
Materie' scheint es nicht hoffnungslos, die Gravitation im Einklang mit dem
Relativitätsprinzip als allgemeine Eigenschaft der Materie zu begreifen".
III.
Was sagen wir zu diesem Widerstreit der Meinungen ? In einigen
Punkten müssen wir Born gegen Gehrcke recht geben. Dass sich experi-
mentell das Relativitätsprinzip nicht im Laboratorium nachweisen lässt
wegen der Rotation unserer Erde, ist keine ausschlaggebende Instanz gegen
dasselbe, aber dann ist auch der Mangel an experimenteller Bestätigung
für die Widersprüche, die Einstein und Abraham aus der Gravitation gegen
das Prinzip gefunden haben, kein Grund, diese Widersprüche zu leugnen.
Dass die Gravitation als Fernwirkung nicht gegen das Prinzip verstösst,
spricht nicht für dasselbe, denn eine Wirkung in die Ferne i.st ein innerer
Widerspruch. Wenn die Gravitation als Nahwirkung das Prinzip ver-
nichtet, dann ist sie gerichtet.
Wenn das Relativitätsprinzip experimentell durch das Michelsonsche
Prinzip bestätigt zu sein scheint, so ist allerdings die Widerlegung von
Gehrcke unzutreffend ; er meint, das Ergebnis, die Unabhängigkeit der
optischen Erscheinungen von der absoluten Bewegung, dürfe nicht als
Folgerung, sondern als Voraussetzung der Relativitätstheorie angesehen
werden. Dagegen ist doch zu bemerken, dass wenn das Experiment ein
sicheres Ergebnis geliefert hat, es auch als Voraussetzung der Theorie
gelten kann. Es beweist aber darum nichts, weil die Theorie selbst wider-
spruchsvoll ist, und darum die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von
der Bewegung physikalisch erklärt werden muss, was bei bestimmten An-
nahmen über das Wesen der Materie nicht unmöglich ist.
Die Theorie ist ganz evident widerspruchsvoll, sie widerspricht nicht
nur „altgewohnten Anschauungen", sondern den klarsten logischen Sätzen,
was begeisterte Anhänger derselben auch zugeben, weshalb sie erklären,
sie stehe „über Wahr und Falsch", eröffne einen Abgrund vor unserem
Denken, wie sie auch den Widerspruch mit der Newtonschen Natur-
erklärung zugeben.
Der neue Zeitbegriff, der mit der Theorie untrennbar verbunden ist,
wie Einstein ausdrücklich erklärt, ist ganz und gar unsinnig. Denn es ist
ein innerer Widerspruch, dass durch blosse Bewegung die Zeit verkürzt,
oder gar zum Verschwinden gebracht werde, dass also z. B. ohne alle Zeit
ein Organismus sich bewege, der sonst vielleicht Jahre brauchte. Wenn
der nichtbewegte ein Jahr braucht, so wird dieses Jahr nicht zum Augen-
blick für den Organismus, der sich gleichzeitig bewegt hat, es wird näm-
lich vorausgesetzt, dass er gar keinen Einfluss von aussen erfahren hat,
332 C. Gntberlet.
sondern nur dass er sich sehr schnell, etwa mit Lichtgeschwindigkeit
bewegt hat.
Die Relativisten vermengen drei Fragen mit einander : P Kann es nur
relative Bewegung geben, 2° gibt es im Universum nur relative Bewegung,
3" können wir nur relative Bewegung erkennen und bestimmen? Indem
sie die letztere bejahen und beweisen, glauben sie auch die beiden ersten
bejahen zu können. Und doch lässt sich ganz evident zeigen, P dass
absolute Bewegung möglich und 2*^ tatsächlich ist.
Dass Rotationsbewegung absolute Bewegung darstellt, ist sonnenklar;
denn sie bestimmt sich nicht nach umgebenden Körpern, sondern ist für
sich durch Veränderung der Beziehung zum Räume gegeben. Wenn auch
nur eine einzige Kugel existierte und dieselbe erhielt einen exzentrischen
Stoss, so müsste sie rotieren. Aehnliches gilt aber auch von der Fort-
bewegung. Bekommt sie einen zentralen Stoss, so muss derselbe nach
dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft seine Wirkung haben, und wenn
er stark genug ist vmd kein Hindernis im Wege steht, muss sie sich fort-
bewegen, wenn auch kein einziger Körper existierte, zu welchem sie ihre
Beziehung veränderte.
Relative Bev/egung ist ja ohne absolute gar nicht denkbar. Wenn es
keine Weiterbewegung im Räume gibt, dann bleiben alle Körper an ihrem
Platze, und es ist rein unmöglich, dass sie Beziehungen zu anderen
Körpern ändern.
Allerdings wäre es absolut gesprochen denkbar, dass auch ohne Platz-
veränderung der Körper relative Bewegungen stattfänden, wenn dieselben
nämhch so ineinandergriffen, dass sie sich gegenseitig aufhöben. Dieser
Fall ist aber so ausserordentlich unwahrscheinlich, dass er höchstens für
den einen oder andern Körper angenommen werden könnte. Es mag wohl
die kombinierte Bewegung der Erde um ihre Axe, um die Sonnp, die Be-
wegung (ler Sonne so zusammenwirken können, dass einmal eine auf Erden
abgeschossene Kanonenkugel am Flecke bliebe ; das ist schon sehr un-
wahrscheinlich, dass dann aber auch alle fortschreitenden Bewegungen auf
der Erde mit ganz anderen Richtungen und Geschwindigkeiten an ihrem
Platze blieben, ist rein unmöglich. Und dann muss immer schon die
Bewegung der Erde, der Sonne doch vorausgesetzt werden. Absolute Be-
wegung ist also nicht nur nicht unmöglich, sondern in jedem Augenblicke
tatsächlich. Nach dem Gesagten ist es nicht einmal unmöglich, sie zu
beobachten, ja wir beobachten sie fortwährend, so oft wir überhaupt sich
etwas bewegen sehen, oder wenn wir uns selbst oder ein Glied unseres
Körpers in Bewegung setzen. Ein unbegreifliches Wunder wäre es, wenn
alle Bewegungen in , der Welt in dem Augenblicke, wo wir unseren Fuss
fortsetzen, unsere Arme erheben, allesamt so zusammenwirkten, dass sie
unsere Bewegungen im Räume annullierten.
Der Streit um die Relativitätstheorie. 333
Wahr nur ist, dass wir die Schnelligkeit und Richtung unserer Be-
wegungen im Räume niclit bestimmen können. Es kann sein, dass
wenn wir unseren Arm erheben, derselbe im Raum nach unten, langsamer
oder schneller geht, wenn nämlich die allgemeine Weltbewegung nach
unten schneller erfolgt als unsere Armbewegung. Dieser wird dann auch
langsamer sich im Räume fortbewegen, als wir sehen und fühlen.
Es ist also ein grober Fehlschluss, aus der Unmöglichkeit einer ge-
nauen Bestimmung der Richtung und Schnelligkeit absoluter Bewegung auf
die Notwendigkeit bloss relativer Bewegung zu schliessen.
IV.
Beide Physiker haben eine Erwiderung in der genannten Zeitschrift
veröffentlicht, Gehrcke in Nr. 7, S. 170 ff., Born in Nr. 8, S. 191.
In Bezug auf den Michelsonschen Versuch weist Gehrcke darauf hin,
dass derselbe auch in anderer Weise als durch Relativität erklärt werden
könne. „Der Michelsonsche Versuch steht nicht in umkehrbarem Verhältnis
zum Relativitätsprinzip".
Den fundamentalen Fehler der Theorie findet er wie auch wir darin,
„dass die Relativität gleichförmiger translatorischer Bewegungen mit
einem von der Geschwindigkeit abhängigen Zeitablauf logisch unvereinbar
ist". „Dieser Widerspruch wird dadurch nicht aus der Welt geschafft,
dass man auf die Minkowskische Darstellung der Relativitätstheorie
zurückgeht".
Dagegen bemerkt Born, dass Her glotz selbst die Rotationsbewegung
prinzipiell vollkommen befriedigend relativ theoretisch erklärt hat. Wenn dies
offenbar aller Logik widerspricht, so erklärt Born : „Die philosophischen
Grundlagen der Relativitätstheorie haben mit seiner logischen Zulässigkeit
nichts zu tun". Aber logische Widersprüche, die darin enthalten sind,
können durch Messungen, wenn sie auch noch so bestechend sind, nicht
autgehoben werden. Auch die Minkowskischen mathematischen Aus-
führungen können dieselben nicht paralysieren. Mit Mathematik kann man
alles beweisen, wenn man Voraussetzungen macht, die für das gewünschte
Resultat notwendig sind. So wenn Minkowski die Zeit als vierte Dimension
neben den ganz heterogenen Raum stellt. Diese unlogische und aller
Wirklichkeit widersprechende Theorie hat G. Richter konsequent durch-
geführt, und so ad absurdum deduziert in der Schrift : „Bewegung, die vierte
Dimension". Nicht nur die Masse, sondern auch die Energie wird von ihm
eliminiert, und als Subjekt aller Bewegung wieder Bewegung statuiert. „Die
Zeit ist ihrem Wesen nach Gleichzeitigkeit, und diese ist wieder Gleich-
räumlichkeit, Zeitrelation ist zugleich Raumrelation".
Richter führt seine Theorie noch weiter, indem er als fünfte Dimension
die ,,Ruhe" einführt, offenbar mit demselben Rechte, wie man die Zeit als
vierte Dimension annimmt.
334 C. Gutberiet.
Die rein formalistische Bedeutung der Mathematik für die Lösung
derartiger Fragen zeigt recht deutlich das aus der Metageometrie von Born
zu seinen Gunsten angeführte Beispiel. Die Metageometrie kann haarscharf
durch Rechnungen dartun, dass der Euklidische Satz von der VVinkel-
summe des Dreiecks (=2R) keine allgemeine Gültigkeit hat. Wie ist das
möglich V Nun, sie nimmt einen vier-, fünfdirnensionalen Raum an, ent-
wickelt für dieselben ihre Gleichungen mit schärfster mathematischer Ge-
nauigkeit, und folgert mit aller logischen Strenge, dass es Dreiecke gibt,
deren Winkelsumme nicht gleich zwei Rechten ist. Nur schade, dass diese
Dreiecke keine Dreiecke im Sinne des realen, gegebenen Raumes, sondern
Gedankenkonstruktionen sind, welche allerdings konsequent aus dem n-di-
mensionalen Räume folgen. Aber der n-dimensionale Raum ist selbst eine
Fiktion, und folghch auch die Dreiecke mit mehr oder weniger als zwei
Rechten. Nun kann man den Mathematikern das Recht nicht absprechen,
solche Fiktionen mathematisch zu behandeln, aber sie sollen sie nicht
Raum nennen, und jene erdichteten Dreiecke nicht mit den Eukhdischen,
welche auf den Raum gehen, in Gegensatz setzen.
So kann man auch mit der noch abenteuerlicheren Fiktion, dass die
Zeit als vierte Dimension den drei des Raumes koordiniert sei, vielleicht
mathematisch die Relativitätstheorie beweisen, aber die Wirklichkeit richtet
sich nicht darnach. Uebrigens bemerkt Gehrcke in einer späteren Zuschrift
an den Herausgeber der „Naturwissenschaften", dass die Rechnungen von
Minkowski gar nicht auf die Einsteinschen Deutungen der Lorentz sehen
Gleichungen gehen, was man bisher gar nicht beachtet habe. Das ist so
ziemlich dasselbe, was wir dagegen bemerkt haben, 'dass ihnen nichts in
der Wirklichkeit entspricht.
Born ereifert sich sehr gegen den Vorwurf der Massensuggestion in
der Relativitätsfrage. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass die un-
sinnigsten philosophischen und « religiösen Systeme ebenso wunderbare
Propaganda machen, wie die abgeschmacktesten Moden der Frauenwelt.
Ausser der psychischen Ansteckung liegen freilich auch geheime Motive
solcher Verbreitung zu Grunde, bei den Damen die Eitelkeit, bei geistiger
Suggestion der Reiz der Neuheit und regelmässig die Weltanschauung,
speziell die monistische, welcher die Neuheit dient.
V.
Wie scharf die Gegensätze in der Beurteilung des Relativitätsprinzips
sind, zeigen zwei Aufsätze in den soeben ins Leben getretenen „Jahrbüchern
der Philosophie", herausgegeben von M. Frischeisen-Köhler. Ein
strammer Verteidiger desselben ist M. Laue^). Er erklärt:
„Die Zeit hat nach der bisherigen in Philosophie und Physik gleich tief
wurzelnden Anschauung ihre absolute Existenz ohne jede Beziehung zu
') Das Relativitätsprinzip S. 99 ff.
Der Streit um die Relativitätstheorie. 335
räumlichen Achsenkreuzen. Dies als ein unbegründetes Vorurteil erkannt
zu haben, ist die Tat Einsteins". Er glaubt im Ernste mathematisch
die Ungeheuerlicbkeit beweisen zu können : „Eine mit der Geschwindig-
keit q bewegte Uhr geht also im Verhältnis Ki_£! langsamer als dieselbe
Uhr, wenn sie ruht".
Dagegen kommt Frischeisen-Köhler^) zum Ergebnis: „Die Ein-
steinsche Zeitdefinition besagt daher streng genommen keine Kontraktion
der Zeit, sondern nur in allgemeinster Form ihres InhaUs, nämlich der
Vorgänge, durch welche die Ortszeit gemessen wird. Bestehen diese Er-
wägungen zu Recht, dann folgt, dass die Relativitätstheorie die gedankliche
Voraussetzung der einen Zeit nicht umgehen kann".
„Die Annahme des Relativitätsprinzips für gleichförmige Translationen
schhesst die Annahme einer Zeit, die vom Bewegungszustande abhängig
wäre, aus. Trifft es allgemein zu, dass allgemein die Relativitätstheorie
den Begriff der absoluten Bewegung voraussetzt, dann ist damit auch die
Einheitszeit im Sinne Newtons und Kants eingeführt, ist der Schritt von
Einstein über Lorentz rückgängig gemacht".
Nach unseren obigen Ausführungen sind diese letzteren Folgerungen
gegen das Relativitätsprinzip (von Kant abgesehen) unabweisbar.
') Das Zeitproblem S. 129 ff.
Zur Psychologie des Zweifels.
Von P. Daniel F eulin g 0. S. B. in Erdington-Birminghain.
Die psychologische Natur des Zweifels ist bisher verhältnismässig nur
wenig untersucht und behandelt worden. Die nieisten Autoren, die darauf
eingehen, begnügen sich mit summarischen Feststehungen, die gewöhnlich
mehr durch logische und erkenntnistheoretische, als durch psychologische
Interessen veranlasst sind. Wir legen im folgenden den Versuch einer
genaueren, wenn auch kurzen Psychologie des Zweifels vor.
1. Der Zweifel ist allgemein bekannt als ein eigenartiges Verhältnis des
menschlichen Geistes, genauerhin des Verstandes, zu seinem naturent-
sprechenden Objekt, der Wahrheit. Wie schon die sprachliche Bezeich-
nung (Zwei-fel, dubitatio) nahelegt, handelt es sich dabei um eine Ent-
zweiung des erkennenden Geistes angesichts seines Objektes, um ein
Gezogenwerden nach zwei verschiedenen Seiten : intellectus anceps inter
duo *). Die besondere Art dieser Entzweiung wird von verschiedenen
Autoren verschieden beschrieben. Albert der Grosse erklärt: Dubitatio
est acceptio utriusque partis (contradictionis) cum formidine falsi-
tatis^). Hier wird Nachdruck auf das affektive Moment, die Furcht des
Irrtums, gelegt und ausserdem von einer acceptio utriusque partis, also einer
Zustimmung zu zwei unvereinbaren Thesen gesprochen. Der hl. Thomas
dagegen schliesst bei der Definition des Zweifels die Zustimmung geradezu
aus. Er stellt den Zweifel, zugleich mit der Meinung (opinio) und dem
Nichtwissen (nescientia>, in Gegensatz zum Assens, letzterer als determinata •
acceptio alterius partis contradictionis gefasst. Wenn bestimmte, aber un-
zureichende Gründe für den einen Teil vorhanden und wirksam sind, ent-
steht die opinio: (mens) accipit unam partem cum formidine alterius;
wenn gar keine oder aber gleichwertige Gründe für beide Teile
sprechen, so erfolgt keinerlei Zustimmung, und der Geist befindet sich
im Zustand des Nichtwissens, bezw. des Zweifels. Quando homo non
habet rationem ad alteram partem magis quam ad alteram; vel quia ad
neutram habet, quod nescientis est; vel quia ad utramque habet, sed
') Siehe die Beschreibung bei Mercier, Criteriologie generale' (1911)
.5 ff., 32 f.
*) Isagoge in libr. de Anima c. 32.
Zur Psychologie des Zweifels. 33^
aequalem, quod dubitantis est: tunc nullo modo assentit, cum nullo
modo determinetur eius iudicium, sed aequaliter se habeat ad diversas').
Wiederum ein anderer Anblick des Zweifels wird geboten, wenn ein neuerer
Autor definiert: Dubium est status, quo intellectus fluctuat inter duas
partes contradictorii ^).
In diesen verschiedenen Beschreibungen, denen weitere beigefügt werden
könnten 3), erscheint der Zweifel anders und anders bestimmt: bald als
ein ruhender Zustand, bald als eine unruhige Bewegung, einmal als ein
Assens besonderer Art, dann wieder als die Abwesenheit jeden Assenses.
Wir hoffen nun zu zeigen, dass solche Verschiedenheit nicht Widerspruch
bedeutet, dass die von einander abweichenden Darstellungen lediglich ver-
schiedene Seiten des nämhchen Phänomens herausheben, so dass diese
Verschiedenheit nur als ein Anzeichen der komplexen Natur dessen er-
scheint, was unter den Begriff des Zweifels fällt.
2. Indem wir nun unsere eigene Analyse des Zweifels beginnen, müssen
wir vor allem den Gegenstand der Untersuchung genauer abgrenzen. So
sei denn vor allem gesagt, dass wir uns ausschhesslich mit dem speku-
lativen Zweifel beschäftigen werden, den praktischen Zweifel ganz bei
Seite lassend. Der spekulative Zweifel hegt in der Linie der theoretischen,
sog. reinen Erkenntnis (cognitio speculativa) und betrifft schlechthin die
objektive Seinsfrage oder Wahrheitsfrage, die Frage, ob etwas sei oder
nicht sei, ob einem bestimmten Subjekt ein bestimmtes Prädikat zukomme
oder nicht. Der praktische Zweifel hingegen gehört dem Gebiete der
praktischen Erkenntnis (cognitio practica) an und betrifft die Entscheidung
des Subjekts betreffs einer zu setzenden Handlung, die Frage, ob das er-
kennende und wollende Subjekt, entsprechend seiner aktuellen, konkreten
Willensdisposition, etwas als ihm selber gut und wünschenswert bejahen
oder verneinen müsse. Der praktische Zweifel ist Sache des praktischen
Verstandes, d. h. des Verstandes, insofern er unter dem Einfluss des Willens
bestimmt und entscheidet, was als das konkrete Gut des Subjekts unter
den konkreten Umständen (namentlich anbetraehts der Verfassung des
Subjektes) angestrebt und getan werden soll; der spekulative Zweifel hin-
gegen ist Sache des spekulativen Verstandes, welcher von dem Wohl und
Wehe des Subjekts, von dem „bonum mihi" absieht und rein durch sach-
liche, nicht praktisch-persönliche Gründe bestimmt wird. Dasselbe Indi-
viduum kann spekulativ völlig klar und gewiss in einer Sache sein, in
welcher es praktisch im Ungewissen, im Zweifel ist. So kann jemand
spekulativ überzeugt sein, dass es ihm nicht gut ist, gegen das Sittengesetz
*) In II. Sent.. Dist. 23, q. 2, a. 2.
') Jos. Gredt, Elementa Philosophiae aristotelico-thomisticae II-' (1912) 48.
') Wir verweisen auf den reichhaltigen Artikel „Zweifel" in R. Eisler
Wörterbuch der philosophischen Begriffe IIF (1910) 1928 f.
Philosophisches Jahrbuch 1913. 22
33Ö Daniel Feuling.
zu handeln, dennoch aber praktisch schwanken und zweifeln, ob er dem
sittlichen Gesetz folgen solle oder nicht. Die unmittelbare Ursache des
praktischen Zweifeis ist ein Verhalten des Willens, während der spekulative
Zweifel in einem Verhältnis sachlicher Gründe seinen Ursprung hat. Nur
der spekulative Zweifel ist Zweifel im eigentlichen, strengen Sinne, denn
nur der spekulative Zweifel, nicht aber der praktische, besagt ein besonderes
Verhältnis des Intellekts zur Wahrheit als solcher, ein solches Verhältnis
aber haben wir im Auge, wenn wir vom Zweifel schlechthin reden. Ledig-
lich in übertragenem, analogem Sinn wird das Wort Zweifel auf den Zustand
praktischer Unentschiedenheit angewandt. Bloss vom spekulativen Zweifel
also wird im folgenden die Rede sein.
Aber auch den spekulativen Zweifel nehmen wir im engeren und
eigentlichen Sinne: im Sinne des wirklichen, positiven Zweifels. Sowohl
der methodische als auch der sogenannte negative Zweifel kommt für uns
nicht in Betracht. Der negative Zweifel ist identisch mit dem Nicht-
wissen, eigentümlich ist dabei nur das Bewusstsein des Nichtwissens
und die daraus entspringende, noch un^'elöste Frage, wie sich die be-
treffende Sache denn eigentlich verhalte. Bei solchem Nichtwissen besteht
die Möglichkeit, sich an die eine oder die andere Seite eines Kontra-
diktoriums, oder an einen Fall aus vielen denkbaren Fällen zu halten,
und mangels entsprechender Gründe ist man im Ungewissen, wie sich die
Stellungnahme gestalten müsse. In dieser üngewissheit, in der Möglichkeit,
von zwei Seiten angezogen zu werden, liegt eine Art polen'',ieller Ent-
zweiung, eine Analogie zu der aktuellen Entzweiung des positiven Zweifels,
und dies ist der Grund, weshalb man jede zum Bewusstsein kommende
und zur Frage sich gestaltende Unwissenheit und Üngewissheit als (nega-
tiven) Zweifel zu bezeichnen pflegt. Der methodische oder hypothe-
tische Zweifel aber, wie er in jeder wissenschaftlichen Untersuchung zur
Verwendung kommt, ist eine blosse Fiktion, ein Absehen von der tatsäch-
lich vorhandenen, wenn auch vielleicht nicht reflexen Gewissheit über die
zu untersuchende, zu entwickelnde, zu beweisende Wahrheit, eine fingierte
Einstellung des Geistes auf den Stand der fragenden Unwissenheit und
Üngewissheit. Vom wahren, wirklichen Zweifel ist der methodische Zweifel
noch weiter entfernt als der negative Zweifel. Wenn daher im folgenden
einfachhin vom Zweifel die Rede ist, so wird immer der positive, nicht
aber der negative oder der methodische Zweifel gemeint sein.
3. a. Was den Zweifel im eigentlichen Sinne, den positiven Zweifel, für
den aufmerksamen Betrachter zunäch.st vor allem zu charakterisieren pflegt,
ist die eigentümlich peinliche, angstvoll unruhige Gefühlsbetonung des
ganzen Zuslandes. Mehr als andere Momenle bestimmt diese affektive
Seite das übliche Gesammtbild des Zweifels. Dennoch handelt es sich
dabei um eine blosse Begleiterscheinung, nicht um den letzten Wesenskern
des Zweifels. Eine nähere Umsicht belehrt nämlich über ein doppeltes:
Zur Psychologie des /Zweifels. 339
einmal partizipieren die Zustände bewu.sster Unwissenheit und fragender
Ungewissheit sehr oft, und manchmal in hohem Grade, an jener peinlichen
Gefühlslage und Stimmung; andererseits ist der Zweifel durchaus nicht
immer von jenem heftigen Ergriffensein des Strebevermögens begleitet.
Der Mitklang des Gefühles ist in der Regel bedingt durch das Bewusstsein
vom Verluste eines bedeutenden Gutes, eines für unentbehrlich erachteten
Wertes. Dieses Gut, dieser Wert aber ist in unserem Fall die Klarheit
und Bestimmtheit der Ueberzeugung, die Sicherheit der Orientierung in
mehr oder weniger wichtigen und entseheidungsvollen Dingen. Dies alles
nun geht durch den Zweifel, aber auch durch Eintritt in die einfache Un-
gewissheit des Nichtwissens verloren, und wenn es sich um ernste oder
als bedeutungsvoll erachtete Angelegenheiten handelt, wird eben die be-
zeichnete peinliche Gemütsaffektion sich geltend machen. Wo hingegen
nichts Wichtiges in Frage kommt, wo die Ungewissheit sich auf Gegen-
stände bezieht, die dem Individuum gleichgültig sind, da wird die Gemüts-
erschütterung ebenso beim Zweifel wie beim reinen Niclitwissen kaum
jemals auch nur in schwachem Grade eintreten. Diese Fälle der unbe-
deutenden Angelegenheiten sind nun in der Tat die grosse Ueberzahl, aber
gerade wegen ihrer geringen Bedeutung und wegen ihrer affektiven Charakter-
losigkeit erinnert man sich ihrer nicht so leicht, während man bei Worten
wie Ungewissheit und Zweifel unwillkürUch soiort an jene peinvolle Un-
entschiedenheit und die sie begleitende innere Erregung denkt, wie man
sie in Ratlosigkeit bei Gefahren des leiblichen Lebens, in schweren
Pflichtenkollisionen, in Erschütterungen der religiösen oder philosophischen
Ueberzeugungen erfahren haben mag. — Ein Ingredienz des affektiven
Zustandes dürfte freilich dem Zweifel eigentümlich sein : es ist die Un-
ruhe, das Fluktuieren des Gefühls, die Instabilität des inneren Zustandes.
Aber auch dies macht keineswegs das Wesen des Zweifels aus, ist viel-
mehr, wie jene anderen Gefühlsmomente, die dem Zweifel mit der Un-
gewissheit gemein sind, eine naturgemässe Folge des intellektuellen
Zustandes.
Wir lehnen mithin die Auffassung ab, welche Paul Sollier in seinem
Werke „Le Doute" ^) — der einzigen selbständigen Schrift, die uns über
den Zweifel bekannt geworden ist — vorgetragen und eingehend zu be-
gründen gesucht hat. Ihm ist der Zweifel seinem Wesen nach ein pheno-
mene d'ordre affectif, emotif et personneP). Sollier ist zu seiner Auf-
fassung wohl gekommen durch zu einseitiges Beachten krankhafter Zweifels-
zustände ; tatsächlich sind ja seine Ausführungen zum grossen Teil den
Erscheinungen des pathologischen Zweifels gewidmet. Beim pathologischen
Zweifel drängt sich aber das affektive Moment in ganz besonderer Weise
») Paris 1909, Alcan.
') 1. c. 402 und öfters.
22*
340 Daniel Feuling.
in den Vordergrund, ja, das krankhaft spontane Auftreten und Bestehen
der naturgemäss mit dem Zweifel verknüpften Affektlage ist Anlass für das
Entstehen von Zweifelsvorstellungen und eigentlichen Zweifelsaklen, das
intellektuelle Element tritt hier tatsächlich oft als eine Folge des Affektes
auf. Aber gerade darin besteht eben das Krankhafte am ganzen Zustand.
Solliers Grundfehler ist es, der Behandlung des Zweifels im allgemeinen
eine Definition zu Grunde zulegen, die nur vom krankhaften, eventuell
auch vom praktischen Zweifel gilt. Denn auf den pathologischen (und
praktischen) Zweifel und nur auf ihn ist — mit einigen Korrekturen —
die Begriffsbestimmung anwendbar, die SoUier als Resultat seiner ein-
leitenden Untersuchung über die Natur des Zweifels bietet: „le deute est
un phenomene d'ordre affectif, interessant la personnahte tout entiere
primitivement, entrainant secondairement des reactions intellecluelles et
volitionnelles, et constitue par un conflit entre des etats quelconques
d'activite cerebrale, conflit ä forme d"oscillations se produisant d'une fagon
involontaire et s'aceouipagnant d'un sentiment plus ou moins penible" ^).
b. Kommen wir nach dieser Feststellung über die Bedeutung des Gefühls
im Ganzen des Zweifels zu dem, was das eigentliche Wesen des Zweifels
ausmacht: zu dem besonderen Verhalten des zweifelnden Verstandes an-
gesichts seines Erkenntnisgegenstandes. Dass wirklich ein besonderes Ver-
halten des Verstandes zu seinem Erkenntnisgegenstande die Natur des
Zweifels konstituiert, kann einer irgend besonnenen Analyse nicht entgehen.
Wenn Sollier dem widerspricht, so ist dies lediglich die Folge seines
falschen Ausgangspunktes. Weil er den Zweifel als ein in erster Linie
affektives Phänomen betrachtet, kommt er dazu, jeden inneren Konflikt,
betrefi'e er nun Gedanken, Vorstellungen, Gefühle oder Strebungen, als
Zweifel zu bezeichnen 2), ist es ihm möglich, den wesentlich intellektuellen
Charakter des Zweifels zu übersehen. Man muss in der Tat' gegen allen
Sprachgebrauch und gegen alle übliche psychologische Begriffsbestimmung
gehen, wenn man als Zweifel im strengen und eigentlichen Sinn etwas
anderes als ein bestimmtes Verhältnis des Verstandes zur Wahrheit be-
zeichnen will ^), Dass der Terminus im übertragenen Sinn auf anderen
Gebieten angewandt wird, dass man z. B. beim Widerstreit von Motiven,
die teils zu einer Handlung drängen, teils von ihr zurückhalten, sagt, man
sei im Zweifel, was man tun solle (praktischer Zweifel im Gegensatz zum
theoretischen), ändert für den Psychologen nichts an der Sache. Es ist
also kein Grund vorhanden, von der überlieferten Auffassung des Zweifeis
abzuweichen.
Wir haben im Sinne dieser Auffassung den Zweifel als eine Sache des
Verstandes bezeichnet. Damit i.st der Zweifel im strengen Sinn des
.') 1. c. 'M.
-) Vgl. 1. c. 13.
^) Vgl. Eisler, Würteibuch der phil. Begriffe IIP 1928 f.
Zur Psychologie des Zweifels. 341
Wortes jeder anderen Seelenkraft, wie etwa den Sinnen, abgesprochen.
Der Grund des spezifisch intellektuellen Charakters des Zweifels liegt darin,
dass es sich eben um ein Verhältnis des Geistes zur Wahrheit als solcher
handelt, ein Verhältnis zur Wahrheit als solcher aber ist das Privileg des
Intellekts. Natürlich will der Ausschluss des Zweifels in Hinsicht auf die
Sinne nicht besagen, dass der Zweifel sich nur auf nichtsinnliche, über-
sinnliche Dinge beziehen könne, da ja die Verstandeserkenntnis auch die
Sinnenwelt erreicht. Ebenso will mit der Betonung der Intellektualität des
Zweifels keineswegs behauptet werden, dass der Wille nicht mit im Spiele
sei ; derselbe kann vielmehr in sehr ausschlaggebender Weise beim Zweifel
beteiligt sein, indem er den Verstand auf mannigfaltige Art in seinem
Verhältnis zum Erkenntnisgegenstand beeinflusst und bestimmt. Nur das
soll behauptet werden, dass der Zweifel als solcher, formell betrachtet,
eine Verhaltungsweise des Verstandes ist.
Und zwar des urteilenden Verstandes. Der Grund dafür ist der
nämliche wie oben : es handelt sich beim Zweifel um ein Verhältnis des
Verstandes zur Wahrheit als solcher, ein derartiges Verhältnis findet sich
aber nicht in dem bloss auffassenden Verstand (simplex apprehensio), es
reahsiert sich vielmehr nur im urteilenden Verstand: nur in ihm findet
eine Stellungnahme, sei sie bejahend oder verneinend, statt. Man wird
vielleicht das Bedenken erheben, dass im Zweifel ja nicht ein Urteil gefällt
werde, sondern Urteilsenthaltung vorliege. Wir werden von diesem Punkte
noch zu reden haben; für den Augenblick genüge die Feststellung, dass
im Zweifel jedenfalls nicht blosse Begriffe, sondern Urteile in Betracht
kommen, kontradiktorische Urteile über dieselbe Sache, und dass der Zweifel
ein besonderes Verhalten des Geistes diesen Urteilen gegeniiber bedeutet.
Mit dieser Feststellung haben wir die Grundlage für eine vorläufige
Definition des Zweifels gewonnen, und wir können den Zweifel be.stimmen
als den Zustand des Geistes, worin ihm das Kontradiktorische zweier seiner
Urteile zum Bewusstsein kommt, oder besser vielleicht: worin ihm zwei
von ihm gefällte Urteile als kontradiktorisch zum Bewusstsein kommen.
Der Zweifel ist der zum Bewusstsein kommende Widerstreit
zweier Urteile.
Gleich muss auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht werden,
dessen Beachtung mancherlei gegen diese Begriffsbestimmung naheliegende
Bedenken beseitigen wird. Wir sind geneigt, beim Worte „Urteil" zunächst
an den objektiven Gehalt des betreffenden Verstandesaktes (conceptus ob-
iectivus per modum iudicii) zu denken, oder auch an den sprachlichen
Ausdruck einer Prädizierung (Urteil im grammatikalischen Sinne). In dieser
Bedeutung wird das Wort „Urteil" hier nicht genommen. Denn es können
mir in ungezählten Fällen Urteile, in diesem objektiven oder grammati-
kalischen Sinne genommen, als kontradiktorisch zum Bewusstsein kommen,
ohne dass auch nur im geringsten etwas wie Zweifel sich in mir regt. So
342 Daniel Feuling.
kann mir der Salz: „die Erde steht still" gegenwärtig sein zugleich mit
dem Bewusstsein, dass derselbe mit dem gleichzeitig vor meinem Geiste
gegenwärtigen Satze : .,die Erde steht nicht still" in vollem Widerspruche
ist, und ich bin doch weit entfernt von einem Zweifel in dieser Sache.
In diesem Sinne des blossen Denkens („Vorstellens") oder sprachlichen
Ausdrückens eines Prädikatszusammenhangs zwischen zwei Begriffen wird
also in obiger Definition das Wort „Urteil" nicht genommen. Vielmehr
ver.stehen wir hier unter Urteil stets und ausschliesslich denjenigen Akt,
wodurch der Geist zu einer Subjekt-Prädikatsrelation im Sinne des Ja oder
Nein entscheidende Stellung nimmt, wodurch er mithin bejaht oder ver-
neint, dass P dem S zukomme. Der Sinn unserer obigen Definition des
Zweifels als des Widerstreits zweier Urteile ist also dieser: der Zustand
des Zweifels tritt dann, und nur dann ein wenn der Geist tatsächlich (sei
es auch nicht in .<;o auffälliger Form) zu gleicher Zeit zwei kontradiktorische
Urleile als seine eigenen Urteile und Entscheidungen gegenwärtig
hat, wenn er sieht, dass er dem nämlichen Subjekt das nämliche Prädikat
zugleich und in der nämUchen Hinsicht zuspiicht und abspricht, und wenn
er ausserdem gewahr wird, dass dieses doppelte Verhalten in sich einen
Widerspruch und damit eine logische Unmöghchkeit trägt.
c. Haben wir bisher festgestellt, dass der Zweifel wesentlich ein bewusst
werdender Widerstreit von Urteilen ist, so können wir, einen Schritt weiter
gehend, sein Wesen noch genauer zum Ausdruck bringen, indem wir sagen,
er be.stehe in einem zum Bewusstsein kommenden Widerstreit
von Gewissheiten. Denn jedes Urteil, wie immer es auch lauten mag,
so lange es nur ein wirkliches Urteil und nicht eine blosse Vorstellung ist,
trägt den Charakter der Gewissheit an sich. Natürlich verstehen wir hier
unter Gewissheit nicht die logische Geltung oder die objektive Evidenz
(cerlitudo et evidentia obiectiva), die der Wahrheit ihrer Natur nach zu-
kommt; solch objektive Gewissheit oder Evidenz eignet nicht jedem Urleil
bzw. Urteilsinhalt des men.schlichen Erkenntniskreises, da es ja auch falsche,
inevidente Urteile gibt, wie eine nur zu häufige Erfahrung beweist. Sondern
wir verstehen unter Gewissheit die subjektive Gewissheit (certitudo
subiectiva), dieUeberzeugung von der tatsächlichen objektiven Geltung
des im Urteil ausgesagten Verhältnisses von Subjekt und Prädikat, gleich-
viel ob diese Ueberzeugung, dieses Ruhen im betreffenden Urteil auf recht-
mässige oder unrechtmässige Weise herbeigeführt ist. Diese subjektive
Gewissheit ist einem jeden Urteil wesentlich, mag es sich auch um ein
sogenanntes Wahrscheinlichkeitsurteil handeln; in solchem Falle ist der
letzte Sinn des Urteils eben der, es sei wahrscheinlich, dass sich die Sache
so und so verhalle, diese Wahrscheinlichkeit selbst aber sei unbezweifel-
bar. Der Sache nach wird dies von den alten wie neuen Scholastikern
deutlich gelehrt, wenn sie hervorheben, dass einerseits jedes Urteil ent-
weder wahr oder falsch, andererseits aber das wahre Urteil eine cognita
Zur Psychologie des Zweifels. 343
adaequatio intellectus cum re und das falsche Urteil eine inadaequatio ut
cognita besagt'). Von den Modernen aber wird der Gewissheitscharakter
jeglichen Urteils anerkannt, wenn sie betonen, dass zur Prädizierung not-
wendig ein Anerkennen oder Verwerfen (Brentano), ein kritisches Verhalten,
eine Bestätigung oder Fiir-gültig-Erklärung, resp. eine Verwerfung oder Fiir-
ungültig-Erklärung (Bergmann), eine Beurteilung und Entscheidung (Windel-
band) hinzukommen müsse, sowie dass die Idee des Urteils von jener der
Wahrheit des Urteils nicht zu trennen sei, dass jedes Urteil eben darin
bestehe, zu urteilen, etwas sei wahr (J. St. Mill).
Wenn wir mithin den Zweifel als den zum Bewusstsein kommenden
Widerstreit von üewissheiten bezeichnen, so will das heissen, dass der
Zweifel dann zur Wirklichkeit wird, wenn zwei sich widersprechende Ur-
teile vom nämlichen Intellekt gefällt und als wahr und sicher festgehalten
werden, und wenn sodann der Widerspruch und die Unvereinbarkeit der-
selben zum Bewusstsein kommt. Solange oder sobald eines der angegebenen
Elemente — für wahr gehaltene gegensätzliche Urteile oder Gewissheiten
und Bewusstsein ihres Widerspruchs — nicht vorhanden ist, kann von
Zweifel im eigentlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein.
Es mag befremdUch klingen, wenn man von einem bewusst werdenden
Widerstreit von Gewissheiten reden hört. Aber eine sorgfältige Analyse
des Bewusstseinsinhaltes beim Entstehen des Zweifels führt zu diesem
Resultate. Nur muss man immer im Auge behalten, dass hier der Terminus
„Zweifel" im engen und strengen Sinne genommen wird, nicht lür einen
Zustand des fragenden Nichtwissens, auch nicht für ein inhaltlich proble-
matisches, formell aber völlig sicheres Wahrscheinlichkeitsurteil. Wenn
man sich in Hinsicht auf den entstehenden Zweifel genauer prüft, dann
wird man, wo immer die Erinnerung an die inneren Vorgänge deutlich
und klar genug ist, etwa folgendes konstatieren können : Zunächst fällt
man in irgend einer Sache ein bestimmtes Urteil, das man für wahr und
sicher hält, mag es nun objektiv sicher sein oder nicht. Dieses Urteil
wird sich dem bereits vorhandenen Wissensschatz eingliedern und in Zu-
kunft auch ohne einlässliche Erneuerung seiner Begründung für wahr ge-
halten und als gewiss vertreten werden. Dann mag es sich im Laufe der
weiteren geistigen Entwickelung ereignen, dass man von ganz anderer
Seite her, als es ehedem der Fall war, an die nämliche Sache herankommt,
und unter dem Einfluss neuer Materialien und Gründe das kontradiktorische
Urteil, gleichfalls mit der Ueberzeugung der Richtigkeit, sich bildet, oder
ein Urleil, das dem Kontradiktorium, wenn auch nicht in der Form, so
doch nach Inhalt und Bedeutung, äquivalent ist. Die blosse Bildung dieses
') Siehe Sl. Thomas, Summa theol. t q. 16 a. 2; q. 17 a 3. —Von den
neueren Scl.olastikern vergl. J. Rickaby, First Principles of Knowledge*.
London 1901, 24 f.
344 Daniel Feuling.
neuen Urteils reicht nun aber noch nicht hin, unn den Zweifel im Geiste
entstehen zu lassen. Tatsächlich ereignet sich ja im praktischen Leben
wie auch in der wissenschaftlichen Arbeit gar manchesmal dieser Fall :
man stellt das neue Urteil mit dem alten nicht vergleichend zusammen,
man wird des zwischen beiden obwaltenden Widerspruches nicht gewahr.
Sobald man aber, während das eine der beiden Urteile dem Bewusst.sein
gegenwärtig ist, sich auch des andern mitsamt seiner Begründung oder
doch in seiner Eigenschaft als eines für sicher erachteten und bereits an-
genommenen Urteils erinnert, und zudem, worauf es natürlich vor allem
ankommt, des kontradiktorischen Verhältnisses beider durch raschen, meist
völlig spontanen Vergleich bewusst v:ird, dann tritt der eigentümliche
Zustand ein, in welchem der Geist in sich das Ja und Nein vereinigt, sich
selbst in den Widerspruch verwickelt, das Grundgesetz seines ganzen
Denkens, den Satz vom Widerspruch, verletzt, sich selbst entzweit sieht;
der Zweifel, die innere Spaltung ist an die Stelle der Gewissheit getreten.
d. Hier entsteht nun die Frage, welcher Art das für den Zweifel wesent-
liche Bewusstsein um die Entzweiung in der urteilenden Erkenntniskraft
sei. Handelt es sich um ein Urteil über die sich widerstreitenden Urteile
imd Gewissheiten, oder aber liegt lediglich eine einfache Wahrnehmung,
simplex apprehensio intelleetualis, vor? Eine Antwort auf diese Frage
kann nicht gegeben werden, ohne dass man Stellung nimmt zu dem allge-
meineren psychologischen Problem, ob es überhaupt eine rein intellektuelle
Wahrnehmung ohne gleichzeitige Prädizierung in einem Urteil gebe und
geben könne. Wir setzen hier die bejahende Antwort voraus und betrachten
das Bewusstsein um die intellektuelle Entzweiung, das Gewahrwerden der
vorliegenden Kontradiktion im urteilenden Verhalten des Subjekts als eine
einfache intellektuelle Wahrnehmung, allerdings nicht als eine
absolute, sondern als eine konnotative, insofern das eine der beiden Urteile
konzipiert wird im vergleichenden Hinblick auf das andere, mit der
Konnotation des anderen : in der Weise also, wie alles Relative oder in
Vergleich Gezogene aufgefasst werden muss. Den Grund aber dafür, dass
die Konstatierung jener Entzweiung durch eine simplex apprehensio erfolge
(sowie einen Hauptgrund für die Annahme, dass es eine simplex apprehensio
ohne gleichzeitige Urteilsbildung gebe), finden wir in der, wie uns scheint
unleugbaren, Unmöglichkeit, die für den Intellekt besteht, eine eigentliche
Kontradiktion urteilend festzustellen und als wirklich zu bejahen.
Denn dass dasselbe zugleich und unter derselben Hinsicht sei und nicht
sei, dies mit Verständnis der Sache und mit innerer Gewissheit zu be-
haupten, ist nicht nur eine logische, sondern geradezu eine physisch-
psychologische, ja metaphysische Unmöglichkeit. Hingegen lässt sich eine
Kontradiktion durch simplex apprehensio recht wohl, auch in concreto,
konzipieren ; andernfalls wäre es uns ja überhaupt unmöglich, einen Begriff
Zur Psychologie des Zweifels. 345
des Widerspruchs zu bilden, und das Kontradiktionsprinzip könnte nicht
das Grundgesetz all unseres Denkens sein.
4. Nach der Lösung der aufgeworfenen Frage lässt sich über einen schon
berührten Punkt genaueres aussagen. Wir stellten fest, dass der Zweifel
eine Verhaltungsweise des urteilenden Verslandes sei, mussten aber
von näheren Bestimmungen absehen. Nunmehr können wir sagen, dass
der Zweifel allerdings eine Zuständlichkeit des Urteilsvermögens ist, inso-
fern er im bewusstwerdenden Widerstreit von Urteilen und Gewissheiten
besteht, müssen aber hinzufügen, dass der Zweifel selbst kein Urteil
ist. Der Verstand kann nur zweifeln, insofern er urteilt. Die Materie des
Zweifeis finden wir in den kontradiktorischen Urteilen, die Form des Zweifels
(wenn man so sagen darf) ist das Bewusstsein von dem logischen Ver-
hältnis der beiden Urteile. Und gerade darin liegt das unfassbar Irratio-
nale des Zweifels, dass er nie auf die Stufe des Urteils erhoben werden
kann ; jeder Versuch nach dieser Seite bedeutet sofort eine Sistierung des
Zweifels, ein Heraustreten des Subjektes aus seiner Zerrissenheit, eine Ent-
wirklichung des absurden Zustandes vermittelst dessen gedanklicher Ob-
jektivierung.
Die letzten Bemerkungen deuten die Richtung an, in welche die Tätig-
keit des Verstandes beim Auftreten des Zweifels notwendig getrieben wird.
Bei der Konstafierung des Irrationalen innerhalb seiner eigenen Denktätig-
keit kann der Verstand nun und nimmer zur Ruhe kommen. Notwendiger-
weise folgt auf den Zweifel und aus dem Zweifel dessen Ueberwindung
im Urteil. Die Wahrnehmung des Widerspruchs zwingt den Verstand
zu einer urteilenden Stellungnahme zu den kontradiktorischen Urteilen, zu
ihrem Inhalt und zum Verhältnis des Verstandes dazu. Der Widerspruch
muss entweder bejaht oder verneint werden. Bejaht kann er nicht werden,
wie wir schon gesehen haben. Also wird er verworfen. Und mit diesem
Akt der Verwerfung ändert sich die ganze Lage auf einen Schlag. Indem
nämlich über jene Kontradiktion das Urteil der Verwerfung ausgesprochen
wird — Urteil in dem vollen Sinne genommen, den wir oben angegeben
haben — , besteht die Kontradiktion im Geist und für den Geist überhaupt
nicht mehr. An die Stelle der beiden Urteile und Gewissheiten, die in
unversöhnlicher Feindschaft aufeinanderstiessen, und in deren bewusster
KoUision der Zweifel letzten Grundes bestand, ist ein ganz neues Urteil
und eine neue Gewissheit getreten, die freilich zunächst nur negativen
Inhaltes sein kann und sich zusammenfassen lässt in das Wort : nescio,
ich bin im Ungewissen über den Gegenstand des früheren Urteilspaares,
im Ungewissen über den Erkenntniswert der beiden kontradiktorischen
Prädizierungen ; es ist etwas wäe das sokratische „hoc unum scio, me nihil
scire", zu dem der Geist hinsichtlich des Gegenstandes seines Zweifels
gelangt ist; ein Urteil, das nicht den Gegenstand des Zweifels unmittelbar
betrifft, sondern eine Aussage über das Verhältnis des Geistes zu jenem
34fi Daniel Feuling.
Gegenstand enthält. — Dass aber ein so unvermitteltes Umschlagen aus
Hetn in seiner Auswirkung schlechterdings unmöglichen Zweifelszustand
in den Zustand einer neuen Gewissheit möglich, ja notwendig ist, hat
seinen Grund in der Eigenart der geistigen Bewusstseinswirklichkeiten, von
denen das Wort gilt, das Locke auf die sinnlichen Qualitäten anwandte :
earum esse est percipi. Indem sich der Geist urteilend auf das wendet,
was ihn eben noch in seinem eigensten Wesen angriff und gefährdete,
macht er aus seinem Akt sein Objekt, durch die Negation seines Wissens
betreffs der fraglichen Sache die widersprechenden Urteile logisch und
psychologisch vernichtend.
Dies alles aber, was wir nur in langsamer Auseinanderfaltung deut-
lich machen konnten, erfolgt wortwörtlich in einem Augenblick. Im näm-
lichen Moment, in dem die konnotative Wahrnehmung des Widerspruchs
eintritt, erfolgt auch schon die Abschüttelung der kontradiktorischen Urteile
durch das neue Urteil. Denn irgend welches Verweilen in den Absurdi-
täten des Widerspruchs wäre nicht nur logisch, sondern auch psychologisch
und metaphysisch unmöglich. Gerade diese ausserordentliche Raschheit
der Aufeinanderfolge so verschiedener Zustände erschwert die genauere
Analyse des Zweifels. Aehnliches bezüglich der Raschheit des Wechsels
gilt teilweise auch von den weiterhin eintretenden, nunmehr kurz zu be-
schreibenden Verhaltungsweisen des durch den Zweifel affizierten Geistes.
5. Wir waren bis zu dem ablehnenden Nescio gelangt, zu welchem der
zweifelnde Geist angesichts des offenbar gewordenen Widerspruchs flöchtet.
An und für sich mag damit die ganze Sache ihre Erledigung finden. Bei
ganz unbedeutenden, den Geist weiter nicht interessierenden Gegenständen
dürfte dies auch häufig das tatsächliche Verhalten sein : man kümmert sich
nicht weiter um die Angelegenheit und geht darüber hinweg aut andere
Dinge über, weil man innerlich völlig gleichgültig gegen die in Zweifel
geratene und fraglich gewordene Wahrheit ist. Oder man verhindert aus
irgend welchen — berechtigten oder unberechtigten — Gründen durch
positiven W^illenszwang eine fernere Beschäftigung mit der Sache. In an-
deren Fällen aber, und wohl in den meisten, wird man sich nicht ohne
weiteres bei solcher Lösung durch einfaches Fallenlassen der Frage be-
ruhigen. Irgend ein Interesse, sei es praktischer oder spekulativer Art,
wird in der Regel zu dem alten Gegenstand und den früher darüber ge-
fällten Urteilen zurückführen; namentlich dann, wenn es sich um wichtige
Angelegenheiten des äusseren oder inneren Lebens handelt, denen eine
gesunde Geistesart nicht wohl aus dem Wege gehen kann, und nach deren
Klar- und Sicherstellung die vernünftige Natur durchaus verlangt.
Bei dieser Zurückwendung zu den früheren Urteilen bezw. zu ihrem
Gegenstand können verschiedene Wege begangen werden. Am nächsten
ist es gelegen, dass man dem einen der verworfenen Urteile, das vielleicht
der Neigung oder Gewöhnung besonders entspricht, wieder seine Aufmerk-
Zur Psychologie des Zweifels. 347
samkeit schenkt und sich seiner Berechtigung neuerdings zu vergewissern
sucht. Leuchten die alten Beweisgründe abermals ein, oder findet man
neue, überzeugendere, so kann das alte Gleichgewicht und die alte Ruhe
des Geistes wiederkehren, besonders wenn der Wille energisch mithilft,
die Aufmerksamkeil vom andern Teil des Kontradiktoriums abzuwenden.
Aehnliches wird eintreten, wenn eines der beiden kontradiktorischen Urteile
als haltlos, unbegründet, falsch eikannt wird : dann kann das andere wohl
seine unbehinderte Alleinherrschaft wieder antreten.
Aber es gibt auch Fälle, und sie sind wohl nicht die seltensten, in
denen die Sache nicht so einfach abläuft, und die Ruhe des Geistes auf
lange hin in empfindlichster Weise gestört bleibt. Wohl mag bei prüfender
Rückwendung zu einem der kontradiktorischen Urteile zunächst Ruhe und
Gewissheit gewonnen werden, aber nur für kurze Zeit. Denn die Er-
innerung an die Ungewissheiten der vorausgegangenen Zweifelszustände
wird gewöhnlich den inneren Blick wieder und wieder auch auf das zweite,
zwar aufgegebene Urteil hinlenken, auch dessen erneute Prüfung veran-
lassend, und dabei wird sich in vielen Fällen dasselbe ereignen, was beim
ersten Auftreten des Zweifels zu verzeichnen war : zu der vielleicht kaum
wiedergewonnenen Gewissheit betreffs des einen Teils des Kontradiktoriums
tritt abermals ein den andern Teil bejahendes Urteil, es erfolgt alsbald,
wie ehedem, die Einsicht in die Unvereinbarkeit beider, damit neuer
Zweifel und neue Flucht zu dem Urteil, dass hinsichtlich des vorliegenden
Gegenstandes keine Sicherheit vorhanden sei. Und was sich so einmal
wiederholt hat, kann sich noch öfter wiederholen, ja pflegt sich oft zu
wiederholen, wie eine vielfache Erfahrung beweist, und so entsteht ein
oszillierender Seelenzustand kompliziertester Art, so lange andauernd, bis
nach vielleicht langer Mühe stets erneuerter Prüfung oder nach ent-
schiedenem Eingreifen des Willens schliesslich wieder Ruhe und Stetigkeit
in das Geistesleben einziehen, sei es durch endgültige Entscheidung für
den einen Teil des Kontradiktoriums, sei es auch durch endgültigen Ver-
zicht auf eine Antwort und durch Enthaltung von weiterer Untersuchung
der Sache.
6. Das soeben beschriebene peinvoll ruhelose Hin- und Herpendeln aus
einer Lage in die andere, aus der Gewissheit in den Zweifel und die Un-
gewissheit, aus diesen wieder in einen Stand der Gewissheit, aber bald in
diesen, bald in den kontradiktorischen, und zwar immer wieder durch das
Stadium des eigentlichen Zweifels hindurch; die daraus entspringende Rat-
losigkeit und Unsicherheit, der schmerzliche Wechsel zwischen Hoffnung
und Enttäuschnng, der stets erneuerte Umschlag aus einem Stand des festen
Besitzes in einen solchen der Innern Leere; und all dies unter Stürmen
sich widerstreitender Stimmungen und Gefühle: diese Ruhelosigkeit, Un-
stetigkeit, Unberechenbarkeit des seelischen Lebens ist es, was beim Auf-
treten des Zweifels am meisten auffällt und daher auch bei dessen Be-
348 Daniel Feuling, Zur Psychologie des Zweifels.
Schreibung am ehesten namhaft gemacht wird. So rechtfertigen sich denn
auch, um darauf zurückzukommen, die eingangs erwähnten verschieden-
artigen Beschreibungen des Zweifels. Dieselben unterscheiden weniger
zwischen den einzelnen so verschiedenen Stadien der eigenartig kreis-
förmigen Bewegung, die den andauernden Zweifelsstand — Zweifel hier im
weiteren Sinn genoinmen — charakterisiert; sie halten sich vielmehr an
das Gesamtbild dieses geistigen Verhaltens, und indem sie es von be-
sonderen Gesichtspunkten aus aufnehmen, tritt wieder und wieder ein
anderes Moment in den Vordergrund: bald das Ungewisse des Gesamt-
standes der Seele (S. Thomas), bald das Hin- und Herwogen zwischen den
Gliedern des Kontradiktoriums (Gredt), bald die abwechselnde und im
ganzen furchtbetonte Zustimmung zu den beiden Extremen, wohl auch das
Zusammentreffen beider Gewissheiten in einem Moment (Albert d. Gr.).
In letzterem aber, in dem bewusst werdenden Widerstreit der kontra-
diktorischen Gewissheiten, konzentriert sich all die Bewegung; zu diesem
Punkt schwingt immer wieder das Bewusstsein, um von dessen notwendig
abstossender Kraft in andere und andere Lagen zurückgeschleudert zu
werden ; dort ist das eigentliche, letzte Wesen des Zweifels gelegen ; das
andere, was wir zu konstatieren hatten, ist Begleiterscheinung und Folge
des Eintretens in diese naturwidrige Lage.
Fassen wir abschliessend die Ergebnisse unserer Untersuchung kurz
zusammen, so können wir sagen :
L Zweifel im engeren Sinn ist der Zustand, in welchem sich der
Geist des (scheinbaren oder wirklichen) Widerspruchs zweier von ihm als
gewiss gefällter Urteile bewusst wird ;
2. Zweifel im weiteren Sinn ist ein komplexer Stand intellektueller
und meist auch affektiver Ruhelosigkeit, worin der Geist, ausgehend von
der Wahrnehmung eines W^iderspruchs, in den er gefallen war, und durch
diesen Widerspruch immer wieder hindurchgehend, betreffs eines Erkenntnis-
gegensiandes abwechselnd in kontradiktorische Gewissheiten und in die
Gewissheit seines Nichtwissens hinsichtlich jenes Gegenstandes übergeht
imd weder in einem Teil des Kontradiktoriums noch im Verzicht aui
weiteres Fragen und Suchen bleibende Ruhe finden kann.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik,
Von Prof. Dr. J. A. Endres in Regensburg.
Gerard von Czanäd.
Unter dem Einfluss der Bestrebungen des hl. Romuald stand wahr-
scheinlich der hl. Gerard von Czanäd ^). Durch ihn werden unsere Blicke
nach der östlichen Peripherie des abendländischen KuUurkreises gelenkt.
Hier hatte soeben der hl. Stephan von Ungarn (997 — 1038) damit begonnen,
sein Volk dem Christentum und damit der Kultur zuzuführen. Er Hess
fünf Benediklinerklöster in seinem Lande erstehen und organisierte zehn
Bistümer in demselben. Einem derselben stand der von Frankreich berufene
Mönch Bonipertes als Bischof vor, mit dem Fulbert von Chartres brieflich
verkehrte 2). Eine der berühmtesten Schulen der Zeit gründete aber der
hl. Gerard zu Czanäd. Aus Deutschland, Böhmen, Polen und Frankreich
sollen Lernbegierige dahin gekommen sein. Die freien Künste und die
Gottesgelehrtheit, aber auch die Jurisprudenz haben den Gegenstand des
Unterrichts gebildet^). Die Bedeutung der Schule entsprach ganz der Be-
deutung ihres Stifters, der zu den wenigen bemerkenswerten Schriftstellern
jener Zeit zählt.
Leider sind wir über das Leben Gerards nur in mangelhafter Weise
unterrichtet. Nach der Legenda minor, die über ihn berichtet*), war er
*) Auf ihn lenkte zuletzt die Aufmerksamkeit G. Morin, Un theologien
ignore du XI^ siede : l'eveque - martyr Gerard de Csanäd O. S. B. (in Revue
Benedictine 27 [1910] 516 ff.).
-) Significavit autem nobis Filius noster tuusque fidelis Hildainus tuae
charitatis erga nos insignia, fideliter asserens unum de nostris Priscianis te
velle, quem et per eumdem hbenter mittimns. S. Fulberti Epist. I, M. 141,
189 C. Vgl. Clerval, Les ecoles de Chartres au rnoyen-äge, Chartres 1895,
63, 109.
^) Magna etiam fama erat scholae Czanädensis a s. Gerardo condilae, in
quam non solum indigenae, ad etiam ex Germania, Boheraia, Polonia, GaUia
adolescentes Htterarum cupidi confluxerunt. Scriptores Ordinis s. Benedict!,
qui 1750—1880 fuerunt in Imperio Austr.-Hungar., Vindob. 1881, p. LVll.
■') Hie enim huius lucis lumen per Venetos parentes sortitus Dei gratia
praeveniente a pueritia coepit Domino nostro Jesu Christo devotus existere et
Evangelicis documentis per omnia parere. Nam religionis habitum puer accepit.
Acta SS. Bali. Sept. VI, 722 C. R, F. Kaindl, Studien zu den ungarischen
.%0 j. A. Endres.
in Venedig geboren, wo er in ganz jungen Jahren Mönch geworden sein
soll. Eine gewisse Bestätigung dieser Nachricht darl darin erblickt werden,
dass Italien, und zwar der nordöstliche Teil von Italien, seinem Gesichts-
kreise am nächsten lag, wie gelegentliche Bemerkungen von ihm über die
zu seiner Zeit herrschenden Häresien dartun '). Dagegen erscheint es
zweifelhaft, ob er tatsächlich in ganz jungen Jahren („puer"), wie die
Legende meint, das Ordenskleid genommen. Er spricht nämlich einmal
selbst von einem Aufenthalt in Frankreich, der offenbar Studienzwecken
gedient hatte '^). Derselbe kann doch erst in die reiferen Jahre Gerards
tjefallen sein. Dass er von seinem Kloster aus zu den Studien nach Frank-
reich abgeordnet worden sein sollte, ist anbetrachts der von ihm aller
Wahrscheinlichkeit nach bevorzugten Ordenskongregalion so viel wie aus-
geschlossen. Umgekehrt kann vielmehi- angenommen werden, dass es ihm
ein früher Eintritt in den Orden unmöghch gemacht hätte, sich den hohen
Grad literarischer Kenntnisse anzueignen, über die er verfügte. Mehrere
Indizien sprechen nämlich dafür, dass er der in der Gegend von Ravenna
und Venedig verbreiteten Kongregation von Eremiten angehörte, welche
dem hl. Ronmald ihren Ursprung verdankt. Gerade diese Kongregation
verriet aber eine geringe Neigung für wissenschaftliche und namentlich
profane Studien. Es legt sich die Vermutung nahe, dass Gerard wie so
mancher andere seiner italienischen Zeitgenossen — ich nenne Anselm
von Besäte, Lanfrank, Anselm von Aosta — sich zuerst in der Heimat eine
wissenschaftliche Bildung aneignete und dann auf die Wanderschaft nach
Frankreich ging, sei es, um seine Bildung zu vervollständigen, sei es, um
als Wanderlehrer sein Glück zu versuchen ^).
Auf einer Pilgerfahrt ins heilige Land begriffen, wurde er vom heiligen
Stephan in Ungarn festgehalten und war nun „der bedeutendste von allen
Geschichtsquellen (Archiv f. üsterr. Gesch., Wien 1902, Bd. 91 S. 26; verlegt
den Ursprung der Legenda minor noch in das Ende des 11. Jahrhunderls,
nach 1088.
') Ilalia non consuevit haereses nutrire, ad praesens in quibusdam partibus
haeresium toinentis abundare auditur. GalHa vero felix, quae bis munda
perhibetor. Graecia infplix, sine quibus nunquam vivere voluit Verona, urbium
Italiae nobilissima, bis gravida redditur. Iliustris Revenna et beata Venetia,
quae nunquam inimicos Dei passae sunt ferre. 5. Gerardi Deliberatio p. 99
in der unten S. 352 Anm. 4 zitierten Ausgabe von Batthyäny.
") In Piatone quippe disputationes quondani apud Galliam conslitutus
quasdam de deo Hebraeorura confidenter fateor nie legisse et caelestibus aniniis.
1. c. 84.
') Gerard kennt diese wandernden Profangelehrten seiner Zeit. Er gibt
einmal einen Einwand, dem er begegnet, die folgende Formulierung : Dicat
mihi, qui vult, qnia multa legi, m ul t a c uc ur r i. In Spania fui doctus, in
Britannia eruditus, in Scotia detritus, in Hybernia studui, omnes liberales,
disciplinas comendavi memoriae, ideo nil leclionis me effugere potest. l. c. 256.
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 351
Männern, welche dem Könige in der Einführung des Christentums zur Seite
standen" i).
Sieben Jahre lebte er zunächst in dem von Stephan auf Betreiben des
berühmten böhmischen Eremiten Günther gestifteten Eremitenklosters Bei.
Um 1030 trat er dann an die Spitze des neugegründeten Bistums Czanäd
am Marcs, wo er die Kathedrale zu Ehren des hl. Georg erbaute. Be-
merkenswert ist nun aber, dass er nach dem Berichte der ältesten Legende
auch als Bischof die Einöde nicht verliess, sondern neben den Städten
einsam gelegene Zellen im Walde erbaute, in denen er die Nächte mit
Werken der Aszese zuzubringen pflegte 2). Diese Umstände, nicht minder
aber ganz bestimmte Ansichten in seiner sogleich zu nennenden Haupt-
schrift, welche er mit seinem jüngeren Zeitgenossen Petrus Damiani, dem
bekanntesten unter den Jüngern des hl. Romuald, teilt, und die auf ein
gemeinsames geistiges Milieu hindeuten, machen es in hohem Masse wahr-
scheinlich, dass Gerard selbst der Eremitenkongregation des hl. Romuald
angehörte. Die Richtigkeit dieser Annahme vorausgesetzt, ist Gerard ge-
schichtlich der erste Zeuge für die fühlbare Spannung, in welcher diese
Kongregation zu den profanen W^issenschaften stand, und welcher nicht viel
später Damiani den energischesten Ausdruck verheb.
An und für sich konnte die Geistesrichtung Gerards auch von einer
anderen mönchischen Reformkongregation her beeinflusst sein, jener von
Cluny nämlich. Nach Ausweis seiner Deliberatio stand nämlich Gerard am
Ende seines Lebens in literarischem Verkehr mit dem berühmten lothrin-
gischen Reformabte Richard von St. Vannes. Richard genoss bei ihm ein
solches Ansehen, dass er ihm eine seiner Schriften, De patrimonio divino,
zur Billigung zusandte. Aber die Bekanntschaft der beiden Männer scheint
erst aus einer Zeit zu stammen, in der Gerard bereits sein Eremitenleben
in Ungarn führte, aus dem Jahre 1025 nämlich, als Abt Richard mit einer
glänzenden Schar fränkischer Grossen auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem
die Gastfreundschaft des hl. Stephan von Ungarn genoss'*).
Richard fand seinen Tod, indem er von Anhängern der heidnischen
Nalionalpartei auf einer Fahrt nach Pest vom Wagen gezerrt, gesteinigt
und schhesslich durch einen Lanzenstich getötet wurde. Es war im Jahre
1046. Im Jahre 1083 wurde er kanonisiert und sein Leichnam in die
Kathedrale von Czanäd übertragen.
*) Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter 11", Berlin
1894, 209.
-') Quam vis episcopaleni dignilatem nimia prudentia gubernabat. tarnen
beiemum non deseruit. Verum iuxta urbes . . . cellulam sibi silvarum secre-
liori loco coustraxerat, in qua ligatus peinoctasse multasque passiones . . .
sustinuisse memoralur. Legenda minor c. 7. Acta SS. Boll. Sept. VI, 723 B.
^) £. Sacksr, Richard Abt von St. \ annes, Breslau 188ü, 93 ff.
352 J. A. Endres.
Gerard war für seine Zeit ein sehr fruchtbarer Schriftsteller. Zwar
vermag ich nicht zu sagen, was es mit den von Fr. Sansovino unter seinem
Namen angeführten Schriften De laudibus S. Virginis, Sermones quadra-
gesimales, Homiliae solemnitatum totius anni für eine Bewandtnis habe ').
Wattenbach nennt ihn unbedenklich den „Verfasser jener merkwürdigen
Unterweisung, welche König Stephan für seinen Sohn Emerieh verfassen
Hess" 2). Allein von anderer Seite wird seine Autorschaft in Zweifel ge-
zogen. Das Urteil der BoUandisten nämlich schwankt, ob der Libellus de
institutione morum ad Emericum ducem vom hl. Stephan selbst oder von
Gerard oder gar von einem späteren Autor herrühre^). Sicher dagegen
gehört ihm an das durch eine ehemalige Freisinger, jetzt Münchener Hand-
schrift (Clm 621 1 saec. XI) überlieferte Werk : Deliberatio Gerardi Moresenae
aecclesiae ep(iscop)i supra hymnum trium puerorum ad Isingrimum libe-
ralem '*). Es ist eine sehr breit gehaltene Erklärung des Canticum Bene-
dicite (Daniel 3, 57 ff.), die trotz ihres Umfangs nur die neun ersten Verse
umfasst. Hier nennt Gerard noch zwei andere Schriften aus seiner Feder,
die aber einstweilen verloren sind, nämlich De divino patrimonio und einen
Kommentar zum Hebräerbrief ^).
Die Deliberatio Gerards gewährt einen ausreichenden Einblick in seine
geistige Eigenart und Richtung, Mit den freien Künsten, wie sie um die
Wende des ersten Jahrtausends in Italien gelehrt wurden, und der diesem
Unterricht dienenden Literatur war er in hohem Masse vertraut. Dass die
Rhetorik in der Schule, aus der er hervorging, eine Bevorzugung genoss,
merkt man ihm deutlich an. Nicht weniger aber auch, dass es in den
damaligen Schulen auf eine äusserst gekünstelte, geschraubte und auf
Stelzen gehende Diktion abgesehen war. Er erinnert in dieser Beziehung
an seinen norditalienischen Landsmann Anselm von Besäte. Das Gekünstelte
seiner Diktion steigert sich jedesmal in den einleitenden Prologen der
einzelnen Abschnitte seines Kommentars. In direktem Gegenoatze dazu
steht aber, dass er auf Korrektheit der Sprache wenig gibt, ja sie geradezu
') Vgl. Acta SS. Boll. Sept. VI, 724 D.
-) Deutschlands Geschichtsqnellen im Mittelalter II «, Berlin 189i, 209.
3) Acta SS. Boll. Nov. II, I, 480 F.
*) Gedruckt unter dem Titel : Sancti Gerardi Episcopi chanadiensis scripta
et acta hactenus inedita, cum serie episcoporum chanadiensium opera et studio
Ignalii comitis de Batthyäny, episcopi Transylvaniae. Albo - Carolinae (Karls-
burg) 1790.
*j 1. c. 29(5: In libello autem, quem ad Aiulream presbyterum, divinae
germanitatis viruni, De divino patrimonio expiessimus, qui nunc apud abbaten!
Richardum inconlaminatum christi famulum divinitus erudituin est ... p. 133:
Quondam vero ibi, ubi dicitur in Psalmo ,Ipsi peribunt, tu autem permanebis',
disputans secundum mediocritatem meam, in primo capitulo epistolae Pauli ad
Hebraeos, quidquid invenire ex apotheca sancti Spiritus supra hoc potui, stilo
latissimo commendavi.
i
Studien zur Geschichte der Frühscholastiit. 353
vernachlässigt. Eine Nachlässigkeit, die er sich persönhch im Verkehr
angewöhnt zu haben scheint, führt er unbedenklich auch in die Schrift-
sprache über. Sie betrifft beispielsweise den Gebrauch des Genitivs solius,
welches Wort er in verschiedenen ungewöhnlichen Bedeutungen, so für
solum, tantum, dummodo verwendet '). Vielleicht spielt hierin bei ihm,
der nicht ungern die ungekünstelte (rusticana), aber deswegen keineswegs
unwirksame Redeweise der hl. Schrift in Gegensatz stellt zu der kunst-
mässigen Form der heidnischen Literatur, sogar eine bewusste Absicht mit 2).
In seiner Beurteilung der freien Künste vermissen wir bereits die Ruhe
und das Wohlwollen der vorausgehenden Zeit. Sie sind nicht mehr die
sieben Pfeiler, die den darüber aufragenden Bau der Gotteslehre tragen.
Zwar geht er in ihrer Ablehnung nicht so weit, wie ein Otloh oder Petrus
Damiani. Aber sie sind ihm entbehrlich. „Alle", sagt er, „die Christi
Schüler sind, bedürfen nicht der fremden Lehren" ^). Auch weiss er nicht
nur einen negativen Grund für ihren Ursprung anzugeben, wie später
Manegold von Lautenbach. Dieser erklärt nämhch die heidnische Welt-
weisheit nur aus dem Verluste eines alten Geisteserbes, an dessen Stelle
nun die Menschen ihre unhaltbaren Erfindungen setzen, die keinen Zu-
sammenhang mit dem Urgrund aller Weisheit besitzen. So sehr er die
Eitelkeit und den Unbestand der „Philosophie der Sterblichen" betont, will
er doch „den von Gott eingegebenen Gesetzen der schönen Künste" keinen
Eintrag tun. „Ich leugne nicht", sagt er, „dass sie von dem in unaus-
sprechlicher Höhe ragenden Sitze aller Weisheit ihren Ausgang genommen
haben, in dem alle Schätze der Weisheit und des Wissens verborgen sind.
Denn in ihnen allen sind die letzten Gründe nicht zu bezweifeln, wie in
der ersten das Atom, in der zweiten der Ausdruck, in der dritten das
Urteil, in der vierten die Einzahl, in der fünften der Punkt, in der sechsten
der Halbton, in der siebenten das Himmelszeichen" *).
^) Beispiele werden sich in den mitzuteilenden Texten ergeben.
'^) Quaeso autem, ne dicas offendere stilum dialecticorum auditum neque
rusticam rationem magnum oratorem. Habemus, ait (so meist bei Anführung
einer Schriftstelle), thesaurum istum in vasis fictilibus. Et nos non contem-
plamur, quae videntur, sed quae non videntur. Deliberatio 1. c. 27. Cf. p. 159.
^) Omnes, qui istius (Christi) discipuli sunt, non indigent doctrinarum
peregrinarum. Deliberatio 278.
*) An hoc legibus divinitus optimarum disciplinarum inspiratis detraho ?
Ab ineffabili totius sapientiae pectore non abnego descendisse, in quo omnes
thesauri sapientiae et scientiae reconditi praedicantur. Etenim in Omnibus
principia non dubitanda, quemadmodum in prima athomus, in secunda pro-
nuntiativum, in tertia proloquium, in quarta monas, in quinta punctus, in sexta
semitonium, in septima ostentum. Deliberatio 53 f. Der etwas unvermittelt
angeschossene Satz Etenim in omnibus scheint als Ganzes Exzerpt zu sein.
Einzelne Bestandteile lassen sich nachweisen aus Isidor., Etym. 1. 13 c. 2
M 82. 473) : Liltera pars minima atomus est nee dividi potest. Atomus ergo
Philosophisches Jahrbuch 1913. 2o
354 J. A. Endres.
Gott ist die Weisheit, betont er an einer anderen Stelle. Er ist
nicht nur weise, sondern überweise. Daher stammt alle Weisheit von ihm,
d. i. alles, was der göttlichen Weisheit gehorcht. Auch die Wissenschaft
der freien Künste ist darum von ihm ausgehend zu denken. „Aus dem
Grunde möge uns niemand für feindselig gegen diese Wissenschaft halten,
vielmehr nur gegen jene, welche behaupteten, weise zu sein, und töricht
geworden sind und viel mehr dem Geschöpfe als dem Schöpfer gedient
haben" i).
Ueber die heidnischen Philosophen und Vertreter der freien Künste
giesst er nun aber die volle Schale seines Unmutes aus. Nur mehr das
eine Interesse scheint er für ihre Anschauungen übrig zu haben, ihre
Schwäche und Unhaltbarkeil zu brandmarken.
„Wo ist ein Weiser, wo ein Schriftgelehrter, wo ein Forscher dieser
Welt", ruft er mit dem hl. Paulus (1 Kor Iso) aus. „Vielleicht nennt
Makrobius solche in seinen Werken, obwohl dieser selbst einer von ihnen
ist". Aber ihre Philosophie sei nach Paulus durch Christus verworfen
worden. Zeno — er denkt an den Eleaten, von dem erzählt wird, dass
er seine abgebissene Zunge dem Tyrannen seiner Vaterstadt ins Gesicht
gespien — habe seine Philosophie ausgespuckt, Menander die seinige ganz
mit seinem Geiste aufgegeben und ähnlich die übrigen. Selbst einen Plato
nennt er „stultissimus" und zwar um deswillen, weil er den Sitz des
Denkens ins Haupt verlegt und dadurch der hl. Schrift (Mt 15i9) wider-
spreche, nach der die schlechten Gedanken aus dem Herzen kommen^).
Gerards Ideal liegt auf einer anderen .Seite. Es sind die inlitterati
doctissimi, die nach ihm alle Philosophie überflügelt haben. ,, Zweifle nicht",
meint er, „dass der göttUche Cephas tiefer ist als Aristoteles, Paulus beredter
est, quod dividi non potest, ut puuctus in geometria ; ferner aus Martianus
Capella, De miptiis Phüologiae et Mercurii ed. EyssenharJl, Leipzig 1866, 364 :
Primum igilur lempus est, quod in morem alomi nee momenta recisionis ad-
mittit, ut est in geometricis punctum, arithnieticis monas.
') Est sapientia Deus, sicut ipse naturaliter non solum sapiens, quin potius
supersapiens, ideo ab ipso omnis sapientia, i. e. quod divinae sapientiae ob-
temperat. Ergo et supradiotarnm [arlium] scicntia ab ipso dicenda et ante
palam in ipso reposita. Dicitur autem, id est quod nemo [nach meiner Kon-
jeivtur: reposita dicitur. Ideo autem nemo] nos bellicosos contra hanc [scientiam]
opinetur, immo contra ilios, qui se esse dixerunt sapientes et stulti facti sunt.
Delibe ratio 1. c. 55.
') Ubi sapiens, ail, ubi scriba, ubi conquisitor liuius saeculiV Forle Ma-
crobius tales in superioribus [in suis operibus] dicit, quamquam horinii unus
idem. Reprobam vero semivirbius (!) nostrum talium philosophiani dicit divi-
nissimuni fecisse Jesum. Zeno suam evomuit, Menander qnidquid habyit, una
totam cum spirilu eniisit, ceteri nihilominus autem. Deliberatio 1. c. 9. — De
Corde exeunt cügilaiiones malae, quibus dictis Plato philosopbus comprobatur
stultissimus, dicens humana cogitata non de corde sed cerebro manare. 1. c. 169.
Studien zur Geschichte der Friihscholastik. 355
als alle menschlichen Redner, Johannes höher als der ganze Himmel, dass
Jakobus schlagfertiger ist als dein Plotius" ^). Die Verkünder des Evan-
geliums waren Ungelehrte, waren Fischer, waren nicht Dialektiker, sondern
Ungebildete, die aber unter dem Einfluss des hl. Geistes alles Denken der
sterblichen Philosophen hinter sich Hessen 2). Und so ist die evangelische
Weisheit ein Schatz in irdenem Gefässe, aber nichtsdestoweniger so kost-
bar, dass jene, die sich in die Welt teilten — Gerard nennt eine ganze
Liste alter Machthaber — keinen ähnlichen besassen. „Aber auch nicht
die Stoiker, die Platoniker, die Akademiker, die alles für ungewiss hielten;
nicht die Peripatetiker mit ihrer Behauptung, ein Teil der Seele sei ver-
gänglich, ein anderer ewig; nicht die Genossen eines Epikur, der von den
törichten Weisen ein Schwein genannt wurde und der behauptete, die Welt
bestehe nur aus Atomen und mit seinem Tode sei alles aus" ^).
So oft er auf die alten Philosophen zu sprechen kommt, wird es ihm
schwer, seinen Affekt zu meistern. Denn: „Alle haben nach dem gött-
lichen Ausspruch geirrt und Falsches geredet. Wenn ich der Weltweisen
Torheiten durchgehen wollte, würde mir vor allem die Zeit nicht reichen,
namentlich bei jenen, welche die Kraft Gottes in die Atome verlegten und
die gegenwärtige Welt unvergänglich nannten, welche den wahren Gott
aus den vier Elementen entstanden erklärten und dann den Weltkreis
durch göttliche Macht" *). „Betrachte so ein Wunder der Dialektik, und
dann erröte bei der Philosophie des Fischers und lerne besser wissen vom
ungebildeten Mann mit dem Netze als vom gelehrten Aristarch"^).
Begreiflich ist sein Unmut gegen die Feinde der Kirche unter den
alten Philosophen, von denen die Welt einst voll gewesen sei. In diesem
Zusammenhange redet er von dem ,, Wahnsinne des Porphyrius", der gegen
^) Non dubites divinissimum Cephaa Aristotele profundiorem, non Paulum
cunctis humanis uratoribus eloquentiorem, non Joannem omni coelo altiorem,
non Jacobum tuo Plotio expeditiorum. 1. c. 27.
') 1. c. 93.
^) Istiusmodi thesaurum non potuit habere Darius rex, non Xerxes . . .,
non Stoici, non Plalonici, non Academici omnia opinantes incerta, non Peri-
patetici, qui dicunt quamdam animae partem esse occiduam, quamdamque
aeternam, non Epicurii illius coessentes, qui porcus a stultis sapientibus nun-
cupatus est, asserens solius (0 atomis mundum constare seque post mortem
non esse. 1. c. 96; cf. Isid. Hisp., Etym. 1. 8, c. 6, M 82, 306 s.
*) Omnes erraverunt iuxta divinum dictum et locuti sunt falsa. Si per-
currere templo mundi philosophorum naenias, dies me imprimis deficiant,
maxime de lUis, qui dixerunt virtutem dei in atomis et mundum non fmiendum
praesentem, Deum verum de quatuor elementis factum et orbem divina potenlia.
1. c. 277.
^) Vide miraculum dialecticae, hoc autem viso erubesce ad philosophiam
piscatoris et disce melius scire a rustico retiatore, quam a perito Aristarco.
J. c. 278.
23*
356 J. A. Endres.
den Propheten Daniel ein ganzes häresiarchisches Heer angeführt habe ^).
Aber in einem Ateno mit derartigen Leuten und den eigentlichen Häretikern
nennt er auch ganz allgemein die in weltlicher Weise Gelehrten ^).
Es muss uns wundern, dass er trotz alledem für die Alten doch noch
ein Wort der Anerkennung übrig hat, sich beziehend auf ihre geistige
Veranlagung, ihren Fleiss und ihre nützlichen Bemühungen 3). Dadurch
hält er sich ein Hintertürchen offen, um bei gegebener Gelegenheit die
freien Künste doch wieder vor sich erscheinen und zu Gnaden kommen
zu lassen. Wir dürfen nicht zweifeln, dass ihnen Gerard in der von ihm
gegründeten Schule die unerlässliche Pflege wird haben angedeihen lassen.
Sonst hätte diese Schule nicht ihre Anziehungskraft auf weite Kreise aus-
üben können. Durch die Sorge für die Pflege der freien Künste wird sich
Gerard von seinem jüngeren Zeitgenossen Petrus Damiani unterschieden
haben, dem die weltliche Wissenschaft nicht nur mnerhalb seiner 'Eremiten-
kongregation entbehrlich erschien, sondern auch bei dem den besten Ge-
sellschaftskreisen angehörigen Laien. Wir dürfen das um so sicherer
annehmen, da einer seiner Mitbischöfe, eben jener Isingrim, an den die
Deliberatio gerichtet ist, selbst in den freien Künsten Unterricht erteilte*).
Gerards gelegentliche Bemerkungen über die weltlichen Wissenschaften
sind von geringem Belang. Er kennt die unter dem Namen Piatos gehende
Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik. Als ersten Physiker
nennt er Thaies von Milet. Plato habe die Physik in die vier Fächer des
Quadriviums geteilt. Sokrates habe die Ethik eingeführt und in ihr die
vier Kardinaltugenden unterschieden. Ausserdem habe er die Logik hinzu-
gefügt und in ihr die Dialektik und Rhetorik auseinandergehalten.
Alles, was hier über die freien Künste gesagt ist, geht auf die Ety-
mologien Isidors von Sevilla zurück und beruht in seiner uns vorhegenden
Textgestaltung entweder auf Missverständnissen Gerards selbst oder auf
Fehlern in der Ueberlieferung der Etymologien ^). Auch der Gedanke, dass
nach den drei Gattungen der Philosophie sich die Bücher der hl. Schrift
'j 1. c. 97.
') 1. c. 180.
^) Laudare itaque antiquorum ingenia et iure debemus, sed ad veram
laudem illius, qui sine cessatione laudandus est . . . Licet autem sie sudassent
tarn isti quam ceteri illis similes, suclor illorum polius laudandus, quam ipsi
benedicendi. 1 c. 79, 82.
*) Plato, qui quatuor in physica distributiones donavit, arithmeticam ni-
mivum, quemadmodum ipse (= Isengrinie) tuos plerumque doces, geometricam,
musicam et astronomiam. 1. c. 80 s.
*) (Unmittelbar an den Text der vorigen Anmerkung anschliessend) tuus-
que Socrales ad corrigendos prirnus insliluens et ad omne studium eius bene
vivendi disputationem perducens eamque in quattuor virtulibus animae dividens,
nimirum piudentia, iustitia, fortifudine, (emperantia, subiungens loicam, quae
rationalis vocatur. 1. c. 81. Das ,,tuusque'' scheint verdorben aus ethicam,
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 357
einteilen lassen, ist nur Isidor entlehnt '). Dagegen scheint die Ueber-
tragung der drei Namen Physik, Ethik und Logik auf die drei Personen
der göttUchen Trinität eine Erfindung Gerards selbst zu sein 2). Hiermit
befinden wir uns aber auf rein theologischem Boden, und wenn Gerard
sich auch nicht scheut, gewisse Analogien zwischen dem natürlichen
Wissensgebiete und der heiligen Schrift, ja der Trinität selbst hervorzu-
heben, so gebietet er doch dort den natürlichen Wissenschaften ein ent-
schiedenes Halt, wo es sich um theologische Untersuchungen handelt. „Es
ist nämlich", so meint er, „höchste Torheit, in Gemeinschaft von Mägden
Untersuchungen anzustellen über jenen, der zu preisen ist im Angesicht
der Engel" 3).
Das alte Wort von den welthchen Wissenschaften als den Mägden
gegenüber der Theologie greift also nicht erst Damiani wieder auf, wohl
aber gibt er genauere Kautel en für das Verhalten der untergeordneten
Vernunftwissenschaft an. Auch verrät er den tieferen Grund, warum ihr
nach seiner Ueberzeugung keine selbständige Entscheidung zuzutrauen ist.
Gerard ist es wahrscheinUch gar nicht zum Bewusstsein gekommen,
wie wenig er sich folgerichtig bleibt, die weltlichen Wissenschaften zur
Behandlung der Gotteserkenntnis abzulehnen, dafür aber in der Welt
selbst die leibhaftigen Elementardisziplinen auch der Gotteserkenntnis
zu erblicken. Denn nach ihm besteht für niemand, auch für jene nicht,
die keine Schule besucht haben, die Ausrede, er wisse nicht, von
wem er geschaffen worden, da er mit den Wissenschaften nicht ver-
traut sei. Dagegen habe Gott vorgebeugt, der „den Himmel als die
Grammatik, die Erde als die Rhetorik, Sonne, Mond und Sterne als die
Dialektik u. s. f. zur Unterweisung gegeben habe, damit durch diese schönen
Wissenszweige jedes Geschöpf seinen Schöpfer erkenne"*). Dafür zeuge
vgl. Isid., Etym. 1. II, c. 24, n. 5 : Ethicam Socrates primus etc. Die Hinzufügung
der Logik schreibt Isidor a. a. 0. n. 7 Plato zu : Logicam, quae rationalis
vocatur, Plato subiunxit.
^) In quibus tribus generibus philosophiae eliam divina eloquentia (Isidor:
eloquia) tota a peritis constare videntur. Denique ait de natura disputare
solent etc. Statt dem sinnlosen Denique ait steht bei Isidor, Etym. 1. 11, c. 24,
n. 8, M 82, 141 D : Nam aut de natura etc.
'^) Philosophi autem nudi et sine tegmine immortalissimae philosophiae
dixerunt de physica, de ethica vero et logica, sed veram physicam ignoraverunt,
mirabilem ethicam nescierunt, inaestimabilem logicam non cognoverunt . .
Ista physica, de qua loquimur, iramensus Pater, a quo sempiternus Filius.
Ethica idem Filius . . . Logica a Patre et Filio procedens sanctissimus Spiritus.
Deliberatio 1. c. 286.
^) Dementia summa est in contubernio disputare ancillarum de illo, cui
psallendum est in conspectu angelorum. 1. c. 32.
*) Ergo ut nemo intritorum diceret : Nescio, a quo creatus sum literarum.
ignarus, coelum pro grammatica, terram pro rhetorica, solem et lunam et Stellas
358 J. A. Endres.
auch der hl. Paulus in der bekannten Stelle seines Römerbriefs. Ja,
„Gott hat alle anbetrachts der soweit möglich besten und staunenswerten
Kenntnis zu Philosophen machen wollen. Denn wenn jemand fragt, auf
welche Weise oder wie sehr Gott glänzend sei, so schaue er die Sonne an,
die er gemacht hat. Von ihr lerne er, wie sehr Gott selbst leuchte, welcher
der Sonne einen solchen Glanz verliehen, und so betrachte er ihn als das
unaussprechliche und unerträgliche Licht. Ferner, wenn er gern wissen
möchte, wie gross er sei, und es mit seinem Verstände nicht zu fassen
vermag, da es überhaupt unmöglich ist, nehme er den Himmel und die
Erde und die ungeheuren Elemente, und wenn er sie mit all seiner Geistes-
kraft nicht zu erfassen vermag, dann erwäge er die unschätzbare Uner-
messlichkeit des Meisters von dem allem" ^).
Diese letzteren Ausführungen sind von Interesse als Versuch einer Art
Gottesbeweis. Sie bewegen sich in der Richtung des dem früheren
Mittelalter geläufigen Gottesbeweises, der mit Hülfe des ,, Steigerungs-
gedankens" geführt wurde. Ihn hatte beispielsweise der oberitalienische
Landsmann Gerards Otto von Vercelli (f 961) benutzt, indem er sagte:
„Da der Herr so schöne Elemente gegründet hat, dass die Menschen sie
als Götter anbeteten, so konnte leicht eingesehen werden, dass unver-
gleichlich schöner jener sei, der sie gegründet hat"^).
Gerard von Czanäd verdient unstreitig Beachtung in der Entwicklung
des mittelalterlichen Geisteslebens. Er zählt zu den frühesten Schrift-
stellern, welche die beginnende kirchliche Reform zu einer gegensätzlichen
Stellungnahme gegenüber der heidnischen Literatur und Weltweisheit ver-
anlasst. Seine Aversion gegen die Fächer des Triviums trifft, so scheint
es, am meisten die in Italien damals bevorzugte Rhetorik. Erst als nach
der Mitte des elften Jahrhunderts die Dialektik mehr in den Vordergrund
trat und sich in den Dienst eines glaubensfeindUchen Rationahsmus stellte,
ward sie als der Hauptangriffspunkt auf der Seiten der kirchlichen Reform
sich vereinigenden Männer ausersehen.
pro dialectica atque pro ceteris cetera, ul bis pulchris disciplinis omnis crea-
tura suum cognoscerel creatorem, in doctrinam dedit. 1. c. 156.
') Igitur omnes voluit reddere philosophos ex optima et admirabili, quantum
possibile est, notitia. Etenim si quisquam quaerit, quomodo vel quantum sit
Deus splendidus, intueatur solem, quem fecit. Ab eodem vero discat, quam
ipse splendescat, qui tantum splendorem soli administrat, sie vero illum con-
.sideret inefTabdem atque ex hoc ipso intolerabilem lucem. Demum si delectat,
quam magnus sit, et mente non potest concipere, quemadmodum omnino Jm-
possibile est, tractet coelum et terram, spatiosissima elementa, et si eadera
metiri non potest ullius ingenii suffragatione, tum deliberet horuin inaestima-
biletn factoris immensitatem. 1. c. 155.
*) G. Grunwald, Geschichte der Gottesbeweise im Mittelalter bis zum
Ausgang der Hochscholastik, Münster 1907, 25 f. (Beiträge zur Gesch. d. Phüos.
des Mittelalters, herausgeg. von Baeumker und von Herlling, Bd. VI, Heft 3).
Studien zur Geschichte der Frühscholastik. 359
Die Stimmung Gerards von Czanäd gegen die weltliche Wissenschaft,
der er als Schriftsteller auf dem neuerschlossenen Kulturboden Ungarns
Ausdruck gab, ist als Mitgift seines norditalienischen Heimatlandes zu be-
trachten. Hier lässt sie sich weiter verfolgen und in gesteigerter Potenz
nachweisen bei dem genial veranlagten und redegewaltigen hl. Petrus Damiani.
Manche Gedanken in der Beurteilung von Bildung und Wissenschaft
hat Petrus Damiani mit Gerard fast dem Wortlaute nach gemein, wie dass
Gott nicht Weise und Gelehrte, sondern Ungelehrte und Fischer zur Aus-
breitung des Evangeliums berufen habe, dass der Weisheit dieser einfachen
Männer die Weisheit der alten Heiden erlegen sei. In manchen Punkten
verschärft sich aber der Gegensatz Damianis gegen die wissenschaftliche
Bildung und wird dann zu einer direkten Abweisung derselben. Gerard
findet es selbstverständlich, dass sein bischöfhcher Standesgenosse Isingrim
die freien Künste lehrt. Er versichert ausdrücklich, dass er nicht gegen
diese aij sich eingenommen (bellicosus) sei, ja dass sie wie alle Weisheit
ihren Urquell und Ausgangspunkt in der wesenhaften Weisheit Gottes
haben. Damiani beseelt im Gegenteil eine wahre Kampflust gegen die welt-
lichen Disziplinen. Er schreibt eigene Abhandlungen zu dem Zwecke, die
wissenschaftlichen Studien seinen Mönchen zu missraten. Nicht einmal
die Elementarstufe alles Unterrichts, der über das Auswendiglernen der
Psalmen hinausführen würde, die Grammatik, will er bei seinen Mönchen
zulassen. Wie ernst er es mit dieser Gesinnung nimmt, beweist er dadurch,
dass er auch ausserhalb seiner Ordensgenossen bei Laien dafür Propaganda
macht. In seinem Eifer, dem sich eine wirkungsvolle Rhetorik zu Diensten
stellt, redet er davon, dass die Grammatik lernen gleichbedeutend sei mit
dem Abfall von Gott und mit Götzendienst. Ja ihm schwebt ein ganz
anderer Ursprung der dereinst von den Heiden gepflegten freien Künste
vor, indem er den Verführer des Menschengeschlechtes als ersten Gramma-
tiker hinstellen und auf ihn die unsehge Wissbegierde der Menschen
zurückführen möchte. Abgesehen von der temperamentvollen Veranlagung
Damianis wird diese Verschärfung seines Standpunktes aus dem zu-
nehmenden Ernst der kirchlichen und klösterlichen Reform herzuleiten
sein, vielleicht auch aus einer zunehmenden Abneiguug und Opposition der
Repräsentanten dieser Disziplinen gegen das Schriftstudium. Einen tiefer
liegenden Grund seiner ablehenden Haltung gegenüber der Vernunft-
wissenschaft verrät Damiani aber in seiner berühmten Schrift De divina
omnipotentia ').
*) S. J. A. Endres, Petrus Damiani und die weltHche Wissenschaft,
Münster 1910, 16 fT. (Beiträge zur><ieschichte der Philosophie des Mittelalters,
Bd. VIII, Heft 3).
Die Realisierung.
Von Dr. A. Gemelli 0. F. M. in Mailand.
Ein philosophisches System, das zu irgend einer Zeit imstande ist,
eine grosse Schar von Anhängern um sich zu sammeln, ist immer von
tausenderlei Gedankenströmungen der verschiedensten Art vorbereitet, die
sich nach und nach den Geistern mitteilen, ihr Denken beeinflussen und
so den Boden vorbereiten, in dem dann die zukünftige Lehre sich ent-
wickeln und siegreich durchsetzen kann. Wer auch nur oberflächlich das
Auftreten des Idealismus in seinen extremsten Formen studieren wollte,
würde ohne Schwierigkeit den Spuren der zahlreichen Tendenzen begegnen,
die die Geister der Gegenwart bestimmt haben, ihn mit so unbegründetem
Enthusiasmus zu umfassen. Man kann sagen : angefangen von der Theorie
über die primären und sekundären Eigenschaften der Körper, die lehrt,
dass das Subjekt nicht eine leere Form ist, die darauf wartet, in sich das
Objekt aufzunehmen, sondern dass sie vielmehr dieses a priori determiniert,
bis herab zu den modernen Systemen, die die Realität nicht mit dem be-
griffliehen Gedanken und auch nicht mit den wissenschafthchen Formeln
erfassen wollen, sondern mit der intuitiven Beschauung des Künstlers oder
mit der Hingabe des Mystikers, war alles ein ununterbrochenes Aufeinander-
folgen von Begriffen, die die neuerlichen Triumphe des Idealismus be-
günstigt haben.
Dieser Idealismus stellt uns heute vor ein Problem, an dem niemand
vorübergehen kann, dem jeder Studierende gegenübertreten muss, das
Problem, das in seinem neuesten Werke Oswald Külpe „das Problem der
Realisierung"*) nennt. Es bezieht sich einerseits auf die Setzung, die
Existenz einer Realität, die nicht identifiziert werden kann mit den Zu-
ständen unseres Selbstbewusstseins und unserem Denken, andererseits auf
die Bestimmung, das Wesen der Realität selber. Es ist ein verwickeltes
Problem, das bei näherem Zusehen uns vier Fragen zur Beantwortung vorlegt:
1. Ist die Existenz von etwas Realem annehmbar? Nein, ant-
wortet der Konszientialismus, der subjektive Idealismus, nach welchem man
sich in das Reich der Phantasie und grundloser metaphysischer Spekulationen
') Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften.
Von Oswald Külpe. Erster Band. Leipzig 1912, Hirzel. 8". X und 257 S.
A. Gemelli, Die Realisierung. 361
verliert, wenn man sich nicht auf unmittelbare vom Selbstbewusstsein ge-
gebene Tatsachen, auf sinnliche Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle,
Gedanken beschränkt. — Nein, antwortet auch der objektive Idealismus,
der keine Unterscheidung zwischen realen und idealen Objekten zulässt
und der leugnet, dass der Gedanke, der alles hervorbringe, in mancher
Beziehung von den äusseren Objekten abhängig ist.
2. Falls der Idealismus Unrecht hätte, wie ist dann die Setzung
von Realem möglich? Welchen Wert haben die Argumente des
Realismus ?
Wenn auch der Realismus auf diese beiden Fragen eine erschöpfende
Antwort geben könnte, so würden sich doch sofort zwei weitere Fragen
aufdrängen :
3. Ist eine Be Stimmung von Realem zulässig? Kant und im
allgemeinen der Phänomenaiismus will, dass wir uns damit genügen lassen,
zur Existenz des Noumenon zu gelangen, das Wesen der Realität wird uns
immer unbekannt bleiben.
4. Im Falle, dass die Aufstellungen Kants unbegründet wären, w i e
ist dann ein Bestimmen von Realem möglich?
Eine Antwort auf all diese Fragen zu geben, ist die Aufgabe, die sich
Külpe stellt in einem Werke, das er seit langem geplant, und das vier Bände
umfassen soll, entsprechend den vier Problemen. Bis jetzt ist nur der erste
Band erschienen, vorbereitet durch jahrelange Denkarbeit.
Das hohe Genie, die Gedankentiefe und der wohlbekannte wissen-
schaftliche Ernst des berühmten Professors der Psychologie an der Uni-
versität zu Bonn laden uns ein, im weiten Umfange nochmals die detaillierte
Diskussion und die ins einzelne gehende Analyse autzunehmen, die er be-
züglich der vom Konszientialismus und vom objektiven Idealismus für ihre
These vorgebrachten Beweise anstellt. Külpe befasst sich nicht damit, die
positiven Gründe zu prüfen, die uns zum ReaHsmus führen müssen (das
wird Gegenstand des zweiten Bandes sein) : er begnügt sich für jetzt damit,
eine Verteidigungsstelluug einzunehmen : durch Abschlagen der gegnerischen
Angriffe sucht er, wenn auch nur rein negativ, die Festigkeit ^der realisti-
schen Position zu zeigen.
I. Die Evidenz der inneren Wahrnehmung.
Die positive Stütze des Konszientialismus ist die Evidenz der inneren
Wahrnehmung; angefangen von den Kyrenaikern bis zu den Skeptikern,
von Descartes bis zur modernen Philosophie, wurde sie stets als die einzige
Stütze der Erkenntnisgewissheit betrachtet. Nun können aber nur die
Tatsachen des Bewusstseins sich jener Evidenz rühmen. Nur sie allein
können also gewiss sein; wir müssen uns an sie halten und uns nicht in
das Reich des Transzendentalen verlieren.
Um diesen ersten Einwand zu prüfen, untersucht Külpe in sehr ein-
gehender Analyse die Bedeutung und Tragweite der Selbstgewissheit des
362 A. Gemelli »
Bewusstseins und erörtert darauf die Beziehung zum Problem der Wirk-
lichkeit.
Bezüglich des ersten Punktes müssen wir gegenüber den Ergebnissen
der modernen Psychologie vom Gedanken sagen, dass die Evidenz der innern
Wahrnehmung auf sehr bescheidene Grenzen reduziert worden ist. Sie ist
vor allem ein subjektiver Eindruck, abhängig von den besonderen Verhält-
nissen des Subjektes und beschränkt auf dieses. Sie hat also nicht den
Charakter einer objektiven Erkenntnis, sie irrt sogar häufig, und sie kann
auch keine universale Geltung beanspruchen. Ausserdem kann sie nur ein
Erlebnis wahrnehmen, das unmittelbar gegenwärtig ist: eine Gewissheit,
die sich auf die Erinnerung stützt, ist stets minder sicher und ist im
höchsten Grade subjektiven Einflüssen unterworfen. Dazu kommt noch, dass
die Gewissheit sich nur auf zwei Bewusstseinsstufen findet, nicht auf den
anderen, deren Existenz durch neuere Experimente nachgewiesen worden
ist. Endlich ist zu beachten, dass, so sehr ich auch darüber gewiss sein
kann, eine innere Erfahrung gehabt zu haben, ich mich doch oftmals in
Verlegenheit befinde und selbst oft irre, wenn es sich darum handelt, sie
in all ihren detaillierten Umständen zu beschreiben. All das beweist, dass
die Evidenz der äusseren Wahrnehmung nicht eine absolut sichere Grund-
lage für die Erkenntnis, dass sie kein Kassationshof ist, vor dem weder
Fragen noch Zweifel zulässig wären.
Was den zweiten Punkt angeht, nämlich die Beziehung der Selbst-
gewissheit des Bewusstseins zum Problem der Realität, so behaupten die
Konszientiaüsten, dass wir hinter den Tatsachen des Bewusstseins kein anderes
Objekt suchen dürfen. Sich stützend auf die Theorie von Beneke und Wundt,
die im Gegensatze zu Kant vom Felde der Psychologie die Unterscheidung
zwischen Phänomen und Ding an sich verbannt haben, behaupten sie, dass
wir unsere Erlebnisse so wahrnehmen, wie sie in sich sind: die Evidenz
der Wahrnehmung ist ihre psychologische Verwirklichung. Und diese
Evidenz, sagen sie weiter, ist der einzige Weg, der zum Realen führt : daher
ist die einzige Realität die des Bewusstseins. Diese Bemerkungen sind
nach Külpe von Grund aus falsch.
Beneke und Wundt haben zugleich, der erste mit der Bejahung der
Seele, der andere mit seiner voluntaristischen Metaphysik, die psycho-
logische Realisierung jenseits und ausserhalb der Wahrnehmungsgewissheit
gesucht. Diese ist niemals eine sichere Garantie für ihre Wirklichkeit:
es ist weder notwendig, dass das Reale mit Evidenz umfasst wird, noch
auch, dass das evident Wahrgenommene real ist. Die moderne Psychologie
bemüht sich mit wachsendem Erfolge, festzustellen, z. B. in der Empfindungs-
lehre, was den Empfindungen in sich genommen zukommt und was unsere
Auffassung in sie hineinträgt. Die Evidenz der Wahrnehmung ist unfähig,
das zu tun, und überhaupt im allgemeinen die Scheidung zwischen Gegen-
stand und Auffassung vorzunehmen. Hierzu ist eine schwierige Unter-
Die Realisierung. 363
suchung notwendig, die namentlich nach Anwendung von Experimenten
zahlreiche und interessante Resultate zu Tage gefördert hat. Einer ähn-
lichen wissenschaftlichen Untersuchung müssen wir vertrauen, eher als der
intuitiven Methode Bergsons, wenngleich auch sie ein Beweis dafür ist, dass
die einfache Wahrnehmung, trotz ihrer Evidenz, nicht eine hinreichende
Garantie für die psychische Realität ihres Objektes ist.
Hieraus ersieht man, wie falsch die Methode ist, die innere Wahr-
nehmung als Modell und Typus einer jeden Verwirklichung aufzufassen:
nicht allein ihre Evidenz wird schon beschränkt durch die Psychologie
selber, wie wir sahen, sie hat auch in sich selber nicht die Macht zur
Verwirklichung. Wenn sie gegenüber der äusseren Wahrnehmung Vorteile
aufzuweisen hat, so hat sie doch auch Nachteile, denn bei jener ist es
sehr leicht, zu bestimmen, ob wir es mit realen Objekten oder mit sub-
jektiven Gemütsbewegungen zu tun haben, bei dieser hingegen ist es schwer,
zu erkennen, was die Fähigkeit des psychologischen Subjektes und die
Wahrnehmung zur Erscheinung ihres Objektes beitragen.
Das erste Argument des Konszientialismus verliert also viel von seiner
Bedeutung. Es beweist, dass Erfahrung der Ausgangspunkt und die letzte
Grundlage der Realisierung ist, sodass man behaupten kann: ohne Wahr-
nehmung keine Realisierung. Das soll aber nicht besagen, dass die Wahr-
nehmung ihre einzig mögliche Form ist, noch auch, dass das Vorhandensein
eines Objektes im ßewusstsein es damit schon real mache ; die Beschränkt-
heit der Wahrnehmung, als Folge der natürlichen UnvoUkommenheit unserer
Organanlagen, verlangt, dass wir in den Realwissenschaften uns niemals mit
ihren Angaben und ihren Bestimmungen begnügen dürfen.
IL Die logischen Schwierigkeiten der Transzendenz.
Polemische Ergänzung des Konszientialismus ist der Kampf gegen die
Transzendenz, ein Kampf, der drei Formen annimmt :
a) Der Gedanke an ein nicht gedachtes Objekt ist absurd. Wie konnte
doch Berkeley in seinen Principles of Knowledge und in den Dia-
logues between Hylas and Philonous sich fragen und wie kann
man nur sich vorstellen, dass ein Ding, das man denkt, existieren
kann, ohne gedacht zu werden? Ist das Objekt des Gedankens, fährt
Schuppe in seiner Erkenntnistheoretischen Logik fort, nicht etwa
nach seinem eigentlichen Begriffe nur ein Inhalt des BewusstseinsV
Diese Einwände hätten einen Wert, wollte man den Gedanken mit den
Wahrnehmungen und den Vorstellungen gleichsetzen: dann freilich läge
ein Widerspruch im Denken an ein Objekt, das kein Gedanke wäre, wie
ein Widerspruch liegen würde in der Wahrnehmung von Farbe, die keine
Wahrnehmung wäre. Sicherlich ist es unmöglich, dass ein Objekt zu einer
Zeit gedacht oder nicht gedacht wird, aber das sagen wir auch nicht; wir
sagen bloss, dass das Objekt, das gedacht wird, nicht ein blosser Gedanke
364 A. Gemelli.
wird. Es bleibt, was es ist, und das Denken an dasselbe ändert durchaus
nichts an seinem Wesen. Derselbe Gegenstand, z.B. ein Haus, das ich
und ein Architekt sehe, bringt zwei ganz verschiedene Gedankeninhalte
hervor. Der Gedanke steht also nicht im Verhältnisse von Identität oder
Gleichheit mit dem Objekte und noch weniger mit der Vorstellung; kann
es doch, wie die moderne Denkpsychologie bewiesen hat, Gedanken geben
ohne Bilder.
b) Es ist etwas Widersprechendes, sagen die Gegner, der Gedanke an
einen Gegenstand, der unabhängig wäre vom Denken. Wenn ein Objekt
gedacht wird, hängt es ab vom Gedanken, darum kann es nicht von diesem
unabhängig sein.
Wenn wir die Unabhängigkeit eines gedachten Objektes vom Gedanken
behaupten, dann wollen wir nur sagen, dass die Existenz, die Eigenschaften
und die Veränderung des Objektes nicht an die entsprechende Existenz,
die Eigenschaften und Veränderung des Gedankens gebunden sind. Die
Beweisführung der Gegner, bemerkt Liebmann in seiner Abhandlung Zur
Analysis der Wirklichkeit, ähnelt jener anderen: Wenn ein Gegen-
stand sich widerspiegelt, hängt es vom Spiegel ab ; also kann er nicht von
diesem unabhängig sein und nicht ohne jenen existieren.
Um aber die Schwierigkeit völlig zu beheben, ist daran zu erinnern,
dass es Fälle gibt, in denen ein Objekt unabhängig vom Gedanken existiert.
Dass ein solcher Fall für die Bewusstseinsinhalte zutrifft, haben Freytag
(Der Realismus und das Transzendenzproblem) und Husserl
(Logische Untersuchungen) bewiesen. Zur Bestätigung würde es
genügen, darauf hinzuweisen, dass die mathematischen Grössen und Zahlen
ihre festen Relationen haben und dass die Begriffe und Urteile der Logik
ihre Gültigkeit behalten, anch wenn sie nicht gedacht werden. Und dann,
ist es etwa nicht wahr, dass die Objekte, über die man nachdenkt,
gleich bleiben während der verschiedenen logischen Operationen und der
verschiedenartigsten wissenschaf (liehen Schlüsse? Ist das nicht ein Beweis
dafür, dass das Objekt, wenn es gedacht wird, vor dem Gedanken jene
Unabhängigkeit bewahrt, die das Grundprinzip der Logik und der Wissen-
schaften ist?
c) Die logische Schwierigkeit des Realismus kann endlich eine andere
Form annehmen. Rickert hat in seinem Werke Der Gegenstand der
Erkenntnis geschrieben: all das, was für mich existiert, steht imter
der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewusstseins zu sein. Mit
welchem Rechte wird ein Objekt angenommen, das nicht Tatsache des
Bewusstseins ist? Die Transzendenz hätte nötig bewiesen zu werden, um
nicht eine willkürliche und wissenschaftlich unzulängliche Hypothese zu
sein. Für Rickert, den Verfechter des Immanenzstandpunktes, sind alle
Objekte Tatsachen des Bewusstseins, dieses ist eine Wahrheit, die un-
Die Realisierung. 365
mittelbar evident ist, und auch die Einzelwissenschaften fassen die Reali-
täten als Inhalt des Rewusstseins.
Nun ist das letztere aber falsch. Nicht allein die Metaphysik be-
trachtet Gott, die Nomaden usw. als eine Realität, die unabhängig ist von
den Bewusstseinsinhalten, sondern auch die andern Wissenschatten, von
der Physik bis zur Psychologie, betrachten die Gegenstände der Natur,
des psychischen Lebens oder der Geschichte als unabhängig von dem In-
halte des Rewusstseins. Der Idealismus Rickerts Hesse sich so fassen : alle
Objekte, alle Realitäten der Wissenschaften sind Bewusstseinsinhalte, sofern
sie gewusst werden, oder: Sofern etwas gewusst wird, wird es gewusst.
Man sagt, der Realismus sei eine willkürhche Behauptung : tür die
Setzung eines Realen gebe es keinen hinreichenden Grund. Wir können
hier nicht die positiven Argumente für den Reahsmus anführen, aber ab-
gesehen von der Tatsache, dass die These, die das ganze Sein auf das
Sein des Rewusstseins zurückführt, willkürlich und dogmenhaft ist, bemerken
wir, dass die Himmelskörper ihren Lauf nehmen, auch wenn sie nicht
gewusst werden, dass das Ei nach der Befruchtung sich entwickelt auch in
den Zeiträumen, in denen kein Rewusstsein an dasselbe denkt. Diese
Kontinuität der Entwicklung, wofür man tausenderlei andere Beispiele an-
führen könnte, ist ein Beweis dafür, dass das Objekt nicht identisch ist
mit dem Bewusstseinsinhalt.
III. Das tatsächliche Gegebensein aller Gegenstände im
Bewusstsein. Aber der Konszientialismus beruhigt sich noch nicht und
sucht sonderbarerweise den Kampf gegen die Transzendenz zu führen,
indem er im Namen der Erfahrung kämpft. Dass der Erkennende nur die
Bewusstseinsinhalte und nichts anderes zur 'Verfügung hat, ist die einfache
Konstatierung einer Tatsache. Hier teilen sich die Konszientiahsten in zwei
Richtungen : die einen verteidigen den Solipsismus, wonach das Bewusstsein,
dem alle Objekte der Erkenntnis angehören, das individuelle und persönliche
Bewusstsein der einzelnen Subjekte ist. Die anderen hingegen verstehen
unter Bewusstsein entweder die Erlebnisse oder die Auffassungsweise des
Subjektes : das ist der Immanenzstandpunkt. Sehen wir uns die Schwäche
der einen wie der anderen Auffassung an.
a) Niemals wurde energischer als bei von Schubert-Soldern (in seinen
Grundlagen einer Erkenntnistheorie) die Idee ausgesprochen, dass
alle Objekte der Erkenntnis nichts anderes sind, als Inhalte meines Be-
wusstseins, und dass wir in den Grenzen von diesem bleiben müssen. Der
Solipsismus wäre also eine evidente Tatsache , die nicht einmal bewiesen
zu werden brauchte. Von Schubert-Soldern ist nicht logisch : mit der Fest-
stellung der Tatsache, dass alles, was ich denke, ein Bewusstseinsinhalt ist,
ist nicht die Unmöglichkeit von Objekten bewiesen, die nicht gedacht werden.
Empirisch ist weder Unmöglichkeit noch Notwendigkeit gegeben.
366 A. Gemelli.
Ausserdem löst sich, wie schon Gaetschenberger und vor allem Herbart
in seiner Polemik gegen den Idealismus von Fichte bemerkt haben, der
Solipsismus in eine unendliche Reihe auf. Wenn alle Objekte der Er-
kenntnis Erfahrungen meines Bewusstseins sind, so ist es auch dieses
zweite Urteil und so fort bis ins Unendliche. Uebrigens, von welchem Be-
wusstsein spricht man dennV Ist es logisch, von meinem Bewusstsein zu
reden, wenn nicht andere vorausgesetzt oder angenommen werden, und
ich so aus den Grenzen meines Bewusstseins hinausgehe?
Der Solipsismus treibt Spiel mit dem Worte „Bewusstsein", indem er
es in einem doppelten Sinne gebraucht. Wenn dieses Wort die subjektiven
Erlebnisse, das Seelenleben des Subjektes bezeichnen soll, so irrt der
Solipsismus, denn die psychischen Vorgänge bilden ja nur einen Teil
der Erfahrung und der erkannten Objekte, gar nicht davon zu reden, dass,
falls sie die ganze Erfahrung und alle erkannten Objekte darstellten, wir
dann von ihnen aussagen müssten, was wir von diesen aussagen : wir
miissten dann auch ihnen die Kristallisierung, die Zellenscheidung, den
Planetenlauf usw. zuschreiben können. Nimmt man aber das Wort ,, Be-
wusstsein" in einer anderen Bedeutung und will man sagen, dass alle Ob-
jekte der Erkenntnis erkannt werden müssen, dann hat der Solipsismus
Recht. Aber diese sehr einfache Wahrheit besagt nicht, was und von
welcher Art die Objekte sind, wenn sie nicht gedacht werden.
Es irren also jene, die einen Sohpsisten für unwiderleglich halten oder
die mit Schopenhauer als einziges Mittel der Widerlegung seine Ueber-
führung in eine Irrenanstalt betrachten ; nein, der Solipsismus treibt Spielerei
mit dem Doppelsinn eines Wortes, sodass wir eine quaternio terminorum
haben würden, wollten wir seine Beweisführung in syllogistische Form
kleiden.
b) Kommen wir dann zum Standpunkte der Immanenz und lassen wir
Rickert, dem wir schon geantwortet haben, beiseite, so begegnen wir Ernst
Mach und Richard Avenarius. Diese lehren, der erste in seinen Bei-
trägen zur Analyse der Empfindungen und in Erkenntnis
und Irrtum, der andere in der Kritik der reinen Erfahrung,
dass physisch und psychisch Reflexionsbegriffe sind, dass aber das Gegebene
weder physisch noch psychisch ist ; der Standpunkt der Immanenz besteht
gerade im Nicht-Ueberschreiten der reinen, primitiven, ungeteilten Erfahrung.
Die reine Empfindung (Sensation) gibt uns die nicht von praktischen
Zwecken gefälschte Kenntnis von der Wirklichkeif.
Die äussere Form, das Bild, die natürliche Kopie, die wir uns von der
Welt machen, bemerkt Külpe gegen diese Auffassung des Erfahrungs-
kritizismus, ist nicht die reine Erfahrung, sondern eine getrübte und in
tielfacher Weise modifizierte Erfahrung. Denn sie ist nicht frei von Zu-
sätzen aus früheren Erfahrungen, von Handlungen, die ihre Eindrücke ändern,
von begrifflichen Voraussetzungen. Darum ist vor allem eine reinigende
Die Realisierung. 367
Untersuchung notwendig, und die Experimentalwissenschaften tun gut daran,
sie vorzunehmen, um ihren Ausgangspunkt zu gewinnen. Dann wenden
sich die Wissenschaften nicht auf die ganze Tatsache, sondern nur auf einen
Teil, nach verschiedenen Richtungen; die reine Erfahrung wird daher ab-
hängig von einem bestimmenden Gesichtspunkte. Die Empfindungen sind
der Psychologie überlassen und werden nicht von den Naturwissenschaften
betrachtet. Die Naturgesetze als Empfmdungsgesetze betrachten, ist ein
Verfahren ähnheh jenem eines Psychologen, der das Seelenleben der
andern Menschen für einfache Inhalte seiner Wahrnehmung halten wollte,
oder dem eines Historikers , der ein gefundenes Dokument für einen
blossen Eindruck des Sehvermögens betrachtete. Freilich, auch das fremde
müsste logischerweise vom Empiriokritizismus geleugnet werden ; wenn
Avenarius es doch annimmt, so tut er das im Widerspruch zu seinem
Immanenzstandpunkte.
Es ist so wenig wahr, dass die Sinnesinhalte das einzige Erkennungs-
mittel sind, dass z. ß. den empirischen Wissenschaften nichts an der
spezifischen Eigenschaft des mit den Sinnen Wahrgenommenen liegt: die
Sinneswahrnehmungen werden nicht wegen ihrer Eigenschaften der Aus-
gangspunkt für die Wissenschaften, sondern wegen gewisser Relationen und
Beziehungen, die man an ihnen wahrgenommen, wegen der Unabhängigkeit
ihres Gehens und Kommens, ihres Bleibens oder ilirer Veränderung, ihrer
Trennung oder Vereinigung. In all diesen iVIomenten spricht sich eine
Abhängigkeit von Objekten aus, die nicht mit uns identisch sind. Wären
die Vorstellungsinhalte so veränderlich und frei von allen Gesetzen, so
könnten sie nicht der Ausgangspunkt für wissenschaftliche Beobachtungen
werden. Nicht die Sinneswahrnehmungen, sondern die Wirklichkeit der
Natur ist das Kriterium der Wissenschaft.
Die Immanenztheorie könnte aber daran festhalten, dass diese Realitäten
der Natur nichts anderes sind als Gedanken und Begriffe : jede Kenntnis
der Natur, sagt Mach, ist eine Anpassung der Gedanken an Tatsachen, und
wir sehen dabei von der nebenher anerkannten Anpassung der Gedanken
aneinander ab. Begriffe und wissenschaftliche Theorien sind sämthch nur
provisorisch, nützlich für die Praxis; die Empfindungen allein sind das
Unabhängige, wonach wir unsere Gedanken richten müssen : ihre Analyse
und ihre Kenntnis bilden das erste Erfordernis des Forschers, der wirk-
lich empirisch vorgehen will.
Wer in solcher Weise spricht, vergisst, dass die Gedanken, die in An-
passung an Sinneswahrnehmungen gebildet sind, ein ganz anderes Objekt
haben als jene Sinneseindrücke. Die Naturwissenschalten handeln nicht
80 sehr von Farben, Tönen, von Temperaturwahrnehmungen, sondern vom
Aether, von der Materie, von Schwingungen, Elektronen usw. Wie bringt
Mach es fertig, zu erklären, dass die Gedanken nichts anderes sind als eine
368 A. Gemelli.
Nachbildung der Sinnesempfindungen, während sie doch gar nicht von
diesen handeln?
Man wird sagen, dass diese logischen und wissenschaftlichen Kon-
struktionen, die Materie, die Elektronen usw. blosse Begriffe sind, bequeme,
wenn man will, aber keine wahren. 0 nein ! es ist nicht der Gedanke,
sondern die Realität, die uns sagt, welches die Zusammensetzungen der
Kohlensäure sind, die uns unterweist, mit welcher Geschwindigkeit das Licht
sich bewegt usw. Damit jener Einwand Sinn habe, müsste man die realen
Objekte mit den idealen gleichsetzen ; aber wie würde dann zu erklären
sein, dass die realen Objekte nur mit Halte einer schwierigen Beobachtung
von Tatsachen erkannt werden können ? und wie kommt es, dass der Wert
des Gedankens über sie nicht bloss eine immanente Grundlage hat,
sondern von der Erfahrung bedingt ist?
Wir ziehen also den Schluss, dass der Solipsismus und die Immanenz
keine Tatsachen, sondern nur ungenügende Theorien sind, unbewiesene
Behauptungen, die im Widerspruch stehen mit den Real Wissenschaften.
IV. Die abstrakte Natur jeder Realität. Die Abstraktionen
— so lautet eine andere Idee des Konszientialismus — existieren nicht.
Nun müsste es aber, wenn es etwas Reales gäbe, auch etwas Abstraktes
geben, eine allgemeine Idee. Also existiert das Reale nicht.
Berkeley mit seiner Theorie der abstrakten Begriffe ist einer der Ver-
fechter dieser Schwierigkeit ; die englische Philosophie vor allem stellt,
nachdem sie den Gedanken nach dem Muster von Sinneseindrücken und
Vorstellungen behandelt hat, folgenden Schluss an: Die abstrakte Idee ist
etwas, was man sich nicht vorstellen kann ; also ist sie noch weniger denkbar.
Ganz abgesehen von dem Nachweise, den die moderne Psychologie
von der Denkbarkeit einer freilich nicht mit sinnlichen Bildern vorstellbaren
Materie gehefert hat, die weder warm noch kalt, weder schwer noch leicht,
weder hell noch dunkel, sondern nur räumlich bestimmt ist; abgesehen
davon, dass die abstrakte Idee nur für den naiven Realismus, nicht
für den kritischen Realismus, etwas Unverständliches und Widersprechendes
sein wird, zeigt sich in klarer Weise die Unzulässigkeit des Vorgehens
Berkeleys, wenn man unterscheidet zwischen Gedanke und Objekt.
Warum kann die Kenntnis der Objekte nicht unbestimmt und allgemein
sein, ohne dass die Objekte die gleiche Eigenschaft haben? Es kommt
hinzu, dass auch für den Naturforscher die Objekte nicht blosse Abstraktionen
oder Allgemeinheiten sind ; der Biologe z. B. pflegt als real nicht die Arten
und Gattungen, sondern die Individuen zu betrachten. Wir können zuweilen,
wenn wir von einer realen Seite abstrahieren, uns auf eine andere nicht
weniger reale Seite beschränken. Die allgemeinen Gesetze der Naturwissen-
schaften können immer durch die Wahl gev/isser Konstanten auf ein be-
stimmtes Objekt angewandt werden. Und wie im übrigen der Astronom
Die Realisieiunt'-. 369
'o
einen Himmelskörper studiert, so kann jedes Naturobjekt als ein Gegen-
stand für sich allein betrachtet werden. Wollte man die Existenz von
realen Objekten leugnen, bloss weil sie mit Hülfe von Abstraktionen ge-
wonnen wurden, so müsste man auch die Begriffe der Logik und die
geometrischen Figuren verwerfen.
In keiner Weise hat man das Recht, den realen Objekten den Anspruch
auf Konkretheit und Individualität zu versagen. Andererseits ist das
Leugnen jeden Wertes einer abstrakten und allgemeinen Erkenntnis gleich-
bedeutend mit dem Leugnen aller Wissenschaften.
V. Der empirische Gehalt der Gedanken transzendenter
Gegenstände. Untersuchen wir nun die Theorie Humes. Die Ideen
können nach Hume nicht mehr enthalten, als in den sinnlichen Eindrücken
gegeben ist, da sie ja aus diesen entstehen; folglich muss aus den Be-
griffen Substanz, Kausahtät, Aussenwelt alles entfernt werden, was nicht
aus den ursprünglichen Gegebenheiten des Bewusstseins abgeleitet werden
kann. Soviel über den Inhalt der Gedanken. Bezüglich ihrer Anwendung
ist zu sasjen : Die Gedanken können sich nur an Realitäten anlehnen, die
vom ßewusstsein vorgestellt werden können, da sie ja in diesen ihren
Ursprung nehmen.
Wir haben schon wiederholt, dass der Gedanke sich wesentlich von
den Sinneseindrücken und den Vorstellungen unterscheidet, nicht bloss weil
es Gedanken gibt ohne Bilder, nicht bloss weil er zum Unterschied von jenen
sich von seinem Gegenstande unterscheidet, sondern auch, weil er sich
viel weiter ausdehnt als die Einbildungsvorgänge. Wegen dieser Ideen
ohne Bilder ist das alte Axiom unhaltbar: Nihil est in intellectu
quod prius non fuerit in sensu. Selbst wenn man einen Ursprung der
Gedanken aus Empfmdungnn annehmen würde, so würde das doch nicht
eine quahtative Gleichheit des Gedankens und des Vorstellungsinhaltes
bedeuten.
Noch einmal: Das Vorgehen des Empirismus beweist nicht die Un-
mögUchkeit eines nicht empirischen Inhaltes der Gedanken. Er will, dass
jeder Gedankeninhalt abgelehnt werde, der sich nicht auf Sinneseindrücke
zurückführen lässt; aber das ist nur ein ungerechtfertigtes Verbot; gehen
denn die Analogie und die wissenschaftliche Induktion nicht über die Er-
fahrung, und zwar mit Nutzen, hinaus?
Was dann die zweite Frage angeht, wird man gut tun, daran zu er-
innern, dass die Begriffe nicht bloss angewandt werden können auf jenes
Gegebene, von dem sie herstammen. „Niemand wird behaupten -wollen, dass
die Zahlen, weil sie zunächst von Fingern und Zehen ihren Ursprung
genommen haben, auch nur auf diese Gegenstände angewandt werden
dürfen". Die Wissenschaft liefei't in zahlreichen Fällen den Nachweis, wie
willkürlich jene Beschränkung ist. Im allgemeinen sodann kann und muss
Philosophisches Jahrbuch 1913. 24
370 A, Gemelli,
man behaupten, dass, wenn unsere Gedanken neben der Wahrnehmung
einen Sinn und Wert haben sollen, sie auch einen selbständigen Inhalt
und eine unabhängige Funktion haben müssen.
VI. Die Transzendenz und das Ideal der Wissenschaft.
Selir sonderbar ist der Versuch, im Interesse und Namen der Wissenschaft
zu kämpfen.
Die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen sich durch Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit auszeichnen. Nun kann
aber die Annahme transzendenter Objekte diese Merkmale nicht haben.
Ii;re Existenz ist eine blosse Hypothese, unwürdig der ernsten Strenge
der Experimental-Wissenschaften. Die Antwort ist leicht: nicht alles in
der Wissenschaft hat die oben beschriebenen Eigenschaften. Wenn das
wäre, so hätten wir eine durchaus vollkommene Wissenschaft; jedermann
aber weiss, wie viele Lücken sich in den verschiedenen Zweigen der
Wissenschaft finden. — Man wird vielleicht sagen, dass hier immer die
Möglichkeit eines Fortschrittes gegeben ist. während ein solcher nach dem
Beweis der realen Existenz des Transzendenten hin nicht möglich sei.
Auch das ist falsch: nicht nur, dass der Empirismus nicht die Un-
möglii-hkeit eines solchen Nachweises dartun kann, auch im Bereiche der
Realisierung gibt es einen Fortschritt und eine Entwicklung: Das, was an-
fänglich eine Supposition war, kann dann eine wohlbeachtenswerte wissen-
schaftliehe These werden ; von den Atomen Demokrits kann man
hinüberkommen bis zur modernen Atomistik. Und, um nichts anderes zu
sagen, waren die grossen Forscher nicht etwa Realisten? Hätten sie viele
ihrer Entdeckungen gemacht, wenn sie sich auf einen konszientialistischen
Standpunkt gestellt hätten? Wann ist jemals der Realismus für das Ideal
der Wissenschaft ein Hindernis gewesen?
VII. Das Prinzip der Zweckmässigkeit und die Trans-
zendenz. Das Zweckmässigkeitsprinzip, bemerkt in einem andern Einwand
Mach, herrscht unbestritten in der Wissenschaft, die ihr Ziel auf dem
kürzesten Wege und mit dem geringsten Kraftverbrauch erreichen muss.
Alle überllüssigen Voraussetzungen müssen unnachsichtlich ausgeschieden
werden. Dahin gehören aber die transzendenten Objekte.
Verständigen wir uns zunächst gnt über das Sparsamkeitsprinzip: zur
Erreichung eines gesteckten Zieles muss man die am wenigsten kost-
spieligen Mittel wählen : sehr gut. Die ganze Frage hängt also vom Ziele
ab: es muss entschieden werden, ob dieses das Ziel der Wissenschaft ist:
eine Nachbildung von Tatsachen in Gedanken zu sein, oder jenes, die
objektive Realität zu erkennen. Bei dieser zweiten Möglichkeit würde das
genannte Prinzip nicht das Transzendente ausschliessen.
Es wäre auch interessant, zu erfahren, wie wir uns vom konszientia-
lisli?chen Standpunkte aus das Gesetz der Schwerkraft vorstellen müssen;
Die Realisierung. 371
oder welche zukünftige Naturwissenschaft von ihm abgeleitet werden kann.
Vorläufig ist die moderne Naturwissenschaft von realistischen Voraus-
setzungen beherrscht. Auch in unserem praktischen Leben sündigen wir
eher durch Uebertreiben des Reahsmus , indem wir auch die Sinnes-
qualitäten als reale Beschaflenheiten auffassen. Die konszientialistische
Auffassung würde eine sehr unbequeme und umständliche Redeweise mit
sich bringen.
Uebrigens muss die Existenz des Transzendenten mit dem Kriterium
der Wahrheit, nicht der Bequemlichkeit, bewiesen werden.
VIII. Psychologie, Metaphysik und Geisteswissenschaften.
Das letzte Bollwerk des Konszientialismus ist die Psychologie. Diese ver-
zichtet auf alle Transzendenz und treibt uns so an, ein gleiches auch in
den andern Wissenschaften zu tun.
Indem der Verfasser diesen letzten Angriff abschlägt, kommt er zum
Resultat, dass, so verschieden auch das Kriterium der Realisierung in
der Psychologie und den Naturwissenschaften sein mag, jene sowohl wie
diese in gleicher Weise realisieren.
Schliesslich untersucht Külpe die Beziehungen des KonszientiaHsmus
zu den Geisteswissenschaften und zur Metaphysik. Für die ersteren, z. B.
für die Geschichte, würde es gleichbedeutend sein mit einem Verzicht auf
jegliche Erkenntnis des Vergangenen : zu sagen, dem Wort Alexander ent-
spreche eine Persönlichkeit, die im 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat,
wäre eine unerlaubte Transzendenz. Das erklärt uns, weshalb sich unter
den Vertretern der Geisteswissenschaften keine Konszientialisten finden.
Was dann die andere (die Metaphysik) angeht, so sucht Külpe zu zeigen,
dass es eine induktive Metaphy.sik gibt, die die einzelnen Realwissenschaften
zusammenfasst, deren Vorgehen keinem andern Gesichtspunkt unter-
liegt, als allein der Methode, die in den Geistes- und Naturwissenschaften
anerkannt und allgemein angewandt wird, nämlich einer Setzung und Be-
stimmung von Realität. Das Vorhaben, die Metaphysik auf die unmittelbare
und intuitive Erfahrung zu gründen, ist eitel und nichtig.
Wir werden dem Verfasser in diesem Teile nicht folgen und auch nicht
in dem grossartigen Rückblick, wo er in Schlachtordnung auf der einen
Seite die Argumente des Konszientialismus aufstellt, die Vorteile seiner
Position, die Nachteile der Transzendenz, und auf der andern Seite die
nach ihm erschöpfenden Antworten, die ihm (dem Konszientialismus) ent-
gegengesetzt werden können. Es ist das ein sehr wohlgelungenes synthe-
tisches Kapitel, bei dem es einem vorkommt, als wohne man einer ge-
waltigen Entscheidungschlacht bei.
IX. Die Schule von Marburg. Der letzte Teil des Buches ist
einem andern Feind des Realismus zugewandt, nämlich dem objektiven
Realismus, speziell der Marburger Schule. Für Cohen und Natorp ist die
24*
372 A. Gemelli.
Mathematik Prototyp aller Wissenschaft; die schöpferische Tätigkeit des
Gedankens ist der Ursprung jeder Erkenntnis; die Objekte der Realwissen-
schaften sind lediglich ideale Objekte; das Gegebene ist nichts weiter als
eine neue Aufgabe, die gelöst werden will: alles ist Gedanke, und der
Gedanke ist in fortwährender Ausgestaltung, in ewigem Fortschritt begriffen.
Unter Hinweis auf das, was August Messer in einem neueren Artikel
in der Internationalen Monatsschrift (März 1912) mit Bezug hierauf
geschrieben, wendet Külpe gegen die Marburger Schule und gegen jeglichen
objektiven Idealismus folgenden Verteidigungsplan an. Er beginnt damit,
dass er die Begriffe, die die Elemente von Vorstellungen bilden, und die
idealen Objekte, die Gegenstand der Untersuchung sind, auseinanderhält.
Sodann will er beweisen, dass nicht jedes Objekt, das in Frage steht, ein
ideales Objekt ist, dass vielmehr die Forschungsmethoden einen wesentlich
verschiedenen Charakter annehmen gegenüber realen und idealen Objekten.
So kommt er zu einer kurzen Prüfung der einzelnen Beweise, die der
Idealismus herbeibringt, um die ersten mit den zweiten identifizieren zu
können, wobei er den idealen Objekten die vorherrschende und dominierende
Stellung zuweist. Wir folgen der übersichtlichen Anordnung des vor-
züglichen Autors :
a. Wir finden nicht, sagt der Idealist, die realen Objekte fertig und
gemacht ; sie müssen bearbeitet werden und erfordern daher, wie die idealen
Objekte, einen Erzeugungsprozess. Ohne Spontaneität des Forschers
können sie nicht gesetzt und bestimmt werden. — Zwischen den einfachhin
gegebenen realen Objekten, erwidert Külpe namens seines kritischen Realis-
mus, und zwischen den (durch das Erkennen) geschaffenen realen Objekten
ist noch Platz für eine dritte Möglichkeit, ein Erfassen der Realität, die
nicht gegeben ist, uns ihre Existenz und ihr Wesen aber durch Gegebenes
offenbart. Nicht das reale Objekt selber, sondern seine Erforschung ist der
Spontaneität überlassen; diese ist ja nicht eine Tätigkeit, die frei schaffen
kann, sondern sie ist begrenzt und geleitet von dem Masse der Erkenntnis
realer Gegenstände.
b. Bei den realen und idealen Objekten ist es immer die Erfahrung^
die ihre Hervorbringung veranlasst. Ohne Raumanschauung wäre wahr-
scheinlich niemals die Geometrie, ohne Dinge, die sich zählen lassen,
niemals die Arithmetik entstanden. — Nein; die Bedeutung der Erfahrung
für die Realwissenschaften ist viel grösser als für die Idealwissenschaften.
Die idealen Objekte der Mathematik sind, nachdem ihre Konstruktion sich
vollzogen hat, unabhängig von der Erfahrung, und keine ihrer Feststellungen
oder ihrer Beweisführungen nimmt ihre Zuflucht zu dieser. Auch in den
Anwendungen passt sie nicht ihre Bestimmungen den Forderungen der
Wirklichkeit an, sondern umgekehrt, sie passt diese letzteren der mathe-
matischen Behandlung an.
Die Realisierung. 373
Gerade das Gegenfeil trifft zu bei den andern Wissenschaften, da bei
ihnen die Erfahrung den Ausgangspunkt bildet, nicht bloss fiir die
Setzung und die Bestimmung der Realität, sondern weil sie auch die
ständige Grundlage und die stete Kontrolle ihrer Ergebnisse ist. Hieraus
sieht man, dass die realen und idealen Objekte nicht nur nicht identifiziert
werden können, sondern dass die Mathematik nicht einmal als Typus aller
Wissenschaften betrachtet werden kann.
c. Man kann auch nicht sagen, dass die Real-Objekte wie die Ideal-
Objekte sich nur denken lassen. Die Frage ist diese, ob diesen gedachten
Objekten eine Realität entspricht, oder ob sie von uns selber herstammen.
Diese zweite MögHchkeit wird ausgeschaltet, wenn man bedenkt, dass unser
Gedanke, weit entfernt von der Möglichkeit, die gewünschten Objekte zu
schaffen, vielmehr von der Erfahrung beeinflusst wird.
d. Der Idealist wendet noch ein, dass die realen wie idealen Objekte
als Abstraktionen, Kombinationen oder Modifikationen gegebener Elemente
betrachtet werden können. Die Gleichheit der hervorbringenden Tätigkeit
scheint die Bildung gleicher Objektsarten mit sich zu bringen. Jene Ab-
straktionen, Kombinationen, Modifikationen unterliegen für die realen Ob-
jekte der Herrschaft bestimmter Kriterien der Reahsierung und werden in
enger Anlehnung an die Tatsachen vorgenommen ; diese Kriterien und dieser
Anschluss hat keine Bedeutung für die Erforschung der idealen Objekte.
Werden diese Operationen aber vorgenommen, sei es für die realen oder
die idealen Objekte, so geschieht es, weil die einen wie die andern
Gegenstände sind; das soll aber nicht besagen, dass zwischen ihnen keine
Unterschiede bestehen: es gibt deren, und die gegenwärtige Diskussion
belehrt uns, dass es tiefgehende Unterschiede sind.
e) Man sagt auch, dass zwischen den Idealwissenschaften, z. B. der
Mathematik, und den Realwissenschaften, z. B. der Physik, so wenig eine
scharfe Grenze besteht, dass man von einer mathematischen Physik reden
kann; ein solch unvermittelter Uebergang von den einen zu den andern
Wissenschaften lässt sich nur dann erklären, wenn die Objekte beider von
derselben Art sind. Die Mathematik kann zur Hülfe herangezogen und so
eine Hülfswissenschaft der Physik werden, aber sie kann nicht etwa die
Beobachtung und das Experimentieren ersetzen und reale Naturvorgänge
aus ihren eigenen Voraussetzungen ableiten. Ihre Verbindung geschieht daher
immer nur gelegenthch aus Zweckmässigkeitsgründen, und die Eigentüm-
lichkeiten der einzelnen Wissenschaften gehen nicht verloren, wenn sie zu-
sammenwirken.
f) Es ist unmöglich — sagt man weiter — etwas Reales anzugeben,
das nicht etwas Ideales enthielte, so zwar, dass die euklidische Geometrie
gut als eine Erfahrungswissenschatt und die Mechanik als Idealwissenschaft
bezeichnet worden ist ; folglich ist die Unterscheidung der zwei Arten von
Objekten illusorisch. — Der Idealist vergisst, welch eine Kluft immerhin
374 A. Gemelli.
zwischen diesen beiden Arten von Objekten bleibt : die Idealwissenschaften
lassen sich bei ihrer Forschung ausschliessHch von den allgemeinen Denk-
gesetzen leiten und sind nicht an die Erfahrung gebunden, sodass sogar
eine nicht euklidische Geometrie möglich ist. Die Naturwissenschaften hin-
gegen stützen sich auf die Erfahrung und wenden die euklidische Geometrie
an. weil die Erfahrung nicht zwingt, darüber hinauszugehen.
g) Aber was gibts dann, ruft Cohen aus, mit der wichtigen Forderung
der Einheit? — Welch ein Missbrauch wird mit diesem Appell an die Ein-
heit getrieben! Die Einheit einer Wissenschaft besteht nicht darin, dass
alle Objekte gleich sind, und noch weniger darin, dass sie stets die gleichen
Methoden anwenden; sie besteht vielmehr in dem Ziel, das sie sich vor-
steckt, und in den Zusammenhängen, die sie findet und begründet. Uebrigens
ist die Differenzierung nicht bloss erlaubt, sondern auch Pflicht. Und wie
es durchaus nicht notwendig ist, dass auf Erden nur entweder Psychisches
oder Physisches existierJ, wie ein materialistischer oder spiritualistischer
Monismus möchte glauben machen, ebensowenig ist es auch notwendig,
dass für unsere Erkenntnis nur ideale Objekte zugelassen werden.
So ist also, schliesst Külpe in einigen Schlussbemerkuugen, auf die erste
Frage, die wir uns in unserem Programm gestellt hatten, nunmehr geant-
wortet. Das Setzen, die Existenz der Realität ist zulässig ; die Einwände
dagegen sind als haltlos nachgewiesen worden.
X. Positiver Teil. Wir sagten schon, dass Külpe in diesem ersten
Bande sich nur mit dem Problem der Realisierung befasst, indem er
die Einwände des Idealismus gegen die Existenz einer vom Gedanken
imabhängigen Realität abweist. Die Lösung anderer Fragen, d. h. den
positiven Teil seiner Erkenntnistheorie, wird er in aufeinanderfolgenden Ver-
öffentlichungen bieten. Wir fmden aber bereits die genaue Ankündigung
und die Richtlinien seiner künftigen Lösungen in einem Vortrage, den er
am 19. September 1910 auf dem 82. Kongress der Naturforscher und
Aerzte zu Königsberg gehalten hat, unter dem Titel: Erkenntnistheorie
undNaturwissenschaft*).
Nach einem Loblied auf das Zusammengehen von Naturwissenschaft und
Metaphysik und nach einem Hinweise darauf, dass in keinem andern Orte
besser als in der Stadt Kants eine solche AUianz feierlich ausgesprochen
werden könne, steckt er sich als Ziel eine kurze Beantwortung der Frage,
wie ein Setzen und Bestimmen des Realen möglich sei.
Jede Erfahrung, führt Külpe aus, enthält Faktoren, die von uns un-
abhängig sind, und die Zutaten, die von der besonderen Veranlagung des
Subjektes bewirkt werden. Die Aufgabe der Realisierung besteht nun
gerade darin, dass sie diese beiden Koeffizienten unserer Erfahrung trennt,
um in ihren Eigenschaften zu finden, was von uns nicht abhängig ist.
') Leipzig 1910, Hirzel, 48 S.
Die Realisierung. 375
Auch der naive Realismus stellt dieses Programm auf; er schreibt aber
diese Unabhängigkeit allem zu, was nicht dem lünflusse unseres Willens
unterliegt. Hingegen hat das Prinzip der Subjektivität der Empfindungs-
qualitäten, das in der modernen Zeit der wissenschaftlichen Forschung
sich aufgedrängt hat, uns belehrt, dass die Empfindungen, wenn sie auch
von unserem Willen unabhängig sind, dennoch von „uns" abhängen, d. h.
von der Veranlagimg unserer Sinnesorgane. Man stellte daher ein neues
Kriterium der Realität auf; die völlige Unabhängigkeit vom Subjekte, das
Versuche anstellt, i.st das Losungswort der objektiven Welt des Naturforschers.
Eine solche Unabhängigkeit lässt .sich nur bei dem abstrakten Gegeben-
sein der Erfahrung feststellen. Aenderungen in Raum und Zeit, das Er-
scheinen oder Verschwinden der Sinnesinhalte, ihre längere oder kürzere
Dauer, ihr Nebeneinander und ihre Aufeinanderfolge, ihre Gestaltung
und Ordnung, das alles verrät zweifelsohne eine Gesetzlichkeit, die
unabhängig von uns existiert. Die abstrakten Beziehungen aber werden
uns unter Inhalten mitgeteilt, die als solche sicherlich von unserer Organ-
A'eranlagung abhängen.
Diesen Inhalten müssen die Empfindungsqualitäten beigezählt werden,
die deshalb kein Recht auf Realisierung haben. Es sind auch nicht, wie
einige wollen, die mechanischen Eigenschaften, Druck, Stoss, Zug, Kraft,
Gewicht, Widerstand, Undurchdringlichkeit, mit einem Worte, die Gefiihis-
und Muskeleigenschaften auszunehmen. Einerseits tragen auch sie in Wirk-
Hchkeit, ähnlich den übrigen, den Stempel unserer psychophysischen Veran-
lagung; andererseits sieht man bei Beobachtung der Ausdrueksweise des
Naturforschers sofort, dass er ganz und gar von solchen Qualitäten abstrahiert.
Druck, Stoss, Zug, Kraft sind nicht an bestimmte Wahrnehmungsinhalte
gebunden : sie werden als vorhanden gedacht auch da, wo eine Mitwirkung
unserer mechanischen Eigenschaften ausgeschlossen ist; jene wissenschaft-
lichen Bestimmungen sind keine Uebertragung von Empfindungsqualitäten
in die äussere Welt. Sie sind daher Begriffe ohne Vorstellungsinhalt, eine
Sache, die nach den Ergebnissen der modernen Psychologie niemanden
Anstoss geben darf.
Die reale Welt des Naturforschers ist also vor allem ein abstraktes
Geschehen, eine Aenderung ohne veränderliches Objekt, eine Bewegung
ohne Beweghches, eine Beziehung ohne die Glieder . . . Und in diesem
Geschehen wird sie von Gesetzen regiert, die, unabhängig von uns, das
bunte Heer unserer Sinneseindrücke regieren und beherrschen.
Daraus ergibt sich die Erfahrung und der Gedanke. Es gibt keine rein
theoretischen oder rein empirischen Kriterien der Realität. Kant sagte, dass
die Gedanken ohne Inhalt leer sind, dass die Vorstellungen ohne Begriffe reich
sind, und dass nur aus ihrer Vereinigung die Erkenntnis entspringen kann ;
das gilt sicherlich in dem Sinne, dass der Realismus aus dem Zusammen-
wirken von empirischen und rationalen Bewegungen entstehen muss.
376 A. Gemelli.
Mit dieser Methode trennt der kritische Realismus die von uns ab-
hängigen Beziehungen von denen, die den Sinneseindrücken anhaften, und
versucht , diese letzteren zu bestimmen. Hierzu ist er durch die Tat-
sache gezwungen, dass die von uns unabhängigen Beziehungen weder
an bestimmte und gleichartige Wahrnehmungsinhalte noch an bestimmte
Personen gebunden sind und dass sie auch dann vorhanden sind, wenn
die Bewusstseinszusammenhänge und die Sinneseindrücke, in
denen sie wahrgenommen wurden , sich ändern. Sie müssen also offenbar
existieren können, auch ohne dass der Sinnesinhalt ihre scheinbare Stütze
bildet, d. h. sie müssen Beziehungsglieder haben, die von den Sinnen ver-
schieden sind. Das ist der Weg, der von der Realität des Selbstbewusst-
seins zur realen Natur, zur Setzung der äusseren Welt führt. Wie
man sieht, besteht das wahre Motiv für den wissenschaftlichen Realismus
nicht, wie Schopenhauer sagte, darin, dass die äussere Welt die Ursache
unserer Sinneswahrnehmung ist, als ob sich von subjektiven Wirkungen
die Eigenschaften der objektiven Ursachen ableiten Hessen. Wenn es einen
Weg gibt, der zur Realität der Natur führt, so kann er nur an den Re-
lationen gefunden werden, die von den Wahrnehmungsinhalten unab-
hängig sind, und um diese Relationen zu erkennen, müssen wir die Resultate
aller Wissenschaften benutzen.
Eine völlig verschiedene Methode der Realisierung hat man dann, wenn
von den realen Beziehungen die andern von uns abhängigen bestimmt
werden müssen. Konszientialisten und PhänomenaÜsten wollen nicht die
erzwungenen Beziehungen unserer Sinnesinhalte auf die Faktoren zurück-
führen, die sie erzwingen. Die PhänomenaÜsten sodann leugnen, obschon
sie die Existenz ähnlicher Faktoren zugeben, dass man über ihr Wesen
irgend etwas aussagen kann.
Aber die Naturwissenschaften haben sich nicht täuschen lassen und
konstruieren ein System des realen Geschehens, in dem die Träger dieses
Geschehens eine wichtige Rolle spielen. Das ihnen zur Norm dienende
Prinzip Hesse sich so formulieren : Die Naturobjekte, als Träger der realen
Beziehungen, müssen als diesen adäquat gedacht werden, d. h. sie müssen
fähig und geeignet sein, alle jene Prozesse auszuführen oder durchzumachen,
denen sie als Substrate dienen müssen. Das, was in unserer Erfahrung
unmittelbar zugänglich ist, ist etwas Reales, das abhängig ist und darum
der Beziehung zu einer unabhängigen Realität bedarf, die der Träger von
jenem genannt werden kann.
So bleibt nun ein Feld für die Bestimmung dieser Träger, wenn und
insofern wir sie auf der Grundlage der Prozesse charakterisieren, die von
ihnen getragen werden müssen. Natürlich würde eine volle Erkenntnis
nur zu erwarten sein, wenn alle Kräfte und Fähigkeiten der Objekte be-
kannt wären. Aus diesem Grunde liegt das Ziel der Realisierung in so
weiter Ferne, im Unendlichen.
Die Realisierung. 'S??
Aber selbst wenn wir es erreichen könnten, müssten wir immer ein
bestimmtes Feld für die Bestimmung der Träger annehmen. Es kann in
der Tat nicht bloss die Welt reicher sein als unsere Erfahrung, sondern,
auch abgesehen davon, ist die Summe der Existenzbedingungen des unab-
hängigen Realen niemals hinreichend mit der Gesamtheit seiner empirischen
Fähigkeit gekennzeichnet. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, an
die atomistisch-mechanischen, energetischen, wissenschaftlichen und meta-
physischen Theorien zu erinnern, die der Natur und dem Wesen der Träger
nachgehen.
Diese unsere Unkenntnis darf uns nicht erschrecken und veranlassen,
auf den Realismus zu verzichten. Die Erkenntnis des Wesens der realen
Objekte hat sich ständig intensiv und extensiv vermehrt; von den Atomen
Epikurs sind wir zur modernen Atomistik gekommen, von der Psycho-
logie Herbarts zur Psychophysik gelangt usw. Auch darf uns keineswegs
das Prinzip der Subjektivität der Sinnesqualitäten erschrecken, von dem
Augenblicke an, da Physik und Chemie, Anatomie und Physiologie,
Entwicklungsgeschichte und Geologie durch jenes Prinzip in ihren
Forschungen nicht gehindert worden sind. Die Anatomie, die Lehre von
der Kraft, die geologischen und astronomischen Aufstellungen über die
Formation der Erde und der Sterne, die biologischen Untersuchungen über
die Entwicklung des Lebens u. s, f., das alles beweist, dass trotz des Ver-
zichtes auf die Sinnesqualitäten ein glänzender Realismus möglich bleibt.
Wenn jetzt der Naturforscher sich die äussere Welt nicht mehr mit
Hülfe von Bildern vorstellen und so von ihr eine gelreue Photographie
haben kann, so kann er doch diese Lücke mit begrifflichen Bestimmungen
ausfüllen. Wie in der Psychologie, so müssen wir auch in der Erkenntnis-
theorie mit dem Dogma brechen, dass der Gedanke ohne Vorstellungsbilder
ein Nichts oder etwas Absurdes sei.
So werden die Grenzen und Schranken, die der Phänomenalismus
aufrichten wollte, vom Realismus beseitigt. Dieser kann auch pragma-
tistischen Prinzipien gegenüber seinen verdienten hohen Wert festhalten.
Die Wissenschaft eines Newton ist realistisch, während die stolze Kon-
struktion der Hegeischen Dialektik zum Tode und zur Verneinung der
Wissenschaft führt. Heute, angesichts der glorreichen Eroberungen, die
diese auf der Grundlage eines mutigen Realismus gemacht hat, darf die
Erkenntnistheorie nicht das Schauspiel einer in sich verschlossenen Diszi-
plin bieten, die sich um formahstische Gedanken dreht. Sie ist berufen,
nicht hinter der Naturwissenschaft zurückzubleiben, sondern sie zu begleiten,
um ihren Realismus verständlich zu machen, um ihre Prämissen und ihre
Methoden zu systematisieren und ihr so ihre Grenzen anzuweisen.
Auf diese Weise wird sich die Vereinigung und die Unterscheidung
zwischen Wissenschaft und Erkenntnislehre vollziehen. Die erstere gibt uns
die Wissenschaft von der Natur, die z\veite hingegen die Theorie dieser
378 A. Gemelli.
Wissenschaft : sie unterscheiden sich deshalb von einander, wie die künst-
lerischen Produktionen von den ästhetischen Theorien. Sie sind vereinigt;
denn je grösser die Entdeckungen der einen sind, desto bedeutender werden
auch die Fortschritte der andern sein.
XI. Ein Wort der Kritik. In der Erwartung, dass Külpe in seinen
Bänden über die Realisierung die in diesem Vortrage angedeuteten
Begriffe noch besser entwickelt und klarer gestaltet, erlauben wir uns einige
Bemerkungen über den negativen Teil seiner Auffa.«sung.
Es ist unmöglich, ein vollständiges Urteil über den ersten Band abzu-
geben, so lange Külpe nicht in weitem Masse den zweiten Teil seines
Werkes bearbeitet und uns gesagt hat, welche positiven Gründe für die
realistische Auffas.sung sprechen.
Für jetzt müssen wir uns mit zwei Fragen begnügen. Vor allem:
welchen Wert haben die Widerlegungen, die er den Schwierigkeiten ent-
gegensetzt, die immer in redlicher Weise angeführt und streng diskutiert
werden? Es scheint uns — und wir sind sicher, dass viele mit uns der-
selben Ansicht sein werden — , dass der Verfasser fast immer überzeugt,
oftmals glücklich ist und zuweilen seinen Gegner zermalmt und vernichtet.
Aber eine andere Frage: Hat Külpe wirklich alle Feinde des Realis-
mus vernichtet? Hat er nicht vielleicht, während er einige niederstreckte, die
am meisten zu lürchtenden und die gefährlichsten am Leben gelassen?
Dieser Verdacht wächst, wenn man bedenkt, dass er niemals den
Idealismus in seinem geschichtlichen Entstehen verfolgt, niemals auf jenes
harte Arbeiten der philosophischen Reflexion, auf jenen langen Prozess von
Anstrengungen hinweist, die von Bruno und von Descartes bis auf Spinoza
und auf Vico, von der aprioristischen Synthese Kants bis auf die drei
grossen nachkantianischen Philosophen (aber nicht bloss wegen der von
Külpe in den einleitenden Blättern aufgezählten Gedankenrichtungen) zur
absoluten Negierung des Transzendenten und zur völligen Identifizierung
des Gedankens mit dem Realen beigetragen haben. Der Verfasser hingegen
nimmt eine Objektion nach der andern vor und erweckt so in uns den
Eindruck, als ob er, anstatt einem kompakten Heere gegenüberzutreten und
sich ihm entgegenzustellen, die einzelnen Soldaten packen und das Vergnügen
haben wollte, sie einzeln mit Leichtigkeit zu töten. Mit einem Worte, es
erweckt den Anschein — und wer aus der Nähe die tiefe und ausgedehnte
Gelehrsamkeit Külpes kennt, weiss, wie verfehlt dieser Eindruck ist — ,
als ob er bislang die Geschichte des modernen Idealismus noch nicht tief
erforscht habe.
Ein anderer Irrtum, der den eben ausgesprochenen Verdacht bestätigt
und bestärkt, liegt darin, dass der Verfasser sich fast ausschhesslich auf
Deutschland beschränkt, als ob ausserhalb Deutschlands (ja, wir tragen kein
Bedenken, zu sagen: mehr ausserhalb des Vaterlandes Hegels als in ihm) der
Die Realisierung. 379
Idealismus nicht eine ungeheure Entwicklung gehabt habe. Um vier Denker
zu nennen, deren Namen sich von selber auf die Zunge drängen, weshalb
doch hat Külpe nicht Weber, Royce, Baille und Croce herangezogen, die
in ihren Ländern, in Frankreich, Amerika, England und Italien, alle Trans-
zendenz bekämpft haben?
Aus dieser Unterlassungssünde folgt jene andere, die unserer Ansicht
nach den grössten Mangel des Buches ausmacht : Viele Antworten sind
argumenta ad hominem, haben Wert einem Gegner gegenüber, der
gerade aufs Korn genommen wird, treffen aber nicht die andern Idealisten.
Um nur ein Beispiel anzuführen: Külpe setzt als unwidersprochen den theo-
retischen Wert des empirischen und abstrakten Begriffes voraus; deshalb
werden die zahlreichen Antworten, die sich auf diese Grundlage stützen,
jenen überzeugen, der mit ihm eine solche Auffassung teilt, w^erden aber
keinen Eindruck auf einen Idealisten machen, der jene These verwirft.
Die zweite Auflage dieses Buches, die wir ihm bald wünschen, wird
gewiss diese Lücken ausfüllen. Hoffen wir, dass inzwischen der hervor-
ragende Denker sein Werk fortführt und uns bald die versprochene Fort-
setzung bringt. Seine Arbeit wird sicher den Beifall der Gelehrten fmden
und zu ernstlichem Nachdenken auch jene anregen, die nicht seinen
kritischen Realismus teilen.
Rezensionen und Relerale.
Metaphysik.
Der 3Ioinsmus und seine philosophischen Grundlagen. Bei-
träge zu einer Kritik moderner Geistesströmungen. Von
Friedrich Klimke S. J. Freiburg 1911, Herder, gr. 8°.
XXIV, 620 S. Ji> 12.
Wie es einstmals eine Modephilosophie des Stoizismus und des Neu-
platonismus gab, so leben wir heute im Zeitalter des Monismus, welcher
nachgerade zum Schibboleth aller vornehmen Geister atheistischer Gedanken-
richtung geworden isl. Bei der buntscheckigen Vieldeutigkeit des Wortes
„Monismus" war es ein überaus verdienstvolles, wenn auch schwieriges
Beginnen, zunächst einmal das Problem des Monismus als solchen
aufzuwerfen und sodann den weitverzweigten Ausgestaltungen liebevoll
nachzugehen, in denen der monistische Grundgedanke sich auswirkt und
auslebt. Wie viele gedankenlose und seichte Schwätzer, die mit Herz und
Mund dem „Deutschen Monistenbund" angehören, würden in die ärgste
Verlegenheit geraten, wenn man sie früge: Welchem System des Monis-
mus huldigen Sie denn eigentlich? Sind Sie ein Anhänger des erkenntnis-
theoretischen oder des transzendenten Monismus? Wenn letzteres, ziehen
Sie den rationaUstischen oder den naturphilosophischen, den evolutionisti-
schen oder den aktualitätstheoretischen Monismus vor? Oder versteifen Sie
sich vielleicht auf den psychophysischen Monismus? Aber auch dieser
lässt sich in zweierlei Gestalt vorführen. Welche von beiden ist die Ihrige?
Aber vielleicht wollen Sie nichts von alledem hören, weil Sie dem spiri-
tualistischen Monismus zugetan sind. Wenn nein, so sind Sie gewiss ein
Vertreter des materialistischen Monismus ? Wenn aber dies, so erklären Sie
mir, bitte, ob Sie die mechanistische oder dynamische, die energetische
oder hylozoistische Fassung bevorzugen! Allein auch hiermit ist vielleicht
das Richtige noch nicht getroffen, da Sie wohl dem „pyknotischen" Monis-
mus huldigen. Mit solchen Kreuz- und Querfragen könnte man einen
modernen Monisten, der nur das Wort und nicht die Sache kennt, in die
äusserste Bedrängnis versetzen und ihn, wenn er kein Philosoph von Fach
wäre, seiner grossen Unwissenheit überführen. Und dennoch gibt es in
den gebildeten und halbgebildeteu Kreisen tgiusende von Mitläufern, die sich
Fr. Kl imke, Der Monismus und seine philosophischen Grundlagen. 381
mit dem hochtrabenden Titel „Monist" begnügen, ohne sich über ihre Welt-
anschauung wissenschaftliche Rechenschaft geben zu können, es sei denn,
der Monismus diene ihnen lediglich als vornehmes Aushängeschild eines
offenen oder verkappten Atheismus, dem sie sich aus ganz anderen als
rein wissenschaftlichen Motiven verschrieben haben.
Gleichwohl zeigt die Geschichte der Lehre vom All-Einen schon seit
dem Zeitalter der Eleaten, dass in der monistischen Weltanschauung ganz
entschieden auch berechtigte Momente stecken müssen, die als wertvolle
Wahrheitskörner aus dem Gemisch von Wahrheit und Irrtum sorgsam
herausgelesen und unter Vermeidung der aus Uebertreibungssucht heraus
gesteigerten Extreme an die rechte Stelle im wahren, widerspruchsfreien
Weltbild eingestreut werden wollen. Ein philosophisches System, das aus
nichts als Unwahrheit und Lüge gewoben ist, würde niemals so viele
glänzende Geister gefangen nehmen, niemals in zyklischen Wiederholungen
durch die ganze Menschheitsgeschichte haben schreiten können, wie dies
doch die Geschichte der Philosophie gerade am Monismus besonders deut-
lich bewiesen hat. Der scharfsinnige Verfasser des vorliegenden hoch-
bedeutsamen Werkes hat deshalb vom methodischen Gesichtspunkte aus
einen sehr glückUchen Griff getan, wenn er sich überall vom Bestreben
leiten Hess, vor allem auch die Wahrheitsmomente, die im Monismus und
in seinen zahlreichen Verzweigungen versteckt liegen, unparteiisch aufzu-
suchen, unverhohlen anzuerkennen und zu ihrem vollen Rechte kommen
zu lassen. Ist doch die beste Widerlegung des Irrtums schliesslich die
Aufzeigung, Hervorkehrung und Anerkennung der berechtigten und wahren
Seiten, die ihn wie ein gleissender Schimmer umgeben.
Schon in der wissenschaftlichen Methode steckt ein gut Stück von
berechtigtem Monismus. Von einem unausrottbaren Einheitsbestreben be-
seelt, ist jede Wissenschaft nach ihrer methodischen Seite hin entschieden
monistisch gerichtet, insofern sie das Vielerlei und Einzelne auf möglichst
wenige höchste Prinzipien zurückzuführen trachtet. Allein dieser Monismus
der Methode ist etwas total verschiedenes vom Monismus als Weltanschauung.
Zu diesem letzteren rechnet man aber nicht den kausalen Monismus,
welcher zur Erklärung der Welt und der Vielheit ihres Inhalts nur eine
einzige Wirkursache im Weltschöpfer fordert und in dieser Beziehung mit
dem Monotheismus Hand in'Hand geht, ja der Sache nach mit ihm zusammen-
fällt. Auch mit dem Pantheismus ist der Monismus nicht ohne weiteres
identisch, so viele Berührungspunkte auch beide miteinander verbinden
mögen. Der Pantheismus geht von der Idee Gottes aus, den er als un-
persönliches Wesen in die Welt verlegt ; er ist also ein „höfHcher Atheis-
mus". Aber der Monismus ist nicht einmal höflich, sondern er erblickt in
der Welt selbst das Absolute, das aus und durch sich Seiende. Und dieser
konstitutive oder Wesensmonismus ist es, um dessen Darstellung,
Würdigung und Widerlegung es sich handelt. Die Ineinssetzung von „Gott"
382 Joseph Po hie.
und Welt ist ohne vorherige Gleichset-iung des Physischen und Psychischen
natürlich undurchführbar. Der Monismus im allgemeinen ist also diejenige
Weltanschauung, nach welcher „das direkt oder indirekt Erfahrbare selbst
das einzige, absolute, in sich selbst begründete und sich selbst genügende
Sein ist, welches, seiner Natur nach überall wesentlich gleichartig, sich uns
in der Mannigfaltigkeit der Einzeldinge sowie in der Verschiedenheit des
physi.schen und psychischen Geschehens darstellt" (19 f.).
Die verschiedenen Formen dieses Monismus erscheinen in einer fast
proteusarligen Gestalt und schillern in den buntesten Farben, je nachdem
sie sich auf metaphysischer oder auf erkenntnistheoretischer Grundlage
aufbauen. In vier Büchern werden uns diese buntscheckigen Systeme mit
all ihren Voraussetzungen, Beweisgründen, Folgerungen, Ergänzungen und
Ausweitungen in naturgetreuer Schilderung aus den Originalschriften der
Monisten vorgeführt und nach den Grundsätzen der immanenten Kritik mit
überlegener, oft recht scharfsinniger Dialektik gewürdigt und beurteilt. Nur
selten verfährt die Kritik nach dem taktischen Grundsatz, das eine System
dem Henkersbeil eines andern zur Hinrichtung zu überlassen und dabei
den müssigen Zuschauer zu spielen. Nachdem das erste Buch (23 — 152)
den materialistischen Monismus, seine Hauptthese und seine ver-
schiedenen Ausgestaltungen (mechanistische, dynamische, energetische, hylo-
zoistische, pyknotische) samt dem monistischen Abschluss behandelt hat,
bringt das zweite Buch mit derselben Gründhchkeit und Unparteilichkeit
den spiritualistischen Monismus in seinen Grundlagen, Argumenten,
Formen und monistischen Weiterungen zur Darstellung (155 — 215). Das
dritte, sehr umfangreiche Buch (219 — 367) 'beschäftigt sich eingehend mit
dem transzendenten Monismus , und zwar zunächst den positiven
Richtungen: rationalistischer, naturphilosophischer, evolutionistischer , ak-
tuahtätstheoretischer und psychophysischer Monismus, um sodann den
weitverbreiteten Agncstizismus in seinen verschiedenen Verzweigungen mit
monistischer Endspitze einer eindringenden Analyse zu unterwerfen. Be-
sonderes Interesse erweckt das vierte Buch (371 — 541), das den erkenntnis-
theoretischen Monismus in seinen neuesten und modernsten Formen
darlegt und unter einem neuen einheitlichen Gesichtswinkel nach allen
Seiten mit der kritischen Sonde prüft. In vorzüglicher Weise wird hier
der Leser über die moderne und modernste Philosophie aufgeklärt. Man
lese unter anderem die klaren Darlegungen und die feinen kritischen Be-
merkungen über die philosophischen Grundlagen der Immanenzphilosophie,
nämlich: Das Immanenzprinzip, das Eifolgsprinzip, das Oekonomieprinzip
und das Stabilitätsprinzip (430 ff,), und man wird sich eingestehen müssen,
dass ein ebenso tiefer Denker wie gewandter Dialektiker dem Verfasser die
Feder geführt haben. Zum Schluss unternimmt das fünfte Buch (345 — 593)
eine allgemeine Kritik am Kernproblem des Monismus durch Beantwortung
der zwei Hauptfragen: 1) Kann das Universum selbst der letzte zureichende
Fr. Klimke, Der Monismus und seine philosophischen Grundlagen. 383
Grund des einheithchen Seins und Geschehens sein? 2) Kann das Absokite
oder Gott mit der empirischen Welt in eins gesetzt werden ? Zn dem Ende
behandeln vier Kapitel die folgenden Themata: Das Universum als letztes
Seinsprinzip, das Schöpfungsproblem im Lichte des Monismus, die Lehre
vom absoluten Werden, der wahre und falsche Monismus.
Selten habe ich ein philosophisches Werk, das in den tiefsten Grund-
schichten mit sicherem Spaten herumwühlt, mit so viel Spannung, Genuss
und Befriedigung gelesen, wie diese so zeitgemässen Darbietungen über den
Monismus. Gewisse Wiederholungen derselben Gedanken Hessen sich kaum
vermeiden, weil die monistischen Systeme selbst in iliren Ideengängen sich
vielfach berühren, verschränken und kreuzen. Es ist ein ernst zu nehmendes
Buch, unparteiisch und loyal in der Darlegung des gegnerischen Stand-
punktes, vornehm und sachUch in der kritischen Beurteilung, frei von jeder
persönlichen Polemik. Die Argumente des Monismus werden weder ver-
schwiegen noch verschleiert, sondern vielmehr von ihrer vorteilhaftesten
Seite her gezeigt. Wir fühlen es auf Schritt und Tritt, dass wir mit wirk-
lichen Problemen zu ringen haben. Nur einmal begegnete mir über E.
Haeckel ein herbes Urteil, das aber nicht einmal vom Verfasser selbst,
sondern aus der entrüsteten Feder des bekannten Philosophen Fr. Paulsen
.stammt. Dafür wird aber sogar dem Materialismus in der Geschichte der
Philosophie „eine keineswegs zu unterschätzende Bedeutung" beigelegt;
denn „er ist vor allem das natürliche Gegengewicht gegen allen extremen
Idealisnms, Subjektivismus und Spiritualismus" (151).
Auch die monistische Bewegung der Gegenwart hat das Verdienst,
die Notwendigkeit einer geistigen Einheit als erster absoluter Ursache alles
Seins und Geschehens der Mitwelt stark zum Bewusstsein gebracht zu
haben. Falsch ist aber die monistische These, dass der Grund dieser Ein-
heit in der Welt selbst zu suchen sei. Trotz aller Anläufe metaphysischer
und erkenntnistheoretischer Art, trotz der scharfsinnigsten Beweisversuche
tiefer und gewandter Denker ist der Monismus nicht nur nicht bewiesen
worden, sondern er hat sich auch als schlechthin unbeweisbar heraus-
gestellt. Er scheitert notwendig an der Unmöglichkeit, entweder das Uni-
versum selbst als letzten Grund des einheitlichen Seins und Weltgeschehens
hinzustellen oder das Absolute mit der Erfahrungswelt zusammenfallen zu
lassen. Wir sehen daher auch die Monisten unter häufigen Erschleichungen
und logischen Sprüngen immer um die Sache herumreden, und sie bleiben
zuletzt, ohne es zu merken, bis über die Ohren im Dualismus stecken.
Kein Denker kommt eben am un überspringbaren Gegensatz von Sein und
Erkennen, Innenwelt und Aussenwelt, Physischem und Psychischem, Sub-
jekt und Objekt vorbei. Selbst der Solipsismus, diese konsequenteste
Durchführung des Monismus, welcher das berühmte „Ich- und Dn-Problem"
durch kecke Leugnung des „Du" aus dem Wege räumen möchte, sieht
sich gezwungen, zwischen der Erscheinungswelt und dem alleinigen Ich,
384 C. Gutberiet.
dem die Welt erscheint, einen Unterschied zuzugeben, aus dem das ganze
Elend des Dualismus grinsend wieder herausschaut. So taucht denn auch
hier von neuem das Problem von Gott und Welt wie ein drohendes Ge-
spenst im Hintergrunde auf.
Je^inehr man den Monismus in seine Elemente zerfasert, desto deut-
licher drängt sich als letztes Ergebnis auf: Nicht Einheil und Absolutheit
des Wesens der Welt, sondern Einheit und Absolutheit der schöpferischen
Ursache der Welt. Also nicht Monismus, sondern Monotheismus.
Breslau. Prof. Dr. Joseph Pohle.
Naturphilosophie.
Was ist die Ursache der BeAveguiig, der Kraft, des Lebens?
Eine neue Weltanschauung. Von E. K o c h.
Woraus besteht die Welt? Nalurphilosophische Betrachtung.
Von Demselben.
(jiUt es eine ewige Wahrheit? Neue wissenschafiliche An-
regungen. Von Demselben. Leipzig 1912, Winter.
Alle drei Schriften behandeln dasselbe Thema, das am prägnantesten
in der letzten zum Ausdruck kommt. „Die Antwort auf die Titelfrage:
Gibt es eine ewige Wahrheit ? lautet : Der ewig wechselnde Unterschied im
Weltraum ist die Ursache des Weltalls, und diese unumstössliche Tatsache
ist eine Wahrheit, die Ewigkeitsdauer in sich trägt . . . Hat der Menschen-
geist die Grundursache des Weltalls, die Wahrheit erkannt, so ist der
wesentlichste Zweck der Philosophie, d. h. die Erforschung der Wahrheit
erreicht".
„Der Begriff ,Temperaturunterschied' ist noch umfassender als der
Begriff ,Weltall'. Das Weltall ist die Wirkung, der Temperaturunterschied
aber die Ursache. Hat der Menschengeist die Ursache des Weltalls ge-
funden, dann hat er damit auch die Wahrheit gefunden . . . Der Menschen-
geist dringt unaufhaltsam vorwärts, immer näher zur Vollkommenheit, die
erreicht sein würde, wenn der Menschengeist den Begriff , Allheit' voll-
ständig in sich aufnehmen und erkennen kann".
Die Darlegung und Begründung dieser ewigen Wahrheit bietet die erst-
genannte Schrift. Da wird ausgeführt:
„Die Annahme, dass der Weltraum mit einem sich gleichbleibenden,
unendlich feinem Stoffe, dem Aether, ausgefüllt ist, und dass das Licht und
die Elektrizität nur Schwingungen oder Wellen dieses Aethers sind, lässt
sich nicht beweisen. Viel natürlicher ist die Erklärung, dass die unendlich
feinen Atome der Sonne und der Fixsterne den Weltraum mit der Ge-
schwindigkeit des Lichtes und der Elektrizität durcheilen. Der Zwischen-
raum zwischen den Fixsternen wird fortwährend durch die Ausstrahlungen
E. Koch, Was ist die Ursache der Bewegung, der Kraft, des Lebens? 385
der Sterne in seiner Temperatur verändert. Ein ewiger Temperaturunter-
schied herrscht in dem ganzen Weltraum. Dieser Temperatur- oder Druck-
unterschied der Atome ist die alleinige Ursache aller Bewegung, aller Kraft".
„Es gibt nur zweierlei im Weltraum : Die Atome und die Temperatur.
Letztere allein setzt durch unendlich kleine Verteilung bis auf den denkbar
kleinsten Bruchteil eines Temperaturgrades die Atome in Bewegung und
erhält sie in ewigem Flusse, in unendlich verschiedenen Umwandlungs-
formen nach Massgabe des Temperaturunterschiedes, der gleichfalls un-
endlich verschiedenartig und zugleich von ewiger Dauer ist".
„Dass alle Körper aus Lichtatomen gebildet sind, erkennen wir daran,
dass das Licht aller Körper dasselbe Spektrum hat, woraus hervorgeht,
dass alle Körper aus diesen Lichtatomen zusammengesetzt sein müssen".
„Die zahllosen Atome, aus denen ein Lichtstrahl sich zusammensetzt,
sind zweifellos so klein, dass wir uns kleinere Atome nicht mehr vor.stellen
können. Hört hier der Begriff ,Stoff' auf, so muss für uns hier der Begriff
,Geist' anfangen. Denn wo anders noch sollte der Begriff ,Geist' seinen
Ursprung haben können? Gott ist ein Geist. Gott ist allgegenwärtig. Sein
Geist ist daher überall im Weltraum. An keiner Stelle des Weltraumss
kann der Geist Gottes fehlen. An keiner Stelle des Weltraums fehlen aber
auch die Lichtatome, die, wie vorhin erörtert, den ganzen Weltraum durch-
eilen und ihn ausfüllen müssen. Sind die Lichtatome überall im Welt-
raum vorhanden, ebenso wie der Geist Gottes, so umfasst letzterer auch
die Gesamtheit der Atome, aus denen die Welt aufgebaut ist".
Die Weltwerdung erklärt der Vf. analog der Entstehung lebender
Wesen :
„Jede Sonne, jeder Fixstern hatte einstmals einen Nebelfleck gewisser-
massen als Mütter. Dieser Nebelfleck hatte aber wieder Vorfahren, näm-
Hch zwei erkaltete Sonnen, deren Zusammenstoss den Nebelfleck erzeugte.
So lässt sich dieser Vorgang noch weiter zurückverfolgen bis in die un-
endliche Vergangenheit. So hat jede Sonne ihre Geburtsstunde, ihren
Lebenstag und ihre Todesstunde, wie die Lebewesen auf unserer Erde.
Durch die Vereinigung zweier abgestorbener Sonnen wurde eine neue
Sonne geboren. Ist dieses Leben der Sterne nicht ähnlich wie das Leben
auf Erden? Zwei Eltern erzeugen wieder ein gleichartiges Wesen".
Natürlich. Denn Leben ist nur Bewegung der Atome.
„Man begreift, dass Leben eigentlich nichts anderes ist als die Be-
wegung der Atome in immer wechselnder Gestalt, dass es eine leblose Welt
im Gegensatz zur sogenannten Lebewelt nicht gibt. Eine Grenze zwischen
leblosen und organischen Stoffen ist nicht vorhanden. Neuerdings hat man
tierische Eier durch einfache chemische Lösungen befruchtet. Ist dies
nicht eine erstaunliche Entdeckung? Eine chemische Lösung genügt, um
das Ei zum Leben zu erwecken".
Die Spekulation des Vf.s erhebt sich noch höher. Er fragt:
Philosophisches Jahrbuch 1913 25
386 C. Gutberiet.
„Was ist der Menschengeist? Er ist ein Gottesfunke, ein Teil, ein
Atom der Gottheit; er ist der höchste und letzte Ausfluss des Gottesgeistes
selbst, nicht bloss hier auf Erden, sondern auch innerhalb unseres Sonnen-
systems, innerhalb des Systems aller Fixsterne, innerhalb des Weltalls selbst.
Kann es eine höhere geistige Entwicklung geben als den Menschengedanken,
der im Fluge, in einem einzigen Augenblicke, über den Raum und die Zeit
hinwegdenkt und in die Unendlichkeit und Ewigkeit enteilt? Er enteilt
aleichsam wie ein Lichtatom in die Unendlichkeit. Bei jedem Gedanken,
der in dem Menschengehirn entsteht, das ebenso wie alle übrigen Körper
aus umgewandelten Lichtatomen zusammengesetzt ist, entweicht aus un-
serem Körper ein elektrischer Funke oder ein Lichtatom, welches jedoch
nicht verschwinden kann, sondern wie alle Lichtatome einer neuen Be-
stimmung zugeführt wird".
„Was ist Gott? Gott ist die Unendlichkeit und Ewigkeit selbst; beide
sind in Gott vereint. Hat Gott die Weil erschaffen? Wir müssen antworten:
Nein; denn Nichts muss immer Nichts bleiben. Hat Gott die Welt aus
etwas anderem erschaffen, das bereits vorhanden war? Nein; denn dann
müsste das vorhanden gewesene andere von Gott unabhängig sein. Es ist
daher nur diese einzige Annahme möglich: Gott hat die Welt aus sieh
selbst erschaffen. Gott selbst ist die Welt".
Das ist gewiss euie „neue" Weltanschauung ; nur schade, dass sie mit
der Naturwissenschaft und der Logik auf sehr gespanntem Fusse steht.
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
Psychologie.
Die Situation auf dem psychologischen Arbeitsfekle. Von
R. Geijer-Upsala. Berlin 1912, L. Simion Nachf. (Bibl. f.
Philosophie, herausgeg. von R. Stein. IV).
Die gegenwärtige Situation auf dem psychologischen Arbeitsfelde trägt
nach dem Vf. als „vielleicht bezeichnendsten, jedenfalls am meisten in die
Augen springenden Zug — nebst der rastlosen Arbeit auf der ganzen Linie
— einen stets schärfer werdenden und in offene Polemik ausmündenden
Gegensatz zwischen mehreren verschiedenen psychologischen Schulen,
welche sich von einander unterscheiden sowohl in dem, was sie als gegeben
betrachten, als auch in dem, was sie eigentlich wissen wollen, und nicht
am wenigsten durch die Wege, auf denen sie das Erstrebte am besten
erreichen zu können hoffen, also kurz, durch verschiedene Ausgangspunkte,
Problemstellungen und Arbeitsmethoden. Und zwar keineswegs nur bei der
Behandlung einer Zahl von vielleicht weniger wichtigen psychologischen
Spezialfraf-'en, sondern im grossen Ganzen, sobald es gilt, das eigenartige
Objekt, die eigentliche Aufgabe und die allgemeine Methodik der
psychologischen Wissenschaft etwas genauer zu bestimmen".
R. Geijer, Die Situation auf dem psychologischen Arbeitsfelde. 387
Diesen Stand der Dinge darf eine wissenschaftliche Psychologie nicht
ignorieren; denn sie muss „eine möglichst übersichtlich und systematisch
geordnete Darstellung geben der aktuellen, mit einander in Widerspruch
stehenden Grundanschauungen, die sich als solche am allerbesten durch
ihre in wesentlich verschiedenen Richtungen gehenden Antworten auf diese
Frage zu erkennen geben, oder besser gesagt, eben dadurch konstituiert
werden. Denn erst so wird es möglich, mit gehöriger Umsicht zwischen
diesen Grundanschauungen zu wählen, seine Stellung nach verschiedenen
Richtungen hin kritisch so abzuwägen, dass man selbst dabei einen eigenen
festen und selbständigen oder mit anderen Worten schon im voraus gegen
polemische Angriffe und Einwendungen gesicherten Standpunkt gewinnt".
Dabei muss freilich die Darstellung ,,das bunte Material auf eine
massige Anzahl für ihre jeweihge Richtung typischer Grundformen re-
duzieren und sich hauptsächlich an die führenden Geisler halten". Aber
auch so ist die Mannigfaltigkeit noch gross genug.
Schon bei der Definition der Psychologie beginnt die Uneinigkeit.
Denn was Seele bedeuten soll, wird neuestens sehr verschieden bestimmt,
am radikalsten durch die Psychologie ohne Psyche. Der Vf. gibt am Ende
seiner Darstellung ein übersichtlich systematisch geordnetes Schema der
verschiedenen Richtungen.
A. Das Objekt der Psychologie betreffend: a) die Definition selbst:
a) Psychologischer Substantiahsmus, ß) Kollektivismus (P.sychologie ohne
Seele), b) Das Verhältnis zwischen Seele und Körper: I, Materialismus,
2. Dualismus, 3. Duplizismus, 4. Immaterialistischer Monismus (Herbart,
Universeller Spirituahsmus), 5. Positivismus, c) Die Morphologie des Seelen-
lebens betreffend : «) Schattentheorie - Assoziationspsychologie - Evolutions-
psychologie, ß) Intellektualismus-Voluntarismus, y) Determinismus-Indetermi-
nismus.
B. Die Aufgabe der Psychologie betreffend: a) Empirische Psycho-
logie (deskriptiv klassifizierende) — spekulative Psychologie (Auto- und
phylogenetische), explikative : mechanisch-teleologisch erklärende, b) Anthro-
pologische : Individualpsychologie -Völkerpsychologie — vergleichende Tier-
psychologie. Erstere zerfällt in Kinderpsychologie, Differenzialpsychologie,
Psychopathologie, Kriminalpsychologie, Metapsychologie usw.
C. Die Methodik betreffend : Direkte (= introspektive) Methoden —
indirekte Methoden : kulturhistorische Analysen — psychophysische Experi-
mente — Enqueten usw.
Manche dieser Richtungen stehen nicht in gegensätzlichem Verhältnisse
zu einander wie z. B. die Individualpsychologie, Völker-, Tierpsychologie.
Aber ihre Vertreter bekämpfen einander, indem die einen behaupten, n u r
durch die Völkerpsychologie, die andern nur durch vergleichende Tier-
psychologie, andere nur durch Individualpsychologie könne das seelische
Leben ergründet werden.
25*
388 C. Gutberlei
Ob durch diese Orientierung wirklich, wie der Vf. hofft, eine Sicher-
heit für den eigenen Standpunkt gewonnen werden könne, ist mindestens
recht zweifelhaft. Eher schon könnte sie uns, wie er an zweiter Stelle
erwartet, die Richtung angeben, nach welcher hin die Forschung sich mit
Erfolg beschäftigen könne. In der Tat zeigt das Chaos der Meinungen,
dass die neuere Philosophie auf schiefe Bahnen geraten ist, indem sie ganz
neue Grundlagen der philosophischen Forschung schaffen zu müssen glaubte.
Durch die experimentelle Psychologie glaubte man nun end-
lich eine wissenschaftliche Behandlung des Seelenlebens gefunden zu haben.
Man glaubte sie schon zur Grundlage einer neuen Pädagogik machen zu
können. Da erhob sogar der Altmeister der experimentellen Psychologie
W. Wundt seine Stimme gegen die Ueberschätzung dieser neuen Methode,
wies auf die Uneinigkeit unter den experimentierenden Forschern und die
vielfachen verschiedenen Deutungen der Experimente usw. hin.
Durch Messen und Rechnen glaubt man die psychologischen Er-
scheinungen ebenso exakt wissenschaftlich behandeln zu können wie die
Naturwissenschaften die materiellen Vorgänge. Da erklärt ein anderer
experimenteller Psycholog, W. Hellpach: „Es ist nun einmal meine Ueber-
zeugung, dass mit der Mathematik im Bereich der seelischen Phänomene
mehr Wirklichkeit verschleiert als aufgedeckt wird, und ich stimme Marbe
(gleichfalls experimenteller Psychologe) vollkommen bei, wenn er die
psychologische Nachprüfung und Umbildung der mathematischen Fehler-
methodik (soweit sie auf menschliches Geschehen Anwendung finden soll)
für dringend erforderlich hält. Gerade die Korrelationsuntersuchungen können
meines Erachtens diese Meinung nur verstärken".
Derselbe Hellpach bemerkte gegen die Anwendung des Experimentes
auf die Pädagogik durch E. Meumann, seine Ausführungen seien von allen
Geistern der Realität verlassen. Das gilt in noch höherem Massp von den
Korrelationsberechnungen Bätz', der aus einem Grundfaktor der Seele
durch mathematische Formeln die übrigen Eigenschaften eines Individuums
ableitet. Da kann man Hellpach nicht ganz Unrecht geben, wenn er von
der (iefahr einer „Fälschung" der empirischen Ergebnisse durch die mathe-
matische Bearbeitung spricht').
Auf die anfängliche Ueberschätzung der experimentellen Psychologie
folgt allmählich doch eine Ernüchterung, stellenweise eine starke Reaktion
selb.st aus dem eigenen Lager.
Eine Krisis der experimentellen Psychologie verkündet ein namhafter
französischer Psychologe, N. Kosly leff, in einer Veröffentlichung der Bibl.
de Philos. contemp. -).
■-- - —1
») Archiv f. d. ges. Psych. 2ü. Bd. S. 41,
0 La crise de la psychologie experimentale. Paris 1911, Alcan.
R. Geijer, Die Situation auf dem psychologischen Arbeitsfelde. 380
In einem Ueberblick auf das Ganze findet er, dass die zahllosen Ex-
perimente wenig Vertrauen auf die Erfolge erwecken. In der Tat, je mehr
sie anwachsen, um so unsicherer wird die Situation. Bis jetzt bleiben sie
nämlich fragmentarisch, isoliert, es fehlt auch die Einheit in der Sukzession.
Man begann mit Psychophysik, mit Untersuchungen über Empfindungs-
schwellen, über das Verhältnis von Reiz zur Empfindung, über Reaktions-
zeiten, über die physiologischen Begleiterscheinungen der seelischen Vor-
gänge. Die neueren Experimente desavouieren diese Anfänge, man wendet
sich in Frankreich praktischen Zielen zu, in Deutschland metaphysischen.
Eine Synthese so heterogener Elemente ist einfach unmöglich. Wie will
man z. B. Claparedes Untersuchungen über die Methoden der Tierpsycho-
logie mit Picks und Bühlers Experimenten über die Erkenntnisvorgänge,
über das Verständnis der Sprache einheitlich zusammenfassen? Sehr
richtig bemerkt Titchener, dass wir von einer ganzen und homogenen
Wissenschaft noch weit entfernt sind. Nicht einmal die Möglichkeit einer
gemeinsamen Aktion kann man erhoffen. Weder das Ziel, dem die ganze
Bewegung zustrebt, noch die leitende Idee sind klar und bestimmt.
Doch gibt es wirklich auch Experimentatoren, die ein „System" der
Experimente versucht haben, aber vorherrschend in Deutschland sind die-
jenigen Psychologen, die prinzipiell sich nur mit isoherten Experimenten
beschäftigen und sich nicht um eine zusammenfassende Wissenschaft be-
kümmern. So Wundt, der die psychophysischen Untersuchungen von Weber
und Fe ebner fortgeführt, der „erstaunlich begabte" Stumpf beschäftigt sich
mit Tonpsychologie, und wirkt „Wunder von Feinheit in der Analyse";
„Wunder der Ausdauer" liefern G. E. Müller, Schumann, Pilzecker,
Spezialisten sind auch Meumann, Ziehen, Kraepelin, soAvie in Frank-
reich Binet, Henri, Janet, Toulouse, Sollier. Und gar die Amerikanerl
Die psychophysischen Arbeiten kritisiert Kostyleff abfällig mit Hering,
van Biervliet, Müller und Titchener. Die Messungen hat man zwar
zu verbessern gesucht, aber man ist falsch orientiert, denn sie leisten nichts
für den Mechanismus des Zusammenhangs. Am unfruchtbarsten sind die
Zeitmessungen, von ihnen sind nur individuelle Tabellen und Zeich-
nungen verblieben.
Aber auch die systematisierenden Psychologen haben in ihren Unter-
suchungen über Gedächtnisassoziationen nichts für eine Wissenschaft ge-
leistet. Denn was soll die Kenntnis des „künstlichen und abstrakten Typus" ?
Allerdings hat die experimentelle Psychologie une orientation nouvelle,
es ist die Ausfragemethode. Aber ihre Resultate sind die unbe-
stimmtesten und zeigen augenscheinlich die aktuelle Krisis der Psychologie.
Dies zeigt eine Kritik der Versuche Watts, Messers, Bühlers.
Letzterer verwickelt sich in eine „reichUch metaphysische Terminologie".
Mit dem Fortschritt der Untersuchungen wachsen die „spiritualistischen Ten-
denzen". So bei Lipps, Erdmann, Stumpf. Wundts Argumente gegen
390 E. Rolf es.
diese „Scheinexperimente" sind zwar nicht zutreffend, denn es gibt auch
andere als naturwissenschaftliche Methoden : aber ihr eigentlicher Fehler
liegt in ihrer ephemeren und wenig präzisen Natur. Ihr schneller Erfolg
erklärt sich nur als eine Reaktion des spekulativen Geistes der Deutschen
gegen die allgemeine Begeisterung für exakte Methoden.
So die Kritik K.s ; wenn er aber nur in einer Verbindung der psycho-
logischen Erscheinungen mit Gehirnprozessen wahre Wissenschaft findet,
können wir ihm nicht beipflichten, wie wir auch seine Kritik für zu ein-
seitig erklären müssen.
Fulda. Dr. C. Gutberiet.
Geschichte der Philosophie.
Der Phaidros in der Eiitwickhiiig der Ethik und der Reform-
gedankeii Platoiis. Von Viktor Potempa. Inaugural-
Disseiiation. Breslau 1913. VII und 68 S.
Die Arbeit kommt dem Bedürfnis entgegen, das vielgestaltige und um-
fangreiche platonische Schrifttum unter einen einheitlichen Gesichtspunkt
zu bringen, eine dankenswerte, aber schwere Aufgabe. Dem Vf. liegt der
gedachte Gesichtspunkt in der Ethik. Ein eingehendes Studium hat ihn
zu der Ueberzeugung geführt, dass Piatons Philosophie in erster Linie eben
Ethik im weitesten Sinne, mit Einschluss also der Staats-, Rechts-, Gesell-
schafts- und Erziehungslehre ist, nicht Metaphysik oder Logik oder Aesthetik
(3). Die beste Probe auf die Richtigkeit dieser Auffassung wäre nun frei-
lich, wenn die sämtlichen Schriften Piatos daraufhin verglichen würden,
und sie würde bewiesen sein, wenn sich herausstellte, dass sie alle gemein-
sam eine moralische Bestimmung haben und sich dieser einzeln als wohl-
geordnete Glieder eines Ganzen unterordnen. Der Vf. verfährt aber anders.
Er beschränkt sich auf den Phaedrus und berücksichtigt von den anderen
Gesprächen nur die ihm vorangehenden. Zu ihnen rechnet er auch den
Staat. Indem er die früheren Schriften auf ihren ethischen Inhalt ansieht
(12 — 29), will er die Grundlage gewinnen, auf der er dem Phaedrus seine
historische Stellung in der Entwicklung der Moralphilosophie Piatos anweist.
Da hierzu aber auch noch eine eingehende Analyse seines Inhalts erforder-
lich ist, so lässt er diese der Bestimmung seiner ethischen Bedeutung voran-
gehen (29 — 50). Sie ergibt, dass der Phaedrus eine in sich geschlossene
und einheitliche Behandlung der Beredsamkeit ist. Ihrer Theorie, die im
2. Teil des Dialogs von K. 40 bis 63 entwickelt wird, gehen als praktische
Beispiele dafür, wie man reden und wie man nicht reden soll, im 1. Teil
drei Reden voran, die sämtlich von dem tQtog, dem philosophischen Trieb
oder der Liebe handeln (K. 6 bis 38). Nun folgt endlich die Beurteilung
imd Würdigung des Dialogs vom Standpunkte seiner ethischen Tendenz.
V. Potempa, Der Phaidros in der Entwicklung der Ethik. 391
Er ist an erster Stelle eine Reformschrift, dazu bestimmt, die entartete
Rhetorik der Zeit wieder zum Bewusstsein ihrer Pflicht zu bringen ^^51).
Die Beredsamkeit soll immer wahr und sittlich sein und darf nie in
Sophistik ausarten und einer ungerechten Sache dienen (65 f.). An zweiter
Stelle soll die Schrift den Unterschied zwischen wahrer und falscher Liebe
deutlich machen, zu jener ermuntern, vor dieser warnen (53). Die wahre
Liebe ist dem Plato vor allem die Sehnsucht nach Weisheit und Glück-
seligkeit. Sie entzündet sich in dem Philosophen beim Anblick wohl-
gebildeter und begabter Jünglinge, der ihn an die vollkommene und ewige
Schönheit erinnert und bewirkt, dass er durch Lehre und Zuspruch sie zu
Genossen seines Strebens nach Weisheit und Tugend macht. Um aber
die echte Liebe von ihrem Zerrbild, der bei den Griechen so verbreiteten
grobsinnlichen Erotik, zu unterscheiden, war es nötig, zuerst eine psycho-
logische Theorie des Eros zu geben und die gesamte Seelenlehre in allge-
meinen Zügen darzustellen. Daher die einschlägige Ausführung in der
zweiten Rede des Sokrates über den Eros. Dieselbe lieferte gleichzeitig
das wünschenswerte theoretische Fundament für das System der Rhetorik
im zweiten Teile des Phaedrus (53).
Wir haben hiermit über Inhalt und Tendenz der vorliegenden Disser-
tation in Kürze berichtet. Sie ist mit Fleiss, Scharfsinn und grosser Be-
lesenheit geschrieben. Einige Einzelheiten sind uns aufgefallen. Dass Piatos
Meinung hin und wieder zu der des Sokrates in Gegensatz gebracht wird,
dass z. B. gleich anfangs (12) im Anschluss an andere behauptet wird, die
sokratische Position, wonach die Tugend ein Wissen ist, sei dem Plato zum
Problem geworden, erscheint bedenklich. Plato redet ja fast nur durch
den Mund des Sokrates. Man mag also immerhin annehmen, dass Plato
manches in mehr spekulativer, formvollendeter und gelehrter Weise vor-
getragen hat, als es dem Sokrates gegeben war, aber er konnte ihn nicht
behaupten lassen, was der sokratischen Ansicht zuwiderlief. S. 56 heisst
es : „Wenn die Götter die Ideen vollkommen schauen, die Menschenseelen
dagegen nur mit Mühe, da sie durch das böse Ross daran gehindert werden",
so drückt dies einmal denselben Gedanken aus, der sich im Phaidros auch
in schlichter Prosa findet, dass Gott allein weise, dass er allein im Besitz
der Wahrheit ist, und dann den zweiten, welchen wir bereits aus dem
Phaidon kennen, „dass der Mensch durch seine Begierden in seinem Streben
nach der Wahrheit gehindert wird". Wie lässt sich mit dieser Auffassung
vereinbaren, was Plato K. 29 sagt, dass keine Seele in einen Menschenleib
eingehen kann, die nicht vorher die Wahrheit geschaut hat? Wenn man
Plato wegen seines Unsterblichkeitsbeweises aus der Selbstbcwegung im
24. K. tadelt (vgl. S. 33 Anm. 2) , so ist der Tadel wohl unbedenldich,
I wenn die Bewegung als absolut unabhängig gedacht ist. Sie ist das nur
I in Gott. In diesem Sinne muss Piatos Beweis schon deshalb falsch sein,
weil sich daraus die Ewigkeit der Seele folgern liesse, wie der Philosoph
B92 E. Kolfes.
ja auch tut. Insofern er übrigens keinen Geist kennt, der nicht in seiner
Sprache Seele wäre, und insofern die Selbstbewegung im Anschluss an
Thomas v. A. C g. 1, 13 als Selbsterkenntnis und Selbstliebe gedeutet
werden kann, insofern endlich auch in der Phaedrusstelle steht, dass das
Selbstbewegte Quelle und Anfang der Bewegung für alles Bewegte ist, kann
man wohl sagen, dass hier der Beweis für ein erstes Prinzip und ein erstes
Bewegtes, das selbst durch kein anderes bewegt wird, und insofern denn
inhaltlich ein Gottesbeweis erbracht ist. Was die Bedeutung der platonischen
Ideen betrifft, so wäre, wenn eine bestimmte wohlerwogene Auffassung
derselben als der Begründung entbehrend bezeichnet wird, zu wünschen,
dass auch die Argumente für sie entkräftet würden (vgl. S. 57 Anm. 5).
Cöln-Lindenthal. Dr. Rolfes.
Thomas von Aqiiin. Kine Einführung in seine Persönlichkeit und
Gedankenwell. Von Dr. Martin Grabmann. Kempten 1912,
Kösel. 168 S. kl.-8". 60. Bändchen der Sammlung Kösel.
In Leinen gebunden 1 A
Das Werkchen zerfällt in einen kleineren und einen grösseren Teil:
im ersten (1 — 47) werden der äussere Lebensgang, das Schrifttum und
die wissenschafthche Individualität des heil. Thomas sowie die Quellen und
das fortschreitende Ansehen seiner Doktrin behandelt, im zweiten wird ein
Umriss seines Lehrsystems in grossen Strichen entworfen, wobei der Vf.
naturgemäss und wie von selbst dazu gelangt, fast ausschliesslich das
Philosophische zu berücksichtigen. Er bespricht besonders folgende Punkte:
Denken und Sein, Glauben und Wissen; Gottes Dasein und Wesen; Gott
und die Welt; die Seele; die Erkenntnis; Ethik und Politik; Christentum
und Kirche. Am Ende stehen einige Winke zum wissenschaftlichen Ver-
ständnis und zur wissenschaftlichen Behandlung des heil. Thomas mit nach-
drücklicher Empfehlung der historisch-genetischen neben der systematischen
Methode.
Das kleine Buch ist mit Begeisterung für seinen hohen Gegenstand und
mit Sach- und Literaturkenntnis geschrieben, leicht verständlich und ganz
dazu geeignet, der Philosophie des heil. Thomas neue Freunde und Jünger
zu gewinnen. Besonders die Ausführungen über Denken und Sein, Gottes
Dasein und Wesen und die Seele und ihre Erkenntnis sind bemerkenswert
teils wegen ihrer Aktualität, teils wegen der präzisen Wiedergabe der Ge-
danken des heiligen Thomas. Die metaphysische Wesenheit Gottes bei
Thomas wird als das Sein selbst und als actus purus bezeichnet (90).
Es ist aristotelische und von Thomas übernommene Lehre, dass das
intellektive Prinzip im Menschen die substanziale Form des Leibes ist (111).
Die Hinkehr zu den Phantasmen ist nicht bloss für unsere geistige Er-
M. Grabmann, Thomas von Aquin, 393
kenntnis körperlicher, sondern für die aller Objekte ohne Ausnahme er-
forderlich (124).
Mit einigem dagegen sind wir nicht einverstanden.
Aristoteles soll sich nicht zum Schöpfungsgedanken • durchgerungen
haben (93). Kann Vf. das bewei.senV St. Thomas ist doch für das Gegen-
teil. Wie gäbe es denn eine einigermassen befriedigende Gotteserkenntnis,
wenn Gott nicht als Schöpfer gilt ? — S. 62 heisst es : „was unser Intellekt
zuerst als das bekannteste erfasst, ist das Sein". Es muss lauten: das
Seiende, ens. Das Seiende ist für uns bekannter als das Sein, weil kon-
kreter. Das Sein begegnet uns in seiner Abstraktheit nirgends, das Seiende
überall. — Ferner, Averroes hatte gelehrt, dass der intellectus agens nur
einer in allen Menschen sei. Der Vf. redet mit Bezug darauf von „der
nicht recht klaren aristotelischen Lehre" (119). Die aristotelische Lehre
ist aber durchaus nicht unklar, sie gibt keinen Anlass zu einer anderen
Auslegung als der, dass der intellectus agens so gut wie der possibilis m
jedem Menschen ein besonderer ist. — Die Erhaltung der Welt durch Gott
wird S. 97 richtig bestimmt, die Begründung aber für ihre Notwendigkeit,
dass die Welt ens ab alio ist, hätte vielleicht durch den Hinweis erweitert
werden können, dass alles Erschaffene seiner Wesenheit nach blosse Potenz
ist, und das darum, weil sein Wesen nicht sein Sein ist, wie Thomas in
der S. 98 angeführten Stelle sagt. S. 126 wird die Unfähigkeit der Seele,
sich selbst anders als durch ihren Akt zu erkennen, aus dem „passiven,
potenziellen Charakter unseres Geistes" abgeleitet. Das „passiv" fiele besser
weg. Auch Aktives wird nur erkannt, wenn es actu ist, z. B. die Farben
nur, wenn sie actu, beziehungsweise wenn sie im Lichte sind. — Ein kleines
Versehen ist dem Verfasser begegnet, indem er S. 138 von der nolnüa
statt von den uoliTixä des Aristoteles redet.
Göln-Lindenthal. Dr. Rolfes.
Der Zweckgedanke in der Philosophie des Thomas von Aquino.
Nach den Quellen dargestellt von Dr. phil. Theodor Stein-
b ü c h e 1. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde,
vorgelegt der Philosophischen Fakultät der Universität zu Strass-
burg i. Eis. Münster i. W. 1912, Aschendorff. 77 S.
Die vorliegende Dissertation ist, wie der Vf. bemerkt, der Teildruck
einer grösseren Arbeit, die in nächster Zeit in den von Cl. Baeumker
herausgegebenen Beiträgen zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters
erscheinen wird. „Ein Gedanke vor allem durchzieht die gesamte tho-
mistische Philosophie und Theologie: Der Zweckgedanke. Der Zweck
ist die allgemeine Kategorie, unter der das gesarate Uni-
394 N. Kaufmann.
versum sowohl wie das Leben des einzelnen betrachtet wird.
Den Zweckgedanken in seiner Bedeutung für die Philosophie des Thomas
will diese Arbeit allseitig darlegen" (Einleitung). Diese Darlegung hat fol-
gende Abschnitte: Erster Teil. Der Begriff von Ziel und Zweck. Erstes
Kapitel : Der Begriff und seine Ableitung. Zweites Kapitel : Das Ziel als Ur-
sache. Zweiter Teil: Die Verwertung des Zweckgedankens in der thomistischen
Philosophie, Hier spricht der Vf. in vier Kapiteln von der Unentbehrlichkeit
des Zweckgedankens für die Naturerkenntnis, von der Zielstrebigkeit der
unbewussten Naturwesen und in der bewussten unvernünftigen Natur, schliess-
lich von der Zielstrebigkeit der vernünftigen Wesen, wie sie namentlich im
freien Willen zur Geltung kommt. In zahlreichen Fussnoten werden die
Belegstellen im Originaltext angeführt und Angaben bezüglich der neueren
einschlägigen Literatur gemacht, die jedoch unvollständig sind.
Die gründliche Arbeit zeugt von fleissigem Studium der Werke des
hl. Thomas. Besondere Anerkennung verdient der im erstenTeil geführte
Nachweis, inwiefern nach Aristoteles und Thomas der Zweck Ursache ist.
In dem Kapitel über die Zielstrebigkeit der unbewussten Naturwesen hätte
der Vf. S. 41, wo er davon spricht, dass Aristoteles die Naturteleologie
gründlich durch die Empirie belegt habe, namentlich auch auf die Tier-
ge.schichte und auf die Schrift über die Teile der Tiere hinweisen sollen.
Wenn der Vf. a. a. 0. sagt, „das Empirische liegt ganz ausser der Interessen-
sphäre des Aquinaten", so ist das nicht ganz zutreffend. Allerdings hat
Thomas nicht selbst empirische Forschungen in der Natur angestellt, wie
Aristoteles und Albertus Magnus. Aber im Gegensatz zu einem einseitigen
Apriorismus betont er als echter Aristoteliker in seiner Erkenntnislehre
sehr die hohe Bedeutung der sinnlichen Erkenntnis resp. der Erfahrung als
Vorarbeit für die intellektuelle Tätigkeit. Indem Thomas das Kausalitäts-
prinzip zur Grundlage seiner Philosophie macht, den Schluss von den
durch die Erfahrung festge.stellten Wirkungen auf die Existenz und das
Wesen der Ursache hat er die induktive Methode angewandt.
S. 42 bemerkt der Vf., die ganze Theorie des natürlichen Streben.s
in den unbewussten Naturwesen sei nichts als eine Analogie mit dem mensch-
lichen Willensleben, über deren Berechtigung sich weder Aristoteles
noch Thomas Rechenschaft gegeben haben (vgl. die Bemerkung S. 50, dass
auch die Lehre des hl. Thomas von der Zielstrebigkeit der Tiere ein
Analogieschluss aus dem Seelenleben des Menschen sei). Nach dieser
Auffassung sollte man meinen, die ganze Lehre des Stagiriten und des
Aquinafen von der Zielstrebigkeit in der vernunftlosen Natur sei nur ein
Anthropopathismus. Nun aber hat Aristoteles und im Anschluss an ihn
sein grosser Interpret ausgehend von den Tatsachen festgestellt, da.ss
die Naturwesen, welche der vernünftigen Erkenntnis entbehren, regelmässig
zu dem sich strebend hinbewegen, was für sie das Beste, das Zweckmässige
Th. Steinbüchel, Der Zweckgedanke in d. Philos. d. Thom. v. Aquin. 395
ist ^). Sehr richtig bemerkt der Vf. S. 48 bezügUch der thomistischen Er-
klärung der Zielstrebigkeit : „Ohne Erkenntnis keine Zielstrebigkeit, nur
blinder Zufall. Und doch herrscht in der Natur die schönste Ordnung und
die grösste Harmonie. Diese Schwierigkeit ist nur metaphysisch zu
lösen: Wie der Pfeil zum Ziele strebt, ohne selbst das Ziel zu kennen, so
strebt auch die bewusstlose Natur ihrem Ziele zu, gelenkt und geleitet von
ihrem Schöpfer". Die interessante Schrift sei allen Freunden philo-
sophischer Studien bestens empfohlen.
Luzern. Dr. N. Kaufiiiaim.
Theologie und Wissenschaft nach der Lehre der Hoch-
scholastik. An der Hand der bisher ungedruckten Defensa
doctrinae D. Thomae des Hervaeus Naialis mit Beifügung ge-
druckter und ungedruckter Paralleltexte. Von Dr. theol. und
phil. Engelbert Krebs, Privatdozent an der Universität Frei-
burg i. Br. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittel-
alters. Texte und Untersuchungen. In Verbindung mit Georg
Freih. von Hertling und Matthias Baumgartner herausgegeben
von Clemens Baeumker. Bd. 11. Heft 3—4). Jb 6,50.
Die Anlage des Buches ist, wie der Titel, auf den ersten Blick nicht
ganz durchsichtig. Den Kern bilden Exzerpte aus der Defensa doctrinae
D. Thomae des Hervaeus Natalis, eines Thomisten aus dem Anfange des
14. Jahrhunderts. Grabmann (Die Lehre des hl. Thomas von Aquin von
der Kirche als Gotteswerk. Regensburg 1903. Literarische Rundschau 35
[1909] 574) hat neuerdings wieder besonders auf ihn hingewiesen und auf
die Bedeutung seiner grossenteils noch ungedruckten Schriften aufmerk-
sam gemacht. „Vorliegende Studie nimmt den hier geäusserten Wunsch
als Aufgabe" (S. 1). Die oben genannte Schrift des Hervaeus ist in
dem Cod. lat. Vat. 817 enthalten. Krebs bietet den Text, indem er die
wichtigeren Stellen wörilich anführt, von den weniger wichtigen aber bloss
mit einer deutschen Inhaltsangabe sich begnügt, so jedoch, dass man da-
durch einen vollständigen Ueberblick über das ganze Werk erhält. Der
Vf. hat sodann durch Vergleichun>£ der Lehre des Hervaeus mit der
zahlreicher anderer Vertreter der Hochscholastik den Traktat in seinen
historischen Zusammenhang eingereiht und zugleich eine ziemlich voll-
') Vgl. die Monographie des Rezensenten: „Die teleologische Naturphilo-
sophie des Aristoteles und ihre Bedeutung in der Gegenwart''. 2. Autlage.
Paderborn, Ferdinand Schöningb. 133 S. In l'ranzösischer Uebersetzung er-
schienen bei Felix Alcan in Paris. Der Verfasser scheint diese Schrift nicht
zu kennen.
396 Geyer.
ständige Darstellung der Lehre der Hochscholastik iiber Theologie und
Wissenschaft geboten. Zu diesem Zwecke sind zunächst dem Texte viele
Zitate und eigene Scholien beigegeben, die die parallelen Stellen aus den
Werken von 27 Theologen der Hochscholastik 'enthalten. Aufgrund dieses
Quellenmaterials wird dann im ersten Abschnitt eine übersichtliche Dar-
stelhmg der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Fragen gegeben.
Ich halle diese Anlage des Buches nicht in jeder Beziehung für glücklich.
Der Text des Hervaeus wird durch die vielen Anmerkungen und Scholien zu
sehr zerrissen, ich würde sie lieber in dem ersten., darstellenden Teile als An-
merkungen gesehen haben. Dass der Text selbst nicht vollständig geboten ist,
wird bei dessen Weitschweifigkeit nur gebilligt werden können. Dagegen gefällt
es mir nicht, dass überall deutsche Wörter und Sätze zwischen den lateinischen
Text gesät sind. Z. B. S. 44: . . ■ quia altera pars contradictionis semper dicit
puram negationem, was hier nicht der Fall ist, denn das non iirmiter adhaerere
der opinio leugnet nicht . . . S. 47 : ... dicendum, quod fides potest accipi duobus
modis, uno modo im weiteren Sinne. . . S. 46: Alia est theologia, vermöge
deren einer das simpliciter in der Schrift Gegebene erschliesst. Tertio modo
dicitur Theologia, die Kunst, aus dem natürlichen Wissensbereich . . . usf. Das
ist nicht nach meinem Geschmacke ebensowenig wie die subjektlosen Sätze
„wird ausführlich gezeigt" u. ä. Es liegt ja ohne Zweifel eine gewisse Schwierig-
keit darin, aus den umfangreichen Werken der Scholastiker Auszüge zu bieten,
die ein klares Bild des betreffenden Werkes geben. Aber die doppelte For-
derung dürfte doch wohl berechtigt sein, dass nur vollständige deutsche Sätze
gebraucht v.'erden, und dass das Deutsche auch äusserlich durch den Druck von
dem lateinischen Texte unterschieden wird. Von diesen rein äusserlichen Mängeln
abgesehen, ist der Text durchaus sorgfältig behandelt, die Konjekturen des
Herausgebers haben alle meinen Beifall gefunden; nur auf S. 45 Z. 3 v. u. muss
wohl anstatt .exqiiisitus' ,acquisitus' gelesen werden.
Der Inhalt des Buches beansprucht ebenso sehr ein historisches wie
ein dogmatisches Interesse. „Ist die Theologie eine Wissenschaft im strengen
Sinne ?" Diese Frage ist heute noch so aktuell wie zur Zeit des heiligen
Thomas. Darum bietet es einen eigenartigen Reiz, die Antworten der
grossen Theologen des Mittelalters auf diese Frage in historischem Zu-
sammenhange zu hören. Der Verfasser luiterrichtet uns zunächst über die
Entstehung des Problems (13 — 27). Indem er bis auf das Alte Testament
zurückgreift, verfolgt er die Frage durch die Zeit der Väter und der Früh-
scholastik bis zu dem Zeitpunkte, wo der ganze Aristoteles im Abendlande
bekannt wird und einen massgebenden Einfluss auf das abendländische
Denken gewinnt. Dieser Ueberblick über die Geschichte des Problems
kann natürlich nur die für die spätere Zeit bedeutsamsten Entwicklungs-
stufen berücksichtigen, im Altertum Augustinus und Boi'thius, im früheren
Mittelalter Anselm, die Viktoriner und Petrus Lombardus. Hier hätte die
Lehre Abaelards über das Verhältnis von Glauben und Wissen Er-
wähnung finden müssen, die .sich mehr als die seiner Zeitgenossen der
Ansicht der grossen Scholastiker nähert und wenigstens indirekt auf die
E. Krebs, Theologie u. Wissenschaft nach d. Lehre d. Hochscholastik. 397
Folgezeit einen grossen Einfluss ausgeübt hat (Vergl. die treffliche Dar-
stellung von Th. Heitz, Essay historique sur les rapports entre la Philo-
sophie et la foi de Berenger de Tours ä S. Thomas d'Aquin, Paris 1903,
p. 7—30).
Durch die Einwirkung der Wissenschaftslehre des Aristoteles wird der
Frage eine neue Wendung gegeben. Es sind vor allem zwei Sätze des
Aristoteles, die den Scholastikern zu eingehenden Erörterungen Anlass
geben: 1. Jedes Wissen gründet sich auf die Evidenz des Gewussten;
wird dieses durch einen Schluss vermittelt, so müssen die Prämissen des
Schlusses selbst evident sein. 2. Nur das Allgemeingültige kann Gegenstand
der Wissenschaft sein. Ist nun die Theologie von diesem Standpunkte aus
eine Wissenschaft (28-53)? Die Antworten der Scholastiker auf diese
Frage sind höchst mannigfaltig und interessant. Da die Prämissen der
Theologie geglaubte, nicht evidente Wahrheiten sind, so scheint ihr der
Charakter der Wissenschaft im strengen Sinne nicht eigen zu sein. Denn
offenbar genügt es zum Begriff der Wissenschaft im strengen Sinne nicht,
wenn man bloss die Evidenz der Folgerung erreicht, wie z. B. Johannes
von Neapel meint. Andere suchen der Schwierigkeit zu entgehen durch
die Annahme, dass dieselben Sätze zugleich geglaubt und gewusst sein
können. Der Vf. gibt hier einen guten geschichtlichen Ueberblick über die
Entwicklung dieser speziellen Frage. Petrus Lombardus hatte diese Frage
bejaht, ihm schliessen sich die nachfolgenden Scholastiker an: Alexander
Halensis, Bonaventura, Matthaeus von Aquasparta, Albert der Grosse und
Peter von Tarantaise. Thomas dagegen bricht mit dieser Tradition, indem
er die Begriffe von Glauben und Wissen schärfer fasst und von einander
scheidet. Ihm schliesst sich in diesem Punkte sein grosser Antipode an,
Scotus, sowie Gottfried von Fontaine, während andere wieder auf die An-
sicht der Früheren zurückgreifen, wie der gefeierte Schüler des Scotus,
Johannes de Basoliis, der Dominikaner Durandus und Heinrich von Gent.
Hervaeus aber verteidigt in diesem wie in andern Punkten energisch
die Ansicht seines Ordenslehrers Thomas. Auch in der allgemeineren
Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter der Theologie bedeutet
Thomas einen Fortschritt. Die älteren Franziskanertheologen Alexander
Halensis, Bonaventura und Johannes Peckham bejahen die Frage, ohne sich
aber die Schwierigkeiten aus der aristotelischen Wissenschaftslehre zu ver-
hehlen. Ihnen schliessen sich die älteren Dominikaner, Albert der Grosse ■
und Ulrich von Strassburg, an. Sie stehen alle unter dem Einflüsse des
Augustinismus, der die Begriffe Glaube und Wissen nicht scharf sondert.
Thomas wandelt in seinem Sentenzenkommentar noch in den Bahnen
seiner Vorläufer. Später aber bezeichnet er die Theologie als subalterne
Wissenschaft, am klarsten in: De ver. qu. 1 14 a. 9 ad 3: ,Ille qui habet
scientiam subalternatam, non perfecte pertingit ad rationem sciendi, nisi
in quantum eins cognitio continuatur quodammodo cum cognitione eius
398 Geyer.
qui habet scientiam subalternantem; nihilominus tarnen inferior sciens non
dicitur de his quae supponit, habere scientiam, sed de eonclusionibus,
quae ex principiis quae supponuntur neeessario concluduntur; et sie et
lidelis potest dici habere scientiam de his quae concluduntur ex articulis
fidei' (Krebs S. 38, 42). In der Summa theol. 1 q. 1 a. 2 wird die Evidenz
der von der Theologie vorausgesetzten Prämissen auf die Erkenntnis Gottes
und der Seligen zurückgeführt: ,Et hoc modo sacra doctrina est scientia:
quia procedit ex principiis notis lumine superiöris scientiae quae scilicet
est scientia Dei et beatorum. Unde sicut musica credit principia tradita
sibi ab arilhmetico, ita doctrina sacra credit principia revelata sibi a Deo.'
Scotus geht noch über Thomas hinaus. Er erklärt, dass die Theologie
eine Wissenschaft im strengen Sinne der aristotelischen Wissenschaftslehre
nicht sei. Den Ausweg des Thomas,, dass sie eine Subalternwissenschaft
sei, lehnt er mit durchschlagenden Gründen ab (S. 28, 29, 43, 44). Jedoch
verleiht nach ihm die Theologie dem Menschen einen höheren habitus,
vermittelst dessen aus der heil. Schrift Folgerungen gezogen, Einwände gelöst
werden und grösseres Verständnis der Wahrheiten über die Trinität usw.
erreicht wird.
Auch in der Frage nach dem Subjekte, d. h. nach dem Zentralbegriffe
der Theologie (S. 53 — 90), zeigt sich bei Thomas ein Fortschritt, indem er
klar den Begriff Gottes als das Subjekt der Theologie herausstellt. In der
Frage endlich, ob die Theologie eine spekulative oder praktische Wissen-
schaft sei, treten die Gegensätze der Schulen am schärfsten hervor, indem
die Franziskanerschule auf den Willen, die Dominikanerschule auf den
Intellekt den Hauptwert legt. Diese Gegensätze müssen notwendig unaus-
geglichen bleiben, weil sie in der ganzen Denk- und Lebensrichtung ihrer
Vertreter aufs tiefste gegründet sind. Es ist das auch keineswegs zu be-
dauern, weil dadurch ein erfreulicher Reichtum von Gesichtspunkten und
Gedanken erzeugt wurde
In einem letzten Kapitel „Ergebnisse" wird vor allem die Bedeutung
des Aquinaten auf Grund der voraufgegangenen Untersuchungen sehr um-
sichtig behandelt. Während auf der einen Seite die Abhängigkeit des
Thomas von seinen Vorgängern klar zu Tage tritt, kann der Vf. doch in
allen Einzelfragen den grossen Fortschritt konstatieren, den die W^issenschaft
dem grossen Aquinaten verdankt. Er ist darum vollständig im Rechte,
wenn er die abfälligen Urteile Prantls über die Bedeutung des Albertus
Magnus und Thomas von Aquin, denen ohne Zweifel die erforderliche
Voraussetzungslosigkeit fehlt, zurückweist. Man kann nur wünschen, dass
durch ähnliche Spezialuntersuchungen die wahre Bedeutung des Aquinaten
immer mehr herausgestellt wird. Eine solche auf geschichtlicher Be-
trachtung beruhende Bewertung der thomistischen Lehre bietet auch allein
eine sichere Grundlage für die Verwendung derselben in der Theologie
der Gegenwart.
E. Krebs, Theologie u. Wissenschaft nach d. Lehre d. Hochscholastik. 399
Seit der Veröffentlichung dieser Schrift sind noch drei Studien erschienen,
welche die darin hebandelten literargeschichtlichen Fragen eng berühren und
den nach dem Tode des hl. Thomas ausbrechenden Streit um seine Lehre
zum Gegenstande haben: Grabmann, Le „Correctorium Corrupforii" du
Dominicain Johannes Quidort de Paris (f 1306). Noles sur les documents
manuscrits {Revue Neo-Scolastique de pliilosophie, August 19l2j. — Man-
donnet, Premiers travaux de polemique ThomJste {Revue des sciences philo-
sophiques et theologiques, 191:-^, p. 40-69). — Elirle, Der Kampf um die
Lehre des hl. Thomas von Aquin in den ersten fünfzig Jaliren nach seinem Tod
(Innsbrucker Zeilschrift für katholische Theologie. 1913, S. 266-318).
Bonn. Dr. Geyer.
Religionsphilosophie.
Weltorclimng' und Bittgebet. Eine apologetische Studie. Von
Dr. Ernst T ho min, Subregens am bischöflichen Priesterseminar
zu Mainz, gr. 8« (XII und 220 S.). Mainz 1912, Kirohheim.
5 A
Das vorliegende Buch kann hier, in einer philosophischen Zeitschrift,
offenbar nur insofern zur Besprechung gelangen, als es philosophischen
Oharakter hat. Dass das durch den Titel angedeutete Problem nicht erst
auf dem Standpunkt des Glaubens sich ergibt, sondern eigentlich noch
dringender auf dem Boden der natürlichen Rehgion, ist einleuchtend. Der
Vf. hat sich aber nicht auf den rein philosophischen Standpunkt gestellt,
sondern die Frage von theologischen und philosophischen Gesichtspunkten
aus behandelt.
Das 1. Kapitel (5-24) bespricht Gebet und Gebetserhörung in den
schriftlichen Offenbarungsquellen, das 2. orientiert über die Bedenken und
Einwände gegen die Berechtigung des Bittgebetes (25 - 39), das 3. erörtert
die allgemeinen Voraussetzungen des Bittgebetes und der Gebetserhörung
(40—76), das 4. (77—127) und 5. (128-216), die den Hauptteil der ganzen
Schrift bilden, zeigen, welche Bedeutung das Gebet innerhalb der Welt-
ordnung hat, und wie die Erhörung von selten Gottes zu denken ist.
Das Kapitel, in dem die Frage eigentlich nach ihrer philosophischen
Seite zur Entscheidung kommt, ist das dritte. Die allgemeine Frage lautet :
Kommt dem Gebet, in dem Gott um die Verleihung einer Gabe angefleht
wird, objektive Bedeutung zu? Nun ist von vorne herein klar, dass sich
das Problem für bestimmte Standpunkte überhaupt nicht ergibt; wer leugnet,
dass Gott persönlich ist, für den ist ein Gebet, d. h. ein innerliches Sprechen
mit dem höchsten Wesen, unmöglich. Drews, der die löbliche Eigenschaft
der Konsequenz hat, sagt in diesem Sinne: ,,Auf dem Standpunkte des
konkreten Monismus, wo jene Schranke zwischen Gott und Mensch gefallen
ist, hört nicht nur die logische Möglichkeit, sondern auch das religiöse
400 J- Koch.
Bediirfnis nach dem persönhehen Wechselverkehr auf, denn die vom
reUgiösen Bewusstsein erstrebte Einheit mit Gott ist ja hier unmittelbar
wegeben . . ." (Die deutsche Spekulation seit Kant II 133). Ebenso muss
derjenige dem Bittgebet überhaupt jeden Sinn absprechen, der in dem
Prinzip der geschlos.senen Naturkausalität nicht bloss eine — allerdings
liir die Naturwissenschaft unbedingt notwendige — methodische Voraus-
setzung sieht, sondern es als absolut geltend betrachtet.
So ergab sich als besondere Aufgabe dieses Abschnittes, auf diese
beiden Punkte näher einzugehen und die Frage zu stellen: Unter welchen
Voraussetzungen ist das Bittgebet möglich? Auf der einen Seite
musste eingehend und gründlich die Relativität der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis nachgewiesen werden, anderseits der Begriff des aus und durch
sich seienden, persönlichen Gottes und sein Verhältnis zur Welt derart
klargelegt werden, dass von diesen Seiten aus keine Schwierigkeiten mehr
gegen die Möglichkeit des Bittgebetes gemacht werden konnten. Die
Lö.sung der Frage lässt sich dann etwa in dem kurzen Satze zusammen-
fassen: Gott ist durchaus a se; insofern ist es nicht möglich, ihn mit
Bitten zu beeinflussen oder umzustimmen; aber er hat die Gebete von
Ewigkeit her mit in den Weltplan aufgenommen und sie — seine eigene
Freiheit gleichsam beschränkend — bei der Verwirklichung dieses Planes
berücksichtigt (vgl. die, auch vom Vf. zitierten, schönen Gedanken bei
H. Schell, Gott und Geist I 319).
War diese grundlegende Schwierigkeit erledigt, dann ergab sich die
Möglichkeit, das Bittgebet nach seinem Inhalt zu würdigen und zu sehen,
was sich hieraus für die Verwirklichung der zuerst erkannten Mög-
lichkeit ergibt. Den Massstab hierfür hefert der Zweck der Welt; an
diesem Massstab gemessen sind die Gebete keineswegs gleichwertig, und
nicht jedes Gebet ist der Erhörung würdig.
Auf dieser zweiten Stufe lag dann zugleich die Möglichkeit vor, zu
dem Gebiet des üebernatürlichen aufzusteigen: Gott hat die Welt nicht
bloss zu einem natürlichen Zweck erschaffen, sondern die Menschen im
besonderen zu einem übernatürlichen Zweck berufen. Hier ergaben sich
dann noch weitere Besonderungen.
Die hier vorgetragenen Grundgedanken finden sich selbstverständlich
in dem Buche von Thomin; sie sind ja keineswegs neu, vielmehr alte
katholische Wahrheiten. Was wir aber an dem Buche vermissen, ist der
methodische Aufbau ; einerseits finden sich viele Wiederholungen, ander-
seits die verschiedensten Gesichtspunkte in einem Abschnitt. Es scheint,
als wolle der Vf. nur das Problem behandeln, ob das Bittgebet eine ob-
jektive Wirksamkeit haben könne; daneben geht aber die ethische Frage
nach dem Wert des Bittgebetes überhaupt, die psychologische nach dem
Verhältnis des Gefühls zum Gebet. Wir müssen gestehen, das Buch ist
ßrnst Thomin, Weltordnung und Bittgebet. 40i
reich an schönen einzelnen Gedanken, aber der mangelhafte Aufbau lässt
den Leser doch nicht zu einem rechten Genuss kommen. Bei der Be-
handlung der Gegner hat man nicht immer die Ueberzeugung, dass die
Widerlegung durchschlagend ist.
Zum Schluss sei gesagt, dass auch dieses Buch, wie so manches in
den letzten Jahren erschienene, zeigt, dass sich viele Gedanken Hermann
Schells langsam, aber sicher Bahn brechen; das vorliegende Beispiel ist
um so wertvoller, als der Vf. Schell selbständig gegenübersteht und nicht
versäumt, auf niissverständliche Aeusserungen des Gelehrten hinzuweisen.
Rheinbach b. Bonn. j. Koch.
Philosophisches Jahrbuch 1913 2G
Zeilschriftenschau.
A. Philosophische Zeitschriften.
1| Archiv für die gesamte Psychologie. Herausgegeben von
E. Meumann und W. Wirth. Leipzig 1913.
26. Bd., 1. uud 2. Heft: H. Hofmann, Untersuchungen über den
Euipfiudungsbep:rift'. S. 1. Es wird untersucht, „wie sieh das als
Empfindung Definierte zu dem in der Wahrnehmung angeschauten Sinn-
lichen verhält, ob mit dem Begriffe der Empfindung ein in sinnlicher Wahr-
nehmung (oder Anschauung) aufweisbarer Tatsachenbereich bezeichnet wird,
der die Objekte einer wissenschafthchen Forschung abgeben kann". Nach
einer Kritik der herkömmlichen Begriffe unterscheidet der Vf. Stufen der
vi.suellen Sinnlichkeit: Atomding und Sinnending, visuelles Sinnending und
Sehding, Sehding und „wirkliches Ding", Sehding und Dingerscheinung,
,, sinnliches Erlebnis" und „sinnUche Anschauung". In Bezug auf den Raum
und die visuelle Raumanschauung unterscheidet er: „Wirklichen Raum"
und Sehdingraum, Erscheinungsraum und Anschauungsraum. Lipps be-
hauptet, dass wir die Entfernung der Objekte von uns sehen. „Wenn er
behauptet, dass sich zwischen uns und den gegebenen Objekten nichts
befinde, so ist das eine falsche Wiedergabe des eigenthchen Tatbestandes".
„Die sinnliche Tiefenwahrnehmung als solche steht tatsächlich fest". —
W. Moede, Die psychische Kausalität und ihre Gegner. S. 155.
Der Gegensatz zwischen Nativismus und Empirismus ist durch den Begriff
der Disposition überwunden worden: aber unüberwindbar ist der zwischen
deskriptiver und konstruktiver Psychologie. Denn erstere bestreitet
die Möglichkeit exakter kausaler Synthesen, „da von der energetischen
Gleichwertigkeit der konstituierenden Elemente eines simultanen oder suk-
zessiven Zusammenhangs nnd ihres vermeintlich kausal ableitbaren Effektes
keine Rede .sein könne". „So lange die Physiologie eine kausale physiko-
cheiiiisclie Analyse des Nervensystems nur im Minimum erreicht hat, zu-
mal sie die nervöse Substanz erst abtötet, uiu methodisch vorgehen zu
können, und so lange eine einwandfreie und allseitige rein immanente
Bearbeitung des Seelischen durch Kausal- und Funktionsbegriff nicht mög-
licii ist, wird die Methode der Deskriptioii die einwandfreieste sein, die
zudem nocli die meisten Ergebnisse liefert". V. Honiuth, Beiträge zur
Zeitschriftenschau. 403
Kenntnis der Nachbilderscheinuugen. S. 181. I. T. : Längerdaueinde
Reize. Das „Abklingen der Farben". In Bezug auf Helligiteit ist das Nach-
bild hell bei verdunkeltem „Kern" des Primärbildes, das Nachbild dunkler
bei hellem „Rand" des Primärbildes, das Nachbild sehr hell bei dunklem
„Rahmen" des Primärbildes, der „Hof" des Nachbildes schwach aufgehellt
wie das Primärbild. Nach den Feststellungen des Vf.s beherrschen Blau,
ein Purpurton und Gelb das Abklingen farbiger Reizung, was auch mit
den Ergebnissen von Fechner und Helmholtz ziemlich übereinstimmt. —
Die gewöhnliche Erklärung durch Ermüdung befriedigt nicht. Der Be-
griff des Positiven und Negativen ist hier unzulässig. Auch der oszillatorische
Charakter der Nachbilder spricht dagegen : Diese oszillierenden Vorgänge
weisen auf das^ Eigenlicht hin, sie nehmen eine durchaus selbständige
Stellung ein, sie beruhen auf physiologischen Prozessen unabhängig vom
Reize, auf die schon Martius hingewiesen hat. Sie bestehen schon im
Primärstadium , werden aber durch das Reizlicht zurückgedrängt. Die
Resultate des Vf.s sprechen für eine Komponententheorie, aber nicht für
die Helmholtzsehe, sondern als Grundfarben sind Blau, Purpur, Gelb an-
zusehen. Grün ist auszuschalten. „Die Einwirkung des Reizlichtes auf
sämtliche Komponenten des Sehorgans ist der alleinige und ausschliess-
liche Grund der Vorgänge des Abklingens wie überhaupt der Nachbild-
prozesse. Diese Wirkung entwickelt sieh im Primärstadium, vermag aber
hier nicht voll zur Geltung zu kommen, da die dem Reize adäquate Farbe
überwiegt. Im Sekundärstadium hingegen können die angeregten Prozesse
im freien Spiele ihre Kräfte messen. Dabei werden sich im allgemeinen
zuerst und am stärksten diejenigen Qualitäten im Wettstreile der Farben
hervordrängen, welche bisher am stärksten gehemmt waren, das sind aber
die Gegenfarben", — Im II. Teil gibt Vf. Neue Feststellungen über die Ge-
staltung des Primär- und Sekundärbildes. Er unterscheidet „die zeitlich
zuerst auftretenden und wenigstens in gewissen Teilen helleren Partien der
Gesamterscheinung als Primärbild, die sich direkt anschliessenden dunk-
leren als Ghost, sekundäres oder Nachbild" und das in grösserem Ab-
stände vom Ghost folgende öfter beobachtete Tertiärbild. Sodann werden
die Ergebnisse für die einzelnen Farben mitgeteilt. — Literaturbericht.
Berichtigung: Hellpach gegen Lehman hat in der Fälschung der
empirischen Ergebnisse durch die mathematische Bearbeitung nicht einen
moralischen Beigeschmack intendiert.
3. und 4. Heft : Th. Haering, Untersuehung'en zur Psychologie
der Wertung. S. 269. ,,Auf experimenteller Grundlage, mit besonderer
Berücksichtigung der methodologischen Fragen. Die bisherige psychologische
Werttheorie leidet an Mängeln, es fehlt ihr die experimentelle Untersuchung ;
das Material war unvollständig oder unrichtig. Der Einwand, dass die ex-
perimentelle Untersuchung künstliche, erzwungene Erlebnisse zugrunde legt,
ist hinfällig. Die Wertung selbst wird sehr verschieden definiert. Man
■2a*
404 Zeitschriftenschau.
erhält eine vorläufige Definition „durch die wichtige Bestimmung, dass nur
ein solcher psychischer Vorgang (aber auch jeder solche) als wirklicher
und genauer Wertungsvorgang zu gelten hat, der einen Wert wirklich
konstituiert, d. h. auf Grund dessen ein Wert wirklich für das jeweilige
Bewusätsein des Wertenden zu Stande kommt". — J. Geyser, Beiträge
zur logischen und psychologiseheu Analyse des Urteils. S. 361.
Meinach sucht den Psychologismus von Lipps mit dem Objektivismus
Husseils zu vereinigen. Vf. fasst seinen Standpunkt zusammen in der Be-
stimmung von Subjekt, Prädikat und Kopula. Zu einem Urteil gehört in
erster Linie ein Etwas, über das geurteilt wird. Ein jedes derartiges Etwas
bezeichnen wir als den Gegenstand des Urteils, wie immer es beschaffen
sein möge, ob es real oder ideal existiere. Nur das eine Merkmal ist ihm
wesentlich, dass es dem urteilenden Denken als ein von ihm unabhängiges,
in sich selbst bestimmtes Objekt gegenübersteht. Der Gegenstand ist das,
was man das Subjekt des Urteils nennt. Man erkennt ihn, wenn man
fragt: Ueber welches Objekt macht dieses Urteil eine Aussage? Zum Urteil
gehört zweitens ein bestimmter Begriff und die Intention, das Verhältnis
auszusagen, welches zwischen dem Gegenstande und dem Inhalt dieses
Begriffes objektiv vorhanden ist. Hierin stecken demnach drei Momente:
1. der zum Träger der Intention erhobene Begriff, er gehört zum Prädikat;
2. die genannte Intention, sie heisst Kopula ; und 3. das Verhältnis zwischen
dem (gegenstände und dem Inhalte des Prädikatsbegriffes: dieses ist der
Sachverhalt. Unter dem Sachverhalt ist dasjenige zu verstehen, was im
Urteil vom Gegenstande ausgesagt wird. Daher ist der Sachverhalt das
Prädikat des Urteils, während der Prädikatsbegriff nur ein Bestandteil des
Prädikates ist. Der Sachverhalt ist immer notwendig irgend eine Relation
des Gegenstandes, und zwar entweder eine solche, die besteht, oder eine
solche, die nicht besteht . . . der Sachverhalt ist in erster Linie ein am
Gegenstande objektiv gegebener, also gegenständlicher. Ihm steht gegenüber
der vom Denken in Bezug auf den Gegenstand gesetzte oder ausgesagte
Sachverhalt: das Prädikat des Urteils. Dieser ausgesagte Sachverhalt ist
der eigentliche Träger der Wahrheit oder Falschheit. Dass er unter dieser
Disjunktion .steht, rührt von seiner Intention her, mit dem objektiven
Sachverhalt identisch zu sein. Ist diese Identität vorhanden, so ist das
Urteil wahr, im anderen Falle falsch. Die Identität des vom Denken ge-
setzten, mit dem am Gegenstände objektiv vorhandenen Sachverhalts ist
keine nunierische, sondern eine logische, nämlich eine durch gedankliche
Abstraktion von den beiderseitigen Existenzialbeziehungen gewonnene Un-
unterscheidbarkeit des hüben und drüben vorhandenen Inhalts . . . Die
Kopula setzt sich zusammen aus 1. der Urteilsintention und 2. der Ueber-
zeugung von der Objektivität der au.sgefiihrten Intention. Die Kopula als
solche ist das Prädikat des Urteils . . . Hieraus ergibt sieh, dass im positiven
und negativen Urteil die Kopula ganz die gleiche ist; denn in beiden Urteilen
Z e 1 1 s c h r i { t e n s c h a u. 405
besteht die Intention, den objektiven Sachverhalt zu erfassen, und die Ueber-
zeugung, dass dies erfüllt ist. Im negativen Urteil wird demnach die Kopula
durchaus nicht verneint. Die Verneinung hat vielmehr ihre Stelle im
Prädikat, d.h. in dem prädizierten Sachverhalt. Gewöhnlich pflegt der
Prädikatsbegriff, der doch nur ein Teil des Prädikats ist, mit dem Prädikat
verwechselt zu werden . . . Dass Kopula und Prädikat zueinander gehören,
indem die Kopula ohne Prädikat leer, das Prädikat ohne Kopula blind
wäre, ist selbstverständlich. Das Prädikat führt aus, was die Kopula inten-
diert. Die Kopula andererseits gibt dem Prädikat die urteilsmässige Richtung
auf das Subjekt, und macht es eben dadurch zum Prädikat, — A. Kroii-
feld, Ueher Windelbands Kritik am Phäiiomenalismiis. S. 392.
„Das Selbstvertrauen der Vernunft in ihre eigene Wahrheit ist also die
Voraussetzung allen Erkennens, sowohl faktisch als auch seiner Möglichkeit
nach . . . Damit sind beide Seiten der Windelbandschen Alternative abge-
wehrt : der Transzendentalismus und der Psychologismus, insofern darf die
Wahrheit von Erkenntnissen nicht in den spezifisch menschlichen Vor-
stellungsweisen, die uns Vernunftnotwendigkeiten ins Bewusstsein bringen,
gesucht werden, und ebensowenig in den psychologischen Untefsuchungen,
welche diese Vorstellungsweisen an der Vernunft verankern oder von ihr
ablösen'-. — A. Schackwitz, Ueber die Methoden der Me-sung ua-
bewusster Bewegungen und die Möglichkeit ihrer Weiterbildung.
S. 414. Untersucht wurden Physiognomie, Pupille, Harnblase, Atmung,
Herz, Puls, Blutmasse, willkürliche Muskulatur speziell an den Händen. In
Bezug auf letztere zeigten die vun einem andern Apparat gelieferten Kurven-
abschnitte ,,1. die dreidimensionale Analyse des Nornialtremors eines Fingers,
2. Veränderungen der Stärke und der Richtung des Tremors bei ver-
schiedenen Einflüssen; 3. kleinste unwillkürliche Fingerbewegungen a. bei
Bewegungen anderer Glieder, b. bei Sprechen und Singen, c. beim Nennen
gedachter Worte". „Bei dem Studium der mimischen Ausdrucksbewegungen
erweist sich die einfache, wie die Serienphotographie als geeignete Methode.
Besseren Aufschluss gibt uns die Stereoskopphotographie, die es erlaubt,
die im Raum ausgedehnte Welt physiognomischer Erscheinungen drei-
dimensional zu fassen". — H. Boehm, Der zweite deutsche Soziologeu-
tag \20. — 22. Okt. 1912 zu Berlin). — XVII. Internationaler Medizinischer
Kongress in London, 6. - 12. August 1913. Programm. -~ Literaturberichf.
2] Zeitschrift für Psychologie. Herausgegeben von F. Schu-
mann. 1913.
64. Bd., 1. und 2. Heft: G. Hoymaiis, lu Sache» des psychischen
Monismus. S. 1. McDougall behauptet, die Ergebnisse der Psychical research.
von denen das erste, Telepathie, sicher nachgewiesen, die Anmeldungen
Sterbender noch der Bestätigung bedürften, seien nur dualistisch zu er-
klären. Dagegen hält sie Heymans mit dem psychischen Monismus recht
106 Zeit seh riflenschau.
wohl verträglich. „Der psychische Monismus glaubt es wahrscheinlich ge-
macht zu haben, rlass dasjenige, welches sich durch Vermittlung der Sinne
nicht nur in den Gehirn-, sondern auch in den sonstigen Naturerscheinungen
üflenbart, an und für sich ein Psychisches ist ; er denkt sich demnach die
Welt als ein ungeheueres System von psychischen mit dem gegebenen
Bewusstsein wesensgleichen Prozessen". Die Abgeschlossenheit unseres
eigenen psychischen Systems ist nur eine relative und vorübergehende.
Dafür sprechen besonders die uns zufällig einfallenden Gedanken. Fechner
würde, wie früher die spiritistischen Erscheinungen, jetzt mit mehr Recht
die der P.sychical research mit Freuden als Bestätigung seiner „Tages-
an.sicht" begrüssen. — Paula Meyer, lieber die Reproduktion einge-
prägter Figuren und ihrer Stellungen bei Kindern und Erwachsenen.
S. 34-. „1. Kinder sind zu solchen Versuchen von einem Alter von sieben
Jahren ab brauchbar. 2. Kinder haben eine grössere Neigung als Erwachsene,
Lagefehler zu begehen. 3. Spiegelbilder wurden häufiger gezeichnet, als
Vertauschungen von Oben und Unten vorkommen. 4. Bei der Wiedergabe
der Figuren spielten Grössenfehler eine bedeutende Rolle. Kinder lieferten
mehr Verkleinerungen und weniger Vergrö.sserungen als Erwachsene. 5. Die
Resultate sind wenig geeignet, uns über den Einfluss Auskunft zu geben,
den die fortschreitende Zeit auf eingeprägte visuelle Formen ausübt. 6. Das
Einprägen und Behalten der Lage der Figuren . . . wird durch sichtbare
Objekte der Umgebung nicht gefördert ... 7. Grössere Figuren werden
(innerhalb gewisser Grenzen) wegen ihrer grösseren Eindringlichkeit sowohl
ihrer Form als auch ihrer Lage nach besser behalten als kiomere . . .
8. Wird die Stellung, welche die Ebene der Figur zur Versuchsperson be-
sitzt, bei den Versuchen variiert, so ist die Art und Weise, wie die Figuren-
stellung eingeprägt wird, je nach dem Typus der Versuchsperson sehr ver-
schieden ... 9. Die Vorführungsstellung (Nullstellung) fand im Vergleich
zu den übrigen Stellungen sowohl hinsichtlich der Treffer als auch hin-
sichtlich der falschen Nennungen eine bedeutende Bevorzugung, als sie
zugleich eine Stellung war, die im normalen Blickfelde frontalparallel und
senkrecht zur Blickrichtung war ... 10. Im Zusammenhang mit der Be-
vorzugung der Voriührungsstelle steht es, dass die Trefferzahl bei gleicher
Abweichung von der Nullstellung um so grösser war, um je mehr Grade
die Stellung von der Nullstellung abwich". — W. Köhler, Akustische
Untersuchungen III und IV. S. 92. (Vorläufige Mitteilung.) „Als obere
Hörgrenze wird zur Zeit von den meisten der Wert 20C00v. d. angegeben.
Aber darüber hinaus hört man noch nicht bloss ein Geräusch, sondern ein
s, noch höher ein f und zuletzt ein eh. „Es ist darnach mit einiger Wahr-
scheinlichkeit zu erwarten, dass nähere Untersuchungen die normale obere
Hörgrenze (von der Intensität abhängig) in dem Bereich zwischen 34000
und 68000 v.d. (äusserste Möglichkeit, falls keine Qualität mehr folgt und
das Oktavengesetz hier noch gelten sollte) festlegen werden". Zur Theorie
Zeit Schriften schau. 407
der Klänge fand sich durch Versuche an gesungenen Klängen, „dass
nicht derjenige Teilton allein, der mit dem betreffenden ausgezeichneten
Punkt der Vokalreihe zusammenfällt oder ihm am nächsten liegt, den
ganzen Klang z. B. zum ,A' macht, dass vielmehr wohl alle Teiltöne über-
haupt, die eine A-Valenz haben, für die A-Färbung des Ganzen verant-
wortlich sind". Die Einheit der Teiltöne in der Empfindung ist nach
Helmholtz Schein. Nach Stumpf erklärt sich diese durch Verschmelzung
und durch Verminderung der Intensität eines Tones durch gleiclizeitige
andere. Dies modifiziert Vf. dahin : „Aus den angeführten Beobachtungen
ergibt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit die Folgerung : In einem Vokal-
klang verbleiben die Teiltöne nicht völlig selbständig neben einander, sondern
treten irgendwie zu einem resultierenden Ganzen zusammen. Was heraus-
gehört wird, sind nicht ,die' Teiltöne, sondern Reste von ihnen, die bei
der Verbindung überschüssig bleiben und die für den Gesamtcharakter
relativ gleichgültig zu sein scheinen". Aehnlichcs gilt wohl von der Klang-
farbe überhaupt. Siebeck räumt dabei dem Grundton eine Sonderstellung
ein, indem er ihn durch die Obertöne bzw. deren Reste verstärkt sein lässt.
„Davon können wir nichts konstatieren, und haben deshalb immer von
Teil tönen, nicht von Obertönen gesprochen: auch der ,herausgehörte'
Grundton ist oft nur ein ziemlich unbedeutender Rest, auch was vom
Grundton dem Gesamtcharakter beigesteuert wird, geht völlig in das ,Ganze'
ein. Wir sind freihch gewohnt, allein vom Grundton die musikalische
Tonhöhe eines Klanges bestimmt zu denken, und ich will gern zugeben,
dass die hier skizzierte Anschauung dieser Gewohnheit einigermassen
widerspricht. Doch ist die herkömmliche Auffassung an sich schon meh-
i-eren — aber wenig beachteten - Bedenken ausgesetzt". ~ Besprechungen.
— Literaturbericht.
3. und 4. Heft: Catharina v. Maltzev, Das Erkennen sukzessiv
gegebener musikalischer Intervalle in den äusseren TonreAionen.
S. 161. „Hauptergebnisse: !. Die Beurteilung von Sukzessivintervallen
kann weder als eine Erkennung der Ver3chmelzungs^^tufen, noch als solche
von Distanzgraden aufgefasst werden. 2. Jeder Intervallbeurteilung
im strengen Sinne liegt ein einfacher Bewusstseinsinhalt zugrunde, der un-
mittelbar wiedererkannt und beurteilt wird. Diesen Inhalt nennen wir
Schritt- oder Uebergangserlebnis. 3. Die Uebergangserlebnisse lassen .^ich
einteilen in mehr und in weniger leicht erlebbare. Je häufiger musikalisch
angewandt und zugleich je enger ein Schritt ist, um so leichter ist er im
allgemeinen. Dieser Annahme entspricht die Tatsache, dass Sekunden,
Terzen, Oktaven, Quinten, Quarten viel häufiger richtig beurteilt worden sind
als kleine Septime, kleine Sexte, Tritonus, grosse Septime. 4. Die Ver-
wechselungen von Intervallen lassen sich unter Zuhilfenahme der Hypothese
begreifen, dass an den Uebergangserlebnissen wie an anderen Bewusstseins-
inhalten auch die Gesetze des Erinnerns und Vergessens wirksam werden.
408 Zeitschrift enschau.
a) Wenn ein Bewusstseinsinhalt mit einem bestimmten Namen assoziiert ist,
so vermag nicht nur ein ihm gleicher Inhalt, sondern vermögen auch
innerhalb gewisser Grenzen ähnliche Inhalte denselben Namen zu repro-
duzieren. Dadurch werden die Verwechselungen der Sekunden, Terzen,
Sexten und Septimen paarweise unter einander, sowie auch die Verwechse-
lungen der Terzen mit Sexten, der Quinten und Quarten mit Oktave, der
Septimen mit Trifonus verständlich, b) Eine zweite Wirkung des Gedächt-
nisses besteht darin, dass Intervalle, welche auf Grund musikalischer Er-
fahrung geläufiger sind , eine starke Reproduktionstendenz besitzen, durch
deren Einfluss stall ungewohnter Schritte entweder sofort oder im Gedächt-
nis gewohntere im Bewusstsein auftreten ; hierin liegt die Erklärung für
Verwechselungen wie die der grossen Septime mit der Oktave, der kleinen
Septime mit der grossen Sexte, des. Tritoniis mit Quarte und Quinte.
c) Ein dritter Einfluss endlich ist der der Perseveration, welche besonders
in der Sgestrichenen Oktave von grosser Wirkung war. Es perseverierten
wie einzelne Tonhöhen so auch die Schritte selbst. 5. Zu dieser Gedächtnis-
hypothese muss noch eine andere hinzukommen, nämlich die Hypothese,
dass die wahrgenommenen Tonhöhen in der zweiten Hälfte der 4gestrichenen
Oktave sowie in der ersten Hälfte der Kontraoktave von dem abweichen,
was man der Schwingungszahl nach erwarten sollte (normales Falschhören),
fi. Die , Gedächtnistheorie' konnte durch Versuche, in denen Schritte nach-
zusingen sind, bestätigt werden". Uebrigens kommt neben dem Schriti-
bewusstsein auch eine Erschliessung des Intervalls und der absoluten Ton-
höhen vor. — W. Baade, Ueber Uiiterbrechungsversuclie als Mittel
zur Uiiterstützuni;^ der Selbstbeobachtung. S. 258. Das Prinzip des
Unterbrechungsversuchs ist einfach: „Man richtet an einen Menschen, in
dessen Bewusstsein sich eben Prozesse von der Art, wie man sie unter-
suchen will, abspielen, die (unerwartete) Aufforderung, zu beschreiben, was
er soeben gedacht habe, ,welche psychischen Erlebnisse er soeben gehabt
habe' . . . Soll dieses Verfahren in der Hand des Psychologen ein zu syste-
matischer und wiederholter Beobachtung dienendes Werkzeug abgeben, so
bedarf es dazu in vielen Fällen gewisser methodischer Zurüstungen , von
denen einige im folgenden, von mir im Laufe des letzten Jahres aus-
probierte besprochen werden sollen". Es fand sich: „I. Hauptfall. Nach
der Unterbrechung tritt an erster Stelle eine auf den im Moment der
Unterbrechung oder unmittelbar vorher erlebten Bewusstseinsprozess (den
,letzterlebten' Bewusstseinsprozess) bezügliche psychologische Apperzeption
auf ... II. Hauptfall. Nach der Unterbrechung traten zunäcLst eine oder
mehrere nicht auf den ,letzterlebten' Bewusstseinsprozess, sondern auf einen
oder einige der weiter zurückliegenden Prozesse bezügliche psychologische
Apperzeptionen auf". „Der vollkommene Unterbrechungsversuch gewährt
die Möglichkeit, eine auf unmittelbare Selbstbeobachtung beruhende Be-
schreibung auch für solche Bewusstseinsprozesse herbeizuführen, welche
Zeitschriftenschau. 409
sonst nur der rückschauenden Selbstbeobachtung zugänglich sind". Be-
sprechungen. — Literaturbericht.
5. und ß. Heft: Gabriele v. Wartensleben, Ueber den Einttuss
derZwischenzeitJauf die Reprodiüition gelesener Buchstaben. S. 321.
Finzi hatte gefunden , dass nicht unmittelbar nach der Darbietung am
besten reproduziert werde, sondern erst nach 4 Sekunden, uni dann immer
mehr zu sinken. Dagegen ergab sich aus den Versuchen der Vf : „1. Das
Gesamtbild der Versuchsresultate zeigt, und zwar ausnahmslos überein-
stimmend bei sämtlichen Versuchspersonen, dass für die Vorgänge, welche
in die Zwischenzeit fallen, jeweils so sehr verschiedenartige Umstände in
Betracht kommen müssen, dass weder überhaupt noch im allgemeinen für
die einzelnen Versuchspersonen die Länge der notwendigsten oder der
optimalen Zwischenzeit zahlenmässig bestimmbar ist. Es ergab sich viel-
mehr, dass die einzelnen Versuchspersonen in Folge der verschiedenartigen,
während dieser Zeit sich abspielenden Prozesse von Versuch zu Versuch
Schwankungen hinsichtlich der notwendigen und der optimalen Zeit aus-
gesetzt waren, die zwischen 0" bis ca. 15" liegen, und in ihrer Verur-
sachung durchans diskrepant sind. 2. Die Zwischenzeit hatte bei der Mehr-
zahl der Versuchspersonen einen grossen Einfluss auf den Umfang der
Gesamtreproduktion und insbesondere auf den der richtigen Reproduktion,
da vielfach die Erkennungsvorgänge sich erst später vollzogen oder voll-
endeten. Bei einzelnen Versuchspersonen liess sich sogar ein Prozentsatz
der durch die Zwischenzeit gewonnenen richtigen Buchstaben feststellen.
3. Es kam häufig vor, und zwar insbesondere dann, wenn das Signal sofort
oder schon nach 2" oder 4" erfolgte, dass die Versuchspersonen angaben,
mit dem Erkennen oder Einordnen der Buchstaben oder mit dem Umsetzen
in die akustisch-motorischen Bilder noch nicht fertig zu sein, so dass die
Aufforderung zum Hersagen, weil zu früh, als schädlich für die Erfüllung
der Aufgabe sich erwies . . . Dazu kommt, dass es bei den meisten Ver-
suchspersonen vorkam, dass sie nach dem Signal noch einen Moment mit
der Aussprache zögerten. 4. Es fallen indes in die Zwischenzeit nicht
nur Momente, die die Erfüllung der Aufgabe begünstigen, sondern auch
solche, die sie schädigen. Dies sind insbesondere Kämpfe und Schwankungen
im optischen Vorstellungsbild, sowie auch akustische Schwierigkeiten, die
sich während desselben einstellen. 5. Ein eindeutiger Einfluss der Zwischen-
zeit auf den Umfang der richtigen Reproduktion hat sich nicht ergeben,
was sich wohl vollauf durch die Konkurrenz des vorerwähnten teils be-
günstigenden und teils hemmenden Einflusses der Vorgänge in derselben
auf die Leistung erklärt. 6. Ebensowenig eindeutig, aber aus den näm-
lichen Gründen ebenso erklärlich, sind Beurteilungen des subjektiven Ein-
drucks der Zwischenzeit seitens der einzelnen Versuchspersonen . . . Die
Tatsache, dass fehlende oder falsche Lokalisation so sehr oft die Sicherheit
410 Zeitschriftenschau.
stört, sowie die weitere Tatsache, dass das Ortsbewusstsein allein im stände
ist, sichere Reproduktion auch sogar von vorher nicht Erkanntem zu be-
wirken, legt nahe, dass zwischen der Bedingung für die Sicherheit und
dem Ortsbewusstsein ein enger Zusammenhang bestehen muss, der durch
assoziative Verknüpfung nicht hinreichend erklärt scheint". — Müller-
Freieiifels, Typenvorstellung und Begriff. S. 386. Bisher hat die
Logik die psychologische Erklärung des Begriffes beeinflusst, es ist aber
die Frage, „was ist der psychologische Befund im Denken von Begriffen?"
.,AbzuU'hnen ist die Anschauung, es seien die Vorstellungen nichts weiter
als Reproduktionen von Empfindungen resp. Empfindungskomplexen". „Wir
können ja Vorstellungen bilden, in welchen die Empfindungselemente nicht
mitreproduziert werden". Vielmehr spielen Gefühle, motorische Phänomene,
besonders Sprachbewegungen eine Hauptrolle. „Jede Vorstellung ist bereits
typisiert und generalisiert. Individualvorstellungen und Allgemeinvorstellungen
brauchen nur graduell verschieden zu sein . . . Ein grosser Teil unserer ge-
samten Geistestätigkeit ist rein symbolischer Natur". — Besprechungen.
— Literaturbericht.
3] Zeitschrilt für Philosophie und philosophische Kritik,
herausgeg. von H. Schw^arz. 1912.
148. Bd., 2. Heft: J. Ferber, Piatos Polemik gegen die Lust-
lehre. S. 129. Es spiegelt sich in allem, was Plato über die Lust sagt,
der Charakter seiner Philosophie, besonders seiner Ethik wieder, ihr In-
tellektualismus und ihr weitabgewandter Ideahsmus. Aber wie üie Ideen-
lehre hat auch Platos Ethik, speziell seine Ansicht vom Wert der Lust,
im Laufe der Jahre eine Veränderung durchgemacht. Zwar erinnert es noch
an die bis ins Aszetische gesteigerte Herbheit seiner früheren Jahre, wenn
er so manche Art harmloser oder gar edler Lust verwirft, gelegentlich mit
einer gewissen Gehässigkeit die Lust charakterisiert, oder wenn er von dem
dem Denken geweihten lust- und leidlosen Denken zuweilen wie von etwas
Göttlichem redet. Aber dem steht doch gegenüber, dass Plato überhaupt,
wenn auch in noch so beschränktem Umfang, eine gute Lust im Philebus
anerkennt . . . Zwischen Feinden und Freunden der Lust, zwischen Kynikern
und Kyrenaikern seinen Standpunkt wählend, hat er versucht, beiden
Parteien gerecht zu werden, dem eigenen Ideal treu zu bleiben und zu-
gleich den Bedürfnissen des Lebens Rechnung zu tragen. — A. Reinacli,
Die UebPiiegung, ihre ethische und rechtliche Bedeutung. S 181.
Zunächst von der intellektuellen Ueberlegung. Dabei sind emotionale Ele-
mente so viel als möglich auszu.schalten ; das ist kaum möglich, sie sind
aber nicht wesentlich dem Ueberlegen. Aber die Konstruktion eines Sub-
jektes, das ohne jede Anteilnahme seine Willensakte überlegend vorbereitet,
ist nicht mögUch. — Rezensionen. — Erwiderung Sterns gegen W. Kinkel
und Antwort Kinkels.
Zeit .schriftenschau. 411
149. Bd., 1. Heft: J. Rehinkc, Aiimi'rkungeii zur (i rund Wissen-
schaft. S. 1. Bewusstsein und Subjekt — Ding und Ort. Jedes
Einzelwesen ist ein „Unikum", es ist Einziges, die Bestimmtheiten und
Eigenschaften dagegen sind allgemeine. Alles Einzelwesen ist Veränder-
liches, alles Allgemeine ist UnveränderHches, wo es kein Nacheinander gibt.
„Wir alle wissen uns selbst, aber ein jeder als ein Veränderliches, das
sich unserer zergliedernden Betrachtung als die Einheit von Augenblicks-
einheiten im Nacheinander darstelU". Der „Ort" ist neben Grösse und
Gestalt die dritte „Dingbestimmtheit", die wir ebenso sehen wie Grösse und
Gestalt, und gehört ihm ebenso an wie dieser. - A. Reinacli, Die Ueber-
legung, ihre ethische und rechtliche Bedeutung. 8. 30. Die volun-
taristische Ueberlegung geht auf den Wert des Projektes und auf das
Interesse für mich. Beide können aber mit einander konkurrieren. „Die
Interpretation unseres Strafgesetzes, an der wir uns bisher orientiert haben,
ist keineswegs die einzig mögliche. Man hat für sie historische, dogma-
tische und Gründe kriminalpoUzeilicher Natur geltend gemacht". — A.
Korwann, Dorners Kritik des Pessimismus. S. 58. „Hartmann ist
infolge seines Pessimismus bzw. Pejorismus weder im Naturalismus stecken
geblieben, noch hat er sich über denselben erhoben, ,ohne den vernünftigen
Geist zu erreichen' ; er hat vielmehr in grandiosem Gedankenflug sich auf-
geschwungen zu diesem Geiste, sofern er ihn erkannt und erreicht hat".
— W Moog, Zur Kritik der Erkenntnistheorie. S. 86. Beschäftigt
sich mit Nelson „Ueber das sogenannte Erkenntnisproblem" und .J. Rehmke
„Philosophie als Grundwissenschaft". - H. Nohl, Eine historische Quelle
zu Nietzsches Ferspoktivismus. S. 106. Dies ist Teichmüller, „Die
wirkliche und scheinbare Welt". „So braut sich der Trank dieses Apper^^us
aus fremden Ingredienzen". Und doch hat er sich so leidenschaftlich
gegen entlehntes Denken ereifert. „Was wirklich Nietzsche ganz allein
bleibt, ist seine tiefwühlende Uebertragung der ideahstischen Kritik seit
Kant und deren Mut auf das Gebiet des Sittlichen, der Werte und vor allem
jeder Abhängigkeit von der reUgiösen Metaphysik und allen ihren ,rück-
läufigen Schleichwegen'". — A^rsammluug des ersten deutschen
Soziologenkougresses. S. 115. Alle Vorträge durchzieht die Frage, ob
jedes Werturteil aus einer Untersuchung, die nur der Wahrheit und Wissen-
schaft dienen will, zu verbannen sei. - Rezensionen.
2. Heft: J. Müller, Martin Deutinger. S. 129. Ein Gedenkblatt
zu semem 100. Geburtstage am 24. März 1915. „Nicht als Genius ersten
Ranges, aber als vermittelndes Glied in den Strömungen des 19. Jahr-
hunderts, als Vertreter der Persönlichkeitskultur auf christlicher Grundlage,
als konzilianter nobler Geist in den Parteikämpfen der Zeit verdient
Deutinger seine Stelle in der inneren Geschichte der Gegenwart". — A.
Rüge, Die Begriffe der Philosophie und die Idee einer inter-
nationalen Bibliographie für Philosophie. S. 140. Vortrag auf dem
41'2 Zeitsc-hrif f enschau.
4. internationalen Kongress für Philosophie, der die Einrichtung einer sol-
chen Bibliographie begründen sollte. — K. Geissler, Die Massordnungen
als Formen der menschlichen Erkenntnis. S. 150. „Statt von ver-
schiedenen Weitengebieten des Räumlichen oder überhaupt des Ausgedehnten
zu sprechen . . . könnte man auch .sagen : Es gibt verschiedene Massord-
nungen der Raumvorstellung oder übersinnliche Massordnungen, und man
kann sich nicht damit begnügen, den Raum als eine Form der mensch-
lichen Erkenntnis hinzustellen, sondern als eine anschauliche, bei der man
scharf unterscheiden muss zwischen Ordnungen". — H. E. Timerding,
Das Gesetz der grossen Zahlen. S. 164. Das Gesetz kann nicht im
Sinne Bernoullis und Pois.sons aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung allge-
mein begründet werden — A. Coralnik, Zur Kritik der mathematischen
Logik. S. 183. „Alle die Probleme der Logik bleiben auch in der Logistik
ungelöst, die alten Schwierigkeiten sind nicht überwunden". Der Standpunkt
an sich ist ja richtig: die Ausschaltung des Klassenbegriffs und die Ein-
setzung des Relativbegriffs. Aber bei näherem Licht betrachtet taucht auch
bei Russell und den iibrigen Logistikern der Klassenbegriff in der einen
oder anderen Verkleidung hervor. Und was kann da eigentlich die mathe-
matische Methode bieten? Die Mathematik übte seit jeher einen ganz be-
sonderen Zauber auf die Geister aus . . . Die Mathematik ist eine eigene
Form, vielleicht eine komplizirtere, feinere, aber vielleicht gerade deswegen
der Wirklichkeit am wenigsten adäquate. Es s6i denn wie immer, die
mathematische Logik ist keine Mathematik und kann es nicht werden :
denn wenn auch die Mathematik bloss Logik sein sollte, so ist auch das
nur eine Logik sui generis, die auf kein anderes Gebiet des Denkens über-
tragen werden kann. — P. Petersen, I. Referat über psychologische
Literatur. Das Jahr 1912. — Rezensionen.
4] Annales de philosophie chretienne. Fondateur: A. Bonne tty.
Secretaire delaRedaction : L. Laberlhonniere. Paris, Blond.
Revue mensuelle. /'>. 20.
H2« annee, 1911, II, Nr. l-«. F. Archambault, Une inorale
individualiste : la science de la morale de Ch. Renonvier. p. 5, 149,
272, 337. Die Moralphilosophie Renouviers ist nichts anderes als der
Individualismus des 18. Jahrhunderts und der Iranzösischen Revolution,
auf kanti.sche Formeln gebracht und durch eine neue Theorie vom Kriegs-
zustande vervollständigt. — V. Warrain, La substance: p. 40, 113.
1. Der Begriff der Substanz, 2. Kennzeichnung der Substanz. 3. Das
Verhältnis der Substanz zu Materie und Form. — G. Fonsegrive, Intuition,
scntiment, valeur. p. 22.5. Ueber die Verschiedenheit dieser drei Be-
griffe. - J. Martin, La liberte. p. 353. Ueber das Verhältnis der
menschlichen Freiheit zum Wissen und \Vollen Gottes. — L. Laber-
thouniere, La thöorie de la foi chez Descarte;^. p. 382, 617.
Zeitschriftenschau. 413
1. Glauben und Wissen nach Descartes. 2. Die persönhche Stellung
Descartes' zur Religion. 3. Sein angeblicher Rationalismus. — A. Leger,
La (loctrine de Wosley. p. 449, 561. — Ch. d'Hellencourt , De
l'aetivit' exterieure chez les iiiystiqiies chretiens. p. 493. Wie bildet
sich der Mystiker? Wie lebt er? Wie treibt ihn sein inneres Leben zur
äusseren Tätigkeit? — P. Vulliaiid, La doctrine esoterique des Juifs.
p. 602. — Bibliographie: p. 74, 187, 291, 404, 524, 641.
83« annee, 1912, I, Nr. 1—6. L. Olle-Laprune, La philosophie
au College, p. 5. Ueber die rechte Methode des philosophischen Unterrichtes.
L. Cauet, Pascal et la theologie. p. 18, Die Antinomie von Glauben
und Wissen und ihre Auflösung im Systeme Pascals. — A. Leger, La
doctrine de Wesley. p. 40, 136. (Fortsetzung und Schluss.) — L. Cauet,
Un peiutre: Eugene Carriere. p. 119. Kurzer Auszug aus dem Werke
Seailles' : „Eugene Carriere, Versuch einer psychologischen Biographie". —
Ch. Dunau, La variabilite des essences. p 225. Die Einheit der Natur
verlangt die Veränderlichkeit der Wesenheiten. — .T. Paliard, La con-
naissauce, ä la liiuite de sa perfectim, abolit-elle la conscience?
p. 232, 337. Eine vollkommene Erkenntnis enthält keinen Widerspruch
in sich; ja sie macht uns die gegenwärtige Phase der Erkenntnis, die nur
eine Vorbereitung darauf ist, erst begreiflich. - G. Vattier, La doctrine
cartesieuae de I'eucharistie chez Pierre Cally. p. 274, 380. —
.T. Durautel, La notion de la creation dans S. Tliomas. p. 449, 561.
Darstellung der Schöpfungslehre des hl. Thomas in engem Anschluss an
seine Werke. — .T. Gueville, L'idealisme cartesien. p. 516. Wie
verhält sich die Philosophie Descartes' zum modernen Idealismus? — A
Lugan, Jesus et la loi generale de l'aniour des hommes. p. 596. —
Bibliographie: p. 82, 176, 297, 410, 524, 626.
n, Nr. 1—6. J. Durantel, La notion de la creation dans S. Thomas.
p, 5, 156, 225 (Fortsetzung und Schluss). — Pli. Borrell, Spinoza inter-
prete du judaisme et du christianisme. p. 50, 113, 267. Spinoza inter-
pretiert das .Judentum und das Christentum in rein rationalistischer Weise.
Dabei ist er abhängig von den klassischen Theologen des Judentums und
den Theologen der häretischen christUschen Gemeinschaften. Er ist niemals
Christ gewesen. — P. Naudet, Metapsychisme. p. 132. Die Wissenschaft
hat die Pflicht, an die Prüfung der spiritistischen bezw. okkultistischen Er-
scheinungen heranzutreten. — R. dAdhemar, L'invention scientifiqne
et Tesprit philosophique. p. 337. — J. Segond, Les antitheses du
Bergsonisme. p. 449. Im Systeme Bergsons finden wir eine Reihe von
Widersprüchen, die die Einheit desselben zerreissen. — A. Favre- Gilly,
Mysticisme paien : conitesse Mathieu de Noailles. p. 475, 587. —
E. Coutan, L'attitude religieuse de T. H. Green, p. 561. Nach
Green besteht der Wahrheitsgehalt des Christentums im Bewusstsein der
414 Zeitsehriftenschau.
Aussöhnung des Menschen mit Gott. — Bibliographie, p. 85, 178, 299,
385, 496, 618.
5] Revue Neo-Scolastique. Publiee par la Societe philosophique
de Louvain. Secretaire de la Redactioii : M. de Wulf. Louvain,
Institut Superieur de Philosophie.
IH* annee, 1911, Nr. 2—4. C. Sentroul, La verite et le progrAs
«lii savoir. p. 305. (Fortsetzung und Schluss.) — J. Coehez, Plotin et les
iiiysteres d' Isis. p. 328. Wenn sich Plotin, um von den Freuden der
Extase einen Begriff zu geben, auf die Riten und Visionen bei gewissen
Mysterien berutt, so meint er damit nicht, wie man bisher angenommen
hat, die Mysterien von Elaesis, sondern die ägyptische'n Mysterien der Isis. —
D. Nys, L'eiiergetique et la th^orie scolastlque. p. 341. Die Energetik
verwirft die Zurückfiihrung der Kräfte auf Bewegung. iSie verzichtet aut
jede Erklärung der Naturvorgänge. In dem Universum sieht sie nichts
anderes als einen ungeheuren Komplex von mannigfaltigen Energien, deren
Umwandlungen in einander durch einige Fundamentalsätze beherrscht
werden, die selbst nur verallgemeinerte Erfahrungen darstellen. - (r,
Legraiid, S. Augustin au lendemaiu de sa couversion. p. 366. —
F. Palhories, Bulletin de pliilo-ophie morale. p. 388. Eine Ueber-
sicht über den gegenwärtigen Stand des Moralproblems in den ver-
schiedenen Schulen. — A Bremoud, Les perplexites ,,du Philebe".
Essai sur la logique de Platou p. 457. Die Beweisführung Piatos i.«t
logisch nicht immer einwandfrei. Das zeigt die Analyse zweier Argumente
aus dem Philebus. - J. Lottiu, Le libre arbitre et les lois socio-
logiques d'apres Quetelet. p. 479. Quetelet hat niemals den Deter-
minisnms des individuellen Willens, sondern nur den sozialen Determinismus
gelehrt. -- E. Krebs, Le traite ,,De esse et essentia" de Thierry
de Fribourg p. 516. E. Krebs publiziert einen bisher ungedruckten
Traktat des Dietrich von Freiburg über Wesenheit und Dasein — L. du
Roussaux, Le neo-doginatisme. p. 537. Der „alte Dogmatismus" der
Scholastiker wird dem „neuen Dogmatismus" der Schule Merciers gegenüber-
gestellt. Der Unterschied der beiden Richtungen zeigt sich in der Lehre
vom spontanen Urteil, vom Begriff der Wahrheit, vom Kriterium der Wahr-
heit und von der Objektivität der Erkenntnis. Der „neue Dogmatismus" ist
zu verwerfen. — A. Bouyssonie, A propos des couditions philo-
sophiques de l'evolution. p. 564. Kritik einer Abhandlung von Guichaoua
über die philosophischen Bedingungen der Entwicklung. — P. le Guichaoua,
Repünse ä M. Bouyssonie. p. 578. Erwiderung auf die Kritik Bouyssonies.
— Le mouvement ne os c'olast ique. p. 427, 591. — Comptes
rendus. p. 437, 598.
19« annee, 1912, Nr. 1 4. D. Nys, L'energetique et la theorie
scolastique. p. 5. (Fortsetzung und Schluss.) Die moderne Energetik
Zeitschriften schau. 415
trägt vielfach dynamistisches, phänomenaHstisches.oder monistisches Ge-
präge. — V. Brants, Les theories politiques dans les ecrits de L.
Lessius. p, 42. 1. Die scholastische Renaissance in den Niederlanden am
Ende des 16. Jahrhunderts. 2. Leben und Arbeiten des L. Lessius. 3. Das
Naturrecht und die politischen Theorien bei Lessius. — L. du Roussaux, Le
neo-dogmatisme. p. 86. (Frrtsetzung und Schluss.) 1. Das Fundamental-
problem. 2. Die Objektivität der idealen Ordnung. 3. Die objektive Reali-
tät der Begriffe. Die Notwendigkeit der Prinzipien. — F. de Hovre,
L'ethique et pedagogie de F. W. Förster, p. 116, 201. — M. de
Wulf, Civillsatioii et philosophie. p. 157. 1. Die Philosophie des
Mittelalters besitzt rehgiösen Charakter. 2. Sie will alles wissen und
systematisiert alles, was sie weiss. 3. Sie hat absolutes Vertrauen zu der
Kraft der menschlischeu Vernunft. — F. Palhories, La uature d'apres
saiiit Bonaventura, p. 177. Die Lehre Bonaventuras über Wesenheit
und Dasein, Materie und Form sowie über die Pluralität der Formen. —
C. Sentroul, Encore le neo-dogniatisme. p. 216. Die Angriffe gegen
die Erkenntnistheorie der Schule Merciers werden zurückgewiesen. — J,
Henry, Pragmatisme anglo-auiericain et philosophie nouvelle. p.
264. Ueber den wesentlichen Unterschied zwischen dem Jamesschen und
dem Bergsonschen Pragmatismus. — L. du Roussaux, Observations sur
la replique de M. Sentroul. p. 287. Erwiderung auf den Artikel
Sentrouls. — A. Farges, La notiou Bergsonieuue du tomps. p. 337.
Bergson verwechselt die Quantität mit der Qualität, die Einheit mit der
Zahl, die Zahl mit dem Räume, den Raum mit dem Homogenen, die Be-
wegung mit der Zeit, die Zeit mit der „puren Heterogeneität" — H.
Lebrun, Neo-darwinisuie et ueo-lamarckisme. p. 379, 489. Kritik
der Zellular- bezw. Germinalselektionslehre von W. Roux und Weissmann. —
M. Grabmanu. Le ,,eorrectoriuiu corruptorii" du domiuicain
Johannes Quidort de Paris (f 1306). p. 404. — J. Laiuiune, Le priu-
cipe de causalite. p. 453. Versteht man unter einem synthetischen
Urteil ein Urteil, das mehr aussagt, als in den Definitionen der Begriffe
enthalten ist, die es einschliesst, und das man darum ohne Widerspruch
negieren kann, so muss das Prinzip der Kausalität synthetisch genannt
werden. — D. Nys, Le monisme p. 515. Kurze Inhaltsgabe des Werkes
„Der Monismus und seine philosophischen Grundlagen" von Klimke. —
J. Leuiaire, L'objet de la cosraologie p. 536. — Le mouvement
neo-scolastique: 133, 431, 555. — Comptes rendus: p. 137. 312,
436, 565. -
6] Eövae philosophique. Paraissant tous les mois. Dirigee
par Th. Ribot. Paris, Alcan.
35« anuee, 1910, Nr. 10— 12 : F. Le Dautec, Les uiathematicleus et
la probabilite q. 329. Es ist unrichtig zu sagen, dass der Zufall Gesetzen
gehorche. — Th. Ribot, Le nioindre. elfort eu psychologie. p. 361. —
416 2eitsehrif tenscKau.
F. Mauge, La philosophie scientiflque comme Systeme de valeurs.
p. 3S7. Die Wissenschaft muss eine Anzahl Voraussetzungen über die
Natur machen, wenn sie selbst existieren will. — L. Diigas et F. Montier,
Depersonnalisation et emotion, p. 441. — L. Dauriac, Psychologie
ftcuerale et psycholoji:ie musicale. p. 461. — N. Kostyleff, Les tra-
vaux de l'ecoie de Wurzburg p. 553. lieber die Arbeiten Walls,
Messers und Bühlers. — Lahy, Le role de l'iudividu daus la
formation de la morale. p. 581, Die Soziologen verkennen vielfach
die Bedeutung des Individuums bei der Bildung der Regeln der Moral. —
Ch. Lalo, Critiqiie des methodes de rcsthetique. p. 600. 1. Der
ästhetische Mystizismus. Die falschen Probleme der ästhetischen Methode.
— Observations et döcuments. p. 409. — Revue critique.
p. 508. — Revue generale, p. 625. — Analyses et comptes
rendus. p. 412, 519, 643.
36« aunee, 1911, Nr. 1 — 6. A. Lalande, L'idee de verite d'apres
W. James et ses adversaires. p. 1. — A. Naville, La matiere du
devoir. p. 113. Der Rationalismus und der „Affektismus" sind einseitig.
Man muss zugestehen, dass es mehr als ein Ziel für den Menschen gibt. —
G. Dumas, La contagion uientale. p. 225, 384. Man muss unterscheiden
zwischen der contagion mentale, der epidämie mentale und der folie
collective. — H. Pieron, L'illusiou de MüUer-Lyer et son double
mecanisme. p. 245. 1. Tatsachen. 2. Theorien. 3. Kritik. Der doppelte
Mechanismus der Illusion. — Revault d'Allouues, Recherclies sur
r attention, p. 285, 494. — A. Fouillee, La neo-sophistique prag-
niatiste. p. 337. 1. Der psychologische Pragmatismus. • 2. Der er-
kenntnistheoretische Pragmatismus. 3. Der Pragmatismus und der Zeit-
begriff. 4. Der Pragmatismus in der Religion. — E. Boirac, L'etude
scientifique du spiritisme. p. 367. Der Spiritismus muss trotz der
grossen ün Wahrscheinlichkeit seiner Theorien wissenschaftlich untersucht
werden. — Ch. Richet, Une uouvelle liypothese sur la biologie
generale, p. 449. Die biologischen Erscheinungen sind auf das allgemeine
Attraktionsgesetz zurückzuführen. — A. Joussaln, L'idc^e de l'incons-
cient et Tintuition de la vie. p. 467. Nur das „gelebte Leben" hat
Realität, das vorgestellte ist nur Schein. - J. de Gaultier, Seientisme
et pragiiiatisme p. 661. Pragmatismus und Intellektualismus müssen
einen Kompromiss miteinander schliessen. — E. Tassy, Essai d'une
Classification des etats affectit's. p. 690. Die Afiekte müssen nach
der Verschiedenheit ihres Ursprungs klassifiziert werden. — Plesnila,
Les origines de la mort naturelle p. 705. Der Tod ist als Anpassungs-
erscheinung zu erklären. — Revue gt'» ner ale. p. 72, 521, 730. — Notes
et discussions. p. 164. — Revue critique. p. 168. — Analyses
et comptes rendus p. 90, 189, 313, 415, 541, 747.
36° annee, Nr. 7—12. A. Rey, T/e Congres international de
Philosophie, p. 1. Bericht über den Verlauf des Kongresses in Bologna. —
F. Rauh, Peusee theorique et pensee pratique. p. 23. Ueber die
relative Unabhängigkeit und die gegenseitige Beschränkung der theoretischen
Zeitschriftenschau. 417
und der praktischen Gewissheit. — G. Davy, La sociologio de M. Durk-
heini. p. 42, 160. Nach Durkheim ist die Gesellschaft nicht aus dem
Individuum, sondern das Individuum aus der Gesellschaft zu erklären. —
E. Tassy, Essai de Classification des etats affectifs. p. 72 (Schluss).
Sikorski, Les correlatioiis psychophysiques. p, 113. Der Puls
ist für den einzelnen Menschen ebenso charakteristisch wie seine Hand-
schrift. Man kann daraus auf seine Charaktereigenschaften schliessen. —
G. Milhaiid, La defiiiition du liasard de Cournot. p. 136. Der Zufall
entsteht durch das Zusammentreffen zweier unabhängigen Kausalreihen —
F. le Dautec, Vi« vegetative et vie iutellectuelle. p. 225. Die
Intelligenz besteht in der Fähigkeit, aus der gemachten Erfahrung Nutzen
zu ziehen. Jedes Lebewesen muss intelligent genannt werden. ~ A.
Chide, La categorie de relation. p. 258. Die Kategorien sind nichts
anderes als psychologische Tatsachen, die durch die Erfahrung gegeben
sind. — J. P^res, Pragmatisrae" et esthetique. p. 278. Der Pragmatis-
mus, der in der Trennung von Subjekt und Objekt ein Produkt der Analyse
und Abstraktion sieht, steht in vollem Einklang mit den Bestrebungen der
Kunst. — L. Dauriac, Le praginatisme et le realisme du sens
commun. p. 337. Der Pragmatismus ist zwar eine neue Philosophie, die
ihm zu gründe liegende Geistesverfassung aber ist alt. Sie zeigte sich im
18. Jahrhundert vor allem bei Thomas Reid. — G. Cantccor, Tendauces
actuelles de la psychologie auglaise. p. 368. Eine Analyse der
Arbeiten von James Sully. James Ward und Stout. — L. Cellerier,
Methode de la science pedagogique. p, 400. Es ist notwendig, eine
Definition der Erziehung aus der Erfahrung zu gewinnen, die psychologi-
schen Tatsachen zu beobachten und eine Klassifikation derselben vorzu-
nehmen.— E. de Roberty, Le probleme philosophique p. 449. Die
Soziologie muss zu einer exakten, experimentellen Wissenschaft werden,
fähig die Ereignisse vorauszusehen und das soziale Verhalten der Menschen
zu dirigieren. — Kostyleff, Freud et le probleme des reves. Con-
tribution ä l'etude objective de la pensee. p. 491. Freud geht in
seinen Schlussfolgerungen zu weit. Das von ihm zusammengetragene
Material beweist nur, dass die Träume demselben Mechanismus unterliegen
wie die Gedächtnis- und Assoziationsvorstellungen mit dem einen Unter-
schiede, dass sie sich nicht auf die zentrale Phase beschränken, sondern
bis zur Einleitung eines Perzeptionsprozesses fortschreiten. — G. Dumas,
La contagion des manies et des melancolies. p. 561. Gibt es bei
Manie und Melancholie eine geistige Ansteckung ? Die Tatsachen, die man
dafür vorbringt, besitzen keine Beweiskraft und auch theoretisch ist eine
solche Ansteckung unmöglich. — L. Dauriac, Positivisme et pragmatisme.
p. 584. Aug. Comte und Renouvier sind als Vorläufer des Pragmatismus
zu betrachten. — L. Dugas, L'introspection. p. 606. Die Introspektion
ist nicht nur möglich, sie ist auch die einzige Methode, die psychologischen
Tatsachen kennenzulernen. — Analyses et comptes rendus p. 91,
186, 290, 422, 541, 627.
Miszellen und Nachrichten.
Neueres über den Hautsinu. T h ö 1 e ^) erzeugte durch Einspritzen
von Stovain oder Tropokokain Anästhesie des Rückenmarks und fand:
Nach einer Minute schwanden die Sehnenreflexe an den Beinen, nach 2'
die Hautreflexe; nach 3' hörte das durch Juckpulver erzeugte Jucken auf.
Nach 5' werden Nadelstiche nicht mehr schmerzlich, sondern als Jucken
empfunden ; auch ein faradischer Strom rief nur noch Jucken und bald
nachher „Kribbeln" hervor, trotzdem entstand dabei Gänsehaut. Nach 8'
wird Auflegen von Eis nur noch als Druck, später wurde noch die EmpfmdHch-
keit für „heiss" gespürt. Nach 10' wird kein Kitzeln mehr empfunden,
nach 15' keine Berührung mit Watte, nach 20' stärkere Fingerberührung
nicht mehr wahrgenommen. Der Reihenfolge: Aufhebung der Schmerz-,
Kälte-, Wärme- und Tastempfindlichkeit entsprach die Ausdehnung der
einzelnen Störungen. Beim Auflegen von Eis wurde manchmal „heiss"
gefühlt, niemals aber „kalt" durch heisse Gegenstände. Die Dermato-
graphie blieb bestehen, zuweilen war sie etwas erhöht. Der Vf. folgert
ans seinen Versuchen:
„Juckgefühl entsteht durch im Vergleich zum Schmerzgefühl geringere
Reizung normal reagierender Schmerzfasern. Es sind quantitative Reiz-
unterschiede und Unterschiede in der Ausbreitung der Erregung; zum
Jucken gehört eine im Vergleich zum Schmerz geringere Reizung vieler
Nervenendigungen, kein punktförmig angreifender Reiz wie beim Stich".
„Kitzelempfindung verhält sich zum Tastsinn wie Juckgefühl zum
Schmerzsinn. Faradisches Kribbeln beruht auf einer kompHzierten Reizung
der Fasern des Überflächen- und Tiefentastsinnes. Im analgetischen, aber
nicht anästhetischen Bezirk ruft starker faradischer Strom keinen Schmerz,
wohl aber Kribbeln hervor".
„Meine Beobachtungen machen es wahrscheinlich, dass Jucken,
Brennen, Schmerz einerseits. Kitzeln, faradisches Kribbeln, Tastempfindung
andererseits in nahen Beziehungen stehen, dass sie auf qualitativ gleich-
artiger, quantitativ verschiedener Reizung gleicher bezw. verwandter Fasern
beruhen". Dem stimmt auch Kiesow in einem Referat über die Arbeit
Thöles bei, sowie Török, der schreibt : „Auf Grund der bisher dargelegten
•) Ueber Jucken und Kitzeln in Beziehung zu Schmerzgefühl und T«,st-
• €mpfindung, Neurol. Zentralbl. 1912.
Miszellen und Nachrichten. 419
Untersuchungen scheint es mir zulässig zu folgern: 1. dass bei der Ent-
stehung der Juckempfindung eine geringere Reizung von Nervenendigungen
der Haut eine Holle spielt, deren stärkere Reizung Schmerzempfindung
auslöst, 2. dass diese Nerven weder mit den Tast- noch mit den Temperatur-
Nervenendenapparaten der Haut identisch sind, und dass 3. bei der Ent-
stehung der Juckempfindung die interepithelialen freien Nervenendungen
beteiligt sind" ^).
Auch Ponzo fand nach Einspritzen mit Stovain Anästhesie für Kälte,
und erst später für Wärme. Das Kitzeln hörte mit der Tastempfindlich-
keit auf. Auch er beobachtete Gänsehaut bei Anästhesie.
Daraus schhesst Kiesow :
„Was aus allen Untersuchungen der letzten Jahre mit Sicherheit her-
vorzugehen scheint, ist, dass die Kitzelempfindung an die Funktion der
Tastapparate gebunden ist. Soweit die Juckempfindung in Betracht kommt,
so muss gleichfalls als feststehend anerkannt werden, dass sie von der
Kitzelempfindung verschieden ist, und es muss weiterhin als wenigstens in
hohem Grade wahrscheinlich angenommen werden, dass sie zur Schmerz-
empfindung in naher Beziehung steht." Zeitschr. f. Psychol. 1913. 65 Bd.
S. 130 ff.
Eine neue philosophische Zeitschrift ,,für positivistische Philo-
sophie'-^ im Auftrage der Gesellschaft für positivistische Philosophie
herausgegeben von M. H. Baege erscheint seit dem Anfang dieses Jahres
bei A. Tetzlaff in Berlin. Sie führt sich ein wie folgt:
Für die Naturwissenschaften namentlich, aber nicht nur für sie, besteht
schon seit längerer Zeit ein dringendes Bedürfnis nach einer fhilosophie,
die nicht — fremden Ursprungs — ihnen oktroyiert wird, sondern auf
natürhche Weise aus ihnen selbst hervorwächst. Die mechanische Natur-
ansicht und Weltanschauung kann diesem Bedürfnis schon lange nicht mehr
genügen; man erinnere sich nur des DuBois-Reymondschen Ignorabimus
und der verschiedenen neovitalistischen Versuche, das mechanische und
das psychologische Geschehen zu verknüpfen, Versuche, auf die wir nicht
bloss bei Biologen, sondern auch bei Physikern stossen. Aber auch die
herrschende Philosophie — durchgängig Kantischen Ursprungs oder doch
mit starkem Kantischen Einschlag — versagt gegenüber jenem Bedürfnis,
weil sie ihre Untersuchungen ohne tiefere Empfindung für dieses anstellt,
Probleme behandelt, für die, wer von den heutigen Naturwissenschaften
herkommt, nur weuig Verständnis hat, und weil sie gewöhnlich nicht im
Stande ist, hinreichend auf die naturwissenschaftlichen Fragen selbst ein-
zugehen.
Nun ist allerdings auf naturwissenschaftlichem Boden selbst eine streng
empirische, positivistische, von allen metaphysischen Spekulationen und
sogenannten kritischen, transzendental-philosophischen Lehren abgewandte
Weltanschauung erwachsen. Aber ihre Sätze werden in weiteren natur-
w'issenschaftlichen Kreisen noch nicht im Zusammenhang und nach ihrem
Kern ergriffen, ja selbst von hervorragenden Naturforschern geradeso wie
fast durchgängig von den herrschenden Philosophen völlig missverstanden.
•) Zeitschr. f. Psych. 46, 34.
420 Mis Zellen und Nachrichten.
Anderseits sehen sich die Einzelwissenschaften mehr und mehr zu
immer allgemeineren Fragestellungen gedrängt, so dass sie ganz von selbst
philosophischen Charakter annehmen. Die Mathematik gelangt fort und fort
zu höheren Abstraktionen : in der deduktiven Entwicklung der Geometrie
befreit sie sich von jeder Anschauung, nachdem ihr Raumbegriff die Enge
des Euklidischen Begriffs überwunden hat; in der ^lengenlehre kommt sie
zu einer positiven Bearbeitung des ursprünglich rein negativen Unendlich-
keitsbegriffs, und im ganzen sieht sie sich vor die Frage ihrer Abgrenzung
gegen die Lo;iik gestellt. Die Physik ist zur Zusammenfassung und Ver-
einheitlichung von immer mehr und mehr entfernteren Gebieten gelangt.
Die elektromagnetischen Theorien unterwarfen ihren Begriffen die Optik und
alle Strahlungsvorgänge, und nun steht die Physik vor der Frage, wie weit
die Mechanik elektromagnetisch begriffen werden kann. In der Relativitäts-
theoiie rührt sie unmittelbar an die gewaltigste Frage der bisherigen Er-
kenntnistheorie: ist absolute oder nur relative Erkenntnis erreichbar? Ja;
ist absolute Erkenntnis denkbar? Damit stösst sie unmittelbar auf die
Stellung des Menschen in der Welt, auf den Zusammenhang des Denkens
mit dem Gehirn Was ist Denken? Was sind Begriffe? Was Gesetze?
Physik und Biologie treffen in psychologischen Problemen auf einander.
Und die anthropologischen Wissenschaften endlich, besonders <>eschichte
und Soziologie, sehen sich immer stärker zum Anschiuss an biologische
Vorstellungen gedrängt.
Für alle an diesen Grenzfragen Interessierten gilt es eine Zentralstelle
zu schaffen, Sie wird am besten die Form einer wissenschaftlichen Ge-
sellschaft haben . die sich ausdrücklich gegen alle metaphysischen Be-
strebungen erklärt und als obersten Grundsatz die strengste und umfassende
Ermittlung der Tatsachen auf allen Gebieten der Forschung, der technischen
und organisatorischen Entwicklung hinstellt. Alle Theorien und Forderungen
sollen nur auf diesem Boden der Tatsachen fussen und hier ihr letztes
Kriterium ünden.
Jahresberichte sollen für die Verbindung aller Zweige der Gesellschaft
sorgen, damit verbundene genaue Bibliographien das Material sammeln, das
zum Aufbau einer streng positivistischen Weltanschauung beitragen kann.
Wenn alle, die zu echt wissenschaftücher philosophischer Arbeit be-
fähigt und gewillt sind, oder sich für die Ergebnisse solcher Forschung
und ihre Förderung interessieren, sich so zusammenschliessen, Kann der
Erfolg nicht ausbleiben, der uns über den unbefriedigenden Zustand der
Gegenwart in nicht ferner Zeit hinausführen wird. Die Gegenwart ist der
unfruchtbaren fast gleichförmigen Wiederholung schon oft geäusserter nicht
hinreichend klarer und konkreter philosophischer Gedanken und anderseits
der immer mehr gewachsenen Zersplitterung der Wissenschaften und bloss
äusserlichen Ansammlung ihrer Ergebnisse überdrüssig. Sie will eine
Lösung der allgemeinen Probleme, die die Forschung selbst aufwirft, und
will sich nicht mehr mit einem Ignorabimus abspeissen lassen, für dessen
Triftigkeit die Beweise fehlen.
Als ständige Mitarbeiter werden genannt: H. Boruttau, H. Dingler,
P. Jensen, Kleinpeter, Petzold, Potonie.
Das erste Heft enthält folgende Aufsätze : Positivistische Philosophie
von Petzold, Zur Erkenntnislehre der Marburger Schule von B. Kern, Der
Inhalt der vier Hauptschriften von R. Avenarius von ihrem Verfasser selbst
dargestellt. Dingler, Uebergreifende Begriffsbildung und Kausalität.
ff^Zf
Pliilosopli. Jalirbuch der Görres - Gesellscliaft.
26. Band. 4. Heft.
Neueste Theorien über die Koiisoiuuiz und Dissonanz.
Von Prof. Dr. G. Gutberiet in Fulda.
I.
Nachdem man erkannt hatte, dass die konsonierenden hitervalle
ein sehr einfaches Verhältnis ihrer Schwingungszahlen besitzen, die
dissonierenden nur durch grössere Zahlen darstellbar sind, lag es
nahe, in der Einfachheit, Anschaulichkeit der ersteren das Wohlgefallen
an der Konsonanz, in der Unübersichtbarkeit, Verworrenheit der
letzteren das seelische Missfallen an der Dissonanz zu erblicken,
hl der Tat nimmt die Konsonanz ab und zu mit der Grösse der
Einfachheit der Verhältniszahlen, und ebenso die Dissonanz zu mit
den hohen Verhältniszahlen. Das konsonanteste Intervall ist die
Oktave, sie hat das Verhältnis von 1 : 2 ; es folgt die Quinte mit
2:3, die Terz mit 3 : 4. Am niedrigsten in dem Dissonanz-
charakter steht die kleine Sekunde mit der Verhältniszahl 8 : 9.
Der grosse Mathematiker Euler glaubte nun wirklich in dem
Erfassen dieser Verhältnisse das Wesen der Konsonanz und Disso-
nanz gefunden zu haben. Eine Bestätigung dieser Auffassung könnte
die von Thimus gemachte Beobachtung bieten, nach welcher der
Unterschied zwischen dem Dur- und Mollakkord lediglich auf mathe-
matischen Verhältnissen beruht. Der G-Durakkord c : e : g hat die
Schwingungszahlen 4:5:6, der Moll-Dreiklang c : es : g die Verhält-
nisse 10: 12: 15 = 1:^ :|.
Diese Verhältnisse stehen den einfachen des konsonanten Dur-
akkordes sehr nahe, sie sind auch keine wahren dissonanten Klänge,
sondern stellen eine andere Art von Wohlklang, von Konsonanz dar.
Im Grunde sind die Verhältnisse genau dieselben, nur in umgekehrter
Ordnung, und bilden die reziproken Werte der Durverhältnisse : das
entspricht genau ihrem Konsonanzwerte.
Daraus ergibt sich allerdings, dass jene mathemalischen Ver-
hältnisse mit der Konsonanz und Dissonanz aufs engste zusammen-
hängen, eine Grundlage derselben bilden, Aber das Hören der Konso-
nanz kann nicht auf der Auffassung dieser Verhältnisse beruhen.
Denn die meisten Menschen wissen nichts von jenen Verhältnissen
und empfinden intensive Lust an der Konsonanz.
Der mathematischen Auffassung Eulers hat W. Goldschmidt
eine konkretere Gestaltung gegeben, indem er die musikalische
Harmonie mitkrystallographischen Gesetzen, die ihrerseits ganz
und gar auf mathematischen Verhältnissen beruhen, analogisierte.
Philosophisches .Jahrbuch 191.S. 27
422 C. üutberlet.
Das krystallographische Gesetz der Komplikation beslimnit zahleu-
mässig die Neigung, Grösse und Rangordnung abgeleiteter Flächen
in Bezug auf die Hauptflächen; dieses Gesetz versucht G. nun auf
die musikalische Harmonie anzuwenden, wobei er freilich die Har-
monie in einer weiteren Bedeutung fassen muss. Ihm ist ,, Harmo-
nisch eine Gruppierung oder Gliederung, die unser Geist, als seinem
Wesen und den Sinnen angepasst, dem Gemüte wohltuend, aus der
Welt der Erscheinungen ausgewählt, oder die Aussenwelt verändernd,
schafft".
Er nimmt an, dass ein Ton und seine Oktave und folglich auch
ein Akkord und seine ümkehrungen harmonisch gleichwertig seien.
Nimmt man nun, analog den Hauptflächen der Krystalle, die Oktave
zur Grundlage, so bestimmt das Komplikationsgesetz die dazwischen
liegenden Töne. Die Tonkombinationen der gebräuchlichen Akkorde
entsprechen ,, harmonischen Reihen" der Krystallographie, was auch
an der Folge der Grundtöne der Akkorde an einigen Musikstücken
gezeigt wird. Die harmonischen Reihen sind symmetrisch gebaut.
Die Molltonart ist Spiegelbild des Dur ; dieses ist „steigende Harmonie",
jenes „fallende Harmonie". Unsere diatonischen, chromatischen und
enharmonisehen Tonleitern erklärt das Prinzip des pythagoräischen
Quinlenzirkels „Fortbildung auf der Dominante".
Das ,, harmonische Ohr" bildet sich erst allmählich aus; nicht
im Gehirn, sondern im Trommelfell oder in der Basilarmembran der
Schnecke akkommodieren sich die einzelnen Teile durch eine be-
stimmte Spannung auf einen bestimmten Ton und werden durch
diese Spannung befähigt, durch Knotenbildung die harmonisch dazu
gehörigen Töne aufzunehmen. Disharmonische Töne können nicht
gleichzeitig, sondern nur durch schnellen Spannungswechsel wahr-
genommen werden. Die Dissonanz könne auch durch Rauhigkeit
benachbarter Töne durch Interferenz bewirkt werden.
Eine eingehende Kritik übt an dieser neuen Theorie ein be-
währter Fachmann, Hornbostel, in der ,Zeitschr. f. Psychol. und
Phys.' '). Gegen die letzte Behauptung bemerkt er : „Interferenz-
erscheinungen (Schwebungen, Kombinationstöne) können nur bei
simultaner Perzeption der Reize wahrgenommen Averden, also nach
Goldschmidt nur bei harmonischen Tönen, was der Erfahrung wider-
spricht . . . ; dass Schwankungen und Rauhigkeit begleitende , nicht
aber konstitutive Merkmale der Dissonanz sind, ist vielfach zur
Evidenz erwiesen".
„Neben zahlreichen bestechenden Analogien finden sich viele
Punkte, an denen das Komplikationsgesetz zur Erklärung musikali-
scher Tatsachen versagt. Zunächst beschränkt sich seine Anw^end-
barkeit auf die harmonische Musik des europäischen Kulturgebietes.
Die Hypothesen zur Erklärung exotischer Tonsysteme sind gänzlich
haltlos. Das Moment der Symmetrie ist auf akustischem Gebiete
') 190 ] 32. Bd. S. 436 ff.
Neueste Tlieorien über die Konsonanz und Dissonanz. 423
nicht so allgemein anwendbar, wie auf optischem. Das Komplikations-
gesetz führt zu reinen und harmonischen Intervallen (5 : 7, 4 : 7),
Klavierversuche in temperierter Richtung können daher über die
Annehmlichkeit ,harmonischer Folgen* nicht entscheiden. Viele ge-
bräuchliche Kombinationen, wie der verminderte Septakkord, bleiben
unerklärt. Dass sich einfache, grösstenteils auf Dreiklängen auf-
gebaute Musikstücke, zumal ohne Berücksichtigung der relativen
Tonlage, auch durch harmonische Zahlen darstellen lassen, scheint
nicht so wunderbar, wie Verfasser meint".
Einen prinzipiellen Fehler iindet llornbostel an dieser Harmonie-
lehre in der einseitigen physiologischen Betrachtung, bei der die
psychologische Seite ganz zurücktritt oder doch nur für den Gefühls-
ton zur Geltung kommt, freilich auch da nur zu biologischer Geltung.
,,Da alle Erscheinungen der Aufmerksamkeit und Auffassung
schon im Physiologischen ihre Erklärung finden sollen , bleibt nur
der positive Gefühlston, der die Harmonie begleitet, für die psycho-
logische Betrachtung. Vf. erklärt ihn biologisch, indem er ,Genuss'
als .gefühlte Förderung unserer Lebensfunktionen' definiert. Die Ver-
wandtschaft der Akkorde erkläre sich hiernach aus der relativ
leichten Anpassungsarbeit des Organs, während rascher und schwie-
riger Harmonienwechsel ermüdend wirkt".
Das hauptsächlichste prinzipielle Bedenken scheint mir darin zu
liegen, dass die eigentlich spezifische musikalische Harmonie nicht
erklärt wird. Nimmt man das Wort Harmonie in einem weiteren
Sinne, kann man die Analogie zwischen Musik und Krystallographie
recht wohl zugeben, man kann auch keinen Widerspruch gegen die
Uebertragung des Harmonie- und Komplikationsbegriffes auf das
optische Gebiet, selbst auf die Entwicklungslehre, die bildenden Künste,
auf die Zahlensysteme, wie sie der Vf. vornimmt, erheben. Auf
allen diesen Gebieten herrscht Gesetzmässigkeit; diese kann immer
auch durch mathematische Verhältnisse, also zahlenmässig dargestellt
werden, d. h. durch Zahlenreihen, die eine gewisse harmonische
Ordnung aufweisen. Nun ist aber unser Ohr ebenfalls so angelegt,
dass es durch Töne von harmonischen Schwingungszahlen angenehm,
von ungeordneten Schwingungsverhältnissen unangenehm berührt wird.
Ohne die Annahme einer solchen ursprünglichen Anlage und Ein-
richtung unseres Ohres wie überhaupt ohne die Anpassung der Organe
an die objektiv gegebene Gesetzmässigkeit lässt sich die Annehm-
Uchkeit der Harmonie sowie aller andern lustvollen Eindrücke nicht
verstehen.
Wir stimmen dem Endurteil des Kritikers vollständig bei, wenn
er sagt:
„So reizvoll es sein mag, den eleganten Deduktionen zu folgen,
wird man doch bei der Lektüre das Bedenken nie los, dass der
Wissenschaft mit deduktiver Spekulation, die das bereits sicher-
gestellte Tatsachenmaterial nur unvollkommen berücksichtigt, wenig
gedient ist".
27*
424 C. Gulberlet.
TT.
Pfadfinder auf dem Gebiete der Tonempfindungen ist II e Ini-
hol tz, insbesondere durch die experimentelle Feststellung der Ober-
tüne. Wie die Stärke eines Tones von der Amplitude der Sehall-
wellen, seine Höhe von der Geschwindigkeit, also Kürze der Schall-
wellen abhängt, so sein Klang von der Beimischung von Obertünen.
Mit dem Grundton werden regelmässig schwächere Töne mit gehört,
deren Schwingungszahl ein Vielfaches der des Grundtones bildet. Nach
dem Vorherrschen bestimmter Obertöne wird unbewusst der Klang
bestimmt. Auf diese Obertöne hat Wundt die Konsonanz bzw.
Harmonie gegründet. Er unterscheidet Konsonanz und Harmonie so,
dass erstere das Zusammenstimmen der Obertöne unter sich und mit
dem Grundtone, Harmonie das Zusammenstimmen der Intervalle,
also die Konsonanz im gewöhnlichen Sinne bedeutet. Dieselbe beruht
darauf, dass zwei Töne in ihren Obertönen übereinstimmen. Das
konsonanteste Intervall ist die Oktave, 1 : 2. Der höhere und niedere
Ton haben dieselben Obertöne. Es folgt in der Konsonanz die Quinte ;
das Intervall hat das Verhältnis von 2 : 3. Die Obertöne des Grund-
tones sind 4, 6, 8, 10, 12, die der Quint 6, 9, 12, 15, 18 ... Es ist
also schon der zweite Oberton des Grundtons identisch mit dem ersten
der Quint, der fünfte des ersteren mit dem dritten der letzteren.
Bei der Sekunde dagegen mit dem Verhältnis 8 : 9 sind die
Obertöne : 16, 24, 32, 40, 48, 56, 64. 72 : 18, 27, 36, 45, 54, 63, 72;
es stimmt also erst der achte Oberton mit dem siebenten überein.
Je stärker die Dissonanz, je grösser also die Verhältniszahlen einer
Dissonanz, desto weniger Uebereinstimmungen in den Obertönen.
Der Grund des Wohlgefallens an der Konsonanz soll also in
der Einigung der Töne in ihren Obertönen liegen, welche von der
Seele aufgefasst wird. Dass diese Einheit Konsonanz und Wohl-
gefallen begründen kann , kann nicht geleugnet werden ; nur kann
man nicht zugeben, dass diese Einheit von der Seele erfasst wird.
Helmhol tz benutzt die Obertöne nur, um jene Harmjnie, die
auch zwischen aufeinanderfolgenden Tönen auftritt, zu erklären ; bei
gleichzeitig erklingenden Tönen findet er die Harmonie oder Konsonanz
in der Freiheit von Schwebungen, die Dissonanz in dem Auftreten
von Schwebungen bei Intervallen von grossen Verhältniszahlen. Die
Schwebungen entstehen durch Interferenz der Schallwellen; wenn
Wellenberge mit Wellentälern zusammentreffen, heben sie den Ton
auf. Es werden so intermittierende Schalleindrücke gehört, Stösse,
die, wenn sie rasch aufeinander folgen, einen unangenehmen Ein-
druck machen.
Diese Erklärung der Dissonanz dürfte wohl kaum zu widerlegen
sein, aber für die Konsonanz ist sie kaum ausreichend. Die Konso-
nanz bestände darnach in einem rein negativen Momente, was leb-
haft an die Gefühlstheorie von Schopenhauer erinnert, nach der es
keine positive Lust, sondern nur Freiheit von Unlust gibt, die uns
wohltue. Aber gerade das Wohlgefallen an musikalischer Harmonie
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 425
ist ein so positives und gelegentlich ein so intensives, dass es nicht
durch rein negative Momente erklärt werden kann.
Die musikalische Theorie von Helmholtz wird gewöhnlich als
Resonanztheorie gekennzeichnet. Dies bezieht sich auf die physio-
logische Erklärung der Töne bzw. der Tonleiter. Die Basilarmembran
in der Schnecke des Ohrs verschmälert sich in einer Weise, dass
ihre einzelnen Abschnitte kürzeren und längeren Saiten entsprechen.
Diese Abschnitte sind auf die verschiedenen Töne abgestimmt, so
dass die höheren Töne von den kürzeren, die tieferen von den
längeren aufgenommen werden, also gleichsam Resonatoren darstellen.
Die Helmholtzsche Theorie fand sowohl nach ihrer physio-
logischen wie musikalischen Seite warme Anhänger wie auch heftige
Gegner. Bezold glaubte experimentell nachweisen zu können,
dass Defekte in der Schneckenmembran auch Defekte im Tongehör
nach sich ziehen. Auch andere bedeutende Forscher, wie Hansen,
Exner, haben sie bestätigt. Selbst nachdem Kali seh er das Gegen-
teil experimentell dargetan zu haben glaubt, tritt E. Waetzmann')
mit einigen Modifikationen wieder für sie ein. Die Versuche Hansens
an Krustazeen und Mayers an Insekten zeigen, dass tatsächlich so
kleine Gebilde wie die Radialfasern der Basilarmembran auf mittlere
Töne hin zur Resonanz kommen können. „Die grössere Zahl der
Versuche beweist, dass verschieden hohe Töne von verschiedenen
Teilen der Schnecke aufgenommen werden, und die Aufnahmestellen
der Basis der Schnecke um so näher Hegen, je höher die Töne sind".
Ueber die Lokalisation der Gehörsempfindungen
hat 0. Kali seh er an Hunden Experimente angestellt. Die Hunde
wurden operiert, indem bestimmte Partien des Gehörapparates ex-
stirpiert und die Wunden wieder geheilt wurden. Die Tiere reagierten
nach vorhergehender Dressur in der Weise auf die Schallreize, dass
sie bei bestimmten Tönen nach den vorgehaltenen Fleischstücken
schnappten, bei^ andern sie liegen Hessen. Zuerst wurde die Helm-
holtzsche Theorie geprüft, nach der die verschieden langen Teile
der Basilarmembran des Schneckenganges auf die verschiedenen
Töne abgestimmt sind. Bei einem Hunde war fast die ganze Schnecke
zerstört worden. Das Tier reagierte auch dann prompt, wenn die
„Fresstöne" zugleich mit beliebigen anderen angeschlagen wurden,
gerade wie bei normalen Tieren. Der Hund konnte alle Tonhöhen
in der Klaviatur eines Harmoniums von 5 Oktaven wahrnehmen und
im Gedächtnis 15 Minuten behalten, wenigstens so lange die Prüfung
dauerte. Aus diesen Versuchen ergibt sich, dass, wenn auch nur ein
Teil der Schnecke, sei es an der Spitze oder an der Basis, erhalten
bleibt, die Tonunterscheidung nicht leidet. Darnach kann den ver-
schiedenen Teilen derselben nicht die Verschiedenheit der Ton-
empfindung entsprechen, wie dies Helmholtz, Ewald u. a. annehmen.
Ferner wurde der Vestibularapparat geprüft. Es ergab sich ein
Einfluss desselben auf Tonunterscheidung, und zwar in verschiedenem
0 Die Resonanztheorie des Hörens. 1912.
426 C. Gutberiet.
Grade, je nachdem derselbe besser oder schlechter erhallen war.
Darnach ist die Annahme, dass die Klangzerlegung schon in den
peripheren Endorganen des Gehirnnerven sich vollzieht, nicht mehr
haltbar. „Hier findet nur die Umsetzung der gesamten aufge-
nommenen Hörreize in die dem Nervensystem adäquaten Erregungs-
vorgänge statt. Letztere werden in allen Nervenfasern des Nervus
acusticus gleichmässig fortgeleitet, um erst in den Nervenzentren die
ihnen entsprechenden Reaktionen, wozu auch die Klanganalyse beim
Menschen gehört, auszulösen".
Es zeigte sich, dass die Hunde hitervalle von einem halben Ton
erkennen, dass sie den bekannten Ton wochenlang im Gedächtnis
behalten, und dass sie ihn aus einem Gemisch verschiedener Töne
heraus hörten. Hierin übertrafen sie selbst die besten Musiker:
diese hören nur in den mittleren Tonlagen den Ton heraus, die
Hunde aber auch in den tieferen.
Was man früher als Hörsphäre im Gehirn ansprach, wurde durch
die Dressur nicht bestätigt. Selbst nach Ausschneiden derselben blieb
die Tonunterscheidung, sie konnten selbst noch auf andere Töne
dressiert werden ^).
Von weit grösserer Bedeutung sind die Verhandlungen über das
Wesen der Konsonanz. Ziemhch allgemein wurde die Lehre
Helmholtz" von den Schwebungen als Ursache der Dissonanz und
Freiheit von Schwebungen als Ursache der Konsonanz von den
neueren Psychologen ' und Musiktheoretikern abgelehnt. So von
Wundt, Lipps, Stumpf.
Mit Entschiedenheit trat dagegen F. Krueger für dieselbe
wieder ein, indem er die bisher wenig beachteten DifTerenztöne bei
der Erklärung der Konsonanz und Dissonanz zugrunde legte. Eine
lange Kontroverse schloss sich an diese teils neuen teils alten Auf-
stellungen an, indem besonders zwei hervorragende Psychologen,
Stumpf und Lipps, sie lebhaft bekämpften.
Auch Lucae') hält die Helmholtzsche Schneckenthoorie für
unzulänglich. Er fand, dass Schallempfmdungen auch im Vorhof-
Hogengang ausgelöst werden. Klinische und pathologische Beob-
achtungen zeigten , dass bei teilweiser oder auch gänzlicher Zer-
störung der Schnecke das Tongehör bestehen blieb. Bei zweien
mit narkotisch ausgestossener Schnecke wurden keine ultramusi-
kalischen Töne mehr vernommen, wohl aber viele musikalische. Bei
Degeneration des N. cochlear. wurden tiefe Töne noch gut gehört.
Sohrer-Bryant^) bestreitet prinzipiell die Resonanztheorie.
Ueber die Härchen der Cortischen Zellen „fahren die Tonwellen wie
der Wind über das Getreidefeld", wodurch die nervösen Endelemente
*) Archiv f. Anatomie und Physiol. 1909. Referat in d. Naturw. Rundschau
1910 Nr. 32 S. 406 ff.
^) Beiträge zur f.ehre von den Schallempfindungen, Arch. f. Ohrenheilk.
1909.
*) Die Lehre von den schaliempfindlichen Haarzellen, ebenda.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 427
des N. acList. gereizt werden. Die Wellentheorie soll auch die Klang-
farbe, die Konsonanz, den Ton im Gegensatz zum Geräusch usw.
erklären.
III.
Doch eine neue Erklärung der Konsonanz und Dissonanz auf
Helmholtzscher Grundlage gibt F. Krueger im „Archiv für die
gesamte Psychologie", herausgegeben von E. Meumann *).
Die Erklärung der Konsonanz und Dissonanz durch Fehlen und
Vorhandensein von Schweb ungen, wie sie Helmhol tz gegeben,
wurde durch Wundt stark modifiziert, indem er mehr Gewicht
auf die Obertöne des Zusammenklangs legte, von Lipps und
Stumpf aber vollständig uragestossen, indem ersterer den unbe-
wussten seelischen, den physikalischen Schwingungen entsprechenden
Rhythmus, Stumpf die Verschmelzung als Grund des Wohl-
gefallens der Konsonanz bezw. das entsprechende Missfallen an der
Dissonanz ansprechen. Kr. unterzieht diese- Erklärungen einer ein-
gehenden Kritik, wobei er sich auf seine sorgfältigen Experimente
über die Differenztöne stützen kann. Bisher hat man nur konso-
nante Intervalle auf Differenztöne untersucht : Kr. fand aber, dass
sie bei allen Zweiklängen, auch dissonanten, auftreten; sie dienen
ihm zu einer sehr befriedigenden Erklärung von Konsonanz und
Dissonanz. Er kommt dabei wieder auf Helmholtzsche Anschauungen
zurück; auch Frey er hatte die Differenztöne zur Erklärung heran-
gezogen, aber es bei mathematischen Ausführungen, ohne die nötigen
experimentellen Grundlagen, bewenden lassen. Kr. stützt nun seine
Theorie auf experimentell von ihm ermittelte Tatsachen.
Er legt einen Zweiklang zu Grunde, der immer fünf Differenz-
töne haben muss. „Die Tonhöhen dieser gleichzeitigen Töne sind
nach der Regel zu berechnen, dass man nacheinander immer die
kleinsten bereits vorhandenen Schwingungszahlen von einander ab-
zieht. Wenn beispielsweise das Schwingungsverhältnis der primär
gegebenen Töne 20 : 29 ist, so entsprechen den Differenztönen die
Verhältniszahlen 9 (=29—20), 11 (=20—9), 2 (=l l_9\ 7 (=9—2);
im Falle 17:41 die Verhältniszahlen 24, 7, 10, 3, 4. Nun ver-
halten sich Differenztöne zu einander und zu andern gleichzeitigen
Tönen genau so wie primäre Töne unter sich. Sie bilden neue
Differenztöne, und wo ein qualitativ benachbarter Ton mit ihnen zu-
gleich erklingt, da entstehen Schwebungen und Zwischentöne zweier
objektiv gegebener Töne"; sie verschmelzen vollkommen, wenn die-
selben so nahe an einander liegen, dass sie nicht unterschieden
werden können. Dieser Fall tritt bloss bei Konsonanzen ein.
Dagegen enthalten „alle dissonanten Zusammenklänge als
Empfindungsbestandteil mindestens einen verstimmten Einklang mi^
den wahrzunehmenden Eigenschaften eines solchen. Bei den Kon-
sonanzen liegt an den entsprechenden Stellen des Empfindungs-
') 1904 2. Bd. S. 1 ff. : „Differenztöne und Konsonanz".
428 C. Gutberiet.
ganzen ein reiner Einklang. In der unbegrenzt grossen Zahl der
möglichen Zusammenklänge sind die konsonanten die einzigen, bei
denen die F>scheinungen der verstimmten Prime nirgends hervor-
treten können." Bei Konsonanzen ergeben sich nur 5 Difierenztöne,
deren unterster die Verhältniszahl 1 hat und zwei Mal vorkommt.
Die schrittweise Verstimmung der Konsonanz zeigt, dass jener tiefste
Ton aus mehreren identischen resultiert; er ist stärker, „charak-
teristischer DitTerenzton , von mannigfaltigsten und am meisten
charakteristischen Schwebungserscheinungen begrenzt und umgekehrt.
Von allen Zusammenklängen sind die konsonanten allein frei
von Differenztonschwebungeti . . . der charakteristische Unterschied
zwischen Reinheit und Verstimmung, wie er durch die Differenz-
tonscliwingungen bedingt wird, erstreckt sich auf ein um so grösseres
Tongebiet, je einfacher das Schwingungsverhältnis, je vollkommener
also die Konsonanz ist, um deren Charakteristik es sich handelt".
Ein bisher weniger bekanntes Merkmal des verstimmten Ein-
klangs ist der Zwischenton. Zwei nahe an einander liegende
Töne werden nicht für sich gehört, sondern ein dritter zwischen
ihnen; sie müssen auseinanderrücken, um für sich gehört zu werden;
der Zwischenton lässt sich eine Strecke weit noch neben den beiden
Tönen vernehmen. ,.Die Verschmelzung zweier benachbarter Töne
der Mittel- und Tiefenlage reicht überall so weit, wie die Schwebungen.
Ist die Verstimmung gering, so wird der charakteristische DitTerenz-
ton noch nicht verschieden gehört, wohl aber Schwebungen,
regelmässige Stärkeschwankungen, deren Zahl gleich ist der
Differenz der Schwingungszahlen." Dieselben werden aber auch
von Dilferenztönen begleitet und fehlen auch bei den bisher als
schwebungsfrei erklärten Dissonanzen nie; ,,sie lassen sich um so
weiter verfolgen, auch das Maximum der durch sie bedingten Un-
lust und Rauhigkeit wird um so später erreicht, je höher sie liegen."
.,Die Schwebungen eines objektiv gegebenen verstimmten Einklangs
sind stärker und deutlicher als alle anderen Schwebungsarten und
erstrecken sich in langsamster Progression über das breiteste Inter-
vallgebiet . . . Dieselben Eigenschaften kommen den teilweise oder
ausschliesslich durch Differenztöne verursachten Schwebungen zu".
,,Die vollkommensten Konsonanzen sind durch die merklichsten,
mannigfaltigsten und am meisten charakteristischen Schwebungs-
erscheinungen begrenzt, und umgekehrt." Auch für die Differenz-
töne bestehen die Zwischentöne. ,,Alle Dissonanzen enthalten in
der Tiefe die Erscheinungen der durch Narbarschaft bedingten Ver-
schmelzung mindestens zweier Teiltöne." „Je vollkommener die
Konsonanz, um so höher liegt der charakteristische Koinzidenzton,
um so langsamer rücken ausserdem bei ihrer Verstimmung die
charakterisierenden Teiitöne auseinander: desto grösser ist daher
das Intervallgebiet der Zwischenton Verschmelzung.'^
„In den Erscheinungen der Tonverschmelzung durch Nachbar-
schaft ist das bewusste Empfindungsmoment gegeben, das in erster
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 429
Linie die Dissonanz von der blossen Rauhigkeit (der Schwebungen)
unterscheidet." Die Dissonanz wirkt unangenehm durch „die
Schwebungen oder die Rauhigkeit, die quahtative Unreinheit, die Un-
gleichartigkeit der Teiltöne", durch ,,die Verworrenheit", „Unaus-
geglichenheit", ,, ungewohnte Anordnung der Töne, die Fremdartig-
keit der meisten Partialverhältnisse."
Daraus ergibt sich das Verhältnis der. Konsonanz zur Ver-
schmelzung: die Einheitlichkeit ist beiden gemein. „Abgesehen
von der Gefühlsfärbung ist das unmittelbare Erlebnis der Konsonanz
nichts anderes als die Wahrnehmung einer spezifischen Einheitlich-
keit von Zusammenklängen". ,,Die sinnliche Auffassung eines Zu-
sammenklanges als einheitliche und das Wahrnehmungsmoment der
Konsonanz setzt keinerlei Analyse des Wahrgenommenen voraus,
auch keine unvollständige Analyse". Nach Stumpf ist bei Kon-
sonanzen die Analyse um so schwieriger, je grösser die Konsonanz,
nach M. Meyer erleichtert die Konsonanz die Analyse. Die Be-
obachtungen Kr.s ergaben, dass das Mehrheitsurteil nicht durch
Analyse bedingt ist, nicht einmal das Urteil über die Zahl der Teil-
töne, welches ,,von verschiedenen sinnUchen Faktoren abhängt";
ferner ,,dass die Unterschiede der Mehrheitsbeurteilung (ihres Ergeb-
nisses) nur zum Teil und in sehr verschiedener Weise auf Unter-
schieden in der Schwierigkeit der Analyse beruhen ; und schliesslich,
dass weder das Mehrheitsurteil noch die Schwierigkeit der Analyse
einfache Funktionen des Konsonanzgrades sind."
Die psychologische Analyse dagegen ergibt, dass von ent-
scheidender Bedeutung für die Analyse wie für die unmittelbare
Auffassung der verschiedenen Zusammenklänge die qualitative Deut-
lichkeit und Bestimmtheit der Teilempfindungen ist. „Die Identität
zahlreicher Teiltöne bedingt eine mit dem Grade der Konsonanz zu-
nehmende Aehnlichkeit zwischen den konsonierenden Zusammen-
klängen und Einklängen ... Sie »erschwert* auch die Analyse."
Diese Wirkung beruht auf Assoziation, welche überhaupt für den
Gefühlston der Zusammenklänge von grosser Bedeutung ist. „Kon-
sonanz und Dissonanz unterscheiden sich voneinander nicht nach
dem Grade, sondern nach der Art der Verschmelzung. Die beiden
gegensätzlichen Arten der Tonverschmelzung sind schliesslich auf
zwei extreme Typen zurückzuführen: a. das qualitativ ungestörte
Beieinander sämtlicher Teiltöne im Einzelklang; die einheitliche
oder harmonische Verschmelzung; b. die verworrene oder nachbar-
Uche Verschmelzung sämtlicher Teiltöne im verstimmten Einklang."
Heftig wurde die Theorie Kruegers von Lii)ps angegriffen. Gegen
ihn wendet er sich in der Abhandlung „Die Theorie der Konso-
nanz^). Lipps stellt die Sache so dar, als erkläre Krueger, die
Konsonanz bestehe „in einer Abwesenheit von etwas".
0 Psych. Studien 1905 2. Bd. S. 203.
430 C. Gulberlet.
„Aber er vergisst zu erwähnen, dass ich in allen konsonanten
Zusammenklängen ganz bestimmte, qualitativ und intensiv aus-
gezeichnete Teiltöne experimentell nachgewiesen habe : DifTerenztüne
und besondere, die in ihren Eigenschaften und Relationen von den
entsprechenden Teilempfmdungen der Dissonanzen in immer der
gleichen Richtung wesentlich abweichen (in derselben Richtung näm-
lich, in der der reine musikalische Einklang sich vom verstimmten
Einklang unterscheidet); während zugleich die verschiedenen
Konsonanzen unter sich durch die Anzahl, die QuaUtäten und die
Stärkeverhältnisse ihrer Differenztöne weitgehende, gesetzmässig
abgestufte Verschiedenheiten darbieten, Verschiedenheiten, die nach
meiner uud jetzt auch nach der Auffassung anderer Akustiker
eine empfindungsmässige Grundlage bilden sowohl für die unmittel-
bar zu erlebenden Unterschiede der Konsonanzen (die Arten 0 der
Vollkommenheitsstufen der Konsonanz) als für die zugehörigen Ver-
schmelzungsgrade".
Lipps macht geltend, dass bei konsonanten Ton folgen DifTerenz-
töne ausgeschlossen sind. Aber die völkervergleichende Musiklehre
und die Beobachtung der besten Musiker lehrt, dass Konsonanz in
der Tonfolge nicht besteht ; ein dissonantes Intervall kann da besser
gefallen als ein konsonantes.
Stumpf glaubt die Theorie Kruegers experimentell widerlegen zu
können in dem Aufsatze ,,Dif ferenztöne und Konsonanz"^).
Man kann zu einem konsonanten Intervalle künstlich Differenztöne,
Schwebungen und verstimmte Einklänge erzeugen, und die Konso-
nanz bleibt, zum Teil wohl getrübt, aber unter Umständen selbst
„gewürzt". Ueberhaupt bemerkt auch er, dass die Konsonanz in
den Tönen selbst, nicht in einem Beigemisch gesucht werden muss.
Krueger glaubt, die gegen Helmholtz vorgebrachten Einwände träfen
seine Theorie nicht. Das trifft zu inbezug auf die obertonfreien
Akkorde und den von Stumpf angegebenen schwebungsfreien disso-
nanten Fünfklang. Indes sind auch difTerenztonfreie dissonante Klänge
herzustellen, jedenfalls solche, in denen die Differenztöne und der
verstimmende Zwischenton sehr schwach sind.
„Das Intervall 8 : 11 gehört zweifellos zu den Dissonanzen.
Es liegt zwischen der Quarte und der Quinte. Die fünf Differenz-
töne Kruegers haben hier die Verhältniszahlen 3, 5, 2, 1, 1.
Nehmen wir nun Primärtöne von der absoluten Höhe 800 : 1100
(800=^/5'), so verstehe ich nicht, wie so die Differenztöne 100,
200, 300, 500 unter einander oder mit den Primärtönen nach Kr.
noch störende Schwebungen oder Zwischentöne bilden sollen. Die
Oktave 100 : 200 und die Quinte 200 : 300 mögen noch Spuren von
Rauhigkeit aufweisen, wenn man sie mit einem einfachen einzelnen
Ton vergleicht, aber dergleichen verschwindende Reste dürfte Kr.
selbst nicht für die Dissonanz verantwortlich machen".
•) Zeitschrift f. Psych, u. Phys. von Ebbinghaus 1905 39. Bd. S. 269.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 431
Ebenso können hier keine Zwischentöne auftreten; die sämtlichen
Differenztöne gehen nicht unter die Quinte herab, und doch hat
sie Kr. nur bis zu der kleinen Terz, und zwar in der mittleren
Region beobachten können. Man kann nun das Intervall noch eine
Oktave höher legen, dann sind die Zwischentöne vollständig aus-
geschlossen. So liegt die Sache aber nicht bloss bei 8 : 11, sondern
in zahlreichen anderen Fällen, wie bei 11 : 15, 13 : 18, 5 : 7, 12 : 17
usw. Ferner, Kombinationstöne wie Schwebungen kann man dadurch
beseitigen, dass man die beiden Gabeln an die beiden Ohren verteilt
(,,dichotisches" Hören). Dabei bleibt die Dissonanz gerade so wie
beim diotischen und monotischen Hören. Die Zwischentöne kommen
auch bei den Obertöneu vor; also müsste auch hier die Rauhigkeit
der Dissonanz entstehen.
Der Grundfehler der Theorie liegt darin, dass Kr. Dissonanzen
wählt, welche nur wenig von den einfachsten Zahlenverhältnissen
abweichen, die ,, ehrlichen" Dissonanzen hat er nicht berücksichtigt.
Gegen Stumpf und Lipps wendet sich Krueger in der Abhand-
lung „Die Theorie der Konsonanz"^).
Bei beiden findet sich eine ,, falsche Objektivierung der Verding-
lichung der psychologischen Begriffe". So „begnügt sich Stumpf nicht
selten, und durchgängig gerade in den gegen meine Theorie ge-
richteten Ausführungen, mit dem undifferenzierten (überall gleichen),
wenig analysierten und nahezu substanziell gewordenen Konsonanz-
begriff". „Er setzt überall als beinahe selbstverständlich voraus, dass
zwei Töne von gleichem Schwingungs Verhältnis (2:3, 4:5,8:13)
für die Wahrnehmung in ihrem Konsonanzcharakter unverändert
bleiben" . . . „Auf grund meiner eigenen Erfahrungen bestreite ich
auf das entschiedenste diese Ansicht, so viele Anhänger sie zählen
mag. Sie wird von den meisten meines Erachtens nur unkritisch
nachgesprochen". „Stumpf unterscheidet nicht hinreichend die Kon-
sonanz vom Intervallurteil".
Lipps geht hierin noch weiter. Schon seine Fragestellung ist
„eine vorkritische, schiefe und irreführende". „Es heisst ein dog-
matisches Identilätsvorurteil und die dinghaft hypostasierende Be-
trachtungsweise schon in die Fragestellung hineintragen, wenn Lipps
erklärt : Jenes , Gemeinsame' müsse , einen gemeinsamen Grund' haben,
es muss eine Tatsache aufgezeigt werden, unter deren Voraussetzung
allemal ein wie auch immer modifiziertes Bewusstsein der Konsonanz
sich einstellt". Dieser Grund liegt nach Lipps in dem „Gesetz" der
Uebereinstimmung unbewusster seelischer Erregungen. Aber dieses
Gesetz wird von den selbständigen Psychologen fast einstimmig ab-
gelehnt; das Unbewusste wird darum von ihm nun mehr ins
Physiologische gerückt.
Viel zu wenig wird von den Psychologen noch die Wirkung der
Assimilation berücksichtigt, d.h. jede Beeinflussung eines gegen-
») Psychol. Studieu von Wundt 1906 S. 805.
r>
Si
432 C. Gutberiet.
wärtigen P>lebnisses durch die nicht unterschiedenen (d. h. nicht
gesondert für sich wahrgenommenen) Nachwirkungen früherer Er-
lebnisse . . . Wir haben es hier mit einer Haupt form des psychischen
Geschehens zu tun. Jeder Moment des normalen psychischen Ge-
chehcns, jedes konkrete Erlebnis des entwickelten Bewusstseins ist,
im angegebenen Sinne, assimilativ bestimmt". Damit hängt zum Teil
die ,, Ausgleichung" zusammen, die zwischen irgend welchen Ele-
menten eines Gesamtbewusstseinsinhaltes stattfindet, gleichviel ob
dabei Nachwirkungen früherer Erlebnisse beteiligt sind oder nicht,
gleichviel ferner, ob es zu einer vollständigen Verschmelzung kommt;
weil der Prozess unbewusst vor sich geht, kann man sie ,,resulta-
tive Ausgleichung" nennen. Daraus erklärt sich die fast ausschliess-
liche Herrschaft unseres Intervallsystems über das gesamte musi-
kalische Bewusstsein. Stumpf hat nun seinen Verschmelzungsbegriff
selbst zu ergänzen sich gezwungen gesehen, er operiert noch mit
dem ,, Reinheitsgefühl", wobei er freilich den Begriff des Gefühls
sehr erweitert.
Gegen den gewichtigsten Einwand Stumpfs richtet sich F. Krueger
in dem Aufsatz: „Die Theorie der Konsonanz"^).
Stumpf hatte den Fünfklang 172 : 330 : 472 : 676 : 1230 als Ein-
wand gegen die Schwebungen als Ursache der Dissonanz angeführt ;
er ist ganz schwebungsfrei, müsste also „der konsonanteste Akkord
der Musik in mittlerer Tonlage sein". Er zieht nun diesen Einwand
zurück, da Vf. nachgewiesen, dass schon die Differenztöne erster
und zweiter Ordnung dieses Zusammenklanges Dissonanztöne geben
müssen; er besteht aber darauf, dass bei schwachem Anschlag
keine Differenztöne gehört werden. Vf. hört aber dieselben, bis der
Anschlag so schwach wird, dass man auch keine Konsonanz und
Dissonanz, wohl aber noch den Intervallunterschied wahrnimmt.
Nun hat aber Stumpf neuerdings Intervalle angegeben, die nach
der Theorie Kruegers nicht dissonant sein könnten und es doch ent-
schieden sind ; z. B. innerhalb der Oktave 5:7, 5:9, 7:9; jenseits
der Oktave 9 : 16, 11 : 24, 5 : 13, 13 : 21, 31 : 49, 34 : 55.
Dagegen zeigt Vf. : „die meisten der Stumpfschen Intervalle sind
deshalb als neutral, d. h. weder als konsonant noch als dissonant,
im Sinne der Fragestellung, zu betrachten, weil sie nach Stumpfs
eigenen Voraussetzungen in einer absoluten Tonhöhe zu erzeugen
wären, die zu hoch ist, dass ein unmittelbares Wahrnehmungs-
bewusstsein der Sonanz (entweder für eben diese oder überhaupt für
alle Intervalle) dort stattlinde". „Es ist in jedem Falle ein relativ
enges Mittelgebiet der musikalisch brauchbaren Tonregion, innerhalb
dessen für alle Sonanzgrade, auch nur der gegenwärtigen Musik, ein
ursprüngliches rein empfindungsmässiges Konsonanz- oder Dissonanz-
bewusstsein besteht". Die Verhältniswahlen Stumpfs müssen mit 50
oder 100 multipliziert werden. So muss also eine grosse Anzahl
der kritischen Intervalle Stumpfs ausgeschieden werden.
') Psychol. Studien von Wundt 1908 IV S. 201.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 433
,, Zusammenfassend di^irfen wir sagen: was an Tatsachen bisher
über die weiten Intervalle bekannt ist, steht in gutem Kinklang oder
doch nicht im Widerspruche mit der Theorie von der primär ent-
scheidenden Bedeutung der Differenztöne für die Sonanz".
Im ganzen hat sich bis jetzt folgendes ergeben: ,,Die spezielle
Kritik Stumpfs beruht auf der Annahme, dass die von ihm ange-
führten Zusammenklänge sämtlich für die unmittelbare Wahrnehmung
dissonierten. Diese Annahme erweist sich nach allen bisher vor-
liegenden Beobachtungen und musikalischen Tatsachen als unhaltbar:
ein Teil der kritischen Zweiklänge ist in Wirkhchkeit konsonant,
in dem Grade der unvollkommeneren Konsonanzen unserer Musik;
die überwiegende Mehrzahl aber — ich erinnere noch einmal an die
hohe absolute Tonlage dieser Zweiklänge — ist von Hause, aus weder
konsonant noch dissonant, sondern sonanzmässig wie auch gefühls-
mässig neutral (indifferent)".
Neue Einwände Stumpfs widerlegt Krueger in den ,Psychol.
Studien' *).
,,Die Verhältnisse der Differenztöne lassen in keinem einzigen
der Stumpfschen Fälle vollkommene Konsonanz erwarten". Wollte
man die psychologischen Linien ins Physiologische weiterführen, ,,so
kann kein Zweifel sein : Das geschähe mit der grössten Wahrschein-
lichkeit in der Richtung einer erweiterten und vermehrten Wirksam-
keit der Kombinationserscheinungen über das (bisher) gesondert
Wahrnehmbare hinaus !" ,,Nach der absoluten Höhe zu verwischen
sich alle Sonanzcharaktere der Wahrnehmung in der Richtung
sonanzlicher Neutralität, und zwar zuerst die von Hause aus am
wenigsten ausgeprägten; nach der Tiefenlage hin nähern sich alle
Zusammenklänge mehr und mehr einer unterschiedslosen Disso-
nanz, zuerst die schon in der Mittellage dissonanten, dann die un-
vollkommen dissonierenden".
AbschUessend erklärt Krueger: „Die Auseinandersetzung mit
allen gegen meine Resultate erhobenen Einwänden hat genauer
gezeigt, wie v/eit wir von einem vollen psychologischen Verständnis
der Konsonanz noch entfernt sind . . . Freilich ist auch dies durch
die gegenwärtige Diskussion erst recht klar geworden, dass zur Zeit
in der theoretischen Behandlung der Tonwahrnehmungen noch bis in
die Fragestellung hinein tiefgreifende allgemeinpsychologische Gegen-
sätze bestehen".
Darin müssen wir ihm vollkommen beistimmen.
Neue Einwände gegen Krueger erhebt Stumpf in der Zeit-
schrift für Psychol. von Schumann-).
Zunächst erklärt St., er behaupte nicht, dass die Lehre von den
5 Differenztönen falsch sei, w^ohl aber dass sie einer Nachprüfung be-
dürfe ; K. hat nämlich nicht selbst beobachtet, sondern nur kontrolliert.
„Intervalle bis zur Oktave: 1. Di und Di sind überall vorhanden
0 1909 S. 294.
0 1910 55. Band S. 1 ff.
434 C. Gutberiet.
(K. T. bezeichnet Koinbiiiatiorislon, D DilTerenz-, S. T. Summations-,
P. T. die erzeugenden Primär-, li die höheren, t die tieferen Primär-
tönej. 2. Zwischen der kleinen Terz und der Oktave sind bei
Primärtönen bis zu c^ keine sonstigen DiiTerenztöne unterhalb des
tieferen Primärtones nachzuweisen. 3. Differenztöne von Primär-
tönen bis zu c* bilden unter sich und mit Primärtönen keine wei-
teren beobachtbaren DiiTerenztöne. 4. Bei Verstimmungen kommt
nirgends innerhalb der Oktave ausser in ihren beiden Endregionen
ein D. T. von der tiefen Tongrenze herauf. 5. Schwebungen von
D. T. untereinander, sowie Spaltung eines D. T. in zwei finden sich
nur bei verstimmter Quinte ; Schwebungen von D. T. mit den er-
zeugenden P. T. nur unterhalb der kleinen Terz und nahe der
Oktave. 6. Die Tonhöhe der D. T. entspricht genau dem berech-
neten Werte. 7. D. T. zwischen den berechneten sind nicht auf-
zufinden. 8. hitervalle jenseits der kleinen Terz geben keinen Mitlel-
ton. 9. Ausser Di und D^ existieren noch innerhalb bestimmter
Grenzen die unteren D. T. 3t - 2h, 4t— 3h und die oberen D. T.
2h— t, 3h— 2t, 4h— 3t. 10. Der Summationston h-ft ist nicht
durch Obertöne bedingt und nicht auf D. T zurückführbar. 11. In-
tensitätsfragen bezüglich der Di und D2 und der zugehörigen Primär-
töne."
„Erscheinungen bei der verstimmten Oktave: 1. Schwebungen
auf dem tieferen Primärton. 2. Die Schwebungen des tieferen P.
gehen bei der Erhöhung der Oktave nicht in einen Differenzton
(D2) über. 3. Höhenveränderungen der Primärtöne. 4. Lokalisierung
der Oktavenschwebungen auf Zwischentöne. Unharmonische zen-
trale Kombinationstöne".
„Intervalle, welche die Oktaven überschreiten: 1. Rechnerische
Voranschläge. 2. Bei Intervallen über 1 : 2 sind nur h— t und
h -f- t zu beobachten. 3. Keine K. T. ausser h — t und h-[-t".
„Zusammenfassung der beobachteten K. T. und Bemerkungen zur
Theorie. Es gibt nur h— t, h-f-t; 2t -h, 2h— t; 3t— 2h, 3h— 2t;
wahrscheinlich 4t — 3h, 4h — 3t. Die Theorie von Krueger und Helm-
holtz entspricht nicht dem Befunde".
IV.
Aber auch die Ton Verschmelzungstheorie von Stumpf
hat viele Gegner gefunden. Eine Abhandlung „Neueres über Ton-
verschmelzung" ^) richtet sich gegen die von den Ergebnissen des
Vf.s abweichenden Behauptungen Paists, Külpes, Meinong-
Witaseks.
In dem Hauptpunkte der Verschmelzungslehre besteht gar keine
Meinungsverschiedenheit ; dieser ist die Abstufung der Verschmelzung
für Oktave, Quinte, Terz: dass der Grad der Verschmelzung von
den Schwhigungsverhältnissen abhänge, hatte Stumpf nur als approxi-
mativen Leitfaden angesehen. Er bestreitet die Einwände F'.s,
>) Zeilschrift f, Psychol. u. Physiol. 1898 15. Bd. S. 280.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 435
M.s, W.s gegen die von ihm behauptete Unabhängigkeit der Ver-
schmelzung von der Intensität der Teiltöne, Die Unterscheidbarkeit
der letzteren darf nicht mit der geringeren Innigkeit der Ver-
schmelzung verwechselt werden. Uebrigens wird doch auch die
Oktave als solche d. h. der Verschmelzungsgrad erkannt, wenn auch
der eine Ton minimale Stärke hat. Wird denn die Konsonanz durch
Verminderung der Stärke des einen Tones zur Dissonanz? Durchaus
unhaltbar erscheint dem Vf, die Aufstellung Külpes, dass durch
Hinzufügung von Tönen die Verschmelzung abnehme. Auch die Be-
hauptung von F., M., W., dass die über die Oktav hinausgehenden
Intervalle geringere Verschmelzungsgrade besässen, bestreitet er ent-
schieden. „Woran erkennen wir überhaupt* die Doppeloktave, wenn
nicht daran, dass die beiden Töne die gleiche Verschmelzung und
nur grössere Distanz haben wie bei der Oktave?"
In bezug auf die letztere Frage hat Goebel („Ueber die Ur-
sache der Einklangsempfindung bei Einwirkung von Tönen, die im
Oktavenverhältnis zu einander stehen")^), eine interessante Entdeckung
gemacht, die die Helmholtzsche Resonnanztheorie zu bestätigen scheint.
„Lasse ich die ganz leise klingende nur in Höhe von c^ wahr-
genommene c^-Gabel schwach vor einem Ohr erklingen, vor dem andern
eine c^- oder c^-Gabel ebenfalls leise angeschlagen, so vermag ich eine
,Einheitsempfindung' nicht festzustellen, damit meine ich das
beim Zusammenklingen von Oktaven erzeugte Gefühl des , Einklangs'.
Lasse ich die c^-Gabel schwach vor einem Ohr, die c^-Gabel stärker
vor dem andern Ohr erklingen, so ist das Einheitsgefühl die
Empfindung des Tongleichen sofort stark da. Die Empfindung c^
wird dann durch beide Töne erzeugt, nur an verschiedenen Stellen
der Schnecke, sie bildet zwischen den beiden Tönen das seelische
Bindegli&d. Dies Moment bedingt die Einheitsempfmdung." Der
doppelte Ton lässt sich durch Resonatoren sehr deutlich nachweisen.
„Obwohl die höhere Oktave bei der geschilderten Anordnung in dem
ihr entsprechenden Kugelresonator nicht nachweisbar war, obwohl
der starke Eigenton des dem Gabelton entsprechenden Resonators
jedenfalls die schwachen etwa vorhandenen Schwingungen der höheren
Oktaven vöUig übertönte, so hörte ich in dem dem Gabeltone ent-
sprechenden Resonatortone doch mit vollster Deutlichkeit zwei Ton-
komponenten, eine höhere und eine tiefere Oktave."
Wie ist es aber möghch, dass durch eine bestimmte Schwingungs-
zahl zwei Tonempfindungen ausgelöst werden?
,,Töne von einer bestimmten Schwingungszahl können nur auf
eine bestimmte Gegend der Schnecke nervenerregend wirken, voraus-
gesetzt, dass die Empfindung verschiedener Tonhöhen an bestimmte
Teile der Schnecke geknüpft ist, eine Auffassung, der ich huldige.
Werden, trotzdem nur eine bestimmte Schwingungsart vorhanden
ist, zwei benachbarte Oktaven gehört, so müssen die Hörzellen,
*) Zeilschr. f. Sinnespbys. von Ewald, 1909, 45. Bd. S. 109.
436 C. Gutberiet.
jeden Schneckengangdurchschnilts verschiedene Wertigkeit haben,
derart, dass etwa je zwei der Hürzelleri der höheren Ernpiindungs-
üktaven je zwei der tieferen entsprechen ... Bei den Vögeln und
Reptilien aber ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass
die Zellen eines Schneckenquerdurchschnittes verschiedenen Ton-
werten entsprechen".
,,Fülgendermassen erkläre ich mir die Erscheinung : Bei schwachen
Tönen stossen die äusseren Teile von Deckhaut und Papillen zu-
sammen ; die am weitesten nach aussen liegenden Hörzellen werden
gereizt : die höhere Oktave gelangt zur Wahrnehmung. Bei stärkeren
Tönen werden auch die einwärts liegenden Hörzellen erregt: Die
tiefere Oktave tritt in steigendem Masse ins Gehör."
„Was bisher nicht scharf aufgefasstw'urde, ist die Wesensänderung
des empfundenen Tones, die mit der Verstärkung des Tones eintritt
. . . Man fasste die Empfindungsänderung bei der Tonverstärkung als
Empfindung der Tonverstärkung auf, beachtete dabei zu wenig das
Moment der Vertiefung". „Verstärkung der Tonempfindung ist mit
einer Verliefung der Empfindung im Oktavenverhältnis verbunden,
abgesehen von sehr tiefen und (vielleicht) sehr hohen Tönen."
Versuche A. Faists^) über die Grade der Tonverschmelzung
entsprechen nicht der Verschmelzungstheorie St.s.
Vf. nimmt das Wort „Verschmelzung" nicht im Sinne Her-
barts, auch nicht im Sinne Wundts, sondern im Sinne
C. Stumpfs als „dasjenige Verhältnis zw^eier Empfindungsinhalte,
wonach sie eine engere Einheit bilden, als diese zwischen den
Gliedern einer blossen Summe stattfindet." Indes bedürfen die von
Stumpf aufgestellten Tonverschmelzungsgesetze, zumal über den Grad
der Verschmelzung, einer Revision. Der Grad der Verschmelzung
kann entweder indirekt durch die Schwierigkeit der Analyse z. B.
eines Klanges, oder durch direkte Beobachtung ermittelt werden.
Ersteres Verfahren ist nicht ganz zulässig, da die Auflösbarkeit eines
Akkordes auch von anderen Momenten als der Innigkeit der Ver-
schmelzung der Einzeltöne abhängen kann.
Durch Anwendung beider Methoden fand der Vf. die Ver-
schmelzungsgrade der Tonintervalle wie folgt: Oktav, Ouint,
Quart, Triton (f-h, c-fis), grosse Sext, grosse Terz,
kleine Sext, kleine Terz, kleine Sept, grosse Sekund.
Darnach ist das Stumpfsche Hauptgesetz, das die Verschmelzungs-
slufe von der Einfachheit der Schwingungsverhältnisse der Intervalle
abhängig macht, nicht allgemein; denn w^enigstens der Triton hat
ein komplizierteres Verhältnis (*-^ 32 U\r f-h, ^^\s für c-fis) als Sexten
und Terzen und selbst als Septimen und Sekunden.
Das 2. Gesetz St.s: „Der Verschmelzungsgrad ist unabhängig
von der Tonregion", d. h. in allen Oktaven gleich, fand Vf. ziemlich
*) Versuche über Tonverschmelzung. Zeitschr. f. Psvch. und Physiol.
d. S. 15. Bd. S. 102.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 437
bestätigt, bloss nahm die Verschmelzbarkeit nach oben und nach
unten ein wenig zu.
3. „Der Verschmelzungsgrad ist unabhängig von der Stärke
der Komponenten, sowohl der absoluten wie der relativen." Dagegen
fand Vf., dass bei geringerer absoluter Intensität die Verschmelzung
sich leichter, bezw. wenigstens die Analyse sich schwieriger voll-
zieht. Wenn der niedere Ton stärker ist, wird die Verschmelzung
stärker, schlechter, wenn der höhere stärker ist.
4. Gegen 0. Külpe verteidigt Vf. den Stumpfschen Satz:
„Durch Hinzufügung eines beliebigen dritten und vierten Tones wird
der Verschmelzungsgrad zweier gegebenen Töne in keiner Weise
beeinflusst."
5. „Durch das Hinzutreten der Obertöne wird die Ver-
schmelzung der höheren Verschmelzungsstufen vergrösseit, die der
niederen aber herabgesetzt." Gilt auch als Analysengesetz.
6. „Sehr kleine Abweichungen der Schwingungszahlen von den
natürlichen, einfachen Verhältnissen der einzelnen Intervalle erzeugen
keine merkliche Aenderung des Verschmelzungsgrades".
7. „Die Verschmelzungsgrade bleiben auch in der Phantasie-
vorstellung erhalten." Vf. hört sogar die Schwebungen in der Phan-
tasie, welche St. sich nicht vorstellen kann.
8. Gegen Stumpf, der auch bei über die Oktav hinausgehenden
Intervallen dieselben Verschmelzungsstufen aufstellt, findet der Vf. :
„Die über eine Oktave hinausreichenden Intervalle haben durch-
gehends einen geringeren Verschmelzungsgrad als die entsprechenden
innerhalb einer Oktav ; und die Verschmelzung nimmt bei Hinzufügung
weiterer Oktaven fortgesetzt ab."
Dagegen stimmt Stumpf G. Kästner^) bei in der Behauptung:
Konsonanz und Dissonanz fällt nicht zusammen mit AnnehmUch-
keit und Unlust; erstere werden wahrgenommen, und die Wahr-
nehmung erzeugt erst die Gefühle. Oktav, Quint, Terz, haben in
zeitlicher Folge inbezug auf Annehmlichkeit einander abgelöst: der
Gang des Konsonanzgrades ist der umgekehrte. In der Untersuchung
von K. soll bloss vom Gefühlseindrucke die Rede sein, von „un-
analysierten" Zweiklängen, d. h. solchen, bei denen sich die Auf-
merksamkeit auf den Gesamteindruck, nicht auf die Bestandteile des
Klanges richtet.
„Das Annehmhchkeitsmaximum zeigt sich bei der grossen Terz.
Die Annehmlichkeit nimmt von der Oktave bis zur grossen Terz,
abgesehen von einer Ausnahme, der Quarte, zu, während die Klang-
verwandtschaft abnimmt. Die Annehmhchkeit der Quarte ist kleiner
als die der Quinte, grösser als die der Oktave. Von der grossen
Terz bis zur kleinen Sekunde nehmen beide mit Ausnahme des
Tritonus gleichmässig ab. Der Tritonus kommt in der Ordnung
0 Untersuchungen über den Gefühlseindruck unanalysierter Zweiklänge.
Psych. Stud. v. Wundt 1908. IV. S. 473.
Philoiophisches Jahrbuch 1913. 28
438 C. üutberlet. f
nach Klangvervvandtschaft zwischen kleiner Terz und kleiner Sext,
in der Ordnung nach Annehmlichkeit zwischen kleiner Sexte und
kleiner Septime zu stehen.
Die Versuche gestatten einen zahlenmässigen Ausdruck für
die Annehmlichkeit der verschiedenen Zweiklänge. ,, Addiert man
für jedes Intervall die Annehmlichkeitsurteile und zieht aus den
20 Reihen das Mittel, so erhält man folgende Zahlen:
Oktave ^, Quinte \^, Quarte '-j|, gr. Sexte \^, gr. Terz ^', kl.
Terz ^ , Tritonus ^, kl. Sext j^, kl. Septime ^, gr. Sekunde -j^
gr. Septime ^, kl. Sekunde ^." „Die kleine Sekunde war im
Durchschnitt am einheitlichsten das unangenehmste Intervall", mehr
als das Intervall 256 : 284, resp. 320 : 355 Schwingungen, das von
Stumpf und Krueger als Unlustmaximum bezeichnet wird, aber von
manchen angenehmer gewertet wurde".
Der Gefühlston wird von verschiedenen Faktoren beeinträchtigt,
von der absoluten Tonhöhe, von Schwebungen, von Stimmung und
Individualität der Beobachter, von Uebung und Veranlagung. Wel-
chen derselben die Hauptrolle zufällt, lässt sich schwer bestimmen.
Genauer hat Stumpf seine Theorie präzisiert in dem Aufsatze
„Konsonanz und Konkordanz" ^).
Er hält an der Verschmelzungstheorie fest, Krueger hat durch
seine Modifikation der Helmholtzschen Theorie die Schwierigkeiten
derselben nicht beseitigen können. Die Verschmelzung besagt nicht
Einheit, sondern Einheitlichkeit, d. h. Annäherung an den Ein-
druck eines einzigen Tones. Die Verschmelzung hängt nicht von den
physikalischen, sondern von den physiologischen Tonhöhen ab. Wird
eine Tonoktave aus grösserer Entfernung gehört, so stimmt sie nicht
mehr mit ihrer Oktave. Darum kann ein und dasselbe Tonpaar
nicht in verschiedenen Graden verschmelzen.
Konsonanz und Dissonanz sind nur graduell verschieden, nur
in unserem modernen, sehr entwickelten Musiksysteme sind sie
spezifisch verschieden. Unsere Musik beruht auf dem Dreiklang in
Dur und Moll. Welches ist aber das Strukturprinzip'? Die Obertöne?
Allerdings hat Dur die einfachen Verhältnisse 4:5:6, Moll 10 :
12 : 15, aber es gibt noch kleinere Verhältnisse: 6 : 9 : 11. Das
zugrunde liegende Prinzip lautet: „Es werde die grösste Anzahl von
Tönen innerhalb der Oktave angegeben, die sämtlich unter sich kon-
sonieren, und zwar indem wir in der Tonbewegung von unten nach
oben und unter den Konsonanzen von den stärkeren zu den
schwächeren Konsonanzgraden übergehen." Darnach erhält man von
c ausgehend zunächst g, dann es oder e. Also hat man c : e : g : c'
und c : es : g : c'". „Weder Untertöne noch Differenztöne noch
das reziproke Verhältnis der Wellenlängen zu den Schwingungs-
zahlen halten Stich, weil es keine Untertöne gibt, weil die Differenz-
') Zeilschr. f. Psycho!, v. Schumann. 1911. 58. Bd. S. 321.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 439
töne, von anderen abgesehen, Moll gegen Dur stark zurückstellen,
und weil die Unterscheidung von Wellenlänge und Schwingungszahl
als eine rein physikalische uns über psychologische Dinge keinen
Aufschluss geben kann. Auch die Rechenoperationen, wodurch man
seit Zarlino Moll als Umkehr des Dur (V4 : Va : Ve) hinstellt, können
psychologisch nichts erklären. Der Duahsmus in, diesem Sinne,
als Theorie der symmetrischen Umkehrung aller Intervalle in un-
serem Tonbewusstsein, bleibt eine Fiktion."
„Aus der Durchführung des Konsonanzphänomens sind auch die
modernen Leitern erwachsen. Und es ist das Verfahren hierbei ein be-
sonders rationelles. Es besteht bekanntlich darin, dass auf den beiden
mit dem Grundton am stärksten harmonierenden Tönen nach oben
hin, der Dominante und Subdominante, wieder Dreiklänge aufgebaut
werden, und zwar Dreiklänge von gleicher Art wie auf dem Grundton."
St. unterscheidet konkordante und diskordante Akkorde.
Als erstere ,, bezeichnen wir alle Dreiklänge im gewöhnlichen Sinne
des Wortes, also alle die Haupt- und Nebendreiklänge in Dur und
Moll nebst ihren Um- und Weitlagerungen. Eine conditio sine qua
non jedes Konkords ist, dass er eine Quinte oder deren Umkehrung,
eine Quarte, enthält, ferner eine Terz oder deren Umkehrung, eine
Sexte. Als diskordante oder Diskorde bezeichnen wir alle ül3rigen
Akkorde, also solche, die aus Dreiklängen durch Hinzufügung ganz
bestimmter rationell gerechtfertigter Töne oder durch bestimmte
Alterationen der Dreiklangtöne selbst entstehen." „Die Konsonanz
zweier Töne wird durch den Hinzutritt eines dritten nicht verändert ;
wohl aber kann Konkordanz durch einen weiteren Ton in Diskor-
danz übergehen. Wenn wir zu c : g oder zu c : e : g noch a hin-
zufügen, so behält die Quinte und behalten die Terzen ihre Ver-
schmelzungsgrade unverändert bei. Dagegen geht die Konkordanz
des Dreiklangs, ebenso die der Quinte, sofern sie als Teil eines sol-
chen aufgefasst war, in Diskordanz über." „Konsonanz ist eine
Sache der sinnlichen direkten Wahrnehmung, Konkordanz ist eine
Sache der Auffassung und des beziehenden Denkens.". Konkordanz
und Diskordanz sind nicht bloss graduell, sondern spezifisch ver-
schieden. Das wohlgefällige Gefühl, das die Konsonanz erweckt, ist
nicht Konsonanz, sonst wäre die Terz konsonanter als die Oktave.
V.
Der Grundgedanke der Lipps sehen') Erklärung der Konso-
nanz ist der, dass die Verhältnisse der Schwingungszahlen der phy-
sischen Reize auch psychisch, freilich in der unbewussten Sphäre,
existieren. Aber gerade diese „unbewussten" Empfindungsvorgänge
stossen auf die grösste Schwierigkeit. Darum gibt er sich grosse
Mühe, die darüber bestehenden Miss Verständnisse aufzuklären. Wenn
man den Namen „unbewusst" bei Seite lässt, ist seine „Theorie", so
meint er, so harmlos als nur möglich. Er führt aus:
') Psychologische Studien. 2. Aufl. Leipzig 1905.
28*
440 C. Gutberiet.
„Niemand bezweifelt, dass mein Bewusslsein dor Höhe eines Tones den
Schwingungsanzahlen sein Dasein verdankl. Nun, in völlig analoger Weise ver-
dankt meiner Anschauung zufolge das Bewusslsein der Konsonanz den Ver-
hältnissen der Schwingungsanzahlen sein Dasein. Gewiss ist Konsonanz etwas
ganz anderes als Verhältnis der Schwingungsanzahlen . . . Aber genau ebenso
ist das, was ich Tonhöhe nenne, etwas völlig anderes, als eine bestimmte
Schwingungsanzahl".
•
Dem Konsonanz- wie dem Tonhöhenbewus-stsein geht eine Kette
von unbewussten Vorgängen voraus, angefangen von den einfachen
Schwingungsverhältnissen bis zu dem Momente, der unmittelbar dem
Bewusstsein vorausgeht.
„Dieses Glied oder Element nun wollen wir den ,unbewussten Vorgang des
Empfindens' nennen. . ., weil daraus unmittelbar ein Bewusstseinsinhalt
sich ergibt, den jedermann als einen Empfindungsinlialt zu bezeichnen pflegt".
Nun aber müssen „die Teilvorgänge, die ich als die EmpOndungsvorgänge
bezeichnet habe, beide derjenigen Region angehören oder in die Region hinein-
ragen, in welcher die von den verschiedenen Punkten und Gebieten der Körper-
peripherie herkommenden auf das Dasein von Empfindungsinhalten abzielenden
Vorgänge zusammentrefTen , und Elemente eines einheitlichen Zusammen-
hanges werden. Diesen Ort' nun oder diese Region nenne ich die Seele, ohne
es deswegen dem Physiologen zu verargen, wenn er sie lieber Gehirn- und
Grossgehirnrinde nennt . . . Nennen wir aber einmal jene Region , Seele', dann
müsssen wir natürlich auch die unbewussten Empfindungsvorgänge, von welchen
bisher die Rede war, unbewusste seelische Vorgänge nennen. Ich verstehe
also unter den ,unbewussten seelischen Vorgängen', die den Tonempfindangs-
inhalten zugrunde liegen, die Endstadien des diesen Empfindungsinhalten zweifel-
los zugrunde liegenden, mit den physikalischen Reizen beginnenden, unbe-
wussten Prozesses. Ich nenne sie aber so von dem Funkte an, wo sie
nicht mehr isolierte Prozesse sind, sondern mit einander und mit gleich-
artigen seelischen Vorgängen in durchgängige Wechselbeziehung treten".
Wir glauben, dass Lipps den Physiologen oder eigentlich den
Gehirnpsychologen zu viel zugesteht, wenn sie als jene gemeinsame
Kegion, in welcher die verschiedenen peripheren Eindrücke sich be-
gegnen, das Gehirn bezeichnen. In dem Bewusstsein der Konsonanz
wird nicht nur das Zusammenstimmen zweier Töne, sondern diese
Töne selbst werden mehr oder w^eniger deutlich wahrgenommen.
Darum müssen auch in dem diesem Bewusstsein zugrunde liegenden
Vorgange die beiden Töne gleichzeitig gegeben sein. Das Gehirn
kann zwei Töne nur durch zwei unterschiedene Partien gleichzeitig
in sich darstellen. Sind sie aber an zwei unterschiedene Massen-
teilchen gebunden, dann kann kein einheitliches Bewusstsein ihres
Zusammenklanges entstehen. Höchstens könnten sie ihre Erregung
in ein gemeinsames drittes Feld überleiten; dann haben wir aber
nicht mehr zwei, sondern nur einen resultierenden Ton.
Sehr energisch bekämpft Lipps die Helmholtzsche. lange Zeit
als klassisch gegoltene Erklärung der Konsonanz und Dissonanz.
Dieselbe findet bekanntlich die Konsonanz in der Freiheit von
Schwebungen, die sich bei den dissonanten Zusammenklängen
einstellen. Es beruht* darnach die Disharmonie auf hiterferenz-
erscheinungen, welche bei dissonanten Tönen eine Diskontinuierlich-
keit, damit eine unangenehme Rauhigkeit erzeugen. Dagegen
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 441
bemerkt Lipps mit Wundt, dass es dissonante Intervalle gibt, welche
keine Rauhigkeit zeigen. Rauhigkeit und Dissonanz sind überhaupt
ganz verschiedene Begriffe, ganz verschiedene Bewusstseinserlebnisse.
Die Dissonanz ist keine Beschaffenheit der Töne, sondern ein Ver-
hältnis, die Beziehung des Nichtzusammenpassens, der
Gegensätzlichkeit, der Entzweiung nämlich zwischen zwei Tönen.
Vielleicht sagt man, das Dissonanzbewusstsein beruhe auf
Rauhigkeitsbewusstsein. Davon wissen wir aber nichts; es müsste
also ein unbewusster Vorgang angenommen werden, was zur Theorie
des Vf.s führt.
Man kann sich auch dissonante Zusammenklänge vorstellen:
wo bleiben da die Schwebungen? Den Dreiklang kann man auch
sukzessiv anschlagen, ebenso einen dissonanten Dreiklang. Auch
da zeigt sich Konsonanz und Dissonanz. Hier sind aber doch
Schwebungen unmöglich. Es gibt ja diskontinuierliche Konsonanzen.
„Keine Rede davon, da.ss jemals konsonante Töne durch HinzuTügung der
Diskontinuität in dissonante sich verwandelten. Mancher hat eine rauhe
Stimme, und doch sind die von ihm gesungenen Intervalle konsonant, wenn
auch etwas getrübt".
„Helmholtz hat aber selbst gelegentlich einen andern Grund der Dissonanz
angegeben. Der Molldreiklang in der Lage g — Ci — esi ist weniger konsonant
als c—es~g, weil in ihm die Kombinationstöne Asi und B vorkommen, welche
zwar weder unter sich noch mit einem der einzelnen Töne des Dreiklangs
störende Schwebungen bilden, aber nicht in den CmoU-Akkord hinein-
gehören. Doch wie erklärt sich die Konsonanz? Dieselbe scheint Helmholtz
keiner Erklärung bedürftig. Die Freiheit von Schwebungen ist doch etwas rein
Negatives; Konsonanz Siber ebenso wie Dissonanz etwas Positives. Es fragt
sich aber: Wie kann das Zusammentreffen zweier Elemente, die einzeln
für ein bestimmt geartetes Bewusstseinserlebnis ganz und gar keinen Grund
in sich tragen, Grund sein für dies Bewusstseinserlebnis? Und wie verhält
es sich nun mit der Konsonanz und Dissonanz auf anderen Gebieten? ... In
beliebiger Richtung nebeneinander herlaufende, gerade, scharf gezogene Linien
machen keinen konsonanten, sondern einen der Dissonanz entsprechenden Ein-
druck, obgleich hier für die Entstehung einer störenden Nebenempfindung, die
mit den Tonschwebungen verglichen werden könnte, keine Gelegenheit ist . . .
Die Seele verlangt, dass die verschiedenen gleichzeitig wahrnehmbaren Linien
in ihrer Grösse und Richtung einem gemeinsamen Gesetze gehorchen".
Und wie ist es nun nach Helmholtz mit der Konsonanz und
Dissonanz aufeinanderfolgender Töne? Hier können keine
Schwebungen entstehen. Helmholtz findet es nicht für nötig, hier
die Dissonanz zu erklären, sondern umgekehrt die Konsonanz. Diese
ergibt sich aus der Klangverwandtschaft, die in der Identität von Ober-
tönen der aufeinander folgenden Klänge besteht. Aber es folgen sich
auch einfache Töne und zeigen die gleiche Konsonanz. Nach Lipps
ergibt sich die Konsonanz und Dissonanz hier dadurch, dass der
vorhergehende Ton noch in der Seele hafte, freilich nicht so lebhaft
wie beim Zusammenklang. Darum ist die Konsonanz und Dissonanz
aufeinanderfolgender Töne nicht so lebhaft; sie nähert sich um so
mehr der Konsonanz gleichzeitiger Zusammenklänge, je schneller die
Aufeinanderfolge verläuft.
442 C. Gutberiet.
Die Theorie der Konsonanz von F. Krueger verwirft Lipps
vollständig. Der durch die DifTerenztöne erzeugte Einklang bei
der Konsonanz und verstimmte Einklang bei der Dissonanz sind
Begleiterscheinungen, machen aber die Konsonanz und Disso-
nanz nicht aus. Etwa so wie wenn zwei zusammenpassende Farben auf
reinem oder schmutzigem Grunde gesehen werden. Der Schmutz des
Grundes hebt die Zusammenstimmung der Farben nicht auf. Man
kann ja auch neben einem konsonanten Intervalle noch jenen ver-
stimmten Einklang künstlich erzeugen : die Konsonanz wird dadurch
nicht aufgehoben.
Den Grundfehler der Theorie findet Lipps in der falschen Auf-
fassung der Gestaltqualitäten. Wir müssen uns bewusst bleiben,
„dass die Komplexqualitäl der Zusammenklänge und der Tonfolgen, sowie alle
Komplexqualitäten auf Beziehungen beruhen. Und dann können wir natür-
lich die Komplexqualität, Konsonanz oder Dissonanz genannt, nicht auf irgend
etwas reduzieren oder irgendwie , erklären', ohne zunächst die Beziehung
ins Auge gefasst und die Frage gestellt zu haben, wie denn diese B ez i ehung
der Konsonanz und Dissonanz, oder genauer wie das Bewusstseinserlebnis dieser
Beziehung, wie mit einem Worte das Bewusstseinserlebnis der eigenartigen
Zusammengehörigkeit oder NichtZusammengehörigkeit, Verwandtschaft oder
Fremdheit zwischen zwei Tönen uns verständlich werden kr.nne".
Nun aber hat es „ebensowenig Sinn, diese Beziehung zurück-
führen zu wollen auf ein drittes gegenständliches Element, das irgend-
wie zu den in Beziehung stehenden Elementen hinzutritt, als es Sinn
hätte, zu sagen, die Harmonie zweier Farben bestehe im Hinzutreten
einer dritten Farbe".
Uebrigens fehlen bei sehr tiefen Tönen die Differenztöne. Wie
soll hier die Konsonanz und Dissonanz erklärt werden?
An Stumpf richtet Lipps auch jetzt wieder die Frage: Was
ist die Verschmelzung, welche die Konsonanz ausmachen soll?
Nun, Einheit zweier Töne. Aber das Wort Einheit hat so mannig-
fache Bedeutung, dass man es ohne nähere Erklärung in keinem Falle
gebrauchen sollte. Im Grunde muss Stumpf eine numerische
Einheit oder Annäherung an dieselbe verstehen. Aber die Unmusi-
kalischen nehmen oft einen Ton wahr, "wo die Musikalischen die
zwei hören. Also wäre die Konsonanz für beide verschieden?
„Stumpf gibt an einer Stelle zu verstehen, was den Sinn der , Ver-
schmelzung' ausmache, könne man schliesslich mit Worten nicht eigentlich
verständlich machen. Wie die Verschmelzung sich ausnehme, müsse man eben
hören. In der Tat wird dies das letzte Mittel sein. Aber dies Mittel ent-
scheidet zugleich am sichersten gegen die Identifizierung von aktueller Ver-
schmelzung und Konsonanz. Ich höre zwei Töne gleichzeitig und finde in
meiner Gesamtempfindung eine Weise derselben, sich zu verhalten, vor, die ich
mit Fug und Recht als Verschmelzung bezeichnen kann. Ich höre dann die
gleichen Töne, nur dass der eine schwächer geworden ist, und finde eine andere
Weise derselben, sich zu einander zu verhalten, vor, nämlich ein stärkeres
Ineinanderfiiessen. Ich höre zum dritten Male die gleichen Töne, verwende
aber auf ihre Auffassung geringere Aufmerksamkeil, und finde, wenn ich mich
des Erlebten erinnere, wiederum diese zweite AVeise der Töne sich zu ein-
ander zu verhalten. Ich höre endlich die Töne nacheinander, und finde in
meinem Gesamtemplinden von jenem Verhalten der Töne zu einander, wie ich
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 443
es beobachtete, als die Töne gleichzeitig gegeben waren, schlechterdings gar
nichts mehr . . . Die Konsonanz der Töne aber ist in allen diesen Fällen
dieselbe".
Nach Stumpf ist die Wohlgefälligkeit kein wesentliches
Merkmal der Konsonanz. Aber
„wenn wir in der Dämmerung Farben nicht unterscheiden können, wenn beim
Uebergang von einer Farbe zur andern die , Vorstellung' der einen mit der Wahr-
nehmung der andern ,verschmilzt*, wenn bei schlechter Beleuchtung die Glie-
derung eines Gebäudes undeutlich wird, oder die Gegenstände unserer Um-
gebung zusammen oder ineinander ,fliessen', ist dies Konsonanz? Nein. Und
warum nicht? Weil uns hier nicht so zumute ist, wie uns bei der musika-
lischen Konsonanz zumute zu sein pflegt".
Aber Stumpf bemerkt,
„dass die isolierten Inl ervalle ihren Gefühlswert seit dem Altertum wesent-
lich verändert haben. Bei den Alten finden wir die Oktave als angenehmste und
schönste Konsonanz bezeichnet. Im Mittelalter wurde eine Zeitlang die Quinte
als schönster Zusammenklang gepriesen. Gegenwärtig werden wir geneigt sein,
die Terz als das süsseste, wohllautendste Intervall zu bezeichnen".
Das beweist nur, dass die Disposition des Geniessenden wesent-
lich mit zu dem Wohlgefallen beiträgt. Je einfacher der Empfindende,
desto einfachere, klarere Verhältnisse gefallen ihm.
Gegen die Wundtsche Theorie hat Lipps im allgemeinen ein-
zuwenden, dass die verschiedenen von ihm geltend gemachten pho-
nischen und metrischen Faktoren allerdings zur Konsonanz
beitragen, sie modifizieren können, im Grunde sie aber schon voraus-
setzen, das aller Konsonanz Gemeinsame nicht erklären. Dazu gehört
die Einfachheit; bei der Konsonanz fallen Kombinationstöne zu-
sammen, bei der Dissonanz nicht. Aber nicht die Mannigfaltigkeit,
sondern die der Klarheit widersprechende Mannigfaltigkeit macht die
Dissonanz. Aehnhches gilt von den Schwebungen und verstimmten
Einklängen.
Das metrische Element der Konsonanz liegt nach Wundt darin,
dass z. B mit Rücksicht auf die Schwingungszahlen
„die Tonstrecke zwischen C und c durch den Ton G in zwei gleiche Teile
geteilt wird, und ebenso die grosse Terz in der Mitte liegt zwischen dem Grund-
ton und der Quint. Aber das Prinzip der gleichen Teilung konsonanter
Intervalle gilt nur, soweit dabei die Schwingungsverhältnisse genügend
einfache bleiben, oder was dasselbe sagt, soweit die Teilung konsonante
Intervalle gibt".
Das meiste Gewicht legt Wundt auf die Klangverwandt-
schaft, die direkte und indirekte. Erstere besteht darin, dass zwei
konsonante Klänge viele Obertöne gemein haben. Aber das Ergebnis
des Zusammenklingens könnte nur sein, dass die gemeinsamen Töne
sich verstärken. Wenn der gemeinsame Ton nicht das ganze Wesen
der beiden Klänge bestimmt, kann er sie nicht verwandt machen.
Aber selbst dann haben wir keine Konsonanz. „Irgend ein Ge-
schmack, z. B. ein süsser Geschmack oder ein Vanillegeschmack,
sei verschiedenen Geschmäcken beigemischt. Dieser Geschmack steht
nicht neben dem Geschmack, den die Speisen im übrigen haben,
sondern er durchdringt sie. Dann wird doch dadurch nicht eine
444 C. Gutberiet.
innrre Verwandtschaft der Geschmäcke hergestellt, es sei denn, dass
der gemeinsame und die verschiedenen Geschmäcke durchdringende
Beigeschmack /u den Grundgeschmäcken passl. Im übrigen aher :
Worauf beruht es denn, dass die Teiltöne der Klänge so innig sich
durchdringen, oder zu der Einheit des Klanges verschmelzen? Die
Antwort lautet: Auf ihrer Konsonanz", Dabei wird aber wieder
vorausgesetzt, was zu erklären ist.
Wo die direkte Klangverwandtschaft versagt, nimmt Wundt
die indirekte zu Hilfe, die darin besteht, dass zwei Töne als Teil-
töne eines Klanges vorkommen ; c ist mit g verwandt, weil c erster,
g zweiter Oberton von C ist. Aber nehmen wir einmal an,
„ich habe zwei Objekte, die sich innerlich fremd gegenüberstehen, d. h. keinen
gemeinsamen Grundzug aufweisen, immer mit demselben Objekte erfahrungs-
mässig zu einem Ganzen sich zusaramenschliessen müssen. Dann entsteht daraus
zweifellos ein immer deutlicherer Eindruck der Zusammengehörigkeit, nicht
der inneren Zusammengehörigkeit oder der Verwandtschaft , des Zusammen-
stimmens usw.: Dieselben müssen zu einander passen".
Durch die öftere Erfahrung kann die Eindringlichkeit des Zu-
sammenpassens gefördert, nicht hergestellt werden.
Gegen alle dargelegten Theorien führt Lipps zwei entscheidende
Tatsachen an. Erstens erklären sie nicht, warum die Konsonanz
in ihrer Vollkommenheit nicht mit dem Wohlgefallen parallel geht,
warum z. B. die Terz wohlkUngender ist als die Oktav. Dagegen
„überall da, wo mehrere durch einen gleichen Grundzug, eine identische
Grundform , einen gemeinsamen Grundrhythmus , ein einziges Grundgesetz
innerlich an einander gebunden sind, wird das Ganze erfreulicher, wenn das
Gemeinsame unbeschadet seines deutlichen lleraustretens und seiner herrschenden
Stellung in eigenartiger, auseinandergehender, schliesslich gegensätzlicher Weise
sich ausgestaltet, wenn ein Gleichgewicht in der Unterordnung unter das Gewein-
same oder in der Einordnung in dasselbe stattfindet. Es liegt mit einem Worte
in der Natur desjenigen, was wir als innerlich einheitlich oder als verwandt
bezeichnen, dass es Gegenstand grösserer Befriedigung ist, wenn eine eigen-
artige und gegensätzliche Bildung des Verwandten der Verwandtschaft gegen-
überlritt".
„Die zweite Tatsache, welche gegen alle jene Theorien spricht, ist die
Unfähigkeit, die Konsonanz der Tonfolge befriedigend zu erklären".
Nach Lipps erklärt sich auch die Tonfolge, die Melodie, auf
grund der physikalischen Schvvingungsverhältnisse, welche in die
entsprechenden rhythmischen seelischen Schwingungen sich umsetzen.
Der Grundgedanke ist, dass der zweiteilige Rhythmus der natür-
lichste ist, und darum die Seele aus ihm herausgedrängt durch
einen drei-, fünf-, siebenteiligen Rhythmus zu ihm als ihrer Ruhelage
zurückstrebt :
„Treffen Töne zusammen, die sich zu einander verhalten wie 2n : 3, 5, 7 usw.,
so besieht eine natürliche Tendenz der letzteren zu den ersteren hin ; es besteht
eine Tendenz der inneren Bewegung, in den ersteren zur Ruhe zu kommen.
Jene ,suchen' diese als natürliche Basis, als ihren natürlichen Schwerpunkt, als
ihr natürliches Gravitationszentrum. Dies ist naturgemäss um so mehr der
Fall, je kleiner das n ist; n ist aber am kleinsten, wenn es gleich o ist. Und
2" ist gleich 1 ; d. h. die vollkommenste Ruhelage und das letzte Gravitations-
zentrum solcher Töne bleibt immer der absolute Grundrhythmus''.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 445
Diese Erklärung der Melodie erscheint uns durchaus unbe-
friedigend. Zuerst muss bemerkt werden, dass die Auffassung der-
selben als eines Strebens nach Ruhe durchaus einseitig ist. Aller-
dings verlangt das Ohr nach dem Grundton zurückzukehren, besonders
am Schlüsse; aber ebenso stark und noch stärker ist die Tendenz,
aus der Ruhelage des Grundtons hinauszugehen. Man kann zum
mindesten zweifelhaft sein, welche Teile der Melodie, die aus der
Ruhe hinausgehenden oder die zurückkehrenden, dem Ohre mehr
Wohlgefallen bereiten Dieses Wohlgefallen ist übrigens durchaus
keine blosse seelische Refriedigung, die wir in der Ruhe nach Un-
ruhe empfinden, sondern eine positive Lust an der Folge von Tönen.
Die Melodie bietet auch rein seelisches Wohlgefallen, sie ist so aus-
drucksvoll, so innig, so gefühlserregend durch das Tempo, durch
Wiederholung von Tönen, durch Anhalten derselben usw., dass mathe-
matische Verhältnisse der Tonfolge dies nicht zu erklären vermögen.
Aber selbst die Beruhigung, die in der Rückkehr zum Grundton
als Gleichgewichtslage liegen soll, ist nicht zuzugestehen. Die Zwei-
teilung, der Zweivierteltakt hat vor der Dreiteilung, dem Dreiviertel-
takte nicht den entscheidenden Vorzug, den Lipps dafür in Anspruch
nimmt. Mit derselben Leichtigkeit, mit welcher man vom Dreiviertel-
takt zum Zweivierteltakt übergeht, geht man auch vom Zweiviertel-
takt zum Dreivierteltakt über. Oder besser gesagt: Der störende
Eindruck, den im Augenblick der Uebergang vom Zweivierteltakt
zum Dreivierteltakt macht, findet sich auch beim Rückgang des
Dreivierteltaktes zum Zweiviertelfakt. Man denke nur an die im
Zweivierteltakt angewandten Triolen. Was in der bewussten Sphäre
der Seele so klar uns vorliegt, kann auch nicht in der unbewussten
Sphäre sich anders verhalten.
Eingehend widerlegt Lipps die ganz neue Theorie der Melodie
von M. Meyer, Die Theorie von M. Meyer lautet: „Wenn 2 Töne
sich verhalten wie 2" : 3, 5, 7, 19, 15, wobei 2" jede Potenz von
2 einschliesslich 2*^ = 1 bezeichnet, so ist mit dem Fortgang vom
ersten zum zweiten dieser beiden Töne eine Tendenz zur Rückkehr
zum ersten verbunden"; darum ist das Ohr nur befriedigt, wenn
dieser erste Ton als Tonika am Schlüsse der Melodie wiederkehrt.
Die Tonika, d. h. der befriedigende Schlusston der Melodie, müsste
nach diesem Musiktheoretiker die Quarte sein. Die Melodien, welche
auf der diatonischen Tonleiter aufgebaut sind, schliessen aber nicht
so. Also beruhen sie nicht auf der diatonischen Tonleiter. Diese
muss darum umgebildet werden.
An die Stelle der Quart muss die natürliche Septime der Quint,
an die Stelle der Sext die Sekunde der Quint (8 : 9) gesetzt werden.
C:F muss nicht 3 : 4, sondern 16 : 21 , C : A nicht 3:5, sondern
16:27 werden. Damit bekommt nun C die Bedeutung der Tonika.
Dagegen Lipps:
„Aufgrund dieser Vorstellung von der .alten Theorie' findet Meyer überall
in Melodien Töne, oder er lindet ganze Melodien, mit denen seiner Ueberzeugung
446 C. Gntberlet.
nach die alte Theorie gar nichts anzufangen weiss. Das sind Phantasien. In
jedem der Fälle, die Meyer anführt, ist die Deutung für die ,alte Theorie' voll-
kommen klar. Die alte Theorie hat ihre darauf bezüglichen und jedermann
bekannten Regeln".
VI. Die Melodie.
Wir sahen, wie Lipps die Melodie aus der Harmonie ableitet.
Von Fr. Weinmann ^) wird aufgrund der Lippsschen Auffassung
der Konsonanz als eines rhythmischen Verhältnisses die Melodie de-
tailliert erklärt.
„Die Melodie ist ein rhythmisches System. Es baut sich auf
einem Grundrhythmus als herrschenden Einheitspunkt auf, auf welchen
die anderen Rhythmen bezogen erscheinen. Dieser , Grundrhythmus'
ist in der Tonika, die ihm freundlich oder feindlich gegenüber-
tretenden Rhythmen sind in den übrigen Tönen der Melodie ge-
geben". ,,Der zweiteilige Rhythmus ist der ursprüngliche . . . Die
Zweigliederung, die Zusammenfassung von je zwei Elementen zu
einer Einheit, und weiter die potenzierte Zweigliederung, die Zu-
sammenfassung von zwei solchen Einheiten zu einer höheren Ein-
heit usf., ist also die natürlichste, die primäre. Ihr steht gegenüber
als sekundäre die Gliederung nach der Dreizahl und weiterhin die
Fünf-, Siebengliederung usw. Demnach ist der Uebergang zur Zwei-
gliederung die einfachere, die natürlichste rhythmische Leistung. Die
Gliederung nach der Zweizahl, kann man allgemein sagen, erzeugt den
Eindruck des Geschlossenen, der Ruhe oder des wieder zur Ruhe Ge-
kommenen, des Gleichgewichts; die Drei-, Fünf-, Siebenghederung
mutet ihr gegenüber eigentümlich fortstrebend, bewegt, unruhig an".
„Angewandt auf die Tonrhythmen würde dies lauten : Von zwei
Tönen, deren Schwingungszahlen im Verhältnis von 3, 5, 7, 9 etc. zu
2 oder zu einer Potenz von 2, also 2° stehen, repräsentiert letzterer
die Gleichgewichtslage. Es besteht demnach die Tendenz, zu ihm
zurückzukehren, die Bewegung strebt zu ihm hin, sucht in ihm wieder
zur Ruhe zu kommen. Der Ton 2" ist für die Töne 3, o, 7 usw.
der Ziel ton. In zweiter Linie besteht ein solches Hinzielen dann
auch bei rhythmischen ^'erhältnissen, deren eines Element im Gegen-
satz zum andern die Zweigliederung zwar nicht repräsentiert, aber
in sich schliesst, . . . wie es z. B. bei dem der kleinen Terz ent-
sprechenden Verhältnis 5 : 6 der Fall ist. Hier befasst das 6 die
Zwei- und Dreigliederung in sich. Der auf der einen Seite in 5 Ein-
heiten gegliederte Grundrhythmus kehrt auf der anderen Seite wieder
als in zwei Mal drei Einheiten oder in zwei Einheiten von je drei
Elementen gegliedert, als gleichzeitig nach dem Prinzip der Drei-
zahl und der Zwei zahl differenziert".
Die Mollmelodie unterscheidet sich dadurch von dem Dur, dass,
„während in Dur 3 Dominanten bestehen, c als Haupt-, g und / als
Nebentoniken, es in Moll durch das Hinzukommen von es und as
") Zur Struktur der Melodie. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinn, von
Ebbinghaus und Nagel, 1904, Bd. 34 S. 340, 401.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz. 447
ihrer fünf sind. Und da ferner die Dominanten es und as in weit
höherem Grade der Tonika c gleichwertig sind, als das in Dur bei
einer der beiden Dominanten der Fall, und der Antagonismus
zwischen / und c, aus dem erst das entschiedene Ueberragen des c
entspringt, hier geschwächt erscheint, so fehlt dem Mollsystem, der
Melodie in Moll, die straffe Geschlossenheit, die Eindeutigkeit des Dur".
Die „Angleichung" besteht in einer Verzichtleistung des Ge-
hörs auf physikalisch richtige Intonation, indem die geringe Unrein-
heit unbewusst unter der Schwelle bleibt. / z. B. ist einmal Quart
(c:/=3:4), es ist aber auch Septime (^:/=4:7); in der her-
kömmlichen Intonation wird dieser Unterschied vernachlässigt.
Darauf beruht die Zulässigkeit der „temperierten Stimmung".
Dieses System stellt eine höhere Entwicklung der Musikpsychologie
dar. ,,Die einzelnen Töne gewinnen in der temperierten Stimmung
eine Vieldeutigkeit, die harmonisch-modulatorisch und somit auch
melodisch die wertvollste Bereicherung ausmacht. Noch reichlichere
Ausgestaltung erhält die Melodie durch Herbeiziehung der chroma-
tischen Tonleiter". ,,Sie gewinnt die Fähigkeit der breiteren Aus-
gestaltung, der Umschreibung ihrer Linien in ornamentaler Weise".
Es ergibt sich, „dass die Melodie um so eindrucksvoller ist, je
mehr und je fremdere und gegensätzlichere Töne sie als Bestandteile
in sich aufnimmt. Dabei nähert sie sich aber zugleich immer mehr
einer Grenze, jenseits welcher das Gleichgewicht zwischen Einheit-
lichkeit und Gegensätzlichkeit, das ,Gleichge wicht in der Unter-
ordnung' verloren geht, die Unterordnung einem beziehungslosen
Nacheinander weicht. Das Maximum der psychischen Quantität stellt
sich ein bei einem Optimum an Einheitlichkeit und Differenzierung".
„Je mehr eine Melodie auch die der Tonika gegensätzlichen Töne
der diatonischen Leiter in ihr Bereich zieht, desto mehr Leben
scheint sie zu haben. Hemmung und Ueberwindung, Streit und Sieg,
bald heftigerer, bald leichterer Art, glauben wir in ihr ausgedrückt
zu finden, ,fühlen wir in sie ein'. Und der Zwiespalt wächst, das
innere Leben der Melodie wird reicher, umfassender, zugleich aber
nimmt auch die Geschlossenheit ab, die Unruhe und Unbestimmtheit
nimmt zu, je mehr chromatische Töne hineinkommen und eine Bolle
zu spielen anfangen". ,,Der verbindende Grund rhyt hm us soll
erkennbar alle sich ergebenden Beziehungen beherrschen und den
Widerstreit der Bhythmen logisch lösen".
Dies erklärt manche Momente der Melodie, aber, wie wir sahen,
nicht alle. M. Meyer bestreitet den Zusammenhang der Melodie mit
der Harmonie überhaupt, da es Melodien, wie in der Japanischen
Musik, gebe, wo die Harmonie fehlt.
Lipps selbst führt noch ein anderes Moment zur Begründung
des ästhetischen Genusses an der Melodie wie an jedem Kunstwerk
an: Die Einfühlung. Darüber handelt H. Siebeck ^).
') Ueber musikalische Einfühlung Zeilschr. f. Phil. u. philos. Kritik 1905,
127. Bd. S. 1 ff. Musik und Gemütsstiramung. 1913. 150. Bd. S. 57 ff.
448 C. Gutberiet.
Zur ästhetischen Auffassung eines Dinges oder .Vorganges gehört,
dass zwei Momente wenigstens annähernd im Gleichgewicht sind:
das Anmuten in der Richtung von Lust und Unlust und „die A u f-
fassung und Zusammenfassung der in ihm gegebenen Bestandteile
und Verhältnisse, wodurch uns das Wahrgenommene als ein bestimmt
charakterisierter Gegenstand erscheint; also ein gefühlsmässiges
und ein gegenständliches Moment". „Man hat dann immer
eine bestimmte Gestaltqualität in unmittelbarer Verbindung mit einer
bestimmten Gefühlsfärbung. Dadurch erst ist die Möglichkeit gegeben,
das Wahrgenommene als Analogon eines Beseelten, oder wie man
diesen Tatbestand sonst bezeichnen will, aufzufassen, mit einem jetzt
gebräuchlichen Worte: die Möglichkeit der Einfühlung. Die Ge-
samtwirkung jener beiden Momente gibt die Stimmung.
„Die Stimmung ist nicht die Folge der Einfühlung, sondern
ihre Bedingung, und die Einfühlung selbst beruht nicht eigentlich
darauf, dass wir uns in den Gegenstand, sondern darauf, dass wir
den Gegenstand sozusagen in uns hineinfühlen, d. h. dass wir mit
der Vorstellung seines Inhaltes das oben als Stimmung Bezeichnete
in uns erleben. Vermittelst der Stimmung wird der Gegenstand ein
Moment unseres eigenen Gefühlszustandes; er hört auf, dieses oder
jenes Ding für uns zu sein, und wird ein bestimmter Wert unseres
eigenen Gefühlslebens. Sofern er nun aber doch nicht umhin kann,
den Charakter des Aeusseren , eines Aussendinges zu behalten , er-
scheint dieses Aeussere als ein Durchseeltes und wird dadurch ein
Symbol des Persönlichen".
Auf die Musik angewandt bestimmt sich dieser Begriff der Ein-
fühlung so:
,,In eine Anzahl und Folge von teils gleichzeitig, teils nach-
einander gegebenen Tönen mit Melodie, Harmonie und Rhythmus
fühlen wir, wie wir sagen, mehr oder weniger bestimmte seelische
Inhalte hinein und erfahren so darin ein Stück, d. h. ein Abbild,
eigenen Gemütslebens, und zwar unbeeinflusst von den Zufälligkeiten
des wirklichen Lebens, daher in einer Art idealer Reinheit sich ab-
spielend und in der Abfolge der Zustände harmonisch eins aus dem
andern sich entwickelnd. So wird uns das Musikstück zu einem
idealisierten analogon personalitatis'-'- . ,. Dasjenige, was aufgrund des
Gleichgewichtes dieser beiden Momente (das gef'ühlsmässige und ob-
jektive) im Reiche der Töne vermittelst der dadurch bedingten
Stimmung zur Einfühlung gelangt, ist das Bild von Wesen, Eigen-
art und Wert unserer Gefühlswelt selbst".
Die Lippsche Einfühlung ist vielfach beanstandet worden, dass
sie aber in der Musik eine wichtige Rolle spielt, kann doch nicht
in Abrede gestellt w- erden ; wer nur etwas auf sich achtet beim An-
hören einer freudigen oder traurigen Musik, wird sie an sich be-
stätigt finden.
Neueste Theorien über die Konsonanz und Dissonanz?. 440
VIT. Dur und Moll.
Zahlreich sind die Versuche, den charakteristischen Unterschied
zwischen den beiden Tongeschlechtein, ihrer Harmonie und Materie
zu erklären; eine Uebersicht über die bisherigen Theorien gibt
H. Riemann im Musik-Lexikon. Die allerneueste Erklärung bietet
0. Külpe, und P. H. Fear glaubt dieselbe im psychologischen
histitut Külpes zu Würzburg experimentell bestätigt gefunden zu
haben ^).
Der Durakkord c e g besteht aus einer grossen Terz ce und
einer kleinen eg. Auch der Mollakkord c s g besteht aus einer
grossen und kleinen Terz sg und es, nur dass die grosse Terz
der kleinen nachfolgt, nicht vorausgeht, wie beim Durakkord. Er
ist also eine Umkehr des Durakkords. Die grosse Terz verschmilzt
aber stärker als die kleine. Der Durakkord zeigt nun eine bessere
Verschmelzung, ist harmonischer, konsonanter als der Mollakkord.
Dieser Unterschied der Verschmelzung, so schliesst Külpe, kommt
also von der Anordnung der Terzen, nämlich: Ein Akkord ver-
schmilzt stärker als seine Umkehrung, wenn das stärker Ver-
schmelzende der beiden Intervalle des Akkords tiefer liegt, als das
schwächer Verschmelzende.
Gegen diese Külpesche These und die Experimente von Fear
erhebt E. Waiblinger kräftige Bedenken^).
Von zwei Dreiklängen, die sich nur durch die Stellung ihrer
Intervalle unterscheiden, ist keineswegs immer der stärker ver-
schmelzende ein Durakkord, der schwächer verschmelzende ein Moll-
akkord. So der Akkord c s as und seine Umkehrung c f as. Die
beiden Dreiklänge bestehen je aus einer Quart, einem stark ver-
schmelzenden Intervall und aus der schwach verschmelzenden kleinen
Terz. Und doch ist der Akkord mit der tieferen Quart ein Moll-
akkord, der andere mit der tieferen kleinen Terz ein entschiedener
Durakkord.
Man kann Akkorde finden, die stärkere Verschmelzung zeigen
als ein gegebener Dur-, und solche, die schwächer verschmelzen,
als ein Mollakkord, man hätte also Fotenzen von Dur und Moll, einen
,, Durer" und einen „Moller".
Es gibt Akkorde, die weder Dur noch Moll sind, obwohl der
Unterschied ihrer Verschmelzung deutlich empfunden wird, so z, B.
e d g und seine Umkehrung c f g.
Es gibt viele Akkorde, die weder Dur noch Moll sind. Der
Akkord c es as hat von As-Dur die Tonika as, die Terz c und die
Quint es. Derselbe Akkord hat von Cmoll die Tonika c, die Terz
es und die Sept as.
Der Unterschied des Dur- und Mollakkords ist für das Gehör
') The Experimental Examination of some dilTercences belvveen tlie Major
and Minor Ghord. The Brit. Journ. of Psych. IV p. 33.
'') Arch. f. d. g. Psych. 24. Bd. 1. Heft.
450 C. Gutberiet.
so gewaltig, dass er durch die Verschiebung der grossen und kleinen
Ter/ nicht erklärt werden kann.
Vf. findet aber auch die übrigen gangbaren Erklärungen des
verschiedenen Eindrucks von Dur und Moll nicht befriedigend, so
die Verschiedenheit der übertöne von Dur und Moll und die ver-
schiedenen Beziehungen der Obertöne unter einander. ,, Ebensowenig
nützt es, die Töne des Durdreiklangs und des Molldreiklangs je auf
verschiedene tiefe Töne zu beziehen, als deren Obertöne die jewei-
ligen Dreiklänge angesehen würden. All diese Hilfstöne klingen viel
zu leise, wenn sie überhaupt klingen."
AVaiblinger gibt nun selbst folgende Erklärung:
„hn Molldreiklang treten c und es in Wettbewerb. Von diesem
Zwist kommt es, dass man das Moll so häufig als Tongeschlecht
der Zerrissenheit, Sehnsucht und Schwermut bezeichnet, während
man das Dur als einheitlicher auffasst. Dur ist zentrisch, Moll ist
bizentrisch.". Im Durakkord beziehen sich die Töne e und g auf
c; im Moll aber war auch es Tonika, und g bezieht sich gleich-
massig auf c und es. Dies der Eindruck, den der Vf. von den
beiden Akkorden empfängt. Aehnlich Weinmann, wie wir sahen.
Den gefälligen Eindruck des Durakkordes erklärt Waiblinger mit
Stumpf phylogenetisch. Die Musik begann mit Flöten und Hörnern,
bei denen die Obertöne c g c' e' g' hervortraten. Der Mollakkord
entstand erst nachträglich durch Zufall, musste also von dem so
stark konsonanten Durakkord abstechen und unangenehmer empfun-
den werden.
Ob diese Erklärung Beifall finden wird, ist abzuwarten. Sie
beruht auf der Stumpfschen Auffassung der Konsonanz als Ver-
schmelzung, wogegen der Umstand spricht, dass die Oktav stärker
verschmilzt als die Terz, die doch gefälliger ist. Freilich betrachtet
Stumpf die Wohlgefälligkeit als begleitendes Gefühl der Konsonanz,
was andere, z. B. Lipps, entschieden bestreiten.
Die Külpesche Erklärung leidet an dem Mangel, dass sie nicht
erklärt, warum die tiefere Lage der besser verschmelzenden Inter-
valle den Akkord wohlgefälliger macht. Man müsste das Gegenteil
vermuten ; denn das höhere Intervall macht einen stärkeren Eindruck
auf das Gehör als das niedere mit tiefen Tönen.
Als Schlussergebnis müssen wir die Tatsache konstatieren, dass
eine allgemein befriedigende Erklärung der musikalischen Konsonanz-
verhältnisse noch nicht gefunden ist.
Frieilricli Nietzsclies Erkenn tiiistlieorie.
Von P. Mauritius Demuth 0. F. M. in Dorsten.
Eine einheitliche Darstellung der Ansichten Nietzsches über
unser Erkennen, über die Bedeutung und Ausdehnung unseres Wissens
bietet mancherlei Schwierigkeiten. Einmal ist die von ihm bevorzugte
aphoristische Form der Darstellung einer philosophischen Gedanken-
entwickelung nicht günstig. Stihstisch sind die Arbeiten Nietzsches zwar
ein Meisterwerk der deutschen Sprache; aber manchmal mag das Verlangen,
geistreich zusammenzustellen, durch Wortspiel zu wirken, das logische
Denken überwuchert haben. Nietzsche ist eben mehr Künstler als
Philosoph. Kein Wunder deshalb, dass uns derselbe Aphorismus oft genug
ganz verschiedene Dinge lehrt.
Erschwert wird das Verständnis noch durch die Uebertreibungen,
deren Nietzsche sich schuldig macht. Besonders gegen Ende seiner
schriftstellerischen Tätigkeit gehen diese ins Masslose. Man darf deshalb
das Urteil A. Riehls verallgemeinern: „Es wäre ein Leichtes, auch hier
(beim Urteile über die Frauen) Nietzsche zum Zeugen gegen Nietzsche
anzuführen" ^). Wie weit bei diesen Widersprüchen und Uebertreibungen
seine Krankheit mitgewirkt, wird schwer zu entscheiden sein. Manche,
zumal seine Freunde, wollen in ihm das Ganz-Genie, den Uebermenschen
sehen, während andere, die nüchtern denken und urteilen, einen verderb-
lichen Einfluss nicht leugnen 2). Uns scheint es ehrenvoller für Nietzsche
zu sein, die Uebertreibungen und Gehässigkeiten auf Rechnung der mehr
und mehr hervortretenden Krankheit zu setzen. Für uns hat diese Frage
keine direkte Bedeutung, da wir es nur mit den Schriften zu tun haben,
so wie sie uns überliefert sind. Doch werden wir einen Mittelweg ein-
schlagen, manche Uebertreibung mildern und auf ihr richtiges Mass zurück-
führen müssen, um den eigentlichen Gedankengang des Autors zu finden.
Eine weitere Frage ist jene nach dem Entwickelungsgange Nietzsches.
Fast allgemein begegnet man der Ansicht, wir müssten drei von einander
mehr oder weniger scharf getrennte Abschnitte zugeben. Er selbst hat
den Anlass dazu gegeben. In den ersten Jahren 'seiner Lehrtätigkeit be-
') A. Riehl, Friedrich Nietzsche, der Künstler- und Denker^ 154.
'^) Zu dieser Frage sei hingewiesen auf Grützmacher, Nietzsche, Leip-
zig 1910, vierte Vorlesung 53 ff.
452 Mauritius Demuth.
trachtet er sieh als den Schüler F. Schopenhauers und den Freund
R. Wagners. Dann huldigt er für kurze Zeit mehr dem Positivismus,
bis er sieh zu einer selbständigen Philosophie durchgerungen, zum mora-
lischen Kritizismus und zum Problem des Uebermenschen. Mit Recht
wendet sich Frau Förster-Nietzsche gegen eine solche Erklärung').
Schon in den ersten Jahren ist Nietzsche, wenn auch ein treuer Ver-
ehrer Schopenhauers, doch nicht sein Nachbeter. Er weiss sich seine
Ansicht wohl zu wahren. Fragen, die für den Meisler wesentlich sind, hat
der Schüler geleugnet. So finden wir bei Nietzsche einen Optimismus
des Lebens und einen starken Individualismus, dann kommt freilich für
kurze Zeit eine mehr positivistische Richtung, hervorgerufen durch franzö-
sischen und englischen Einfluss. Doch auch hier bleibt er sich erkenntnis-
theoretisch treu: er ist und bleibt Skeptiker oder gar Nihilist. Nur tritt
der Verstand gegenüber dem Willen mehr in den Vordergrund.
Bald jedoch müssen diese, dem Charakter Nietzsches fremden Ein-
flüsse weichen. Die ersten Anschauungen brechen aufs neue durch, während
sich eine gewisse Aenderung nicht leugnen lässt. Vor allem will Nietzsche
jetzt als selbständiger Philosoph dastehen, von keinem mehr abhängig, von
keinem beeinflusst. Ein festes Ziel steht ihm vor Augen, was in den
Jugendjahren bewusst nicht so der Fall war. Er will die alten Moral-
werte vernichten, will neue Werte schaffen, will dadurch das Menschen-
geschlecht auf die Höhe seiner Entwickelung führen. Wille zur Macht und
Uebermensch, das ist der kurze Inbegriff seiner Lehre. Doch beim auf-
merksamen Lesen findet man diese Gedanken in ihren Grundzügen bereits
in den ersten Schriften wieder. Es gibt da so viele Parallelen, dass man
notgedrungen einen innigen Zusammenhang annehmen muss. Richtig dürfte
wohl diese Fassung sein: von Schopenhauer und der Romantik aus-
gehend, hat Nietzsche sich allmählich sein System gebildet, dessen Ent-
wickelung für kurze Zeit vom Positivismus unterbrochen und später in etwa
beeinflusst wurde. Deshalb gehen wir nur kurz auf die beiden ersten
Abschnitte ein, weil sonst Wiederholungen unausbleiblich sind. Benutzt i.st
die Taschenausgabe, Leipzig 1906, zitiert nach Band und Seite. Haupt-
sächlich kommen von den Werken in Betracht : Ueber Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne ^), und : Der Wille zur Macht ^). Doch bieten
auch die andern Schriften wertvolle Beiträge und Erläuterungen.
A. Schopenlianer niul Nietzsche.
I. P h ä h 0 m e n a 1 i s m u s.
Nietzsche hat seinem Lehrer eine eigene Schrift gewidmet: Schopen-
hauer als Erzieher. Hier lesen wir das Bekenntnis: „Ich gehöre zu den
') Friedrich Nietzsches Werke, Bd. II, Einleitung I.
■') I 503 fr. (Aus dem Nachlass).
^) IX und X erster Teil.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 453
Lesern Schopenhauers, v/elche, nachdem sie die erste Seite von ihm ge-
lesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und jedes
Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat . . . Ich verstand ihn, als
ob er für mich geschrieben hätte . . . Schopenhauer will nicht scheinen,
denn er schreibt für sich, und niemand will gerne betrogen werden , am
wenigsten ein Philosoph, der sich sogar zum. Gesetze macht: betrüge
niemanden, nicht einmal dich selbst" ^). Schon früher hatte er Schopen-
hauer als das Muster deutscher Kultur gepriesen. Bildung ist nur dann
vorhanden, wenn ihr einziger Philosoph, Schopenhauer, sich zu ihr be-
kennen müsste^). Schopenhauer ist ihm jler Lehrer, der ihn lehrt, „ein-
fach und ehrlich im Denken und Leben zu sein" 3).
Das sind hohe Lobsprüche, die der junge Professor seinem Meister
spendet. Bei solchem Studium darf es uns deshalb nicht wundern, überall
auf die Lehren des Meisters zu stossen. Doch nur bis zu einem be-
stimmten Grade sehen wir diese Abhängigkeit. Selbst in wesentlichen
Punkten treten starke Unterschiede hervor, deren sich Nietzsche damals
wohl kaum bewusst geworden ist. Er spricht eben von dem Schopen-
hauer, den er aus den Werken des Lehrers herausgelesen. „Dabei geschah
es ihm", sagt Riehl, „dass er in das Bild Schopenhauers Züge seines
eigenen Idealbildes eintrug"*). Mit Recht fügt er hinzu: ,,Ein blosser
Schüler Schopenhauers ist Nietzsche nie gewesen"; es sei denn in dem
Sinne, jeder Meister habe nur einen Schüler, der ihm aber untreu werden
müsse, weil er selbst zur Meisterschaft bestimmt ist^j. Nietzsche hat es
mit Schopenhauer gemacht wie mit den andern, denen er nahe trat: er
legte in sie das Bild hinein, das er in seinen Freunden sehen und be-
wundern wollte. Bei näherem Verkehr musste die Illusion schwinden und
der Bruch notwendig eintreten, der sich nicht mehr überbrücken liess. So
war es mit Schopenhauer, so auch mit Wagner. Sobald Wagner eigene
Wege einschlug und erst recht, als er sich nach der Meinung Nietzsches
dem Christentume zuwandte, hörte die Begeisterung und Freundschaft
zwischen beiden auf.
Schopenhauer unterscheidet zwischen anschauender und begrifflicher
Erkenntnis und folgt darin ziemlich der Zeitströmung. Doch geht er einen
Schritt weiter und fügt zwischen beide Reiche noch das Gebiet der Ideen
ein, ein Abbild der Ideen Pia tos. Erkenntnistheoretisch ist er Phäno-
menalist im Geiste Kants. Wir können nur erkennen, was sinnfällig ist.
Aber alles dies ist rein subjektiv. Ob den Reizen unserer Sinne eine
objektive Aussenwelt entspricht, können wir nicht wissen, weil wir sonst
das Kausalitätsgesetz über die erlaubten Grenzen ausdehnen müssten.
Dies ist die eigentliche Lehre Schopenhauers, Man hat ihm vorgeworfen,
später habe er von einer realen Aussenwelt gesprochen. Das ist richtig.
») II 222. — *) I 405. — ^) II 221.
*) A. a. 0. 39. — '') Ebenda 41.
Philosophisches Jahrbuch 1913. 29
454 Mauritius Demuth.
Diese Inkonsequenz findet sich bei ihm, findet sich aber auch bei den
andern IdeaHsten, die gleichfalls ohne eine reale Aussenwelt nicht fertig
werden können.
Auch Nietzsche ist Phänomenalist. Er leugnet die Erkennbarkeit der
Aussenwelt, des Dinges an sich. In seiner Polemik gegen David Strauss
beruft er sich auf die Vernunft, die uns dartut, wie wenig wir vom Dinge
an sich erkennen '). Als Zeichen rohen Denkens sieht er es an, das Wort
„real", „Realismus" so zu deuten, dass man dahinter den Gegensatz von
Stoff und Geist wittern kann, dass Reahsmus die Richtung auf das Erkennen,
Gestalten, Beherrschen des Wirklichen sei^). Was will das Wort „real"
sagen V Etwa dass wir etwas ausser uns erkennen ? Das ist nicht möglich.
Jedes Wort ist nur ein Symbol von Vorstellungen, seien es bewusste oder
unbewusste. Nur durch Vorstellungen werden wir zum Dinge geführt. Die
Vorstellung allein, nicht das Ding ist uns bekannt. Eine andere Brücke
gibt es nicht für uns: „Auch das gesamte Tierleben, das Spiel der Ge-
fühle, Empfindungen, Affekte, Willensakte ist uns bei genauester Selbst-
prüfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach bekannt". Selbst
der Wille Schopenhauers macht keine Ausnahme. Er ist unentzifferbar*^).
Hier schneidet Nietzsche jede Aussicht auf wahre Erkenntnis ab. Er
leugnet nicht bloss die Erkennbarkeit der Aussenwelt, sondern erklärt auch
die Bewusstseinstatsachen als Schein. Im dritten Teile kommt er mit
grosser Schärfe hierauf zurück.
Mit einer solchen Ansicht ist über jede Metaphysik das Urteil ge-
sprochen. Er gibt uns den wohlgemeinten Rat, auf jene zu hören, die
den erkrankten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerraten oder sie
doch durch die Natur oder Kunst ersetzen wollen*). Bei der meta-
physischen Frage spielt die Kunst eme grosse Rolle. Ueberhaupt huldigt
er in den ersten zehn Jahren einem übertriebenen Kunstenthusiasmus, der
später mehr und mehr zurücktritt. Bereits im Vorwort an Wagner wird
die Kunst, und nicht die Moral als die eigentlich metaphysische Tätigkeit
des Menschen hingestellt^). Diesen Gedanken zu erhärten, ist die Aufgabe
seiner ersten Arbeit: Geburt der Tragödie. Diese Liebe zur Kunst,
besonders zur Musik, weist stark auf Schopenhauer hin. — Die Wesen-
heiten des Aristoteles, die Kategorien Kants können uns nicht helfen.
Kant muss nach ihm einen zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus
und Relativismus erzeugen, sollte er je populär werden 0). Wir gebrauchen
die Worte, sprechen von den Dingen als wirklich seienden. Anders können
wir nicht leben. Aber in Wahrheit haben wir nur Symbole für die Be-
ziehungen der Dinge unter einander und zu uns.
Nirgends finden wir absolute Wahrheit. „Sein" bezeichnet die allge-
meinste Relation, die alle Dinge mit einander verknüpft. Da die Existenz
') I 40. — -) I 355. — ») I 234.
*) 1 411. — ^) 1 40. — «) II 232.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 455
ü
der Dinge nicht nachweisbar ist, bringen uns auch die Relationen um
keinen Scliritt der Wahrheit näher. Selbst in den reinen Verstandesformen,
Raum, Zeit und Kausalität, finden wir nichts von einer absoluten Wahrheit.
Das Subjekt kann eben nicht über sich hinaus. So folgt, dass „Erkennen
und Sein die sich widersprechendsten aller Sphären sind"^). „Ens" hat
ursprünglich nicht die Bedeutung „Sein", sondern „Atmen". Das erklärt
uns, wie der Mensch sich alles andere nach Analogie des eigenen Daseins
erklärte. Unsere ganze Erkenntnis ist anthropomorphisch. Unberechtigt
ist der Schluss: Ich atme; also gibt es Sein 2). Die Denkarbeit wird nicht
geleistet von einem Geiste, vom i^ovq des Anaxagoras. Alles muss auf
das Gehirn zurückgeführt werden. Man darf dieses nicht vergessen,
seine erstaunliche Künsthchkeit , die Zartheit und Verschlungenheit seiner
Windungen und Gänge 3). Damit sind wir beim Materialismus gelandet.
Ausser Materie gibt es nichts.
Noch einige Worte über die Hauptkategorien, die erst im dritten Teile
ihre volle Würdigung finden können. An erster Stelle steht das Sein.
Schopenhauer hielt daran fest. Er hat das Ureine, das Ural!, den All-
Willen. Für Nietzsche gibt es kein Sein, sondern nur Werden. Jeder
Augenblick frisst den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger
Wesen. Zeugen, Leben und Morden ist eins*). Klarer noch spricht er in
der Geburt der Tragödie : „Je mehr ich in der Natur jene allgewaltigen
Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Scheine, zum
Erlöstwerden durch den Schein, gewahr werde, um so mehr fühle ich mich
zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und
Ur-Eine zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein zu seiner
Erlösung gebraucht, welchen Schein wir . . . als das Wahrhaft-Nichtseiende
d. h. ein fortwährendes Werden in der Zeit, Raum und Kausalität ... zu
empfinden genötigt sind"^). Etwas Bleibendes, etwas Festes gibt es also
nicht für ihn. Alles ist beständigem Wechsel unterworfen, alles „wird".
In diesem Punkte beruft er sich auf Heraklit. Ihm schreibt er die Lehre
vom Gesetze im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit zu*^). Trotz-
dem will es scheinen, dass in den Worten Nietzsches noch keine direkte
Stellungnahme gegen den aristotelisch-scholastischen Substanzbegriff liegt.
Diesen scheint er gar nicht gekannt zu haben. Was er mit Recht angreift
und verwirft, sind die ewigen Substanzen, die bei Kant und vor allem in
der pantheistischen Philosophie eine so grosse Rolle spielen. Nietzsche
fühlt sich hier im Gegensatz zu Schopenhauer. Das mag ihn zu seinem
scharfen Ausdruck verleitet haben.
Anklänge an Schopenhauer finden wir bei der zweiten Hauptkalegorie
wieder, bei der Lehre von der Ursache. Nur ist Nietzsche viel radikaler.
>) I 462. — -) I 463.-— ^) I 478.
*) I 212. - ") I 66. - «) I 449.
29*
45G Mauritius üemuth.
Er leugnet kurzweg jede Ursache. Alles ist ihm Spiel des Zufalles. Selbst
aus der engen Verbindung, die zwischen Nervenreiz und Vorstellung be-
steht, dürfen wir noch nicht auf Ursächlichkeit schliessen. Für Schopen-
hauer ist im metaphysischen Erkennen der Wille massgebend; nicht ein
von der Vernunft geleiteter Wille, sondern ein blinder, der aber eigentüm-
licher Weise nur Ordnung schafft. So ist das ganze Gebiet alogisch, in
den andern Gebieten nimmt er den Satz vom Grunde oder das Kausalitäts-
gesetz an. Bei Nietzsche fehlt vollends die MögUchkeit eines logischen
Aufbaues, nicht, weil er dem Willen einen solchen Einfluss einräumte;
diese Bedeutung erhält der Wille erst in den späteren Jahren als Wille
zur Macht; sondern weil er jeden kausalen Nexus verwirft und alles dem
Zufall anheimstellt. Theoreli.sch ; denn praktisch kann auch er an dieser
Wahrheit nicht vorbei. Zudem schliesst zufälliges Handeln durchaus nicht
den ursächlichen Zusammenhang aus. Immer wieder stossen wir darauf,
wie auch Nietzsche ohne die Annahme einer Wirkursache nicht fertig wird.
Selbst in der Natur leugnet er folgerichtig jede Gesetzmässigkeit und
damit jede Zielstrebigkeit. Die Naturwissenschaft mit ihren festen Gesetzen
ist nichts. Könnten wir einmal als Vogel — der Mensch ist ihm nur ein
höheres Tier, das durch Uebung die Gabe erlangt hat, das Vergangene
zum Leben zu gebrauchen, (Jeschichte aus ihm zu machen ') — die Welt
betrachten, wir würden sicher nicht mehr von Gesetzmässigkeit reden.
„Was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz? Es ist uns an sich nicht
bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, d. h. in seinen Relationen zu
andern Naturgesetzen, die uns wieder nur als Suramen von Relationen
bekannt sind" 2). Nur das, was wir hinzubringen, Zeit und Raum, die
Sukzessionsverhältnisse und Zahlen, sind uns wirklich bekannt. Zeit und
Raum sind zum Erkennen notwendig. Diese Formen produzieren wir in
uns. Da alle Dinge nur unter diesen Formen erkannt werden, so müssen
alle Erkenntnisse die Gesetze der Zahl und Folge an sich tragen. Streng
genommen haben wir Metaphern, die nur den Schein der Gesetzmässigkeit
an sich tragen und es uns so ermöglichen, aus ihnen den Bau der Wissen-
schaft zu errichten 3).
Damit ist schon gesagt, dass Raum und Zeit völlig subjektive Formen
der Erkenntnis sind, die wir erst schaffen, die mit den Dingen nichts ge-
mein haben. Die Frage, ob es Formen des Verstandes oder der Sinnlich-
keit sind, tritt zurück, da bei Nietzsche eben alles Materie Nervenreiz,
Tätigkeit des Gehirns ist. Raum und Zeit haben nur relatives Dasein.
Die folgende Zeit ist nur dadurch möglich, dass sie die vorhergehende
vertilgt. Für diese Ansicht beruft er sich auf Heraklit und besonders auf
Schopenhauer. Das ist ihm eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren
Anschaulichkeit, die jedem klar ist und deshalb begrifflich und vernünftig
') II 112. — •') I 517. — 8) Ebenda.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 457
sich schwer fassen lässt i). Diese Andeutungen über die Kategorien mögen
vorläufig genügen. In der dritten Periode wird sich Gelegenheit bieten,
noch einmal näher darauf einzugehen. Zudem sind die.se Zusammen-
stellungen nur aus gelegentlichen Aeusserungen gemacht.
II. Philosophie.
Mehr Bedeutung legt Nietzsche einer andern Frage bei, in der er sich
stark an Schopenhauer anlehnt. Was ist ihm Philosophie? Was heisst
philosophieren^)? Auf diese Frage kommt er häufig zurück und streift
dabei das Gebiet der Wissenschaften im strengen Sinne, ohne jedoch
zwischen beiden eine genaue Grenze zu ziehen. Nietzsche und Schopen-
hauer stimmen in der Auffassung der Philosophie überein. Beide aner-
kennen nur Intuition, nur Anschauung, und lehnen ein systematisches
Denken ab. Schopenhauer meint, die Philosophie sei nichts anderes, als
das richtige, universelle Verständnis der Erfahrung. Aus Begriffen lässt
sich die Philosophie nicht herausspinnen. Sie i.st keine Wissenschaft aus
Begriffen, sondern in Begriffe : das aus anschaulicher Erkenntnis Geschöpfte
muss in allgemeine Begriffe gefasst werden ^). Dazu tritt noch ein weiteres
Element. Es ist die intuitive Gewissheitsquelle, die das Philosophieren vor
allem andern Wissen kennzeichnet. Die Philosophie hat mit dem Satze
vom Grunde nichts zu tun. Soweit dieser reicht, gehen die Wissenschaften.
An deren Grenze setzt die Philosophie ein. Sie fragt nicht nach dem
Woher, Wozu, Warum. Sie sucht nur das Was in der Welt, das Wesen
der Erscheinungen. An anderer Stelle erklärt Schopenhauer, ihr Gegen-
stand sei das Unerklärliche*). Somit weist uns Schopenhauer in der
Philosophie auf eine neue Art der Erkenntnis hin. Bei der Lehre von
den ewigen Ideen schildert er die Gewissheitsgrundlage der Philosophie
als ein unvergleichlich eigenartiges, von aller gewöhnlichen Erfahrung und
allem logischen Verknüpfen völlig verschiedenes Erkennen. Jede intuitive
Gewissheit, als Gegensatz zu allem logischen Verknüpfen, ist irrational.
Diese allgemeinen Charakterzüge der Philosophie kehren auch bei
Nietzsche wieder. Für ihn hat die Dialektik nur die Aufgabe, das festzu-
halten, was die Intuition gegeben. „Was der Vers für den Dichter ist, ist
für den Philosophen das dialektische Denken : nach ihm greift er, um sich
seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrifizieren . . ." Zwar ist es
«) I 434.
-) Da Nie Lz sehe sich auch später hinsichtlich dieser Frage in Ab-
schnilt II und III treu bleibt, soll hier die Frage endgültig behandelt werden.
Nur eine Bemerkung sei gestattet. Später ist ihm die Aufgabe des Philosophen
„Wertbestimmer", „Schaffer neuer Werte" zu sein.
^ J. Volkelt, Arthur Schopenhauer », Stuttgart 1907, 143.
*) Volkelt a.a.O. 145 p. Siehe aucli: Schopenhauer, Die Well als
Wille und Vorstellung (Griesebrecht) I l2? ff.
458 Mauritius Demuth.
unmöglich, das, was die Intuition uns gelehrt hat, ohne Dialektik und
wissenschaftliche Reflexion festzuhalten. Aber es ist ein kümmerliches
Mittel, im Grunde nur eine Metapher. Die Uebertragung von der Intuition
in die Dialektik ist die Uebertragung in eine verschiedene Sphäre und
Sprache ^).
Schärfer noch tritt der intuitive Charakter hervor, wo Nietzsche von
Heraklit spricht. Dieser besass als sein königliches Besitztum die höchste
Kraft der intuitiven Vorstellung, während er gegen die Vernunft und
gegen begriffliches und logisches Denken sich feindlich zeigte^). Zwischen
logischem Denken und Intuition besteht die Möglichkeit eines Widerspruches.
Was ist denn für Nietzsche Intuition V Er selbst sagt: „Die intuitive
Vorstellung umfasst zweierlei : einmal die gegenwärtige in allen Erfahrungen
an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Be-
dingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird,
Zeit und Raum. Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten
Inhalt sind, unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv
perzipiert, also angeschaut werden"^). Wie eine Welt, von der wir als
reine Phänomenalisten nichts wissen, nicht einmal, ob sie Dasein hat, sich
an uns herandrängen, von uns geschaut werden kann, das sagt uns
Nietzsche nicht. Sollte er unter der Fakultät der Anschauung nicht die
Phantasie verstehen? Er stellt sich einmal die Frage, was den Philosophen
so schnell ans Ziel bringe, und gibt sich die Antwort: die Phantasie, eine
fremde, unlogische Macht ^).
Treffend bemerkt B. Erdmann in seiner Logik über die intuitive
Erkenntnis : „Es unterUegt keinem Zweifel, dass sie (die Intuitionen) nicht
die geringste Bürgschaft dafür in sich selbst tragen, gültige Behauptungen
oder zutreffende Problemstellungen zu sein. Sollen wir ihrer Geltung sicher
werden, so müssen wir sie fixieren, in ihre Bestandteile zerlegen und zu-
sehen, ob sie der Begründung standhalten". Dazu bedürfen wir des
logischen Denkens^).
Ist bei beiden Philosophen die Philosophie eine irrationale, alogische
Wissenschaft, so geben beide ihr auch dasselbe Ziel. Wir hörten ja schon
das Wort des Meisters : Die Philosophie fragt nicht nach dem Warum,
sondern nach dem Was in der Welt. Ebenso klar drückt sich Nietzsche
wiederholt darüber aus. Nicht um Wissenschaft (hier im strengen Sinne !)
kann es .sich handeln ; ein Gelehrter kann nie ein Philosoph werden. Nicht
der Denker macht den Philosophen ; sonst wäre Kant ein Philosoph gewesen.
Nur der wirkliche Mensch ist Philosoph. Aber welcher Gelehrte wäre ein
wirklicher Mensch gewesen? Sie alle lassen zwischen sich und die Dinge
Begriffe, Meinungen treten. Sie sehen die Dinge nicht unmittelbar, sondern
') I 427. — -) I 434.
3) I 434. - *) I 423.
5) B. Erdmann, Logische Elementarlehre' (Halle 1907) 3.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 459
nur im Spiegel der Wissenschaft. Ein Philosoph muss die meiste Be-
lehrung aus sich selbst nehmen i). Die Hauptfrage ist die : inwieweit be-
sitzen die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt V Ist diese beant-
wortet, so muss danach die Welt rücksichtslos verbessert werden 2). Die
Philosophie muss uns Aufklärung über unser Dasein geben 3). Sie muss
uns sagen : „Das ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn des
Lebens"*). Aber umgekehrt heisst es: Lies nur dein Leben und lerne
daraus das der andern kennen. So will Nietzsche auch die Stellen bei
Schopenhauer erklärt wissen 5). Ein Philosoph soll sich die Wirklichkeit
gut ansehen und aus deren Bildern sich das Leben deuten ß). Dann wird
die Philosophie ihr Ziel erreichen, das ihm in den Jugendjahren die Kunst
und später die Wertbestimmung des Lebens ist. Wenn wir Philosophie
und Wissenschaft im strengen Sinne mit einander vergleichen, so leuchtet
ohne weiteres ein, dass beide nicht auf freundschaftlichem Fusse stehen
können. Nach Schopenhauer ist diese eine logische, jene eine alogische
Wissenschaft. Auch bei Nietzsche dürfte es ähnlich sein, wenngleich er
der Wissenschaft durch Leugnen des Kausalitätsgesetzes jeden Boden ent-
zogen hat. Die Wissenschaft stürzt sich auf das einzelne, auf alles Wiss-
bare. Sie sucht die Dinge in ihren Beziehungen zu erforschen. Sie ist
von einer blinden Begierde getrieben, die um jeden Preis erkennen will.
Die Philosophie will nur das Wissenswürdigste. Sie bändigt ihren Wissens-
trieb dadurch, dass sie die grösste Erkenntnis, vom Wesen und Kern der
Dinge, als erreichbar und erreicht betrachtet 7). Durch das Herausheben
des Ungewöhnlichen, des Götthchen grenzt sich zudem die Philosophie
gegen die Wissenschaft ab^).
Die Philosophie, in diesem Sinne aufgefasst, ist eine Lebensphilosophie.
Sie soll dem Leben dienen. Das ist der grosse Vorzug der Griechen, dass
sie das, was sie lernten, sogleich leben wollten. Durch ein ideales Lebens-
bedürfnis bändigten sie ihren Wissenstrieb ^). Nietzsche fragt sich, ob
heute das Erkennen über das Leben, oder das Leben über das Erkennen
herrschen solle. Die Antwort ist ihm nicht zweifelhaft. Einer höheren
Aufsicht muss die Wissenschaft unterworfen sein. „Eine Gesundheits-
lehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft'""). Was
anders hält er uns in späteren Jahren vor, wenn er immer und immer
wieder die Philosophen ermahnt, selbst die Werte der Dinge, des Lebens
zu bestimmen? Nicht vom Althergebrachten sollen sie sich leiten lassen.
Als wahre Freigeister sollen sie den Dingen den Wert geben, der am
meisten lebenfördernd ist. Dadurch muss endlich die Philosophie den
Menschen über sich selbst hinauserheben, Schopenhauer sah im Genie
das Ideal, und ähnhch denkt Nietzsche. Eine Entwicklung im Sinne
1) II 296 ; II 270. — -) II 422. — ^) II 262.
*) II 234. — 5) Ebenda. — «) 1 53.
') I 426. — 8) I 425, — 9) I 414. _ to) n 204.
460 Mauritius Demuth.
Darwins lehnen beide ab. Nietzsche spottet über den Urschleim, aus
dem sich alles entwickeln soll. Aber recht im Geiste Schopenhauers
klingt die Forderung: die Kultur hat als Aufgabe, „die Erzeugung des
Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu
fördern nnd dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten" ^). Das
Ziel der Menschheit liegt in seinen höchsten Exemplaren 2). Besonders
dieser Gedanke zeigt uns die innige Verbindung der Jugendideen mit denen
des gereiften Mannes. Wohl treten später die Gedanken sicherer, klarer
hervor. Was jetzt noch ein dunldes Bild ist, findet bald seine volle Be-
leuchtung. Aber im tiefsten Grunde haben wir dieselbe Lehre.
Auf die Betonung des Willens gegenüber dem Verstände will ich nicht
eingehen. Für einen Schüler Schopenhauers ist der Voluntarismus selbst-
verständlich. Doch bleibt er Individualist. Später tritt das PersönHche
sogar stark hervor. Ebenso hat er es verstanden, sich von dem Pessimis-
mus freizuhalten. Man hat ihn den Optimisten des Lebens genannt. Doch
dürfte wohl in dem Pessimismus des Schopenhauer eine, wenn nicht die
Quelle für die herbe und masslose Kritik an allem Bestehenden zu suchen
sein. Manche Anklänge finden sich bei beiden.
III. Was ist Wahrheit?
Wir dürfen dies Kapitel nicht schliessen, ohne uns näher mit der
nachgelassenen Schrift belasst zu haben: lieber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne. In diesem Entwürfe geht Nietzsche näher auf
das Problem der Wahrheit ein; da finden wir bereits die Grundlage so
mancher Anschauung, die erst später mit voller Deutlichkeit hervortritt.
Es ist interessant zu verfolgen, wie er sich den Ursprung der Wahrheit,
oder besser dessen, was wir für Wahrheit halten, erklärt. Aber das eine
ist sicher: Hätte er mit seinen Ansichten recht, so gäbe es überhaupt
keine Wahrheit mehr. Auch dessen ist er sich völlig bewusst, dass zum
Leben diese Scheinwahrheit unbedingt erfordert wird. Der Mensch muss
sie haben, um leben zu können. Doch gehen wir auf diese eigenartigen
Entwürfe näher ein.
„Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten"^).
Wollen wir von dem Nervenreiz auf etwas ausser uns schliessen, so ist
das eine falsche Anwendung des Satzes vom Grunde. Als Beispiel dient
ihm der Satz: Der Stein ist hart. Wo anders gibt es denn etwas hartes,
als in unserer subjektiven Empfindung? Auch durch die Sprache ist das
Ding an sich nicht erfassbar. Wie überall, so bleiben wir auch hier bei
den Relationen stehen. Wir glauben, mit dem Worte „Baum" ein Ding
an sich zu berühren. Aber es ist nicht der Fall. Dasselbe rätselhafte
Ding X ist uns einmal Nervenreiz, dann Bild, dann Laut. Von einer Logik
bei Bildung der Sprache ist mithin keine Rede*).
0 II 264. — -■) II 188. — =') I 509. — *) 1 510.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 461
Aus den Worten entstehen die Begriffe. .Jede.s Wort verdankt seinen
Ursprung einem individualisierten önerlebnis. Diese Bedeutung dehnen wir
weiter aus auf eine Reihe von Fällen, die sich mehr oder weniger ähnlich
sind, die sich aber, streng genommen, niemals decken. ,, Jeder Begriff
entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen". Durch Uebersehen des
Individuellen und Wirklichen erhalten wir also die Begriffe, während die
Natur keine Formen, Begriffe und Gattungen kennt, sondern nur das Indi-
viduum, das undefinierbare x ^).
Vorsichtshalber fügt er hier bei: aus der Natur haben wir die.se Er-
kenntnis, die Begriffe nicht geschöpft, wenn wir auch nicht sagen dürfen,
da.gs sie der Natur nicht entsprechen. Denn davon wissen wir nichts.
„Was ist also Wahrheit? Ein langes Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die
poetisch und rhetorisch . . . gesteigert wurden und erst durch den langen
Gebrauch Bürgerrecht erhielten. Man hat mit der Zeit vergessen, da.ss es
Illusionen waren" 2]. Also für die Begriffslehre reiner Nominalismus, für
die Wahrheit selbst Skeptizismus, wenn nicht Nihilismus. Man vergleiche
mit dieser Definition der Wahrheit jene, die uns Schopenhauer gibt. „Das
durch die Vernunft richtig Erkannte ist Wahrheit, nämlich ein abstraktes
Urteil mit zureichendem Grunde . . . Der Wahrheit steht der Irrtum als
Trug der Vernunft gegenüber ..." ^). Durch diese Worte ist der Unter-
schied in den Anschauungen scharf ausgedrückt.
Hier bleibt die grosse Frage zu beantworten: Woher denn der Trieb
zur Wahrheit? Bei allen Menschen findet er sich! Die Antwort ist leicht.
Ohne eine Konvention im gegenseitigen Verkehr kann die Gesellschaft nicht
bestehen. Diese Konvention haben wir in der Sprache. Was der Gesell-
schaft günstig, fördernd war, erhielt die Bezeichnung „wahr". Der Intellekt
ist ein Mittel ziu- Erhaltung des Individuums. Nur durch Verstellung kann
er seinen Zweck erreichen, weil nur durch Verstellung die Schwachen sich
gegen die Starken behaupten können*). Das gilt vom einzelnen, gilt noch
mehr von der Gesellschaft. In diesem Erhaltungstriebe müssen wir also
die Quelle der „Wahrheit" und des Triebes nach Wahrheit suchen. Des-
halb gibt Nietzsche die Definition: „Wahrhaft zu sein, das heisst die
usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt, zu lügen,
herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen" 5).
Allmählich bildete sich eine Fülle solcher Begriffe, solcher Abstraktionen,
deren Befolgung der Gesellschaft sich als nützlich erwies. Diese nahm man
auf als Richtschnur des Denkens, um sich nicht von jeder einzelnen Ein-
gebung hinreissen zu lassen. Durch diese Unterordnung seines Handelns
unter die allgemeine Norm erlangte der Mensch den Titel „vernünftiges
1) Ebenda. — -) 1 511.
3) Schopenhauer a. a. 0. 58. Vgl. auch 73 und 126 ff,
*) I 506. — *) I 512.
462 Mauritius Demutb.
Wesen*'. Denn was den Menschen vom Tier unterscheidet, hegt in der
Fähigkeit, die Metaphern zu einem Schema zu verbinden ^). Jetzt erst
können wir das Wort verstehen: „Der Mensch hat einen unbesiegbaren
Hang, sich täuschen zu lassen . . . Der Intellekt, jener Meister der Ver-
stellung, ist so lange frei und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben,
als er täuschen kann, ohne zu schaden" 2).
Das ganze menschliche Erkennen ist also recht oberflächlich, ist ge-
leitet vom Erhaltungstrieb der Gesellschaßt. Was aber, wenn der Mensch
ehrlich ist, wenn er nicht mit der Herde gehen will, wie man das doch
von einem Philosophen voraussetzen muss? Entweder müssen wir, wie
Lessing, dabei bleiben, immer nach der Wahrheit zu suchen, ohne sie
je zu finden, oder wir kommen zum vollen Skeptizismus. Wir kommen
zur Verzweiflung an der Wahrheit 3), Denn alles ist nur Lug und Trug.
Alles ist nur gegeben durch die Gewohnheit, den Nutzen. Mit den Begriffen
spielen wir ein Würfelspiel. Wahr sein heisst, jeden Würlel so gebrauchen,
wie er bezeichnet ist. So ist eine Klassifikation möglich, und jedes Volk
hat eine solche^). Nietzsche gibt dem Gedanken, Wahrheit sei unmöglich,
unverhohlen Ausdruck. Der adäquate Ausdruck eines Objektes im Sub-
jekte ist ein Unding. Nur durch die Erscheinung wird zwischen beiden in
etwa eine Verbindung hergestellt S).
Ist nun wirklich die Lage des Menschen so verzweifelt? Es scheint
noch eine Lösung möglich : durch die Kunst. Jeder begabte Mensch steht
einmal am Scheidewege, wo er in das Unaufhaltbare starrt. „Da bricht
die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die,
um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst ge-
braucht" ß). Jede Wissenschaft sehlägt an ihren Grenzen in Kunst um.
Der Mensch sieht sich da als künstlerisch schaffendes Subjekt und vergisst
so, dass alles nur Glauben, Konrention ist, und nicht Sicherheit).
Für den gewöhnlichen Menschen gibt es eine andere Lösung. Er
verlangt in seinem Wahrheitsstreben nicht so sehr nach metaphysischer
Wahrheit. Ihm ist die Frage wichtiger, was dem Leben dienlich ist. Nur
in dem beschränkten Sinne will er die Wahrheit ; er will ihre angenehmen,
lebenerhaltenden Folgen. Wahrheit ohne praktische Folgen ist ihm gleich-
gültig; Wahrheiten, die ihm schaden könnten, hasst der Mensch 8).
Wenn wir uns zum Schlüsse des Kapitels fragen, welches die Haupt-
züge der Erkenntnistheorie Nietzsches sind, so finden wir einen
stark betonten Phänomenalismus, einen noch stärker hervortretenden Sub-
jektivismus, die beide in der Philosophie durch Inluilionismus ergänzt oder
ersetzt werden. Kausale Verknüpfung will er nirgends anerkennen, wes-
halb das ganze Gebäude alogisch ist und zum Skeptizismus hinführt. Die
1) I 512. — -) I 520. — 3) II 232. — *) I 513. — ») I 515.
«) I 140. — ') 1 515. — «) I 508.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 463
Schrift über Wahrheit und Lüge endhch zieht diese Folgerung. Wenn
Nietzsche selbst sie auch nicht in Druck geben wollte, so bildet sie doch
die Grundlage für die späteren dahin zielenden Ausführungen. Skeptiker
ist er immer gewesen und er rühmt sich nach Jahren noch dieser Eigen-
schaft als des Zeichens eines starken Geistes. Glaube an Wahrheit genügt.
Wahrheit selbst ist uns unzugänglich. Er und die andern „freien Geister"
aber dürfen sich über diesen Glauben erheben und eigene Wege wandeln.
Das ist das Fundament seiner Morallehre.
B. Der Positivist.
Allmählich hatte sich in Nietzsche eine entgegengesetzte Entwicklung
angebahnt. Aus einem stark voluntaristischen Philosophen wird ein posi-
tivistischer Intellektualist. Nicht plötzlich fand der Umschlag statt. Und als
er 1874—76 seine Lobreden auf Schopenhauer und Wagner schrieb,
hatte sich im Innern wohl die Wandlung schon vollzogen. Aeusserlich
aber war nichts bekannt geworden. Gewaltiges Aufsehen mussten deshalb
die Aphorismen Menschliches, Allzumenschliches erregen. Denn
hier stützt er sich zum Teil auf ganz andere Grundsätze. Wie konnte sich
Nietzsche so schnell und so gründlich ändern? Diese Frage wurde gestellt
und man suchte nach Gründen. Abgesehen von der einen Wahrheit, dass
das Preisgeben eines Systems bei einem temperamentvollen Manne wie
Nietzsche leicht zum andern Extrem hinführt, streitet man um denEinfluss
den der enghsche Sensualist Dr. P. Ree, sein intimer Freund, auf ihn
ausgeübt. Frau Förster-Nietzsche glaubt mit einer scherzhaften
Bemerkung die Frage abtun zu können. Sie meint ganz naiv, man sei
erstaunt und unangenehm von den neuen Ansichten Nietzsches berührt
gewesen. Da man ihm solche Dinge nicht zugetraut, habe man nach
einem Schuldigen gesucht und ihn in Dr. Ree gefunden, gerade so, wie
auch die Kinder immer einen haben müssten, der die Ursache des Un-
glückes gewesen. „So wurde der arme Dr. Ree, der das wirklich nicht
verdient hatte, zum bösen Nachbarsjungen" ^).
Diese Darstellung ist doch zu rührend, als dass sie geglaubt werden
könnte. Auch Riehl meint, es sei kein Anstoss von aussen nötig gewesen
um der neuen Denkart zum Durchbruch zu verhelfen, auch nicht der
Einfluss Rees. Doch leugnet er diesen nicht, weist vielmehr darauf hin,
wie viel Nietzsche selbst von diesem Freunde hielt 2). Klar spricht sich
R. Richter aus. Es ist mit philosophischem Takt festzustellen, meint er,
welche Einflüsse massgebend gewesen sind. An erster Stelle nennt er die
von Nietzsche selbst anerkannten, unter denen der Einfluss Rees sehr
bedeutend ist. Will man Nietzsche glauben, so hat er wohl Ree benutzt
wie einstens Schopenhauer. Einen Einfluss auf das Entstehen seiner Werke
0 III Vorrede XL.
») A. a. 0. 59.
464 Mauritius Demuth.
will Nietzsche ihm nicht einräumen, gibt aber zu, dass der Vorteil der
Freundschaft auf beiden Seiten war *). Das letzte scheint die rechte Stellung
zu sein. Denn Nietzsche war schon durch die Lektüre der französischen
Psychologen und Moralisten auf den Positivismus hingewiesen worden.
Manche derselben führt er häufiger an. Durch den persönlichen Verkehr
mit einem Manne, der denselben Ideen huldigte, musste er in seinen An-
sichten bestärkt werden. Dürfen wir so den Einfluss Rees nicht über-
schätzen, so noch weniger unterschätzen. Gehen wir kurz auf diese Periode
selbst ein.
Wenden wir uns zuerst dem Problem der Wahrheit zu. Der einzige
Unterschied gegen früher besteht im Betonen des Verstandes gegenüber
dem Willen. Denn nach wie vor ist er reiner Skeptiker. Der Glaube, die
Wahrheit gefunden zu haben, scheint ihm das grösste Hindernis der Wahr-
heit zu sein'^). „Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit
als Lügen" ^). Deshalb würde heute keiner mehr für die W^ahrheit in den
Tod gehen*). Man lernt zu leicht um. Die Wahrheit selbst muss vor
dem Wahrheitsuchen verschwinden^). Dann wird auch hier der Einfluss
der Gewohnheit stark betont ß). Was uns ferner nützlich, bequem ist, das
ist wahr'). Auf diese Erklärung der Wahrheit kommt er bis zum Ueber-
druss oft zurück. Jede Handlung ist ihm von Selbstsucht eingegeben.
Selbstlose Handlungen gibt es für ihn nicht. In allem sucht der Mensch
sich selbst. Mag diesem Satze auch eine psychologische Wahrheit zu
Grunde liegen: Nietzsche geht zu weit und übertreibt. Aber er bedarf
dieses Satzes für seinen Kampf gegen die herrschenden Anschauungen von
Wahrheit, von Metaphysik, von Gut und Bös. Alle diese Dinge haben
denselben (gekennzeichneten) Ursprung, die Selbstsucht, den Nutzen, nicht
die objektive Wahrheit. Da nun die Wahrheit für den Philosophen höher
stehen muss, als eine vielleicht irrtümlich nur für nützlich gehaltene Ge-
wohnheit, so ergibt sich hieraus das Recht der Kritik, ja die Pflicht, den
Dingen neue, wahre W^erte zu geben.
Also „Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit; Frei.scheinlichkeit,
aber keine Freiheit" ^j. Dafür wird uns jeder dankbar sein, wenn wir ihm
klar machen, es gebe keine Wahrheit, sondern nur Wahrscheinhchkeit in
den verschiedensten Graden. Denn damit erhält der Mensch Freiheit im
Forschen, während er die Wahrheit wegen ihrer Bestimmtheit hassen muss'-*).
Wir sollen immer weiter streben und uns durch keinen Misserfolg wankend
machen lassen. Erreichen wir heute nichts, so bereiten wir doch unsere
Kräfte vor für morgen. Dann werden wir fortschreiten '^). So ist das
•) Raoul Richter, Friedrieh Nietzsche, sein Leben und sein Werk -,
Leipzig 1909, 162 ff.
2) III 441. - =*) III 363, 369. — ♦) IV 367.
«) III 409. — «) III 75. - ') IV 237.
8) IV 190. — ") IV 17. -- lö) IV 191, 171.
Friedrich Mietzsches Erkenntnistheorie. 465
Leben ihm jetzt ein Jagen nach Wahrheit. Wahrheit suchen, das ist des
Lebens höcliste und schönste Aufgabe geworden : Wahrheit um ihrer selbst
und nicht des Nutzens wegen, scheint es bisweilen zu lauten, wenn nicht
bald schon andere Sätze auf den Egoismus hinwiesen, der auch in diesem
Streben noch die Triebfeder sein soll.
Wir haben hier die Lehre Lessings vor uns. Aber wie jener, so zeigt
sich auch Nietzsche als schlechter Psychologe, während er doch seine
Lehre auf der Psychologie aufbauen will. Wo kein Erfolg winkt, da auch
keine Lust und Liebe zum Schaffen. Die Hoffnung, endlich trotz Mühe und
Beschwerde zum Ziele zu gelangen, muss bleiben. Sie ist die Nahrung, die
Kraft, die über die Misserfolge wegführt und zu immer neuem Beginnen
anspornt. Soll also das Streben nach Wahrheit Sinn haben, so muss sie
für uns erreichbar sein.
Von der Wahrheit führt uns der Gedankengang leicht zur Logik. Das
logische Denken setzt die Begriffe voraus. Die Begriffe verlangen die Worte.
Diese entsprechen nicht, wie wir schon sahen, den Dingen; also auch die
Logik nicht. Sie beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der Weit
entspricht '). Doch wir müssen mit den Begriffen arbeiten. „Wir sind
von vornherein unlogische Wesen und können dies erkennen : dies ist eine
der grössten Disharmonien des Daseins" 2). — Wie Nietzsche hiermit
seinem Skeptizismus ins Gesicht schlägt, merkt er nicht. Auf welche Tat-
sache gestützt, erkennen wir denn diese unsere unlogische Natur? — Doch
hat die Logik als Schule der Vernunft eine hohe Bedeutung. Sie lehrt
strenges Denken, vorsichtiges Urteilen, konsequentes Schliessen ^). Erst ein
geschulter Geist kann methodisch arbeiten. Hier redet er offenbar von
den exakten Wissenschaften mit ihrer Detailforschung. Allen Menschen ist
nur anzuraten, eine dieser Wissenschaften gut durchzuführen. Bald wird
man das an der ganzen Dai'stellung merken, mag der Autor noch so geist-
reich sein*). Erst durch diese Schulung lernt der Mensch schliessen, so-
dass das Wort Schopenhauers unwahr ist: „Zu schliessen sind alle, zu
urteilen wenige fähig" '•'). Anderenfalls könnten wir uns nicht die zahlreichen
Fehlschlüsse erklären. Ein Beispiel dafür bietet III 47, wo Nietzsche
eine Reihe der „gewöhnlichsten Urschlüsse des Menschen" aufzählt. „Diese
Erkenntnis verdanken wir nur der Methode, die sich im fortwährenden
Kampfe derartig verschärft hat, dass die Irrgänge früherer Methoden vor
jedermanns Blicken blossgelegt sind"^). Man sieht hier den Einfluss des
Positivismus. Nietzsche glaubt seinen Einwendungen gegen die alte Philo-
sophie, gegen das abstrakte Denken, gegen jede Metaphysik. Für solche
Sachen bietet ihm die Detailforschung keinen Anhaltspunkt. Nur zu sehr
passte diese Lehre in seinen Gesichtskreis, wie wir ihn bereits kennen
') III 25. - •') III 49. — ä) III 248.
*) III 410. — 6) III 252. — «) III 409.
46G Mauritius Deniuth.
lernten. Was die Naturwissenschaften zu Tage fördern, sind ihm nur
Bausteine, nur kleine Teile, die es für später möglich machen, das Gebäude
der Wahrheit aufzurichten; aber sie bieten nicht die Wahrheit. Besonders
viel hofft er da für seine Lehre von der Physiologie. Sie wird uns eines
Tages lehren, welches die Geschichte der Organismen und der Begriffe ist.
Sie wird uns lehren, dass das, was wir heute Welt nennen, das Werk
unserer Phantasie ist. In dem Masse, in dem wir uns entwickelt haben,
ist auch der Schatz derartiger Vorstellungen gewachsen. Darauf beruht
unser Vorzug. Das Ding an sich aber wird vielleicht nur ein homerisches
Gelächter wachrufen, weil es alles schien und bedeutungsleer war *). Mit
dem Fortschritt dieser Wissenschaft sinkt das Interesse an Metaphysik, die
allmählich verschwinden muss.
Auch hier hat Nietzsche sich noch einmal gründlich verrechnet. Denn
die Physiologie hat ihm nicht gehalten, was sie zu versprechen schien.
Niemals konnte sie uns ohne logische Schlussfolge sagen, alles sei nur
subjektiv. Zu einer solchen Behauptung bedürfen wir des Kausalitäts-
gesetzes. Zudem unterscheiden wir sehr gut zwischen rein subjektiven
Empfindungen und solchen, deren Ursache ausser uns liegt. Mag es manch-
mal schwer sein, hier die Grenze zu ziehen, so beweist das noch nicht,
dass es eine solche nicht gebe. Auch findet heule gerade in diesen Kreisen
eine Rückkehr zur Natur statt. Es sei nur an Külpe und seine Stellung
in dieser Frage auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in Königsberg erinnert 2). Haben wir aber die Natur wieder, dann stellen
sieh von selbst die Fragen nach deren Ursprung, ihrem Ziele und ihren
Gesetzen.
Als treuer Positivist oder besser noch englischer Sensualist ist
Nietzsche in dieser Zeit Anhänger der Entwicklungslehre. Die Natur
kennt keine Sprünge. Allmählich hat sich alles entwickelt. Wenn wir
nur zuschauen, finden wir schon die Mittelgheder =*). So hat auch der
Mensch allmählich die Ketten abgestreift, die ihn noch mit dem Tiere
verbanden*). Ihm scheint die Menschheit eine Entwicklungsphase einer
bestimmten Tierart von begrenzter Dauer. Aus dem Affen geworden, wird
er wieder zum Affen werden, wenn die Kultur ihn nicht hochhält^). Des-
halb hat die Kultur auch die Aufgabe, für die stetige Weiterentwicklung
zu sorgen 6). Dabei fällt dem Willen eine grosse Aufgabe zu, der sonst
in dieser Zeit völlig zurücktritt. Ihm müssen durch Erziehung würdige
Objekte dargeboten werden'). — Wie diese Lehre von der Erziehung mit
der des absoluten Fatums, der Leugnung der Freiheit möglich ist, dürfte
>) III 25, 33, 47 usw.
-') Oswald Külpe, Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft (Leipzig 1910).
«) IV 303. — "j IV 371. — 5) III 232. - «) III 436.
') Ueber die Aufgabe der Erziehung vgl. III 228.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 4C7
sehr schwer zu fassen sein. Mit der Lehre von der unbedingten Not-
wendigkeit einer jeden Handlung verliert die Erziehung alle Bedeutung.
In dieser Zeit des Positivismus kommt auch das Studium der Ge-
schichte wieder zur Geltung, das er früher so leidenschaftlich bekämpft
.hatte. Besonders die Philosophie will er historisch bearbeitet haben. Dann
wird sie uns zeigen, wie es keine Teleologie gibt, sondern nur Werden, wie
es keine absolute Wahrheit gibt, sondern nur Wahrheiten^). Das Resultat
wird sein : Der Mensch ist geworden und ebenso alles an ihm , auch das
Verstandesvermögen. Wie die äusseren Verhältnisse es erforderten, so
hat sich der Mensch entwickelt. Die einmal erlangten Fähigkeiten haben
sich dann vererbt, — Auch über diese Frage hat eine objektive Forschung
längst das Urteil gesprochen. Nietzsche hat mit seinen Prophezeiungen
kein Glück.
Der Vollständigkeit wegen möchte ich hier wieder auf die Frage nach
dem Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft zurückkommen. Nietzsche
selbst spricht öfter davon. FreiUch geht es ohne Wiederholung nicht ab.
Das Können ist ihm die Hauptaufgabe in der Wissenschaft, nicht das
Wissen. Durch Forschen werden die Kräfte geübt 2). Was uns zum Er-
kennen treibt, ist die Lust daran. Hier wird man sich seiner Kraft be-
wusst. Durch neue Errungenschaften glaubt man sich über andere erhoben^).
Ein interesseloses Erkennen gibt es nicht. „Für ein rein erkennendes
Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig" ^). Die Nützlichkeit der Wissen-
schaft gibt auch hier den Ausschlagt).
Den Uebergang von der Wissenschaft zur Metaphysik soll die Psycho-
logie bilden. Da fragt er sich, ob psychologische Studien der Welt mehr
Nutzen oder Schaden gebracht haben. Ob ja oder nein: sie sind not-
wendig. Denn sie lehren uns, dass die Wissenschaft keine Zwecke kennt.
Wohl bringt die Natur bisweilen Werke der grössten Zweckmässigkeit
hervor; aber ohne es gewollt zu haben. Aehnlich die Wissenschaft. Sie
fördert das Zweckmässige, ohne es beabsichtigt zu haben e). Die Wissen-
schaft kennt nur Einzeldinge, während die Philosophie weiter geht. Sie
fragt: Wozu? Dabei lässt sie sich von logischen Erwägungen treiben'').
Hier kommen wir wieder auf das Liebhngsgebiet unseres Autors, auf die
Frage nach dem Ursprünge der Metaphysik, des Glaubens an Gott und die
Seele. Diesmal wird das Traumleben stark in den Vordergrund gerückt.
Erst hat der Mensch diese Dinge geträumt und sie dann als Wahrheit
hingenommen«). Deshalb seine Mahnung, gute Nachbarn der nächsten
Dinge zu werden, und nicht in die Ewigkeit zu blicken 9). Aber genug
davon. Hören wir nur noch, welchen Inhalt er der Metaphysik zuschreibt:
') III 18. - -') III 239. — 3) in 236.
*) IV 55. — 5) IV 155. - «) III 62.
') III 32. — «J III 21. — »j IV 203.
4C8 Mauritius D e m u t b .
„Ein kleiner lieber HengoU, eine artige Uns'lerbüchkeit, vielleicht etwas
Spiritismus und jedenfalls ein ganzer, verschlungener Haufen von Arm-
sünder-Elend und Pharisäer-Hochmut" \). Das ist nicht sehr schmeichel-
haft für die Anhänger der Metaphysik. Doch werden diese sich auch
hierüber zu trösten wissen. Bei einem naclidenkenden Manne wird er mit
solchen Reden nicht viel erreichen.
Wollen wir nun ein Gresamtbild dieser Zeit geben, so dürfen wir wohl
gerade auf diese Periode die Worte Riehls anwenden, Nietzsche sei den
Zeitslrömungen gefolgt 2). So manches und so mancherlei finden wir hier
neben einander, dass wir wohl von einem Eklektizismus sprechen dürfen.
Aber auch die Nachteile dieser Philosophie fehlen nicht. Die einzelnen
Lehren stehen oft unvermittelt neben einander. Der Autor hat es nicht
verstanden, ein einigendes Band um sie zu schlingen. So übt oft genug
die eine Ansicht unbewusst Kritik an der andern. Nur in einem Punkte
bleibt er sich treu, in seinem Hass gegen die positive Moral, hnmer mehr
wächst dieser Ha.ss gegen das Christentum, um dann gegen Ende des
Lebens zum Fanatismus auszuarten.
C. Selbständigkeit.
Im Jahre 1880/81 erschien das Buch Morgenröte. Eine neue
Morgenröte sollte am Himmel Europas emporziehen und der Welt ein
neues Glück bringen. Die Lehre von der Freiheit des Geistes, vom Ueber-
menschen. Schnell folgten sich die Hauptwerke, die alle dieselbe Tendenz
haben: eine beissende Kritik der herrschenden Anschauungen. Im Anti-
christ steigert sich sein Ausdruck gegen die christliche Moral bis zum
rohen Fanatismus. Dies Buch hat sicher nicht zur Steigerung seines Ruhmes
beigetragen. Wenn wir auch von der Sache absehen wollten, so ist schon
der Ton schwer beleidigend. Er selbst hat am wenigsten seine Mahnung
erfüllt, mit Schonung von den früheren Gebräuchen zu reden. ^) In allen
Werken dieser Zeit kehrt immer derselbe Vorwurf wieder: das Christentum
erniedrigt den Menschen ; seine Moral ist eine Herdenmoral. Die Spezies
„Mensch" kann unter ihm nicht zu ihrer höchsten Entfaltung kommen.
An Stelle der christlichen Moral soll eine Sittenlehre treten, die sich der
„Freigeist" — frei von allem Herkommen, von jedem Herdeninstinkt —
selbst macht. Der Mensch muss sich das Mass aller Werke sein. Jeder
nmss sie sich demnach selbst bestimmen.*) Das ist eine notwendige
Konsequenz, aus der Lehre, jede Autorität sei aufgehoben. So spricht er
sich im Zarathustra dagegen aus, selbst Schule machen zu wollen ^).
Wenig Positives bietet er. Einige Andeutungen von Pflichtgefühl des
Uebermenschen, einige sonstige gelegentliche Bemerkungen über andere
Tugenden, das ist so ziemlich seine ganze Morallehre. Soviel ist sicher,
') IV 19. — ^) A. a. 0. 156 IT.
^) 111 102. — *) VII 92. — 5) VII 114.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 469
die landläufigen Begriffe von gut und bös müssen fallen, nriüssen umge-
wertet werden, wie sie ursprünglich auch eine andere Bedeutung hatten.
Stark und schwach, das ist ihm der Unterschied. Was dem Leben dient,
was die Spezies „Mensch" fördert, das ist gut. Der Wille zum Leben,
zum mächtigen Leben, zum Herrschen, das ist Streben nach dem Ueber-
menschen, alles dies ist ein Zeichen der Kraft, ist gut. Anfangs verstand
wohl Nietzsche dies Streben nach dem Uebermenschen von einem Fort-
schritt in der Art, von einer wirklich physischen Erhebung einzelner Exem-
plare über die menschhche Spezies hinaus. Später jedoch sah er diese
Unmöglichkeit ein und nahm den Ausdruck ideal. Dass sich nun auf so
verschwommenen und dehnbaren Lehren kein Moralgebäude aufrichten
lässt, ist klar. Und welcher noch so eifrige Nietzscheverehrer würde
seinem Meister zustimmen in seinen Ansichten über die Behandlung der
alten Leute, über die Pflicht der Aerzte gegen manche Kranke, über die
Ehe und die Keuschheit, den Selb.stmord, über Staat und Vaterland, über
die Kindererziehung und die Würde und die Behandlung der FrauV ^) Diese
Lehren führen wahrlich nicht zum Uebermenschen. Nicht das Christentum
ist da eine Erniedrigung des Menschengeschlechtes. Doch dürfen wir aus
diesen Bemerkungen nicht auf ein unmoralisches Leben schliessen wollen.
Dafür haben wir keine Anhaltspunkte. Leben und Lehre decken sich bei
ihm nicht. Wir müssen sogar zugeben, dass er nicht ein sittenloses,
lockeres Leben predigen wollte. Gegen eine solche Erklärung verwahrt
er sich ausdrücklich, und wir müssen ihm darin glauben. Nur die Folgen
seiner Lehre hat er wohl kaum erfasst. Auch der Anhänger Nietzsches
braucht nicht notwendig unmoralisch nach unserem Begriffe zu sein. Er
muss ja selbst den Wert aller Dinge bestimmen oder, wie Nietzsche mit
Vorliebe sagt, schaffen. Ist der Mensch da edel, so wird auch sein Leben
das wiederspiegeln. Im andern Falle ist es eben anders. Das ist die
fatale Konsequenz bei ihm, und nicht alle „Philosophen" dürften in diesem
Punkte denken wie er und sich für ein mehr lockeres Leben entscheiden.
Gegen eine solche Behauptung mögen sich seine Freunde wehren, aber
vergebens. Mit Phrasen kommt man doch nicht gegen die einfach.sten
Schlussfolgerungen an, wenn man auch jeden Wert der Logik leugnen will.
Diese Bemerkungen allgemeinen Charakters dienen dazu, ein Bild von
der Geistesrichtung des Autors zu geben. So werden sie indirekt uns auch
zu einem besseren Verständnisse der übrigen Anschauungen verhelfen. Die
Morallehre und Philosophie müssen einander beeinflussen. In der folgenden
Darstellung wollen war uns hauptsächlich an die Ausführungen Nietzsches
halten, die wir im Willen zur Macht finden. Hier lässt er seine philo-
sophische Theorie vor unseren Augen entstehen, so wie er sich deren
Wert und Entwicklung denkt 2).
1) m 88 ; 91 , 315 usw. — ') IX 359 ff.
Philosophisches Jahrbuch 191.S. 30
470 Mauritius Demuth.
Beginnen wir mit einem Wort über die Methode, wie es Nietzsche
selbst tut ^). Schon früher einmal hat er diese Frage gestreift '^). Von
einer Methode können wir nach ihm nicht sprechen. Wir müssen uns
den mannigfachen Dingen anbequemen, bald so, bald anders verfahren, bis
wir am erwünschten Ziele angelangt sind. Dies Sich - Anpassen bringt
Schulung, jenen Vorzug, der der Neuzeit ihr Uebergewicht gegeben. Unter
die grossen^Methodiker müssen wir die Männer zählen, die der Philosophie
ihr eignes Gepräge aufgedrückt : Aristoteles, Bacon, Descartes, Comte.
Im ganzen hat er hier sein Urteil aus der zweiten Periode festgehalten.
Auch jetzt noch steht ihm die Methode über der Wissenschaft. Durch sie
nahm man allmählich die Probleme ernst; man dachte nicht mehr daran,
ob persönlich bei der Forschung etwas herauskomme. Doch später unter-
scheidet Nietzsche zwischen Methode und Systematik. Gegen letztere hat
er grosses Misstrauen und wirft ihr Mangel an Rechtschaffenheit vor ^).
Zu diesen Systematikern werden wir wohl Aristoteles und Descartes
zählen müssen, die somit des früheren Lobes verlustig gehen.
Noch unter dem Einflüsse des Positivismus stehend, macht Nietzsche
sich hier bei seiner Verachtung der Wissenschaft eines grossen Fehlers
schuldig. Die Methode kann und darf nur Mittel zum Zwecke, nicht Endzweck
sein. Es muss etwas geben, was durch sie erreicht werden soll, mag es
sich nun nennen wie es will, ob Wahrheit, ob Glauben, ob Irrtum. Erst
dadurch erlangt die Methode selbst Wert. Gewiss ; auch der Methode
wegen kann ich arbeiten. Aber dann rückt die Methode als solche aus
ihrem Gebiete hinaus ; sie wird Gegenstand der Wissenschaft. Damit ver-
liert sie ihren eigenen Charakter, der ihr speziell als Methode zukommt.
Für Nietzsche ist es anders. Ihm ist es nicht die Liebe zur Wahrheit,
zum Erkennen, die zur Vervollkommnung der Methode treibt. Der Mensch
will Macht haben. Durch eine bessere Methode ist er seinem Nachbar
überlegen. Und in diesem Streben liegt die Quelle des neuen Forschens
und Ringens*). Alles ist beherrscht vom Streben nach Macht, der eigent-
lichen Metaphysik Nietzsches.
„Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt" betitelt sich
ein zweiter Abschnitt bei unserm Autor ^). Bei der Wissenschaft gehen
alle vom Bewus.stsein aus. Wir berufen uns auf Bewusstseinstatsachen.
Wo klares Bewusstsein, da klare Erkenntnis. Doch das ist ein Irrtum.
Mit der Klarheit verliert die Wissenschaft ihren Reiz. Nicht die Vernunft
darf Recht bekommen. Vielmehr muss das Rätselhafte bleiben. Denn
nur dann ist eine Erkenntnistheorie möglich, wenn eine wahre Kritik mög-
lich ist. Aber die Fähigkeit einer objektiven Kritik fehlt uns. Als Kritiker
kann nur der Intellekt in Frage kommen. Doch jeder Intellekt steht für
sich allein, kann nicht mit den andern verglichen werden, die wohl anders
»)" rsTasG ff. — ^i v 298.
3) X 240. — *) IX 345. — ») IX 360 ff.
i^riedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 47 1
geartet sind. Somit fällt die Grundlage für eine objektive Kritik. Diese
wäre nur möglich mit der Voraussetzung einer absoluten Erkenntnis. Die
absolute Erkenntnis setzt ein Absolutes, ein „Ding an sich" voraus. Aber
alles, was wir erkennen, ist physiologischen Ursprunges. Damit fällt die
Berechtigung, vom „Ding an sich" zu reden, und damit die Möglichkeit
einer absoluten Erkenntnis. Somit ist eine Erkenntnistheorie nicht möglich.
Die meisten stützen sich auf das Bewusstsein in dieser Frage. Doch
spielt hierbei die Wahrheit keine Rolle. Als Mass für das Bewusstwerden
dient die „grobe Nützlichkeit des Bewusstwerdens". Daraus aber einen
Schluss ziehen wollen auf den Unterschied von Subjekt und Objekt, wie
er zur Wahrheit nötig ist, wäre verfehlt. Das ist der grosse Fehler der
modernen Philosophie: sie redet von Bewusstseinstatsachen wie von Dingen
an sich und vergisst dabei völlig, dass es sich auch hier nur um Phäno-
menalismus handeln kann. Auch unsere innere Welt ist nur eine Er-
scheinungswelt. Wir haben alles zurecht gemacht. Die Kausalverbindung
zwischen den einzelnen Bewusstseinstatsachen ist uns gänzlich unbekannt,
vielleicht nur reine Einbildung. Mithin fällt jeder Unterschied zwischen
der inneren und äusseren Welt. Wir dürfen nicht von Tatsachen sprechen.
Selbst Lust und Unlust sind nur späte abgeleitete Begriffe. Mit demselben
Rechte also, mit dem der Idealismus die Erkennbarkeit der Aussenwelt
leugnet, müssen wir jede objektive Erkenntnis leugnen. Denn hier wie
dort finden wir nur Phänomene, nur Schein.
Die Logik nimmt zwischen den Gedanken ein unmittelbares Band,
eine UrsächHchkeit an. Doch dies Verhalten stützt sich nur auf plumpe
Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken mögen noch alle möglichen Effekte
mitspielen, deren Dasein wir völlig verkennen und deshalb leugnen. So
müssen wir also sagen: Denken im Sinne der Erkenntnistheorie gibt es
nicht. Man hat nur ein Element eines sehr komplizierten Vorganges zum
Zwecke der Vereinfachung herausgehoben. Noch weniger gibt es einen
Geist, der denkt. Auch dessen Annahme ist die Folge falscher Beobachtung.
Denn bei eben dieser Beobachtung denken wir schon, setzen voraus, was
gar nicht vorkommt : das Denken. Beim Denken sind „sowohl das Tun
als der Täter fingiert."
Damit haben wir einen vollen Phänomenalismus, wie er sich reiner
wohl nicht geben lässt. Wir glauben, dass die Gedanken in kausalem Zu-
sammenhang stehen und bilden die Logik. Wir glauben, dass Lust und
Schmerz Anlass zu Reaktionen sind, und haben bereits deren Wirkungen
vor uns. Alles Nacheinander im Bewusstsein ist für uns völlig atomistisch.
Wir haben nur die Gewohnheit, bei diesen Vorgängen eine Ursache zu
suchen. Zuerst tritt das Ding ins Bewusstsein. Eine Rolle spielt dabei das
Gedächtnis, das die alten Interpretationen aufbewahrt. Auf diesem Irrtum
der Interpretation unserer Nervenreize beruht die Fiktion unserer Bewusst-
seinstatsachen und auf diesen die der Aussenwelt. So kann Nietzsche
30*
472 Mauritius Demuth.
dann sagen: ..Es gibt weder ^Geist*, noch Vernunft, noch Denken, noch
Bewusstsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit; alles Fiktionen, die
unbrauchbar sind . . . Die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht.
So liegt es auf der Hand, dass sie wächst mit jedem Mehr an Macht" ^).
Das ist ein vollständig biologischer Begriff der Erkenntnistheorie, auf den
wir später zurückkommen müssen. — Als Fundament der Ei'kenntnis-
theorie muss Nietzsche eine sehr schwankende Auffassung von Wahrheit
und Erkennen dienen. Besser noch sagen wir: es gibt solelies nicht. Er-
kennen im landläufigen Sinne ist Einbildung.
Nach dieser allgemeinen Orientierung wendet sich Nietzsche einzelnen
Fragen zu, die auch wir zum Teil behandeln müssen. An erster Stelle
steht da die Untersuchung über den Glauben an das Ich, das Subjekt. Mit
dieser Lehre steht und fällt die andere von der Bedeutung der Bewusst-
seinstatsachen. Ohne ein Ich, ohne ein Subjekt kein Bewusstsein und
mithin keine Wissenschaft.
a) Der Glaube an das Ich. Die Substanz^).
Gegen das Glaubensbekenntnis des Positivismus : es gibt nur Tatsachen,
müssen wir sagen, es gibt nur Interpretationen. Eine „Tatsache an sich"
lässt sich nicht feststellen. Das muss auch auf das Ich, das Subjekt aus-
gedehnt werden. Nach Kant muss eine Kategorie „Substanz" da sein.
Er will eine ewige, notwendige Wissenschaft haben, die ohne Substanz
nicht möglich ist. Die englische Philosophie dagegen lehnte diesen Be-
griff ab, und Nietzsche schliesst sich ihr an, wenn er auch früher be-
hauptet hatte, die Engländer seien keine Philosophen. Das Subjekt ist
nichts Gegebenes. Es ist etwas, was wir hinter die Handlung gestellt, was
wir hinzugedichtet haben. Wir müssen etwas einsetzen. Das verlangt
unsere Erkenntnis. Deshalb sagen wir: ich denke, ich leide. Aber
das sind keine Wahrheiten. Durch das Denken erst entsteht das Ich, das
Subjekt. Mag diese Fiktion für uns Lebensbedingung sein: Wahrheit ist
sie nicht. Auch die Lö.sung des Descartes: „es wird gedacht, folglich gibt
es etwas Denkendes", kann nicht über die Schwierigkeit hinweghelfen.
Das setzt schon voraus, dass es etwas „an sich" gebe, nämlich das
Denken. Doch hat auch dies nur scheinbare Realität. So ist mit dem
Ich-Begriffe nicht viel anzufangen. Notwendig haben wir ihn zwar. Ohne
ihn ist ein wissenschaftliches Gebäude, ja selbst das Leben nicht denkbar.
Aber das beweist alles nichts. Keine Tatsache sagt uns, da.ss wir etwas
mehr als Schein haben.
Wie denkt sich denn N i e t z s c h e das Ich? Auch darübergibt er uns
Aufschluss. Wir müssen hier vom Leibe ausgehen, von der Physiologie.
Nicht eine Einheit haben wir. Viele Strömungen sind da, viele Kräfte,
die sich gegenseitig bekämpfen, die gleichberechtigt neben einander stehen.
1) IX mi. — =0 IX 367 ff. — VIII 223.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 473
Die stärkere wird siegen, gleichgerichtele werden sich zu etwas Neuem
verbinden. So entsteht eine Harmonie, eine Lebenskraft, eine Subjekts-
Einheit, die mit einem Regenten verglichen werden darf, wenn er sich
nicht wesentlich über die andern erhebt. Neue Einheiten entstehen, andere
vergehen. Dadurch bekommen wir die gegenseitige Begrenzung der einzelnen
Triebe, dadurch die Ordnung. Somit sind Beherrscher und Untertan der-
selben Art ^) .
Aus dem Ich bildete sich der Substanzbegriff und nicht umgekehrt.
Denn lassen wir das Ich, die Seele fallen, wo bliebe für uns noch die
Substanz? Um sagen zu können, es gebe Sein, es gebe Erkenntnis oder
Gewissheit, müssten wir doch einmal wissen, was Sein selbst ist. „Unser
Grad von Lebens- und Machtgefühl (Logik und Zusammenhang des Er-
lebten) gibt uns das Mass von „Sein", „Realität", „Nicht-Schein". 2) Sub-
jekt bezeichnet den Glauben an eine Einheit unter den verschiedenen
Momenten des Realitätsgefühls, Den Glauben an diese Einheit machen
wir zur Wirkung einer Ursache. Somit können wir mit Nietzsche das
Subjekt definieren: „es ist die Fiktion, als ob viele g 1 e i c h e Zustände an
uns die Wirkung eines Substrates wären; aber wir haben erst die >> Gleich-
heit« dieser Zustände geschaffen . . ."3) Eine klare Definition ent-
halten auch die Worte: „Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen,
synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild"*).
Nietzsche bricht also alle Brücken ab, die als Ausgangspunkt für
eine wahre Erkenntnis dienen können. Unbewiesen darf er das nicht. Deshalb
versucht er, eine psychologische Erklärung für seine Anschauung zu geben,
die aber weiter nichts ist als müssige Kombination. Wir haben den
Glauben an die Vernunft und ohne ihn geht es nicht. Die logisch meta-
physischen Postulate: Substanz, Akzidenz, Attribute haben ihre Kraft aus
der Gewohnheit geschöpft, all unser Tun sei Folge des Willens. In uns
gibt es eine befehlende Kraft, die bleibt, während die einzelnen Hand-
lungen vorübergehend, also Akzidenzien sind. Doch hier waltet ein Irrtum
ob. Einen freien Willen gibt es nicht. Also muss auch der Glaube fallen.
Durch Ableitung aus der Sinneswahrnehmung haben wir die Kategorien
gefunden. An sich gibt es keine Kategorien, um eine „Welt an sich" von
einer „Welt als Erscheinung" trennen zu können. Mögen wir von Einheit
träumen, was wir wollen: „Wir haben immer nur einen Anschein von
Einheit" 5).
Wie früher schon einmal angedeutet wurde, scheint Nietzsche sich
hier in allerdings sehr übertriebener Weise gegen den Substanzbegriff zu
wenden, wie er in der deutschen Philosophie Mode war. Sie wollte viel-
fach nur eine ewige, unveränderliche Substanz anerkennen. Diese hat
Nietzsche mit Recht abgelehnt. Den scholastischen Substanzbegriff wird
' 1) IX 373. — ■') IX 370. — 3) Ebenda. — *) IX 409.
") IX 373; IX 409.
474 Mauritius Demuth.
er wohl nicht gekannt haben. Denn davon spricht er nicht. Aber er
betont den Wechsel, das Werden so stark, dass wir eine volle Anlehnung
an den Assoziationismus erhalten. Hier zeigt sich noch stark der Einfluss
der englischen Philosophie auf ihn. Bei seiner radikalen Leugnung jeden
Seins ist eine Kritik nicht möglich, aber auch nicht notwendig. Seine
Lehre richtet sich selbst.
b) Kausalität.
Aehnlich wie Nietzsche sich völlig ablehnend gegen den Ich-Begriff
verhält, so auch gegen jede Ursächlichkeit. Wir wissen bereits, wie
Schopenhauer darin anderer Meinung war. Auch hier folgt Nietzsche
wieder den Engländern, die nur ein post hoc, kein propter hoc zulassen
wollten. Es sei nur an D. Hume und St. Mill erinnert. Aber woher
stammt denn die allgemeine Annahme der Ursächlichkeit? In unserer
Seele folgt sich mit Regelmässigkeit so manche Erscheinung. Jedesmal,
wenn das eine kommt, folgt bestimmt auch das andere. Das nennen wir
Ursache und Wirkung. Doch mit Unrecht. Wir haben nur die Bilder
gesehen, und diese sagen uns nichts über die wesentHche Verbindung, die
die Aufeinanderfolge nach sich zieht '). Wir haben immer nur Beschreibung,
keine Erklärung. Wir glauben, heute weiter zu sein in der Naturerkenntnis
als unsere Vorfahren. Wir haben aber nur mehr Nacheinander aufgedeckt.
Begriffen haben auch wir nichts. Denn wir arbeiten mit lauter Dingen,
die es nicht gibt. Alles müssen wir zuerst gewissermassen vermensch-
lichen, um es verstehen zu können. Ursache und Wirkung setzen eine
Mehrheit voraus; in Wahrheit steht ein Gontinuum vor uns, von dem wir
einige Stücke isolieren-).
Der tiefste Grund unseres Glaubens an Ursache und Wirkung hegt in
der falschen Auffassung unserer Willenstätigkeit. Wer nicht tiefer nach-
denkt, fasst den Willen als das allein Wirkende auf. Wollen ist ihm etwas
Einfaches, schlechthin Gegebenes. Der Wille befiehlt und die Organe
folgen. Da haben wir das Schema für Ursache und Wirkung. Ursprünglich
ging der Mensch so weit, dass er überall, wo ein Geschehen war, er einen
Willen als dessen Ursache voraussetzte. So durfte man sagen: „Wo ge-
wirkt wird, da ist gewollt worden" 3). Man hat hierbei übersehen, dass
es sich nur um eine Interpretation des Intellektes handelt. Wie wir den
Substanzbegriff aus dem Subjekte, dem Ich ableiten mussten, so auch die
Kategorie Ursache. Wir haben und spüren in uns ein Gefühl von Kraft,
das aber schon der Beginn der Handlung ist. In falscher Erfassung der
Wirklichkeit machen wir es zur Ursache derselben.
Eine richtige Erklärung wird die causa efficiens mit der causa finahs
gleichsetzen. Wir suchten, um Verständnis von dem Geschehen zu er-
langen, nach einem Subjekte, das wir dafür verantwortlich machen durften.
1) V 124. — 2) VI 179, — 3) VI 191.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 475
Eine Wirkung ist für uns erklärt, wenn wir einen Zustand auffinden, dem
sie inhäriert. Nach der Wirkung bestimmen wir die Ursache und nicht
umgekehrt. So müssen wir sagen : aus der Wirkung interpretieren wir die
Ursache in die Handkmg hinein *). Was daher dem Glauben an die Ur-
sache solche Festigkeit gibt, ist nicht das Hintereinander der Dinge, sondern
der Zwang, alles Geschehen als ein Geschehen aus Absichten zu erklären.
„Es ist der Glaube an das Lebendige und Denkende als an das einzig
Wirkende — an den Willen, die Absicht" — ; es ist der Glaube, dass
alles Geschehen ein Tun sei, dass alles Tun einen Täter voraussetze ; es
ist der Glaube an das „Subjekt". Sollte dieser Glaube an den Subjekt-
und Prädikat-Begriff nicht eine grosse Dummheit sein?" 2)
Sollen wir Ursache und Wirkung denn aus unserem Sprachschatze
tilgen '? Durchaus nicht. Man soll sich ihrer als reiner Begriffe als kon-
ventioneller Fiktionen zum Zeichen der Verständigung und nicht der Er-
klärung bedienen. Im „Ansich" der Dinge gibt es keinen Kausalzusammen-
hang, keine Notwendigkeit, keine Folge von Ursache und Wirkung, kein
Gesetz. Was da herrscht, ist der starke und schwache Wille. Doch für
die Wissenschaft, für das gegenseitige Verständnis ist die Ursache not-
wendig. Sie trägt zur Vereinfachung bei. Ohne ihre Annahme keine
Wissenschaft. Aber auf das Gebiet muss sie auch beschränkt bleiben. Sie
auf das Reich der Dinge ausdehnen wollen, geht nicht, weil es keine Dinge
gibt. Der Wille zur Macht, zum Leben, der alles beherrscht, bringt auch
alles hervor. — Doch da stellt sich uns die Frage : wie handelt dieser
Wille? Haben wir auch hier nur Einbildung, Fiktionen, oder ein wirkliches
Handeln? Wenn die starken Triebe über die schwachen siegen, ist da
keine Gesetzmässigkeit, kein kausaler Zusammenhang ? So bietet die Meta-
physik Nietzsches, mit der er die alte glaubt vernichten zu können, seiner
Theorie die grössten Schwierigkeiten. Verleitet ist er auch hier zu seinen
extremen Ansichten durch die Bedeutung, die er der Physiologie beimisst.
Wenn wir bedenken, wie in seinen Tagen so mancher von dieser Wissen-
schaft die Rettung der Welt erwartete, können wir uns leichter in die
Gesinnung Nietzsches hineindenken.
Im Anschluss an die Kausalität möge eine Bemerkung über die Zweck-
strebigkeit in der Natur Platz finden. Die mechanistische Erklärung er-
scheint auf den ersten Blick die einfachste zu sein. Doch kann sie nichts
erklären, selbst Druck und Stoss nicht. Die Kraft ist da und verlangt eine
vollgültige Erklärung. Hat aber jemals ein Physiker die Kraft konstatiert?
Eine Kraft, die wir uns nicht vorstellen können, ist ein leeres Wort, mit
dem wir nichts anfangen können*). Aehnlich ist es mit den andern Be-
griffen, mit denen die Physik arbeitet: Stoff, Atom, Druck und Stoss.
Alles das sind nicht Tatsachen, sondern Fiktionen. Wir müssen uns daher
0 IX 4U8. — ■') IX 407. — ^) Vlll 32 ff. — ") IX 459 ff.
476 Mauritius Demulh.
hüten, von Gesetzmässigkeit in der Natur zu reden. Selbst in der Clieniie
geht das nicht. Einzelne Tatsachen, ja ! Aber Gesetze nicht ; sie sind ein
metaphysischer Rest '). Sodann der Begriff Bewegung. Er ist einfach ein
Bild des Wirkens, eine Üebersetzung „in die Zeichensprache von Auge und
Getast"2). Leider können wir die Ausdrucksweise nicht ändern, sondern
nur erklären, inwieweit es blosse Semiotik ist.
Somit können wir nicht von Teleologie sprechen, da es keine Gesetze
gibt. Die Wissenschaft, die auf solchen Voraussetzungen ruht, kann nicht
wahr sein. W^oUen wir wirklich etwas unter den Händen haben, so müssen
wir die Begriffe: Macht, Kraft ergänzen zum „Willen zur Macht". Es
muss den Dingen ein innerer Wille zugesprochen werden, ein unersättliches
Verlangen nach Bezeigung von Macht. Beim Tiere können wir alle Triebe
aus diesem Willen zur Macht ableiten. Ebenso stammen alle Funktionen
des organischen Lebens aus dieser einen Quelle 3). Nicht Einsicht, nicht
ein vorüberlegter Plan führt die Handlungen herbei. So hat der Zufall
einmal den Apparat des Auges geschaffen. Ein solches Beispiel, meint
Nietzsche, und keiner mehr wird vom Zwecke sprechen. Auch die Ver-
nunft ist auf unvernünftige Art, durch Zufall entstanden. Diesen Zufall
wird man wie ein Rätsel erraten müssen*).
Aber auch hier wieder: wir haben Einheiten nötig, ohne die die Physik
unmöglich ist. Das Nacheinander verbinden wir als Ursache und Wirkung.
Dadurch entsteht eine grosse Vereinfachung. Wir können unter einem
Bilde eine ganze Reihe von Vorgängen zusammenfassen. Der Gedanke an
das eine ruft uns die Erinnernng an das andere wach. Ohne diese Ver-
knüpfung ist das wissenschaftliche Arbeiten unmöglich. Gehen wir aber
aus dem Reiche der Logik in das der wirklichen Welt, so hören alle Ge-
setze auf. Die grösste Kraft setzt sich da jedesmal durch. Wo die grösste
Kraftmenge ist, da ist der Erfolgt). Das gilt überall, auch für den freien
Willen, der damit aufhört, frei zu sein.
Auf eine nähere Würdigung der Lehre Nietzsches über die zweite
Hauptkategorie brauchen wir nicht näher einzugehen. Nietzsche will seine
Lehre auf der Psychologie aufbauen. R. Eisler hat es deshalb unter-
nommen, von eben diesem Standpunkte aus die Lehre einer Kritik zu
unterwerfen, die Nietzsche des Irrtums überführt. Nietzsche hat nicht
unterschieden, dass wohl das Wachrufen des Verknüpfungstriebes an die
Erfahrung gebunden ist, der Trieb selbst dagegen dieser vorhergeht. Von
diesem Punkte aus übt Eisler erfolgreiche Kritik 6).
c. Raum und Zeit.
Auf die andern Kategorien, besonders Raum und Zeit, brauchen wir
nicht mehr näher einzugehen. Gegen Kant hebt Nietzsche hervor,
~ M^lxlei. — 0 IX 462. — ») IX 4(>0. - *) V 125. — ") IX 468 ff.
«) Kr. R. Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, Leipzig
1902, 62 ff.
(
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 477
man dürfe die Kategorien nicht vom aprioristischen Standpunkte aus
bestimmen, sondern müsse von der Erfahrung ausgehen '). Alle Kategorien,
auch Raum und Zeit, sind völlig subjektiv. Das steht ihm fest. Hier
wird nicht der Verstand das letzte Wort sprechen, sondern die Psycho-
logie und Physiologie. Diese Wissenschaften müssen dartun, wie der
Mensch allmählich sich entwickelt hat, Verstand und Wille nicht aus-
genommen. So wird sich ergeben, wie alles mehr oder weniger den
aktuellen Bedürfnissen seinen Ursprung verdankt, sich fortpflanzte, und,
soweit es arterhaltend war, auch erhielt. Diese beiden Wissenschaften
werden alles erklären. Auch die Begriffe Raum und Zeit, sowie die übrigen
Kategorien sind nichts als das Resultat einer fortgeschrittenen Entwicklung.
Hier tritt uns Nietzsche als reiner Materiahst entgegen. Jedes Nicht-
Materielle ist ängstlich ausgeschlossen. Geist und Seele gibt es nicht.
Aber wie er bei seinem absoluten Subjektivismus die Vererbung erklären
will, bleibt wohl ein Rätsel.
d. Biologie des Erkenntnistriebes.
Wir haben wiederholt die Frage gestreift, wie Wahrheit ein bio-
logischer Begriff ist. Darin liegt wohl die Hauptbedeutung der Philosophie
Nietzsches, dass er sich hierin klar ausgesprochen hat. Somit ist
es für uns notwendig, ihm gerade in dieser Frage näher zu folgen
und zu sehen , wie er sich die Entstehung des Erkenntnisapparates
und Erkenntnisvorganges denkt. Wenn wir die eine Lehre festhalten,
alles ist dem Willen zur Macht unterworfen, alles hat nur biologisches
Interesse , so werden uns die oft recht eigenen Anschauungen nicht
weiter mehr in Erstaunen setzen. Auch bei andern Männern seiner
Zeit machen sich solche Strömungen geltend , mögen sie nun als Oeko-
nomie des Denkens oder sonstwie bezeichnet sein. Besonders fällt bei
Nietzsche auf, wie er immer wieder die Vererbung betont und zu-
gleich sich dagegen verwahrt, ein Anhänger Darwins zu sein. Trotz-
dem zeigt alles, was er sich über die Entstehung von Verstand, Bewusst-
sein und den Sinnes-Fakultäten denkt, eine derartige Beeinflussung. So
meint er, es sei gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften
seiner Vorfahren besitze, Bildung könne dies wohl in etwa verdecken,
ausrotten aber nicht 2). Und auf die Frage, weshalb der grosse Mensch
geworden, meint er, Vererbung sei ein falscher Begriff dafür. Er ist so
gros.':, weil er seine Vorfahren so viel gekostet hat 3), was doch im Grunde
auf Vererbung hinausläuft. Auch sein Uebermensch der ersten Jahre kann
nur dann auf Verwirklichung rechnen, wenn es in der Art eine Fort-
entwicklung gibt. „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!
Dazu helfe dir der Garten der Ehe", spricht Zarath ustra*). Doch wenden
wir uns der Denkfakultät zu. Einleitend sei bemerkt, dass Nietzsche
') Vni 20. - 2) VIII 251. — ') X 173. — *) VII 102.
478 Mauritius Demuth.
einmal sagte, Beweise dürfe man von ihm nicht verlangen'). Das gilt
besonders in diesem Kapitel. Was er uns sagt, mag noch so schön aus-
gedacht sein, mag noch so sehr den Anschein einer psychologischen und
physiologischen Erklärung an sich tragen, über Kombinationen kommt er,
abf^esehen von einigen treffenden Bemerkungen, nicht hinaus. Wer mit
ihm annehmen will, der Mensch sei nur ein Tier, das von der Not oder
dem Bedürfnisse zum Selbstbewusstsein, zum Gebrauche des Verstandes
geführt worden, mag es tun. Doch dann bleibt es ungeklärt, wie eben
dies Selbstbewusstsein, wie der Verstand den Menschen belügen kann.
Einmal musste der Mensch sich so entwickeln. Eine Täuschung war un-
möglich, weil der Mensch — noch ein Tier — nicht dachte. Nur unter
dem realen Einfluss der Aussendinge konnten die Organe sich so gestalten.
Und eben diese Organe sollen sich jetzt darüber täuschen! Diese Punkte
stehen im Systeme Nietzsches diametral gegenüber. Entweder sind die
Organe den Faktoren angepasst, denen sie ihre Entstehung verdanken,
oder sie haben einen ganz andern Ursprung, wobei als Drittes nicht aus-
geschlossen ist, dass sie einen andern Ursprung haben und doch den
Aussendingen angepasst sind. Auf eine Entwicklung von innen heraus,
wie er sie später will, kommen wir noch zu sprechen. Wenigstens scheint
unsere Vernunft keine andere Möglichkeit zu haben.
Wie nun denkt sich Nietzsche das Werden des Verstandes oder
besser dasW^erden der Logik, des Resultates der Verstandesarbeit -j V Wie alle
andern Organe, so hat sich der Intellekt aus der Not gebildet. Er ist
eine Folge von Existenzbedingungen. Er ist gerade so geartet, wie wir ihn
besitzen, weil wir unter andern Bedingungen wohl nicht hätten leben
können 3). Ursprünglich ist unser Erkenntnisapparat nicht auf Erkenntnis
eingerichtet gewesen, vielmehr musste er uns notwendig in Irrtum führen.
Der Wert für das Leben entschied, und Wahrheit ist nichts anderes als die
Art von Irrtum, ohne den eine bestimmte Klasse von Lebewesen nicht
existieren kann. Weiter reichte unser Erkennen nicht. Das lehrt uns die
Morphologie der Sinne, der Nerven und des Gehirns. Alle „Wahrheiten
a priori" können deshalb nur als „Annahme bis auf weiteres" gelten , so
lange, als nicht deren Festhalten das Menschengeschlecht vernichten würde.
Ungeheure Zeitstrecken musste in diesem Kampfe der Intellekt durch-
laufen. Der eine kämpfte für sich, der andere ererbte die Fähigkeiten.
Erst später traten Leugner und Zweifler auf, erst spät deshalb die Wahr-
heit, die unkräftigste Form der Erkenntnis. Weil man diese Vernunft
nötig hatte zum Leben, verschloss man sich der Wahrheit. Es war ein
Kampf der Triebe, in dem die lebenerhaltenden siegten. Zu diesen zählt
») VII 186.
^) Soweit diese Frage im ersten Teile behandelt ist, soll sie hier möglichst
übergangen werden.
3) IX 375 ff.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 479
auch die Wahrheit. Die Erkenntnis wurde so zu einem Stück Leben, bis
sie mit den uralten Irrtümern zusammenstiess. Jetzt stossen beide : Er-
kenntnis und Irrtum, als Macht, als Leben auf einander. Es entsteht der
Denker. In ihm kämpft der Wahrheitstrieb mit dem lebenerhaltenden
Trieb des Irrtums, weil auch der Trieb zur Wahrheit sich inzwischen als
lebensfördernd erwiesen ^).
Denken im ersten Stadium (vororganisch) ist Gestaltendurchsetzen,
ähnlich wie bei der Krystallisierung. Das neue Material muss unbedingt
dem alten eingeordnet werden, wie auch die Zelle die Fremdkörper sich
assimiliert. Vom Gleichmachen kommen wir zum Gleichsetzen, das als
Grundlage das Vergleichen hat. Als dritte Stufe tritt die Erinnerung auf,
bei der der gleichmachende Trieb bereits gebändigt ist. Erinnern ist gleich
einrubrizieren, einschachteln. Für diese Tätigkeit ist uns die Ursache
unbekannt. Deshalb nahm man die Seele an. Fassen wir alles zusammen
so sind die Erkenntnisorgane nur ein Abstraktions- und Simplifikations-
apparat, durch den wir uns der Dinge bemächtigen wollen. Zuerst müssen
wir die Bilder im Geiste haben; dann bilden sich die Worte und aus
diesen die Begriffe. Beim Worte entsteht nämlich eine kleine Emotion,
die bei verschiedenen nur wenig abweichenden gleich zu sein scheint.
Daraus machen wir fälschlich Gleichheit und haben den Begriff. Es kann
sich folglich nur um Fiktionen handeln 2). Also nur Glaube, den wir als
Wahrheit auffassen. So beweist auch das Vertrauen zur Logik und deren
Wertsehätzuug nur ihre Nützlichkeit für das Leben, nicht deren Wahrheit.
„Dass eine Menge Glauben da sein muss; dass geurteilt werden darf;
dass der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werke fehlt: Das ist
Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also das, was für wahr
gehalten werden muss, ist notwendig, — nicht dass es wahr ist" 3).
Hier wäre der Platz, näher auf die Ansicht Nietzsches hinsichtlich
der Entwicklungslehre einzugehen. Doch würde das zu weit führen. Alles
was wir bisher gehört haben, spricht für eine allmähliche Entwicklung,
auch über die Art hinaus. Zahlreiche Belege Hessen' sich dafür erbringen.
Man vergleiche nur IX 389, wo er über das Entstehen der Gattung spricht.
„Gattung drückt nnr die Tatsache aus, dass eine Fülle ähnlicher Wesen
zu gleicher Zeit hervorgetreten, und dass das Tempo im Weiterwachsen
und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist". Alles spricht für
eine Anpassung an die Verhältnisse, sei es von innen oder von aussen her.
Diese Ansicht scheint mir auch am meisten in das System Nietzsches zu
passen. Vollständig ignoriert wird sie von Eisler"*). Nach ihm lehrt
Nietzsche, nicht die Nützlichkeit sei der Ursprung der Organe, sondern
eine Entwicklung von innen heraus habe stattgefunden. Also keine Zweck-
1) VI 175 ff. — ') IX 377 ff. - 3) 1V^380.
*) Ei«ler a. a. 0. 89.
480 Mauritius Demuth.
theohe. Auch er stützt sich auf direiite Belege bei Nietzsche und zwar
auf jene Stelle, in der Nietzsche ex professo über die Frage handelt').
Dort stützt er sich auf die Lehre vom Willen zur Macht. Dieser .schafft
alles, also auch die Organe. Er schafft von innen heraus. Deshalb müssen
die Organe denselben Ursprung haben. So stimmt diese Lehre wohl mit
der Metaphysik Nietzsches überein. Aber mit seiner Biologie des Er-
kenntnistriebes nur sehr schwer. Es ist möglich, dass Nietzsche später
seine Ansicht geändert, möglich auch und sogar sehr wahrscheinlich, dass er
sich selbst nicht klar war. Wenigstens wird jeder Leser desZarathustra
an eine Entwicklung im Sinne Darwins glauben 2). Und auch Bd. IX
bietet noch der Belege genug. Ebenso glaubt Riehl an eine Entwicklung
der Erkenntnislehre in Darwinistischem Sinne. Biologisch sei nur miss-
verständlich für darwinistisch gesetzt ^). Doch gehen wir zurück zum Thema.
Bei dem Hange, gleichzumachen und gleichzusetzen, ist die Logik
leicht erklärbar. Denn sie ist weiter nichts als dieser Hang, im Zaune
gehalten durch den Erfolg*), Es bildete sich ein unmittelbarer Grad der
Lebensbejahung heraus. So verdankt auch die Logik ihr Dasein dem
Willen zur Macht, gleich dem Willen zur Gleichheit. Die Logik arbeitet
mit der Annahme: vorausgesetzt, es gebe identische Fälle. Da es solche
nicht gibt, muss man sie fingieren. Somit ist logische Wahrheit erst
möglich, nachdem eine grundsätzliche Fälschung von seiten des Willens
stattgefunden hat.
Diese erfinderische Kraft hat auch die Kategorien geschaffen aus Be-
dürfnis nach Sicherheit, nach schneller Verständigung. Metaphysische Wahr-
heiten dürfen wir in ihnen nicht sehen. Die grössten Abstraktionskünstler
haben sie aufgestellt. Sie zeigten eine relative Nützlichkeit und setzten
sich durch. Ihre Wahrheit ist gleich ihrer Nützlichkeit. Nietzsche fasst
das Ergebnis mit den Worten zusammen: „Nicht »erkennen«, sondern
schematisieren, dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als-
es unserem praktischen Bedürfnis genugtut" 5).
In der Bildung der Vernunft, der Logik und Kategorien ist also nicht
das Bedürfnis zu erkennen massgebend gewesen, sondern jenes zu sub-
sumieren und schematisieren zum Zwecke der Verständigung und Be-
rechnung. Nicht eine „praeexistente Idee" hat hier gearbeitet, sondern
nur die Nützlichkeit. „Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen
zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so
zu schliessen, -wie wir schliessen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe
dieser Instinkt". Daraus folgt nicht, dass die Axiome wahr wären. Nicht-
») IX 472 ff.
-) Man vergl. VII 418, 488, 491, 494; VIII 88.
3) Riehl a. a. 0. 127, 128.
*) IX 381 ff., vgl. VI 178. - ") IX 383.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 481
widersprechen-künnen und wahr sein sind zwei verschiedene Dinge ^). Zn
gleicher Zeit bejahen und verneinen können wir nicht, d. h. entgegen-
stehende Prädikate sollen dem Objekte nicht zugesprochen werden. Doch
auf die Frage, ob die logischen Axiome der Wahrheit entsprechen, müssen
wir mit nein antworten, weil wir andernfalls bereits die Kenntnis der Wirk-
lichkeit voraussetzten. Was ist nun die Logik V .,Sie ist der Versuch, nach
einem von uns gesetzten Seins -Schema die wirkliche Welt zu begreifen,
richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen"^). Als Endlüsung
des Problems sagt dann Nietzsche: „Wir glauben an die Vernunft: diese
aber ist die Philosophie der genauen Begriffe. Die Sprache ist auf die
allernaivsten Vorurteile hin gebaut . . . Wir hören auf zu denken, wenn
wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade
noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen. Das
vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir
nicht abwerfen können . . ."^) mit andern Worten: der Mensch denkt mit
Wesensnotwendigkeit falsch, muss aber daran glauben, dass die Vernunft
die Wahrheit sage. Mit Staunen fragt man sich da, wie denn Nietzsche
hinter dies Rätsel gekommen. Wenn die Vernunft sich wesentlich irrt,
kann sie ihn wohl auch in die Irre geführt haben.
Nach diesen Ausführungen brauchen wir nicht mehr auf die Sicher-
heit im Erkennen zurückzukommen. Nietz sehe widmet ihr ein eigenes
Kapitel, ohne jedoch etwas Neues zu bieten*). Objektive Gewissheit gibt
es nicht. Der Mensch ist eben ein alogisches Wesen. Erkenntnistheoretisch
führen uns deshalb auch diese Ausführungen zum reinen Skeptizismus,
der nur durch den Glauben an den Besitz der Wahrheit erträglich ge-
macht wird. Denn das gesteht auch Nietzsche: würde nur Zweifel
herrschen, so wäre ein Leben nicht mehr möglich. Mit einer Schein weit
von fingierten Dingen können wir nicht leben.
e. Bewusstsein.
Unter allen Arten der Erkenntnis ist der Instinkt die intelligenteste 5).
In ihm liest das Fundament für die Wahrheiten unseres Glaubens.
Dann folgt die Vernunft und an letzter Stelle das Psychische, das
Bewusstsein. Es ist dies die letzte und späteste Entwicklung des Orga-
nischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste. Aus der Be-
wusstheit stammen viele Fehlgriffe, die Mensch und Tier einem frühzeitigen
Untergange entgegenfübren. Da ist der Instinkt ein beilsamer Regulator.
Unser ganzes Bewusstsein bezog sich bisher auf Irrtümer ^j.
Wozu dient denn das Bewusstsein? Hat der einzelne es nötig? Nein!
Nicht zur Individual-Existenz, sondern nur zur Herdennatur ist os erfordert.
Deshalb kann keiner sich selbst verstehen, mag er sich noch so bemühen.
') IX 384. - -) IX 386. - «) IX 390. ^- *) IX 497 fT.
«) Vlil 171; VIII 121. — «) VI 74
482 Mauritius Demulh.
Wir seilen immer nur das Nicht-Individuelle, das Durchschnittliche unserer
Handlungen. Sobald persönliche Handlungen ins Bewusstsein treten, ändern
sie sich. „Die Natur des tierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass
die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und
Zeichenwelt ist ... dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche
Verderbnis, Fälschung verbunden ist". Das kommt aus dem Mangel eines
Organs für die Wahrheit') Wer sich deshalb auf das Bewusstsein stützt,
irrt. Aus den Erscheinungen des innern Sinnes will er auf andere Dinge
schliessen, zu deren Beobachtung er kein Organ hat. Die gewöhnliche
Auffassung des Bewusstseins als Gesamtsensorium ist falsch. Es ist nur
ein Mittel, sich mitteilen zu können. Im Verkehr entwickelt, muss es dem
Verkehr dienen. Es muss mit der Aussenwelt verbinden. Somit dürfen
wir aus der Klarheit des Bewusstseins keinen Schluss ziehen auf logisches,
ruhiges und kaltes Denken.
Wieviel wird uns überhaupt bewusst 2)? Nur ein kleiner Teil des Ge-
schehens im Organismus, die animalischen Funktionen nicht. Was aber
bewusst wird, arbeitet nur an der Vervollkommnung der animalischen
Funktionen, vor allem der Lebenssteigerung. Ob etwas angenehm oder
unangenehm empfunden wird, dient demselben Zwecke ^). Doch was dem
Bewusstsein jede Bedeutung nimmt, wissen wir schon: es ist der Mangel
an Einheit, das Fehlen des Ich, des Subjektes. Ohne diesen Träger hat
das Bewusstsein für die Wissenschaft gar keine Bedeutung. Wir haben
nur den Assoziationismus.
Bei der Lehre vom Bewusstsein muss Nietzsche ein Zugeständnis
machen, das mit seinem System nicht in Einklang zu bringen ist. Hier
„herrscht eine Zweckmäs.sigkeit im kleinsten Geschehen, der unser bestes
Wissen nicht gewachsen ist : eine Versorglichkeit, eine Auswahl . . ." Eine
Tätigkeit steht vor uns, die wohl einem höheren Intellekte als dem mensch-
lichen zugeschrieben werden muss*). Somit scheint es, dass wir doch eine
höhere Leitung annehmen müssen. Das, was bewusst wird, steht unter
kausalen Beziehungen, die uns gänzlich unbekannt sind. Die Aufeinander-
folge selbst im Bewusstsein drückt nichts darüber aus ^). Wir meinen, es
handle sich um Lust und Unlust, die uns treiben. Aber beide begleiten
nur die Handlung, sind nicht deren Ursache. Sie könnten auch Mittel
sein, etwas ausser dem Bewusstsein zu erreichen.
So sucht Nietzsche das ganze Zwecksetzen auf etwas Nicht-WoUendes,
Unbewusstes zurückzuführen, auf die natürliche Zweckmässigkeit des Orga-
nischen, in dem der blinde Wille zur Macht lebt und virirkt. Immer wieder
tritt der Leib in den Vordergrund. 'Ihm ist es wahrscheinlich, dass es sich
bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib handle, um die
', VI 319. — ■') IX 391 ff. - ») IX 492.
*) IX 495. - 5) IX 392.
Friedrich Nietzsches Erkenntnislheorie. 488
Bildung des höheren Leibes'). Aehnlich spricht er sich auch sonst für
den Materialismus aus. Es sei Zeit, das Wort Seele aus der Psychologie
zu tilgen und nur noch Nerven- und Gehirntätigkeit anzuerkennen. Doch
ist es schwierig, sich hier ein rechtes Bild zu machen, weil Nietzsche sich
nicht konstant bleibt. Eisler glaubt, ihn nicht zu den Malerialisten zählen
zu sollen, wenn er auch zugibt, dass sich manche Stellen dafür finden-).
Voluntarist ist Nietzsche, soweit der Wille zur Macht, nicht der freie Wille
in Betracht kommt. Aber zugleich leugnet er jeden Einfluss einer geistigen
Macht oder Fähigkeit. Selbst das Bewusstsein ist ihm nur eine Zutat zum
Nervensystem. Deshalb werden wir auch den Willen zur Macht als
materielle Kraft fassen müssen. Damit aber bleibt der Vorwurf des
Materialismus voll und ganz bestehen. •
Um das Bild zu vervollständigen, das wir bisher gegeben, mögen noch
einige Fragen von untergeordneter Bedeutung berührt werden, darunter
auch metaphysische. Nach Kant liegt jede wahre Erkenntnis im Urteil.
Das synthetische Urteil a priori ist ihm die Quelle, aus der der Fortschritt
der Wissenschaft fliesst. In der Mathematik vor allem sieht er einen Be-
weis für die Wirklichkeit solcher Urteile. Nach Nietzsche lehrt er, wenn
wir nicht wüssten, was Erkenntnis ist, könnten wir die Frage nach ihrem
Dasein nicht beantworten. Nietzsche dagegen ist umgekehrter Ansicht.
Wenn man nicht weiss, ob es Erkenntnis gibt, kann man vernünftiger-
weise die Frage gar nicht stellen, was sie sei. Kant will eine Erkenntnis
der Erkenntnis. Das ist eine Naivität. Nach Kant muss Notwendigkeit
und Allgemeinheit des Urteils der Erfahrung vorausgehen. Nietzsche da-
gegen fragt sich, wie diese ohne Erfahrung überhaupt seien. Nach dieser
Kritik stellt er folgende Regel auf: ein einzelnes Urteil ist niemals wahr;
es gibt keine einzelnen Urteile. Erst im Zusammenhang, in der Beziehung
vieler Urteile, gibt es Bürgschaft 3). Die Prinzipien der Logik sind nur
regulative Glaubensartikel. Damit sinkt das Urteilen auf ein blosses Für-
wahr-halten zurück, erhebt sich nicht zur Evidenz oder Sicherheit, sondern
nur zum festen Glauben. Das Urteil setzt identische Fälle voraus. Dem-
gemäss muss schon etwas vorausgehen, was die Identität schafft, es ist also
nicht eine primäre Handlung, Die erste Handlung fällt nicht ins Bewusst-
sein, und auf ihr beruht unser starker Glaube an die Identität. Aber das
ist doch kein Kriterium der Wahrheit.
Ebensowenig kann die logische Bestimmtheit und Durchsichtigkeit ein
derartiges Kriterium sein. Descartes hat deshalb mit seinem Fundamental-
satz Unrecht, Wäre es nicht wahrscheinlicher, dass dort, wo die höchste
Leistung gefordert wird, auch der Glaube an dessen Wahrheit d. h. Wirk-
lichkeit wachgerufen wird V Danach muss also das Kriterium der Wahrheit
in der Steigerung des Machtgefühls liegen*). Auch kann Wahrheit nicht
IX 496, - 0 A, a. 0. lOL - ^) IX 396 ff. - *) IX 401.
484 Mauritius Demutti.
im Gegensatz zum Irrlum gefassl werden. Denn Wahrheit ist nur eine
SleUung verschiedener Irrtümer zu einander. Nur mag der eine dieser
Irrtümer liefer, unausrottbarer sein als der andere. Da.s ist der ganze
Unterschied. Ein unwiderlegbarer Satz ist noch kein wahrer Satz.
„Was ist Wahrheit? — Inertia; die Hypothese, bei welcher Be-
friedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw." i). Es
</ibt vielerlei Wahrheiten und folglich gibt es keine Wahrheit. Der Glaube,
dass es keine Wahrheit gebe, ist ein Ausruhen für den, der mit ihr im
Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist hässhch. Die Verehrung der Wahr-
heit ist schon die Folge einer Illusion. Wir kommen so zum Schlüsse :
alles ist falsch, alles erlaubt. Der Mensch findet in den Dingen das wieder,
was er selbst hineingelegt hat. So wenig ein „Ding an sich" möglich ist,
so wenif/ auch eine „Erkenntnis an sich". Doch das Einsehen unserer
Unwissenheit genügt nicht; wir müssen sie sogar wollen. Ohne sie kern
Leben. Also auch hier alles vom Werte des Lebens bestimmt. Die alten
Kriterien gelten nicht mehr. Was mehr Macht bringt, ist wahr (offenbar
haben wir hier eine starke Uebereinstimmung mit der Denkökonomie von
Mach). Der Unterschied zwischen v>^abr und falsch fällt. Alles ist falsch.
Auf welches Kriterium Nietzsche diesen Scbluss gründet, sagt er uns nicht.
Nach seiner Theorie muss das auch falsch sein. Uns bleibt also neben
dem irrigen Glauben nur Skeptizismus, Nihilismus.
Wille zur Macht, ewige Wiederkunft: diese beiden Ausdrücke
enthalten die Metaphysik Nietzsches. Beide sind ohne die Annahme einer
realen Aussenwelt leere Begriffe 2). Ob ich die Dinge als eine Summe von
Kräften fasse, die um den Vorrang ringen und bei denen jedesmal die
stärkste siegt, weil sie den stärksten Willen zur Macht hat, oder ob ich
mir ein anderes Bild davon mache: immer betrachte ich sie als etwas
Einheitliches. Bildeten selbst die Kräfte nicht eine Einheit, geleitet von
einem Ziele, so müsste alles in sich verfallen. Nicht besser steht es mit
der Lehre von der ewigen Wiederkunft der Dinge. Nietzsche schliesst
also: die Zahl der Möglichkeiten ist beschränkt, die Dauer der Welt bereits
ewig. Deshalb muss alles schon einmal und selbst unzählige Male dage-
wesen sein. Mehr noch: Die Dinge treten jetzt genau so auf, wie sie
früher schon da waren. Also einen beständigen Kreislauf müssen wir an-
nehmen. Diese Lehre soll an Stelle der Religion treten. Auf den ersten
Blick, so meint Nietzsche, müsse sie uns entsetzlich vorkommen. Ein
Loben vielleicht voll des Kampfes und Schmerzes, ist, einmal gelebt, genug,
und niemand wird nach seiner Wiederholung verlangen. Doch, so meint
er dann, dieser Gedanke werde anspornen, dem Leben immer mehr Wert
') IX 402 ff.
^ Ueber den Willen zur Macht ist wiederholt gesprochen worden, sodass
eine eigene Darstellung wohl überflüssig ist. Vgl. auch Riehl a. a. 0, 103 ff.
Friedrich Nietzsches Erkenntnistheorie. 485
zugeben, es auf die Höhe seiner Macht zu bringen. Er rühmt sich, die
Lehre der Wiederkunft aller Dinge sei seine eigene Entdeckung, ein ge-
eigneter Ersatz für jede Metaphysik. Denn das sieht er ein: ohne Meta-
physik geht es im Leben nicht. Die Lehre der Griechen muss somit in
neuen Worten als Ersatz dienen für das, was der Welt Segen und Wohl-
stand gebracht. Ebensowenig wie in Griechenland, hat diese Lehre bei
uns festen Boden fassen können. Sie ist nicht mehr und nicht weniger
als ein schönes Phantasiebild ^).
Das möge genügen zur Charakterisierung der Lehre. Seine Stellung
zur Moral und zum Christentum gehört nicht hierher'^). Noch manche
Punkte berührt Nietzsche. Aber neues Licht bringen sie nicht. Vom
philosophischen Standpunkte aus dürfen wir wohl sagen, dass er den
Strömungen seiner Zeit folgte, ohne dabei positiv philosophisches Talent
besonders zu verraten. Die Form der Darstellung ist es gewesen, die
ihm so viele Freunde gemacht. Seine Erkenntnislehre ist Skeptizismus,
besser noch philosophischer Nihilismus.. Nicht aufbauenden, sondern zer-
störenden Charakters ist seine Lehre.
Als Schluss möge das Urteil Külpes dienen: „Nietzsche ist der
Wahrheitsucher im Gewände der irrenden und strauchelnden Menschen,
der dem idealen Ziele der Einsicht in rastloser, leidenschaltlicher Bemühung
nachjagt und dabei versäumt, die Sicherheit des Bodens, auf dem er dahin-
eilt, gewissenhaft zu prüfen"^). Seine Fundamente, die Voraussetzungen
seiner Lehre sind falsch. Deshalb konnte er nicht zu einem befriedigenden
Resultate kommen.
') Ueber den Willen zur Macht besonders IX 459 ff. Ueber die ewige
Wiederkunft VI 1 ff. ; VII 334 ff. ; X 221 ff.
-) Darüber Lauscher, Friedrich Nietzsche 127 ff.
^) Külpe, Die Philosophie der Gegenwart* 66.
PhiloRop'iisdies Jahrbucli 1913
81
Kants Lelire vom Bewusstsein.
Von Franz Maria Sladeczck S. J. in Charlottenlund (Dänemark).
Das grosse Interesse, das unsere Zeit den psychologischen Fragen
entgegenbringt, die vielen engen Berührungspunkte zwischen Psychologie
und Erkenntniskritik, die Bedeutung gerade psychologischer, gerade imma-
nenter Elemente im Kantschen System lassen es als begründet erscheinen,
Kants Erkenntniskritik und Psychologie nach ihren Wechselbeziehungen
hin zu untersuchen. Es kommt hier in Frage die Lehre Kants vom Be-
wusslsein und seiner Einheit, oder besser gesagt, die Lehre vom inneren
Sinn und der ursprünglich-synthetischen Einheit.
L
Kant definiert den inneren Sinn als „das Anschauen unserer selbst
und unseres inneren Zustandes" (A 32—33), und an einer anderen Stelle
als „jene Eigenschaft unseres Gemütes", vermittelst deren „das Gemüt sich
selbst oder seinen inneren Zustand anschaut" (A 22), im Gegensatz zum
äusseren Sinn, den Kant als „jene Eigenschaft unseres Gemütes" be-
zeichnet, ,, vermittelst deren wir uns Gegenstände als ausser uns und diese
insgesamt im Räume vorstellen" (A 22). Als Grenzlinie des äusseren und
inneren Sinnes ist also der Gegensatz des Physischen und Psychischen
anzusehen.
Den Umfang und Inhalt des inneren Sinnes machen demnach die
Bewusstseinstatsachen, die psychischen Phänomene, die psychischen Er-
scheinungen aus. Zu ihnen gehören zunächst die Empfindungen in dem
Sinne, in dem sie von der heutigen Psychologie verstanden werden, die
sensibilia propria, die Sinnesqualitäten, die qualitates sensibiles der Scho-
lastiker, wie z. B. in der äusseren Wahrnehmung die Gesichtsempfindungen
rot, blau, die Geschmacksempfindungen süss, sauer u.s. w. Die Empfin-
dungen können nämlich als Erkenntnisse angesehen werden an Dingen, die
wir uns als ausser uns vorstellen, und dann gehören sie zum äusseren
Sinn, oder sie können als Bewusstseinstatsachen angesehen werden, und
dann sind sie Gegenstand des inneren Sinnes. Ja „die Vorstellungen
äusserer Sinne", sagt Kant, ,, machen sogar den eigentlichen Stoff aus,
womit wir unser Gemüt besetzen" (B 67—68). „Alle Vorstellungen, sie
mögen nur äussere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, gehören doch
an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts zum inneren Zustande"
Kants Lelire vom Bevvusstsein. 487
(A 34). „Aller Zuwachs der empirischen Erkenntnis und jeder Fortschritt
der Wahrnehmung ist nichts als eine Erweiterung der Bestimmung des
inneren Sinnes" (A 210).
Zu den Bewusstseinstatsachen gehört mit noch mehr Recht als die
Empfindungen die Raumanschauung, d. h. die Wahrnehmung der Aus-
dehnung. „Der Raum ist" ja, nach Kants eigenen Worten, „nichts anderes,
als nur die (aprioristische) Form aller Erscheinungen äusserer Sinne", mit-
hin rein subjektiv (A 25—26).
Da ausserdem nach Kant, nicht etwa bloss deshalb, weil auch er die
neuere Ansicht der Sinnesqualitäten teilt, sondern aus erkenntnis-kritischen
Gründen wir durch die Empfindungen die Objekte an sich, oder in Kant-
scher Terminologie das Ding an sich, gar nicht wirklich erkennen, so
folgert er, dass alle äusseren Wahrnehmungen, ,,alle Erscheinungen das
blosse Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen
des inneren Sinnes auslaufen" (A 101).
Zum Inhalt des inneren Sinnes zählt Kant ferner unsere Phantasie-
vorstellungen (A 18), unsere Gedanken (A 371), Begierden (A 357), Ent-
schhessung, Wille (A 358), Gefühle, Lust und Schmerz (A 374).
Endhch gehört zum Inhalt des inneren Sinnes das empirische Ich,
d. h. das aktuelle ßewusstsein des Ich, das jeweils alle obigen Bewusstseins-
vorgänge begleitet. ,,Das Bewusstsein unserer selbst, nach den Bestim-
mungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehmung, ist bloss em-
pirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst
in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben" (A 107).
Den gesamten Inhalt des inneren Sinnes, den wir jetzt beschrieben
haben, nennt Kant „die Materie des inneren Sinnes" (A 20, 21). Damit
sinnliche Erkenntnis, damit empirische Anschauung, um den Kantschen
Ausdruck zu gebrauchen, überhaupt möglich sei, muss die Materie durch
eine aprioristische Erkenntnisform geordnet werden. Die aprioristische Er-
kenntnisform des inneren Sinnes ist die Zeit. „Die Zeit ist nickts anderes",
sagt Kant, „als die Form des inneren Sinnes". ,,Wenn wir von unserer Art,
uns selbst innerlich anzuschauen und vermittelst dieser Anschauung auch
alle äusseren Anschauungen in der Vorstellungskraft zu befassen, abstra-
hieren, und mithin die Gegenstände nehmen, wie sie an sich selbst sein
mögen, so ist die Zeit nichts" (A 34). „Die Zeit ist lediglich eine sub-
jektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung und an sich, ausser
dem Subjekte, nichts" (A 34). Wir können demnach beim Bewusstsein
den Bewusstseinsinhalt und die Bewusstseinsfunktion unterscheiden. Die
Bewusstseinsfunktion ist so aufzufassen, dass durch sie der Bewusstseins-
inhalt in Zeitverhältnisse geordnet und so angeschaut und damit bewusst
wird. So sagt Kant: „Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen
einander, aber d. h. nur, wir sind uns ihrer, als in einer Zeitfolge d. i. nach
der Form des inneren Sinnes bewusst" (A 37 — 38).
31*
4R8 Fr. M. Sladeczck.
Diese aprioristisciie Zeitform als Bewus.stseinsfunktion gibt uns aucli
näheren Aufschluss über das Verhältnis des inneren zum äusseren Sinn.
„Die Zeit", sagt Kant, „ist die formale Bedingung a priori aller Erschei-
nungen überhaupt." „Weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äussere
Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, doch an sich selbst, als Be-
stimmungen des Gemüts, zum inneren Zustande gehören: dieser innere
Zustand aber, unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung,
mithin der Zeit gehört, so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller
Erscheinung überhaupt und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren
und eben dadurch mittelbar auch der äusseren Erscheinungen" (A 34).
Es ist demnach eine doppelte Zuordnung der äusseren Erscheinungen zu
unterscheiden — in der Weise, dass sie ihrem Gegenstande nach dem
äusseren Sinn, ihrem Gegebensein im Bewusstsein nach dem inneren Sinn
angehören ^) .
Der innere Sinn würde .also, wenn man von der Zeitvorstellung als
rein subjektiver Erkenntnisform absieht, dem direkten Bewusstsein, der
conscientia direcla der Scholastiker entsprechen. Freilich ist dann der
Ausdruck „Sinn" nur in Kantscher Terminologie berechtigt, die wir weiter
unten noch erklären werden. Es genügt hier zu erwähnen, dass „Sinn"
bei Kant keineswegs gleichbedeutend ist mit organischem Vermögen. In
scholastischer Terminologie könnte man ihn nicht mehr als „Sinn" be-
zeichnen, weil ja unter den Inhalt des direkten Bewusstseins nicht bloss
Empfindungen und Vorstellungen, sondern auch Gedanken und Willensakte
fallen, die auch nach Kant zum Inhalt des inneren Sinnes gehöi'en. Er
ist dann wie das -direkte Bewusstsein etwas sensitiv-intellektuelles.
Die Bewusstseinstatsachen aufzuzählen und zu beschreiben ist die erste
Aufgabe der Psychologie, der beschreibenden Psychologie. — Einsicht darin
zu bekommen, wie die psychischen Vorgänge und Zustände einander ur-
sächlich bedingen, d. h. warum sie eintreten und den Verlauf nehmen,
den wir beobachten, ihre weitere Aufgabe. Es ist dies die Aufgabe der
erklärenden Psychologie ^). Auch Kant gibt eine, im gewissen Sinn psych-
logische Erlärung des inneren Sinnes. Nach ihm ist die Sinnlichkeit über-
haupt, die Rezeptivität des Gemütes, Vorstellungen zu empfangen, sofern
es auf irgend eine Weise affiziert wird (A 51). Das Charakteristische der
Sinnlichkeit d. h. der Rezeptivität, der Empfänglichkeit unseres Gemütes
besieht also im „Affiziert-Werden", d. h. darin, dass die sinnliche Fähigkeit,
von etwas ausser ihr „Eindrücke" empfängt. Die Reaktionen der Sinnlich-
keit auf diese Eindrücke von aussen sind die Empfindungen. Sie sind,
wie wir schon gese'cen haben, nur die Materie der empirischen Anschauung.
Damit diese selbst zustande kommt, muss die Sinnhehkeit die Materie durch
') Vgl. Reininger, Kans Lehren vom inneren Sinn 29.
-') Vgl. Geyser, Lehrbuch der allgemeinen Psychologie '^ 12.
Kants Lehre vom Bewusstsein. 489
die Form, die im Gemüte a priori bereitliegt (A 20, 21), verarbeiten. Die
Form stammt also aus der Sinnlichkeit selber. Doch sind diese aprio-
ristischen Formen nicht als angeborene präexistente Formen zu denken,
sondern als Funktionen der Sinne, das Mannigfaltige der Empfindungen in
der Raum- oder in der Zeitanschauung zu verarbeiten. Nur in der Funktion
selbst haben sie Wirklichkeit. Das „im. Gemüte a priori bereit liegen" heisst
also nichts anderes als das Vermögen der Sinnlichkeit, das Mannigfaltige
der Empfindungen in der Form des Raumes oder der Zeit anzuordnen.
Die Dissertation : „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis",
wo die transzendentale Aesthetik schon grundgelegt und im wesentlichen
enthalten ist, betont das ausdrücklich : „Verum conceptus uterque (nämlich
Raum- und Zeitform) procul dubio acquisitus est (non connatus), non a
sensu quidem obiectorum (sensatio enim materiam dat, non formam cog-
nitionis humanae) abstractus, sed ab ipsa mentis actione, secundum per-
petuas leges sensa sua coofdinante, quasi typus immutabilis, ideoque in-
tuitive cognoscendus. Sensationes enim excitant hunc mentis actum, neque
aliud hie connatum est nisi lex animi, secundum quam certa ratione sensa
sua e praesentia obiecti coniungit" (§ 15). Dieso Theorie der Sinnlichkeit
ist für den äusseren Sinn leicht verständhch. Das, wovon der äussere
Sinn affiziert wird, ist das Ding an sich. Die Reaktionen des äusseren
Sinnes auf die Eindrücke des Dinges an sieh sind die Empfindungen, wie
Farbe, Ton, Geschmack u.s.w. Sie sind aber durchaus kein getreues Ab-
bild des Dinges an sich, sondern subjektiv. Die aprioristische Form, durch
die der äussere Sinn das Mannigfaltige dieser Empfindungen verarbeitet,
ist der Raum. Die so durch die Raumform verarbeiteten Empfindungen
machen die äusseren Erscheinungen aus, wie sie Kant nennt, d. h. die
Gegenstände der äusseren Anschauung.
Unsere Ansicht in der Erklärung des inneren Sinnes deckt sich mit
der Vaihingers (Komm. II 478) ^).
Der innere Sinn ist nach Kant so zu erklären, dass „das Gemüt durch
sich selbst affiziert wird", und zwar, wie es bei Kant weiter heisst, durch
„eigene Tätigkeit" (B 67). Wir haben also im Gemüte einen aküven und
einen passiven Teil zu unterscheiden. Der aktive Teil des Gemütes ent-
spricht den Dingen an sich beim äusseren Sinn ; der passive Teil entspricht
der Rezeptivität, der Empfänglichkeit des äusseren Sinnes, wodurch er auf
die Eindrücke des Dinges an sich durch die Empfindungen reagiert. Der
aktive Teil des Gemütes ist, wie Kant sagt, das „Setzen der Vorstellungen",
also das Setzen der äusseren Wahrnehmungen, das Setzen der Phantasie-
vorstellungen, das Setzen unserer Gefühlsakte u.s.w., kurz die Bewusstseins-
tatsachen. Durch dieses Setzen • einer Vorstellung affiziert das Gemüt
zugleich seinen eigenen passiven Teil, das rezeptive, „empfängliche", auf-
0 Ueber die Erklärung Reiningers s. „Lehre vom im inneren Ümn" 31.
490 Fr. M. Sladeczck,
nehmende Vermögen, den inneren Sinn. Die aprioristische Form, unter
der dieses aufnehmende Vermögen, der innere Sinn, den Bewusstseins-
inhalt verarbeitet, ist die Zeit. Durch diesen ganzen Vorgang sind wir
erst imstande, uns des Inhaltes unseres Bewusstseins wirkhch bewusst zu
werden, und zwar geschieht dies unter der subjektiven Form der Zeit. So
erhalten wir erst, wie Kant sagt, eine „innere Wahrnehmung von dem
Mannigfaltigen, was im Subjekt vorhergegeben wird" (B 67). So ist auch
die Erklärung des inneren Sinnes zu verstehen, die Kant selbst in den
Sclilussanmerkungen der transzendentalen Aesthetik gibt: „Wenn das Ver-
mögen, sich bewusst zu werden, das was im Gemüte liegt, aufsuchen
(apprehendieren, oder wie Vaihinger aus textkritischen Gründen sagt, auf-
nehmen) soll, so muss es dasselbe affizieren, und kann allein auf solche
Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die
vorher im Gemüte zum Grunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im
Gemüte beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt" (B 67).
Bei diesem ganzen Vorgange ist aber in einem Punkte eine wesent-
liche Verschiedenheit vom äusseren Sinne. Beim äusseren Sinne besteht
die Materie, die in die Raumform gebracht werden soll, aus den Em-
pfindungen, welche selbst ihrerseits wieder Reaktionen des Subjekts auf
Eindrücke des Dinges an sich sind. Sie sind schon selbst subjektiv und
somit reine Erscheinungen. Beim inneren Sinn besteht das Mannigfaltige
aus den Tätigkeitsakten des aktiven Teils des Gemüts, und diese sind
nichts anderes, als die Bewusstseinstatsachen, der Bewusstseinsinhalt. Dieser
ist aber etwas Objektiv-Seiendes. Die BewussLseinsfakta sind eben innere
Tatsachen. Was zu ihnen hinzukommt, ist nur die Zeit\orstellung-
Nur diese zeitliche Form an ihnen ist Erscheinung, ist idealistisch.
Die Existenz, die empirische Realität der Bewusstseinstatsachen wird
also von Kant wohl gewahrt. Diese empirisch-realen Bewusstseinstatsachen
werden aber durch die aprioristische Zeitform subjektiv verarbeitet und
umgestaltet. Kants Lehre von den Erscheinungsquellen und damit vom
inneren Sinn klingt also in einem Phänominalismus aus.
II.
Der Ausgangspunkt der Psychologie ist das Bewusstsein und sein In-
halt, die Bewusstseinstatsachen. Die Bewusstseinstatsachen liegen aber
nicht völlig von einander getrennt im Bewusstsein, sondern sind aufs innigste
miteinander verknüpft. Jeder bewusste Vorgang, jeder bewusste Akt ist
mit einem ihn wissenden Subjekte verbunden, mit dem bewussten Ich.
Dies bewusste Ich ist aber kein vielfältiges, sondern nur eines, so dass
dieses eine einheitliche Subjekt den ganzen Bewusstseinsinhalt zu einem
einheitlichen Bewusstsein verknüpft. Wir nennen diese Tatsache kurz die
Einheit unseres Bewusstseins. Diese Einheit des Bewusstseins behandelt
Kant in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Wir
Kants Lehre vom Bewusstsein. 491
können die Einheit des Bewusstseins in seiner Terminologie kurz die syn-
thetische Einheit nennen.
Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, sagt
Kant, ist' das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unter-
nommen worden. Schopenhauer sagt sogar, dass „die Annahme der trans-
zendentalen Deduktion ebenso grundlos, als ihre Darstellung verworren
und sich selbst widerstreitend befunden worden" sei. Trotz dieses scharfen
Urteils eines der hervorragendsten Anhänger der Kantschen Philosophie
darf die Lehre von der synthetischen Einheit wohl der Kernpunkt der
ganzen Kantschen Erkenntnislehre genannt werden. Ist sie auch nicht der
Ausgangspunkt des Kantschen Kritizismus, so gibt sie doch die eigentliche
Antwort auf die Frage : „Wie ist letztlich Wissenschaft", d. h. wie ist eine
Summe systematisch aufgebauter, allgemein gültiger Erkenntnisse möglich.
Von dieser Frage geht ja Kant in seiner Erkenntniskritik aus. Aus der
Lehre von der synthetischen Einheit erwächst die Kantsche Transzendental-
philosophie wie eine Blume aus dem Keim. Diese zentrale Stellung im
System kommt der synthetischen Einheit freilich nur nach ihrer erkenntnis-
theoretischen Seite zu. Um sie aber nach ihrer psychologischen Seite zu
verstehen, ist es notwendig, sie zuvor nach ihrer erkenntniskritischen Seite
zu kennen.
Wir haben im L Teil gesehen, dass uns durch die Sinne, durch den
äusseren wie den inneren Sinn, sinnliche Anschauungen gegeben werden.
Sie bestehen aus Empfindungen und aus der apriorischen Form. Fehlt
die Empfindung, und ist nur die aprioristische Form als sinnhche An-
schauung gegeben, so haben wir eine reine Anschauung, so nach Kant in
der Mathematik. In der Mathematik, in der Naturbetrachtung,' ja in unserer
ganzen Erfahrung finden wir nun stets einheitliche Anschauungen, ein-
heitliche Gegenstände, einheitliche Erkenntnisobjekte. Durch die Sinne ist
uns aber nach Kant nur ein „Gewühl von Empfindungen" gegeben. Die
Verbindung dieses chaotischen Mannigfaltigen der Empfindungen zu ein-
heitlichen Objekten, zu einheitlichen Gegenständen kann nach Kant im
Gegensatz zu der Rezeptivität der Sinne nur ein aktives, ein spontanes
Vermögen leisten, und das ist nach ihm der Verstand. Die Handlung des
Verstandes, durch die er das Gewühl von Empfindungen zu einheitlichen
Objekten verbindet, ist die synthetische Einheit.
Wie erklärt nun Kant die synthetische Einheit, die Verbindung des
Mannigfaltigen der Sinne zu einheitlichen Objekten? Sie kann nicht erklärt
werden durch den Begriff, durch die Kategorie der Einheit; denn die
Einheit in jedem Begriff, in jeder Kategorie setzt bereits eine höhere Ein-
heit voraus. Die Kategorien finden wir sämtlich nach Kant aus den
Urteilen, soweit wir die Urteile formal als rein-logische Fimktionen be-
trachten, und diese Urteile setzen selbst schon wieder eine höhere Einheit
denn sie sind selbst schon wieder eine Verknüpfung getrennter
492 Fr. M. Sladeczck.
Denkinhalte zu einem einheitlichen Objekt. Diese höhere Einheit, aus der
jede Einheit in den Urteilen, in den Kategorien und in den Erfahrungs-
gegenständen fliesst, findet Kant in der ursprünglich-synthetischen Einheit
der Apperzeption, und diese ist nach ihm eintachhin der Verstand selbst.
Kant nennt den Verstand eine ursprüngliche Einheit. Die Einheit der Er-
kenntnisobjekte ist nicht in der Erfahrung ursprünglich gegeben, sondern
die Einheit der Erkenntnisobjekte hat ihren Ursprung im Verstände selbst.
Kant bezeichnet mit diesem Ausdruck „ursprünglich" das Schöpferische
des Verstandes in der Verbindung von einander getrennter Eindrücke der
Sinne oder getrennter Denkinhalte zu einheitlichen Objekten. Kant nennt
ferner den Verstand eine ursprünglich-synthetische Einheit, weil er
eben durch die Kategorien und durch die einheitlichen Verknüpfungen in
der Raum- und Zeitanschauung das „Gewühl von Empfindungen" zu ein-
heitlichen Objekten verbindet. Kant nennt endlich den Verstand eine
synthetische Einheit der Apperzeption d. h. die Einheit in jener Ver-
standeshandlung, kraft welcher eine sinnliche Anschauung mit einer anderen
zu einem einheitlichen Erkenntnisobjekt verbunden wird.
Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, und sie deckt
sich ja vollkommen mit dem Verstände, ist nach Kant nichts anderes, als
die rein aprioristische, rein abstrakte Möglichkeit einheitlicher Erkenntnisse,
die selbst wieder nichts anderes sind, als die rein logischen, oder besser
gesagt, als die rein denkinhaltlichen Verbindungen von einander völlig ge-
trennter Denkinhalte. Die ursprünglich-synthetische Einheit ist in sich
nichts anderes, als der abstrakte aprioristische Allgemeinbegriff aller Einheit;
in unserer Erkenntnis ist sie, wie Kant ausdrücklich sagt, nichts anderes,
als eine rein logische Einheit. Die Annahme der ursprünglich- synthetischen
Einheit der Apperzeption ist nach Kant der oberste Grundsatz der gesamten
menschlichen Erkenntnis, sie ist der Höhepunkt seiner ganzen Erkenntnis-
lehre; sie ist das absolut notwendige Postulat, das wir machen müssen,
um die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnis und damit die Tatsache
der Wissenschaften zu erklären.
Diese ursprüngUch-synthetische Einheit erklärt aber nicht nur er-
kenntnis-theoretisch unsere gesamte Verstandestätigkeit, sie erklärt auch,
und zwar psychologisch, die Einheit des Bewusstseins. Durch die synthe-
tische Einheit, und zwar nur durch sie, werden getrennte Empfindungen,
werden getrennte Bewusstseinsinhalte einheitlich miteinander verknüpft.
Die Einheit des Bewusstseins beruht nun aber auf der einheitlichen Ver-
knüpfung getrennter Bewusstseinsinhalte. Also, sagt Kant, erklärt die ur-
sprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption auch die Einheit des Be-
wusstseins. Und doch wird diese Einheit des Bewusstseins als psychische
Tatsache geleugnet, weil ja die ursprünglich-synthetische Einheit der Apper-
zeption eine rein logische Einheit ist. Darum nennt Kant die ursprünglich-
synthetische Einheit auch die „Apperzeption des transzendentalen Ich". Er
Kants Lehre vom Bewusstsein. 493
nennt sie die Apperzeption des Ich, weil sie eben die Einheit des Bewusst-
seins und zwar unseres Bewusstseins eri?lärt und damit unser einheit-
liches Selbstbewusstsein. Er nennt sie die Apperzeption des trans-
zendentalen Ich; denn der Ausdruck „transzendental" besagt ja nichts
anderes als aprioristische d. h. allgemeingültige Erkenntnis von Erfahrungs-
gegenständen, und die ursprünglich-synthetische Einheit ist ja, wie wir eben
gesehen haben, der tiefste Grund aller allgemeingültigen Erkenntnis von
Erfahrungsgegenständen. Die Apperzeption des transzendentalen Ich ist also
nicht die Wahrnehmung des empirischen Ich d. h. des jeweils aktuell be-
wussten Ich; sie ist auch nicht die Erkenntnis des transzendentalen Ich
d. h. die Erkenntnis unserer Seele. Sie ist vielmehr jene logische Einheit,
die nach Kant unsere gesamte Verstandestätigkeit in der Verbindung ge-
trennter Sinneseindrücke oder getrennter Denkinhalte zu einheitlichen Ob-
jekten und damit auch nach Kant unser einheitliches Selbstbewusstsein
erklärt, dieses aber so in eine rein logische Einheit auflöst. Diese rein
logische Einheit, die unser einheitliches Selbstbewusstsein erklärt, ist das
„Iranszendentale Ich". Die Anwendung dieser logischen Einheit in jedem
Verstandesakt ist „die Apperzeption des transzendentalen Ich".
Da erhebt sich nun die Frage: „Wie kann denn der Verstand das
»Gewühl der Empfindungen« zu einheitlichen Gegenständen, zu einheit-
lichen Objekten umgestalten?" Die Empfindungen sind ja etwas rein
Sinnliches, der Verstand etwas rein Geistiges. Welches ist die Verbindungs-
brücke zwischen Verstand und Sinnlichkeit? Kant findet hier dieselben
Schwierigkeiten, wie alle alt-griechischen, christlichen und, mit Ausnahme der
Sensisten, auch alle modernen Philosophen und Psychologen, die das Pro-
blem auf ganz entgegengesetzte Weisen zu lösen suchten. Diese Binde-
brücke zwischen Verstand und Sinnlichkeit muss nach Kant ein Vermögen
sein, das einen Gegenstand anschaulich vorstellen kann, und da jede An-
schauung sinnlich ist, muss es selbst zur Sinnlichkeit gehören. Doch darf
dieses Vermögen nicht rein rezeptiv sein wie der äussere und innere Sinn,
sondern muss wie der Verstand spontan sein. Es muss ja den gesamten
Erfahrungsinhalt, der uns durch die Sinne gegeben ist, verbinden, und sich
in dieser Tätigkeit nach der ursprünglich-synthetischen Einheit und nach
den Kategorien, die aus dieser synthetischen Einheit fliessen, richten. Dieses
Vermögen ist nach Kant unsere Einbildungskraft. Sie ist ja ein sinnliches
Vermögen und s i e hat den Charakter der Spontaneität. Die Einbildungs-
kraft ist die notwendige Bedingung und die notwendige Beschränkung jeder
wirklichen Erkenntnis. Zur Erkenntnis gehören nämlich nach Kant zwei
Stücke: erstens der Begriff, die Kategorie, dadurch überhaupt ein Gegen-
stand gedacht wird, und zweitens die sinnliche Anschauung, dadurch der
Gegenstand erst gegeben wird. Der Begriff, die Kategorie ohne die An-
schauung ist nach Kant eine reine Gedankenform, eine reine Erkenntnis-
funktion, weil wir sonst nach Kant eine prästabilierte Harmonie häUen.
494 Fr. M. Sladeczck, Kants Lehre vom Bewusstsein.
Die Anschauung ohne die Kategorie ist blind und darum für uns nichts,
weil sie ja nach der Lehre von der synthetischen Einheit noch gar nicht
in unserem einheitlichen Bewusstsein ist. Die Kategorie mit einer
korrespondierenden Anschauung verbunden gibt erst eine wirkliche Er-
kenntnis. Die Verbindung der Kategorie mit einer korrespondierenden
Anschauung, die Kant die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft
nennt, ist also die notwendige Bedingung und die notwendige Beschränkung
jeder wirklichen Erkenntnis ; die Einbildungskraft ist die Verbindungsbrücke
zwischen Verstand und Sinnlichkeit. Die Lehre von der Einbildungskraft
und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft vollendet so die
Lehre Kants von der Einheit unseres bewussten Seelenlebens.
Kant fasst das Resultat der transzendentalen Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe, der Kategorien, und damit das Resultat seiher Lehre
von der Einheit des Bewusstseins in ungefähr folgende Worte zusammen:
Aprioristische d. h. allgemeingültige Erkenntnis ist nicht möglieh, als ledig-
lich von Erfahrungsgegenständen, und der Erfahrungsinhalt ist, wie wu- im
L Teil gesehen haben, letztlich nichts anderes als der Inhalt unseres Be-
wusst.seins, nichts anderes als unsere psychischen Phänomene, unsere
psychischen Erscheinungen. „Aber die Erkenntnis", fährt Kant fort, „die
bloss auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt ist, ist darum nicht
von der Erfahrung entlehnt". Die Einheit eines jeden Erkenntnisobjektes,
die Einheit eines jeden erkannten Gegenstandes fliesst ja lediglich aus der
ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, ist eine rein schöpferische
Tätigkeit des Verstandes selbst, und dieser ist seiht wieder nichts anderes
als eine rein logische Einheit, nichts anderes als das transzendentale
Ich. Kants Psychologie, Kants Lehre von unserem bewussten Seelenleben,
ist völlig an seiner transzendentalen Erkenntnislehre orientiert.
Zum
philosophischen Schaffen G. Freiherrn von Hertlings.
Von H. Rüster in Bonn.
Das siebzigste Wiegenfest des erfolgreichen Forschers soll auch der
philosophisch-literarischen Täligkeit ein Gedenkblatt sichern, das für dauernd
die geistigen Werte verzeichnet, welche Freiherr v. Hertling schuf.
Nicht ohne Bedauem hat die Wissenschaft es hinnehmen müssen, dass
der politische und slaatsmännische Beruf im letzten Quinquennium mehr und
mehr den Forscher von der engeren stillen Facharbeil abrief, und mit dem
Bewusstsein eines grossen Verlustes hat sie ihn scheiden sehen, als die Gunst
des Landesherrn den geborenen Staatsmann zur Hochvvacht berief. Aber
V. Hertling konnte den Lehrstuhl mit einem höheren Platze vertauschen, da
die bisherige literarische Hinterlassenschaft seinen Gelehrtenruf sicher begründet
hat — und den Wissenschaftler zu einer Rückschau einlädt, die mit Fretulen
als eine dankenswerte Aufgabe übernommen werden kann.
Dass V. Hertlings Schaffen vornehmlich drei Stoffkreisen der
philosophischen Gedankenwelt zu gute kam, darf schon als allgemeinstes End-
urteil behauptet werden, auch wenn die einer historischen Abschätzung stets
förderliche zeitliche Distanz noch keine nennenswerte ist, und die Feder noch
nicht ruht in der Hand des Staatsmannes nach dem Geiste der platonischen
Forderung: ßaadsai . . . elvai tov; hv (pilooocpta . . . yeyoroTu; a^toTov;]
1.
Wer etwa in früheren Jahrzehnten als scharfer Beobachter der bald vor-
tretenden politischen und staatsmännischen Begabung des jungen Philosophen
gewisse Hoffnungen für die Sache der Gesellschaftsphilosophie hegte,
dem hat die literarische Täligkeit der späteren Jahre vollauf Recht gegeben.
Dieser genannten Disziplin wurde stets eine gewisse Bevorzugung und Liebe
der Behandlung zuteil, da der Sozialphilosoph hier aus einer Gedankenwelt
schöpfte, die in ihm mit Macht und Tiefe lebendig war. Zeugnis dessen sind
die vielen Beiträge, deren Aufzählung nicht in einem kurzen Satze gegeben
werden kann. Für die erste Gestaltung des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft
steuerte v. Hertling eine Reihe grundsätzlicher Artikel zur Rechts- und Staats-
philosophie bei. Sie fanden Wiederaufnahme m der Sammlung kleiner Schriften
(X), Seite an Seite mit anderen sozialphilosophischen Vorträgen und Aufsätzen,
die zum Teil Tagesanlässen ihre Anregung verdanken, wie der offene Brief an
Professor A. Ritschi vom Jahre 1888, u. a. in die gleiche Sammlung reihte sich
auch die Monographie über das Verhältnis von Naturrechl und Sozialpolitik vom
Jahre 1893 (VIII). Dem Wissenden kündet schon ihr Inhaltsverzeichnis, dass
496 H. Rüster.
hier einem ebenso prinzipienklaren wie überzeugiingsmutigen Denker Probleme
zur Erörterung stehen, die nicht zu oft und nicht zu gerne der Durchprüfung
unterzogen werden, ihres zum Teil sehr scliwierigen, zum Teil sehr verfäng-
lichen Charakters wegen : Hegriff, Notwendigkeit und Geltungsbereich des natür-
lichen Rechts, naturrechtliche Schranken der staatlichen Gesetzgebung, die
naturrechtliche Grundlage des Eigentums u. a. m. v. Hertlings Studie über Ziel
und Methode der Rechtsphilosophie begegnete dann der positivistischen Ab-
neigung gegen die Rechtsphilosophie, und stellte dem Rechtsposilivismus die
entscheidende Gegenfrage, an der sein Können scheitern muss : ,.Wie die posi-
tivistische Rechtsphilosophie das allem Recht zuletzt zugrunde liegende ethische
Sollen zu erklären vermöge, oder ob sie, weil hierzu schlechterdings nicht imstande,
ohne dasselbe auszukommen vermeine?" Die reife Frucht des Sozialphilosophen,
der seine Theorie auf das breite Fundament reichen Erfahrungsschatzes gründen
kann, liegt heute vor uns in dem erst&n Bändchen der Sammlung Kösel : Recht,
Staat und Gesellschaft; würdiger als mit diesem Wegweiser durch grundsätz-
liche Gebiete der Gesellschaftslehre konnte die gediegene Sammlung nicht er-
öffnet werden ! Und dass dem Gesellschaftstheoretiker von Geist und Erfahrung
der gebührende Vortritt bei der neuen Bearbeitung des Staatslexikons zu-
gebilligt wurde, kam dieser Glanzleistung der Gürres- Gesellschaft wahrlich
sehr zu statten; v. Hertling verwalte'e dort für die Sozialwissenschaften die
Einführung in wesentliche Probleme zumal ihrer Prinzipienlehre (X1X\ Die
vielen Einzelauslassungen zur Sozialpolitik, in der Presse, in den vielbedachten
historisch-politischen Blättern, in den ,, Aufsätzen und Reden" (VI), im Hoch-
land usw. müssen hier übergangen werden, obschon sie sich wegen ihres mannig-
fachen philosophischen Hintergrundes (XVIIIa) über die vergänglichen Erzeugnisse
der Tagesschriftstellerei erheben.
II.
Früh gewann v. Hertling die charaktervolle Eigenart, die seine prinzipielle
Stellung zur Metaphysik, zu den grossen Weltanschauungsfragen und stets
zentralen Aufgaben der systematischen Philosophie eindeutig kennzeichnet und
keine Wandlung erfahren hat. Schon der Bonner Privatdozent der siebziger
Jahre wurde ein sachkundiger Vorkämpfer der teleologischen Weltanschauung,
die gegen Mechanismus und Materialismus das Walten grosser Zweckzusammen-
hänge beachtet und sie in dem letzten intelligenten Weltgrunde sicher verankert.
Sein metaphysisches Hauptwerk (II) zählt zu den erfreulichen Dokumenten
der Opposition gegen den Materialismus, welche dessen wissenschaftliche
Aechlung in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts durch-
zusetzen vermochte; heute lebt er höchstens noch in jener populärphilosophi-
schen Literatur, die nach Paulsens bekanntem Wort die Schamröte über den
geistigen Tiefstand ihrer Leser und Beachter emporsteigen lässt. Solche Auf-
gaben der Popularisierung, die unter dem Drucke von Tagesforderungen oft
nicht geringe Bedeutung annehmen, übersah übrigens auch v. Herlling nicht; die
Umprägung des schweren Goldes der Wissenschaft in die leichter gangbare Klein-
münze, die dem Bildungsbedürfnisse weiterer Kreise dient, erschien ihm darum
schätzenswert genug, um der neuen Frankfurter Broschürenfolge einen Beitrag
zu spenden, der im Streit der Meinungen über das Deszendenzproblem zu
besonnener kritischer Prüfung die Hand bietet (III). Die Schrift will zur ruhigen
Zum philosophischen Schaffen G, v. Hertlings. 497
Sonderung unveräusserlicher Grundgedanken von hypotlielischem Rankwerk
verhelfen, lehrt zwischen der Aufslellung einer Hypothese und ihrer umfassenden
wissenschaftlichen Begründung unterscheiden, und weist mit Nachdruck auf
die antiteleologischen Neigungen des Darwinismus der Schule, die mit ihrer
materialistischen Ausgestaltung Darwinsclier Hypothesen den Meisler im Grunde
desavouierte. Damit traf v. Herlling eine der unwissenschaftlichen Tendenzen,
die zu solchen „geistigen Epidemien" führen, wie der „Darwinismus" eine war
— nicht in geringem Masse geworden war infolge der Werbekraft seines An-
spruchs, die Geister zum entscheidenden Sturm gegen eine leleologisch-theistische
Welt auf fassung sammeln und führen zu können.
Der Schrift gönnte man eine zeitgemässe Neuausgabe, welche zugleich
die grosse Literatur sichtete, die heule den Nekrolog des Darwinismus und Ma-
terialismus bildet.
111.
Im Mittelpunkt der literarischen Tätigkeil v. Hertlings steht die philo-
sophiegeschichtliche Forschung, und es darf unterstrichen werden,
dass ihr die Beachtung der wissenschaftlichen Fachwell mit grossem Beifall
stets hat folgen müssen, v. Hertlings reiche Leistungen auf diesem Gebiete
behalten ihren Charakter meisterlicher Darstellungen und blieben bis heute
eine Fundgrube fruchtbarer Anregungen, die der Fachmann sehr zu schätzen
und auszubeuten weiss !
Wohl nicht zu Unrecht vermuten wir, dass ein System in der philosophie-
geschichtlichen Arbeit v. Hertlings waltet: von der Blütezeit antiken Denkens
geht sein Blick den offenen und verborgenen Wegen nach, die das Reifste und
Beste vom aniiken Philosophieren in der Folgezeit gegangen ist, um schliess-
lich für den Auf- und Ausbau der christlichen Gesamtvorstellung von der Welt
und ihren letzten Gründen in seiner Weise mit massgebend zu werden.
Die Bonner Jahre begannen mit einer eindringenden Analyse über Materie
und Form und die Definition der Seele bei Aristoteles (I), die selbst gegen
den Altmeister Zeller mit Erfolg manche Position behauptete; die Studie über
das Verhältnis der christlichen Lehre zur griechischen Weisheit (XIII) sicherte
u. a. wertvolle methodische Leitsätze für das noch dornenvolle Gebiet der
Forschung zur frühpatristischen Zeit.
Wie sehr v. Hertling die überragende Persönlichkeit Augustins, des grösslen
Gottsuchers im Altertum, gefesselt haben muss, verrät sein auch nach der
formellen Seite glänzend zu nennender „ A u g u s t i n " (XIV) ; das tiefe Ein-
dringen in die ganze geistige Bedeutung dieses Kirchenlehrers befähigte ihn
begreiflicherweise zu wertvollen Aufschlüssen über die nicht geringe Bedeutung
augustinischen Denkens auch für die definitive Form der Lehre des Fürsten
der Scholastik. 1904 gab seine Feder dieser Forschung zu den Quellen der
Philosophie eines Thomas gewissen Abschluss und stellte die Verwendung
der Augustinus-Zitate in den Toxten des Aquinaten fest (XV). Die Uebersetzung
der augustinischen „Bekenntnisse" (XVI) schenkte uns als küstliche Nebenfrucht
der Augustinusstudien eine würdigere Fassung dieser Perle der Wellliteratur
und gab damit zugleich einer Anregung von selten feinsinniger Augustinus-
freunde die Erfüllung.
498 H. Rüster.
Schon viel früher hatte v. Hertling der Spezialforsch ung zur Denk-
bewegung im hohen Mittelalter nachhaltige Antriebe gegeben und mit
kräftigen Strichen Wege künftiger Weiterarbeit vorgezeichnet. Das viele Klein-
werk, das z. B. in seinen Artikeln für die zweite Av.flage des Kirchenlexikons
von Wetzer und Weite und für die Allgemeine deutsche Biographie, in den aus-
giebigen und gehaltvollen Rezensionen (hist.-politische Blätter !) und anderem ')
geborgen ist, mag hier übergangen werden, da seine grösseren Spezialarbeiten
weit mehr besagen. So galt es in der Festschrift ,, Albertus Magnus" (IV)
— dem ersten grösseren Werke von Bedeutung über den Lehrer des Aquinaten
— neben Ansätzen zur Gesamtwürdigung Alberts der Rolle dieses gelehrten
Dominikaners in der grossarli^en Rezeptionsbewegung des XIII. Jahrhunderts.
Kein leeres Wort bleibt der oft formulierte Anspruch Alberts, für die Ueber-
mittelung antiker Wissenschaft, besonders so weit die noch ungeliobenen Schätze
antiker Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik in Frage kamen, mit
dem vollen Einsalz seiner Lebensarbeit einzutreten ; und der Programm-
satz: partes essentiales p'.iilosophiae realis ... facere Latinis intelligibiles-)
blieb in Alberts Munde keine tönende Formel für uneingelöste Pläne! Die
ausgleichende Systematisierung und volle geistige Bemeisterung
des aufgenommenen Erbgutes freilich musste er seinem grösseren Schüler
Thomas überlassen. Als den bedeutendsten Teil der Hertlingschen Festschrift
bewerten wir den Schlussabschnitt über die scholastische Naturforschung
und -erklärung. Es lag dem Philosophiehistoriker hier ersichtlich viel daran,
die mittlere Linie zwischen der Ueber- und Unterschätzung des Grossen für
künftige Forscherarbeit ein für allemal festzulegen — und der Arbeitsplan
ist musterhaft entwickelt worden ! Damals hatte v. Hertling noch guten
Grund zur Klage, dass zu einer umfassenden und tiefgehenden Kenntnis von
dem Realienbesitz des Mittelalters fast kaum die Ansätze gegeben seien. An
den wesentlichen Vorarbeiten also mangelte es, die auch erst zu einer vollen
Würdigung des immerhin charakteristischen Verständnisses Alberts für empi-
rische Naturforschung konkrete Anhaltspunkte und feste, brauchbare Massstäbe
bereitstellen können. Heute kann der Fachmann gewiss behaupten, in dieser
Frage der ersten Grundlegung solch abschliessender Beurteilung schrn etwas
besser gestellt zu sein: ein Blick auf die Fortschritte letzter Jahrzehnte in die
Wissenschafts- und Philosopliiegeschichte kann das genügend belegen^). Aber
auch heute wird wie früher die wissenschaftliche Fachwelt die grösste Gabe
des Hertlingschen Kapitels in der anregenden Skizzierung einer Aufgabe
erblicken, deren Lösung eine allgemeinere Bedeutung innewohnt. — In diesem
Zusammenhange dürfen wir nicht übersehen, dass die Früchte der Anregungen
des Meisters auch in den Leistungen der Schüler - Form gewonnen haben :
') In den Histor.-polit. Blättern , Beil. zur Münchener Allg. Zeitung usw.
*) S. die Einleitung zur Physik, Opera (ed. Jammy, Lugd. 1651), t. II, p. Ib.
*) Kurze Hindeutung in der Einleitung zu unserem Vorbericht über die
Jugendphilosophie Galileis; siehe die Miszelle dieses Heftes. Eingehenderes zur
wissenschaftsgeschichtlichen Forschung und dem wechselseitigen Nutzniessungs-
verhältnis zwischen ihr und der philosophiegeschich'ilichen Forschung im
nächsten Januarheft (1914) des Phil. Jahrbuchs.
Zum philosophischen Schaffen G. v. Hertlings. 499
Bardenhewers Analyse des Liber de causis (IVa) gibt ja auch'^ Rechenschaft
von dem, was er dem Wissen und der Schnlnng v. Hertlings verdankt, nach
der methodologischen und sachlichen Seite. Und Schneiders grosse Mono-
graphien ') haben unseren Kenntnissen von der Psychologie Alberfs des Grossen
d i e Sicherheit und Tiefe gegeben, die wir für die anderen Gebiete alberlinischen
Denkens ebenso schätzen würden.
Den Wegen der sich mehr und melir vervollständigenden Ueberlieferung
antiker, zumal arislolelischer Texte ging dann v. Herllings Aufsalz im Rhein.
Museum weiter nach (V); hier war es dem Sozialphilosophen um die Schick-
sale der slaatsphilosophischen Hauptschrifl des Stagirilen zu tun. Die Mangel-
haftigkeit der Textüberlieferung, die v. Hertlings kritisch aufräumende Unter-
suchung in besseres Licht setzte, lässt für diese Disziplin wenigstens am
Anfange ihrer mittelalterlichen Entwicklungsperiode ein gewisses Zurückbleiben
vermuten ; möge auch diesem bisher noch wenig angebauten Felde die
Arbeiterschar erstehen, die von der wissenschaftlichen Zucht eines Hertling
zu lernen vermocht hat!
Mit dem Aufgezählten näherte sich die literarische Tätigkeit v. Hertlmgs
mehr und mehr dem Gegenstände der letzten philosophiegeschichtlichen Haupt-
schriften, dem Denken an der Schwelle der Neuzeit. Schon hinter
dem bisherigen Schaffen des Philosophiehistorikers, der 1882 den Münchener
Lehrstuhl übernahm und in die bayerische Akademie der Wissenschaften be-
rufen wurde, vermuteten wir einen unausgesprochen leitenden Plan : nämlich
die Absicht, der Kontinuität des philosophischen Denkens nachzuspüren, die
Synthese des Alten und Neuen, den stetigen Forlgang, aber auch die möglichen
Rückschritte und Seitenwege herauszuarbeiten. Werden wir uns da wundern,
dass die grossen historischen Arbeiten des Münchener Philosophen in den
neunziger Jahren als Hauptgewinn — und bleibend wertvollen — die Wirk-
samkeit der überkommenen Denkantriebe in der Philosophie
eines Locke und eines Descartes klar und scharf herausstellten? Die
Hertlingsche Fragestellung ,John Locke und die Schule von Cambridge' (VII)
bleibt von nun an ein bedeutsames Teilthema für jede tiefergehende Würdigung
dieses Engländers, den man — wenn auch nicht allzu charakteristisch •■ den
ersten Empiristen nennt. Zum ersten Male wies v. Hertling umfassender die
negativen, aber auch die positiven, nicht weniger bestimmenden Beziehungen
nach, welche einen John Locke mit den Piatonikern dieser Schule verknüpften,
die von alter Renaissanceherrlichkeit noch lange zehrte ; sie vermittelten für
die rationalistische Seite seines System Versuchs den Keimstoff. Die
weitgehende terminologische Anlehnung und gedankliche Entlehnung aus der
scholastischen Tradition bei Descartes fanden in Hertlings Akademie-
abhandlungen (XI) gleichfalls die erste umfassendere und systematische Unter-
suchung ; gewiss wird künftige Weiterführung das gewonnene Bild noch in
reichem Masse ausgestalten und so dem Alten und Neuen gerecht werden, das
sich in den Systembaulen von Denkern wie die genannten Beiden zusammen-
gefunden hat. — Wie ein reifes Werk der im grossen sichtenden Rückschau er-
scheint, auch ihrem Anlass gemäss, die Festrede v. Hertlings in der bayerischen
0 1903 und 1906, in den „Beiträgen zur Geschichte der mittelalterlichen
Philosophie" IV, 5 und 6.
500 H. Rüster.
Akademie (XVIII). Was letzte Jahrzehnte intensivster Arbeit zumal der
Baeumkerschule *) in reichster Fülle zum künftigen Gesamtbild des philosophischen
Mittelalters beigesteuert haben, tindet in der Beachtung des Wesentlichsien
seine Berücksiciitigung; und für den Gebildeten liegt in dieser auch bequemer
zugänglich gewordenen rednerischen Glanzleistung eine erste der unentbehrlichen
Gesamtorienüerungen vor, in denen wir Facharbeiter auch ihnen Rechenschaft
geben über das heutige Wissen von der Philosophie jener Zeiten, das nun mit
grossen Schritten seiner VervoUsfändigung enigegen geht.
Erneuten Beleg geben letzterem auch wieder die „Abhandlungen aus dem
Gebiete der Philosophie und ihrer Geschichte", welche Schüler und Verehrer
des Gefeierten als Festgabe ihm gewidmet haben. Der Anlas?, der uns heute
die Feder führt, kann natürlich nicht zur eingehenderen Fachwürdigung auf-
fordern, die späterer Gelegenheit vorbehalten bleibt. Aber darauf sei doch hier
schon der Finger gelegt, dass die gebotene Sammlung so recht bezeichnend ein
Wiederliall der wesentlichen programmatischen Arbeitsforderungen geworden ist,
die auch den Meister leiteten, dem dies^e wissenschaftliche Huldigung zugedacht
ist. Die Philosophiegeschichte ist vertreten durch die besten der berufenen
Fachkräfte, und deren Aufsätze haben Beziehung zum heidnischen und christ-
lichen Altertum, zur miltelallerlichen Denkperiode, zur Ueberlieferungsbewegung
in der Zeit der Frührenaissance, zum Anteil der Antike an Descartes' karger
Psychologie, zur Geschichte staatsphilosophischer Gedanken. Aus dem Gebiete
der systematischen Philosophie entbietet jede Disziplin mit ihrer Gedankengabe den
Gruss, ausschliesslich der krönenden, der natürlichen Theologie, der nicht zum
wenigsten bei diesem seltenen Anlasse das Wort gebührt. Denn die Lehre von
Gott ist auch nach der Hertlingschen Metaphysik das Fundament einer geschlosse-
nen teleologischen Weltanschauung — und sie wird den Hörern des Jubilars
stets unvergessen bleiben als der Glanzpunkt seiner metaphysischen Vorlesungen.
Ob wohl die unermüdliche Feder des Philosophen als reifste Altersgabe
diese Vorlesungen über die Metaphysik einer wahrheitsdürstenden Nachwelt
sichern wird? jene tiefen klärenden Gedanken, die der Philosoph in weihevollen
Stunden einer dankbaren Hörerschaft Jahr lür Jahr geschenkt?
IV.
Man kennt das Problemgebiet, dessen Diskussion überall da, wo sie in
die Tiefe geht und noch mehr da, wo es gewisser Konsequenzen sich zu ent-
sinnen gilt, mit dem Namen v. Hertlings verknüpft ist.
So unerschütterlich dem Philosophen die Harmonie von Glauben
und Wissen auch gilt, weil beide Reiche der Glaubens- und Vernunfts-
wahrheiten der einen Urquelle göttlicher Weisheit entstammen (XII), so
dringlich empfand und fixierte er die Aufgabe des Gelehrten, diese Eintracht
in unablässiger Geistesarbeit stets von neuem zu erweisen, wo immer der
Gang der rastlos weiterschreitenden Wissensmehrung es erfordert ; denn „Ein
anderes ist es, sich mit voller Ueberzeugung zu dem Grundsatze bekennen,
dass zwischen Glauben und Wissen, zwischen Offenbarung und Vernunftforschung
') Seit 1893 stand ir Baeumker in der Herausgabe der zitierten Beiträge
(bisher 60 Hefte) zur Seite. — Ueber die letztgenannte und andere bedeutsame
Arbeitsstätten heutigen philosophischen Schaffens vgl. unsere Skizze in der
Liter. Beilage der Köln. Volkszeitung, Nr. 31 vom 31. Juli ds. Js.
Zum philosophischen Schafien G. v. Herthiigs. 501
ein Widerspruch nicht bestehen könne, ... — und ein anderes, in jedem
Einzelfalle zwischen den Geboten des einen und den Anforderungen des anderen
das richtige Verhältnis zu finden und festzuhalten" (XVIIa). Stets hören wir
den Grundton dieser Ueberzeugungen und Mahnungen wiederkehren in den
Generalversammlungen der Görres-Gesellschaft, auf internationalen Kongressen
katholischer Gelehrten, in den vielen Vorträgen und Aufsätzen über den
Katholizismus und die Wissenschaft, die an sehr zerstreuten Orten ') zu lesen
sind und ihrem Inhalte nach den Gedanken eines geistesverwandten, gleich
weitschauenden früheren Fachgenossen, des Kardinals Mercier, so nahe stehen
(XVIla. b). Wem stände auch wohl dieses Amt des wachsamen Fürsprechers aller
Geisteskultur im katholischen Deutschland eher zu, als der Persönlichkeit, die
durch reiche Arbeitsproben vollgültig bewiesen hat, dass ein lauteres Ideal
echter Wissenschaftlichkeit sie durchglüht, dass sie durchdrungen ist
von dem Eigenwert der Vernunftswissenschaft, die zuerst ihre
selbstgegebenen Aufgaben zu lösen hat, und dann auch Nutzwerte für andere,
letzthin für die Glaubenswissenschaft, abwerfen kann.
So ausserordentlich gross die Bedeutung v. Hevtlings als Kul tur e rzieher
ist, und so anziehend die Würdigung seiner Verdienste um das Wissenschafts-
leben im katholischen Deutschland — diese Seite seiner Lebensarbeit muss
eingehender Sonderbetrachtung überlassen bleiben, die dabfei der Gründung der
, Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland'
(1876) als einer Stätte der Einigung und Unterstützung erprobter Arbeitsinteressen
mit Vorzug zu gedenken hätte. Gerade diese Tat versteht sich in ihrer tiefsten
Bedeutung, wenn man des letztskizzierten Gedankenhintergrundes nicht vergisst —
sie ist ja ein organisatorisches Machtmittel, das der zuversichtlichen Ueber-
zeugung von der „Kulturfähigkeit" des Katholizismus zu werktätigem
Ausdruck verhelfen soll und kann, wie ihr überraschender Ausbau und ihre
Leistungen beweisen. Und dieselbe unwandelbare Gewissheit vom Bunde der
Vernunft und der Offenbarung inspirierte denn auch jenes temperamentvolle
Wort vom katholischen Gelehrten in den kleinen Schriften (S. 572) : „Ein
einziger Gelehrter, der erfolgreich in die Forschung eingreift, dessen Name
mit weithin sichtbaren Zeichen in die Blätter der Geschichte eingegraben ist,
und der sich zugleich in seinem Leben stets als treuer Sohn der Kirche be-
währt hat, wiegt ganze Bände Apologetik auf."
Mit diesem Worte gab v. Hertling selbst die ßekenntnisformel seiner
Geistesart und seiner Lebensziele.
In diesem Geiste wird auch die junge wissenschaftliehe Generation'-), an
Schaffensfreude der früheren ebenbürtig, an Zahl ihr zweifellos überlegen
(XVII a), dem weisen Führer folgen und nach Kräften die Bausteine schaffen,
welche das grosse Gedankenwerk sollen aufbauen helfen, in dem der Natur und
Uebernatur, Zeitlichem und Ewigen der nachbildende Denkgeist gerecht zu
werden hoffen darf — soweit es ihm vergönnt ist.
>) Z. B., abgesehen von den Kleinen Schriften (X) und den Jahresberichten
der Görres-Gesellschaft (vor allem 1907, 1908, 1909), in den Hist.-polit. Blättern
(z. B. 1896/7), in der Liter. Rundschau f. d. kathol. Deutschland, der Wiss. Beilage
der Germania, der Kath. Schulzeitung für Norddeutschland usw.
2) Vgl. S. 500, Anm. 1.
Philosophisches Jahrbuch 1913. **"
502 H. Rüster, Zum plii'osophiscl.en Schaffen G. v. Hertlings.
Bibliographie des Wesentlichen.
I. 1871 : Materie und Form und die Definition der Seele bei Aristoteles. Ein
krit, Beitrag zur Geschichte der Philosophie (Bonn, Webei).
II. 1875: Ueber die Grenzen der mechanischen Naturerklärung. Zur Wider-
legung der materialistischen Weltaiisicht (Bonn, Weber).
III. 1880: Der Darwinismus. Eine geistige Epidemie (Frankf. Broschüren, N. F. I,»).
IV. 1880: Albertus Magnus. Beiträge zu seiner Würdigung (Köln. Bachemi
IVa. 1882: Die pseudoaristotel. Schrift über das reine Gute, bekannt unter dem
Namen Liber de causis. Im Auftrage der Görres-Gesellschaft bearbeitet
von 0. Bardenhewer (Freiburg i. B., Herder), Vgl. vor allem die Dar-
legungen S. 257 ff.
V. 1884: Zur Geschichte der aristotelischen Politik im Mittelalter (Rhein.
Museum N. F. Bd. 39).
VI. 1884: Aufsätze und Reden sozial-polit. Inhalts (Freiburg i. Br., Herder).
VII. 1892 : John Locke und die Schule von Cambridge (Freiburg i. B., Herder'.
VIII. 1893: Naturrecht und Sozialpolitik (Köln, Bachern),
IX. 18 '5: Ueber Ziel und Methode der Rechtsphilosophie (Phil. Jahrb. Bd. VIII).
X. 1897: Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Sozialpolitik (Freiburg i. B.,
Herder).
XI. 1897, 1899 : Descartes' Beziehungen zur Scholastik (Sitzungsber. d. bayer.
Akad. d. Wissenschaften).
XII. 1899: Das Prinzip des Katholizismus und die Wissenschaft. (Freiburg.
Herder, 1.— 4. Aufl.).
XIII. 1900: Christentum und griechische Philosophie. (Vortrag, gehalten auf
dem V, internat. Kongress kathol. Gelehrten in München, 1900; vgl. Phil.
Jahrbuch Bd. XIV, 1901).
XIV. 1902 : Augustin. Der Untergang der antiken Kultur (Weltgesch. in Charakter-
bildern, Mainz, Kirchheim).
XV. 1904: Augustinus-Zitate bei Thomas von Aquin (Sitzungsber. der bayer.
Akad. d. Wissensch),
XVI. 1905 : Die Bekenntnisse des hl. Augustinus. Buch I— X. Mit Einleitung (Frei-
burg, Herder ; 5. Aufl. 1910).
XVII. 1906: Recht, Staat und Gesellschaft (Sammlung Kösel V.
XVIIa. 1907: Die tiefsten Quellen der gegenwärtigen Beunruhigung in kathol.
Kreisen. Eröffaungsrede bei der Gen.-Vers. der Görres-Gesellschaft zu
Paderborn (siehe den Jahresbericht; ein Abdruck in der Köln. Volksztg.,
Jg. 48. n. 828).
XVIIb. 1909: Ueber alte und neue Philosophie. Eröffnungsrede ... zu Regensburg.
XVIII. 1910: Wissenschaftliche Richtungen und philosophische Probleme im
XIII. Jahrh. (separat München, Franz; , Hochland' Dezember 1910).
XVIIIa. Politik und Weltanschauung (Hist.-polit. Blätter Bd. 145).
XIX. 1911 : Staats-Lexikon der Görres-Gesellschaft; 4. Aufl., s Bd. I— IV, unter den
Stichworten : Absolutismus. Aristoteles. Aristokratie. Augustinus. Autorität.
Buieaukratie. Demokratie. Despotie. Freiheit. Gleichheit, Monaichie.
Politik. Republik. Staat (Begriff, Uisprung, Zweck und Aufgaben, Grenzen
der staatl. Kompetenz, Staat, Gemr'inde und Gesellschaft\ Staatsgewalt.
[Augustin., 4. und 5, Auflage, 10.— 11. Tausend.]
Rezensionen und Relerate.
Naturphilosophie und Psychologie.
Summa Philosophiae Christiaiiae. IV. Cosmologia. Auetore
Josepho Donat, Dr. Theol. et Prof. in Univ. Oenipontana.
Oeniponte 1913, Fei. Rauch. VIII, 306 p.
Die drei bereits erschienenen Bändeben dieses Philosopbiekursus
(Logica, Ontologia, Psychologia) haben wir im ,Phil. Jahrb.' 1911 Heft 1
S. 113 f. besprochen. Dort hatten wir Gelegenheit, die nicht gewöhn-
lichen Vorzüge der Donatschen Lehrbücher hervorzuheben. Der Verf.
ist sich auch im vorliegenden ßändchen in dieser Hinsicht treu geblieben.
Der Stoff ist in der üblichen neuscholastischen Weise angeordnet.
Zuerst wird von der Natur der Körper, dann vom Leben der Pflanzen,
und schliesslich vom Ursprung der anorganischen und organischen Welt
gehandelt. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Körp^^r vertritt der
Verf. einen gemässigten Hylomorphismus, wonach in den Lebewesen die
Seele auf alle Fälle die wahre substanziale Form des Körpers ist,
während in den anorganischen Körpern mit Wahrscheinlichkeit Molekel
und Atome mit substanzialen Formen begabt sind, die vielleicht auch
eine raateria prima informieren. In den beiden Kapiteln über den Ur-
sprung der anorganischen Welt und über den Ursprung der Organismen
ist auf die neueren und neuesten Systeme in guter Weise Bedacht ge-
nommen. Zwei Ansichten des Vf.s werden nicht in allen scholastischen
Kreisen uneingeschränkte Zustimmung finden: 1. „Es ist probabel, dass
nicht bloss unsere Erde von Menschen bewohnt wird, sondern dass auch
auf anderen Sternen vernünftige Wesen wohnen oder einmal wohnen
werden" (p. 199); letzteres wird von der Dogmatik ja wohl allgemein
angenommen werden : der neue Himmel und die neue Erde als Wohnsitz
der Seligen ; ersteres steht weniger fest, deswegen wäre eine Scheidung
der These in zwei Teile wohl angebracht gewesen. 2. „Innerhalb der
Reiche der Pflanzen und Tiere scheint eine Umbildung oder polyphyle-
tische Entwickelung im Bereiche der höheren Gattungen angenommen
werden zu müssen, eine monophyletische Entwicklung aber scheint nicht
zulässig zu sein" (p. 282). Ich glaube, dass man statt müssen besser
dürfen sagen müsste.
Die vorzügliche Sammlung sei aufs neue bestens empfohlen.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
32*
504 Chr. Schreiber.
l)<'r neuere Geisterg-laiibe. Tatsachen, Täuschungen und Theorien.
Von Dr. Wilhelm Schneider, weil. Bischof von Paderborn.
Dritte, verbesserte und bedeutend vermehrte Auflage. Bear-
beitet von Dr. Franz Walter, o. ö. Prof. der Theologie an
der Universität München. Paderborn 1913, Ferdinand Schöningh.
XII, 610 S. Preis broschiert Ji> 10,—.
Der Herausgeber des vorliegenden Buches „glaubte aus Gründen der
Pietät Anlage und Charakter des Buches, wie es der Feder des ver-
ewio-ten Bischofs entstammte, wahren zu sollen. Trotzdem mussten die
neueren Forschungen auf spiritistischem und okkultistischem Gebiete
nachgetragen werden. Dadurch ist es freilich bisweilen notwendig ge-
worden, Zusätze und Aeuderungen in ausgedehntem Masse zu machen.
Auch in formeller Hinsicht wurden manche redaktionelle Zitate bedeutend
gekürzt« (S. VI).
Auch in der neuen Auflage weist das Buch also die bekannte Ein-
teilung auf. Zuerst ist die Rede vom Ursprung und der Verbreitung
des Spiritismus unter den heidnischen Völkern, sodann von den „Ueber-
lebsf.ln" des heidnischen Spiritismus und den Vorläufern des modernen
Spiritismus, hierauf wird die Entstehung und Verbreitung des neueren
Spiritismus geschildert, es treten die Hauptmedien mit ihren Pro-
duktionen vor uns auf, wir hören ihre Offenbarungen und Lehren, die
wie von selbst zu einem Vergleich mit den Offenbarungen und Lehren
des Christentums hindrängen. Sodann wird der angebliche Wert des
Spiritismus sowie der moralische und intellektuelle Zustand der Spirits
und ihrer Medien geprüft; es wird sodann die Tatsachenfrage aufge-
worfen, und schliesslich werden die bis jetzt aufgestellten Theorien zur
Erklärung der spiritistischen Tatsachen dargelegt und einer kritischen
Begutachtung unterzogen: Die Betrugstheorie, die Halluzinatiouslheorie,
die Theorie mechanischer, vitaler und psychischer Kräfte, die Theorie
der „magischen Kraft", die spiritistische Theorie, die Hypothese „vier-
dimensionaler Wesen", die dämonistische Theorie; der Verfasser selbst
stellt sich auf eine mittlere Linie, indem er erklärt, dass für die häufig-
sten Erscheinungen keine aussernatürliche Ursache anzunehmen sei,
.wenngleich bei manchen Vorgängen Symptome für eine aussernatürliche
Ingerenz nicht zu verkennen seien.
Ich möchte, um in der Kritik gl'nich an den letzten Punkt anzu-
knüpfen, die auf langer und eingehender Beschäftigung mit der Frage
beruhende üeberzeugung ausspiechen, dass bei den bekannten spiri-
tistischen Produktionen überhaupt nicht an eine aussernatürliche
(z. B. dämonische) Ingerenz zu denken ist, sondern alle Vorgänge restlos
durch natürliche Ursachen sich erklären lassen. Vorzügliche (auch dem Vf.
W. Schneider, Der neuere Geisterglaube. 505
bekannte) Ffiststellaogen dieser Art hat besonders Ettlinger in seinen
, Philosophischen Fragen der Gegenwart" (Kempten 1911, Kösel) unter dem
Titel „Sind die spiritistischen Erscheinungen natürlich erklärbar?" (S.87ff.)
veröffentlicht. Ich glaube, dass die hier befolgten Richtlinien in dieser
dunklen Frage mit Zuversicht für die weitere Forschung einzuhalten sind.
Freilich, mit dem Tatsachenmaterial allein ist uns nicht ganz gedient : die
philosophische Seite der Frage muss unseres Erachtens schärfer in
Angriff genommen werden, als dieses meistens geschieht, und auch bei
Schneider- Walter geschehen ist.
Es ist philosophisch vor allem festzustellen, inwieweit ein Eingreifen
einer aussernatürlichen Ursache notwendig ist zur Erklärung der
gesicherten spiritistischen Tatsachen, Zu diesem Zwecke ist der philo-
sophische Beweis zu erbringen, dass eigentliche Zukunftsschau nur einem
allwissenden und ewigen Wesen möglich ist, und dass eigentliche (also
absolute) Wunder eine unendliche Kraft erfordern, al.so wiederum nur
von Gott ausgehen können. Wer diese philosophische Sachlage klar
erfasset hat, wird nicht in die Gefahr kommen, mit Zurbonsen für die
»Zweiten Gesichte« ein natürliches (1) »Vorschauvermögen« bei den Kiekern
anzunehmen, der wird, wo absolute Wunder und eigentliche Vor-
schauungen vorliegen, überhaupt nicht an geschöpfliche, sei es mensch-
liche oder dämonische, Kräfte denken, sondern sich sagen: entweder ist
Gott im Spiele oder es ist, wo dies nicht der Fall sein kann, z. B.
wegen der Beschaffenheit der Vorgänge oder der sie ausführenden Spirits
und Medien, direkt an Taschenspielerkünste, Betrug, zufällige Koinzidenz
u. dergl. zu denken, auf alle Fälle nicht an aussergewöhuliche natürliche
Kräfte oder an dämonische Einflüsse. Nun bleibt ja allerdings noch ein
weites Feld von solchen V'^orgängen, die gegebenenfalls auch von Dämonen
oder guten Geistern vollbracht wt^rden könnten, weil sie zwar eine über-
menschliche, aber doch keine göttliche Kraft erheischen. Indes auch für
solche Fälle gibt die Philo>-ophie gute üntersch^jidungsmerkmale an die
Hand, sodass man wenigstens sagen kann, inwieweit ein Eingreifen guter
Geister ausgeschlossen und eine Beteiligung böser Geister wenigstens
nicht notwendig anzunehmen i{?t. Jedenfalls würde die ganze Sachlage
wesentlich klarer werden, wenn sie möglichst allseitig philosophisch er-
örtert würde.
Was die Literaturverwertung betrifft, so dürfte, soweit ich sehe,
die italienische und die französische Literatur noch eine stärkere Be-
rücksichtigung verdienen.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
506 M. Meier. W.v. Gossler, Die analytische u. synopt. Begriffsbildung.
Geschichte der Philosophie.
Die analytische und synoptische Begriflfsbildung bei Sokrates,
Piaton und Aristoteles. In.-Diss. Von Wilh. v. Gossler.
Heidelberg 1913, Univ.-Buchdruckerei von J. Hörning. VII u. 78 S.
Das Hauptgewicht dieser wertvollen Arbeit liegt auf Plato. Da es
nun höchst interessant ist zu verfolgen, wie Plato sich, von Sokrates
herkommend, weiterentwickelt hat, so lag es nahe, mit den spärlichen
Hinweisen auf die analytische Theorie der Begriösbildung bei Sokrates
zu beginnen. Das geschieht vom Verf. in der Weise, dass der Xeno-
phontische Sokrates und der Sokrates des „Laches" und „Charmides"
einander gegenüber gestellt werden. — Indem v. Gossler im wesentlichen
die Reihenfolge der Abfassungszeit der platonischen Dialoge zugrunde legt,
wie sie von Raeder, Praechter u. a. vertreten wird, weist er überzeugend
nach, dass auch Plato noch in der sokratischen Periode seines Denkens
bei der überkommenen analytischen Theorie der Begriösbildung verbleibt.
Je mehr sich dann bei Plato die ontologisch interpretierte Ideenlehre
ausprägt, desto mehr vertiefen sich die auch schon früher auftretenden
,, optischen Analogien" zu sachlicher Bedeutung. Der Begriff wird nicht
mehr aus dem Einzelnen durch Zergliederung herausgeholt als ein in
jedem Einzelnen Enthaltenes, pond^rn er wird gleichsam in ekstatischem
Schwung« gewonnen durch ,,eine zusammenschauende Intuition, welche
das alle die einzelnen Exemplare vereinigende Gemeinsame selbständig
erfasst" (S. 43). In dem Nachweise des Zusammenhanges
dieser „synoptischen" Theorie der Begriffsbildung mit
der metaphysisch interpretierten Ideenlehre Hegt der
Schwerpunkt der Arbeit. Den Nachweis führt Verf. insbesondere
an Symposion, Phaedon, Politeia, Phaedros, Theaetet. Im Gegensatz zu
Natorp bekennt sich v. Gossler zu der von den Marburgern als herrschend
bezeichneten Auffassung der Ideen, weil der platonische Text für sie
zeuge, und weil sie allein die Angleichung der verschiedenen, bei Plato
sich kreuzenden Gedankenmassen zu einem einheitlichen Ganzen ergebe.
Aus dieser Stellung heraus bringt er eine auch auf einzelnes eingehende,
scharfsinnige Polemik gegen die Platoerklärung der Marburger Schule,
vor allem gegen Natorps bekanntes Buch. — Im Schlussteile wendet sich
Verf. Aristoteles zu und weist hier verständnisvoll nach, wie sich die
analytische Theorie der Bildung des Gattungsbegriffes in die Metaphysik
des Aristoteles einordnet, sich aus dieser ergibt und so im Einklänge
steht mit dem aristotelischen System, soweit dieses in einem Gegensatz
zu Plato sich befindet. — Die überaus gründliche und reich dokumen-
tierte Untersuchung verdient alle Beachtung.
München. Dr. Matthias Meier.
A. Rohner, Das Schöpfungsproblem bei Moses Maimonides usw. 507
Das Schöpfungsproblera bei 3Ioses Maimonides, Albertus
Magnus und Thomas von Aquin. Von A. Rohner 0, Pr.
(Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. XI
Heft 5). Münster i. W. 1913, Aschendorff.
Um das Gewicht, welches die Auktorität des hl. Thomas in der
Frage nach der Möglichkeit eiuer anfangslosen Schöpfung der Bejahung
verleiht, abzuschwächen, hat man behauptet, er habe sich dabei von
den Zeitverhältnissen, speziell durch Maimonides beeinflussen lassen, und
daraufhin sogar seinen Lehrer Albertus desavouiert. Da muss es als
eine dankenswerte Arbeit erscheinen, dass der Vf. vorliegender Schrift
die Lehren dieser drei Männer und ihr Verhältnis zu einander in Bezug
auf diesen Punkt und allgemeiner in Bezug auf das ganze Schöpfungs-
problem einer eingehenden Untersuchung unterzieht. Er kommt zu fol-
gendem Ergebnis:
L Moses Maimonides und Albertus Magnus. 1. Beide lehren, dass
wir nur durch die Offenbarung die Erschaffung der Welt erkennen.
Ueberweg-Heinze irrt, wenn er Maimonides eine vernünftige Erkenntnis
derselben zuschreibt. 2. Beide verwerfen die aristotelische Lehre von
der Ewigkeit der Welt, die gegen die Glaubenslehre verstösst. Diese ist
auch philosophisch vorzuziehen. 3. Nach Maimonides kann die Vernunft
über die Möglichkeit einer ewigen Welt nicht entscheiden. In der Physik
führt Albertus einige Argumente gegen die Ewigkeit an. 4. In der
Summa theologica behauptet er die Unmöglichkeit unter Voraussetzung
der Er seh äff u ng. Es ist also irrig, zu behaupten, A. habe philo-
sophisch die Unmöglichkeit beweisen wollen.
II. Maimonides und Thomas von Aquin. L Tbomas lehrt die Er-
schaffung der Welt ans Vernunftgründen, Maimonides nur durch Offen-
barung. 2. Dass die Welt einen zeitlichen Anfang hat, kann nicht
demonstrativ bewiesen werden: beide stehen auf diesem kritischen Stand-
punkte. 3. Beide lehren gegen Aristoteles, dass die Vernunft die Not-
wendigkeit einer ewigen Welt widerlegen kann. Dieses betont Thomas
stärker als Maimonides. Keiner tritt positiv für die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit einer ewigen Welt ein.
III. Albertus Magnus und Thoma.«. 1. Thomas lehrt, da«s die Schöpfung
aus nichts demonstrativ bewiesen werden könne, Albertus: wir wissen es
nur durch den Glauben. 2. Nach Thomas kann die Zeitlichkeit der Welt
nicht demonstrativ bewiesen werden; nach Albertus kann der zeitliche
Anfang der Welt unter Voraussetzung der Schöpfung domonstrativ be-
wiesen werden. 3. Die aristotelische Lehre von der Weltewigkeit ver-
wirft Albert mit Thomas aus theologischen und philosophischen Gründen,
doch nicht mit derselben Klarheit und Schärfe wie Thomas.
508 (i- Wunderle.
„Stöckl kommt es äusserst merkwürdig vor, dass der hl. Thomas
die christlichen Vorgänger verlassen konnte, um sich Maimonides anzu-
schliessen. Allein der Aquinate sah eben ein, dass Maimonides in
manchen Punkten richtiger gesehen hat. Wir möchten den Grund darin
suchen, dass der hl. Thomas die aristotelische Philosophie tiefer erfasste,
die ganze Tragweite der aristotelischen Prinzipien besser erkannte und
durchschaute als sein Meister Albertus Magnus, dass der hl. Thomas die
Philosophie schärfer und durchgängiger von der Tht^ologie unterschied
und beide wieder in eine innigere Verbindung mit einander brachte als
Albertus Magnus." Wir sind der Ueberzeugung, dass der hl. Thomas von
Aquin das Schöpfungsproblem am schärfsten gestellt und am besten
gelöst bat".
Dieses letztere muss man schon von vorneherein annehmen, da es
nicht glaublich ist, dass der Fürst der Scholastik gerade in einem für
Philosophie und Theologie so wichtigen Probleme versage.
Aus der Schrift des Vf.s kann man wenigstens so viel entnehmen,
dass das Problem von der Möglichkeit und Unmöglichkeit einer ewigen
Welt vielfach für gar zu leicht erachtet wird, und die Auktorität und
die Gründe des hl. Thomas zu gering eingeschätzt werden.
Fulda. Dr. C. Gntberlet.
Die Lehre des Thomas von Aqiiino De passionibiis aiiimae
in quellenanalytischer Darstellung. Von Dr. Matthias
Meier (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittel-
alters ; herausgegeben von Gl. Baeiimker in Verbindung mit
Gg. Frhrn. von Hertling und M. Baumgartner. Band XI Heft 2).
• Münster i. W. 1912, Aschendorff. XV und 160 S. geh. Ji, 5,50.
Der anziehende Passionentraktät in der theologischen Summe des
Aquinaten wird in der vorliegenden Studie nicht zum eisten Male be-
arbeitet. Neben seiner häufigen Verwendung für allgemeinere psycho-
logische und moraltheologische Untersuchungen ist er in Morgotts
Werk über die Theorie der Gefühle im Systeme des hl. Thomas
(Eichstätt 1864) und in Ottens umfangreichem Aufsatz über die
Leidenschaften (Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie
1887/88) ganz speziell und eingehend behandelt worden. Im Unterschiede
von diesen beiden mehr systematischen und sachlichen Dar.stellungeu,
geht die Aufgabe Meiers dahin, in erster Linie die Quellen aufzudecken,
aus denen Thomas das Material für seine Passioncnlehre geschöptt hat.
,,Die Lehre selbst werde ich« — so formuliert der Autor sein Programm
(S. 3 f.) — >nur unter dem Gesichtspunkte fassen, nach welchem die Art
und Weis« und der Umfang der inhaltlichen Beeinflussuag von fremden
M. Meier, Die Lehre des Thomas von Aq. De pass. an. 509
Gedanken am leichtesten ersichtlich wird. Ich werde unf^ntwegt darauf
achten, was Thoraas für seine Abhandlung an überkommenem Material
zur Verfügung gestanden ist, was er benutzt, wie er es verwertet und
zur Einheit in sein System aufgenommen hat".
Wir müssen dem Verfasser das Zeugnis geben, dass er mit einer
vielseitigen und gründlichen Kenntnis an seine schwierige Aufgabe heran-
getreten ist. Der wissenschaftliche Apparat ist manchmal sogar etwas
zu umfangreich und schwerfällig; viele Noten ziehen förmlich von dem
im Texte erörterten Thema ab. Die Durchdringung und Verarbeitung
des Stoffes selbst lässt mancherorts etwas zu wünschen übrig, infolgedessen
entbehrt auch die Darstellung dann und wann der notwendigen Ge-
schlossenheit. Trotz dieser Mängel mus3 Meiers Studie als eine bedeutende
Leistung anerkannt werden; sie verdient die Beachtung nicht nur des
Philosophiehistorikers, sondern auch des modernen empirischen Psycho-
logen, für den der Vergleich seiner rein induktiven Methode mit der in
der Hauptsache deduktiven der Scholastik nicht ohne Interesse und
Gewinn sein dürfte.
Der Inhalt des Werkes zprfällt in zwei Teile. Im ersten Teil werden
die Passionen der Seele im allgemeinen, im zweiten die
Passionen der Seele im speziellen untersucht. Wir finden den
schwierigen Begriff und die verschiedenen Bedeutungen der passio (passio
communiter dicta, proprie dicta, propriissime dicta) eingehend erläutert;
die wichtige Gliederung der bekannten elf passiones in solche der virtus
coDcupiscibilis und der virtus irascibilis tritt klar hervor. Schon bei
diesen allgemeinen Erörterungen wird der überragende Einfluss
des Aristoteles auf die Passionen lehre des Aquinaten ganz
deutlich offenbar. Interessant ist die Feststellung (7): „Ich finde von
Aristoteles nicht weniger als 226 Zitate, unter welchen 98 der Ethik, 49
der Rhetorik, 22 der Metaphysik, 14 de anima u. s. f. angehören. Von
Augustinus zähle ich nur 56 Zitate, 16 aus de civitate Dei, 8 aus de
trinitate; von Pseudo-Dionysius finden sich 12 Zitate, 10 aus de divinis
nominibus; von Johannes Damaszenus 9 aus de fide orthodoxa. Man
sieht auf den ersten Blick, dass Thoaias an Ari.'itoteles in dieser Ab-
handlung wohl den vorzüglichsten Gewährsmann hatte. Wie sehr die
ganze Abhandlung inhaltlich von ihm beeinflu.sst ist, beweist die Tat-
sache, dass es nicht etwa »konventionelle oder dekorative« Zitate sind,
. . . sondern dass auch als Hauptautoriiät, die für die nachfolgende
Auseinandersetzung in einem Artikel massgebend ist, Aristoteles am
häufigsten zitiert wird". Näher wird das Verhältnis zwischen dem
Stagiriien und dem Aquinaten später (125) also bestimmt: „Aristoteles
ist in der philosophischen Behandlung der Affekte Empiriker, Thomas
vor allem Dialektiker. Ihm i.st es de.shalb nicht so fast um das empirische
Material zu tun, an dem die aristotelische Affektenlehre so reich ist,
510
P. Minges.
als um einzelne Sätze, •Definitionen und Formalbestimmungen, die er
seinen Ausfüi:jruagen zu gründe legt und nach allen Seiten hin zergliedert
und erörtert. Was Thomas an empirischen Beobachtungen von Aristo-
teles übernimmt, wird bei ihm nicht als solches verwertet und weiter
ausgeführt, sondern in den Dienst der Dialektik gezogen". Nach der
Gesamtausführung halten wir diese Charakteristik und die ähnliche, im
j.Schluss" gegebene (156 ff.) für zutreffender als das im Vorwort (XIV)
ausgesprochene Urteil: „Wenn Thomas auch die passiones nach dem
Schema der Seelenvermögen bestimmt und einteilt, so behandelt er sie
in seiner umfassenden Darstellung doch nicht in rein formalen Aus-
führungen und dialektischen Betrachtungen, wonach sich seine ganze
Passionen-Lehre in der Tat wie ein totes Schema ausnehmen musste,
sondern verbindet mit den metaphysischen Spekulationen eine über-
wiegende Fülle teils entlehnter, teils eigener psychologischer Beobachtungen
auf dem Gebiete des Affektlebens". Thomas' eigene Arbeit und seine Art
der selbständigen Gestaltung des aus der antiken und patristischen
Psychologie aufgenommenen Stoffes hätte wohl genauer festgestellt und
in einer eigenen üebersicht — nicht bloss in gelegentlichen Hinweisen
des aligemeinen Teiles und bei Besprechung der einzelnen Affekte — zu-
sammengefasst werden sollen. Dazu wäre freilich vorher eine wenigstens
grosszügige Kennzeichnung und Unterscheidung der literarischen Quellen
selbst erforderlich gewesen. Die Psychologie des Aristoteles trägt gewiss
ein ganz anderes Gepräge wie die Augustins, den Meier (5) „den Haupt-
vertreter des Neuplatonismus" nennt. Die aus solcher Quellenscheidung
sich ergebende Frage, ob und inwieweit auch Thomas schon an seinen
Vorgängern Kritik geübt habe, wäre dann einer ausführlicheren Beant-
wortung sicher gewesen. Gerade beim Passionentraktat müsste das von
grösstem Werte sein, weil sich in ihm die thomistische Denk- und
Forschungsweise in bes^onders gelungener Weise krystallisiert.
Eich statt. Dr. Georg Wuiiderle.
Der Konzeptiuilisimis in der Universalieiilelire des Frar.zis-
kanererzbischofs Petrus Aiireoli (Pierre d'Auriole), nebst
biographisch - bibliographischer Einleitung. Von Dr. P. Ray-
mundus Dreiling 0. F. M., Priester der sächsischen Franzis-
kanerprovinz (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des
Mittelalters, Bd. XI, Heft (5. Münster i. W. 1913, Aschendorff).
8. XIII. 224 S.
Diese Studie ist sehr zu begrüssen und zu empfehlen. Sie bietet
weit mehr, als diii entsprechenden Abhandlungen bei Werner usw., e^
wird wenigstens teilweise auch handschriftliches Material zum Vergleich
R. Dreiling, Der Konzeptualismus in der Universalienlehre. 511
herbeigezogen ; die einschlägige Literatur wird in reichlichem Masse
zitiert und benutzt. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie viel Mühe
eine derartige Schritt macht; deshalb muss man mit dem Gebotenen zu-
frieden sein. Man möge das Buch selbst lesen. Ich werde auf die
üniversalienlehre Aureolis und dabei auf unsere Darlegung wohl später
weitläufig zu sprechen kommen. Für jetzt will ich nur folgendes be-
merken. Der Verf. hätte bei Vorführung der Gründe, weshalb Aureoli
und andere zu Beginn des 14. Jahrhunderts plötzlich wieder mehr oder
minder dem Nominalismus huldigten, passend darauf hinweisen können,
dass Johannes Saresberiensis gerade bei Besprechung der so verschiedenen
Ansichten hinsichtlich der Universalien bemerkt (Metalogicus, lib. 2,
cap. 18: Migne P, L. tom. 199, col. 876): „Fere quot homines, tot
sententiae, Nam de magislris aut nullus aut rarus est, qui doctoris
sui velit inhaerere vestigiis. Ut sibi faciat nomen, quisque proprium
cudit errorem, sicque fit, ut dum se doctorem corrigere promittit, se
ipsum corrigendum aut reprehendendum tam discipulis quam posteris
praebeat". Gehört nicht vielleicht auch Aureoli zu diesen Magistern?
Es wendet ja bereits der heil. Antonin von Florenz (S. 34, 181) auf ihn
das Wort an ,,manus eins contra omnes, manus omnium contra eum".
Es wird zudem öfters von seiner Liebe zur Unabhängigkeit, Selbständig-
keit und Neuerung, oder von seinem starken Vertrauen auf eigenes
Können ge.sprochen (S. 127, 179 fi.); ferner, dass er nicht bloss Duns
Skotus, sondern auch den heil. Thomas, Alexander von Haies und andere
bekämpft , ja dass gelegentlich ein spöttischer Ton über den Formalis-
mus de.s Skotus zum Durchbruch kommt, und dass er diesen, seinen
eigenen Lehrer, den tiefen Denker, der Oberflächlichkeit beschuldigt
(S. 211 ff.). — Der Verf. bemerkt selbst (S. XI, 207, 215), dass seine
Arbeit Lücken und Mängel hat, der Ergänzung und Weiterführung fähig
und bedürftig ist; er stellt deshalb eine Reihe weiterer Abhandlungen
über Aureoli in Aussicht. Dies ist sehr lobenswert; hierzu möchte ich
nun einige Wünsche und Bitten vortragen. Bekanntlich übt die An-
schauung eines Auktors betreffs der Universalien wesentlichen Einfluss
aus auf seine Gottes- und Trinitätslehre, wie sich dies speziell bei Skotus
zeigt, sogar bei manchen Sätzen seiner Psychologie, Christologie und
Eacharistielehre. Ein tieferes Eingehen auf diese Punkte, gleichsam auf
die Nutzanwendung, ist unbedingt notwendig, wenn man sich ein voll-
ständiges Bild über die Auffassung eines Philosophen, der zugleich Theo-
loge ist, machen will ; um so mehr bei Aureoli, welcher so scharf den
skotistischen Formalismus bekämpft. Das wenige, was hierüber mitunter,
wie S. 167, 177, 205 f., 212 gesagt wird, ist jedenfalls ungenügend.
Wenn ein richtiges Urteil über die „Selb.ständigkeit", „Unabhängigkeit"
und Bedeutung Aureolis gefällt werden soll, ist auch unbedingt zu prüfen,
ob sein Konzeptualismus wirklich originell ist, ob er nicht vielmehr
512 C. Gutberiet.
wenigstens teilweise seinen Vorläufer hatte unter den von Johannes
Sarisberiensis und andern geschilderten Art-^n des älteren Nominalismus.
Ebenso dürfte auf die S. 200 erwähnte natürliche ünerkennbarkeit der
Allmacht Gottes usw. näher eingpgang«n worden ; vielleicht meint Aureoli
nur dasselbe wie Skotus. Bti alldem dürften auch die von Aureoli aus
Aristoteles, Avieenna usw angeführten Stellen im Wortlaut vorgelegt
werden, damit der Leanr beurteilen kann, wie uns'-r Scholastiker diese
Auktoritäten benutzte., und ob nicht vielleicht der heil. Thomas und
bkotus viel gründlicher zu Werke gingen. Es wäre auch empfehlens-
wert, stets den Zusammenhang mitzuteilen, in welchem Aureoli seine An-
sichten vorträgt, zumal, wie S. 215 gesagt wird, die logischen Erörterungen
de.sselben mehr den Charakter gelegenheitlicher Untersuchungen tragen,
nicht in eigenen Schriften vorliegen.
Dies wären einige Wün.'-che, aus denen der Verf. mein lebendiges
Interes.se für seine Arbeiten entnehmen kann. Jedenfalls können diese
Wünsche eher und leichter erfüllt werden, als der des Verfassers (S. 69),
die Franziskaner von Quaracchi möchten eine vollständige und zuver-
lässige Ausgabe der so ausgedehnten Schriften Aurt-olis veranstalten.
Quaracchi. P. Partlieuius Minges.
.^■i>:
Nationalökonomie.
Lehrbuch der Nationalökonomie von H. Fesch. Dritter Band.
Allgemeine Volkswirtschaftslehre II. Freiburg 1913, Herder.
Mit diesem dritten Bande geht das hochbedeutende Werk von H. Peso h
seinem Abschluss entgegen. Ein vierter Band, der es abschliessen soll,
wird die Funktionen und Störungen des volkswirtschaftlichen Lebens-
prozesses behandeln, während der vorliegende die „aktiven Ursachen"
deselben darlegt. Die hohen Vorzüge, welche allerseits an den beiden
ersten Bänden geiühmt wurden, finden sich natürlich an dem neuen
wieder. Derselbe darf aber wohl noch einem allgemeineren Interesse be-
gegnen, da er nicht blos:^ für eigentliche Soziologen berechnet, sondern
für jeden Gebildeten der Gegenwart von hoher Bedeutung ist. Derselbe
geht näniHch auf die aktuellsten wirtschaftlichen Fragen unserer Zeit
im einzelnen ein, von denen jeder, der im öffentlichen Leben sieht,
Kenntnis nehmen muss. Wir brauchen dieselben, um von ihrer Wichtig-
keit zu überzeugen, nur summarisch darzuleg<^n.
Als aktive Ursachen im volkswirtschaftlichen Lebensprozesse werden
behandelt L Einzelkraft. H. Unternehmung. III. Syndikate und korpora-
tive Einigungen von Wirtschaften. IV. Moderne Berufsorgani.sation und
Interessenvertretung. V. Staat und Gemeinde. VI. Freie Organisationen
für gemeinnützige Wohlfahrtspflege.
H. Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie. 513
Im 1. Kapitel wird die Notwendigkeit besonderer Beachtung indivi-
duell*^ Kräfte in der Gegenwart gezeigt. Im 2. Kapitel wird Ursprung
und Begriff dtr Unternehmung erklärt, Arbeit und Kapital in der Unter-
nehmung, Betrieb und Betriebsfonnen, der Unternehmer, das Beamten-
personal, die Arbeiter, Beschaffung von Arbeitskräften, der Arbeitsvertrag,
der Arbeitstarifvertrag, das Arbeits- und Dienstverhältnis, Rechtsformen der
Unternehmung, neuere Entwicklungstendenzen der Kapitalgesellschaften.
Das 3. Kapitel behandelt die geschichtlichen Foimen und Schicksale
des Vereinigungswesens, die Kartelle, das Genossenschaftswesen.
Das 4. Kapitel bespricht die Formen der Berufsorganisation im all-
gemeinen, gibt einen Rückblick auf die Zunft des Mittelalters, beschäftigt
sich sodann mit der modernen Innung und den freien Interessenvertretungen
des Handwerks. Daran schliesst sich die Behaadluns der offiziellen
Kammern und freien Interessenvertretungen für Handel und Industrie.
Zuletzt kommen die landwirtschaftlichen Vereinigungen und offiziellen
Interessenvertretungen.
Im 5. Kapital kommen zur Sprache: Koalition und Koalitions-
vertrBter, die prinzipielle Frage des Vereinsrechtes, die Arbeiterogani-
sationen, Atbeitgeberverbände, die Arbeitskammer.
Im 6, Kapitel (Staat und Gemeinde. Freie Organisationen für
gemeinnützige Wohlfahrts/,wecke) wird der Zweck des Staates im all-
gemeinen und seine wachsende Tätigkeit in volkswirtschaftlicher Beziehung,
das Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik, öffentliche Betriebe
und Monopole erörtert. Sodann das Verhältnis der Gemeinde zum Staat,
die Aufgaben der Gemeinden im allgemeinen, kommunale Sozialpolitik,
die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden, die Gemeindelasten.
In betreff der freien Organisationen für gemeinnützige Wohlfahrts-
zwecke bemerkt der Verf. : „Wie immer man über zahlreiche Missstände
und den harten Egoismus unserer Zeit klagen mag, so bieten doch
andererseits wiederum die freien Organisationen für gemeinnützige
Wohlfahrtspflege einen erfreulichen Beweis dafür, dass der Solidaritäts-
gedanke im Bewustsein des Volkes lebt und sogar siegreiche Fortschritte
gemacht hat".
Das ist nicht zum geringsten Teile dem Einfluss des Christentums
zu verdanken. Denn ,,die Menschheit zehrt noch immer an dem reichen
Erbe de.s Christentums. Ja, in der Tat, nicht einem einzigen wahrhaft
grossen Gedanken begegnet man in den modernen Reformbestrebungeu
in Sozialpolitik und Wohlfahrtspflegs, der nicht letzlich der Idee der
Gerechtigkeit und Menschenliebe im christlichen Sinne entstammte",
Fulda. Prof. Dr. C. Gutberiet.
514 Chr. Schreiber.
Verschiedenes.
Aniiales de 1' Institut Superieur de Philosophie de 1' Universite de
Louvain. Tome U, Aiiiiee 1913. 4. — 688 p. Paris 1913,
FeUx Alcan. Preis 10 Fr.
Ueber den ersten Band 1912 dieser Jahresveröffentlichuug des
höheren Instituts für Philosophie an der Universität Löwen haben wir
im 4. Heft (1912) des Phii. Jahrbuchs S. 511 ff. berichtet.
Der vorliegende zweite Band enthält neun Einzelabhandlungeu aus
verschiedenen Zweigen der Philosophie.
1. M. Defourny behandelt (1—63) die Methode der sozialen
Wissenschaften. Die Darlegungen, die sich mit Vorzug mit der
ökonomischen Methode beschäftigen, gruppieren sich um folgende Ge-
sichtspunkte: 1. Die Klassifikation (das Resultat der Untersuchungen
ist eine übersichtliche klassifizierende Tafel der ökonomischen Wissen-
schaften). 2. Die Methode. 3. Die soziale Interdependenz. 4. Der
ökonomische Realismus. 5. Die Formen der exakten Methoden. 6. Schluss.
2. G. Lamp recht betrachtet (67—163) in sehr allseitiger Weise
den Begriff „Völkerpsychologie" nach Lazarus und Steinthal und
nach Wundt. Zuerst werden die Anfänge dieses Begriffes aufgedeckt
und zwar die entfernteren und unmittelbaren, welche letztere bei W.
von Humboldt zu suchnn sind. Darauf werden, zum eigentlichen Thema
übergehend, die Anschauungen von Steinthal und Lazarus erörtert. Das
Objekt der „Völkerpsychologie" ist, im Gegensatz zur individuellen Seele
als dem Gegenstande de,r herkömmlichen Psychologie, die Volksseele, der
Volksgeist. Dieser Volksgeist ist eine Realität, denn wie das Volk eine
objektive Einheit ist, so ist es auch eine subjektive Einheit, d. h. es hat
Bewuftstsein von seiner Einheit. Dieses Bewustsein der Einheit hat eine
objektive Grundlage, und die ist der Volksgeist. Die Völkerpsychologie
steht in Beziehung zu anderen Wissenschaften und zwar zur Psychologie,
zur Politik, zur Anthropologie, zur Ethnologie, zu den Naturwissen-
schaften und zur Geschichte, schliesslich zur Philosophie der Geschichte.
Die hauptsächlichen Probleme der „Völkerpsychologie" sind: Natur und
Ursprung des Kollektivgeistes, Bestandteile des Kollektivgeistes, Ent-
wicklung des Kollektivgeistes, Tod des Kollektivgeistes. Nach dieser
Darstellung der Ideen von Steinthal und Lazarus tritt der Verf. in eine
Würdigung derselben ein. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Steinthal
und Lazarus unter dem Einflüsse der Spekulationen Humboldts und der
herbartianischen Psychologie über Gebühr den sozialen Geist und den
Volksgeist identifiziert haben, dass ihr grosses Verdienst jedoch in der
Darlegung und Verteidigung des Einflusses des sozialen Milieus, des
Volksgeistes, besteht; sie haben keine Wissenschaft begründet, sondern
*
Annales de l'Institut Superieur de Philosophie de l'Univers. de Louvain. 515
nur einen Gesichtspunkt verteidigt, dem mehrere andere Wissenschaften
Rechnung tragen müssen — dass sie keine neue Wissenschaft begründeten,
hatte seinen Grund in der Nichterfassung des sozialen Werdens: Stein-
thal und Lazarus haben beim Nationalen Halt gemacht, nun aber ist
das Nationale ein Besonderes, aus dem Besonderen aber lassen sich
keine allgemeinen Gesetze ableiten, wie sie die Wissenschaft benötigt.
Es war Wundt vorbehalten, den Begriff des sozialen Werdens zu finden
und aus ihm das Formalobjekt der „Völkerpschologie" zu bilden. So ist
der Verf. bei Wundt angelegt, dessen Ideen er nunmehr entwickelt, und
zwar inbezug auf die Mythologie, die Sprache, die Gewohnheit und die
Sitten. Hierauf legt der Verf. die leitenden Ideen in der Wundtschen
Völkerpschologie dar, indem ersieh fragt: Welches ist also der formelle
Begriff, den sich Wundt von der Völkerpsychologie macht? woher kommt
ihm dieser Begriff, und welches ist das Ziel seiner Untersuchungen ?
Welche Beziehung besteht zwischen der individuellen Psychologie und der
,, Völkerpsychologie", insbesondere zwischen der ,, Völkerpsychologie" und
der experimentellen Psychologie? Was hat man zu halten von der
Wundtschen rein psychologischen Erklärung der Schöpfung und der
Entwicklung der Sprache, der Mythologien, der Sitten und Gewohnheiten,
der Religion?
3. Fr. de H o v r e liefert (167—263) eine Studie über die
soziale Pädagogik in Deutschland. In der Einleitung behandelt er
die Ursachen der pädagogischen Wiedergeburt und die zeitgenössischen
grossen pädagogischen Strömungen, wobei Deutschland eine präponderie-
rende Rolle spiele, das Jahrhundert der Aufklärung und seine individua-
listische Pädagogik, die soziale und historische Renaissance im 19. Jahrh.
und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Der gesamte folgende Stoff wird
angelehnt an die führenden Pädagogen Otto Willmann, Paul Natorp und
Fr. Wilh. Förster. Bei Will mann wird, nach einer kurzen Uebersicht über
Leben und literarische Tätigkeit W.s, hervorgehoben : Wissenschaftlicher
Wert, soziale und geschichtliche Seite der Erziehung als Grundlage der
wissenschaftlichen Pädagogik; der „Güterbegriff" und sein Einfluss auf
alle Bestandteile des Unterrichts; die soziale Auffassung und das politische
Schulproblem; soziale Rolle der Organisation des Unterrichts und die
notwendigen Reformen; die Genesis der Ideen Willmans, Einfluss des
Werkes Willmanns. Im Anschluss an den letzten Punkt gibt der Verf.
eine kurze Charakteristik der pädagogischen Stellung und Bedeutung
von W. Toischer, W. Rein, Fr. Paulsen, P. Barth. — Hierauf wendet
sich der Verf. einem deutschen Pädagogen ganz anderer Richtung zu,
Paul Natorp. Es geht eine Uebersicht über Leben und literarische
Tätigkeit N.s voraus, der eine allgemeine Orientierung über Natorps Ideen
folgt. Sodann bespricht der Verf. den Idealismus Natorps und seine Theorie
vom sozialen Monismus, er erläutert den Sinn, den Natorp der Sozial-
516 Chr. Seil reib er.
Pädagogik beilegt, und beschreibt seine evolutionistische Pädagogik;
er weist hin auf den Paralellismus zwischen individuellem und sozialem
Lebten im Sinne Natorps und zieht eine Parallele zwischen Natoip und
Pla!on ; er bespricht die Ziele der sozialen Pädagogik und die Mittel sozialer
Erziehung nach den Weisungen Natorps. Ais von Natorp in vieifaclier
Hinsicht abhängig wird P. Bergmann vorgeführi, worauf eine kritische
Würdigung Natorps den Schluss bildet. — Ebenso wie bei Willmann
und Natorp beginnt der Verf. seine Ausführungen über Fr. Wilh. Förster
mit einer üebersicht über sein Leben und seine literarische Tätigkeit,
die in eine Darstellung der moralischen und rpligiösen Richtung des
Lebens Försters ausmündet. Försters pädagogit-che Anschauungen lassen
sich nach folgenden Gesichtspunkten gliedern: das kritische Problem der
Moral, Försters Kritik der soziologischen Moral, die Ruform des eigenen
Selbst als Grundlage des sozialen Lebens, die christliche Askese und
die soziale Erziehung, Methode sozialer Erziehung und ihre hauptsäch-
iichcn Anwendungen. Im Schlusskapitel behandelt der Verf. die Fragen:
soziale Pädagogik und systematische Pädagogik ; Pädagogik und Philosophie.
4. Mit einem schon oft behandelten, aber immer noch nicht ge-
klärten Thema beschäftigt sich A. Dies, mit der platonischen
Transposition (267—307). Im Anschluss hauptsächlich an Phaedrus,
jedoch auch mit reichlicher Verwertung anderer platonischer Dialoge,
will der Verf. darlegen die Transposition der Rhetorik, des Erotismus,
des Mystizismus und des Orphismus. Hinsichtlich der Transposition der
Rhetorik gelangt zur Darstellung : Der Kampf gegen die Rhetorik,
Gorgias, Euthydemus, Republik, das Problem des Phaedrus, Nutzbar-
machung der Rhetorik: die Apologie, allgemeiner Einfluss der Rhetorik
auf den Dialog; die partiellen Transpoi^itionen: Gorgias, Tbeaetet, die
totale Transposilion im Phaedrus: Programmrede der platonischen
Rhetorik, erster Teil des Phaedrus (die Reden), zweiter Teil des Phaedrus,
(Theorie der Rhetorik), wie in dieser Theorie die fremden Elemente in
Piatonismus umgesetzt werden : die Dialektik ist sich selber ihre eigene
Rhetorik. Unter dem Titel „Entwurf einer Studie über die Trausposition
des Erotismus und des Orphismus" behandelt der Verf. die dem Platonis-
mus vorausgehenden Transpositionen des Erotismus, platonische Trans-
position: Die Rede des Sokrates im Gastmahl, platonische Transposition
in der dritten Rede des Phaedrus, Mystizismus und Orphismus in der
ältesten griechischen Philosophie, die literäre Transposition des Mystizis-
mus und des Orphismus bei Pindar, Isokrates und Piaton, die doktrinäre
Transposition des Orphismu>i bei Piaton, inbesondere im Phaedrus und
Phaedon. Dem Verfasser ergibt sich das Resultat, dass es verkehrt
ist, »den Piatonismus in durch dichte Scheidewände abgetrennte Abtei-
lungen zu zerlegen; es heisst die Geschmeidigkeit seiner Kunst und die
Kraft der Konzentration seines Gedankens zugleich verkennen, wenn
Annales de l'Institut Supeneur de Philosophie de l'Univers. de Louvain. 517
man Piaton zerteilen will in feindliche Ptr.sönlichkeiten : in den Sokratiker,
den sozialen und politischen Reformator, den Mystiker und Theologen.
Piaton bleibt derselbe auf der ganzen Länge seines aufsteigenden und
auf der ganzen Länge seines absteigenden Weges: es ist derselbe Gedanke,
geleitet durch dieselbe Kunst, der von den sinnenfälligen oder
sozialen oder mythischen gegebenen Dingen aus sich konzentriert in Bildern
und Veranschaulichungen, in Aupassungen und Kompromissen" (306).
5. Aus dem Nachlasse des am 26. August 1912 verstorbenen ehem.
Professors der Rechtswissenschaften der Universität Löwen, späteren
belgischen Justizministers und nachmaligen Professors in Löwen, L. de
Lantsheere, sowie aus einigen früheren Aufsätzen desselben in der
5, Revue Neo-Scolastique" veröffentlicht L. Noel eine Einleitung zur
moderen Philosophie und ein Vorlesungsfragment über
Descartes (331 — 392), Die Ausführungen, die sich mit der Philosophie
und der Geschichte der Philosophie im allgemeinen, und mit den unter-
scheidenden Merkmalen und den Ursachen der modernen Philosophie im
besonderen, sowie mit der kartesianischen Methode beschäftigen, geben
Zeugnis von der hohen philosophischen Bildung des berühmten Rechts-
gelehrten und Staatsmannes, L. Noel hat es nicht versäumt, der Ab-
handlung de Lantsheeres einen längeren Nachruf (311 — 328) voraus-
zuschicken, in welchem er die philosophische Stellung desselben an der
Hand seiner Schriften und Aufsätze würdigt. Das Bildnis des (im Alter
von 50 Jahren verstorbenen) bedeutenden Mannes ist dem Nachruf
vorangestellt.
6. Fr. Aveling veröffentlicht seine im Laboratorium für experi-
mentelle Psychologie der Universität London angestellten methodischen
Untersuchungen über den „Erkenntnisprozess" (397 — 468), die ihm
ebensoviele experimentelle Bestätigungen sind für die in seiner, der
UnivHJsität Löwen zwecks Erlangung des Grades eines Agrege ä 1' Ecole
Saini-Thomas vorgelegten Abhandlung ,,Bowusstsein des Universalen und
Individualen" niedergelegten Auffassungen, Wir müssen uns darauf
beschränken, von der sehr ertragsreichen Studie nur einen Ueber-
bliek zu geben. Im ersten Teil legt der Verf. sein« Theorie des
Erkenntni*s Prozesses dar, indem er den Inhalt dieser Theorie
kurz formuliert, auf die IJauptgtifahr in dieser Frage hinweist,
dann in längeren Ausführungen dem „Denken ohne Bilder" sich zuwendet
und schliesslich den psychologischen Charakter der Begriffe aufzeigt.
Der zweite Teil der Abhandlung bringt neue Bestätigungen d. h.
er führt jetzt das Ergebnis der an vier Beobachtungen vorgenommenen
experimentellen Untersuchungen vor. Die Phänomena werden eingeteilt
in solche, die während der Uebungsperiode, und in solche, die während
der Urteilsperiode beobachtet wurden, worauf die erzielten Tatsachen in
ihrer Bedeutung erörtert und analysiert werden; es folgt ein kleiner
l'Lilüsopliibclits JuhiLuch l'J.:i " «^«^
518 Chr. Schreiber.
Abschnitt über die Gleichzeitigkeit der Begriffe, worauf der Verf. in sehr
lichtvoller Weise den Verlauf und die Ergebnisse seiner Ausführungen
in neun Punkten zusammenfasst.
7. Der durch mehrere ins Deutsche übersetzte pädagogische Schriften
auch in weiteren deutschen Kreisen bekannte Dominikaner Gillet erörtert
das pädagogische Problem (473 — 531). Wiederum müssen wir uns
mit einer kurzen Inhaltsangabe seiner Darlegungen begnügen. Zunächst
hebt Gillet die Aktualität, aber auch die Komplexität des pädagogischen
Problems hervor. Dann gibt er einen Entwurf eines Kurses der Päda-
gogik, bei dem in drei Teilen zu handeln sei vom pädagogischen Ideal,
von der pädagogischen Realität und von der pädagogischen Methode.
Das pädagogische Ideal wird in Beziehung gesetzt zur Soziologie, wobei
sich der Verf. mit Dürkheim, Belot, Draghicesco und Marceron aus-
einandersetzt, und zur Religion, wo er es hauptsächlich auf Belot absieht.
Dann zur pädagogischen Realität übergehend beweist er, 1°. dass die
moralische Erziehung nicht absehen kann von der psychologischen
Individualität der Kinder, wie die Erfahrung sie uns offenbart;
2". dass die katholische Lehre weit entfernt ist von einer Nichtbeachtung
der individuellen Bedingungen, denen die moralische Erziehung unter-
worfen ist, sondern in dieser Hinsicht vielmehr alle Ergebnisse der Wissen-
schaft annimmt und sie vervollständigt. Der dritte, etwas sehr kurz
geratene Teil gibt einige Richtlinien hinsichtlich der Fragen: Die Er-
ziehung und die Methode des religiösen Unterrichts, der Erzieher und
die Methode der moralischen Erziehung.
8. A. Michotte und Th. Portych liefern eine zweite Studie
über das logische Gedächtnis unter dem Titel: „Die Reproduktion
nach zeitlichen Intervallen von verschiedenen Längen"
(535 — 656). Mit der Gründlichkeit und Genauigkeit, die man an Michotte
gewohnt ist, wird, nachdem das Problem skizziert, d ie üntersuchungsmethode
angegeben und der Untersuchungsplan entworfen ist, in drei Kapiteln
abgehandelt über:
I. Korrekte, falsche und nicht erfolgte (reactions nulles) Reaktionen,
die verschiedenen Komplikationsstufen der Reaktionen : direkte und indirekte
Reproduktionen, die verschiedenen Komplikationsstufen der indirekten
Reproduktionen.
II. Analyse und Häufigkeiten der verschiedenen Zwischenglieder
(intermediaires) ; falsche Worte, visuelle Bilder, Gedanken (die relationeilen
Gedanken, die bestimmten Reproduktionen, die Verzögerung der Relation,
die nicht-relationellen Gedanken), die Verteilung der Zwischenglieder
gemäss der Komplikationstufe der Reaktionen, Beziehungen zwischen den
Reproduktionsprozessen und denen der Einprägung, die Häufigkeit der
„Zwischenglieder" (intermediaires) in den falschen und nicht erfolgten
Reaktionen.
Annales de l'Institut Superieur de Philosophie de l'Univers. de Louvain. 519
III. Im dritten Kapitel folgen allgemeine Erwägungen : über den
Einfluss der Zeit auf die Prozesse der Reproduktion, über die indivi-
duellen Differenzen, über die Rangordnung und die Rolle der Zwischen-
glieder.
9. Den Schluss des Bandes bildet die Abhandlung von L. Noel
über das „Problem" der Erkenntnis (663—688). Der Verfasser
beabsichtigt nicht, neue Wege zu weisen für die Lösung des Erkenntnis-
problems — den einzig gangbaren Weg hat Mercier gezeigt — , sondern
er will, den Spuren Merciers folgend, einiges zur Erweiterung und Ver-
tiefung sagen, in der Art, wie es Sentroul, Sertillanges, Geoy, Rousselot
u. a. getan haben, und in steter Fühlungnahme mit dem hl. Thomas.
Auch dieser zweite Band der Annales ist ein rühmliches Zeugnis
für den echt wissenschaftlichen und gut modernen Geist am höheren
Philosophieinstitut zu Löwen. Die oben skizzierten Abhandlungen zeichnen
sich samt und sonders aus durch eine achtunggebietende Beherrschung
der Literatur, durch echt wissenschaftliehe Gründlichkeit und kritischen
Sinn, sowie — was nicht unerwähnt bleiben darf — durch grosse Klarheit
und üebersichtlichkeit.
Fulda. Dr. Chr. Schreiber.
33*
Zeitsclirifteiiscliaii.
A. Philosophische Zeitschriften.
1] Archiv für die gesamte Psychologie. Herausgegeben von
E. Meumann und W. Wirtli. Leipzig 1913.
27. Bd., 1. und 2. Heft: W. Hellpach, Vom Ausdruck der
Verlegenheit. S. 1. „Ein Versuch zur Sozialp.syclioloi^ie der Gemüts-
bewegungen'*'. Dift Verlegenheit ist eine sozialpsychische Erseheinung ;
sie entsteht nicht nur vor andern, sondern setzt selbst die Anwesen-
heit einer mitmenschlichen Kreatur voraus. Sie entsteht in drei Si-
tuationen: „1. wenn wir auf Heimlichkeiten betroffen werden (wozu auch
Unwahrheit gehört), 2. wenn wir unsere Persönlichkeit fühlen oder glauben
(dazu gehört im be.sonderen das sexuelle Umworbensein), 3. wenn wir
von einem andern etwas erreichen wollen, dessen Durchsetzung unsicher
ist (dazu gehört im besonderen die sexuelle Werbung), oder auch schon,
wenn wir einem anderen etwas missliches oder von uns für misslich
gehaltenes mitteilen sollen". Also „erstens ist tie immer gebunden an
die physische Anwesenheit der zweiten Person. Zweitens ist sie immer
gebunden an eine Befürchtung, die auf gegen die erste Person gerichtete
seelische Erlebni.sse der zweiten Person abzielt (Urteile, Gedanken, Ge-
fühle, Entschlüsse usw. — Was wird der von mir denken!). Dnttens
wird sie oft gefördert durch Einfühlung der ersten Person in die zweite,
wobei das KrfüUtsein der beiden ersten Bedingungen Voraussetzung bleibt".
Sie entsteht besonders den Höheren gegenüber. Ausdruck der Verlegen-
heit ist vor allem das Erröten, während die verwandte Befangenheit
sich zwischen Erröten und Erblassen teilt. Damit ist oft verbunden
Hitzegefühl, Prickeln der Haut, Trockenwerden der Lippen, Herzklopfen,
Schweiss, besonders auf der Stirne. Auffällig ist das Zittern und die
Stimmveränderuug, beim weiblichen Geschlechte wird der Atem tiefer
und rascher, der Busen „wogt". Willküi liehe Bewegungen sind : rasches
Einziehen und Ausstossen der Luft durch die Nase, Hüsteln, Räuspern.
Zur Verhüllung der Verlegenheit dienen Umherirren und Niederschlagen
der Augen, Bedecken des Gesichts mit der Hand oder mit dem Fächer
(„Insichhineinkriechen"). Die Kleider werden geordnet, gezupft, mit der
ührkette wird gespielt, der Griff in die Frisur. Die Miene wird bestimmt
Zeitschriitenschau. 521
durch die Augenbewegungen, eigentümlicher Ausdruck d*^r Mund- und
Wangengegend, „lächeln", lachen, züngeln. Es treten auch Hemmungen
ein, geistige Leere, Regungslosigkeit, Stottern, unzusamm-^nliängendes
Reden. — Th. Haering, Untersuchungen zur Psychologie der
Wertung. S. 63. Voruntersuchungen über die psychologische Konsti-
tution der „Relationsstiftungen" hatten gezeigt, dass die Relationsstiftung
im herkömmlichen Sinne diesen Namen gar nicht verdient. „Es kann
keine Relation bewusst erlebt werden, die nicht schon vorher als einheit-
liches Erlebnis wenigstens intentional gegeben wäre. Es handelt sich
psychologisch vielmehr in solchen Fällen um einen Akt der Ergänzung
eines (intentional gegebenen) Erlebnisganzen bei gegebenen Teilen oder
um einen Akt der Subsumtion des Gegebenen unter dasselbe. Der Bogriff
der Relationsstiftung im gewöhnlichen logischen Sinne, als Verbindung
von Fundamenten, ist auf Grund einer bewussteu aposterioristischen
Analyse des an sich psychischen einheitlichen Erlebnisses auf logischem
Gebiet erwachsen, und wo er psychologisch vorkommt, niemals konsti-
tutiv im engeren Sinne. Demzufolge kann auch eine Finalrelation ur-
sprünglich psychologisch nicht sozusagen aus zwei Erlebnissen geschaffen,
sondern nur als Einheit erlebt werden". Finalrelation ist auch die Wertung.
Vf, handelt zunächst von den ,, ökonomischen Wertungen". Darunter ver-
steht er alle „diejenigen, die sieh irgendwie mit Gebrauchsgegenständen
beschäftigen, die im Ganzen des menschlichen Lebens irgendwelche Ver-
wendung finden". Es ergeben sich zwei phänomenologische, zwei grund-
legende Typen : gefühlsmäfsige und intellektuelle. Letzterer ist Subsumtions-
wertung. Ein Gegenstand wurde für wertvoll geschätzt, wenn er der
Sphäre eines absoluten Wertes angehörte, wenn er in Finalrelation zu
ihm stand. Die gefühlsmässige geht zwar unmittelbar auf den Gegen-
stand, aber auch sie entspringt der Subsumtion, der sie freilich genetisch
vorausgehen muss. „Der Gegensatz von Wert und Unwert wurde als ein
auch im Erlebnis selbständiger gegenüber dem von Wert und Wert-
widrigkeit festgestellt, und nur letzterem auf unserer Entwicklungsstufe
der von Lust und Unlust gleichgesetzt". „Die psychologische Funktion
des Massstabes der Wertung wurde als ein mehrfaches Einstellungs-
erlebnis mit intentionaler Zuordnung definiert". ,,Da das ökonomische
Werterlebnis nur als ein Werterlebnis in ökonomischer Beziehung oder
psychologisch als Zugehörigkeitserlebnis zu der Sphäre ökonomischer
Einstellung (als Erlebnis der Uebereinstimmung eines Gegenstandes mit
einer ökonomischen Tendenz bzw. intendierten Sphäre) beschrieben werden
kann, so kann die differentia specifica von anderen Arten der Wertungen
nur durch Näherbeatimmung der Art der hier im Spiele stehenden
Sphären logisch bestimmt werden". — R. Friednianii, Vorwort zur
Charakterologie. S. 195. Ueber die Definition des Charakters selbst
streitet man. Er ist zu bestimmen als „ein sich stets wiederholender
522 Zeitschriftenschau.
ReaktioDsformenkomplex, der zwar nicht generell (interindividuell) auf-
zufassen ist, der aber trotzdem bei den verschiedensten Konstitutionen
als typisch immer wiederkehrt". Die erste Aufgabe der Charakterologie
ist, die Bedingungen aufzusuchen, welche die einzelnen typi.«chen Re-
aktionsformenkomplexe entstehen lassen. „Denn diese einzelnen sind natür-
lich nichts anderes als verschiedene, bestimmte Grundeigenschaften, die
in jeder Psyche vorauszusetzen sind. Die quantitativen Veränderungen
dieser Grundeigenschaften geben dann die einzelnen unterschiedlichen
Typen. Die Struktur sämtlicher individueller Phänomene ist also nach
dem Kausalprinzip nichts anders als ein Produkt verschiedener genereller
Eigenschaften variabeler Intensität". Charakterologie kann nur betrieben
werden durch Objektivierung der eigenen Psyche. „Nur jene Individuali-
täten sind uns fassbar, welche in quantitativer Nähe zu unserem eigenen
Typus sind". „Und darum wird auch eine Gesamtlösung unseres Problems,
die gleichzeitig eine sicher begründete Klassifikation der Typen erwarten
lässt, nur als Synthese zahlreicher Einzelmonographien möglich sein".
„Kein Mann wird uns je die letzten Aufschlüsse über die Frauenseele
geben können, denn das, was er in einer Frau sieht, sind nur ungefähre
Vermutungen analog seiner eigenen Natur". Die ,, Psychologie der Frauen
können diese allein uns geben". — H. Schmitt, Psychologie und
Logik in ihrem Verhältnis zur Sprache. S. 204. Bei Betrachtung
der Sprache „ist es notwendig, dass wir den Satz ins Auge fassen, denn
er ist die relativ selbständigste Einheit". Am einflussreichsten sind in
neuerer Zeit die-Satzdefinitionen von Wundt und Paul gewesen. Beide
sind unzutreffend. Es ist vielmehr zu definieren: „Unter einem Satze
verstehen wir eine lautlich dargestellte oder lautlich vorgestellte, begriff-
lich geklärte, d. h. objektivierte Tatsache des Bewusstseins, sofern der
im Begriff vollzogene Objektivierungsakt in der wahrnehmbaren oder
vorgestellten Lautung als tatsächlich vollzogen erkennbar ist, oiine dass
der Gesamtsprechakt von Ergänzungen durch die Situation und Be-
reicherung aus dem Milieu unabhängig wäre". — J. M. Urban, Ein
Apparat zur Erzeugung schwacher Schallreize. S. 232. — P. Köhler,
Ein BeitrBg zur Traumpsychologie. S. 235. Ein religiöser Traum,
der die Theorie des Vf.s (Bd. XXIII, S. 425) stützen soll. — Literatur-
bericht: K. Seeberger, Wilhelm Wundt und seine Kritiker. S. 1.
Psychologische Zentralprobleme: „Entweder muss die Welt als eine
materielle, oder sie muss als eine geistige Einheit von uns gedacht
werden, sofern sie überhaupt als eine Einheit gedacht werde, ein drittes
gibt es nicht". „Seele und Leib sind nicht an sich, sondern nur in
unserer Auffassung verschieden". Dieser Ausgangspunkt der Wundtschen
Metaphysik und Psychologie endet mit der Selbstauflösung des Geschehens
überhaupt. — Einzelbesprechung.
3. und 4, Heft : A. Gregor, Die hautelektrischen Erscheinungen
Zeitschriftenschau. 523
in ihren Beziehungen zu Bewusstseinsprozessen. S. 241. „Ver-
bindet man die Hände einer Versuchsperson mittels unpolisierbarer
Elektroden unter Verwendung einer Zwischenflüssigkeit mit einem empfind-
lichen Galvanometer, so erhält man nach Ausschaltung des Eigenpotentials
der Elektroden einen Ausschlag des Galvanometers, der durch endo-
somatische, also im Körper des Individuums gelegene elektromotorische
Kräfte bedingt ist; was daraus hervorgeht, dass mit der Lage der
Extremitäten zu den Polen des Galvanometers auch eine Umkehr der
Richtung des Stromes erfolgt. Werden nun geeignete Reize auf die
Versuchspersonen ausgeübt, so finden deutliche Ausschläge des Galvano-
meters statt, welche vorwiegend auf einer vorübergehenden Abschwächung
der genannten elektromotorischen Kräfte beruhen . . . Bei Verwendung
von starren Elektroden (Zink -Zink, Zink -Kohle) treten zu den endo-
somatischen noch episometische Kräfte hinzu, deren Sitz zwischen Haut
und Elektrode zu denken ist". Ergebnisse: Empfindungen von differenter
Gefühlsbetonung 'sind von qualitativ gleichen psychogalvanischen Reak-
tionen begleitet, und zwar gilt dieser Satz sowohl für die durch epi-
wie endosoraatische elektromotorische Kräfte bedingten Schwankungen.
Ausgesprochene psychogalvanische Reaktionen sind auch im Gefolge von
Reizen, die Empfindungen mit indifferenter Gefühlsbetonung auslösen, zu
beobachten. Aktuelle Affekte können unter Verwendung von starren
Elektroden einen sehr ausgesprochenen elektromotorischen Ausdruck
finden, und zwar ergeben sich für Erregungs- und Spannungszustände
besonders charakteristische Kurvenformeo, an deren Zustandekommen die
Tätigkeit der Schweissdrüse wesentlich beteiligt ist. Zwischen dem Aus-
druck aktueller und reproduktiv ausgelöster Affekte bestehen quantita-
tive Uebergänge. Die Qualität des reproduzierten Affektes kommt im
Kurvenbild nicht zum Ausdruck. Geistige Ermüdung bewirkt eine Herab-
setzung der Reaktionsfähigkeit. Im Affekte sind psychogalvanische Re-
aktionen auf äussere Reize vermindert oder fehlen ganz. Bei Wieder-
holung eines Reizes erfolgt eine individuell verschieden rasch eintretende
und anhaltende Verminderung der psychogalvanischen Reaktion, welche
auf einer Abstufung der affektiven Wirkung des Reizes beruht". — Th.
Haering, Untersuchungen zur Psychologie der Wertung. S. 285.
D. Die moralischen Wertungen. „Auch die moralischen Wertungen haben
sich uns als Ergebnisse der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung
mit bestimmten Arten von psychischen Tendenzen und Einstellung er-
wiesen, eben mit denen, die wir die moralischen heissen . . . Eine solche
Wertung kommt daher auch hier nur vor in der Form der Subsumtion".
E. Die logischen Wertungen. „Hier liegt nur die am weitesten fort-
geschrittene Verabsolutierung der an sich relativen Werte vor. Pnn-
zipiell aber ist auch hier das Werterlebnis nichts anderes als ein Zu-
gehörigkeitserlebnis zu (Subsumtion unter) einem Wertzusammenhang".
524 Zeitsch li f tonschan. ,*
Ueberhaupt hat die Analyse ergeben, dass alle Wertungen immor auf
vorausgesetzten Werten beruhen, womit die Ansprüche einer rein psycho-
logischen Werttheorie zurückgewiesen sind. — 0. Selz, Die Gesetze
der produktiven Tätigkeit. S. 367. „Alle produktive Tätigkeit besteht
in der Umwandlung von Tatöächlichkeiten in Mittel zu bestimmten Zwecken
und in der Schaffung theoretisch praktisch oder ästhetisch wertvoller
tatsächlicher Produkte durch die Anwendung dieser Mittel. — R. Müller-
Freienfels, Der Einfluss der Gefühle und motorischen Faktoren
anf Assoziation und Denken. S. 400. Die Assoziationspsychologie
vfirsagt ganz und gar, um den Verlauf d^r-s Denkens zu erklären. Selbst
die Zielvorstellung versagt oft, vielmehr sind Gefühle, Stellung-
nahmen, Willensphänomene usw. herbeizuziehen, — W. Wirth, Eine
Bemerkung" von G. E. Lipps zu den mathematischen Grundlagen
der sogenannten unmittelbaren Behandlung psycho - physischer
Resultate kritisch erörtert. S. 431.
2] Rivista dt Fiiosofia Neo-Scolastica. Pubblicata per cura
della Societä italiana per gli studi füosofici e psicologici, direlta
dal Dott. Agostino Gemelli. Direzione: Milano, Via Maron-
celli 23. Amministrazione : Firenze, Libreria Editrice Fioren-
tina. Erscheint alle zwei Monate in Heften zu je wenigstens
120 Seiten. Abonnement: Italien 10 Z,., Ausland 12,50 L
Anno V. Nr. 2 (20 Aprile 1913): Comnnicazione p. 113: Die
Redaktion gibt Kenntnis von der durch sie ins Leben gerufenen „italie-
nischen Gesellschaft für philosophische und psychologische Studien" und
teilt die in der ersten Sitzung der Gesellschßft vom 15. April d. J.
beschlossenen Satzungen der Gesellschaft mit. — G. B. Calisse, Gli
argomenti di Zenone d'Elea. p. 116. Die Argumente Z^nons gegen
die Realität der Bewegung, so wie sie uns Aristoteles überliefert hat,
werden dargelegt und entkräftet. — E. Cliiocehettl, La filosolia di
Benedetto Croce. p. 133. Der Verf. setzt seine ausgezeichnete Analyse
und Kritik der Philosophie des Neuhegelianers B. Croce fort, indem er
He^el und Croce in Vergleich zu einander stellt. — A. Masnovo, La
veritä ontologica e la veritä logica secondo il Card. Mercier.
p. 152. Der Verf. legt die Unzulänglichkeit der Definition Merciers von
der ontologischen und logischen Wahrheit dar und weist auf die
Schwankungen hin, deren Mercier sich in dieser Frage schuldig macht.
— G, Molteni, II matorialismo storico di Engels, p. 161. D«r Vf.
bespricht das Buch „Der geschichtliche Materialismus bei Friedr. Engels"
von Rudolf Mondolfo (Genua 1912, Formiggini): ,,Die Rechtfertigung, die
Mondolfo Engels widmet, ist eine bewundernswerte und gelehrte Er-
weiterung hinsichtlich Engels' der schon von Croce gegebenen Inter-
pretation der Philosophie im allgemeinen und des geschichtlichen Materia-
Zeitschriftenschau, 525
lismus der beiden Urheber des wissenschaftlichen Sozialismus inabesondere,
mit besonderer Bezugnahme auf Engels; und deshalb zeigt sieh uns
Mondolfo als der gelehrteste Theoretiker des Neu.sozialismus; aber sein
Gesichtspunkt bleibt noch diskutievbar und kontrovers. Die Verbesserunf
die er am Gedanken Engels' vornimmt, ist gewöhnlich berechtigt, aber
es ist mehr eine theoretische Verbesserung, als eine geschichtliche Recht-
fertigung" (p. 178). — D. Laiina, II problema della realtä secondo
Uli filosofo della eontingenza. p. 179. Der Verf. unterzieht den Imma-
nentismus, idealistischen Monismus und Pantheismus von Emil Meyerson
an der Hand von dessen Werk „Identite et Realite (Paris 1912, Alcan)
einer eingehenden Kritik, besonders unter dem erkenntnistheoretischen
Gesichtspunkt. — A. Cappellazzi verteidigt (p. 200 f.), gegen einen
Aufsatz von B. Varisco (Professor an der Universität zu Rom) im
Januarheft 1913 der „Cultura Contemporanea", die Wissenschaftlichkeit
und Beweiskraft des Aufbaues der christlichen Ap olog et ik. — Schluss
der Auseinandersetzung zwischen G. Tredici und B. Varisco bezüglich der
Kritik Tredicis an Variscos „Massimi problemi" (p. 211), — Fr.
Olgiati berichtet (p. 213 ff.), in durchweg ablehnender Weise, über die
Konferenzen des französischen Philosophen Boutroux in Rom und Mai-
land über „Laicite et Laicisme", „Science et scientisme" , „Religion
et vie". — M. Ponzo gibt (p. 220 ff.) einige kritische Bemerkungen
zum 2. Kongress der italienischen Gesellschaft für Psychologie (Rom
27. — 29. März 1913). — - Rezensionen, bibliographi.sche Notizen, Zeit-
schriftenschau.
B. Zeitschriften vermischten Inhalts.
1] Vierteljahrsschrift für Wissens chaftUche Philosophie
und Soziologie. Herausgegeben von P. Barth. Leipzig 1912,
36. Jahrgang, 1. Heft: Kleimpeter, Zur Begriffsbestimmung
des Phänoraenalismus. S. 1. Vielfach wird von den Kritikern, z. B.
Külpe, der Phänomenalisa.us falsch verstanden. „Die Realitäten, das
Wirkliche oder Gegebene sind ihm die Bewustseinserscheinungen splbst,
nicht aber irgend ein hypothetisches transzendentes X." — K. Gerhards,
Zur Kontroverse Phuick-Mach. S. 19. Mach Phänomenalist, Planck
Realist. — K. Marfoe, Beiträge zur Logik und ihren Grrenzwissen-
schaften. S. 69. VI. Ueber die Gleichförmigkeit in der Natur. — E.
Rothacker, Zur Methodenlehre der Ethnologie und Kulturgescliichts-
sehreibuug. S. 85. Während in der Geschichtsschreibung die moderne
Richtung eine ,, genetische" und „kulturhistorische" Methode befolgt,
wendet sich die neueste Richtung in der Ethnologie gegen jedes „evolutive"
Verfahren (Graebner, W. Schmidt). Die Parole der ersteren war Völker-
glaube, die der zweiten Entlehnung. Diese berücksichtigt hauptsächlich
526 Zeitschriftenschau.
die Wirklichkeit, generalisiert weniger. „Die Säuberung der idiographi-
scheu Fragestellung von allen illegitimen naturwissenschaftlichen Ueber-
resten, ist ein ausgezeichnetes Verdienst dieser neuen Richtung auch
um die logische Methodenlehre". — Besprechungen.
2. Heft. K. Marbe, Beiträge zur Logik und ihren Grenz-
wissenschaften. S. 139. Vif. Logik des Existenzbegriffes. Existenz
hat viele Bedeutungen: 1. Gegenstand des Erkennens, 2. unmittelbar
Gegebensein, 3. Ursachen von Erlebnissen, 4. logische Existenz als Merk-
mal aller richtigen urteile, 5. imperative Existenz. „Es hat gar keinen
Sinn, über die Existenz einer Sache zu streiten, wenn man sich nicht genau
darüber geeinigt hat, was man für eine Existenz meint — eine Forde-
rung, die freilich weder in der Gegenwart noch in der Geschichte der
Philosophie jemals erfüllt wurde." — F. M. Urban, üeber die Unter-
scheidung zwischen logischer und empirischer Wahrheit. S. 195.
Die logische Wahrheit besitzt ein System, das durch rein logische Prozesse
aus einigen Fundamentalsätzen abgeleitet ist. Die empirische Wahrheit
eines Satzes besteht darin, dass er mit den Daten der Erfahrung überein-
stimmt. — D. Gusti, Ein Seminar für Soziologie, Politik und Ethik
au der Universität Jassy. S. 229. „Ein Beitrag zur Universitäts-
pädago'gik." — F. Müller-Lyer, Die phaseologische Methode in der
Soziologie. S. 241. Die phaseol. Methode ist die der ,, Richtungslinien".
„Wenn wir die einzelnen Entwicklungsphasen in eine Reihe bringen und
jede Phase mit der folgenden vergleichen, so erkennen wir die Richtung,
in der sich die Entwicklung bewegt, und diese Richtung weist nun unter
Umständen mit grosser Bestimmtheit in die Zukunft hinaus." — Char-
lotte Hamburger, Unser Verhältnis zur Sinnenwelt in der mathe-
matischeu Naturwissenschaft. S. 257. „Ein Weg von Mach zu
Kant." — Besprechungen.
3. Heft. R. Hörn, Psychische Kausalität. S. 323. Die Lehre
vom psychophysischen Parallelismus als Einleitung in das Problem. Der
Begriff des „Ich" im Sinne einer immateriellen Substanz (Lotze, Busse,
Külpe, Schwarz, Sigwart, Liebmann). Wundt und der Neumaterialismus
(die Assoziationsgesetze), die unbewussten Phänomene (Höfiding, Paulsen,
Ebbinghaus, B. Erdmann, Lipps.) „Es handelt sich also nur um eine
nachträgliche Synthese aller unserer Willensvorgänge, oder
wie ich lieber sagen möchte, um eine nachträgliche Summation
und Zusammensetzung aller unserer inneren Erlebnisse."
— Fr. Kuntze, Natur- und Geschichtsphilosophie. S. 383. Die
Methodik des transzendentalen Realismus, Grundlage der Betrachtung.
„Es existiert unsere Erscheinungswelt und Wollenswelt nur
als ein gemeinsames Gebiet zwischen unserer Eindrucksfähigkeit
und den auf uns einwirkenden Dingen an sich." — K. F. Wize, H.
Vaihingers Philosophie der Fiktion. S. 413. „Die Philosophie des
Zeitschriftenschau. 527
,Als Ob' hat ihre festen Wurzeln in der Wissensciiaft als Ganzes nun
auch in der Geschichte gefasst. Deshalb wird sicherlich auch ihr Ein-
fluss ein dauernder sein, ja sie dürfte wirklich zum , Eckstein' der
Philosophie werden." — Charlotte Hamlburger, Unser Verhältnis zur
Sinnenwelt in der mathematischen Naturwissenschaft. S. 425. Ein
Weg von Mach zu Kant. „Der Naturwissenschaft eröffnen die Unter-
suchungen Kants die Augen über ihre eigenen philosophischen Voraus-
setzungen und weiterhin ganz allgemein über unser Verhältnis zur
Sinnenwelt." — Besprechungen.
4. Heft : W. Burkemph, Biologische Bedeutung des Erkennens
und Pragmatismus. S. 477. „1. Die bestimmte Aufgabe des Erkennens
macht eine bestimmte Struktur der Erkenntnis a priori notwendig. 2. Die
meisten Anwendungsweisen des pragmatischen Prinzips sind Zweck-
anpassungen von sekundärer Bedeutung, die sich der Struktur a priori
fügen müssen. 3. Peirce und Dewey erkennen die intellektualistischen
Wahrheitskriterien, wenigstens implicite, an. 4. Die religiöse Anwendungs-
weise James' and der extremen Pragmatisten widerstreitet den intellek-
tualistischen Wahrheitskriterien, dem natürlichen Wahrheitsempfinden und
der biologischen Zweckmässigkeit, 5. Die Zerrüttung des Wirklichkeits-
begriffs bei James zeigt den natürlichen Widerspruch zum Denken,
6. Der Pragmatismus schafft nicht Frieden, sondern Anarchie in der
Philosophie".
2] Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie.
Herausgegeben von E. Commer. Paderborn 1912.
27. Bd. 1. Heft: Gr. M. Mauser, Roger Bacon und seine Ge-
währsmänner, speziell Aristoteles. S. 1. Obgleich er gegen die
Auktorität ins Feld zieht, war Bacon „doch ein blinder, übertriebener
Anhänger der menschlichen Auktorität, weil er ein Traditionalist war."
Bacon war ein grosser Verehrer des Aristoteles, aber kein Aristoteliker,
er kannte ihn zu wenig, schöpfte aus unechten Quellen und missverstand
ihn. — D. Feuling, H. Bergson und der Thomismus. S. 33. Ob-
gleich aus zwei ganz verschiedenen Gedankenwelten heraus, stimmt
Bergson mit Thomas vielfach überein; darum könnten die Thomisten
manches aus Bergson gewinnen, aber auch Bergson würde viel aus
Thomas gewonnen haben. — Fr. Wagner, Der Begriff des Guten
und Bösen nach Thomas v. A. und Bonaventura. S. 55. Die Begriffs-
bestimmung beruht auf aristotelischer Grundlage. Bonaventura bestimmt
das Gute nach dem letzten Ziele, Thomas zunächst nach der mensch-
lichen Natur, aber diese hat ihre Norm im Endziele. — W. Schlössinger,
Die Stellung der Engel in der Schöpfung. S. 81. „6. Die Geisterwelt,
der vornehmste Teil des Universums". - Literarische Besprechungen.
528 Zeitschriftenschau.
2. Heft: Schreiben Pius X. an P. J. Gredt. S. 135. — Fr.
Wagner, Der Begriff des Guten und Bösen nach Thomas v. A.
und Bonaventura. S. 136. 4. Die sittliche Qualität der nicht auf
das Ziel gerichteten Handlungen. Bonaventura wie Thoraas gibt au,
dass solche Handlungen ihrer Art nach gut sein können. 5. Die indiffe-
renten Handlungen. 6. Die Nebenbedeutungen des Guten und Bösen.
7. Die vom irrigen Gewissen diktierten Handlungen. „Beide Denker
stimmen darin übereiu, dass nach ihnen zu einer guten Handlang auch
der Glaube an ihre Güte, d. h. ein gutes Gewissen gehört, und dass der
Mangel dieses guten Glaubens, also das schlechte Gewissen, jede Hand-
lung schlecht macht." — W. Schlössinger, Das Yerliältnis der Engel-
welt zur sichtbaren Schöpfung. S. 158. 1. Zur materiellen Welt im
allgemeinen. 2. zum Measchen insbesondere. ,,Was wir eigentlich dies-
bezüglich erkennen, sind eigentlich recht allgemeine Prinzipien, aus
welchen wir die allernächsten, aber auch noch die allerallgemeinsten
Konklusionen ziehen. So» bescheiden dies Resultat auch sein mag, es ist
doch ein recht grosser Gewinn für uns. Die allgemeinen Prinzipien und
Konklusionen zeigen uns die Stellung des Engels in der Schöpfung als
eine einzigartige, vorzügliche, seinen Einfluss auf die materielle Welt
und namentlich auf uns Menschen als einen durchgreifenden, eindringenden,
effektvollen. Sie lehren uns das ganze Universum und uns in demselben
mit ganz anderen Augen betrachten, bieten uns Menschen manches
Trostreiche und Hoffnungsvolle in den Trübsalen dieser Zeit, lehren uns
mit erleuchteten Blicken lesen im grossen Buche der Schöpfung und
der mit ihr gegebenen und in ihr z. T. realisierten Regieruugspläne
Gottes, lehren uns Menschen Demut, Bescheidenheit und Unterwerfung,
da sie unsere ganze Schwäche, Hinfälligkeit, Geringheit in diesem Uni-
versum klar vor Augen stellen. Wir beschliessen mit den Worten des
hl. Thomas : Miniraum quod potest haberi de cognitione rerum altissi-
marum desiderabilius est, quam certissima cognitio, quae habetur de
miniraus rebus." — J. Leonissa, Wahre und falsche Mystik. S. 268.
„Ein bescheidener Rundgang durch die neueste myatische Literatur."
Immer wieder muss nachdrücklich betont werden, dass bei Mystik das
Wesentliche streng unterschieden werden rauss vom Zufälligen, nicht
Notwendigen, Akzidentellen. Wesentlich nun ist der Mystik die
vollkommene Gottvereinigung, nicht notwendig aber sind ihr die
ganz ausserordentlichen, wunderbaren Er-scheinungsweisen, wie Visionen,
Offenbarungen und dergl. — Literarische Besprechungen.
3. und 4. Heft: H. Kirfel. Kritische Bemerkungen zu einer
neuen Darstellung der Gottesbeweise. S. 275. Bezieht sich auf das
Handbuch der Apologetik von Kneib. Er hat in seiner Darstellung der
Gottesbeweise eine Fülle von Material zusammengetragen und eine Reihe
interessanter moderner Philosophen, die mit denselben zusammenhängen,
Zeitschrift enschau. 529
diskutiert, leider steigt aber die spekulative Durcharbeitung de.s Stoffes
nicht auf gleicher Höhe. — G. M. Mauser, Drei Zweiller am Kausal-
prinzip im 14. Jahrh. S. 29, 291. Es sind: Peter d'Ailiy, Nikolaus
von Austricuria und W. Okkam. Peter ist Nomiualist. Die Gottesbeweise
hält er für unkräftig. Er war zugleich Voluntari«t. Nikolaus ist noch
radikaler, er ist allgemeiner Skeptiker.. Er spricht jedem syllogiotischen
Beweisverfahren die Gültigkeit ab. Okkams System „charakterisiert sieb
als empirischer Intellektualismus oder wenn man will intellektualistischer
Empirismus. Es bedeutet einen Triumph des absoluten Individualismus."
Der Grund seiner Kausalskepsis liegt in seiner bloss quantitativen
Begriffslebre. — Fr. Wagner, Der ßegriff des Guten und Bösen nach
Thomas v. A. und IJonaveiitura. S. 306. Worin beide übereinstimmen,
ist Gemeingut der jetzigen Theologie und war es schon damals. „Die
Unterschiede aber, die sich bei ihnen finden, sind charakteristisch für
die Geistes- und Gemütsrichtung beider Männer und sind zugleich
zurückzuführen auf die Quellen, aus denen sie hauptsächlich ihre theo-
logische xixid besondere philosophische Belehrung schöpfen". Bonaventura
war bekanntlich mehr Piatoniker und Augustinusschüler, Thoraas als
Philosoph wesentlich Aristoteliker ; daher sei bei jenem die stärkere Be-
tonung des affektiven Elementes im Willeiasleben, insbesondere der tharitas,
sowie überhaupt des üebernatürlichen, der im sittlich Guten liegenden
Beziehung zu Gott, sodass er beinahe das Gute mit dem übernatürlich
Guten identifiziert; dagegen bei Thomas die relativ grössere Bedeutung,
die er dem natürlich Guten und dem Verhältnis der Handlungen zur
Vernunft beilegt, ohne jedoch jemals zu vergessen, dass das Gute im
vollen Sinne nur aus der charitas hervorgeht. — St. Lisincki , Die
gratia capitis in Christus nach der Summa theol. des Alexander
von Haies. S. 343. — Jos. Leonissa, Zur Frage der Areopagitika.
Tritt gegen Pölzi für die Echtheit ein — H. Kirfel, Gottesbeweis
oder Gottesbeweiso beim hl. Thomas v. A. ? Gegen A. Audiu , der
behauptet, Thomas habe nur einen Gottesbeweis beabsichtigt. — Hugo,
Nestorius und seine Irrlehre. S. 460. Gegen Junglas. — Litera-
rische Besprechungen.
}
Miszellen und Naclirichten.
Die Kathoden- und Kanalstrahlen lassen einen tiefen Blick in die
Konstitution der Materie tun*).
Wird in ein evakuiertes Glasrohr mit zwei eingeschmolzenen Elek-
troden ein starker elektrischer Strom gesandt, so gehen von der nega-
tiven Elektrode, der Kathode, Strahlen in das verdünnte Gas und
bringen es zum Leuchten, und wo sie auf die Glaswand treffen, zeigt
sich hellgrüne Fluoreszenz. Dies sind die sogenannten Kathodenstrahlen.
Durch einen Magneten wird das Strahlenbündel von seiner gradlinigen
Richtung abgelenkt ; von einer negativ geladenen Platte wird der Strahl
abgestossen, von der positiven angezogen. Daraus schliesst man, dass
die Kathodenstrahlen aus sehr schnell von der Kathode abfliegenden
negativ geladenen Teilchen bestehen.
Um das Wesen dieser Teilchen zu bestimmen, hat man die Grösse
der Ablenkung durch das elektrische oder magnetische Feld und ihre
Geschwindigkeit gemessen. Die Geschwindigkeit der Teilchen, welche
der Grösse der Ablenkung umgekehrt proportional ist, wurde bei einer
Spannung von 10 000 Volt ungefähr ^/s der Lichtgeschwindigkeit 6 . 10^ cm
pro Sek. gefunden.
Je grösser die Elektrizitätsmenge der einzelnen Teilchen ist, desto
stärker ist die Ablenkung, aber um so kleiner, je schwerer sie sind.
Daraus lässt sich ihre Ladung und das Verhältnis der Ladung zur
Masse, ^'m , berechnen. Dasselbefand sich stets bei allen Gasen 1,8.10'';
auch die Elektroden konnten aus jedem beliebigen Metall, Platin, Alu-
minium bestehen.
Daraus ergibt sich das wichtige Resultat, dass die Kathodenstrahlen
aus einer Substanz bestehen, die allen Elementen gemeinsam ist.
Um dieselbe genauer kennen zu lernen, verglich man sie mit den
elektrolytischen Befunden. Man weiss, wie viel Elektrizitätseinheiten
erforderlich sind, um aus Salzsäure ein Gramm "Wasserstoffatome aus-
zuscheiden. Diese Zahl besagt dasselbe wie die „spezifische Ladung",
die für das elektrolytische Wasserstoffjon lO'^ beträgt. Das ist der
1800. Teil des für die Kathodenstrahlteilchen gefundenen Wertes von
1) Dechend, „Die Kanalstrahlen und ihre Bedeutung für die Erforschung
der Materie", Die Naturwissenschaften 1912, 8. Heft, S. 181 ff.
Miszellen und Nachrichten. 531
1,8 . 10"^. Darum muss entweder die Ladung eines Kathodenstrahl-
teilchens ISOOmal grösser sein als die des elektrolytischen Wasserstoff-
jons, oder die Masse des ersteren ist ISOOmal kleiner als die des
letzteren. Nun, die Masse des Wasserstofijons lässt sich berechnen,
und die Ladung der Kathodenstrahlen fand Thomson ganz gleich der
des elektrolytischen Wasserstoffjons. Daraus ergibt sich, dass die Kathoden-
strahlteilchen eine ISOOmal kleinere Masse als die des Wasserstoff-
atoms haben.
Da nun jedes Element solche Teilchen aussenden kann, so müssen
sie ein allen Atomarten gemeinschaftlicher Bestandteil sein. Die Ladung
ist immer dieselbe: 4,8. 10-w elektrostatische Einheiten. Darnach sind
die Atome zusammengesetzt, aber damit ist nur ein gemeinschaftlicher
Bestandteil gegeben ; was die Elemente unterscheidet, muss noch bestimmt
werden.
Dazu können die Kanalstrahlen dienen. Wird die Kathode in
einem Entladungsraume durchbohrt, so gehen in entgegengesetzter
Richtung zu den Kathodenstrahlen nach hinten in den Gasraum leuch-
tende Strahlen, welche auf die Glaswand treffend Fluoreszenz bewirken,
aber keine hellgrüne, sondern braunrote. Wegen ihres Durchgangs durch den
Kanal der Kathode nannte sie ihr Entdecker Goldstein Kanalstrahlen.
Zunächst erwiesen sich diese Strahlen durch das elektrische Feld
unablenkbar. Doch fand später Wien, dass sie durch starke Felder
ablenkbar gemacht werden konnten, indes nur ein Teil ; der andere Teil
ging weiter. Später fand er jedoch, dass durch ein neues Magnetfeld
auch diese abgelenkt wurden. Dagegen wurde ein früher ablenkbarer
Strahl im neuen Magnetfeld unablenkbar. Daraus ergibt sich, dass im
Kanalstrahl ein steter Wechsel zwischen geladenem und ungeladenem
Zustand stattfindet.
Die Geschwindigkeit wuchs wie bei den Kathodenstrahlen mit der
Spannung bei 20000 Volt 2 . 10« cm pro Sek., die spezifische Ladung
war gleich 10*, gleich der des elektrolytischen Wasserstoffatoms, woraus
zu schliessen ist, dass die Kanalstrahlen des H aus dem elektrolytischen
Hjon bestehen. Für 0-Strahlen fand er das Verhältnis der Ladung zur
Masse 16mal kleiner, entsprechend dem 16mal grösseren Atomgewicht
des Sauerstoffs.
Spätere Untersuchungen haben das gleiche Resultat für andere Ele-
mente nachgewiesen, „und es besteht kein Zweifel mehr, dass es möglich
ist, jedes Element in Kanalstrahlenform überzuführen«. Auch Thomson,
der zuerst nur für H es nachweisen konnte, hat später zugestimmt.
Die Kanalstrahlen unterscheiden sich von den Kathodenstrahlen da-
durch, dass die Elektronen von diesen immer dieselbe Ladung (und zwar
negative) und Masse besitzen, während sie bei den Kanalstrahlen für die
verschiedenen Elemente verschieden sind.
532 Mis Zeilen und Nachrichten.
Nach diesen Beobachtungen lässt sich einigermassen ein Bild von
der Struktur der Atome gewinnen.
Die Elektronen, kleinste Teilchen der Kathoden (oder /9-Strahlen),
können bei grosser Geschwindigkeit dicke Platten durchqueren, ebenso
wie die Röntgenstrahl'^n und die y- und «-Strahlen der radioaktiven
Substanzen, welch letztere schnell bewegte positiv geladene Helium-
atorae darstellen,
Sie müssen also durch die Atome selbst hindurchdringen. Nun haben
eingehendere Forschungen gezeigt, dass nicht alle Strahlen durch eine
auch ganz dünne Schicht hindurchgehen, einige werden absorbiert, andere
von ihrer gradlinigen Richtung abgelenkt (zerstreut), aber bei verschiedenen
Substanzen gesetzmä.ssig. Lenard fand das Gesetz; „Gleichgewicht.s-
mengen der verschieden.sten Substanzen zeigen gleiche absorbierende oder
zerstreuende Wirkung auf die Kathodenstrahlen". Diese Wirkung des
Atoms ist also proportional dem Atomgewichte. Darum muss, was in
der Materie auf die Kathodenstrahlen wirkt, in den verschiedenen
Atomen in Quantitäten vorhanden sein, die dem Atomgewichte pro-
portional sind.
Wenn nun die Atome auf die Kathodenstrahlen einwirken, so müssen
in ihnen elektrische oder magnetische Felder vorhanden sein, denn nur
solche können die negativen Elektronen beeinflussen. Und zwar müssen
diese Felder bei schwereren Atomen grösser sein als bei leichteren. Die
negativen Elektronen, die zu lO-i^ (.(vqi berechnet worden sind, stellen
die Grenzen der Teilbarkeit der Elektrizität und die negativen Enden
dwr elektrischen Felder dar.
Da aber die Atome neutral sind, müssen ausser den negativen
Elektronen in ihnen auch positive vorhanden sein. Nicholson erklärt
nun die Struktur des Atoms in der Weise, dass die negativen Elektronen
um die positiven rotieren. Der einfachste Fall wäre der, dass ein nega-
tives Tim ein po.sitives rotiert; aber diese.s System könnte nicht stabil
sein, weil es elektromagnetiache Energie ausstrahlen müsste.
Anders bei Kombinationen von zwei, drei, vier und fünf Elektronen.
Nicholson denkt sich den Kern aus mehreren positiven Ladungen be-
stehend, in dem die Elektronen zu einer grösseren Kugel zusammen-
geschmolzen sind. Die negativen bilden in gleichen Abständen von ein-
ander einen Ring um den Kern, so dass bei der Rotation die Stabilität
des Systems erhalten wird.
Darnach ergaben sich vier ürelem ente, aus denen alle bekannten
Elemente mathematisch abgeleitet werden können. Dieselben sind aber
keine blossen mathematischen Konstruktionen, sondern werden von der
Spektralanalyse als wirkliche Elemente nachgewiesen. Das Element mit
doppelter Ladung nennt Nicholson Coroniura; sein Spektrum wurde in
der Sonnenkorona nachgewiesen: drei Ladungen gaben das Spektrum des
Miszellen und Nachrichten, 533
Wasserstoffs, vier das Nebnlium mit dem Spektrum der Sternennfbel,
das Element mit fünf, Protofluor genannt, soll auch in der Soonenkorona
vorkommen. Das Atomgewicht des Coronium berechnet sich auf 0,6l3,
das des H ist bekannt: 1,008, das des Nebuüum berechnet sich auf
1,6277, das Protofluor auf 2,3607. Aus den drei letzteren lassen sich alle
Atomgewichte der bekannten Elemente ableiten. Sie stellen die Summe
von ganzen Vielfachen der Atomgewichte dieser drei Urelemente dar.
Eine Bestätigung dieser Theorie ergibt sich aus der merkwürdigen
üebereinstimmung der Berechnungen mit der Beobachtung.
Auf Grund einfacher Annahmen berechnete Nicholson die Verhält-
nisse, welche die Schwingungszahlen der Elektronen in den von ihm
konstruierten Atomen annehmen müssen. Er fand nun alle Spektral-
linien des hypothetischen Elements Nebulium der Astronomen mit den
für sein Nebulium berechneten identisch, ebenso deckten sich die 16
Linien der Sonnenkorona mit den für sein Protofluor berechneten. Noch
mehr: er sagte auf Grund seiner Rechnungen voraus, dass das Nebulium
eine noch nicht beobachtete Linie von der Wellenlänge 435.3 i^u aus-
senden müsse. Eine alte revidierte Platte zeigte in der Tat die wegen
ihrer Schwäche übersehene Linie, und eine neuere Aufnahme des Orion-
nebels bestätigte den Befund vollkommen ^).
H. Baerwald entwirft auf Grund der Arbeiten Lenards, eines
Führers auf dem Gebiete der Elektronenlehre, folgendes Bild von der
Struktur der Materie 2).
Den letzten Elementen, den Elektronen, ist ein elektrischer Charakter
zuzusprechen, und damit ist zugleich zum Ausdruck gebracht, dass wir
einen prinzipiellen Unterschied zwischen Elektrizität und Materie, oder,
da wir Elektrizität als aus Aether gebildet annehmen, zwischen Materie
und Aether nicht mehr zu machen vermögen, sondern diese als aus
jenem gebildet und nur durch besondere Struktur ausgezeichnet ansehen.
Dabei lassen wir es dahingestellt, ob wir uns das Elektron als einen
Wirbelring in der reibungslosen Flüssigkeit des Aethers zu denken haben
oder als eine Art Blase, eine Vakuumstelle in ihm. Im ersteren Falle
könnten wir die Kraftlinien des Elektrons als Stromlinien ansprechen,
die sich mit dem Wirbelring verketten, im letzteren als Wirbelfäden.
Nach den bis jetzt vorliegenden Tatsachen muss man annehmen,
dass die Verschiedenheit der positiven und negativen Elektrizität nur
auf verschiedener Struktur beruht, ihre Substanz aber die gleiche ist.
Die positive Einheit mag aus einem Ring von Elektronen bestehen.
Aus der Verbindung von positiven und negativen Einheiten ent-
stehen nach Lenard die Dynamiden, Kraftzentrendipole, deren jeder
») Vgl. Die Naturwissenschaften 1912, 10. Heft, S. 237 fi'.
"^ Ueber die Förderung unserer Kenntnis vom Bau des Atoms durch die
Erforschung der positiven Strahlen. Die Naturw. 1913, S. 355 ff.
Philo«ophisclies Jahrbuch 1913. "4
534 Miszellen und Nachrichten.
eine positive und eine negative Einheit enthält. Sie sind nicht ganz
neutral, darum muss „die potenzielle Bindungsenergie bei den nicht ab-
gesättigten positiven bzw. negativen Teilchen viel grösser sein als bei
den neutralen".
„Denken wir uns also die Atome aufgebaut aus Dynamiden und
Dynamidengruppen, so lässt sich auf Grund theoretischer Berechnungen
wie experimenteller Analogien mit einem solchen Bilde manche Tatsache
deuten, der gegenüber die alte Atomtheorie ratlos war; vor allem das
periodische System der chemischen Elemente, In den Elementen sehen
wir die lebensfähigsten aller möglichen Dynamidengruppen."
„Von hier aus erscheint das Weltbild in einer Einheit zusammen-
gefasst, in der es keinen Gegensatz mehr zwischen Materie und Aether,
Mechanik und Elektrodynamik gibt".
Die Wandlung im philosophischen Denken Galileo Galileis.
(Ein Vorbericht nach bisher unbearbeiteten Jugendwerken.)
Weil wir eines Gewinnes nicht verlustig gehen wollen, den wir schon
seit langem eingebracht haben, möge hier in kurzem Vorbericht der Hin-
weis auf eine Wandlung im philosophischen Denken Galileo Galileis, des
grossen Reformators der Renaissance-Wissenschaft, seine Stelle finden.
Für Gedankenkreise auf ei nzel wissenschaftlichem Gebiete, deren
heutige Gestalt in ihren entscheidenden Anfängen auf Galileis geniale An-
bahnung unbestritten zurückzuführen ist, hat E. Gerland ein ähnliches
soeben wieder betont, in seiner kürzlich erschienenen ausgezeichneten Ge-
schichte der Physik ^), die für dieses Gebiet eine lang ersehnte Abschluss-
leiatung bedeutet, zumal sie auf den reichen Ergebnissen neuester wissen-
scbaftsgeschichtlicher Einzelforschungen, eines P. Duhem, E. Wohlwill, E.
Wiedemann und seiner Schule u. a., aufbaut. Gerlands Quellenbeachtung
und (mehr noch) die fast vollständige Heranziehung der neueren Galilei-
Foischung rückt die Tatsache in eine schärfere Beleuchtung, dass wir
es auf den hauptsächlichsten Forschungsgebieten, wie z. B. der Mechanik,
in der Falllehre, und erst recht in den Gedanken Galileis über das
Hiramelsbild mit späteren entscheidenden Alterswendungen zu tun haben,
die den Meister mit teils zögerndem, teils festem Schritt über frühere
0 E. Gerland, Geschichte der Physik von den ältesten Zeiten bis zum
Ausgange des 18. Jahrhunderts. (Für die Druckl. durchgesehen von Dr. H. v.
Steinwehr). München und Berlin 1913, R. Oldenbourg. 17 M. (In dem grossen
Akademiewerke der Geschichte der Wissenschaften in Deutschland der 24. Band.)
— Bei einer demnächst erfolgenden Besprechung müssen wir mit der schuldigen
Anerkennung des Werkes immerhin einige gewichtige Momente der Kritik ver-
binden, soweit die Darstellung des Mittelalters und der Renaissance in Frage
kommt.
Miszellen und Nachrichten. 535
Grenzlinien hinwegschreiten liessen — dem vollen Ideal der nuova scienza,
und dem neuen Himmelsbild entgegen.
Wie die Wissenschaftsgeschichte so von einem Ruck im Werdegang
des grossen Programmators einer neuen Naturansicht reden muss, so
werden wir auch in der Philosophie g eschi chte mit Phasen der
philosophischen Geistesentwicklung Galileis zu rechnen
und eine Entwicklungslinie festzulegen haben, die vorläufig einen
auffallenden, scharfen Wendepunkt der Kurve zeigt, wenn nicht der
Schwankungen noch mehr sich finden werden!
Denn eine — bisher unterbliebene — Bearbeitung von Jugend-
schriften aus dem Jahre 1584, die A. Favaros sehr verdienstvolle National-
ausgabe der Werke aus dem Autograph zum ersten Male zugänglich
machte ^), förderte reiche Aufschlüsse über die philosophischen Versuche
des jugendlichen Galilei, der hier Philosophie mit spärlicher Einzel-
wisaenschaft verbindet und sich in einer in vielen Einzelzügen sehr
symptomatischen Traktatenfolge gewissermassen Rechenschaft gibt über
einen Wissensbestaud, vornehmlich auf dem Gebiete der damaligen Kos-
mologie, der hinsichtlich seiner systematischen Geschlossenheit wenigstens
als recht achtenswert bezeichnet werden darf.
Die beiden erhaltenen Fragmente bergen einen Traktat, der sich
auf den Stoffkreis der aristotelischen Bücher de caelo bezieht; ferner
den Rest einer Untersuchung, die u. a. das vielerörterte Problem der
akzidentellen Veränderung behandelt (de intensione et remissione), und
zuletzt eine Abhandlung zur Elementenlehre (tract. de elementis). Wir
vermuten übrigens hinter diesen Schriften ein Analogen zur heutigen
Dissertation, wenn nicht eine redigierte Kollegsammlung.
Ihrer Form nach folgen diese Jugendfragmente durchaus den scho-
lastisch-literarischen Gepflogenheiten; als eigentlichen , Kommentar
zum L. de caelo" kann man das erste Fragment nicht ansehen, wie es
P. Duhem in einer kurzen Erwähnung will 2).
Nach unserer 1910 schon festgelegten 3) und im wesentlichen bestehen
bleibenden Charakteristik des philosophischen Lehrgehalts steht Galileo
Galilei in diesen lateinisch verfassten luvenilia durchaus im Rahmen
0 S. die Edizione nazionale der Werke Galileis, besorgt von A. Favaro,
Florenz 1890 ff. Die luvenilia sind im 1. Bande enthalten, 1890, S. 15—177.
■') Eine solche finden wir in seinen bedeutenden Origines de la Statique
(Paris 1905), t. I p. 237 s. Sie bezieht sich mit einigen Zeilen auf das erste
Fragment, aber nicht ohne leicht missverständlich zu sein, da sie augenschein-
lich nicht auf Durcharbeit des Ganzen beruht. Gerland schreibt Duhem nur
aus und übersieht erst recht, wie schon Duhem, das Vorwort des Herausgebers
Favaro.
ä) Prof. A. Dyroff (Bonn) wies in den Uebungen zur Renaissance die Auf-
gabe an, und der Seminarbericht (W. S. 1910) bietet die referierende Skizze.
6 ' 34*
5B6 lVlis'/5 eilen und Nachrichten.
der scholastischen philosophischen und einzelwissenschaft-
lichen Tradition; bestimmend bleibt für die gesamte Darlegung die
konservative Linie der führenden Scholastik, im grossen Ganzen mit be-
merkenswerter Tendenz zu der Ausprägung, die sie in der Form des
Thomismus gefunden hat. Und die Ausführungen wahren eine ganz
bezeichnende Unberührtheit von Renaissance-Eigentümlichkeiten, die in
der damaligen gedanklichen Umgebung keine geringe Verbreitung zeigen
und in vielem als Entartungsformen der gesunden Tradition anzusprechen
sind, wie Astrologismus u. a. m., ferner eine deutliche Absage an eine
nenplatonische Denkweise, in jeder Form, der antikisierenden oder der
arabistischen. Daneben steht eine Reihe von Zeichen des Renaissance-
zeitalters, die als die verständliche Frucht der Fortentwicklung zu werten
sind, wie die breite Heranziehung des zu jener Zeit ja relativ vollkommen
rezipierten antiken und patrietischen Ge-iankenstoffes, mit eigenartigen
Ansätzen zu einer problemgeschichtlicheu Betrachtung, welche diesen
Hochstand der Rezeptiousbewegung auszubeuten sucht; der Autor wird
so vielfach zum anregenden Referenten über manche Problementwicklung-
Dass der Natur der Sache nach der geozentrische Standpunkt mass-
gebend bleibt, bedarf keiner näheren Ausführung.
Der Gewinn wird vorerst der sein, dass sich zur künftigen Aus-
c^estaltung eines vollendeteren Bildes der philosophischen Persönlichkeit
Galileis erhebliche neue Antriebe ergeben, und auch die Richtung
im wesentlichen feststeht, in der sie sich zu vollziehen hat.
Denn das Ergebnis legt zwei bedeutsame Restfragen beson-
ders nahe, mit deren Beantwortung das Teilergebnis zum weit er-
trag enden Resultate wird: I. Wie tief geht die Wandlung von diesem
philosophischen Jugendvorsuch zum abgeschlossenen Altersdenken, auf
welchem Gebiete und in welcher Hinsicht hat sie sich im wahren Sinne
als eine „ümkippung" durchgesetzt, um mit einem berühmten Worte
zu reden!? Auf metaphysischem Gebiete steht sie fest; die metho-
dologische gueue Einstellung", Umkehr oder — Einkehr aber wer-
den wir allerdings kritischer zu prüfen haben und hinsichtlich des Neo-
logischen an ihr heute geltende, von nicht zu unterschätzenden Autori-
täten gestützte Auffassungen auf ein mittleres Mass zurückbringen
müssen. Zum mindesten wird die künftige Formel, mit der die philo-
sophiegeschichtliche Forschung das geistige Gegenbild zu Galileis Denken
zu geben beansprucht, an Einfachheit erheblich verlieren und eine wesent-
lich kompliziertere werden, Dass der weitere Ausbau, der unsere Auf-
gabe bleibt, u. a. auch zu Cassirers Ausführungen ^) ergänzend-modi-
') S. in dessen Werke „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft der neueren Zeit" Bd. I (2. Aufl. 1911) den Abschnitt über Galilei ;
Cassirer greift im wesentlichen Prantls Urteile auf. Ob übrigens nicht für
Mis55ellen und Nachrichten. 537
fizierend Stellung nehmen muss, lässt sich schon voraussagen. Wird
aber dadurch etwa in epigonemhaftem Nörgeln der Genialität des Meisters,
die ihn hat weiterbringen sollen, entscheidend Abbruch getan,
wenn wir im Verlauf dieser Forschungen den breiten, mitbestimmenden
Einschlag des reichen Materials von Anregungen und Hilfen besser
werden vortreten lassen, das Galilei aus der Tradition und dem um-
gebenden, durchaus nicht allerorts stagnierenden Wissenschaftsleben
hat aufnehmen können und aufnehmen müssen? Müssen — schon auf
dem Wege der erwiesenen scholastischen Jugendbildung, deren Gesamt-
erfolg im Ganzen doch nie zu streichen ist!
Und von besonders werbendem Reize ist die zweite Abschlussfrage: Wo
liegen die inneren — und auch äusseren ~ Gründe des grossen Umlernens
in philosophischen Dingen, das wir und soweit wir es behaupten dürfen,
welches sind die treibenden Faktoren? Dar gerade bei Galilei sehr delikaten
Quellenfrage gilt es neben anderen auch hier wiederum — und für die
Psychologie des grossen Naturwisseuschaftlers, für das Verständnis der
realen seelischen Mächte, die in seiner ganzen geistigen Eigenart be-
wurzelt waren und für ihn zum Gedankenhebel wurden, wird manch'
bedeutsamer Zug gewonnen werden. —
Im Sinne der hier gezogenen Grundlinien soll die Forschung zu
Ende geführt werden, falls nicht schon vorher die Darstellung und Beur-
teilung der Jugendphilosophie Galileis für sich abgetan wird,
Bonn. Hr. Rüster.
Prantls Hauptwerk, die bei aller tendenziösen Einseitigkeit so unentbehrliche
Geschichte der Logik im Abendlande, ein anastatischer Neudruck veran-
staltet werden könnte ?
Philosophischer Sprechsaal.
Religion und religiöse Lehre.
Von Dr. Elisabeth Thiel in Berlin.
Es ist eine ganz richtige Bezeichnnng für das, was das Wesen des Menschen
ausmacht, wenn gesagt wird: Der Mensch ist das Wesen, das Religion hat.
Religion ist in Verbindung mit Sprache, mit Kunst und Recht das unterscheidende
Kennzeichen des Menschen, und unter diesen vier Grundformen alles mensch-
lichen Geisteslebens steht die Religion als alles bestimmende Macht an der
Spitze. Man kann darum dea Satz auch umkehren und sagen: Religion ist
das, was den Menschen zum Menschen macht. Dass ein Wesen, das uns in
der irdischen Wirklichkeit begegnet, irgend etwas besitze, was der Religion
auch nur von ferne ähnlich wäre, ist völlig ausgeschlossen. Dagegen haben
niemals Forscher, die ohne Vorurteile mit reinem Sinn für die Tatsachen beob-
achteten, in irgend einem Teile der Welt Menschen gefunden, die ohne Religion
gewesen wären, weder in alter noch in neuerer Zeit. Darüber sind die Ver-
treter der Anthropologie völlig eines Sinnes. Ueberdies kommt es auf dieses
bloss erfahrungsmässige Beobachten allein nicht an, sondern weit mehr ent-
scheidet die rechte Einsicht in die Natur des Menschen. Gesetzt, es würde
irgend einmal irgendwo ein Bruchteil eines menschlichen Stammes gefunden,
bei dem sich von einer Religion nichts feststellen Hesse, so würde der Kenner
des menschlichen Geschlechts, seiner Daseinsformen und seiner Geschichte ein
volles Recht haben zu behaupten: Das ist keine regelmässige, sondern eine
monströse Erscheinung und zeigt uns die menschliche Natur nicht in ihrer
Vollständigkeit, sondern im Zustande der Verkrüppelung und Verkümmerung;
solche Menschen, die keine Religion haben, stehen den Tieren näher als den
Menschen. Drum ist die Umkehrung des an den Anfang gestellten Satzes auch
in der Form der Antipositio richtig : Was keine Religion hat, das ist auch kein
Mensch, höchstens ein menschenähnliches Wesen im Zustande der Entartung.
Nun hört man jedoch vielfach von Leuten, die sich für aufgeklärt halten,
die Meinung vertreten : In früheren Jahrtausenden und Jahrhunderten habe die
Religion eine grosse Rolle in der Welt gespielt und die Menschen vollständig
beherrscht; jetzt aber sei es ganz anders geworden. Seitdem die grosse Auf-
klärung in die Welt eingedrungen sei, nehme die Macht der Religion fortwährend
ab; sie sei jetzt schon viel geringer geworden, und schliesslich werden alle
Religionen aus der Menschenwelt völlig verschwinden und nur noch der helle
Verstand und die Aufklärung herrschen. So hat schon um das Jahr 1800 ein
bekannter, höchst aufgeklärter Berliner Bibliotliekar, namens Biester, geweissagt:
Philosophischer Sprechsaal. 539
es werde nicht mehr 50 Jahre dauern, dann werde der Name Jesus von Naza-
reth vöUig vergessen sein und gar nicht mehr genannt werden. Diese Weis-
sagung ist augenscheinlich nicht eingetroffen. Aber das hindert nicht, dass
viele andere sich mit aller Zuversicht ähnlichen Zukunftshoffnungen hingeben
und das Bestehen der Religion nur noch für eine Frage der Zeit ansehen.
Merkwürdig! Die aufgeklärten Menschen können sich gar nicht vorstellen,
wie es möghch sei, dass andere Menschen nicht so aufgeklärt sind, wie sie,
und dass diese anderen Menschen sogar die aufgeklärte Meinung ausdrücklich,
ja mit Abscheu von sich weisen, wenn sie ihnen entgegengebracht wird. Diese
Widersacher der Religion in ihrer grossen Aufklärung verlassen sich auf die
Erfahrung, auf das, was sie mit ihren Ohren hören und mit ihren Augen sehen,
und in dieser Erfahrung, so behaupten sie, komme nichts von Religion vor.
Es scheint aber vielmehr, dass dieser Menschenschlag doch eigentlich der Er-
fahrung sehr wenig vertraut, sich vielmehr lieber eine Erfahrung ausdenkt und
ausmalt, wie sie eigentlich sein müsste, um von ihnen Beifall und Billigung
zu erlangen. Die wirkliche Erfahrung zeigt, dass rings in der Christenheit zum
Christfest die Glocken läuten, die Kerzen brennen, die Lieder klingen und die
ganze Welt widerhallt von Lob und Preis des Heilands und Erlösers, den
Gottes überschwengliche Liebe der Welt gespendet hat. Und so zeigt zu anderer
Zeit aus anderem Anlass die wirkliche Erfahrung die gleiche Erscheinung in
anderer Färbung und Stimmung. Ja noch mehr. Das Christentum breitet sich
seit den letzten Jahrhunderten mit erneuertem Aufschwung mächtig aus und
erobert sich sämtliche Weltteile und die ganze Inselflur, z. T. Schritt für
Schritt langsam in längeren Zeiträumen das Unchristliche verdrängend, z. T.
mit gewaltigen Siegerschritten Könige und Völker zu sich herüberziehend. Jene
Aufgeklärten tun so, als wäre das alles nur Kleinigkeit ; dagegen das in diesem
Jahre erschienene Buch oder der in der letzten Nummer der Zeitschrift ver-
öffentlichte Artikel voll Gift und Galle gegen alle Religion und gegen das
Christentum insbesondere, das sei etwas Grosses und Mächtiges und werde der
Herrschaft der Religion sicher ein Ende machen. Man kann darauf in aller
Herzensruhe erwidern : weder das Buch noch der Zeitungsartikel, und wenn es
tausende von Büchern und zehntausende von Zeitungsartikeln wären, hat irgend
eine Macht, die Religion zu erschüttern oder auch nur tiefer zu schädigen;
gegen sie wird keine Gewalt jemals aufkommen. Im Gegenteil: dass man sie
so eifrig, mit so ingrimmigem Hass, ja mit solcher Wut bekämpft, das ist das
sicherste Zeichen von der ungebrochenen, der siegreichen Macht der Religion
bis auf unsere Tage. Was keine Macht und keine Bedeutung mehr hätte, was
von selber zu erlöschen im Begriffe wäre, das würde kein verständiger Mensch
noch erst umständlich und mühsam bekämpfen wollen. Man rennt doch offene
Türen nicht ein und schiesst nicht nach Sperlingen mit Kanonen. Die Sache
liegt vielmehr so: Der Hass gegen die Religion nimmt gerade deshalb die
Gestalt des ingrimmigen Fanatismus an, weil man sich im Gefühle gar nicht
verbergen kann, dass die Tatsachen doch nicht recht stimmen wollen, und dass
die Macht der Religion über die Gemüter, statt, wie man es gern möchte, ab-
zunehmen und zu schwinden, vielmehr stetig wächst und zunimmt.
Und so sagen wir's denn ruhig heraus mit klarem Blick in die Wirklich-
keit der Tatsachen und ohne uns von Wunsch und Neigung in unserer Beob-
I
540 Philosophischer Sprechsaal.
achtung der Dinge und in unserem Urteil über die Dinge irgend beirren zu
lassen: es hat, so lange es eine Christenheit auf Erden gibt, nie eine Zeit ge-
geben, in der die Macht der Religion über die Gemüter der Menschen eine so
grosse gewesen wäre, wie in der gegenwärtigen Epoche, und niemals eine Zeit,
wo alle Gestaltung der irdischen Dinge so entscheidend unter der Macht der
Religion sich vollzogen hätte, wie in der Gegenwart. Die Formen der Herr-
schaft der Religion haben sich in mancher Beziehung geändert ; das täuscht den
Blick der Menschen, die nur das Aeussere sehen und nur nach dem Aeusseren
urteilen. Dafür haben sich die geistigen Kräfte der Religion und ihre Wirkungen
wesentlich gesteigert, weil es überhaupt auf Erden heller geworden ist, weil
die Wissenschaft und ihre Ausbreitung gewachsen, die religiöse Lehre viel mehr
Menschen zugänglich geworden ist als sonst, und weil der Staat seine zwingende
Macht von dem Gebiete der Religion zurückgezogen hat, sodass nunmehr jedem
Menschen die ausdrückliche Möglichkeit und die Notwendigkeit vorbehalten ist,
sich selbständig zu entscheiden, für oder gegen, wo die Menge in früheren
Zeiten oft nur blind mitlief ohne inneres Verständnis und ohne innere Teilnahme.
Dadurch wird es verständlich, dass heule die geschlossenen Massen derjenigen,
die sich für die grosse Sache entschieden haben, so unendlich viel mehr be-
deuten als früher, insbesondere wo es auf äussere Wirksamkeit in der Gestaltung
der Dinge dieser h-dischen Welt ankommt.
Die aufgeklärten Leute berufen sich für ihre geringschätzende Meinung
von (Jer Religion auf die hohe Wissenschaft, deren sie sich rühmen, und auf
die massgebende Bedeutung der verständigen Einsicht. Es wird sich daher der
Mühe verlohnen, die Religion überhaupt einmal daraufhin anzusehen, was in
ihr die Lehre, der Intellekt und die Wissenschaft bedeutet, und ob wir darin
für die Religion bauende, hilfreiche oder zerstörende, verderbliche Kräfte zu
erblicken haben. Einer solchen Betrachtung sind die folgenden Blätter geweiht.
L
Wir handeln zunächst von dem äusseren Dasein der Religion,
wie sie sich hier auf dieser Erde darstellt, mitten unter den anderen Er-
scheinungen, die die Erde gleichfalls bietet. Das Wort „Religion" ist mehr-
deutig und wird von den verschiedenen Forschern, die über das Wesen der
Religion gehandelt haben, in sehr verschiedenem Sinne gebraucht: eine uner-
schöpfliche Quelle von Missverständnissen und Streitigkeiten, in die sich die
Leute verwickeln, weil sie meinen, sie handelten von demselben Gegenstande,
wenn sie dasselbe Wort gebrauchen. Für uns ist es deshalb das erste Er-
fordernis, dass wir genau bezeichnen, was wir unter dem Worte „Religion"
verstanden wissen wollen. In den geläufigen Büchern über die Religions-
philosophie wird „Rehgion" im Sinne von Religiosität gebraucht, als eine be-
sondere Art von subjektiver Stimmung, von Anschauung und Gefühl, etwa wie
Schleiermacher die Sache fasst: die Religion sei die Stimmung des Gemütes,
alles einzelne als Teil des Ganzen, alles Beschränkte als Darstellung des Un-
endlichen hinzunehmen, oder auch sie sei das Gefühl schlechthinniger Ab-
hängigkeit. Mit diesem Gebrauche des Wortes ,, Religion" haben wir es nicht
zu tun. Wir nehmen das Wort in dem Sinne, wie man von jüdischer, christ-
licher, mohamedanischer Religion spricht, d. h. von grossen menschlichen Ge-
meinschaften, die in geschichtlicher Existenz vorhanden, Millionen, ja Hunderte
Philosophischer Sprechsaal. 541
von Millionen Menschen durch die wechselnden Generationen hindurch, über
Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg in enger Verbindung zusammenhalten
und damit die allergewaltigsten historischen Wirkungen üben. In dieser Be-
trachtungsweise befinden wir uns in völliger Uebereinstimmung mit den Aus-
führungen, die Adolf Lassen in seiner bekannten Schrift; „Ueber Gegenstand
und Behandlungsart der Religionsphilosophie" 1872 dargelegt hat.
In diesen grossen geschichtlichen Gebilden stellt sich die Religion dar als
eine Vielheit von Religionen, die alle den einen Begriff der Religion als ihr
gemeinsames Wesen in verschiedenen Formen zur Verwirklichung bringen-
Was ist nun die Religion, die in dieser Vielheit der Religionen das gemeinsame
begriffliche Wesen ausmacht? Um die Frage zu beantworten, müssen wir uns
an die Erfahrung halten und an die Fülle der Tatsachen anknüpfen, die sie
uns kennen lehrt. Ueberall, wo Religion ist, sehen wir die Menge der Menschen
in gemeinsamem Tun und nach gemeinsamer Gewohnheit Gott oder Götter ehren,
ihnen dienen, ihren Vorschriften gehorchen, zu ihnen beten, ihnen Gaben als
Opfer darbringen, von ihnen sich Rat und Anweisung, Aufschluss über Zu-
künftiges erbitten und Lohn oder Strafe als Vergeltung ihrer Taten und Unter-
lassungen erwarten. Wie die Götter selber keine Gegenstände der wahrnehm-
baren Sinnenwelt sind, so sind auch die Zwecke, die die Menschen mit dem
Dienste der Götter anstreben, keine Zwecke des äusseren, des sinnlichen Lebens.
Nicht das Nützliche und Angenehme, sondern das Heilige und Göttliche ist das
Begehrte, innerer Friede, ewige Seligkeit, und damit tritt die Gottesverehrung
als das Herzstück der Religion aus dem Umkreis der spezifisch irdischen Tätig-
keiten als etwas deutlich Abgetrenntes heraus. Erhebung des Sinnes über das
Gewöhnliche, Feier, Begeisterung, Andacht ist das Kennzeichen des religiösen
Tuns und der religiösen Stimmung. Religion bezeichnet im menschlichen Leben
den Festtag, die Befreiung von irdischer Sorge und niederer Not ; darum umgibt
sie sich gern mit künstlerischem Schmuck, mit heiterer Pracht und Schönheit,
bald in jubelnder Frende, bald in tiefer Trauer sich bewegend. In aller Feier
hält sich die feiernde Gemeinschaff den Gott gegenwärtig vor Augen und ver-
setzt sich in seine Geschichte mitten hinein, um das göttliche Leben mitzu-
leben und die göttlichen Geschicke zu teilen. Eine gemeinsame Ueberzeugung
hält die Menschen zusammen; das entsprechende Tun ist selbstverständlich;
der heilige Wille der Götter, ihre Forderung und ihr Gesetz sind bekannt und
unzweifelhaft gewiss, und es wäre Frevel, dagegen zu Verstössen. Die einen
sind in der Gemeinschaft die Leitenden und Wissenden; sie haben von allem,
was zur Rehgion gehört, bestimmte, ausdrückliche Kenntnis durch Ueberlieferung
von alter Zeit her; die anderen, die Masse der Geleiteten und zu Unter-
weisenden, haben kein so ausdrückliches Wissen, sondern folgen der Autorität
der höher Erleuchteten. Alles, was den Menschen als hoch und erhaben, als
wertvoll und überragend gilt, steht unter dem Schulze der Götter und empfängt
durch göttliche Bestätigung eine Macht über die Gemüter; die Götter schützen
das Recht und den Staat, die Sprache und die Nationalität, die Kultur und die
Gesittung. Das Selbslbewusstsein des Volkes von seinem Eigensten verschmilzt
aufs innigste mit dem Bewusstsein von den Göttern und den göttlichen Geboten.
So haben wir denn in aller Religion diese verschiedenen Elemente: 1. den
Kultus als den äusseren Ausdruck gemeinsamer Goltesverehrung, 2. das Ethos
542 Philosophischer Sprechsaal.
als die Anforderung der Götter an die Willensäusserung der einzelnen wie an
die der Gesamtheit, und endlich 3. den gemeinsamen Kreis von Vorstellungen
über die Götter, über ihr Wesen, ihr Leben und ihr Tun, ihr Verhältnis zur
Welt und zum Menschen. Diese drei Elemente zusammenwirkend, aus einer
Wurzel fliessend und durch gleiche geistige Bestimmtheit zusammengehalten,
bilden das, was man eine Religion nennt. In jeder bestimmten Religion sind sie
eigentümlich gestaltet ; in der einen Religionsform ist das eine dieser Elemente,
in der anderen das andere mehr ausgebildet ; die überwiegende Macht und Herr-
schaft ist zwischen ihnen sehr verschieden verteilt : aber jede Religion hat diese
drei Elemente als konstitutive Merkmale und aus ihrer besonderen Eigentüm-
lichkeil fliesst alles, was für die jedesmalige Religionsform charakteristisch ist.
Religion ist als solche gemeinsame Gotlesverehrung. Wo scheinbar viele
Götter verehrt werden, da sind auch diese vielen Götter nur die verschiedenen
Gestalten, in denen sich das eine Göttliche, das dem Bewusstsein immer gegen-
wärtig bleibt, den Menschen darstellt. Mit den Göttern ist dann auch gegeben
eine höhere jenseitige Welt über der realen sinnlichen Welt, mag auch jenes
Jenseitige von den noch ungeschulten Gemütern immer noch in den Formen
der Sinnlichkeit aufgefasst werden. Eng damit verbunden ist ferner die Er-
scheinung des Göttlichen, die Theophanie, die Kundgebung des Göttlichen als
Offenbarung und Orakelspruch; die Betätigung der Götter als Wunder zur
Hilfe, Rettung und Strafe und ihre Gnadengegenwart in Trost, Frieden und
Beseligung.
Woher die Religion stammt, ist nicht eigentlich unsere Frage. Diejenigen,
die immer nur an das Natürliche und Sinnliche denken, leiten auch die Religion
ab aus der Furcht des natürlichen sinnlichen Menschen vor übermächtigen
Naturgewalten, die ihn bedrohen, und aus der Unwissenheit, die ihm die
wahren Ursachen und Zusammenhänge der Dinge verbirgt. Aber die Unmög-
lichkeit, daraus die wirkliche Erscheimmg der Rehgion zu erklären, liegt auf
der Hand. Der Mensch kann anbeten nur das, dem er sich wesensverwandl
fühlt; das dunkel gefühlte und klar gedachte Ideal eines Wesens ist ihm das
Göttliche. In diesem Sinne ist Anbeten der Adel der menschlichen Natur, und,
dass er Götter verehrt, ist der Stempel seiner göttlichen Bestimmung. Damit
ist auch der Anfang und die Entstehung der Religion gegeben. Nicht alles hat
einen Anfang; es gibt auch solches, was ewig ist. Die Annahme, der Mensch
habe mit kluger Absicht die Religion gemacht, ist widersinnig; richtiger wäre
es zu sagen, dass die Religion den Menschen gemacht hat. Die Religion, auch
noch in ihrer verkümmertsten Form ist, sofern sie Religion ist, Gottes Mit-
teilung an den Menschen, und nur, was daran Wahn und Verkehrtheit ist,
stammt vom Menschen. Die gemeine Manier, die niedersten Formen der Re-
ligion als Zeugen anzurufen, um die Religion als solche verdammen zu können,
beweist nur den niederen Sinn und Unverstand derer, die so verfahren. Viel-
mehr, von der Betrachtung der höchsten Form muss man ausgehen, um die
niederen zu verstehen. Das Christentum als die absolute Religion beweist uns
worauf die Religion von je angelegt war, und wovon die niederen Religions-
formen abgefallen sind.
Die konkrete Form also, in der die Religion vollkommen vorhanden ist,
ist die religiöse Gemeinschaft. Im Christentum, wo die Form der religiösen
Philosophischer Sprechsaal. 543
Gemeinschaft ihre höchste Ausbildung gefunden hat, steht sie in voller Selbst-
ständigkeit allen anderen Formen der menschlichen Gemeinschaft, auch dem
Staat und der, wirtschaftlichen Gesellschaft gegenüber, und behauptet ihre
Eigenschaft. Hier hat man für die religiöse Gemeinschaft das Wort „Kirche''
geprägt. Die Sache ist somit älter als der Name. Jede Religion ist als solche
eine Kirche. Sie ist es ausserhalb des Christentums nur in unvollkommener
Form. In dieser irdischen Welt existiert also die Religion nur in der Form
der Kirche, und es gibt keine Religion anders als in kirchlicher Form. Mit der
Durchbildung der Kirche als der Form der religiösen Gemeinschaft, wie sie das
Christentum vollzogen hat, ist aber weiter auch zweierlei, was in den niederen
Religionen nur in unentwickeltem Zustande vorhanden war, zur Vollendung
gereift : die Kirchenverfassung und die Kirchenlehre. Von der Kirchenverfassung
bemerken wir hier nur, dass in der Religion Christi die Kirche die Aufgabe
überkommen hat, bestimmte äussere Institutionen auszubilden, sich Machtmittel
und Vermögen zu sichern und innere rechtliche Ordnungen herzustellen. Auch
diese Aufgabe steht im Dienste ihrer höchsten Zwecke. Es gilt, ihren Bestand
als selbständige Maclit inmitten der anderen Träger von Macht und Autorität
in den irdischen Verhältnissen aufrecht zu halten und unter allen Umständen
ihre segensreichen Funktionen an den wechselnden Generationen der Mensch-
heit mit steigendem Nachdruck üben zu können. Das mag an dieser Stelle
über diesen Punkt genügen. Dagegen haben wir eingehender zu handeln über
den anderen Funkt, die Kirchenlehre.
II.
Dass zu den konstitutiven Merkmalen der Religion ein Kreis von Vor-
stellungen über die Götter, über den Menschen, die Aussenwelt und ihre gegen-
seitigen Verhältnisse gehört, haben wir oben gesehen. In der Tat ist keine
Religion denkbar, wo sich solch ein Kreis von Vorstellungen nicht fände. Aber
in den unvollkommenen Rehgionen bleibt dieses Element der Theorie und des
Wissens unentwickelt. Man kommt über den sinnlichen Ausdruck in konkreten
Gestalten und Geschichten nicht hinaus: man bleibt so in mehr oder minder
sinniger, mehr oder minder phantasievoller Mythologie stecken und versucht es
gar nicht, zu gesicherten Begriffen von wissenschaftlicher Art zu gelangen, oder,
wo, wie bei den Hellenen, im Zusammenhange wissenschaftlicher theoretischer
Untersuchungen auf philosophischem Gebiete sich auch eine Theorie von den
göttlichen Dingen einstellt, da steht sie im ausgesprochensten Gegensalz gegen
den in der Volksrehgion herrschenden Kreis von Vorstellungen mythischer Art
und sucht sich irgendwie mit ihr abzufinden, entweder in ausdrücklichem
Kampf, oder durch künstliche Deutung oder durch eine Nachgiebigkeit gegen
das Bedürfnis, die mit irgend etwas, was wie Anerkennung der Wahrheit aus-
sähe, gar keine oder nur ganz entfernte Verwandtschaft hat. Sobald die reli-
giöse Gemeinschaft aus unbestimmteren und zerflosseneren Formen sich inner-
lich fester sammelnd, äusserlich entschiedener abschliessend, als gesicherter Bau
eine Kirche aufrichtet, nimmt die Sache eine ganz andere Wendung. Zunächst
hat Christus selbst ihr ein absolut festes Gefüge gegeben. Man erinnere sich
[i an seine Worte, in denen er hinwies, dass er die Vervollkommnung, die
'^ Vollendung des mosaischen Gesetzes beabsichtige; an die Bergpredigt, das
•'.;t Fundament religiösen Lebens; an seine Worte, in denen er sich selbst zum
544 Philosophischer Sp rechsaal.
Mittelpunkte der Beligion setzte. „Ich und der Vater sind Eins", „Ich bin der
Weinstock, ihr seid die Reben", „Wer an mich glaubt, der wird leben". Die
von Christus gestiftete Religion trat in eine Welt hoher G«isteskultur, deren
Bedürfnis eine solche Selbständigkeit der religiösen Gemeinschaft entsprach.
Es war gezwungen, sich so zu verfassen, weil es sich der ihm feindseligen
Macht des Staates gegenüber zu behaupten hatte. Inmitten eines von Wissen-
schaft durchdrungenen Geschlechtes, dessen religiöses Sehnen von dem Streben
nach wissenschaftlichen Aufschlüssen unabtrennbar war, nahm das Christen-
tum notwendig die Form einer ausgebildeten Lehre an, weil diejenigen, die in
festem Glauben sich ihrem Heiland zuwandten, wissenschaftlichen Gedanken-
ausdruck für das selbstverständliche Erfordernis jeder Innerlichkeit und jeder
Ueberzeugung ansahen. Schon mit den Tagen der heiligen Apostel Paulus,
Johannes, Petrus, Jakobus beginnt die Richtung auf eine ausdrückliche christ-
liche Lehre wirksam zu werden. Der Einfluss hellenischer Philosophie trieb
auf diesem Wege weiter. Zu Zwecken der Polemik als die Angreifenden, der
Apologetik als die Angegriffenen bedienten sich die hochgebildeten Christen der
Waffen der Wissenschaft, und seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
gab es eine eigentliche christliche Theologie von feinster Durchbildung, die sich
nun nicht mehr im Gegensatz zu der Religion der Massen, sondern ausge-
sprochener Weise in ihrem Dienste als ihre Stütze und Befestigung eine mass-
gebende Stellung in den Geistern verschaffte.
Somit war denn weiter ein Moment von grosser Wichtigkeit gegeben. Die
Kirche hatte sich behufs ihres eigenen Bestandes eine Lehre in wissenschaft-
licher Form angegliedert, die zugleich als Hilfsmittel zu dienen bestimmt war,
für die Erweckung des Glaubens in den Herzen der Menschen und als bewusster
Ausdruck für den heiligen Inhalt, an dem der Glaube festhielt. Indem die
Kirche so das ihr Eigene festlegte, bezeichnete sie damit zugleich das, was sie
als ihr fremdartig und zuwiderlaufend von sich ausschloss. Das Bedürfnis der
Kirche, sich in sich zu befestigen, und ihrer von Gott verliehenen Gaben froh
zu werden, erwies sich zugleich als die Notwendigkeit, das Abweichende, ihrem
Geiste und der göttlichen Offenbarung Widersprechende, was sich in ihrem
Schosse Bürgerrectit zu erwerben suchte, mit Entschiedenheit als fremdartig zu
bezeichnen und abzuweisen. So ergab sich das Streben, die religiöse Lehre
als Grundlage der religiösen Gemeinschaft immer genauer festzustellen und an
ihren formulierten, durch kirchliche Autorität sanktionierten Ausdruck alle die
zu binden, die innerhalb der Kirche ein Amt der Lehre und Seelsorge, ein
priesterliches Amt zu führen auserlesen und weiter auch alle diejenigen, die
in gläubiger Einheit mit der Kirche zu leben und zu sterben bestrebt waren.
Es wurden bestimmte Sätze als kirchliche Dogmen festgestellt, die für alle
Lehre und Verkündigung innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft verbindlich
waren, und Bekenntnisse in knappster Form verfasst, die den Glaubensinhalt
in einer allen, auch den wissenschaftlich minder Gebildeten, zugänglichen Form
ausdrückten und dem allgemeinen Gedächtnis als gemeinsames Losungswort
einprägten. Erst so ausgerüstet, mit einer wissenschaftlich durchdachten Theo-
logie, mit einem in strengem Gedankenausdruck das Wesentliche feststellenden
Dogma und mit für alle als Erkenntnismittel dienenden Bekenntnissen versehen,
nimmt das Christentum mit vollem Recht für sich in Anspruch, der Form wie
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Philosophischer Sprechsaal. 545
dem Inhalte nach, die absolute Religion zu sein und die Verheissung des von
seiner irdischen Laufbahn scheidenden Herrn zur vollen Erfüllung gebracht
zu haben, dass der heilige Geist sie in volle Wahrheit führen werde.
Dieses ist der Punkt, an dem der Widerspruch gegen die Kirche am häufig-
sten und am leidenschaftlichsten einsetzt. Auch wenn man den Kultus und
das Ethos, die anderen beiden wichtigsten Attribute der Kirche, gelten zu lassen
sich mehr oder minder willig herbeilässt : mit der Kirchenlehre vermögen solche,
die sich für freie Geister ausgeben möchten, am wenigsten sich einverstanden
zu erklären. Wozu denn auch eine solche bestimmte Lehre? Ginge es nicht
viel besser ohne sie und ihren Zwang auf die Gemüter und die Gedanken der
Menschen? Wäre nicht eine Kirche ohne Dogmen und ohne formulierte Be-
kenntnisse, wo jeder über die heiligen Dinge denken darf, wie er mag, das
eigentliche Ideal von Religion? Würden damit nicht alle die schmerzlichen
Konflikte, in die das feststehende Dogma mit der zeitlich fortschreitenden
Wissenschaft notwendig geraten muss, auf die einfachste Weise der Lösung
entgegengeführt? In früheren Zeiten, wo noch der Irrtum und die Unwissenheit
auf Erden herrschten, da war es noch eher möglich, den Gläubigen eine be-
stimmte Lehre mit der Autorität der Kirche aufzudrängen. Aber heute, wo die
Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, und die historische Kritik so
grosse Entwicklung gebracht hat, dass nunmehr alles Dunkel verscheucht und
alle Geheimnisse aufgehellt sind, da ist die kirchliche Lehre nicht einmal für
die ungebildeten grossen Massen noch geniessbar oder glaubwürdig. Zudem,
die Religion hat ja mit Erkenntnis und Verstand gar nichts zu schaffen. Ihr
Reich liegt in den Gefühlen und Ahnungen, nicht in Begriffen und Grund-
sätzen. Ja, bei neueren Schriftstellern kann man so wundersame Sätze lesen,
wie den: dass Religion und theoretisches Erkennen entgegengesetzte Geistes-
tätigkeiten sind, oder dass Religion praktisches Gesetz des menschlichen Geistes
ist ohne alle Berührung mit dem Intellekt, Sätze, mit denen als selbstverständ-
lich hingestellt wird, dass der Intellekt in jedem Sinne dem religiösen Gebiete
völlig fern bleiben muss.
Die vollkommene Verkehrtheit solcher Gedankengänge nachzuweisen, be-
darf es keiner grossen Anstrengung. Dass uns erfahrungsmässig in jeder
Religion Anschauungen und Vorstellungen begegnen über göttliche und mensch-
liche Dinge, haben wir schon oben bemerkt. Aber was ist das für eine kind-
liche oder barbarische Ansicht vom menschlichen Geiste, als lasse sich der
Anteil des Intellekts, des Nachdenkens und der Erkenntnis von irgend einem
Gebiete menschlicher Geistestätigkeit geradezu ausschliessen ! Der menschliche
Geist ist doch nicht mit einem Möbel zu vergleichen, in dessen einer Schublade
der Wille und das Begehren, in der anderen das Gefühl und der Affekt, in einer
dritten der Verstand und die Reflexion stecken! Vielmehr, der Geist ist einer
und als einer betätigt er sich in jeder seiner Funktionen; nur nach dem Ueber-
wiegen der einen oder der anderen Richtung, die sie innehält, unterscheidet
m.an die Arten seiner Betätigung. Wo der Geist tätig ist, da ist er auch als
Intellekt tätig, welche anderen Richtungen seiner Vermögen dabei auch mit-
wiüken. Und nun gar in der Religion, die mehr als irgend etwas anderes den
ganzen Menschen in aller Fülle seines Wesens und seiner Erscheinungsformen
in Anspruch nimmt, — da sollte diese eine Grundfunktion seines Wesens
546 Philosophischer Sprechsaal.
ausser Tätigkeit gesetzt werden können? Niemand kann Gott verehren, ohne
ein Wissen, was er sich unter Gott vorzustellen hat, oder Gott um etwas an-
flehen, ohne dass er zu Gottes Güte und zu seiner Macht sich irgendwie ein
Herz fassen könnte. Die sittlichen Gebote, die die Kirche vorschreibt als durch
Gottes Willen geboten, müssen nicht allein dem Gläubigen, der sie üben soll,
bekannt sein, sondern er muss auch irgendwie ihren Sinn und Zusammenhang,
ihren Zweck und ihre Begründung einsehen, wenn er mit seiner Innerlichkeit
dabei beteiligt sein soll. Der heilige Vorgang, die geweihte Handlung, kann
nicht Andacht und Sammlung wecken, wenn der Betrachtende sich nicht seine
Gedanken macht über die hohe Bedeutung und den ernsten Zweck dessen,
was er beobachtet. Irgend welche Gedanken macht sich jeder Mensch bei
allem, woran er beteiligt ist, und irgendwie ist sein Verstand dabei mittätig.
Hat er nicht die rechten Gedanken, so hat er falsche, und ist sein Verstand
nicht erleuchtet, so ist er dumpf und niedrig ; aber ausschalten lässt sich Ge-
danke und Verstand auf keine Weise. Kein Gefühl und keine Stimmung lässt
sich in dieser Weise isolieren, kein Begehren und keine Willensregung; ein
Denken, eine Vorstellung, eine Ansicht und eine Meinung vom Gegenstande ist
immer dabei mit im Spiele. Es beweist eine völlige Verkennung der mensch-
lichen Natur, wenn man den Intellekt von irgend einer menschlichen Be-
tätigung und nun gar von der religiösen ausschliessen will, die alle Kräfte des
menschlichen Herzens und Geistes in Anspruch nimmt.
Darum liegt es in der Natur der Sache, dass religiöse Erziehung in reli-
giöser Unterweisung wurzelt und die Anleitung zu rechter Andacht zugleich
eine Anleitung zu rechtem Denken ist. Die Kirche hat ihre Lehre ausgebildet
nicht in einseitig doktrinärem Interesse, sondern in rechter Erwägung der An-
forderungen der Wirklichkeit auf Grund der reichhaltigsten Erfahrung über das
Bedürfnis des Menschenherzens wie über die Bedingungen für den Bestand der
kirchlichen Gemeinschaft. So ist die Kirchenlehre eine heilige Sache, ein un-
abtrennbares Attribut der kirchlichen Lebensbetätigung und ein nie hoch genug
zu preisendes Mittel der kirchlichen Wirksamkeit für das Kommen des Reiches
Gottes und für die Heiligung seines Namens.
Aber, wendet man ein, die Kirchenlehre ist vor Jahrhunderten festr;estellt
und die Wissenschaft hat seitdem so grosse Fortschritte gemacht, dass die
Kirchenlehre nunmehr veraltet ist. Hier begegnet uns regelmässig eine merk-
würdige Erscheinung. Es ist ein sonderbarer Irrtum, der sich bei den Menschen
immer wieder erneuert, dass jedes Geschlecht die Einsichten, die gerade jetzt
die neuesten sind, auch für die abschliessenden hält und dem, was man heute
für das Richtige hält, ewige Gültigkeit zuschreibt. Zwar hat man fortwährend
das Schauspiel vor Augen, dass in weltlichen Dingen die Ansieht, die vor
einem Jahrzehnt die allgemeine war, heute von allen aufgegeben ist, und dass
das Lehrbuch, das der vorigen Generation als das massgebende diente, heute
unbrauchbar ist. Aber es gibt sehr wenig Menschen, die sich das zu Herzen
nehmen und aus diesem Grunde der allerneuesten Theorie einen gewissen
Zweifel entgegenbringen. Die Hypothesen der Naturwissenschaft wechseln; neu
gefundene Tatsachen und gründlichere Ueberlegung zerstören sie nach kürzerer
oder längerer Zeit. Die Anschauungen der Historiker über die Ereignisse der
Vergangenheit, ihren Zusammenhang und ihre Bedeutung wechseln ; dieselben
Personen, ihre Charaktere und ihre Handlungsweisen werden zu verschiedenen
Zeiten unter ganz verschiedene Gesichtspunkte gestellt und ganz verschieden
Philosophischer Sprechsaai. 547
beurteilt. Gewiss, die Wissenschaft schreitet fort ; d.h. sie wechselt fortwährend
ihre Ansichten, und ist dazu gezwungen dadurch am meisten, dass ihr fort-
während neues Material an Talsachen zuwächst, das den Sachen und den
Menschen ein ganz verändertes Ansehen verleiht. Es wäre die vollkommenste
Torheit, wollte man das nur von der Wissenschaft vergangener Zeilen gelten
lassen, aber von der Wissenschaft der Gegenwart leugnen. Die gegenwärtig
herrschenden wissenschaftlichen Theorien sind in dieser Beziehung nicht besser
daran als die aus früherer Zeit, sondern schlechter, ganz einfach, weil sich
jetzt die Zeiten lebhafter und schneller umroUen als jemals zuvor, wegen der
besseren Mittel des Transports, des allgemeineren und lebhafteren Verkehrs
zwischen den Weltteilen und der so sehr gesteigerten Berührung zwischen den
verschiedenen Abteilungen der Menschheit. Allen Respekt vor der Wissenschaft
vorbehalten: aber je entschiedener sie ihre Sätze ausdrückt, desto grösseres
Misstrauen ist geboten. Die heute herrschenden Anschauungen werden nicht
dauern, sondern vorübergehen und anderen Platz machen, und der Widerspruch,
der in ihrem Namen gegen die Kirchenlehre erhoben wird, ist von keiner
ernsthafteren Bedeutung, als der Ansturm des wechselnden Windes gegen den
unerschütterlichen Felsen.
Höchst sonderbar ist es, wenn man dabei das Recht gerade des modernen
Geistes gegenüber den uralten kirchlichen Ueberlieferungen mit ganz besonderem
Nachdruck hervorhebt. Man braucht ja nur näher nachzusehen, um zu linden,
dass es mit dieser angeblichen Modernität in Wirklichkeit gar nicht weit her
ist. Was sich als das Modernste gibt, das erweist sich bei . genauerer Be-
trachtung als eine Sammlung von uralten, längst abgetanenen und immer wieder
mit einem neuen Anstrich versehenen Ladenhütern, die aus dem Lager der
Naturalisten, Materialisten und Sensualisten stammen. In der Tat bringt der
natürliche Verstand, der sich gegen die Lehren der Kirche aufbäumt, nichts
wirklich Neues hervor. Vom ersten Tage an hat die Kirche sich gegen eben
diese Irrtümer zu wehren gehabt, die jetzt umlaufen, teilweise mit neuem Namen
oder neuer Verbrämung, als Monismus, Pantheismus, Skeptizismus, Positivismus,
Agnostizismus. Es ist immer derselbe profane Verstand und dasselbe gott-
entfremdete, alles Ewige leugnen wollende Herz, das gegen die Lehre der Kirche
seine bessere Einsicht in die Wagschale wirft. Genau so modern wie die
gegenwärtige, ist jede frühere Zeit auch gewesen. — Nicht einmal zu einer
neuen Ketzerei reicht die Produktivität dieser Heutigen hin. In Wahrheit sind
es alte Irrtümer, die unter dem Namen der Modernen gegen die alte Wahrheit
ins Feld ziehen, und wie sie vormals unterlegen sind, so werden sie auch jetzt
abgetan werden. Denn die Wahrheit bleibt doch schliesslich die Siegerin über
all ihre Feinde.
Es gibt eben ewige Wahrheit, wenn es auch so viele verkennen und leug-
nen, und diese steht in ausgesprochenem Gegensatze zu der wechselnden Tages-
gesinnung und zu den vergänglichen Theorien. Von der Mathematik wagt es
niemand zu bestreiten, dass sie ewige Wahrheit enthält, die der zufälligen
Meinung völlig entrückt ist. Leider aber ist diese Wahrheit rein formell und
abstrakt und bietet dem auf das Ewige gerichteten Verlangen des Herzens nichts.
In der Mathematik ist kein Trost zu holen und kerne Hoffnung für Leben und
Sterben und für die wechselnden Geschicke hier auf Erden. Aber auch das
inhaltsvolle Ewige, das Herz und Seele Labende, den Geist über alle Not und
allen Jammer des Irdischen Erhebende lebt; es ist vorhanden, mitten unter
uns, als die göttliche Offenbarung, wie sie der Kirche anvertraut ist, als die
Gottesgedanken mit dem Gepräge der Ewigkeit, mit denen der heilige Geist sich
in dieser irdischen Menschheit gegenwärtig erweist, um sie zu trösten, zu
I
1
548 Philosophischer Sprechsaal.
sammeln und zu erleuchten. Diese Ewigkeitsgedanken als der Schatz der Kirche
sind die Gedanken, die die Geschicke der Menschheit von Anfang an geleitet
haben bis auf den heutigen Tag. Von diesem Gedanken getragen sind die
Geschlechter der Menschheit auf Erden gewandelt und dahingegangen in das
Reich der Ewigkeit; im Lichte dieser Gedanken haben sie auf Erden ihren
Beruf erfüllt und die Hoffnung auf den ewigen Frieden im Jenseits in ihrem
Herzen festgehalten. Diese Gedanken haben den besten Teil der Menschheit
bisher geleitet und werden auch ferner ihre Ewigkeitsmacht behaupten. Die
Meinungen und Theorien der modernen Zeit werden ihnen ebensowenig an-
haben können, wie die aller vergangenen Zeiten.
Die grossen Geheimnisse des Daseins sind Geheimnisse gebheben trotz
allen Glanzes der modernen Aufklärung. Das tiefe Dunkel, das auf allem
Leben und Sterben, Entslehen und Vergehen, auf allem Gewinnen und Verlieren,
Jubeln und Klagen ruht, ist durch keine Wissenschaft gelichtet oder zu lichten.
Es ist nicht der wertlosere oder minder erleuchtete Teil der Menschheit, den
diese Geheimnisse beunruhigen, dieses Dunkel ängstigt. Es sind doch wohl
die tiefer angelegten Gemüter, die idealer gerichteten, die in den göttlichen
Offenbarungen, wie sie in der Kirchenlehre formuliert sind, Antworten auf ihre
Fragen, Heilung für ihre Aengste, Tröstung in ihren Leiden suchen. Die Heil-
anstalt der Kirche übt ihre beseligende Wirkung mit vielen und reichen Mitteln;
unter diesen Mitteln ist die Kirchenlehre doch vielleicht das mächtigste. Durch
diese Lehre wird das Kind vorbereitet, die grossen Mysterien des Daseins als
solche ins Herz zu schliessen und von dem Irdischen hinweg sich seinem
Gott zuzuwenden, wird Jüngling und Mann, Jungfrau und Weib, in lebendigem
Glauben befestigt und bei allem, was gut und fromm und heilig ist festgehalten,
und Greis und Greisin segnen spät die frühe Stunde, wo ihnen die Geistesaugen
für das Verständnis der göttlichen Geheimnisse sind geöffnet worden. Von der
Kirche ist die Kirchenlehre ein unabtrennbares Attribut. Solange die Kirche
die Stätte des Trostes und die Quelle des Heils bleibt für alle, die in diese
Welt hineingeboren werden, solange wird die Kirchenlehre fortfahren zu be-
stehen und ihre segensreichen Funktionen zu üben.
Die moderne Wissenschaft von heute, wie die der Zukunft, wird also gut
tun, sich auf diese Tatsache einzurichten und mit ihr auszusöhnen. Im
Kampfe mit der Kirche wird die Wissenschaft ihre Triumphe nicht erringen ;
das gilt für alle Zukunft, wie es für alle Vergangenheit gegolten hat. Aber
im Bündnis mit der Kirche und im Dienste der Kirche kann die Wissenschaft
Grosstaten verrichten. Denn die Kirche ist der Menschen wegen auf die Wissen-
schaft angewiesen und bedarf ihrer Unterstützung. Wissenschaftliche Untersuchung
versieht sie mit neuen Hilfsmitteln der Erkenntnis und Verkündigung. Wissen-
schaft hilft ihr, die von Gott ihr anvertrauten Schätze richtiger zu verstehen
und besser zu würdigen, ihr Werk an den Seelen nach besseren Methoden
zu treiben und ihre Einrichtungen in dieser irdischen Existenz innerhalb der
weltlichen Mächte stets zweckmässiger fortzubilden. Die Mittel des Beweises
und der Verteidigung, der Abwehr gegen die Feinde der Kirche werden durch
Wissenschaft verstärkt und vertieft. Eine von Gottes Geist durchwaltete
Wissenschaft ist somit ein Lebenselement für die Kirche. Wissenschaft und
Kirche können und sollen in engem Bündnis zusammenstehen für die obersten
Zwecke. Das ist Gottes Ordnung und Gebo!, und, dass auch darin Gottes Wille
geschehe, dafür sollten alle Gutgesinnten zusammenwirken.
B
3
P75
ba. 26
Philosophisches Jahrbuch
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