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Full text of "Philosophisches Lesebuch"

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UNIVERSITy  OF   TORONTO 
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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

Univers ity  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/philosophischesl02dess 


PHILOSOPHISCHES 
LESEBUCH. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


MAX  DESSOIR  und  PAUL  MENZER 

ao.  Professor  Privatdozenten 

der  Philosophie  an  der  Universität  zu  Berlin. 


Zweite,  vermehrte  Auflage» 


STUTTGART. 
VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE. 

1905. 


602500 


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Druck  aer  Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Der  Plan  eines  Philosophisclien  Lesebuches  ist  aus  folgenden 
Erwägungen  entstanden. 

Die  Gegenwart  scheint  sich  zur  Philosophie  wieder  freundlicher 
zu  stellen;  es  ist  jetzt  ein  stärkeres  und  allgemeineres  Interesse 
vorhanden  als  in  den  letzten  Jahrzehnten.  Nun  beginnt  freihch, 
wer  heutzutage  auf  eigenem  Wege  der  Philosophie  sich  nähert,  in 
der  Regel  mit  neuester  Literatur.  Bald  aber  muß  er  bemerken, 
daß  in  der  Philosophie  geschichtliche  Kenntnisse  zum  Wesen  der 
Sache  gehören  und  daher  nicht  entbehrt  werden  können.  Infolge- 
dessen sieht  er  sich  einer  unübersehbaren  Schriftenmasse  aUer 
Zeiten  und  Länder  gegenüber.  Gesetzt,  er  habe  das  ernsthafte 
Streben,  aus  der  QueUe  selbst  zu  schöpfen,  verfüge  aber  nur  über 
durchschnittliche  Mußezeit.  Wo  soll  er  beginnen?  Wie  das  Wichtigste 
herausfinden?  Dieser  Verlegenheit  wiU  unser  einführendes  Büchlein 
abhelfen,  indem  es  ausgewählte  Stellen  bietet  und  durch  sie  zur 
Versenkung  in  das  Ganze  und  zu  weiterem  Fortschreiten  aufmuntert. 

Bei  unseren  Studenten  verhält  es  sich  ähnlich,  obgleich  sie  den 
Vorteil  einer  geordneten  Unterweisung  genießen.  An  den  Univer- 
sitäten —  leider  noch  nicht  an  allen  Technischen  Hochschulen  — 
wird  regelmäßig  über  Geschichte  der  Philosophie  vorgetragen.  Wie 
verschieden  nun  auch  diese  Vorlesung  gehandhabt  werden  mag  — 
e  i  n  Merkmal  bleibt  ihr  immer :  sie  kann  ebensowenig  wie  die  zahl- 
reichen „Grundrisse  der  Geschichte  der  Philosophie"  die  Meister 
selber  sprechen  lassen.  So  kommt  der  Lernende  leicht  dahin,  daß 
er  seine  Lektüre  auf  moderne  Schriften  einschränkt  und  im  übrigen 
sich  mit  umformenden  Berichten  begnügt.  Dagegen  muß  angekämpft 
werden.  Wer  sich  in  den  Studienjahren  mit  Philosophie  befaßt, 
soll  Achtung  vor  Wert  und  Ausdehnung  des  Geleisteten  empfinden, 
und  dazu  ist  unerläßhch,  daß  er  das  UrsprüngHche  in  seiner  ganzen 
Lebendigkeit  kennen  lernt.    Als  Ergänzung  zu  den  Vorlesungen  ist 


IV  Vorwort. 

daher  dies  Lesebuch  gedacht:  es  liefert  erläuterndes  Anschauungs- 
material, setzt  die  Hörer  in  einen  unmittelbaren  Verkehr  mit  den 
großen  Philosophen  der  Vergangenheit  und  ermöglicht  es,  im  gleichen 
Schritt  mit  dem  Fortgang  der  Vorlesung  eine  ungefähre  Anschauung 
von  der  Denk-  und  Schreibweise  zu  erhalten,  die  diesem  oder 
jenem  Klassiker  der  Philosophie  eigentümhch  ist. 

Dem  gerügten  Mangel  können  im  akademischen  Unterricht  die 
„Übungen"  abhelfen.  Da  sie  jedoch  in  der  Regel  die  genauere  Kennt- 
nis nur  eines  Autors  vermitteln,  so  würde  ihnen  eine  Reihe  von 
Büchern  entsprechen  müssen,  deren  jedes  Auszüge  aus  den  Werken 
eines  Philosophen  enthielte.  Wir  haben  in  der  Tat  an  ein  solches 
Unternehmen  gedacht,  das  in  etwa  zwanzig  Bändchen  die  Haupt- 
punkte der  Systeme  in  der  ursprünglichen  Fassung  bieten  soll.  Aus 
vielen  Gründen  ist  vorläufig  aber  nur  dies  bescheidenere  und  leichter 
verwendbare  Lesebuch  bearbeitet  worden. 

Von  diesen  Gründen  sei  einer  erwähnt.  Das  vor  hegende  Buch 
denken  wir  uns  für  jene  Zukunft  mitbestimmt,  wo  die  philosophische 
Propädeutik  in  den  Lehrplan  aller  höheren  Schulen  aufgenommen 
sein  wird.  Wie  die  Dinge  sich  jetzt  gestaltet  haben,  werden  Ele- 
mente der  Philosophie  den  Schülern  der  obersten  Klasse  zum  Ersatz 
für  andere,  ihnen  verlorene  Bildungsbestandteile  dargeboten  werden 
müssen;  im  Grunde  kann  nur  fraglich  sein,  ob  eine  historische  oder 
eine  systematische  Unterweisung  vorzuziehen  ist.  Mit  Hilfe  dieses 
Werkchens  kann  beides  miteinander  verbunden  und  das  Selbstdenken 
des  Jünglings,  das  hitzig  zur  Weltanschauung  emporstrebt,  auf  die 
bestimmten  Probleme  hingeleitet  werden.  Selber  denken  lernt  man 
am  besten  an  einem  Stoff,  der  durch  und  durch  Gedanke  ist;  und 
dieser  Stoff  kann  nicht  anders  als  durch  Eigentätigkeit  wahrhaft 
aufgenommen  werden. 

Wenn  bisher  über  den  Zweck  des  Buches  gesprochen  wurde,  so 
muß  wohl  auch  über  seine  tatsächliche  Gestalt  einiges  gesagt  werden. 
Es  wäre  eitel,  zu  hoffen,  daß  die  Fachgenossen  mit  der  Beschränkung 
auf  siebzehn  Philosophen  und  mit  der  Auswahl  der  Stücke  durch- 
gängig einverstanden  sein  können.  Aus  inneren  und  äußeren  Gründen 
hatten  wir  die  Grenzen  aufs  engste  zu  ziehen  und  damit  uns  selber 
die  Pein  des  Wählens  zu  steigern.  Aber  wir  planen  eine  allmähliche 
Erweiterung  und  vertrauen   auf    die   freundhche  Hilfe  derer,   die 


Vorwort.  V 

Philosophie  lehren,  um  bei  etwa  nötig  werdenden  späteren  Auf- 
lagen Lücken  und  Fehler  ausgleichen  zu  können ;  wir  bitten  alle  Be- 
nutzer des  Buches,  daß  sie  die  aus  ihrer  Erfahrung  entsprungenen 
Verbesserungsvorschläge  uns  mitteilen  wollen.  Eine  empfindliche 
Schwierigkeit  lag  ferner  darin,  zwischen  den  geschichthch  und  den 
sachHch  wichtigsten,  den  schönsten  und  den  kennzeichnendsten 
Stellen  zu  wählen.  Wie  wir  uns  jeweilig  entschieden  haben,  wird 
der  Kundige  leicht  erkennen;  maßgebend  blieb,  ob  die  Stelle  in 
den  Zusammenhang  des  Ganzen  —  denn  es  besteht  ein  solcher  — 
unmittelbar  sich  fügte.  In  Bezug  auf  die  Schwierigkeit  sind  wir 
nicht  sehr  ängstlich  gewesen.  Philosophie  ist  eine  ernste  Angelegen- 
heit und  kann  die  Aufbietung  aller  geistigen  Kräfte  beanspruchen. 
Ein  Lesebuch,  das  diesen  Sachverhalt  vertuschen  und  bloß  der  Er- 
holung dienen  wollte,  würde  Verwirrung  und  Schaden  stiften. 

Zur  Hilfe  sind  die  „Erläuterungen"  da.  Wir  haben  sie  so  ein- 
zurichten versucht,  daß  zwar  keine  wirkliche  Schwierigkeit  über- 
gangen ist,  anderseits  jedoch  dem  Forschen  des  Lesers  und  der 
Tätigkeit  eines  Lehrers  genug  Spielraum  bleibt.  Nach  Möghchkeit 
lassen  wir  auch  in  ihnen  die  Philosophen  selber  zu  Worte  kommen, 
fügen  aber  mancherlei  hinzu,  um  das  Fortspinnen  des  Fadens  nach 
verschiedenen  Eichtungen  zu  erleichtern.  Die  hterarischen  Hinweise 
geben  nur  das,  was  bequem  zu  erreichen  und  für  den  heutigen 
Stand  der  Forschung  das  bedeutsamste  ist.  Bei  dem  Zweck  dieses 
Buches  —  scheint  uns  —  würde  alles  philologische  und  historische 
Detail  mehr  stören  als  fördern.  Damit  die  Aufmerksamkeit  nicht 
durch  die  Form  in  Anspruch  genommen,  sondern  lediglich  auf  den 
Inhalt  gesammelt  werde,  bieten  wir  die  Stücke  fremder  Sprache  in 
deutscher  Übertragung.  Aus  gleichem  Grunde  sind  die  deutschen  Texte 
in  der  jetzt  geltenden  Rechtschreibung  gegeben.  Zur  Verdeuthchung 
sind  in  vielen  Fällen  Überschriften   von  uns  hinzugefügt  worden. 

Die  Anordnung  der  Lesestücke  ist  die  zeitHche.  -  Inhaltlich  be- 
ziehen sich  die  meisten  auf  die  allgemeine  Richtung  des  Denkens 
und  die  Grundfragen  der  Erkenntnistheorie;  von  Beiträgen  zur 
Psychologie,  Ästhetik  und  Pädagogik  haben  wir  vorläufig  abgesehen. 
Der  wachsenden  Schwierigkeit  nach  können  die  Lesestücke  vielleicht 
in  drei  Gruppen  geordnet  werden:  11^,  V,  VII,  IX,  X,  XVII;  I, 
IV,  VI,  XII,  XIV,  XV^  II^  III,  IV,  VIII,  XI,  XIII,  XV^  XVI. 


VI  Vorwort. 

Der  Plan  des  Buches  ist  von  Max  Dessoir  ausgegangen;  die 
Ausarbeitung  war  gleichmäßig  zwischen  beiden  Herausgebern  ver- 
teilt; die  Verzeichnisse  sind  von  Paul  Menzer  angefertigt.  Den 
Abschnitt  über  Thomas  von  Aquino  hat  Herr  Professor  Ernst 
Commer  (Wien)  bearbeitet,  dem  wir  und  mit  uns  die  Leser  dafür 
zu  Dank  verpflichtet  sind.  Daß  die  Erläuterungen  dieses  Abschnittes 
ausführhcher  gehalten  sind,  dürfte  bei  der  im  allgemeinen  mangel- 
haften Kenntnis  der  Thomistischen  Philosophie  gerechtfertigt  und 
willkommen  erscheinen. 

Berlin  im  Juni  1903. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Außer  mancherlei  Verbesserungen  hat  die  neue  Auflage  auch 
Erweiterungen  erfahren.  Es  sind  hinzugekommen  Lesestücke  aus 
der  Aristotelischen  Ethik  und  Pohtik,  aus  Sextus  Empiricus  und 
Seneca,  aus  Comte  und  Mill  —  alle  von  geringer  oder  mittlerer 
Schwierigkeit.  Die  Stufenfolge  nach  den  Schwierigkeitsgraden 
dürfte  die  folgende  sein:  II^  11^,  IV,  VII,  IX,  XI,  XII,  XIX, 
XX;  I,  IP,  II^  IP,  III,  VIII,  XIV,  XVI,  XVII^  IP,  V,  VI, 
X,  XIII,  XV,  XVII^  XVIII.  Wir  danken  für  die  freundliche 
Beurteilung,  die  unserem  Versuch  allgemein  zu  teil  wurde,  und 
werden  Ratschläge  für  die  fernere  Ausgestaltung  gern  entgegen- 
nehmen. 

Berlin  im  April  1905. 


InhaltsYerzeiclmis, 


I.  Plato.  Seite 

Die  Ideenlehre 1 — 7 

Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislelire 7 — 13 

Erläuterungen 13 — 19 

IL  Aristoteles. 

Vom  Schluß 20—21 

Von  der  Wissenschaft 21 — 24 

Vom  Denken  des  Denkens 24 — 25 

Das  Wesen  der  Tugend 25—29 

Über  die  Glückseligkeit 29—33 

Vom  Staate 83—37 

Erläuterungen 37 — 47 

in.  Sextus  Empiricus. 

Die  Tropen  der  Skeptiker 48—52 

Erläuterungen 52 — 54 

IV.  Seneca. 

Ein  glückseliges  Leben 55 — 61 

Erläuterungen 61 — 64 

V.  Plotin. 

Von  dem  Einen 65 — 69 

Erläuterungen 69 — 71 

VI.  Thomas  von  Aquino. 

Über  die  Universalien .  72 — 76 

Erläuterungen 76 — 82 

VIL  Meister  Eckhart. 

Von  der  Liebe 83—85 

Wie  der  Wille  alle  Dinge  vermag 85 — 86 

Erläuterungen 86 — 88 

VIII.  Francis  Bacon. 

Von  der  Induktion 89—91 

Von  den  Idolen 92—93 

Erläuterungen 93 — 95 

IX.  Descartes. 

Woran  man  zweifeln  kann 96-100 

Über  die  Natur  des  menschlichen  Geistes 100-107 

Erläuterungen 107-110 


yjU  Inhaltsverzeichnis. 


X.  Spinoza.  Seite 

Gott  ist  die  Ursache  aller  Dinge 111—114 

Die  Natur  handelt  nicht  nach  Zwecken 114—118 

Die  göttliche  Liebe 118—120 

Erläuterungen 120—125 

XL  Locke. 

Dem  Geist  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren    .     .     .  126—138 

Erläuterungen 138—140 

XIL  Berkeley. 

Von  den  abstrakten  Ideen 141 — 149 

Erläuterungen 149—152 

XIIL  Leibniz. 

Die  Monadologie 153 — 158 

Erläuterungen 158 — 162 

XIV.  Hume. 

Vom  Ursprung  der  Ideen 163 — 166 

Von  der  Idee  der  notwendigen  Verknüpfung   ....  166—172 

Erläuterungen 172—175 

XV.  Kant. 

Vom  Eigentümlichen   aller  metaphysischen  Erkenntnis  176—180 

Ist  überall  Metaphysik  möglich? 180—183 

Wie  ist  Erkenntnis  aus  reiner  Vernunft  möglich?    .     .  183 — 186 

Wie  ist  reme  Mathematik  möglich? 186 — 196 

Übergang  von  der  gemeinen  sittlichen  Vernunfterkennt- 
nis zur  philosophischen 196 — 207 

Erläuterungen 207 — 215 

XVL  Fichte. 

Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre     ....  216 — 225 

Erläuterungen 225 — 227 

XVIL  Hegel. 

Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie    ....  228—234 

Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirklich 234 — 237 

Erläuterungen 237 — 241 

XVIIL  Herbart. 

Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trilemma  ....  242—251 

Erläuterungen 251     253 

XIX.  Schopenhauer. 

Alles  Leben  ist  Leiden 254—266 

Erläuterungen 266 — 271 

XX.  Comte. 

Über  Wesen  und  Bedeutung  der  positiven  Philosophie  272—277 

Erläuterungen 278 

XXI.  J.  St.  Mill. 

Über  die  letzte  Rechtfertigung  des  Nützlichkeitsprinzips  279—287 

Erläuterungen 287—289 

Namenverzeichnis 290     *-92 

Sachregister 293—300 


I. 

Plato. 


Die  Ideenlehre. 

XVIII. Es  scheint  mir  nun  notwendig  zu  erklären,  was 

ich  eigenthch  unter  einem  Philosophen  verstehe,  um  die  gew^agte  Be- 
hauptung zu  rechtfertigen,  daß  gerade  die  Philosophen  regieren  müssen. 
Denn  wenn  dies  klar  geworden  ist,  werden  wir  nachweisen  können,  daß 

5  es  einigen  von  Natur  gebührt,  der  Philosophie  sich  zu  widmen  und 
Führer  im  Staate  zu  sein,  daß  die  anderen  aber  nicht  dazu  berufen  sind 
und  den  Führern  folgen  sollen.  —  Das  zu  bestimmen  wäre  allerdings 
Zeit,  sagte  er.  —  Folge  mir  also,  vielleicht  werden  wir  es  irgendwie 
ausreichend  erklären.  —  Nur  zu,  antwortete  er. 

10  XIX.  Werde  ich  dich,  sagte  ich,  erinnern  müssen  oder  weißt  du  es 
von  selbst,  daß  in  einem  Menschen,  bei  dem  wir  wahrhaft  von  Liebe 
sprechen  können,  diese  Liebe  niemals  nur  einen  Teil  des  gehebten  Gegen- 
standes umfassen  darf,  sondern  ihn  in  seiner  Gesamtheit  ergreifen  will? 
—  Ich  glaube,  du  mußt  mich  daran  erinnern,  antwortete  er,  denn  ich 

15  verstehe  es  nicht  recht.  —  Ein  anderer,  versetzte  ich,  dürfte  so  sprechen 
wie  du,  Glaukon;  doch  ein  so  in  der  Liebe  bewanderter  Mann  müßte 
es  eigentlich  wissen,  daß  den  Freund  der  Knaben  und  der  Liebe  alle 
jugendhchen  Gestalten  reizen  und  quälen,  weil  sie  der  Aufmerksamkeit 
und  Freundlichkeit  ihm  wert  zu  sein  scheinen.    Oder  geht  es  euch  nicht 

20  so  mit  den  schönen  jungen  Menschen?  Den  einen  werdet  ihr,  weil  er 
ein  Stumpfnäschen  hat,  allerliebst  nennen  und  preisen,  von  des  anderen 
Habichtsnase  sagt  ihr,  sie  habe  etwas  Königliches,  von  dem  dritten,  der 
zwischen  diesen  beiden  die  Mitte  hält,  er  habe  die  schönsten  Propor- 
tionen, die  Dunklen  findet  ihr  männlich  aussehend,  die  Blonden  nennt  ihr 

25  Söhne  der  Götter,  und  daß  einer  honiggelbe  Farbe  habe  —  kann  diesen 
Ausdruck  ein  anderer  als  ein  Liebhaber  erfunden  haben,  der  einen 
Schmeichelnamen  suchte  und  die  Blässe  sich  gern  gefallen  Heß,  wenn  sie 
mit  Schönheit  verbunden  war?  Kurz,  ihr  ergreift  alle  Vorwände  und 
erschöpft  alle  Ausdrücke,  um  keinen  ungepriesen  zu  lassen,  der  in  der 
Dessoir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  1 


2  Plato. 

Blüte  der  Schönheit  steht.  —  Wenn  du  nach  mir  als  Muster  die  Art  der 
Liebhaber  überhaupt  bestimmen  willst,  so  will  ich  es,  um  das  Gespräch 
nicht  aufzuhalten,  erlauben.  —  Siehst  du  denn  auch  nicht,  sagte  ich,  daß 
die  Liebhaber  des  Weines  es  ebenso  machen  und  jeden  Wein  unter 
jedem  Vorwande  loben?  —  Allerdings.  —  Ebenso  kannst  du  sehen,  wie  6 
die  Ehrgeizigen,  wenn  sie  nicht  Generäle  werden  können,  auch  eine 
geringere  Rangstufe  einnehmen,  und  wenn  sie  nicht  von  den  Größeren 
und  Höheren  geehrt  werden,  sich  um  die  Achtung  der  Kleineren  und 
Geringeren  bemühen,  weil  sie  nun  einmal  ehrbegierig  sind.  —  Sicherlich. 
—  Und  nun  entscheide  dich  zu  einer  Antwort:  Wenn  wir  von  einem  lo 
Menschen  sagen,  sein  Streben  richte  sich  auf  ein  Ziel,  wollen  wir  damit 
sagen,  daß  er  alles,  was  es  zu  bieten  vermag,  anstrebt,  oder  nur  einen 
Teil  davon?  —  Alles,  erwiderte  er.  — -  So  werden  wir  also  auch  von  dem 
Philosophen  sagen,  daß  er  nicht  einen  Teil  der  Weisheit  begehre,  den 
anderen  aber  nicht,  sondern  die  ganze?  —  Allerdings.  —  Wenn  also  15 
jemand  nicht  lernen  mag,  zumal  da  er  jung  ist  und  noch  kein  Verständ- 
nis dafür  hat,  was  nützHch  ist  und  was  nicht,  so  werden  wir  ihn  nicht 
einen  Freund  des  Lernens  und  der  Weisheit  nennen,  wie  wir  auch  von 
dem  mäkhgen  Esser  nicht  sagen,  daß  er  hungere  oder  Speise  begehre 
oder  ein  Freund  der  Speisen  sei,  sondern,  daß  er  ein  schlechter  Esser  20 
ist.  —  Richtig.  —  Wer  aber  wilhg  alles  Lernbare  in  sich  aufzunehmen 
strebt,  und  darin  unersättHch  ist,  den  werden  wir  mit  Recht  einen  Freund 
der  Weisheit  nennen,  nicht  wahr?  —  Da  sagte  Glaukon:  Du  wirst 
viele  und  wunderliche  Leute  dieser  Art  finden;  denn  die  Schaulustigen 
alle,  die  sich  nichts  entgehen  lassen  wollen,  scheinen  mir  von  dieser  Art  25 
zu  sein,  und  die  Hörlustigen  nehmen  sich,  unter  die  Philosophen  ge- 
rechnet, höchst  wunderHch  aus,  da  sie  zu  Gesprächen  mit  diesen  und 
zum  Studium  nur  höchst  ungern  kommen  würden,  aber,  als  würden 
sie  dafür  bezahlt,  alle  Chorgesänge  zu  hören,  bei  den  Dionysosfesten 
herumlaufen  und  weder  bei  den  städtischen  noch  bei  den  ländlichen  3o 
fehlen.  Werden  wir  nun  diese  alle  und  andere,  die  sich  um  etwas  dieser 
Art  und  um  kleine  Künste  eifrig  bemühen,  Weisheitsfreunde  nennen?  — 
Keineswegs,  sagte  ich,  sondern  nur  Weisheitsfreunden  ähnhch. 

XX.  Welche  nennst  du  nun  die  wahren  Weisheitsfreunde?  fragte 
er.  —  Die,  erwiderte  ich,  welche  die  Wahrheit  zu  schauen  begehren.  —  35 
Das  wäre  recht  schön,  versetzte  er,  aber  was  verstehst  du  darunter?  — 
Keineswegs  leicht  für  einen  anderen  war  meine  Antwort,  du  aber  wirst 
mir,  glaube  ich,  folgendes  zugeben.  —  Was  denn?  —  Schönes  und  Häß- 
liches sind  einander  entgegengesetzt,  folglich  sind  sie  zwei.  —  Natürlich.  — 
Da  sie  zwei  sind,  ist  jedes  von  beiden  eines.  —  Ja.  —  Vom  Gerechten 
und  Ungerechten,  vom  Guten  und  Schlechten,  und  von  allen  Begriffen 


40 


Die  Ideenlehre.  3 


gilt  also  gleichmäßig,  daß  ein  jeder  für  sich  eins  ist,  aber  dadurch,  daß 
er  in  Verbindung  mit  Handlungen  und  Körpern  und  anderem  überall 
in  die  Erscheinung  tritt,  auch  jeder  als  \aeles  erscheint.  —  Du  hast  recht, 
sagte  er.  —  Danach,  sagte  ich,  unterscheide  ich:  einerseits  die  von  dir 

5  genannten  Schaulustigen  und  Kunstliebenden  und  die  Leute  der  Praxis, 
und  anderseits  die,  von  denen  wit  handeln,  die  man  allein  mit  Recht 
Philosophen  nennen  dürfte.  —  Wie  meinst  du  das?  fragte  er.  —  Die 
Hörbegierigen  und  Schaulustigen,  antwortete  ich,  haben  doch  wohl  ihre 
Freude  an  den  schönen  Stimmen  und  Farben  und  Gestalten  und  allem, 

10  was  durch  diese  geschaffen  wird,  ihr  Sinn  ist  aber  unfähig,  das  Wesen 
des  Schönen  zu  schauen  und  zu  umfassen.  —  So  ist  es,  erwiderte 
er.  —  Die  aber,  welche  dem  Schönen  selbst  nahen  und  es  für  sich  schauen 
können,  sind  sie  nicht  selten?  —  Sehr  selten!  —  Wer  nun  zwar  schöne 
Dinge  anerkennt,  aber  nicht  die  Schönheit  als  solche,  noch  auch,  wemi 

15  ihn  einer  zur  Erkenntnis  derselben  hinleitet,  fähig  ist  zu  folgen,  glaubst 
du,  daß  der  ein  Traumleben  oder  ein  waches  Leben  führt?  Bedenke 
weiter:  nennen  mr  nicht  den  einen  Träumenden,  der  schlafend  oder 
wachend,  das  was  einer  Sache  nur  ähnhch  ist,  nicht  für  ein  nur  eben 
Ähnliches,  sondern  für  die  Sache  selbst  hält?  —  Ich  w^enigstens  würde 

20  einen  solchen  einen  Träumenden  nennen,  versetzte  er.  —  Und  nun  im 
Gegensatz  hierzu:  wer  das  Schöne  selbst  für  etwas  hält  und  es  selbst 
und  das,  was  an  ihm  teil  hat,  zu  schauen  vermag  und  der  weder  das  nur 
Teilhabende  für  das  Schöne  selbst,  noch  dieses  für  jenes  hält,  scheint 
dir  ein  solcher  ein  waches  Leben  oder  ein  Traumleben  zu  führen?  — 

25  Sicherhch  ein  waches,  sagte  er.  —  Werden  wir  das  Denken  eines  solchen 
als  eines  Erkennenden  also  nicht  mit  Recht  ein  Erkennen  nennen,  das 
des  anderen  aber  Meinung  (Vorstellung),  weil  er  nur  etwas  meint?  — 
Allerdings.  —  Wenn  aber  nun  der,  dem  wir  nur  ein  Meinen,  nicht  ein 
Erkennen  zuschreiben,    uns  deshalb  zürnt  und  uns  bestreitet,  daß  wir 

30  im  Recht  sind,  können  wir  ihn  mit  irgend  etwas  beschwichtigen,  ohne 
ihn  merken  zu  lassen,  daß  er  verwirrt  ist?  —  Das  ist  wohl  nötig,  sagte 
er.  —  Überlege  denn,  was  wir  ihm  sagen  werden.  Oder  willst  du,  daß 
wir  die  Frage  so  einrichten,  wenn  er  etwas  wisse,  so  mißgönnten 
wir    es    ihm  durchaus  nicht,    sondern  wir  würden  gern  etwas  davon 

35  erfahren.  Ich  würde  ihn  fragen:  ^Erkennt  der  Erkennende  etwas 
oder  nichts?"  Antworte  du  mir  für  ihn.  —  Ich  antworte  also,  ver- 
setzte er:  er  erkennt  etwas.  —  Seiendes  oder  Nichtseiendes?  —  Ein 
Seiendes,  denn  wie  sollte  ein  Nichtseiendes  erkannt  werden?  —  Steht 
es  uns  nun,  auch  wenn  wir  es  von  mehreren  Seiten  betrachten,  hinreichend 

40  fest,  daß  das  vollkommen  Seiende  auch  vollkommen  erkennbar,  das 
schlechterdings  Nichtseiende  aber  schlechterdings  unerkennbar  ist?  — 


4  Plato. 

Ganz  fest.  —  Gut ;  wenn  nun  aber  etwas  so  beschaffen  ist,  daß  es  zugleich 
ist  und  nicht  ist,  wird  es  dann  nicht  in  der  Mitte  Hegen  zwischen  dem  rein 
Seienden  und  dem  schlechterdings  nicht  Seienden?  —  Ja.  —  Da  sich 
nun  also  das  Erkennen  auf  das  Seiende,  das  Nichtwissen  mit  Notwendig- 
keit aber  auf  das  Nichtseiende  bezog,  muß  nicht  auch  für  das  in  der  s 
Mitte  Liegende  etwas  gesucht  werden,  was  zwischen  Nichtwissen  und 
Erkennen  liegt,  wenn  es  etwas  dergleichen  gibt?  —  Gewiß.  —  Sagen  wir 
nun,  daß  das  Meinen  (Vorstellen)  etwas  ist?  —  Sicherlich.  —  Und  daß 
im  Erkennen  eine  andere  Kraft  sich  äußere,  oder  dieselbe?  —  Eine  andere. 

—  Einen  anderen  Gegenstand  hat  also  das  Meinen,  einen  anderen  das    lo 
Erkennen,  entsprechend   der   jedem  eigentümlichen  Kraft?   —  Ja.  — 
Ist  nun  das  Erkennen  von  Natur   für   das  Seiende  bestimmt,   um  zu 
erkennen,  daß   das  Seiende  ist?  —  Doch  es  scheint  mir  notwendig,  zu- 
vor noch  folgendes  zu  erörtern.  —  Was  denn? 

XXI.  Ich  behaupte,   daß   Kräfte  diejenige  Art   des  Seins   sind,    in   is 
denen  sich   ein  Vermögen  von  uns  ausspricht   und  daß    man  überall 
da,  wo  ein  Können  seinen  Ausdruck  findet,  von  Kraft  sprechen  kann. 
Zum  Beispiel  rechne  ich  das  Sehen  und  das  Hören  zu  den  Kräften,  wofern 
du  verstehst,  was  ich  mit  dem  Begriff  sagen  will.  —  Ja,  ich  verstehe, 
sagte  er.  —  Höre  denn,  was  ich  von  ihnen  denke.    An  einer  Kraft  sehe   20 
ich  weder  Farbe  noch  Gestalt,   noch  sonst  irgend  etwas  derartiges,  wie 
an  vielem  anderen,  bei  dessen  Betrachtung  ich  einige  voneinander  ver- 
schiedene Eigenschaften  unterscheide.     Bei  einer  Kraft  aber  sehe  ich 
nur  auf  das  Ziel  ihres  Wirkens  und  auf  .das,  was  sie  hervorbringt  und 
danach  pflege  ich  jede  Kraft  als  eine  einzelne  zu  benennen  und  die,  welche   25 
für  dasselbe  bestimmt  ist  und  dasselbe  hervorbringt,  benenne  ich  jedes- 
mal gleich;  die  aber,  welche  für  etwas  anderes  bestimmt  ist  und  etwas 
anderes  hervorbringt,  nenne  ich  anders.  —  Wie  hältst  du  es  damit?  — 
Ebenso,  sagte  er.  —  Kehren  wir  also  wieder  zum  Thema  zurück,  sagte 
ich.    Nennst  du  das  Wissen  eine  Kraft  oder  zu  welcher  Gattung  rechnest   30 
du  es  sonst?  —  Ja,  und  zwar  die  stärkste  unter  allen  Kräften,  nenne  ich 
es,  erwiderte  er.  —  Werden  wir  nun  das  Meinen  zu  den  Kräften  zählen 
oder  zu  einer  anderen  Gattung?  —  Auch  zu  den  Kräften,  versetzte  er,  denn 
das,  wodurch  wir  vorzustellen  vermögen,  ist  nichts  anderes  als  Vorstellen. 

—  Aber  du  hast  kurz  zuvor  zugestanden,  daß  Wissen  und  Meinen  nicht   35 
dasselbe  sei.  —  Wie  könnte  auch,   versetzte  er,   ein  Vernünftiger   je 
das  Fehlerlose  mit  dem  Fehlerhaften  gleichsetzen?  —  Gut,  sagte  ich, 

es  ist  also  auch  klar,  daß  wir  darin  einverstanden  sind.  Meinen  sei  etwas 
anderes  als  Wissen.  —  Ja.  —  Ihrer  verschiedenen  Natur  nach  erwirken 
sie  also  etwas    voneinander  Verschiedenes,  worauf  sie  sich  auch   40 
beziehen.  —  SicherUch.  —  Und  das  Erkennen  bezieht  sich  doch  wohl 


Die  Ideenlehre.  Ji 


o 


auf  das  Seiende  und  will  erkennen,  wie  sich  das  Seiende  verhalte?  — 
Ja.  —  Die  Meinung  aber,  sagen  wir,  stellt  nur  vor.  —  Ja.  —  Erkennt 
sie  dasselbe  wie  das  Wissen  und  wird  Erkanntes  und  Vorgestelltes 
dasselbe  sein?  oder  ist  das  unmöglich?  —  Unmöglich,  erwiderte  er, 
5  nach  dem  Zugestandenen,  wenn  der  verschiedene  Ursprung  verschiedene 
Kraft  erzeugt,  beide  aber,  Meinen  und  Wissen,  Kräfte  sind,  doch  jede 
eine  andere,  wie  wir  gesagt  haben.  —  Deshalb  ist  es  unmöglich,  daß 
Vorgestelltes  und  Erkanntes  dasselbe  sei.  Ist  also  das  Seiende  Gegen- 
stand des  Erkennens,  so  muß  das  Vorstellen  einen  anderen  Gegenstand 

10  haben  als  das  Sein?  —  Ja.  —  Ist  das  vielleicht  das  Nichtseiende ?  oder 
ist  es  auch  unmöglich,  das  Nichtseiende  vorzustellen?  Bedenke  aber: 
richtet  der  Vorstellende  nicht  sein  Vorstellen  auf  etwas?  oder  ist  ein 
Vorstellen  möglich,  das  nichts  vorstellt?  —  Unmöglich.  —  Vielmehr: 
etwas    wird  vorgestellt?   —  Ja.   —  Nichtseiendes  wird    aber    doch 

15  nicht  etwas,  sondern  mit  vollstem  Rechte  nichts  genannt.  —  Sicher- 
lich. —  Nichtseiendem  entsprach  aber  doch  mit  Notwendigkeit  Nicht- 
\vissen,  dem  Seienden  aber  Erkennen?  —  Richtig,  sagte  er.  —  Weder 
Seiendes  noch  auch  Nichtseiendes  wird  also  vorgestellt?  —  Gewiß.  — 
Vorstellen  also  wäre  weder  Nichtwissen  noch  Erkennen?  —  So  scheint 

20  es,  —  Steht  es  nun  außerhalb  von  diesen,  entweder  das  Erkennen  an 
Deuthchkeit  übertreffend,  oder  das  Nichtwissen  an  Undeutlichkeit  ?  — 
Keines  von  beiden.  —  Aber  scheint  dir  etwa,  fragte  ich,  das  Vorstellen 
dunkler  als  das  Erkennen,  doch  heller  als  das  Nichtwissen?  —  Ganz 
gewiß,  sagte  er.  —  Liegt  es  innerhalb  von  beiden?  —  Ja.     Das  Vor- 

25  stellen  läge  also  in  der  Mitte  zwischen  beiden?  —  Allerdings.  —  Haben 
wir  nun  nicht  im  vorhergehenden  gesagt,  wenn  sich  etwas  von  der 
Art  zeige,  daß  es  zugleich  sei  und  nicht  sei,  so  liege  es  in  der  Mitte 
zwischen  dem  wahrhaft  Seienden  und  dem  schlechterdings  Nichtseienden 
und  weder  werde  Wissen  noch  Nichtwissen  ihm  entsprechen,  sondern 

30  irgend  eine  Fähigkeit,  welche  zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegen  muß? 
—  Ja.  —  Und  als  das  hat  sich  nun  das  Vorstellen  herausgestellt.  — 
So  ist  es. 

XXII.  Es  bhebe  uns  also  wohl  noch  übrig,  das  zu  finden,  was  an 
beidem  Teil  hat,  am  Sein  und  am  Nichtsein  und  das  mit  keinem  von 

35  beiden  genau  und  richtig  bezeichnet  würde,  damit  wir,  wenn  es  uns 
vorkommt,  es  mit  Recht  als  einen  Gegenstand  des  Vorstellens  bezeichnen 
und  so  einer  jeden  der  drei  Fähigkeiten,  den  beiden  äußersten  sowohl 
wie  der  mittleren,  den  ihr  entsprechenden  Gegenstand  zuweisen.  Oder 
nicht  so?  —  Allerdings.  —  Wenn  das  nun  feststeht,  werde  ich  auf  meine 

40  Fragen  irgend  jemand  um  Antwort  bitten ,  der  an  ein  Schönes  an 
sich  und  an  einen  sich  immer  gleich  bleibenden  Begriff  der  Schönheit 


6  Plato. 

an  sich  nicht  glaubt,  wohl  aber  eine  Vielheit  schöner  Dinge  annimmt, 
als  ein  Schaulustiger,  der  es  durchaus  nicht  zugibt,  wenn  jemand  be- 
hauptet, es  gebe  ein  Schönes  und  e  i  n  Gerechtes  und  so  fort.  Gibt 
es  denn,  mein  Bester,  werden  wir  sagen,  unter  diesen  vielen  schönen 
Dingen  nicht  etwas,  was  nicht  auch  häßlich  erscheinen  wird,  und  unter  5 
den  gerechten  eines,  was  nicht  als  ungerecht,  und  unter  den  heiligen,  was 
nicht  als  unheilig?  —  Gewiß,  versetzte  er,  es  ist  notwendig,  daß  sie  sowohl 
schön  wie  häßlich  erscheinen,  und  das  gilt  von  allem,  wonach  du  sonst 
fragst.  —  Wie  aber  das  viele  Doppelte?  erscheint  das  etwa  weniger  halb 
als  doppelt?  —  Durchaus  nicht.  —  Kommt  dem  Großen  und  Kleinen,  lo 
Leichten  und  Schweren  mehr  diese  Bezeichnung  zu  als  die  entgegen- 
gesetzte? —  Nein,  antwortete  er,  sondern  immer  wird  jedes  beide  Namen 
führen  können.  —  Sind  nun  alle  diese  Einzeldinge  mehr  das,  was  von 
ihnen  gerade  im  Augenblick  ausgesagt  wird,  als  was  nicht  ausgesagt 
wird?  ...  Es  ist  zweifelhaft  und  weder  als  seiend  noch  als  nichtseiend,  is 
wieder  als  beides  noch  als  keines  von  beiden  läßt  sich  irgend  etwas  mit 
Sicherheit  denken.  —  Weißt  du  nun,  sagte  ich,  etwas  Besseres  mit  ihnen 
anzufangen  oder  weißt  du  eine  bessere  Stelle  für  sie  als  in  der  Mitte 
zwischen  Sein  und  Nichtsein?  Denn  weder  dunkler  als  Nichtseiendes, 
das  heißt  mit  einem  höheren  Grade  von  Nichtsein  behaftet,  werden  sie  20 
erscheinen,  noch  heller  als  Seiendes,  das  heißt  mit  einem  höheren  Grade 
von  Sein.  —  Sehr  richtig,  sagte  er.  —  Wir  haben  also  wohl  gefunden, 
daß  was  die  Vielen  vieles  annehmen  vom  Schönen  und  dem  übrigen 
derart  zwischen  dem  Nichtseienden  und  wahrhaft  Seienden  umher- 
schwankt? —  Ja.  —  Und  vorher  waren  wir  einig  geworden,  daß,  wenn  25 
sich  etwas  dergleichen  zeige,  es  als  Gegenstand  der  Meinung,  nicht  des 
Erkennens  bezeichnet  werden  müsse,  da  das  dazwischen  Umherschwan- 
kende auch  mit  der  dazwischen  liegenden  Kraft  aufgefaßt  wird?  — 
Ja.  —  Von  denen  also,  die  viel  Schönes  beschauen,  das  Schöne  aber 
nicht  sehen,  noch  einem  anderen,  der  sie  dazu  führen  will,  folgen  können,  30 
und  die  vielerlei  Gerechtes,  das  Gerechte  selbst  aber  nicht  und  so 
fort,  werden  wir  sagen,  daß  sie  über  alles  nur  eine  Meinung  haben,  aber 
nichts  von  dem,  was  sie  so  vorstellen,  erkennen.  —  Notwendig.  —  Doch 
denen,  die  ein  jedes  sehen,  wie  es  an  sich  selbst  immer  gleichmäßig 
sich  verhält,  werden  wir  ihnen  nicht  Erkennen  im  Gegensatz  zu  den  35 
anderen  zusprechen?  —  Ganz  gewiß.  —  Wir  werden  also  auch  sagen, 
daß  diese  das  heben  und  sich  dazu  neigen,  wovon  es  Erkenntnis  gibt, 
jene  dazu,  wovon  Meinung.  Du  erinnerst  dich  doch,  daß  wir  sagten, 
diese  letzteren  liebten  schöne  Stimmen  und  Farben  und  dergleichen, 
das  Schöne  selbst  aber  ließen  sie  nicht  einmal  gelten  als  seiend?  —  40 
Ja.  —  Werden  wir  also  fehlgreifen,  wenn  wir  sie  mehr  Meinungsliebende 


Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislehre. 


als  Weisheitsliebende  nennen?  und  werden  sie  uns  deshalb  sehr  zürnen? 
—  Nicht  wenn  sie  mir  folgen;  denn  dem  Wahren  zu  zürnen  ist  nicht 
recht.  —  Dagegen,  die,  welche  in  jedem  Falle  das  Seiende  selbst  lieben, 
muß  man  Philosophen  nennen,  nicht  aber  Meinungsliebende?  —  Ganz 
5   gewiß. 


Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislehre. 

XVI. Ein  Philosoph  darf  also  den  weiteren  Weg  nicht  scheuen 

und  ein  Lernender  darf  sich  nicht  weniger  anstrengen  als  ein  Turner 
oder  er  wird,  wie  wir  eben  sagten,  niemals  zum  Ziel  der  höchsten  und 
am  meisten  von  ihm  zu  erstrebenden  Erkenntnis  gelangen.  —  Ist  denn 

10  das  von  uns  Abgehandelte  noch  nicht  höchste  Erkenntnis,  fragte  er, 
gibt  es  noch  ein  Höheres  als  die  Gerechtigkeit  und  die  anderen  von  uns 
erwähnten  Tugenden?  —  Es  gibt  ein  Höheres,  sagte  ich.  Auch  dürfen 
\yiT  nicht  wie  bisher  uns  mit  einem  flüchtigen  Umriß  begnügen,  sondern 
müssen  uns  von  ihnen  die  allerklarste  Anschauung  verschaffen.     Wäre 

13  es  denn  nicht  lächerlich,  mit  heißem  Bemühen  nach  der  möglichst 
genauen  und  klaren  Erkenntnis  minderwertiger  Dinge  sonst  zu  streben, 
die  höchsten  aber  nicht  auch  der  höchsten  Sorgfalt  für  wert  zu  erachten? 
—  Das  ist  ein  sehr  richtiger  Gedanke.  —  Doch  glaubst  du,  daß  jemand 
dich  freilassen  wird,  ohne  gefragt  zu  haben,  was  die  höchste  Erkennt- 

20  nis  und  ihr  Gegenstand  nach  deiner  Ansicht  sei?  —  Ich  glaube  es  kaum, 
frage  deshalb  nur.  —  Jedenfalls  hast  du  es  nicht  selten  schon  gehört, 
jetzt  aber  erinnerst  du  dich  nicht  daran  oder  willst  mir  Schwierigkeiten 
machen,  um  zu  streiten.  Ich  glaube  eher  das  letztere.  Denn  daß  die 
Idee  des  Guten  die  höchste  Erkenntnis  ist,  hast  du  oft  gehört  und  ebenso, 

25  daß  die  Gerechtigkeit  und  die  anderen  Tugenden  erst  heilsam  und  nütz- 
lich werden  durch  ihre  Zugehörigkeit  zu  ihr.  Und  auch  jetzt  weißt  du 
ungefähr,  was  ich  damit  sagen  will,  und  ferner,  daß  wir  das  Wesen 
des  Guten  noch  nicht  genügend  kennen.  Wenn  das  aber  der  Fall  ist 
und  wenn  ohne  eine  solche  Kenntnis  alles  übrige  Wissen,  so  groß  es  auch 

30  sein  mag,  uns  nichts  nützt,  gerade  so  als  wenn  wir  etwas  besäßen  ohne 
das  Gute  —  oder  glaubst  du,  es  sei  ein  Gewinn,  alles  zu  besitzen,  nur 
nicht  etwas  Wertvolles?  oder  alles  zu  wissen,  nur  nicht  das  Schöne  und 
Gute?  —  Bei  Gott  nicht!  sagte  er. 

XVII.  Ferner  weißt  du  auch  bereits,  daß  den  meisten  Menschen 

35  die  Lust  das  Gute  zu  sein  scheint,  den  Besseren  die  Einsicht.  —  Aller- 
dings. —  Ferner,  mein  Freund,  daß  die,  welche  diese  Ansicht  haben, 
nicht  zu  zeigen  wissen:  welche  Einsicht,  schUeßlich  aber  doch  sagen 
müssen :  die  Einsicht  des  Guten.  —  Damit  machen  sie  sich  lächerUch.  — 


8  Plato. 

Allerdings,  sagte  ich,  erst  schelten  sie,  daß  wir  das  eigentliche  Gute  nicht 
wüßten,  nachher  setzen  sie  eine  solche  Kenntnis  bei  uns  voraus;  denn 
sie  sagen,  es  sei  Erkenntnis  des  Guten,  als  wenn  wir  dann  verständen, 
was  sie  sagen,  wenn  sie  das  Wort  „  gut "  aussprechen.  —  Sehr  richtig !  — 
Wie  steht  es  nun  mit  den  anderen?  Wenn  sie  die  Lust  für  das  Gute  5 
halten,  schweben  sie  vielleicht  in  einem  geringeren  Irrtum  als  ihre  Gegner? 
Werden  sie  nicht  auch  gezwungen,  zuzugestehen,  daß  einige  Genüsse 
schädlich  seien?  —  Sicherlich.  —  Sie  müssen  zugeben,  glaube  ich,  Gutes 
und  Schlechtes  sei  ein  und  dasselbe.  Nicht  wahr?  —  Ja.  —  Es  ist  also 
deuthch,  daß  es  viele  und  große  Meinungsverschiedenheiten  über  das  lo 
Gute  gebe?  —  Allerdings.  —  Ist  nicht  ferner  deutlich,  daß  viele  sich 
mit  dem  bloßen  Schein  vom  Gerechten  und  Guten  begnügen  und  trotz- 
dem es  tun  und  besitzen  und  dafür  angesehen  sein  wollen,  als  hätten 
sie  es  wirklich.  Gutes  aber  will  niemand  nur  dem  Scheine  nach  besitzen, 
sondern  jeder  strebt  nach  seinem  wirklichen  Besitz,  den  Schein  aber  ib 
verachtet  alle  Welt.  —  Jawohl.  —  Wonach  also  jede  Menschenseele 
strebt  und  wofür  sie  alles  tut  in  dunkler  Ahnung  seines  hohen  Wertes, 
doch  in  Unsicherheit  und  ungenügender  Kenntnis,  was  es  eigentlich 
sei,  ohne  einen  sicheren  Glauben  daran  wie  auch  bei  anderen  Dingen, 
ohne  das  aber  auch  alles  übrige  Wertvolle  zu  Grunde  geht  —  über  ein  20 
für  uns  so  sehr  Bedeutsames  sollten  wir  auch  jene  im  Finstern  herum- 
tappen lassen  müssen,  die  die  Besten  im  Staat  sein  sollen,  denen  wir 
alles  anvertrauen?  —  Nein,  durchaus  nicht.  —  Wenigstens  glaube  ich, 
daß  das  Gerechte  und  Schöne,  das  ohne  Kenntnis,  weshalb  es  gut  sei, 
geschieht,  an  dem  einen  schlechten  Verwalter  haben  werde,  dem  diese  25 
gründliche  Kenntnis  mangelt,  und  ich  vermute,  daß  vorher  niemand 
jene  wird  recht  erkennen  können.  —  Das  stimmt.  —  Eine  Staatsver- 
fassung wird  nach  unserem  Urteil  also  erst  dann  vollendet  eingerichtet 
sein,  wenn  ihr  oberster  Leiter  über  diese  Frage  vollkommene  Kenntnis 
besitzt?  30 

XVIII.  Ja,  notwendig.  —  Doch  hältst  du,  lieber  Sokrates, 
das  Gute  für  ein  Wissen  oder  für  Lust?  oder  denkst  du  noch  anders 
darüber?  —  Du  Trefflicher,  sagte  ich,  lange  gabst  du  zu  erkennen,  daß 
dir  die  Ansicht  anderer  hierüber  nicht  genüge.  —  Es  scheint  mir  auch 
gar  nicht  recht ,  lieber  Sokrates  ,  sagte  er ,  die  Meinungen  anderer  35 
mitzuteilen,  seine  eigene  aber  nicht,  zumal  wenn  man  schon  so  lange 
Zeit  sich  damit  beschäftigt  hat.  —  Wie?  sagte  ich,  scheint  es  dir 
recht,  über  das,  was  man  nicht  weiß,  zu  sprechen,  als  wisse  man  es  ?  — 
Keineswegs  soll  man  das  tun,  wohl  aber  soll  man  seine  Meinungen 
eben  als  Meinungen  vorzutragen  bereit  sein.  —  Wie?  fuhr  ich  fort,  hast  40 
du  noch  nicht  gemerkt,  wie  schmähHch  die  Meinungen  ohne  Erkennen 


Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislehre.  9 

sind,  von  denen  ja  die  besten  blind  sind?  Oder  findest  du  einen  Unter- 
schied z^vischen  denen,  welche  ohne  Vernunft  ein  Körnchen  Wahrheit 
erhaschen  und  den  Blinden,  die  auch  ihren  Weg  richtig  treffen?  —  Gar 
nicht,  sagte  er.  —  Du  willst  also  Schmähliches,  Bhndes  und  Krummes 
5  erfahren,  da  du  doch  von  anderen  Klares  und  Schönes  hören  kannst?  — 
Um  Gottes  willen,  heber  Sokrates,  rief  hier  Glaukon,  laß  uns  nur  nicht 
noch  am  Ende  im  Stich!  Wir  wollen  ja  damit  zufrieden  sein,  wenn  du  auch 
nur  ebenso,  wie  du  über  Gerechtigkeit,  Besonnenheit  und  das  übrige  ge- 
sprochen hast,  auch  über  das  Gute  sprichst. —  Auch  ich,  sagte  ich,  lieber 

10  Freund,  würde  damit  sehr  zufrieden  sein.  Aber  daß  es  mir  nur  nicht  un- 
möghch  ist,  dies  zu  leisten  und  ich  bei  dem  besten  Willen  durch  meine  Un- 
geschickhchkeit  vor  euch  lächerlich  werde.  Allein,  ihr  Vertrauensseligen, 
was  das  Gute  selbst  ist,  wollen  wir  jetzt  noch  lassen,  denn  es  scheint 
mir  nach  unserem  jetzigen  Anlauf  viel  zu  weit,  auch  nur  bis  zu  dem  zu  kom- 

15  men,  was  ich  jetzt  darüber  meine.  Doch  will  ich,  wenn  es  euch  auch  ange- 
nehm ist,  über  das  sprechen,  was  mir  ein  Erzeugnis  des  Guten  und  zwar 
ein  ihm  ähnliches  zu  sein  scheint,  wenn  aber  nicht,  so  lasse  ich  es.  —  Nein, 
sprach  er,  sage  es  nur.  Ein  anderes  Mal  kannst  du  uns  ja  die  Beschrei- 
bung des  Urhebers  liefern.  —  Ich  wollte,  sagte  ich,  daß  ich  euch  die  ganze 

20  Schuld  zahlen  und  ihr  sie  einstreichen  könntet  und  nicht  wie  jetzt  nur 
die  Zinsen.  Diesen  Zins  und  dies  Erzeugnis  des  Guten  nehmt  also  jetzt 
an.  Doch  seht  euch  vor,  daß  ich  euch  nicht  wdder  Willen  mit  falscher 
Münze  zahle.  —  Das  wollen  wir  schon  nach  Möghchkeit  tun,  beginne 
du  nur!  —  Nachdem  wir,  sagte  ich,  uns  verständigt  und  ich  euch  an 

25  das  vorher  Gesagte  und  auch  sonst  schon  oft  Erklärte  erinnert  habe.  — 
Was  denn?  fragte  er.  —  Viel  Schönes  und  viel  Gutes  und  jedes  ein  ein- 
zelnes, sagen  wir,  gibt  es  und  wir  sondern  es  durch  Erklärung  ab?  —  Ja. 
—  Dann  aber  \neder  das  Schöne  selbst  und  das  Gute  selbst  und  so 
auch  alles,  was  wir  vorher  als  vieles  setzten,  setzen  wir  als  eine  Idee 

30  eines  jeden  und  nennen  danach  jegliches,  was  es  ist.  —  So  ist  es.  — 
Und  von  jenem  vielen  sagen  wir,  daß  es  gesehen  werde,  aber  nicht  ge- 
dacht; von  den  Ideen  hingegen,  daß  sie  gedacht  werden,  aber  nicht 
gesehen.  —  Sicherlich.  —  Womit  sehen  wir  nun  das  Gesehene?  —  Mit 
dem  Gesicht,  sagte  er.  —  Nicht  auch  ebenso,  fuhr  ich  fort,  mit  dem  Ge- 

35  hör  das  Gehörte,  und  so  mit  den  übrigen  Sinnen  alles  Wahrnehmbare  ?  — 
FreiHch.  —  Hast  du  auch  wohl  beachtet,  wie  der  Bildner  der  Sinne  das 
Vermögen  des  Sehens  und  Gesehenwerdens  bei  weitem  am  köstlichsten 
gebildet  hat?  —  Kaum,  sagte  er.  —  Nun  dann  überlege  einmal.  Be- 
dürfen wohl  das  Gehör  und  die  Stimme  noch  eines  anderen,  damit  jenes 

40  höre  und  diese  gehört  werde,  so  daß  beim  Fehlen  dieses  dritten  jenes 
nicht  hören  kann  und  diese  nicht  gehört  werden?  —  Nein,  sagte  er.  — 


10  Plato. 

Und  ich  glaube,  fuhr  ich  fort,  daß  auch  die  meisten  anderen  Sinne,  um 
nicht  zu  sagen  alle,  nichts  dergleichen  nötig  haben.  Oder  kannst  du 
einen  anführen?  —  Nein,  sagte  er.  —  Merkst  du  aber  nicht,  daß  das 
Gesicht  und  das  Sichtbare  eines  solchen  bedürfen?  —  Wieso?  —  Wenn 
auch  in  den  Augen  Sehkraft  ist  und  ihr  Besitzer  sie  zu  gebrauchen  ver-  5 
sucht  und  wenn  auch  Farbe  für  sie  da  ist :  so  weißt  du,  daß  beim  Fehlen 
eines  Dritten,  dafür  Geschaffenen,  die  Sehkraft  nichts  sieht  und  die 
Farben  ungesehen  bleiben.  —  Was  ist  denn  das,  was  du  meinst?  fragte 
er.  —  Was  du,  sagte  ich,  Licht  nennst.  —  Du  hast  recht.  —  Nicht  durch 
etwas  Geringes  sind  also  das  Gesicht  und  das  Sehbare  mit  einem  kost-  lo 
lieberen  Bande  als  die  anderen  solchen  Verbindungen  aneinander  ge- 
knüpft, wenn  das  Licht  nicht  etwa  ein  unedles  ist.  —  Ganz  und  gar  nicht 
ist  es  das,  sagte  er. 

XIX.     Wen  der  himmlischen   Götter  kannst  du  nun  als  Ursache 
dafür  anführen,  daß  das  Licht  das  Auge  das  Schönste  sehen  läßt  und  das   i5 
Sehbare  zu  Sichtbarem  macht?  — Den,  den  du  und  alle  anderen  nennst; 
denn  offenbar  fragst  du  doch  nach  der  Sonne.  —  Steht  nun  das  Gesicht 
zu  diesem  Gott  in  folgendem  Verhältnis?  —  In  welchem?  —  Das  Gesicht 
ist  nicht  die  Sonne,  weder  es  selbst  noch  auch  das,  woran  es  gebunden 
ist,  das  wir  Auge  nennen.  —  Freihch  nicht.  —  Aber  das  sonnenähnhchste,    20 
denke  ich,  ist  es  doch  unter  den  Werkzeugen  der  Wahrnehmung.  — 
Bei  weitem.  —  Und  auch  die  Kraft,  welche  es  hat,  besitzt  es  doch  als 
einen  Ausfluß  von  jenem  Gott,  den  es  in  sich  aufgenommen?  —  Aller- 
dings. —  So  ist  also  auch  die  Sonne  nicht  das  Gesicht,  sie  wird  aber  von 
diesem,  als  seiner  Ursache,  gesehen.  —  So  ist  es.  —  Verstehe  mich  nun,    25 
sagte  ich,  so,  daß  ich  diese  Sonne  als  jenen  Sprößhng  des  Guten  bezeichne, 
welchen  das  Gute  sich  ähnhch  gezeugt  hat,  so  daß  wie  jenes  selbst 
in  dem  Keiche  des  Denkbaren  sich  zu  dem  Denken  und  dem  Gedachten 
verhält,  so  diese  in  dem  des  Sichtbaren  zu  dem  Gesicht  und  dem  Ge- 
sehenen. —  Wie  ist  das,  sagte  er,  zeige  mir  das  genauer.  —  Wenn  man   30 
die  Augen,  sagte  ich,  nicht  auf  Gegenstände  richtet,  auf  deren  Ober- 
fläche das  Tageslicht  fällt,  sondern  auf  solche  im  unsicheren  Licht  der 
Nacht,  so  sind  sie,  wie  du  weißt,  blöde  und  scheinen  beinahe  blind,  als 
ob  nicht  reine  Sehkraft  in  ihnen  wäre.  —  Ganz  recht,  sagte  er.  —  Wenn 
man  aber  die  Augen  auf  das  richtet,  worauf  die  Sonne  scheint,  so  sehen   35 
sie  deuthch  und  es  zeigt  sich,  daß  in  eben  diesen  Augen  Sehkraft  wohnt. 
—  Freihch.  —  Ebenso  nun  denke  über  die  Seele.    Wenn  sie  sich  auf  das 
heftet,    woran  Wahrheit  und  das  Seiende  glänzt,    so  bemerkt  und  er- 
kennt sie  es  und  es  zeigt  sich,  daß  sie  Vernunft  hat.    Wenn  aber  auf  das 
halb  in  Dunkel  Getauchte,  das  Entstehende  und  Vergehende,  so  stellt   40 
sie  nur  vor,  und  ihr  Gesicht  verdunkelt  sich  so,  daß  sie  mit  ihren  Vor- 


Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislehre.  H 

Stellungen  ohne  Unterlaß  wechselt  und  keine  Vernunft  zu  haben  scheint. 

—  Freilich.  — ■  Das  also,  was  dem  Erkennbaren  Wahrheit  mitteilt  und 
dem  Erkennenden  die  Kraft  dazu  gibt,  soll  für  uns  die  Idee  des  Guten 
sein;  doch  wenn  sie  auch  die  Ursache  der  Erkenntnis  und  erkannter 

5  Wahrheit  ist,  so  wirst  du,  so  schön  sie  beide  auch  sind,  Erkenntnis  und 
Wahrheit,  dir  jenes  doch  nur  richtig  denken,  wenn  du  es  als  ein  anderes 
und  noch  schöneres  als  beide  denkst.  Erkenntnis  und  Wahrheit,  sowie 
dort  Licht  und  Gesicht  für  sonnenartig  zu  halten,  war  zwar  recht,  für 
die  Sonne  selbst  aber  nicht.    So  dürfen  \\'ir  diese  beiden  zwar  für  gut- 

10  artig  halten,  keins  von  beiden  aber  für  das  Gute  selbst,  sondern  noch 
höher  ist  des  Guten  Wesen  zu  schätzen.  —  Eine  unerreichbare  Schönheit, 
sagte  er,  verkündigst  du,  wenn  sie  Erkenntnis  und  Wahrheit  hervor- 
bringt, selbst  aber  über  diesen  an  Schönheit  steht.  Für  Lust  hältst  du 
sie  also  doch  gewiß  nicht.  —  Lästre  nicht,  sagte  ich,  sondern  betrachte 

15  so  ihr  Ebenbild  noch  weiter.  —  Wie?  —  Du  \\4rst,  wie  ich  glaube,  zu- 
geben, daß  die  Sonne  nicht  allein  dem  Sichtbaren  die  Fähigkeit  ver- 
leiht gesehen  zu  werden,  sondern  auch  das  Werden,  Wachstum  und 
Nahrung,  obgleich  sie  selbst  nicht  das  Werden  ist.  —  Wie  sollte  sie  das 
sein !  —  Ebenso  gib  nun  zu,  daß  dem  Erkennbaren  nicht  nur  das  Erkannt- 

20  werden  von  dem  Guten  komme,  sondern  auch  das  Sein  und  Wesen  habe 
es  von  ihm,  da  doch  das  Gute  selbst  nicht  das  Sein  ist,  sondern  noch  über 
das  Sein  an  Würde  und  Kraft  hinausragt. 

XX.     Da   sagte  Glaukon:    Beim  Apoll,    das   ist   ein   wundervolles 
Übertreffen!  —  Du  gerade,  sagte  ich,  bist  schuld  daran,  da  du  mich 

25  gez^vungen  hast  zu  sagen,  was  mir  davon  dünkt.  —  Höre  nur  nicht  auf, 
sagte  er,  wenigstens  nicht,  bis  du  den  Vergleich  mit  der  Sonne  noch 
weiter  durchgeführt  hast,  wenn  noch  etwas  zurückbiieb.  —  Gewiß, 
es  fehlt  noch  mancherlei.  —  So  lasse  nur  ja  auch  nicht  das  Kleinste  aus. 

—  Ich  werde  wohl,  denke  ich,  sehr  vieles  auslassen  müssen,  indessen 
30  von  dem,  was  jetzt  gesagt  werden  kann,  ^vill  ich  absichthch  nichts  über- 
gehen. —  Ja  nicht,  sagte  er.  —  Wir  sagen  also,  sagte  ich,  daß  von  den 
zweien  das  eine  über  die  Gattung  des  Denkbaren  und  sein  Reich,  das 
andere  über  das  Sichtbare  herrsche;  ich  sage  nicht:  über  den  Himmel! 
damit  du  nicht  glaubst,   ich  spielte  mit  Worten.     iVlso  diese  beiden 

35  Arten  hast  du  nun:  das  Denkbare  und  das  Sichtbare.  —  Ja.  —  Denke 
dir  nun  eine  in  zwei  ungleiche  Teile  geteilte  Linie  und  teile  wiederum 
jeden  Teil  nach  demselben  Verhältnis,  so  gibt  dir,  wenn  du  dies  auf  das 
Geschlecht  des  Sichtbaren  und  des  Denkbaren  anwendest,  nach  dem 
Verhältnis  von  Deutlichkeit  und  Unbestimmtheit  im  Sichtbaren  der 

40  eine  Abschnitt  Bilder.  Ich  nenne  aber  Bilder  zuerst  die  Schatten,  dann 
die  Erscheinungen  (Spiegelungen)  im  Wasser  und  solche,  die  sich  auf 


12  Plato. 

allen  dicht  gefügten,  glatten  und  glänzenden  Flächen  finden  und  alles 
dergleichen.  Verstehst  du?  —  Ja.  —  Und  als  den  anderen  Abschnitt 
setze  das,  dem  diese  gleichen,  nämHch  die  Tiere  um  uns  und  das  gesamte 
Pflanzenreich  und  alles  Menschen  werk.  —  Gut.  —  Wirst  du  nun  auch 
einräumen  wollen,  daß  in  Bezug  auf  Wahrheit  und  Falschheit  wie  sich  s 
das  Vorstellbare  von  dem  Erkennbaren  unterscheidet,  so  auch  das 
Nachgebildete  von  dem  Gegenstand,  den  es  nachbildet?  —  Ganz  sicher. 
—  Überlege  nun  auch,  wie  das  Denkbare  zu  teilen  ist.  —  Wie?  —  Den 
einen  Teil  muß  die  Seele,  das  in  ihm  Vorhandene  als  Bilder  gebrauchend, 
erforschen  von  Voraussetzungen  aus,  ohne  zum  Anfang  zu  gelangen,  lo 
vielmehr  nach  dem  Ende  hin,  den  anderen  hingegen  zwar  auch  von 
Voraussetzungen  ausgehend ,  aber  in  Kichtung  auf  den  keiner  Vor- 
aussetzungen mehr  bedürftigen  Anfang  und  mit  Hilfe  der  Begriffe 
selbst  ohne  die  bei  jenem  angewendeten  Bilder.  —  Ich  habe  deine  Aus- 
einandersetzung nicht  richtig  verstanden.  —  Es  wird  dir  leichter  werden,  is 
sagte  ich,  wenn  ich  noch  folgendes  vorausschicke.  Ich  denke,  du  weißt, 
daß  die,  welche  sich  mit  Geometrie  und  Arithmetik  und  dergleichen 
beschäftigen,  nach  den  Sätzen,  welche  ihrer  AVissenschaft  zu  Grunde 
hegen,  das  Gerade  und  Ungerade,  die  Figuren  und  drei  Arten  der  Winkel 
bei  jedem  Beweisverfahren  voraussetzen,  ohne  daß  sie  sich  noch  anderen  20 
Eechenschaft  darüber  geben  zu  müssen  glauben,  als  sei  dies  schon 
allen  deutlich.  Vielmehr  führen  sie  hiermit  beginnend  gleich  das  weitere 
aus  und  gelangen  dann  folgerecht  zu  dem,  auf  dessen  Untersuchung 
sie  ausgegangen  waren.  —  Allerdings,  sagte  er,  das  weiß  ich.  —  Auch 
daß  sie  sich  der  sichtbaren  Figuren  bedienen  und  ihre  Auseinander-  25 
Setzungen  in  Bezug  auf  diese  machen,  obgleich  sie  nicht  von  diesen 
handeln,  sondern  von  jenen,  welchen  diese  gleichen,  und  daß  sie  für  das 
Viereck  überhaupt  selbst  und  seine  Diagonale  ihre  Beweise  führen, 
aber  nicht  für  das  von  ihnen  gezeichnete.  Das  gilt  in  Bezug  auf  alles 
übrige:  was  sie  nachbilden  und  abzeichnen,  wovon  es  auch  Schatten  so 
und  Bilder  im  Wasser  gibt,  dessen  bedienen  sie  sich  zwar  als  Bilder, 
streben  aber  immer  jenes  selbst  zu  erkennen,  was  man  nicht  anders 
sehen  kann  als  mit  dem  Verstand.  —  Du  hast  recht,  sagte  er. 

XXI.  Diese  Art  des  Verstehens  also,  sagte  ich,  gebe  allerdings  auch 
Erkennbares,  die  Seele  sei  aber  genötigt,  bei  der  Erforschung  desselben  35 
sich  der  Voraussetzung  zu  bedienen,  nicht  so,  daß  sie  zum  Anfang  zurück- 
geht, weil  sie  über  die  Voraussetzungen  nicht  mehr  hinausgehen  kann, 
sondern  so,  daß  sie  sich  der  von  den  niederen  Dingen  dargestellten 
Bilder  bedient,  und  zwar  derer,  die  im  Vergleich  mit  den  anderen  als  hell 
und  klar  verherrhcht  und  in  Ehren  gehalten  werden,  —  Ich  verstehe,  4o 
daß  du  das  meinst,  was  zur  Geometrie  und  den  ihr  verwandten  Dis- 


Die  Idee  des  Guten  und  die  Erkenntnislehre.  13 

ziplinen  gehört.  —  So  verstehe  denn  auch,  daß  ich  als  den  anderen  Teil 
des  Denkbaren  dasjenige  bezeichne,  was  die  Vernunft  unmittelbar 
ergreift ,  indem  sie  vermittels  des  dialektischen  Vermögens  Voraus- 
setzungen macht  nicht  als  angenommene  Grundsätze,  sondern  wahrhaft 
5  letzte  Voraussetzungen  gleichsam  als  Einschritt  und  Anlauf,  damit  sie, 
bis  zum  Aufhören  aller  Voraussetzung  an  den  Anfang  von  allem  ge- 
langend, diesen  erfasse  und,  sich  so  wiederum  an  alles  haltend,  was  mit 
jenem  zusammenhängt,  zum  Ende  hinabsteige,  ohne  sich  überhaupt 
dabei  irgend^vie  eines  sinnlich  Wahrnehmbaren,  sondern  nur  der  Ideen 

10  selbst  an  und  für  sich  zu  bedienen,  und  so  am  Ende  eben  zu  ihnen,  den 
Ideen,  gelange.  —  Ich  verstehe,  sagte  er,  zwar  noch  nicht  genau,  denn 
du  scheinst  mir  recht  vielerlei  zu  sagen;  doch  aber,  daß  du  feststellen 
^villst :  das,  was  vermittels  der  dialektischen  Wissenschaft  vom  Seienden 
und  Denkbaren  geschaut  werde,  sei  sicherer  als  das  von  den  eigentlich 

lö  sogenannten  Wissenschaften  Gefundene,  deren  Ausgangspunkte  Voraus- 
setzungen sind,  die  dann  die  Forschenden  mit  dem  Verstände  und  nicht 
mit  den  Sinnen  betrachten  müssen.  Weil  sie  aber  ihre  Betrachtung 
nicht  so  anstellen,  daß  sie  bis  zu  den  Ausgangspunkten  zurückgehen, 
sondern  nur  von  Annahmen  aus,  so  scheinen  sie  dir  keine  Vernunft- 

20  erkenntnis  davon  zu  haben,  obgleich,  ginge  man  vom  Anfang  aus,  sie 
ebenfalls  erkennbar  wären.  Verstand  aber,  nicht  Vernunft,  scheinst  du 
mir  die  Fertigkeit  der  Mathematiker  und  was  dem  ähnlich  ist,  zu  nennen, 
als  etwas  zwischen  der  bloßen  Vorstellung  und  der  Vernunfterkenntnis 
Liegendes.   —  Vollkommen   richtig,   sagte   ich,   hast  du   es   aufgefaßt ! 

25  Und  nun  nimm  mir  auch  die  diesen  vier  Teilen  zugehörigen  Zustände 
der  Seele  dazu:  die  Vernunfteinsicht  als  zum  obersten,  die  Verstandes- 
gewißheit als  zum  zweiten  gehörig,  dem  dritten  aber  weise  den  Glauben 
zu  und  dem  vierten  die  Wahrscheinlichkeit,  und  ordne  sie  dir  so  in  der 
Weise,  daß  jedem  von  ihnen  so  viel  von  Gewißheit  zukommt,  wie  das, 

30  worauf  sie  sich  beziehen,  teil  an  der  Wahrheit  hat.  —  Ich  verstehe,  sagte 
er,  und  räume  es  ein  und  ordne  sie  wie  du  sagst. 

Die  beiden  Lesestücke  sind  aus  Piatos  (427 — 347)  Hauptwerk,  dem 
„S  t  a  a  t'"  (aus  dem  fünften  und  sechsten  Buch),  entnommen  und  gehören  zu 
den  klassischen  Stellen,  an  denen  unser  Philosoph  die  „Ideenlehre"  darstellt. 
Zu  ihrem  Verständnis  möge  folgende  Vorbemerkung  dienen,  welche  allerdings 
nur  eine  vorläufige  Orientierung  sein  kann  und  deshalb  die  von  der  Wissen- 
schaft diskutierten  Fragen  unberücksichtigt  lassen  muss.  Wer  in  diese  ein- 
dringen will,  benütze  die  weiter  unten  angegebene  Literatur. 

Zwei  Sätze  und  die  daraus  abzuleitenden  Folgerungen  sind  es,  die  Piatos 
Erörterungen  bestimmen:  es  gibt  nichts  Bleibendes  —  es  gibt  ein  ewiges, 
unveränderliches   Sein.      Der  erste   Satz  erlaubt  eine  doppelte   Anwendung. 


'14  P^ato. 

Einmal  in  Bezug  auf  die  Außenwelt:  es  ergibt  sich  dann  die  Lehre  vom 
Wechsel  aller  Dinge  (Heraklit).  Anderseits  in  Bezug  auf  das  eigene  Ich 
des  Menschen:  hier  ergibt  sich  ein  e-wiger  Wechsel  der  Bewußtseinsvorgänge. 
An  das  letzte  Ergebnis  können  wir  die  Folgerung  knüpfen,  daß  mit  diesem 
so  wechselnden  Material  etwas  Feststehendes,  Bleibendes  nicht  erkannt  werden 
könne.  Diese  Ansicht  läßt  sich  am  besten  erläutern  an  der  Verschiedenheit 
der  Empfindungen  verschiedener  Menschen  oder  eines  Menschen  zu  verschiede- 
nen Zeiten  demselben  Gegenstand  gegenüber  (zum  Beispiel  Geschmacks- 
empfindungen). Wir  drücken  diese  Tatsache  aus,  wenn  wir  von  der  Subjek- 
tivität der  Sinnesempfindungen  sprechen.  Von  dieser  Einsicht  aus  können 
wir  übergehen  zum  Zweifel  an  der  Möglichkeit  einer  allgemein  gültigen  Er- 
kenntnis (Protagoras  und  die  Sophisten).  Der  andere  Satz:  „es  gibt  ein 
ewiges,  unveränderliches  Sein",  gilt  auch  einmal  für  die  Außenwelt,  er  geht 
von  der  Tatsache  des  Erfülltseins  derselben  mit  Wirklichem,  der  den  Raum 
füllenden  Masse,  aus  und  behauptet  im  Gegensatz  dazu  die  Undenkbarkeit  des 
Nichtseienden,  des  NichterfüUtseins  (Parmenides).  Für  dies  so  erfaßte  Sein 
muß  ein  Beständiges  in  unserem  Bewußtsein  nachgewiesen  werden.  Es  kann 
nicht  in  der  Erkenntnis  durch  die  Sinne  liegen,  sondern  nur  im  vernünftigen 
Denken.  Sokrates  hat,  von  dem  Bedürfnis  getrieben.  Beständiges  für  das 
menschliche  Handeln  nachzuweisen,  diese  Art  des  Erkennens  näher  bezeichnet 
als  Erkenntnis  durch  Begriffe  und  er  hat  versucht,  planmäßig  die  volks- 
tümlichen Vorstellungen  von  den  Tugenden  aus  dem  Wechsel  der  Meinungen 
zur  Klarheit  und  sicheren  Umgrenzung  des  Begriffes  zu  erheben.  Dieser 
Gegensatz  und  diese  Vorbereitung  einer  Lösung  durch  Sokrates  bedingen  das 
Denken  Piatos.  Dem  in  der  Lehre  vom  ewigen  Wechsel  liegenden  Gedanken 
von  der  Vielheit  des  Wirklichen  wird  er  gerecht  durch  die  Behauptung  nicht 
eines  einzigen,  unveränderlichen  Seins,  sondern  durch  die  Annahme  vieler 
ewiger,  unveränderlicher,  für  sich  bestehender  Wesenheiten,  der  Ideen  (ver- 
gleiche zu  2  40  ff.).  Ihre  Erkenntnis  wird  uns  übermittelt  durch  das  begriffliche 
Denken.  Das  so  begrifflich,  wahrhaft  Erkannte  ist  für  PL  zugleich  das  wahr- 
haft Seiende.  Die  Ideen  sind  der  Urgrund  des  Seins.  „Die  Platonische  Ideen- 
lehre gründet  sich  auf  die  zwei  Momente,  daß  ihrem  Urheber  ohne  die  Wirk- 
lichkeit der  Begriffe  weder  ein  wahres  Wissen,  noch  ein  wahres  Sein  möglich 
erscheint"  (Zeller). 

Zur  Einführung  in  Piatos  Philosophie  können  die  Darstellungen  in  den 
Lehrbüchern  der  Geschichte  der  Philosophie  dienen:  Überweg-Heinze,  9.  Auf- 
lage, Bd.  I,  1903;  J.  E.  Erdmann,  4.  Auflage,  1896,  Bd.  I;  Vorländer  1903, 
Bd.  I.  Ferner  die  Grundrisse  zur  alten  Philosophie:  Windelband,  Geschichte 
der  alten  Philosophie,  2.  Auflage,  1894;  Zeller,  Grundriß  der  Geschichte  der 
griechischen  Philosophie,  6.  Auflage  1901.  In  diesen  Werken  findet  der  Leser 
Hinweise,  die  ein  eindringenderes  Studium  leiten  können.  Aus  der  Menge 
der  dort  angegebenen  Literatur  sei  hier  nur  aufgezählt:  Zeller,  Philosophie  der 
Griechen,  4.  Auflage,  1889,  Bd.  II,  1.  Abt. ;  Gomperz,  Griechische  Denker,  1902, 
Bd.  II,  und  Natorp,  Piatos  Ideenlehre,  1903.  —  Piatos  Dialoge  sind  in  sechs  Bän- 
den in  der  Bibliotheca  scriptorum  graecorum  et  romanorum  bei  Teubner  erschienen. 


Erläuterungen.  \  5 


Die  beste  Übersetzung  des  „Staat"  ist  die  im  Jahre  1818  erschienene  von 
Schleiermacher  (neu  herausgegeben  und  erläutert  von  v.  Kirchmann,  Philos. 
Bibl.,  Bd.  80,  2.  Auflage).  Nach  dieser  Übersetzung  ist  unser  Text  hergestellt 
unter  Benützung  der  Übersetzung  von  Teuffel-Wiegand  1857.  Doch  sind 
zahlreiche  Veränderungen  vorgenommen  worden,  wie  sie  der  archaistische 
Charakter  von  Schleiermachers  Übersetzung  nötig  machte. 

li.  Der  Sprechende  ist  Sokrates,  die  Antwortenden  sind  Adeimantos 
und  Glaukon.  PI.  hat  für  den  „Staat"  die  Form  gewählt,  daß  Sokrates  ein 
früher  von  ihm  geführtes  Gespräch  wiedererzählt. 

1  3 .  Diese  Behauptung  findet  sich  zu  Anfang  unseres  Kapitels  ausgesprochen 
in  den  berühmten  Sätzen:  „Bevor  nicht  entweder  die  Philosophen  Könige 
werden  in  den  Staaten  oder  die  jetzt  so  genannten  Könige  und  Gewalthaber 
wahrhaft  und  gründlich  philosophieren  und  dieses  beides  zusammenfällt,  die 
Staatsgewalt  und  die  Philosophie  .  .  .  eher  gibt  es  kein  Aufhören  der  Schäden 
für  die  Staaten  und  auch  nicht  für  das  Menschengeschlecht."  Über  die  Staats- 
lehre Piatos  vergleiche  die  oben  angegebene  Literatur.  Vielleicht  hat  es  Inter- 
esse zu  hören,  was  Kant  zu  diesem  Satze  sagt:  „Daß  Könige  philosophieren 
oder  Philosophen  Könige  würden,  ist  nicht  zu  erwarten,  aber  auch  nicht  zu 
wünschen,  weil  der  Besitz  der  Gewalt  das  freie  Urteil  unvermeidlich  verdirbt. 
Daß  aber  Könige  oder  königUche  (sich  selbst  nach  Gleichheitsgesetzen  beherr- 
schende) Völker  die  Klasse  der  Philosophen  nicht  schwinden  oder  verstummen, 
sondern  öfFenthch  sprechen  lassen,  ist  beiden  zu  Beleuchtung  ihres  Geschäftes 
unentbehrlich."  Vergleiche  Kants  Schrift  „Zum  ewigen  Frieden",  1795  (in 
Reclams  üniversalbibliothek  erschienen). 

2  22.  Ein  solches  Streben  nennt  PI.  den  Eros.  In  jedem  sterblichen  Wesen  lebt 
das  Bedürfnis,  sich  zum  Unsterblichen  zu  erheben.  Das  Ziel  wird  erreicht  im 
Anschauen  der  Ideen.  Hierüber  handelt  vor  allem  Piatos  Symposion  (Gastmahl). 

2  40  ff.  Diese  Ausführungen  lassen  die  Ideenlehre  mit  völHger  Klarheit 
dem  Leser  entgegentreten.  Das  Schöne  ist  ein  für  sich  Bestehendes.  Wir 
gelangen  auf  dem  Wege  der  Begriffsbildung  zu  einem  Allgemeinen,  das  von 
all  den  Einzeldingen  u.  s.  w.  gilt,  die  wir  als  schön  bezeichnen.  Indem  -wir 
bei  Betrachtung  der  Einzeldinge  immer  nur  auf  die  eine  Eigenschaft,  die 
Schönheit  an  ihnen,  sahen,  haben  wir  sie  getrennt  von  allem  anderen,  das  heißt 
„für  sich"  betrachtet.  Mit  der  in  der  Vorbemerkung  erwähnten  Übertragung 
des  Seins  auf  das  Gedachte  wird  aus  dem  Für-sich-G  edachten  ein  Für- 
sich -Seiendes.  Diese  Einsicht  drücken  wir  am  besten  aus,  wenn  wir 
sagen  ,.das  Schöne".  Wir  haben  aber  weiter  schon  hervorgehoben  und  er- 
fahren es  unten  (3  40  und  634  ff.),  daß  das  Schöne  und  überhaupt  die  Ideen  das 
wahrhaft  Seiende  sind.  Die  bunte  Welt  mit  ihrer  Vielheit  von  Dingen  und 
deren  Eigenschaften  hat  also  nur  eine  abgeleitete  Realität.  Die  Dinge  haben 
teil  *)  an  jener  Welt  des  wahrhaft  Seienden.  —  Wir  heben  kurz  die  Schwierig- 


*)  So  im  Anschluß  an  unseren  Text.  Andere  Bestimmungen  dieses  Ver- 
hältnisses finden  sich  bei  PL  Man  orientiere  sich  für  weiteres  Studium  in  der 
angegebenen  Literatur. 


16  Plato. 

keiten  dieser  Lehre  hervor.  Eine  solche  besteht  vor  allem  darin,  daß  wir 
uns  Begriffe  als  Wirkliches  denken  sollen,  die  uns  nur  ein  Gedankliches  sind. 
Wenn  wir  auch  zugestehen  wollten,  daß  in  dem  systematischen  Aufbau  der 
Begriffe,  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  über  die  Welt  eine  höhere  Art 
der  Erkenntnis  gegenüber  dem  unsicher  und  ungeordnet  gesammelten  Material 
der  täglichen  Erfahrungen  liegt,  so  werden  wir  der  an  uns  gestellten  Forderung 
dies  Gedankensystem  als  wahrhaft  seiend  aufzufassen,  nicht  genügen  können, 
weil  die  letzte  Wirklichkeit  für  uns  doch  immer  ein  unvergleichlich  eigen- 
artiges Erlebnis  in  unserem  Bewußtsein  ist.  —  Eine  weitere  Schwierigkeit 
liegt  in  der  Frage,  wie  das  Schöne  ein  Vieles  sein  könne.  Plato  braucht  hier, 
um  die  Beziehung  zwischen  Idee  und  Erscheinung  auszudrücken,  das  Wort 
„Teilhaben".  Versuchen  wir  diese  Beziehung  von  der  Idee  aus  zu  verstehen, 
so  entsteht  die  Frage,  wie  die  für  sich  bestehende  Idee  in  Teilen  hervortreten 
könne.  Wird  der  Gedanke  des  Fürsichseins  streng  durchgeführt,  so  liegt  darin, 
daß  die  Ideen  keine  Beziehung  haben  können,  also  auch  nicht  zur  Erschei- 
nungswelt; dann  aber  können  wir  nicht  von  ihnen  sagen,  daß  sie  das  wahre 
Sein  in  Bezug  auf  diese  sind.  Sobald  wir  aber  nur  den  Gedanken  des  Teil- 
habens einführen,  führen  wir  den  Gedanken  des  Ganzen  und  seiner  Teile 
ein,  das  heißt  eine  Beziehung,  welche  ein  Sein  für  ein  anderes  in  sich 
enthält.     Vgl.  Lotze,  Logik,  2.  Aufl.  1880  S.  505—524  (Die  Ideenwelt). 

3  20.     Vergleiche  die  Vorbemerkung  und  6  lo  f. 

423.     Vergleiche  10 15  f. 

6 10  f.  PI.  weist  hier  dem  nur  vorstellenden  Betrachten  Unsicherheit  nach. 
Die  Begriffe,  die  er  hier  verwendet,  nennen  wir  Beziehungs-  (Relations-)  Begriffe. 
Sprechen  wir  zum  Beispiel  von  der  Größe  eines  Menschen,  so  könnten  wir  ihn 
groß  etwa  in  Bezug  auf  ein  kleinstes  Lebewesen,  klein  im  Verhältnis  zur  Erde 
nennen.  So  nennen  wir  ihn  zugleich  groß  und  klein.  Es  fehlt  uns  also  jede 
Sicherheit  eines  richtigen  Urteils,  da  die  Beziehungen  ja  veränderlich  sind. 
Über  diese  Unsicherheit  will  PI.  hinauskommen  durch  die  Erkenntnis  des 
„Guten,  Gerechten,  Schönen,  Großen,  Kleinen"  u.  s.  w.  —  Von  hier  aus  können 
wir  unser  Erkennen  überhaupt  prüfen  und  fragen,  ob  wir  je  aus  solchen  Bezie- 
hungen in  unseren  Aussagen  über  die  Dinge  der  Außenwelt  herauskommen. 
Man  denke  zum  Beispiel  an  den  Begriff  der  Ursache  und  Wirkung.  Alle 
unsere  Naturgesetze  drücken  solche  Beziehungen  aus.  Eine  moderne  Philo- 
sophie, die  bei  dieser  Einsicht  stehen  bleibt,  ist  der  Positivismus  (vergleiche 
darüber  Geschichte  der  neueren  Philosophie  von  R.  Falckenberg,  5.  Auflage, 
1905,  S.  479 — 487).  Wenn  wir  dann  weiter  unser  Verhältnis  zu  dem,  was 
wir  erkennen,  betrachten,  so  finden  wir  auch  eine  letzte  Beziehung:  zwischen 
dem  Erkennenden  und  dem  Erkannten.  Daraus  ergeben  sich  Probleme,  wie 
sie  der  Leser  in  den  Lesestücken  aus  Kant  und  Fichte  und  in  den  Erläuterungen 
dazu  erörtert  findet. 

Verbindende    Erörterung. 

In  den  zwischen  unserem  ersten  und  zweiten  Lesestück  liegenden  Kapiteln 
schildert  PI.  zuerst  die  Natur  (fuati;)  des  Philosophen.  Ein  solcher  haßt  das  Falsche 
und  liebt  die  Wahrheit,  der  Tod  hat  für  ihn  keinen  Schrecken,   er  ist  „von 


Erläuterungen.  1 7 


gutem  Gedächtnis,  gelehrig,  edelmütig,  anmutig,  der  Wahrheit  Freund  und 
ihr  verwandt,  ebenso  der  Gerechtigkeit,  Tapferkeit  und  Besonnenheit,  an  Er- 
ziehung und  Alter  vollendet".  Dagegen  wird  eingewandt,  daß  die  bisherige 
Erfahrung  keineswegs  diesem  Ideale  des  Philosophen  entspreche.  PI.  erkennt 
diesen  Einwand  nur  für  die  bestehenden  Zustände  der  Staaten  als  berechtigt 
an,  wo  die  Erziehung  gerade  die  edelsten  Naturen  am  meisten  vernichtet 
(Sophisten!).  Das  Ideal  kann  nur  erreicht  werden  durch  eine  völlige  Änderung 
der  Staatsverfassung.  Zur  Fortsetzung  des  abgebrochenen  Themas  leitet 
dann  die  Frage  über,  warum  die  Philosophen  zur  Leitung  des  Staates  geeignet 
sind.  Wir  lassen  PI.  selbst  sprechen,  da  schöner  der  Wert  der  Philosophie 
kaum  geschildert  werden  kann:  „Die  nun  kosten  und  gekostet  haben,  was 
für  eine  süße  und  herrliche  Sache  die  Philosophie  ist  und  auf  der  anderen  Seite 
die  Torheit  der  Menge  deutlich  genug  einsehen,  und  daß,  gerade  heraus  gesagt, 
nicht  einer  unter  den  Staatslenkern  etwas  Heübringendes  erwirkt  noch  Mit- 
kämpfer sein  kann,  um  der  guten  Sache  den  Sieg  zu  erringen,  sondern  dass 
wie  einer,  der  unter  die  wilden  Tiere  gefallen  ist  und  nicht  Unrecht  mit  tun 
will,  und,  da  er  doch  nicht  im  stände  ist,  einer  allein  allen  Wilden  Widerstand 
zu  leisten,  ehe  er  für  den  Staat  oder  seine  Freunde  etwas  ausrichten  könnte, 
ohne  Nutzen  für  sich  und  die  anderen  zu  Grunde  gehen  würde  —  dies  alles 
wohl  zu  Herzen  nehmend,  wird  ein  solcher  sich  ruhig  verhalten  und,  sich 
nur  um  das  Seinige  bekümmernd,  wie  man  im  Winter,  wenn  der  Wind 
Staub  und  Schlagregen  herumtreibt,  hinter  einer  Mauer  untertritt,  froh 
sein,  wenn  er  die  anderen  voll  Frevel  sieht,  nur  selbst  von  Ungerechtigkeit 
und  unheiligen  Werken  frei  dieses  Leben  hinzubringen,  und  beim  Ab- 
schiede daraus  in  guter  Hoffnung  ruhig  und  zuversichtlich  zu  scheiden." 
Und  einige  Seiten  später  heißt  es :  „Wer  in  der  Tat  seine  Gedanken  auf  das 
Seiende  richtet,  hat  ja  wohl  nicht  Zeit,  hinunterzublicken  auf  das  Treiben 
der  Menschen  und  im  Streit  gegen  sie  sich  mit  Eifersucht  und  Widerwillen 
anzufüllen;  sondern  auf  Wohlgeordnetes  und  sich  immer  Gleichbleibendes 
schauend,  was,  unter  sich  kein  Um-echt  tut  oder  leidet,  sondern  nach  Ord- 
nung und  Regel  sich  verhält,  werden  solche  auch  dies  nachahmen  und  sich 
dem  nach  Vermögen  ähnlich  bilden  .  .  .  Der  Philosoph,  der  mit  dem  Gött- 
lichen und  Geregelten  umgeht,  wird  auch  geregelt  und  göttlich,  soweit  es  mvc 
dem  Menschen  möglich  ist.  Verleumdung  aber  gibt  es  überall  viel.  Wenn  er 
nun  den  Drang  fühlt,  zu  versuchen,  wie  er  das,  was  er  dort  sieht,  auch  in  der 
Menschen  Sitten  einbilden  könne,  im  einzelnen  sowohl  als  öffentlichen  Leben, 
um  nicht  nur  sich  allein  zu  bilden,  glaubst  du,  er  werde  ein  schlechter  Bildner 
zur  Besonnenheit  und  Gerechtigkeit  sein  und  zu  jeder  Bürgertugend?"  Der 
höchsten  Aufgabe  entspricht  nun  die  Schwierigkeit,  ihr  gerecht  zu  werden. 
Um  dies  zu  können,  muß  der  Philosoph  in  die  Tiefen  der  Erkenntnis  ein- 
dringen. PI.  wendet  sich  zu  den  „schwierigsten  Forschungen".  Hier  setzt 
unser  zweites  Lesestück  ein. 

7-24.  Der  Leser  beachte,  wie  in  den  oben  zitierten  Stellen  der  Gedanke 
der  Ordnung  der  Ideen  unter  ein  Höheres  schon  vorbereitet  wurde.  Hier 
erfahren  wir,  wie  diese  Ordnung  beschaffen  ist. 

D  es  soir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  2 


18  Plato. 

7  35.  Es  sei  darauf  hingewiesen,  daß  diese  Anschauung  der  großen  Menge 
auch  philosophische  Vertreter  in  der  sogenannten  Kyrenaischen  Schule,  ins- 
besondere in  Aristipp,  gefunden  hatte.  Er  lehrte,  daß  die  Lust  an  und 
für  sich  ein  Gut  sei.  Doch  solle  im  Genuß  den  Menschen  die  Einsicht  leiten, 
sie  soll  ihn  die  verschiedenen  Güter  im  Hinblick  auf  das  Lebensglück  als  letzten 
Zweck  richtig  beurteilen  lehren.  Der  Mensch  darf  nicht  ein  Knecht  der  Lust 
sein,  er  soll  sie  beherrschen.  Vergleiche  über  diese  Lehre  die  oben  erwähnten 
Schriften  von  Zeller,  Überweg,  Windelband,  Gomperz,  Vorländer. 

9  8i9.     Dies  ist  in  den  vorhergehenden  Büchern  geschehen. 

9  36.  Der  Weltbildner  (3*r)|JiioupYo?)  schafft  in  der  Platonischen  Kosmogonie 
die  Welt  und  die  Wesen  in  ihr.     Hierüber  handelt  der  Dialog  Timaeus. 

10  20.     Schön  drückt  Goethe  diesen  Gedanken  aus : 

War'  nicht  das  Auge  sonnenhaft, 
Die  Sonne  könnt'  es  nie  erblicken. 

11  22.  Zur  Vergleichung  sei  eine  andere  Äußerung  über  die  Idee  des  Guten 
zitiert.  Im  dritten  Kapitel  des  siebenten  Buches  spricht  Sokrates  das  aus, 
was  er  seinen  „Glauben"  nennt:  „Was  ich  sehe,  das  sehe  ich  so,  daß  zuletzt 
unter  allem  Erkennbaren  und  nur  mit  Mühe  die  Idee  des  Guten  erblickt  wird, 
wenn  man  sie  aber  erblickt  hat,  sie  auch  gleich  dafür  anerkannt  wird,  daß 
sie  für  alle  die  Ursache  alles  Richtigen  und  Schönen  ist,  im  Sichtbaren  das 
Licht  und  die  Sonne,  von  der  dies  abhängt,  erzeugend,  im  Erkennbaren  aber 
sie  allein  als  Herrscherin  Wahrheit  und  Vernunft  hervorbringend  und  daß 
sie  also  sehen  muß,  wer  vernünftig  handeln  will  in  eigenen  oder  öffentlichen 
Angelegenheiten."  Der  Leser  wird  bemerken,  daß  uns  PI.  nicht  eine  genaue 
inhaltliche  Bestimmung  der  Idee  des  Guten  gibt.  Es  wird  in  eine  höhere 
Sphäre  gehoben,  welche  über  dem  Sein  schwebt,  und  darf  nicht  mit  Prädikaten 
bezeichnet  werden,  die  aus  dem  Sein  entnommen  sind.  In  dem  schönen  Ver- 
gleich mit  der  Sonne  wird  uns  gesagt,  daß  es  Urgrund  für  alles  Sein  ist.  Bei 
dem  Mangel  solcher  Bestimmung  sind  nun  verschiedene  Deutungsversuche 
mögUch.  Der  Leser  kann  sich  in  der  angegebenen  Literatur  darüber  orientieren, 
insbesondere  sei  auf  das  Buch  von  Natorp  verwiesen.  Ein  Eingehen  auf  diese 
Fragen  ist  hier  natürUch  ausgeschlossen,  nur  folgende  Überlegungen,  die  zu 
weiteren  Problemstellungen  Anlaß  geben  können,  seien  hier  mitgeteilt. 

Es  wiederholen  sich  die  Schwierigkeiten,  wie  wir  sie  früher  bei  der  Ideen- 
lehre fanden,  ja  sie  sind  noch  verstärkt,  da  wir  das  Gute  immer  als  ein  zu 
Erstrebendes,  niemals  zu  Verwirklichendes  auffassen  und  für  die  von  ihm  aus- 
gehenden sitthchen  Gebote  keine  Realität  nachweisen  können,  sie  leben  im 
Innern  der  Menschen.  Dort  treten  sie  als  ein  Sollen  auf  und  dies  ist  wohl 
der  Begriff,  durch  den  wir  die  Idee  des  Guten  verstehen  können.  Das  Sollen 
geht  über  das  Sein  hinaus,  die  Welt  des  Sollens  ist  eine  von  der  Welt  des 
Seins  unabhängige,  in  dieser  niemals  ganz  zu  verwirklichende,  sie  erhebt 
aber  den  Anspruch,  daß  sie  in  dieser  Welt  des  Seins  Geltung  habe.  Diese 
Forderung  tritt  am  deutlichsten  in  dem  menschlichen  Handeln  zu  Tage,  das 
im  Gegensatz  zum  Sein,  z.  B.  den  Leidenschaften  und  Trieben,  geschieht.  — 


Erläuterungen.  ]  9 


Doch  das  Gute  ist  Urgrund  alles  Seins.  Mit  einiger  Notwendigkeit,  da  wir 
die  Realität  des  Guten  denken  sollen,  werden  wir  auf  den  Gedanken  eines 
göttlichen  Wesens  als  einer  Verkörperung  des  sittlichen  Prinzips  und  einer 
Ursache  der  Wirklichkeit  geführt.  Sein  Wesen  können  wir  nicht  oder  nur 
mit  Mühe  begreifen,  da  es  an  Würde  und  Kraft  über  alles  Sein  und  also  auch 
das  MenschUche  hinausragt.  —  Doch  selbst  wenn  man  diesen  Hilfsbegriff 
eines  göttUchen  Wesens  vermeidet,  so  bleibt  der  Gedanke,  daß  ein  sittliches 
Prinzip  letzter  Grund  alles  Seins  ist.  Versuchen  wir  diese  Ansicht  von  dem 
Menschen  aus  zu  verstehen,  so  können  wir  sagen,  daß  in  dieser  Lehre  Piatos 
der  Gedanke  zum  Ausdruck  gelangt,  daß  das  Leben  dem  Ideal  nicht  entspreche. 
Von  einem  Widerstreit  zwischen  Ideal  und  Leben  geht  diese  Philosophie  aus. 
Die  sittliche  Forderung  erleben  wir  in  uns  und  übertragen  sie  auf  die  Wirk- 
lichkeit, und  je  stärker  sie  in  uns  ist,  desto  mehr  verlangen  wir,  daß  die  Wirk- 
lichkeit sich  ihr  füge ;  das  Sein  erhält  erst  einen  Sinn,  wenn  es  als  ein  Ausdruck 
des  Sittlichen  erfaßt  wird.  Wie  PL  die  Harmonie  im  Innenleben  des  Philo- 
sophen übertragen  wissen  -will  auf  die  Verfassung  des  Staates,  so  will  er  das 
Gute  verwirklicht  finden  in  der  Welt  des  Seins.  Doch  hier  ist  der  Philosoph 
nicht  Führer  wie  dort,  sondern  ahnungsvoll  naht  er  sich  der  höchsten  Idee, 
deren  Gewißheit  er  aus  der  Sicherheit  seiner  eigenen  sittlichen  Vollendung 
gewinnt. 

Manches  ungelöste  Problem  enthält  diese  Lehre  Piatos.  Wir  wiesen  auf 
die  nahe  Beziehung  hin,  in  welche  die  Idee  des  Guten  mit  dem  Gedanken  der 
Gottheit  tritt.  Wird  diese  als  Persönlichkeit  gefaßt,  so  entsteht  das  Problem 
der  Vereinigung  beider  Gedanken.  —  Eine  weitere  Schwierigkeit  liegt  in  der 
Frage,  inwieweit  sich  das  Gute  in  der  Welt  des  Seins  verwirkHche.  Die  Idee 
des  Guten  ist  die  höchste  der  Ideen,  diese  sind  nach  ihr  geordnet.  So  ist  sie 
also  mit  diesen  Ideen  zugleich  selbst  eine  Idee.  Aus  unserem  Lesestück  er- 
fahren wir  aber,  daß  sie  nicht  selbst  das  Sein  ist,  sondern  über  dem  Sein  steht, 
das  heißt  also,  daß  sie  nicht  ganz  in  der  Ideenwelt  verwirklicht  ist,  zu  einem 
Teil  außer  ihr  steht.  Dadurch  entsteht  die  Möglichkeit,  daß  die  Idee  des 
Guten  sich  weiter  verwirkliche.  Wir  würden  so  zu  dem  Gedanken  der  Ent- 
wicklung gelangen.  Der  Weltprozeß  würde  sich  uns  darstellen  als  eine  immer 
größere  Verwirklichung  des  Guten.  ^ 

13  3.  Die  Begriffe:  „dialektisches"  Vermögen  und  „dialektische"  Wissen- 
schaft (13  13)  haben  sich  gebildet  im  Anschluß  an  die  Methode  des  Sokrates, 
im  Gespräch  (^'.aXe^s^ö-at)  Begriffe  zu  entwickeln.  ]Mit  dieser  Methode  wird 
dann  auch  die  Lehre  Piatos  selbst  bezeichnet,  wenn  man  von  Dialektik  =  Ideen- 
lehre spncht.  .  jM  e  n  z  e  r. 


II. 
Aristoteles. 


Vom  Schluß. 

Ein  Schluß  ist  eine  Gedankendarstellung,  in  der,  wenn  einiges  ge- 
setzt ist,  etwas  anderes,  von  dem  Gesetzten  Verschiedenes  sich  mit 
Notwendigkeit  ergibt,  und  zwar  aus  eben  dem  Grunde,  weil  das  Ge- 
setzte stattfindet.  Der  Ausdruck  „weil  das  Gesetzte  stattfindet"  be- 
deutet so  viel  wie:  daß  das  eine  die  Folge  des  anderen  ist.  Dies  aber  s 
bedeutet:  es  bedarf  keines  von  außen  her  dazu  genommenen  Begriffes, 
um  die  Folgerung  zu  einer  notwendigen  zu  machen. 

Wenn  man  sagt ,  etwa«  sei  in  einem  anderen  als  Teil  im  Ganzen 
enthalten  oder  es  sei  ein  Prädikat  von  allen  einzelnen  Exemplaren  eines 
Begriffs,  so  ist  beides  gleichbedeutend.  Etwas  wird  von  allen  ausgesagt,  lo 
sobald  keins  von  den  in  dem  betreffenden  Begriff  enthaltenen  Einzelnen 
aufgezeigt  werden  kann,  von  dem  das  Ausgesagte  nicht  gälte;  und 
sobald  gesagt  wird,  etwas  komme  keinem  als  Prädikat  zu,  so  hat  das  die 
entsprechende  gleiche  Bedeutung. 

Wenn  drei  Begriffe  sich  so  zueinander  verhalten,  daß  der  letzte  im    is 
Umfang  des  mittleren  hegt  und  der  mittlere  im  Umfang  des  ersten 
liegt  oder  nicht  hegt,  so  ergibt  sich  —  mit  dem  Charakter  der  Notwendig- 
keit —  ein  vollkommener  Schluß,  der  die  beiden  äußeren  Begriffe  ver- 
bindet.   Ich  nenne  Mittelbegriff  denjenigen,  der  dem  Umfang  nach  dem 
einen  untergeordnet  und  dem  anderen  übergeordnet  ist  und  der  auch   20 
seiner  Stellung  nach  der  mittlere  wird;   äußere   Begriffe  aber  einmal 
denjenigen,  der  in  einem  anderen  enthalten  ist,  sodann  denjenigen,  der 
selbst  einen  anderen  enthält.     Denn  wenn  A  von  dem  ganzen  B  und 
B  von  dem  ganzen  C  ausgesagt  wird,  so  muß  notwendig  A  von  dem 
ganzen  C  ausgesagt  werden.     Was  das  „von  einem  Ganzen  ausgesagt   25 
werden"  bedeutet,  habe  ich  bereits  oben  gesagt.     Ebenso,  wenn  A  von 
keinem  B  und  B  von  allen  C  ausgesagt  wird,  so  wird  A  in  keinem  C  ent- 
halten sein.     Wenn  aber  der   erste  Begriff  allgemein   ein  Prädikat  des 
mittleren,  der  Mittelbegriff  aber  kein  Prädikat  des  letzten  ist,  so  wird 


Von  der  Wissenschaft.  21 


sich  für  die  beiden  äußeren  Begriffe  kein  Schluß  ergeben,  weil  so  keine 
notwendige  Folgerung  zu  stände  kommt.  Denn  der  erste  Begriff  kann 
dann  ebensogut  in  allen  einzelnen,  wie  in  keinem  einzelnen  des  letzten 
Begriffes  enthalten  sein;  es  ergibt  sich  also  weder  ein  partikularer  noch 

5  ein  allgemeiner  Schlußsatz  mit  Notwendigkeit,  und  wenn  sich  nicht-s 
notwendig  daraus  ergibt,  so  ist  es  auch  kein  Schluß.  Für  den  Fall, 
wo  der  erste  Begriff  im  ganzen  letzten  enthalten  ist,  können  als  Beispiel 
dienen  die  Begriffe :  Lebewesen,  Mensch,  Pferd ;  und  für  den  Fall,  wo  er 
nicht  im  letzten  enthalten  ist:  Lebewesen,  Mensch,  Stein.   Auch  dann, 

10  wenn  der  erste  Begriff  nicht  in  dem  mittleren  und  der  mittlere  nicht  in 
dem  letzten  enthalten  ist,  gibt  es  keinen  Schluß.  Die  Begriffe  für  einen 
bejahenden  Schlußsatz  seien:  Wissenschaft,  Linie,  Arzneikunde;  für 
einen  verneinenden:  Wissenschaft,  Linie,  Eins.  Wird  demnach  von  den 
Begriffen  etwas  allgemein  ausgesagt,  so  ist  klar,  wann  sich  in  dieser 

15  Figur  ein  Schluß  daraus  ziehen  läßt  und  wann  nicht,  ferner:  wenn  ein 
Schluß  sich  soll  vollziehen  lassen,  so  müssen  sich  die  Begriffe  in  der  an- 
gegebenen Weise  zueinander  verhalten,  und  wenn  sie  sich  so  verhalten, 
muß  ein  Schluß  vorhanden  sein. 

Wird  von  dem  einen  Begriff  etwas  allgemein,  von  dem  anderen  aber 

20  nur  partikular  in  Bezug  auf  den  dritten  ausgesagt,  so  ist  es  dann  not- 
wendig ein  vollkommener  Schluß,  wenn  das  Allgemeine  dem  weiteren 
Begriff,  sei  es  beigelegt,  sei  es  abgesprochen,  und  das  Partikulare  dem 
engeren  Begriff  beigelegt  ^\ärd ;  wird  dagegen  das  Allgemeine  dem  engeren 
Begriff  beigelegt,   oder   verhalten   sich  die   Begriffe   überhaupt  anders 

25  zueinander,  so  ist  ein  Schluß  unmöglich.  Den  weiteren  Begriff  nenne 
ich  den,  in  dessen  Umfang  der  mittlere  hegt,  und  den  engeren  Begriff 
den,  welcher  dem  mittleren  untergeordnet  ist.  Es  sei  also  A  in  dem 
ganzen  B  und  B  in  einigen  C  enthalten,  so  muß  demgemäß,  wenn  das 
.,von  allen  ausgesagt  werden"  den  zu  Anfang  genannten  Sinn  hat,  A  in 

30  einigen  C  enthalten  sein ;  und  wenn  A  in  keinem  B  enthalten  ist,  aber  B  in 
einigen  C,  so  muß  A  in  einigen  C  nicht  enthalten  sein;  denn  wie  das  „in 
keinem  enthalten  sein"  zu  verstehen  ist,  habe  ich  gleichfalls  bestimmt. 
Es  ^\ärd  also  auch  hier  ein  vollständiger  Schluß  vollziehbar  sein. 


Von  der  Wissenschaft. 

Der  Drang  nach  Erkenntnis  ist   allen  Menschen   eingeboren.     Das 

35   zeigt  sich  schon  in  der  Freude  am  sinnlichen  Wahrnehmen.     Dieses 

näniHch  wird  auch  abgesehen  von  Nutzen  und  Bedürfnis  um  seiner 


22  Aristoteles. 

selbst  willen  geschätzt,  und  am  meisten  von  allem  das  Wahrnehmen 
durch  den  Gesichtssinn.  Denn  nicht  nur  zu  praktischem  Zweck,  sondern 
auch  ohne  jede  derartige  Rücksicht  haben  wir  die  Gesichts  wahr  nehmung 
im  großen  ganzen  Heber  als  jede  andere,  und  zwar  deshalb,  weil  gerade 
sie  den  Gegenstand  am  deutlichsten  erkennen  läßt  und  zahlreiche  unter-  5 
schiedene  Beschafienheiten  an  ihm  enthüllt. 

Von  Natur  haben  die  lebenden  Wesen  Wahrnehmungsvermögen. 
Nun  bleibt  von  der  Wahrnehmung  einigen  unter  ihnen  keine  dauernde 
Erinnerung  zurück,  anderen  dagegen  wohl.  Diese  sind  deshalb  die 
intelhgenteren  und  gelehrigeren  im  Vergleich  mit  denen,  die  sich  nicht  lo 
zu  erinnern  vermögen.  Geschickt,  aber  unfähig  hinzuzulernen  sind 
diejenigen,  die  die  Töne  nicht  hören  können,  wie  die  Bienen  und  etwaige 
andere  Gattungen,  die  diese  Eigenschaft  teilen.  Diejenigen  indessen, 
bei  denen  zur  Erinnerung  auch  noch  diese  Art  von  Wahrnehmungen 
hinzutritt,  haben  damit  auch  die  Fähigkeit  zu  lernen.  Während  die  is 
anderen  Arten  von  Lebewesen  in  bildlichen  Vorstellungen  und  Erinne- 
rungen leben  und  nur  in  geringem  Maß  Erfahrungen  machen,  besitzt 
das  Menschengeschlecht  hingegen  bewußte  Kunst  und  Überlegung. 
Aus  der  Erinnerung  erwächst  den  Menschen  die  Erfahrung:  vielfache 
Erinnerung  an  einen  und  denselben  Gegenstand  erlangt  nämlich  die  20 
Bedeutung  einer  einheitlichen  Erfahrung.  Die  Erfahrung  scheint  eine 
Art  Verwandtschaft  mit  Wissenschaft  und  Kunst  zu  haben,  wenigstens 
bildet  sich  vermittels  der  Erfahrung  beim  Menschen  Wissenschaft  und 
Kunst.  Denn,  wie  Bolus  ganz  richtig  bemerkt:  Erfahrung  hat  die  be- 
wußte Kunst  erzeugt,  Mangel  an  Erfahrung  gibt  dem  Zufall  preis.         23 

Bewußte  Kunst  (Theorie)  entsteht,  wo  auf  Grund  wiederholter 
erfahrungsmäßiger  Eindrücke  sich  eine  Auffassung  gleichartiger  Fälle 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  Allgemeinen  bildet.  Wenn  wir  die 
Ansicht  gewannen,  daß  dem  an  dieser  bestimmten  Krankheit  leidenden 
Kallias  dies  bestimmte  Mittel  zuträglich  war,  und  dem  Sokrates  auch,  so 
und  noch  vielen  anderen  Einzelnen,  so  machen  wir  eine  Erfahrung. 
Der  Satz  aber,  daß  allen  unter  diese  Bestimmung  Fallenden  und  be- 
grifflich zu  einer  Gattung  Gehörigen  bei  einer  bestimmten  Krankheit, 
zum  Beispiel  Verschleimung  oder  Gallensucht  oder  hitzigem  Fieber, 
eben  dasselbe  geholfen  hat,  dieser  Satz  gehört  zur  Kunst,  bildet  eine  35 
Theorie. 

Für  praktische  Zwecke  scheint  die  Theorie  sich  nicht  vorteilhaft 
von  der  Erfahrung  zu  unterscheiden.     Vielmehr  sehen  wir,   daß  die 
Empiriker  wohl  noch  häufiger  das  Richtige  treffen  als  diejenigen,  die  im 
Besitze  der  Theorie  sind,  aber  keine  praktische  Erfahrung  haben.    Der   40 
Grund  ist,   daß   die   Erfahrung  Kenntnis  des  Einzelnen,   die  Theorie 


Von  der  Wissenschaft.  23 


Kenntnis  des  Allgemeinen  ist,  und  daß  alles  praktische  Handeln  und 
Hervorbringen  es  mit  dem  Einzelnen  zu  tun  hat.  Denn  die  heilende 
Tätigkeit  des  Arztes  bezieht  sich  nicht  etwa  auf  den  Menschen  als  solchen 
(oder  höchstens    insofern    man  von    dem  Einzelfall  absieht  und  sich 

5  allgemein  ausdrückt),  sondern  auf  den  Kallias  oder  Sokrates  oder  irgend 
ein  anderes  Individuum,  das  allerdings  auch  unter  den  BegriS  ,, Mensch" 
fällt.  Hat  also  jemand  die  Begriffe,  ohne  die  Erfahrung,  kennt  er  nur  das 
Allgemeine,  aber  nicht  das  darunter  fallende  Einzelne,  so  wird  er  in  der 
Praxis  oftmals  fehlgehen.    Der  Gegenstand  der  Praxis  ist  das  Einzelne. 

10  Dennoch  urteilt  man,  daß  in  der  Theorie  mehr  Erkenntnis  und 
höheres  praktisches  Verstehen  enthalten  ist  als  in  der  Erfahrung,  und 
hält  die  Theoretiker  für  einsichtsvoller  als  die  Praktiker,  sofern  Einsicht 
jedem  in  höherem  Maße  eigen  ist,  je  nachdem  der  Grad  seiner  Erkenntnis 
ein  höherer  ist.    Und  zwar  deshalb,  weil  jene  den  ursächlichen  Zusammen- 

15  hang  verstehen,  diese  nicht.  Denn  die  Praktiker  kennen  wohl  das  Daß, 
aber  nicht  das  Warum;  die  Theoretiker  jedoch  kennen  das  Warum  und 
den  ursächhchen  Zusammenhang.  So  stellen  wir  den  Arbeitsleiter 
höher  und  trauen  ihm  eine  größere  und  vertieftere  Erkenntnis  auch  des 
Einzelnen  zu  als  dem  Arbeiter,  weil  jener  die  Gründe  dafür  kennt,  daß 

20  etwas  Bestimmtes  geschieht,  während  dieser  den  unbeseelten  Wesen 
gleicht,  die  zwar  tätig  sind,  aber  nicht  wissen,  was  sie  tun  —  ^vie  das 
Feuer,  das  da  brennt,  ohne  es  zu  wissen.  Die  unbeseelten  Wesen  sind  — 
jedes  nach  seiner  Art  —  tätig  auf  Grund  natürhcher  Anlage;  jene  Arbeiter 
sind  tätig  auf  Grund  ihrer  Übung.    Höhere  Einsicht  besitzt  der  Arbeits- 

25  leiter  nicht  in  dem  Maße,  wie  er  in  den  einzelnen  Verrichtungen  geübt 
ist,  sondern  in  dem  Maße,  wie  er  die  Theorie  beherrscht  und  die  ur- 
sächhchen Zusammenhänge  kennt.  Schließlich  ist  dies  das  Kennzeichen 
des  Wissenden,  daß  er  lehren  kann;  deshalb  glauben  wir,  daß  die  Theorie 
in  höherem  Grade  Wissenschaft  sei  als  die  Erfahrung.    Denn  jene  vermag 

30   andere  zu  belehren,  diese  nicht. 

Sinnliche  Wahrnehmungen  als  solche  betrachten  wir  noch  nicht  als 
Wissenschaft.  Freilich  sind  sie  die  trefflichste  Kenntnis  des  Einzelnen, 
aber  bei  keinem  Gegenstande  geben  sie  eine  Einsicht  in  die  Ursache; 
so  lehren  sie  beispielsweise  nicht,  warum  das  Feuer  wärmt,  sondern  nur, 

35  daß  es  wärmt.  Es  ist  daher  zunächst  begreifhch,  daß  der,  der  über  die 
jedermann  geläufigen  Wahrnehmungen  hinaus  ein  praktisches  Ver- 
fahren erfand,  von  den  Menschen  bewundert  wurde;  nicht  nur,  weil 
seine  Erfindung  brauchbar  war,  sondern  auch,  weil  er  emsichtsvoll  war 
und  unter  den  anderen  hervorragte.    Wenn  nun  eine  Mehrzahl  von  solchen 

40  Verfahrungsweisen  erfunden  war,  von  denen  die  einen  dem  Bedürfnis, 
die  anderen  dem  Zeitvertreib  dienten,  so  galten  —  wie  durchaus  be- 


24  Aristoteles. 

greiflich  —  die  Erfinder  dieser  letzten  für  die  geistig  Bedeutenderen, 
weil  ihr  Wissen  nicht  dem  bloßen  Bedürfnis  diente.  Und  so  sind  denn 
erst,  nachdem  alles  derartige  zu  stände  gekommen  war,  die  reinen 
Erkenntnisse  aufgefunden  worden,  die  nicht  zur  Ergötzung  und  auch 
nicht  für  die  Notdurft  des  Lebens  da  sind.  Das  geschah  zuerst  an  5 
solchen  Orten,  wo  man  der  Muße  genoß.  Deshalb  ist  die  mathematische 
Theorie  zuerst  in  Ägypten  ausgebildet  worden,  denn  dort  war  der  Priester- 
kaste Muße  vergönnt. 

In  unserer  „Ethik"  haben  wir  den  Unterschied  zwischen  praktischer 
Disziplin,  Wissenschaft  und  den  anderen  verwandten  Begriffen  näher  10 
bestimmt.  Unsere  Untersuchung  hier  hat  den  Zweck  zu  zeigen,  daß 
nach  allgemeiner  Ansicht  das,  was  man  wirkliche  Wissenschaft  nennt, 
auf  die  letzten  Gründe  und  Prinzipien  geht.  Hiernach  schreibt  man, 
\vie  wir  vorher  dargelegt  haben,  dem  Praktiker  ein  höheres  Maß  von 
Wissenschaft  zu  als  denen,  die  nur  irgendwelche  Sinnes  Wahrnehmungen  15 
gemacht  haben,  ein  höheres  Maß  dem  Theoretiker  als  dem  Praktiker, 
dem  Arbeitsleiter  als  dem  Arbeiter,  der  reinen  Theorie  ein  höheres 
Maß  als  dem  angewandten  Wissen.  Daraus  wird  ersichtlich ,  daß 
Wissenschaft  die  Erkenntnis  von  gewissen  Ursachen  und  Prinzipien  ist. 


Vom  Denken  des  Denkens. 


20 


Schwierigkeiten  bietet  die  Frage,  die  das  Denken  als  Tätigkeit  des 
absoluten  Wesens  betrifft.  Unter  dem,  was  uns  an  Gott  entgegentritt, 
scheint  das  eigentlich  Göttliche  die  denkende  Vernunft  zu  sein;  indessen 
hat  es  seine  Dunkelheiten,  wie  die  Vernunft,  um  diesen  Eang  zu  be- 
haupten, sich  verhält.  Denn  denkt  sie  nicht  wirklich,  was  wäre  dann  an 
ihr  so  Verehrungs würdiges?  Es  wäre  ebensogut  als  ob  sie  schliefe.  25 
Denkt  sie  aber  wirklich,  doch  so,  daß  ein  anderes,  ein  fremder  Seelenteil, 
Macht  über  sie  hätte  (in  diesem  Falle  wäre  das,  was  ihre  Substanz  aus- 
macht, nicht  wirkliches  Denken,  sondern  ein  bloßes  Vermögen) :  so  wäre 
sie  nicht  das  Höchste,  das  Absolute;  das  reine  Denken  nämlich  ist  es, 
durch  das  ihr  dieser  Rang  zukommt.  Aber  weiter.  Das  Vernunft-  30 
vermögen  bilde  ihre  Substanz  oder  die  wirkliche  Tätigkeit  des 
Denkens  mache  ihr  Wesen  aus:  welches  Objekt  denkt  sie?  Das  Objekt 
des  Denkens  kann  entweder  sie  selbst  oder  etwas  anderes  sein,  und 
wenn  etwas  anderes,  entweder  immer  dasselbe  oder  abwechselnd  bald 
dieses,  bald  jenes.  Macht  es  nun  nicht  einen  bedeutenden  Unterschied,  .^5 
ob  das,  was  sie  denkt,  etwas  Wertvolles  oder  etwas  Behebiges  ist?    Oder 


Das  Wesen  der  Tugend.  25 


wäre  es  nicht  geradezu  widersinnig,  gewisse  Gegenstände  als  Objekte 
ihres  Denkens  auch  nur  zu  vermuten?  Offenbar  ist  doch  so  viel,  daß 
das  Objekt  ihres  Denkens  das  Göttlichste  und  Herrlichste  sein  muß, 
und  ferner,  daß  dies  Objekt  keinem  Wechsel  unterhegt.     Denn  jeder 

5   Wechsel  müßte  den  Übergang  zu  etwas  weniger  Wertvollem  bedeuten, 

und  es  wäre  damit  überdies  in  das  Absolute  eine  Bewegung  gesetzt. 

Wir  haben  also  folgendes.     Zunächst,  wenn  die  absolute  Vernunft 

nicht  wirkliches  Denken,   sondern  ein  bloßes  Vermögen  des  Denkens 

wäre,  so  würde  darin  die  Annahme  liegen,  daß  ein  unausgesetztes  Denken 

10  für  sie  eine  allzu  mühevolle  Anstrengung  bilde.  Zweitens  aber:  es  gäbe 
dann  offenbar  ein  anderes,  was  an  Wert  über  der  Vernunft  stünde, 
nämlich  das  Objekt  des  Denkens.  Denn  ein  Gedanke  und  eine  Denk- 
tätigkeit kommt  auch  dem  zu,  der  das  Wertloseste  denkt.  Ist  es  nun 
Pflicht,  gewisse  Gegenstände  lieber  nicht  zu  denken  —  vde  es  ja  von  so 

15  manchen  Dingen  gilt,  daß  sie  nicht  zu  sehen  besser  ist,  als  sie  zu  sehen  — 
so  ergibt  sich,  daß  nicht  das  Denken  als  solches  schon,  sondern  erst  das 
Denken  des  Besten  das  Höchste  ist.  Daraus  folgt:  die  Vernunft,  da  sie 
doch  das  Herrlichste  ist,  denkt  sich  selbst,  und  ihr  Denken  ist  ein  Denken 
des  Denkens. 


20 


30 


Das  Wesen  der  Tugend. 


Wir  wollen  nunmehr  untersuchen,  was  die  Tugend  ist.  Da,  was 
in  der  Seele  vorkommt,  von  dreierlei  Art  ist:  Affekte,  Vermögen,  Be- 
schaffenheiten, so  wird  die  Tugend  wohl  zu  einer  dieser  Klassen  gehören. 
Unter  Affekten  verstehe  ich  Begierde,  Zorn,  Furcht,  Mut,  Neid,  Freude, 
Liebe,  Haß,  Sehnsucht,  Eifersucht,  Mitleid,  überhaupt  das,  was  von 
25  Lust  oder  Unlust  begleitet  ist;  unter  Vermögen  das,  wodurch  wir  für 
solche  Affekte  empfänglich,  also  z.  B.  fähig  sind,  in  Zorn,  Unlust,  Mitleid 
zu  geraten;  unter  Gemütsrichtung  das,  vermöge  dessen  wir  uns  den 
Affekten  gegenüber  richtig  oder  falsch  verhalten:  beispielsweise  ist 
zorniger  Erregung  gegenüber  das  Verhalten  falsch,  wenn  es  ungestüm 
und  maßlos  ist,  hingegen  richtig,  wenn  es  das  Maß  innehält,  und 
dasselbe  gilt  von  den  anderen  Affekten.- 

Zu  den  Affekten  nun  gehören  weder  Tugenden  noch  Untugenden, 
denn  nicht  mit  Rücksicht  auf  die  Affekte  nennt  man  uns  ehrenwert 
oder  verwerfhch,  wohl  aber  mit  Rücksicht  auf  unsere  Tugenden  und 
Untugenden.  Gelobt  und  getadelt  werden  wir  nicht  auf  Grund  unserer 
Affekte  —  denn  man  lobt  weder  den  Furchtsamen  noch  den  Zornigen, 
und  man  tadelt  auch  nicht  den,  der  zornig  ist,  ohne  weiteres,  sondern 


26  Aristoteles. 


den,  der  es  in  gewisser  Weise  ist  — ,  vielmehr  lobt  oder  tadelt  man  uns 
wegen  unserer  Tugenden  und  Untugenden.  Ferner :  in  Zorn  und  Furcht 
geraten  wir  un vorsätzlich ,  die  Tugenden  aber  tragen  den  Charakter 
der  Vorsätzlichkeit  oder  sind  doch  nicht  ohne  sie.  Außerdem  spricht 
man  in  Bezug  auf  die  Affekte  von  Erregung,  dagegen  bei  Tugenden  5 
und  Untugenden  nicht  von  Erregung,  sondern  von  einer  Gesinnungs- 
weise. Eben  deshalb  sind  sie  auch  keine  bloßen  Vermögen;  denn  man 
nennt  uns  brav  oder  schlecht,  man  lobt  oder  tadelt  uns  nicht  ohne 
weiteres,  weil  wir  das  Vermögen  haben  affiziert  zu  werden.  Und  end- 
lich, das  Vermögen  haben  wir  von  Natur,  aber  gut  oder  schlecht  sind  lo 
wir  nicht  von  Natur  —  darüber  haben  wir  schon  oben  gesprochen. 
Wenn  sonach  die  Tugenden  weder  Affekte  noch  Vermögen  sind,  so 
bleibt  nur  übrig ,  daß  sie  Gemütsrichtungen  sind ,  und  damit  wäre 
denn  bezeichnet,  was  die  Tugend  ihrer  Gattung  nach  ist. 

Es  gilt  aber  nicht  bloß  zu  sagen,  daß  sie  eine  Gemütsrichtung  ist,   is 
sondern  auch  was  für  eine.    Da  ist  nun  festzustellen,  daß  jegliche  Tugend 
oder  Tüchtigkeit  den  Gegenstand  selbst,  dessen  Tugend  sie  ist,   als  in 
rechter  Verfassung  befindlich  darstellt  und  auch  seine  Betätigung  als 
die  rechte  kennzeichnet.     So  macht  die  Tüchtigkeit  eines  Auges  das 
Auge  wertvoll  und  seine  Leistung   auch,    denn  vermöge  der  Tüchtig-   20 
keit   des  Auges   sehen  wir  gut.     Ebenso  macht  die   Tüchtigkeit   des 
Pferdes  das  Pferd  zu  einem  brauchbaren,  so  daß  es  wacker  läuft,  den 
Reiter  trägt  und  den  Feinden  gegenüber  standhält.    Wenn  sich  das  nun 
bei  allen  Dingen  so  verhält,  so  wird  des  Menschen  Tugend  diejenige 
Beschaffenheit  sein,    vermittels  deren    er  ein  guter  Mensch  wird  und   25 
seine  Betätigung  in  rechter  Weise  vollzieht.    Wie  dies  geschieht,  haben 
wir  bereits  dargelegt ;  es  wird  aber  auch  dann  ersichtlich  werden,  wenn  wir 
näher  ins  Auge  fassen,  was  die  eigentliche  Natur  der  Tugend  ausmacht. 

Bei  jedem  ausgedehnten  und  teilbaren  Dinge  kann  man  ein  Zuviel, 
ein  Zuwenig  und  ein  rechtes  Maß  erkennen,  und  zwar  entweder  was  die   30 
Sache  selbst  oder  was  die  Beziehung  auf  uns  betrifft.  Das  rechte  Maß  ist 
hier  die  Mitte  zwischen  dem  Zuviel  und  Zuwenig.    Unter  der  Mitte  eines 
Gegenstandes  aber  verstehe  ich  das,  was  von  jedem  der  beiden  Enden 
gleichen  Abstand  hat,  und  das  gilt  für  alle  Dinge  in  einem  und  demselben 
Sinn.    In  Beziehung  auf  uns  aber  ist  das,  was  weder  zuviel  noch  zuwenig   35 
ist,  nicht  bei  allen  ein  und  dasselbe.     Gesetzt,  zehn  wäre  viel,  zwei  aber 
wenig;  alsdann  erkennen  wir,  was  den  Gegenstand  selbst  betrifft,  die 
Sechs  als  die  Mitte,  weil  sie  um  ebenso  viel  die  eine  Zahl  übertrifft  wie 
sie  von  der  anderen  übertroffen  wird,  und  das  bedeutet  Mitte  im  Sinne 
eines  arithmetischen  Verhältnisses.    Dagegen  darf  man  es  nicht  so  fassen,    40 
was  die  Beziehung  auf  uns  betrifft.    Wenn  nämlich  zehn  Pfund  zu  essen 


Das  Wesen  der  Tugend.  27 


für  jemand  zu  viel,  zwei  aber  zu  wenig  ist,  so  wird  ihm  der  Leiter  der 
athletischen  Übungen  nicht  etwa  sechs  Pfund  vorschreiben;  möglicher- 
weise ist  ja  auch  dies  noch  für  den,  der  es  bekommen  soll,  zu  viel  oder 
zu  wenig  —  für  einen  Milo  wäre  es  zu  wenig,  für  den  Anfänger  in  den 

5  Übungen  zu  \'iel.  Das  gleiche  gilt  für  den  Wettlauf  und  den  Ringkampf. 
So  meidet  jeder  einsichtsvolle  Mensch  das  Zuviel  und  das  Zuwenig,  er 
sucht  die  Mitte  und  wählt  sie,  aber  nicht  die  Mitte  des  Gegenstandes, 
sondern  das  Mittlere  in  Bezug  auf  ihn. 

Wenn  demnach  alle  vernünftige  Einsicht  ihre  Betätigung  richtig  so 

10  vollzieht,  daß  sie  sich  nach  der  Mitte  umtut  und  ihre  Wirksamkeit  auf 
sie  einrichtet  (weshalb  man  gut  ausgeführten  Leistungen  das  Prädikat 
erteilt,  man  dürfe  weder  etwas  davon  wegnehmen  noch  etwas  hinzu- 
fügen, nämhch  in  dem  Sinne,  daß  ein  Zu\^el  wie  ein  Zuwenig  dies  glück- 
Uche  Maß  zerstört,  die  Mitte  aber  es  innehält) ;  wenn  ferner  die  tüchtigen 

15  Sportsleute,  wie  wir  besprochen  haben,  bei  ihrer  Arbeit  auf  diese  Mitte 
ihr  Augenmerk  richten;  wenn  schheßlich  die  Tugend  noch  peinlicher 
und  sorgsamer  verfährt  als  jede  Art  von  fachmännischer  Wirksamkeit  — 
so  ergibt  sich,  daß  die  Tugend,  gerade  wie  die  Natur,  die  rechte  Mitte 
zu  treffen  suchen  \^^rd. 

20  Wovon  ich  spreche,  das  ist  die  Tugend  als  ethische,  denn  sie  hat  es 
mit  Affekten  und  Betätigungen  zu  tun,  und  bei  diesen  gibt  es  ein  Zuviel, 
ein  Zuwenig  und  eine  rechte  Mitte.  So  gibt  es  bei  der  Furcht  und  bei 
der  Kühnheit,  beim  Begehren  und  Zürnen  und  Sicherbarmen  und  über- 
haupt bei  aller  Lust  und  Unlust  ein  Zuviel  und  ein  Zuwenig,  und  beides 

25  ist  nicht  das  Rechte.  Hingegen  solches  zu  empfinden  zu  der  Zeit,  aus 
dem  Grunde,  der  Person  gegenüber,  zu  dem  Zwecke  und  in  der  Weise, 
wie  es  geboten  ist,  das  ist  die  rechte  Mitte  und  das  Beste,  wie  es  im 
Sinn  der  Tugend  hegt.  Ebenso  gibt  es  bei  den  Handlungen  ein  Zuviel, 
ein  Zuwenig  und   ein  Mittleres.     Um   Affekte  und  Handlungen  aber 

30  dreht  es  sich  bei  der  Tugend,  und  hier  ist  das  Zu\'iel  ein  Fehler,  das 
Zuwenig  ein  Vorwurf,  die  rechte  Mitte  jedoch  das  Lobenswerte  und  Ge- 
glückte; und  diese  beiden  Prädikate  gebühren  der  Tugend.  Mithin 
ist  die  Tugend  ein  Innehalten  der  rechten  Mitte,  wenigstens  setzt  sie 
sich  die  rechte  Mitte  zum  Ziel.    Ferner  kann  das  Verfehlen  auf  vielfache 

35  Weise  geschehen  (denn  das  Schlechte  hat  die  Natur  des  Grenzenlosen, 
wie  schon  die  Pythagoreer  meinten,  das  Gute  dagegen  die  Natur  des 
Begrenzten),  während  das  rechte  Handeln  eingestaltig  ist.  Darum  ist 
jenes  leicht,  dieses  schwer:  leicht  ist  es,  das  Ziel  zu  verfehlen,  schwer, 
es  zu  treffen.     Und  deswegen  macht  das  Zuviel  und  das  Zuwenig  den 

40  Charakter  der  Untugend,  dagegen  die  rechte  Mitte  den  der  Tugend  aus. 
„Redhche  sind  von  einerlei  Art,  Schlechte  von  vielerlei  Art". 


28  Aristoteles. 


Mithin  heißt  Tugend  die  vorsätzHche  (d.  h.  zur  Fertigkeit  der  Selbst- 
entscheidung gewordene)  Beschaffenheit,  die  die  jedesmal  für  das  Sub- 
jekt angemessene  Mitte  einhält,  die  ihrerseits  genau  bestimmt  ist  durch 
vernünftige  Überlegung  und  die  Entscheidung,  wie  sie  das  Urteil  des 
Einsichtigen  treffen  würde.  Die  Mitte  liegt  zwischen  zwei  Untugenden,  5 
von  denen  die  eine  ein  Überschreiten,  die  andere  ein  Zurückbleiben 
bedeutet,  und  besonders  in  dem  Sinne,  daß  das  Verfehlen  das  eine  Mal 
ein  Nichterreichen,  das  andere  Mal  ein  Hinausgehen  über  das  Pflicht- 
mäßige in  Affekten  wie  in  Handlungen  bedeutet,  die  Tugend  aber  die 
rechte  Mitte  findet  und  wählt.  Ihrem  Wesen  und  dem  Begriffe  nach,  10 
der  das  bleibende,  gestaltende  Prinzip  bezeichnet,  ist  also  die  Tugend 
ein  mittleres  Verhalten;  fragt  man  aber  nach  dem  Wert  und  nach  dem 
Guten,  so  bezeichnet  sie  ein  Äußerstes. 

Nicht  jede  Betätigung  freilich  und  nicht  jeder  Affekt  läßt  ein  Mittleres 
zu.  Denn  einige  von  ihnen  haben  ihre  Namen  in  unmittelbarer  Ver-  15 
knüpfung  mit  der  Verwerflichkeit  erhalten:  so  die  Schadenfreude,  die 
Schamlosigkeit,  der  Neid  und  von  den  Handlungen  Ehebruch,  Dieb- 
stahl, Mord.  Alles  dieses  und  dem  ähnliches  tadelt  man,  weil  es  an  sich 
verwerflich  ist,  aber  nicht  weil  es  im  Übermaß  oder  im  Mindermaß  ge- 
schieht. Hier  gibt  es  denn  auch  niemals  ein  richtiges  Handeln,  sondern  20 
immer  nur  ein  Verfehlen,  und  bei  dergleichen  bestimmt  sich  das  richtige 
oder  falsche  Verhalten  nicht  danach,  mit  wem,  zu  welcher  Zeit  und  in 
welcher  Weise  man  etwa  Ehebruch  treiben  soll,  sondern  irgend  etwas 
derartiges  tun  ist  schon  ohne  weiteres  eine  Verfehlung.  Ebenso  wäre  es, 
wenn  man  bei  Gewalttat,  Feigheit  und  Zuchtlosigkeit  an  die  Existenz  25 
einer  Mitte,  eines  Überschreitens  und  eines  Zurückbleibens  glauben 
wollte;  denn  dann  würde  es  eine  rechte  Mitte  im  Übermaß  und  im 
Mindermaß,  ein  Übermaß  im  Übermaß  und  ein  Mindermaß  im  Minder- 
maß geben.  Aber  wie  Besonnenheit  und  Mannhaftigkeit  kein  Über- 
schreiten und  kein  Zurückbleiben  zulassen,  weil  hier  die  Mitte  gewisser-  30 
maßen  ein  Äußerstes  ist,  so  gibt  es  für  jenes  weder  eine  rechte  Mitte 
noch  ein  Überschreiten  oder  Zurückbleiben ;  sondern,  wie  auch  gehandelt 
werde,  es  ist  immer  ein  Verfehlen.  Denn  es  gibt  überhaupt  im  Übermaß 
und  im  Mindermaß  keine  rechte  Mitte,  und  ebensowenig  in  der  rechten 
Mitte  ein  Übermaß  und  ein  Mindermaß.  35 

Indessen,  es  gilt  nicht  bloß  diese  allgemeinen  Bestimmungen  auf- 
zustellen, sondern  sie  auch  den  einzelnen  Erscheinungen  anzupassen. 
Denn  in  Untersuchungen  über  Fragen  des  praktischen  Lebens  erweisen 
sich  die  allgemeinen  Grundsätze  als  verhältnismäßig  leer  und  die  be- 
sonderen Anwendungen  als  inhaltsvoller;  alle  Tätigkeit  bewegt  sich  ja  40 
in  den  Einzelheiten  der  Erscheinung  und  die  Aufgabe  ist,   daß  sie  mit 


über  die  Glückseligkeit.  29 


diesen   zusammenstimme.    Dies   nun   läßt   sich  nur  aus  einer  genauen 
Liste    entnehmen. 

Für   Furchtsamkeit   und   Kühnheit   bildet   die   Mannhaftigkeit   die 
rechte  Mitte.     Was  hier  die  Überschreitung  des  Maßes  anlangt,  so  gibt 

5  es  für  den,  der  an  Furcht  zu  wenig  hat,  keinen  besonderen  Ausdruck 
(vieles  hat  ja  keinen  Namen) ;  wer  hingegen  kühn  im  Übermaß  ist,  heißt 
verwegen,  und  wer  in  der  Furcht  zu  weit  geht  und  in  der  Kühnheit 
zurückbleibt,  heißt  feige.  —  Wo  es  sich  um  Freud  und  Leid  handelt, 
freihch  nicht  um  jede  Art  und  besonders  nicht  um  jede  Art  von  Leid, 

10  da  bildet  die  Besonnenheit  die  rechte  Mitte  und  die  Zuchtlosigkeit  das 
Überschreiten  des  Maßes.  Solche,  die  im  Genüsse  hinter  dem  Maß 
zurückbleiben,  kommen  nicht  gerade  häufig  vor.  Man  hat  deshalb  auch 
keinen  Ausdruck  dafür  geprägt ;  vielleicht  darf  man  sie  gefühllos  nennen. 
—  In  Geldsachen,  beim  Geben  und  Nehmen,  ist  Vornehmheit  die  rechte 

15  Mitte,  Verschwendungssucht  und  Knickerei  sind  das  Überschreiten 
des  Maßes  und  das  Zuwenigtun.  Beide  zeigen  ein  Übermaß  und  einen 
Mangel,  nur  in  entgegengesetzter  Eichtung.  Der  Verschwender  über- 
treibt das  Ausgeben  und  bleibt  im  Erwerben  zurück;  der  Knickrige 
geht  zu  weit  beim  Erwerben  und  nicht  weit  genug  beim  Ausgeben.    Für 

20  jetzt  bezeichnen  wir  das  nur  im  Umriß  und  ganz  im  allgemeinen,  indem 
wir  uns  hiermit  begnügen;  an  späterer  Stelle  werden  wir  genauere  Be- 
stimmungen geben.  Es  kommen  dem  Gelde  gegenüber  noch  andere 
Verhaltungsweisen  in  Betracht:  als  rechte  Älitte  die  Hochgesinntheit  — 
zwischen  dem  Hochgesinnten  und  dem  Vornehmen  besteht  der  Unter- 

25  schied,  daß  es  sich  bei  jenem  um  große,  bei  diesem  um  kleinere  Summen 
handelt  — ,  als  Überschreiten  des  Maßes  Protzentum  und  Plebejertum, 
als  Zurückbleiben  hinter  ihm  Unanständigkeit.  Es  besteht  zwischen 
diesen  Eigenschaften  und  den  bei  der  Vornehmheit  erwähnten  ein 
Unterschied;  wie  er  beschaffen  ist,  soll  später  dargelegt  werden. 


tiber  die  Glückseligkeit. 

30  Nachdem  über  die  Tugenden,  über  die  Freundschaft  und  über  die 
Arten  der  Lust  gesprochen  worden  ist,  bleibt  uns  noch  die  Aufgabe, 
im  Umriß  von  der  Glückseligkeit  zu  handeln,  da  mr  sie  als  den  End- 
zweck alles  menschhchen  Tuns  betrachten.  Unsere  Erörterung  wird 
kürzer  ausfallen  können,  wenn  wir  früher  Gesagtes  wieder  aufnehmen. 

35  Wir  haben  ausgemacht,  daß  die  Glückseligkeit  keine  ruhende  Beschaffen- 
heit ist.    Sonst  müßte  sie  auch  dem  beigelegt  werden,  der  sein  ganzes 


30  Aristoteles. 


Leben  verschläft  oder  das  Leben  einer  Pflanze  führt,  und  ebenso  dem, 
der  die  schwersten  Unglücksfälle  erleidet.  Wenn  nun  dem  kein  Mensch 
zustimmen  wird,  wenn  im  Gegenteil  die  GlückseUgkeit,  wie  früher  dar- 
gelegt worden  ist,  eher  in  eine  Axt  der  Betätigung  zu  setzen  ist,  und  wenn 
ferner  von  den  Arten  der  Betätigung  die  einen  notwendig  sind,  um  durch  5 
sie  anderes  zu  erreichen,  die  anderen  aber  an  und  für  sich  den  Gegenstand 
des  Wollens  bilden:  so  muß  man  die  Glücksehgkeit  offenbar  zu  den- 
jenigen Betätigungen  zählen,  die  um  ihrer  selbst  willen,  und  nicht  zu 
denen,  die  anderer  Zwecke  wegen  gewollt  werden.  Denn  die  Glück- 
sehgkeit braucht  nichts,  sie  ist  sich  selbst  genug.  10 

Nun  werden  an  und  für  sich  gewollt  diejenigen  Betätigungen,  bei 
denen  nichts  weiter  erstrebt  wird  als  die  Tätigkeit  selbst.  Solcher  Art 
sind  augenscheinlich  die  der  Tugend  entsprechenden  Handlungsweisen, 
denn  das  Edle  und  Würdige  zu  tun  gehört  zu  dem,  was  an  und  für  sich 
gewollt  werden  soll.  Dahin  zählen  auch  von  den  Spielen  diejenigen,  15 
die  Vergnügen  bereiten,  denn  man  sucht  sie  nicht  auf,  um  anderes  durch 
sie  zu  erreichen :  bringen  sie  doch  eher  eine  Schädigung  als  einen  Gewinn 
mit  sich,  weil  man  ihrethalben  wohl  auch  die  Sorge  für  Leib  und  Er- 
werb verabsäumt.  Gleichwohl  greifen  die  vom  Glück  Begünstigten 
meistenteils  zu  diesen  Arten  des  Zeitvertreibs,  und  die  in  solchen  Künsten  20 
der  Erholung  besonders  Gewandten  sind  deshalb  bei  den  Mächtigen 
wohlgeh tten,  weil  sie  sich  gerade  in  dem,  woran  jene  ihr  Vergnügen 
finden,  angenehm  zu  machen  wissen:  jene  brauchen  eben  solche  Leute. 
Nun  meint  man,  diese  Dinge  müßten  doch  wohl  zur  Glücksehgkeit  ge- 
hören, da  die  Mächtigen  und  Großen  daran  ihr  Vergnügen  haben.  In-  25 
dessen,  die  Machthaber  kann  man  kaum  als  Beweismittel  gelten  lassen. 
Denn  Tugend  und  Vernunft,  die  Quellen  edler  Betätigung,  haben  nichts 
mit  Macht  und  Herrschaft  zu  schaffen,  und  wenn  jene  Männer,  unfähig 
zum  Genuß  reiner  und  des  gebildeten  Geistes  würdiger  Freuden,  sich 
der  sinnlichen  Lust  zuwenden ,  so  darf  man  deshalb  nicht  glauben,  30 
diese  verdiente  wirkhch  den  Vorzug.  Meinen  doch  auch  die  Kinder, 
das  Herrhchste  sei,  was  unter  ihnen  den  Vorrang  verleiht.  So  hegt 
die  Vermutung  nahe,  daß,  wie  bei  den  Kindern  etwas  anderes  in  Ehren 
steht  als  bei  den  Erwachsenen,  es  sich  so  auch  verhalte  bei  niedrig  und 
edel  Gesinnten.  Wie  wir  nun  vielfach  bemerkt  haben:  dasjenige  ist  35 
rühmhch  und  erfreuhch,  was  dem  Würdigen  dafür  gilt.  Für  jeden 
nämhch  bildet  diejenige  Betätigung  den  bevorzugten  Willensinhalt,  die 
seiner  eigentümlichen  Beschaffenheit  entspricht,  und  demnach  für 
den  Edlen  die  der  Tugend  angemessene  Betätigung. 

Folghch  ist  die  Glücksehgkeit  nicht  im  Spiel  zu  suchen.     Es  wäre   40 
auch  wider  alle  Vernunft,  wenn  das  Spiel  der  letzte  Zweck  wäre  und 


über  die  Glückseligkeit.  31 


die  Mühen  und  Schmerzen  eines  ganzen  Lebens  um  des  bloßen  Spielens 
willen  ertragen  werden  sollten.  Denn  alles,  darf  man  sagen,  ergreifen 
Aw,  um  etwas  anderes  dadurch  zu  erreichen,  nur  die  Glückseligkeit 
nicht  —  sie  ist  selbst  der  Zweck.  Daß  man  sich  mühen  und  quälen  sollte 
5  nur  des  Spielens  wegen,  das  wäre  doch  ofienbar  eine  recht  alberne 
und  kindische  Vorstellung.  Vielmehr  darf  es  für  das  Richtige  gelten, 
daß  man  zum  Behufe  ernster  Arbeit  spielt ,  wie  es  Anacharsis  auf- 
faßt. Spielen  nämlich  bedeutet  Ausruhen,  und  des  Ausruhens  bedarf 
man,  weil  man  nicht  im  stände  ist,  sich  unausgesetzt  zu  mühen.    Die 

10  Erholung  ist  also  kein  Endziel,  sondern  tritt  ein,  damit  man  in  der 
Tätigkeit  fortfahren  kann.  So  scheint  denn  das  glückselige  Leben  das 
der  Tugend  gemäße  zu  sein ,  und  dieses  ist  ein  Leben  ernster  Tätig- 
keit, nicht  des  Spiels.  Wir  nennen  ja  auch  den  Ernst  preis  würdiger 
als  Belustigung  und  scherzhaftes  Treiben  und  wir  bezeichnen  jedes- 

15  mal  die  Betätigung  des  höher  stehenden  Vermögens  und  des  höher 
stehenden  Menschen  als  die  edlere;  die  Betätigung  dieses  höher  Stehen- 
den ist  mithin  die  wert-  und  glückvollere.  Sinnhche  Befriedigung  mag 
ein  jeder  behebige  Mensch  und  auch  ein  Sklave  nicht  minder  genießen 
als  der  Herrhchste.    Anteil  an  der  Glückseligkeit  aber  gewährt  niemand 

20  einem  Sklaven,  wenn  er  ihm  nicht  auch  einen  Anteil  an  der  entsprechen- 
den Lebensführung  gewährt.  Denn  nicht  in  Unterhaltungen  von  jener 
Art  besteht  die  Glückseligkeit,  sondern  in  den  der  Tugend  entsprechen- 
den Tätigkeiten  —  ^vie  schon  oben  dargelegt  worden  ist. 

Ist  nun  Glückseligkeit  Betätigung  im  Sinne  der  Tugend,  so  Hegt  nahe, 

25  daß  es  sich  dabei  um  die  herrhchste  Tugend  handeln  mrd,  also  doch  wohl 
um  die  Vorzüglichkeit  dessen,  was  an  uns  das  Edelste  ist.  Mag  dies  die 
denkende  Vernunft,  mag  es  etwas  anderes  sein,  was  seiner  Natur  nach 
zur  Herrschaft  und  Leitung  und  zum  bewußten  Ergreifen  des  Idealen 
und  Götthchen  berufen  scheint;  mag  es  an  sich  ein  GöttHches  oder  das 

30  in  uns  sein,  was  am  meisten  gottähnUch  ist:  die  Betätigung  eben  davon 
gemäß  seiner  ihm  eigentümhchen  Vorzüglichkeit  würde  die  vollendete 
Glücksehgkeit  bedeuten.  Daß  diese  Betätigung  die  reine  Betrachtung 
ist,  haben  wir  gezeigt,  und  wir  dürfen  wohl  sagen,  daß  es  wie  mit  dem 
früher  Ausgeführten,   so   mit  der  Wahrheit  übereinstimmt.     Denn  von 

35  allen  Betätigungsarten  steht  diese  am  höchsten,  ebenso  wie  unter  unseren 
Vermögen  die  denkende  Vernunft,  und  wie  ferner  unter  den  Objekten  die 
der  reinen  Vernunfterkenntnis  entsprechenden  die  herrhchsten  sind. 
Sie  ist  außerdem  die  am  meisten  stätige.  Denn  in  reiner  Betrachtung 
vermögen  wir  eher  als  in  irgend  einer  nach  außen  gerichteten  Tätigkeit 

40  anhaltend  zu  verbleiben.  Auch  sind  wir  überzeugt,  daß  die  Glück- 
seligkeit mit  innerer  Befriedigung  verbunden  se  n  müsse.    Die  stärkste 


32  Aristoteles. 

innere  Befriedigung  aber  gewährt  anerkanntermaßen  unter  den  auf 
die  Tugend  gerichteten  Tätigkeiten  diejenige,  die  der  Wahrheits- 
erkenntnis gilt.  Wenigstens  darf  man  soviel  sagen,  daß  das  Wahrheits- 
streben  Freuden  von  wunderbarer  Reinheit  und  Beständigkeit  gewährt, 
und  es  leuchtet  ein,  daß  der  Zustand  des  Wissens  noch  größere  Freude  5 
bereitet  als  der  des  Suchens.  Auch  was  man  Selbstgenügsamkeit  nennt, 
findet  sich  am  meisten  bei  der  reinen  Betrachtung.  Denn  des  zum 
Leben  Notwendigen  bedürfen  der  Weise  und  der  Gerechte  ebenso 
wie  alle  übrigen;  sind  sie  aber  mit  dergleichen  hinlänglich  versehen, 
so  braucht  der  Gerechte  andere  Menschen,  in  Bezug  auf  die  und  in  Ver-  lo 
bindung  mit  denen  er  seinen  Gerechtigkeitssinn  betätigen  kann,  und 
das  gleiche  gilt  von  dem  Besonnenen  und  dem  Willensstarken  und 
jedem  anderen.  Der  Wahrheitsfreund  dagegen  kann  auch  für  sich  allein 
forschen  und  denken,  und  dies  umsomehr,  je  mehr  er  Wahrheitsfreund 
ist.  Vielleicht  geht  es  noch  leichter,  wenn  er  Mitarbeiter  hat;  aber  15 
gleichwohl,  sich  selbst  genug  zu  sein,  das  kommt  ihm  am  ehesten  zu. 
Auch  das  dürfte  gelten,  daß  allein  die  reine  Betrachtung  um  ihrer 
selbst  willen  geliebt  wird ;  man  hat  nämlich  von  ihr  weiter  keinen  Gewinn 
als  das  Betrachten  selbst,  während  man  bei  den  äußeren  Tätigkeiten 
einen  Gewinn  ins  Auge  faßt,  einen  größeren  oder  geringeren,  noch  neben  20 
der  Tätigkeit.  Ferner  nimmt  man  an,  daß  die  Glücksehgkeit  sich  in 
der  Muße  finde.  Denn  den  Geschäften  geben  wir  uns  hin,  um  sodann  der 
Muße  zu  genießen,  wie  wir  Krieg  führen,  um  später  im  Frieden  zu  leben. 
Die  Betätigung  praktischer  Tugenden  nun  dreht  sich  um  Staatsgeschäfte 
oder  kriegerische  Aktionen;  Tätigkeit  auf  diesen  Gebieten  aber  dürfte  25 
sich  mit  der  Muße  kaum  vertragen,  vollends  die  kriegerische  nicht; 
denn  niemand  begehrt  kriegerische  Tätigkeit  oder  rüstet  zum  Kriege 
um  der  kriegerischen  Tätigkeit  willen.  Man  würde  den  für  überaus 
blutdürstig  halten,  der  seine  Freunde  sich  deshalb  zu  Feinden  machte, 
damit  es  zu  Schlachten  und  Blutvergießen  komme.  Aber  auch  die  Tätig-  so 
keit  des  Staatsmannes  ist  der  Muße  f eindhch :  auch  er  sucht  etwas  außer- 
halb ihrer  Liegendes,  Machtstellung  und  Ruhm  oder  auch  Glückseligkeit 
für  ihn  selbst  und  für  seine  Mitbürger,  die  aber  etwas  anderes  neben  der 
staatsmännischen  Tätigkeit  ist  und  offenbar  von  jener  unterschieden, 
die  wir  eben  jetzt  suchen.  Erwägt  man  nun,  daß  unter  den  Tätigkeiten,  35 
in  denen  Tugenden  wirksam  werden,  die  des  Staatsmannes  und  des 
Feldherrn  an  Glanz  und  Bedeutung  hervorragen,  eben  diese  aber  der 
Muße  bar  sind,  einem  äußeren  Zwecke  zustreben  und  nicht  um  ihrer 
selbst  willen  zu  begehren  sind ;  erwägt  man  ferner,  daß  wohl  mit  Recht  die 
Betätigung  der  denkenden  Vernunft,  weil  sie  der  reinen  Betrachtung  40 
zugewandt  ist,  an  innerem  Wert  den  Vorrang  beansprucht,  daß  sie  kein 


Vom  Staate.  33 

außerhalb  liegendes  Ziel  erstrebt  und  eine  ihr  eigentümliche  Befriedigung 
gewährt,  die  selbst  wieder  die  Aktivität  zu  steigern  vermag,  daß  aber 
das  in  sich  beschlossen  sein  (das  Element  der  Muße  und  Ungestörtheit 
in  ihr,  soweit  es  einem  Menschen  zugängHch  ist)  —  daß  alles  das  augen- 

5   scheinhch  in  dieser  Art  der  Betätigung  vorhanden  ist:  so  darf  eben  diese 

als  die  vollendete  Glückseligkeit  eines  Menschen  gelten,  falls  sie  nur  die 

vollendete  Dauer  eines  Menschenlebens  hindurch  währt.    Denn  in  dem, 

was  zur  Glückseligkeit  gehört,  darf  es  nichts  Unvollendetes  geben. 

Ein  solches  Leben  ist  freihch  herrlicher  als  daß  es  der  bloß  mensch- 

10  hohen  Natur  beschieden  sein  könnte.  Denn  nicht  sofern  einer  Mensch  ist, 
wird  er  solch  ein  Leben  führen,  sondern  sofern  in  ihm  etwas  Göttliches 
wohnt.  Soweit  aber  dies  Leben  über  das  mit  der  sinnhchen  Natur 
verbundene  Leben  hervorragt,  so  weit  übertrifft  auch  diese  Art  der 
Betätigung  die  aller  sonstigen  Tugend  entsprechende.     Wenn  also  die 

15  denkende  Vernunft  im  Vergleich  mit  dem  Menschen  etwas  Göttliches 
ist,  so  ist  auch  das  ihr  gemäße  Leben  ein  göttliches  im  Vergleich  zu  dem 
menschlichen  Leben.  Es  soll  nicht,  wie  die  Moralprediger  mahnen,  wer 
Mensch  ist  nur  an  Menschhches  denken,  noch  wer  sterblich  ist  nur  an 
SterbHches  sich  halten,  sondern  man  soll  nach  Möglichkeit  sich  zum 

20  Unsterblichen  erheben  und  all  sein  Tun  darauf  einrichten,  daß  man  lebe 
würdig  dessen,  was  in  uns  das  Herrlichste  ist.  Denn  wenn  es  auch  gering 
an  Umfang  ist,  so  übertrifft  es  doch  alles  andere  an  Macht  und  Wert. 
Ja,  man  darf  sagen,  daß  jeder  in  diesem  Göttlichen  sein  eigenstes  Sein 
findet,  da  es  der  vornehmere  und  bessere  Teil  in  ihm  ist;  und  es  wäre 

25  unvernünftig,  wenn  er  nicht  nach  seinem  eigenen  Sein,  sondern  nach 
dem  eines  anderen  streben  wollte. 

So  wird  denn  das  früher  Gesagte  mit  dem  jetzt  Besprochenen  über- 
einstimmen: was  für  jeden  seiner  eigentümüchen  Natur  nach  das  Ent- 
sprechende ist,  das  ist  für  ihn  auch  das  Wertvollste  und  Erfreulichste. 

30  Für  den  Menschen  also  ist  es  das  Leben,  das  der  denkenden  Vernunft 
entspricht,  da  diese  am  meisten  der  Mensch  selber  ist.  Deshalb  ist  ein 
solches  Leben  auch  das  glückseligste. 


Vom  Staate. 


Alles  was  Staat  heißt  ist  offenbar  eine  Gemeinschaft;  und  da  jede 

Gemeinschaft  zur  Erreichung  eines  Guts  geschlossen  ist  —  tut  doch 

35   überhaupt  niemand  etwas  aus  einem  andern  Grunde  als  wegen  der  damit 

verbundenen  Vorstellung  von  etwas  Gutem  — :  so  erhellt,  daß,  wennüber- 

Dessoir-Meiizer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  3 


34  Aristoteles. 


haupt  jede  Gemeinschaft  irgend  ein  Gut  erstrebt,  dieses  Streben  das 
eifrigste  und  das  erstrebte  Gut  das  alleroberste  ist  in  der  höchsten  und 
alle  übrigen  umfassenden  Gemeinschaft,  das  heißt  in  der  staatlichen. 

Zunächst  nun  stellen  alle  diejenigen  die  Sache  nicht  richtig  dar, 
die  da  meinen,  die  Erfordernisse  zu  einem  Staatsmanne  im  Verfassungs-  5 
Staat,  zu  einem  Könige,  Hausvater  und  Dienstherren  seien  dieselben;  sie 
glauben  nämlich,  der  Unterschied  zwischen  ihnen  bestehe  nur  im  Mehr 
und  Minder,  nicht  in  der  Art ;  näher  gesagt :  wo  es  sich  um  wenige  handle, 
da  heiße  es  Herr,  wo  um  mehrere,  Hausvater,  wo  um  noch  mehrere, 
verfassungsmäßiger  Staatsmann  oder  König,  da  ja,  meint  man,  ein  großes  lo 
Hauswesen  und  ein  kleiner  Staat  dasselbe  bedeuten;  und  was  das  Ver- 
hältnis zwischen  dem  verfassungsmäßigen  Staatsmann  und  dem  König 
betrifft,  so  heiße  er  dann  König,  wenn  er  selbst  an  der  Spitze  stehe; 
wenn  er  hingegen,  nach  gewissen  Bestimmungen,  wie  die  entsprechende 
poHtische  Wissenschaft  sie  an  die  Hand  gebe,  auch  seinerseits  wieder  15 
Untertan  werde,  dann  heiße  er  verfassungsmäßiger  Staatsmann.  Dem 
ist  jedoch  nicht  so.  Deuthch  wird  dieser  Punkt  werden  durch  eine 
nach  der  für  uns  leitenden  Methode  angestellte  Untersuchung.  Wie 
nämlich  auf  anderen  Gebieten  die  Zerlegung  des  Zusammengesetzten 
fortgeführt  werden  muß  bis  auf  die  einfachen,  mithin  kleinsten  Teile  20 
des  Ganzen,  so  wird  auch  eine  ähnliche  Forschung  nach  den  einfachen 
Bestandteilen  des  Staats  uns  bessere  Einsicht  verschaffen  sowohl  in 
den  gegenseitigen  Unterschied  der  genannten  Kegierungsarten  als  auch 
darüber,  ob  es  möghch  sei,  etwas  Systematisches  über  jede  einzelne 
von  ihnen  aufzustellen.  25 

Will  man  nun  wie  anderswo  so  auch  hier  die  Dinge  in  ihrem  fort- 
schreitenden Wachsen  sehen,  so  ist  die  zweckmäßigste  Art  der  Betrach- 
tung wohl  folgende.  Zuvörderst  müssen  diejenigen  sich  paaren,  die 
einander  nicht  entbehren  können,  also  Männliches  mit  Weiblichem  zum 
Zweck  der  Fortpflanzung  —  und  zwar  fällt  dies  nicht  in  den  Bereich  des  30 
freien  Willens,  sondern  wie  bei  den  übrigen  Lebewesen  und  bei  den 
Pflanzen  ist  es  auch  beim  Menschen  ein  natürhcher  Trieb,  seinesgleichen 
zu  hinterlassen  — ;  und  das  kraft  seiner  Natur  Gebietende  muß  sich 
paaren  mit  dem  kraft  seiner  Natur  Gehorchenden  zum  Behuf  der  Er- 
haltung; wo  nämlich  das  Vermögen  geistiger  Voraussicht  vorhanden,  35 
da  ist  natürhcher  Beruf,  Gebieter  und  Herr  zu  sein,  wo  hingegen  die 
Fähigkeit  zu  bloß  körperhcher  Verrichtung  der  empfangenen  Befehle, 
da  ist  natürlicher  Beruf  Sklave  zu  sein;  deshalb  [weil  Herr  und  Sklave 
einander  nicht  entbehren  können]  besteht  auch  Gleichheit  der  Interessen 
zwischen  ihnen.  —  Von  Natur  nun  sind  Weib  und  Sklave  geschiedene  40 
Wesen;  denn  nichts  schafft  die  Natur  in  so  ärmhcher  Weise  wie  die 


Vom  Staate.  35 


Messerschmiede  das  delphische  Messer,  sondern  zu  je  einem  Zwecke 
schafft  sie  ein  besonderes  Mittel;  kann  doch  auch  ein  jedes  AVerkzeug 
nuj  dann  in  größter  Vollkommenheit  hergestellt  werden,  wenn  es  nicht 
zu  mehreren  Verrichtungen,  sondern  nur  zu  einer   Arbeit  dienen  soll. 

5  Bei  den  Barbaren  jedoch  haben  Weib  und  Sklave  dieselbe  Stellung. 
Der  Grund  Hegt  darin,  daß  bei  ihnen  das  von  Natur  zum  Gebieten  be- 
stimmte Element  fehlt,  und  demnach  die  ehehche  Gemeinschaft  nur 
eine  zwischen  Sklave  und  Sklavin  sein  kann.  In  diesem  Sinne  heißt  es 
auch  bei  den  Dichtern: 

10  »Billig  herrschen  über  Barbaren  Griechen", 

indem  von  Natur  Barbar  und  Sklave  für  identisch  gelten. 

Aus  diesen  zwei  Gemeinschaften  [Mann  und  Weib,  Herr  und  Sklave] 
entsteht  nun  zuerst  die  häusHche  Famihe,  und  Hesiod  hat  es  richtig 
getroffen  in  seinem  Verse: 

15        „Schaffe  zuerst  dir  ein  Haus,  ein  Weib  und  zugleich  einen  Pflugstier"; 
bei  den  Armen  nämlich  vertritt  der  Stier  die  Stelle  des  Knechts.    Diese 
Gemeinschaft  also,  die,  durch  natürlichen  Trieb  geschlossen,  alle  Be- 
ziehungen des  täghchen  Lebens  umfaßt,  ist  der  Hausstand:  „Brotkorb- 
genossen" nennt  Charondas  die  ihr  Zugehörigen,   .,  Troggenossen "  nennt 

20  sie  der  Kreter  Epimenides.  Die  aus  mehreren  solchen  Hausständen 
zunächst  sich  bildende,  einen  dauernden  Verkehr  bezweckende  Ge- 
meinschaft ist  das  Dorf.  Am  naturgemäßesten  möchte  man  wohl  eine 
Kolonie  des  Hauses  in  dem  Dorf  erkennen,  dessen  Mitgheder,  Kinder 
und   Kindeskinder    des  Hauses,    auch   in    gewissen    Gegenden   Milch- 

25  vettern  heißen.  Wegen  dieser  Entwicklung  des  Dorfes  aus  dem  Hause 
war  auch  die  ursprüngUche  Regierungsform  in  den  griechischen  Staaten, 
wie  noch  heutzutage  bei  den  nichtgriechischen  Völkerschaften,  das 
Königtum,  weil  näniHch  solche,  die  von  Königen  beherrscht  wurden, 
zu  staatlichem  Verbände  sich  vereinigten.    Denn  jeder  Hausstand  steht 

30  unter  könighcher  Herrschaft  des  durch  Alter  Ehrwürdigsten,  und  so 
bUeb  denn  auch  in  den  Kolonien  des  Hauses,  infolge  der  Verwandtschaft, 
dieselbe  Regierungsform  bestehen.  Diesen  Zustand  königlich  be- 
herrschter Dörfer  schildert  auch  Homer  bei  den  Cyklopen: 

„Jeder  Einzelne  richtet 

35  Seine  Kinder  und  Weiber"; 

jeder  für  sich,  weil  sie  in  weiten  Zwischenräumen  voneinander  wohnten; 
und  so  wohnte  man  überhaupt  in  der  Urzeit.  Eben  hieraus  entspringt 
ferner  die  allgemein  verbreitete  Meinung,  daß  über  die  Götter  ein  König 
gesetzt  sei,  weil  man  nämlich  selbst,  teils  noch  jetzt,  teils  in  alter  Zeit 
40  Könige  hatte,  und  die  Menschen  sich  wie  die  Gestalten  so  auch  die  Lebens- 
weise der  Götter  nach  ihrem  eigenen  Ebenbilde  machen. 


36  Aristoteles. 

Die  aus  mehreren  Dörfern  gebildete  Gemeinschaft  endlich  ist  die  zum 
Staat  vollendete  Stadt,  wo  nun,  wie  man  wohl  sagen  darf,  das  Ziel  voll- 
kommenen Sichselbstgenügens  erreicht  ist ;  sie  e  n  t  steht  zwar  aus  dem 
Bedürfnis  bloßen  Lebens,  b  e  steht  jedoch  zur  Erreichung  eines  guten 
Lebens.  —  Hiernach  ergibt  sich,  daß  jeder  Staat  eine  naturgemäße  5 
Bildung  ist,  da  ja  die  ihm  vorangehenden  Gemeinschaften  es  sind.  Denn 
e  r  ist  ihre  Vollendung,  und  in  der  Vollendung  tritt  die  Natur  hervor. 
Nennen  wir  doch  Natur  eines  jeglichen  Dinges  denjenigen  Zustand,  den 
es  zeigt,  wenn  seine  Entwicklung  vollendet  und  zum  Ziel  gediehen  ist, 
z.  B.  bei  einem  Menschen,  Pferde,  oder  bei  der  Familie lo 

Hieraus  erhellt  also,  daß  der  Staat  zu  den  Gebilden  der  Natur  gehört 
und  der  Mensch  ein  von  Natur  auf  staatsbürgerliche  Gemeinschaft 
angewiesenes  Wesen  ist,  und  ein  nicht  zufälhg,  sondern  von  Natur 
Staatloser  entweder  übermenschlich  oder  ein  verdorbener  Mensch  ist, 
von  demselben  Schlage  wie  der  bei  Homer  gescholtene  15 

„Mann  ohne  Sippe,  ohne  Recht,  ohne  Herd". 

Wer  nämlich  von  Natur  so  geartet  ist,  der  muß  zugleich  auch  wirklich, 
wie  es  bei  Homer  heißt,  „kriegssüchtig"  sein,  da  er  wie  der  Käuberstein 
im  Brettspiel  auf  eigene  Faust  lebt.  —  Daß  der  Mensch  aber  auch  noch 
in  viel  höherem  Maße  ein  für  staatliche  Gemeinschaft  bestimmtes  Ge-  20 
schöpf  ist  als  alle  Bienen  oder  sonst  ein  herdenweis  lebendes  Tier,  er- 
gibt sich  aus  folgendem :  Nichts  schafft,  nach  unserm  oft  ausgesprochenen 
Grundsatz,  die  Natur  zwecklos;  dem  Menschen  aber  wurde  allein  unter 
allen  Lebewesen  Sprache  zu  teil.  Die  bloße  Stimme  gibt  nur  Zeichen 
von  Schmerz  und  Lust  und  ist  daher  auch  den  Tieren  verliehen,  bei  25 
denen  die  Natur  nicht  weiter  ging  als  bis  zu  der  Fähigkeit,  Schmerz 
und  Lust  zu  empfinden  und  davon  sich  untereinander  Zeichen  zu  geben. 
Die  Sprache  hingegen  soll  Nützliches  und  Schädliches,  mithin  auch  Recht 
und  Unrecht,  klar  ausdrücken.  Denn  dies  ist  dem  Menschen  im  Vergleich 
mit  den  Tieren  eigentümlich,  daß  er  allein  Sinn  hat  für  Gutes  und  3i> 
Schlechtes,  für  Recht  und  Unrecht  und  die  verwandten  Begriffe.  Auf 
der  Gemeinschaft  aber  in  diesen  Dingen  beruht  Haus  und  Staat. 

Ferner  ist  von  Natur  der  Staat  früher  als  der  Hausstand  und  die 
Individuen.  Denn  das  Ganze  ist  notwendig  das  Prius  des  Teils.  Hört 
doch  nach  Aufhebung  des  Ganzen  jeder  einzelne  Teil,  z.  B.  Fuß  oder  35 
Hand,  auf,  das  zu  sein,  was  er  ist,  und  bloß  die  Namensgleichheit  bleibt, 
die  in  solchem  Falle  nicht  mehr  bedeutet  als  wenn  man  von  einer  stei- 
nernen Hand  spricht;  denn  eine  vom  Körper  getrennte  wird  eine  un- 
brauchbare Hand.  Die  Wesensbestimmtheit  jedes  Dinges  aber  hegt 
in  seiner  Wirkung  und  Kraft;  sobald  es  daher  diese  verliert,  darf  man  es   40 


Vom  Staate.  37 

nicht  mehr  als  dasselbe  Ding,  sondern  nur  als  ein  gleichnamiges  an- 
sprechen. Die  Anwendung  dieser  Sätze  ergibt  die  aufgestellte  Behauptung, 
daß  der  Staat  von  Natur  das  Prius  des  Indi\4duums  ist,  da  dieses,  wenn 
es  in  seiner  Vereinzelung  sein  volles  Genüge  nicht  findet,  sich  zum 
Staat  verhält  wie  überhaupt  der  Teil  zum  Ganzen;  wenn  es  hingegen  zur 
Gemeinschaft  unfähig  oder  ihrer,  weil  es  in  sich  selbst  sein  volles  Genüge 
findet,  gar  nicht  bedürftig  ist,  dann  freilich  ist  es  keineswegs  ein  Teil  des 
Staats,  aber  eben  damit  auch  kein  Mensch,  sondern  entweder  ein  Tier 
oder  ein  Gott.  —  Von  Natur  also  liegt  in  allen  Menschen  der  Zug  nach 
einer  staatlichen  Gemeinschaft;  wer  sie  aber  zuerst  ins  Werk  gesetzt 
hat,  dem  werden  die  höchsten  Güter  verdankt.  Denn  wie  der  Mensch, 
wenn  er  im  Staat  seine  Vollendung  findet,  das  edelste  unter  allen  Ge- 
schöpfen ist,  so  ist  er,  losgelöst  von  Gesetz  und  Recht,  das  allerschlimmste. 
Ist  ja  gerüstetes  Unrecht  das  gefährhchste.  Und  der  Mensch  ist  ge- 
schaffen mit  einer  Rüstung  zu  Einsicht  und  Tugend,  kann  sie  jedoch 
gar  leicht  zum  Gegenteil  gebrauchen;  deshalb  ist  er  auch  ohne  Tugend 
das  A^ildeste  und  ruchloseste  Geschöpf,  schhmmer  als  alle  anderen  in 
Unzucht  und  Völlerei.  Die  Gerechtigkeit  nun  aber  [der  Gegensatz  zu 
jenem  gefährlichen  Unrecht]  ist  an  den  Staat  gebunden;  denn  das  Recht 
ist  nichts  als  die  Ordnung  der  staathchen  Gemeinschaft,  und  es  be- 
stimmt seine  Entscheidung  nach  dem  Begriff  der  Gerechtigkeit. 

Aristoteles  (384 — 322)  hat  in  den  Analytica  priora  die  Grundlagen  der 
logischen  Elementarlehre  als  erster  dargestellt.  Der  Anfang  unseres  Textes 
steht  im  ersten  Buche  am  Ende  des  ersten  Kapitels.  Ausgelassen  ist  die  Unter- 
scheidung der  vollkommenen  und  unvollkommenen  Schlüsse,  weil  die  Schlüsse 
der  ersten  Figur,  mit  der  wir  es  hier  nur  zu  tun  haben,  durchweg  vollkommene 
Schlüsse  sind,  das  heißt  Schlüsse,  deren  Vordersätze  die  Begriffe  schon  in 
dasjenige  Verhältnis  setzen,  aus  dem  der  Syllogismus  unmittelbar  hervorgeht. 
Das  dann  folgende  ist  ein  Teil  des  \'ierten  Kapitels.  —  Eine  mit  ausführlichen 
Erläuterungen  versehene  Übersetzung  steht  in  der  „Philosophischen  Bibliothek"* 
Die  genaueste  Behandlung  bietet  Heinrich  ]Maiers  dreibändiges  Werk  „Die 
Syllogistik  des  Aristoteles",  1896  bis  1900;  für  die  meisten  Zwecke  dürfte  die 
Darstellung  in  Zellers  „Philosophie  der  Griechen"  genügen. 

Das  Hauptstück  der  von  A.  geschaffenen  Logik  ist  die  Lehre  vom  Schluß, 
die  Syllogistik.  Einmal  schon  durch  die  Art  der  Behandlung,  alsdann  deshalb, 
weil  sie  fast  ohne  Vorläufer  durch  einen  einzigen  ^lann  entworfen  und  sogleich 
in  systematischer  Geschlossenheit  dargestellt  worden  ist,  schließlich  auch  aus 
dem  Grunde,  daß  sie  in  ihren  wesentUchen  Zügen  sich  bis  heute  erhalten  hat. 
^Mit  Ehrfurcht  und  Freude  betrachten  wir  diesen  ersten  Grundriß  der  Syllo- 
gistik; immerhin  diüfcn  Mir  nicht  vergessen,  Avie  vielfach  und  lebhaft  seit  den 
Zeiten  des  Humanismus  die  Syllogistik  als  unfruchtbar  bekämpft  worden 
ist.    Und  in  der  Tat  sind  der  Aristotehschen  Syllogistik  Wertgrenzen  gezogen: 


33  Aristoteles. 


nicht  jeder  Zusammenhang  unseres  Denkens  beruht  auf  den  von  A.  geschilderten 
Verknüpfungen  der  Urteile.  Nach  A.  nämlich  geht  jeder  regelrechte  Schluß 
vom  Allgemeinen  zum  Besonderen.     In  dem  Schulbeispiel: 

Alle  Menschen  sind  sterblich 
Caius  ist  ein  Mensch 
Folglich  ist  Caius  sterblich 

schreitet  das  Denken  von  einer  allgemeinen  Erkenntnis  zu  der  besonderen 
Erkenntnis  fort,  daß  Caius  sterblich  ist;  in  der  Schlußform  wird  also  die  Ab- 
hängigkeit des  Besonderen  vom  Allgemeinen  deutlich.  Durch  Unterordnung 
des  C.  unter  den  Begriff  des  Menschen  erfolgt  seine  Unterordnung  unter  den 
weiteren  Begriff  der  sterblichen  Wesen.  Wann  eine  solche  Unterordnung 
mit  Recht  stattfindet  und  wann  nicht,  das  und  nur  das  hat  A.  gezeigt.  Über 
den  Sinn  des  Syllogismus  und  die  dagegen  erhobenen  Einwürfe  vergleiche 
Benno  Erdmann,  Logik,  1892,  I,  549 — 564;  dort  auch  die  ältere  Literatur. 
20 1.  Unter  „Gedankendarstellung"  ist  ein  logisch-sprachlicher  Vorgang  zu 
verstehen. 

20  4.  Es  braucht  also  nichts  weiter  zu  den  beiden  ersten  Sätzen  hinzu- 
zutreten, damit  der  Schlußsatz  „C.  ist  sterblich"  zu  stände  kommt:  aus  den 
beiden  Annahmen  ergibt  sich  vermöge  ihrer  selbst  etwas  weiteres. 
20  8.  Das  Sterbliche  zum  Beispiel  ist  (in  dem  „ganzen"  Menschen  oder) 
in  allen  einzelnen  Exemplaren  des  Begriffes  Mensch  enthalten.  Leichter 
gewendet:  die  Sterblichkeit  kann  von  allen  Menschen  ausgesagt  werden, 
kommt  ihnen  allen  ohne  Ausnahme  zu.  Gewöhnlich  stellen  wir  die  Begriffe 
um  und  sagen:  Alle  Menschen  sind  sterblich.  —  Partikular  heißt  ein  Urteil, 
dessen  Prädikat  nur  von  einem  Teil  des  Subjektbegriffes  seinem  Umfange  nach 
gilt,  zum  Beispiel:    Einige   Menschen  sind  schwarz. 

20 15.  Um  das  folgende  zu  verstehen,  muß  man  die  AristoteHsche  Aus- 
drucksweise, die  später  durch  eine  bequemere  ersetzt  wurde,  sich  gegewärtig 
halten. 

In  den  Umfang  der  sterblichen  Wesen  gehört  der  Mensch 

In  den  Umfang  der  Menschen  gehört  Caius 

Folglich  gehört  in  den  Umfang  der  sterbUchen  Wesen  auch  Caius. 
In  der  Mitte  steht,  wie  man  sieht,  (zweimal)  der  „Mittelbegiiff"  Mensch. 
Er  ist  allgemeiner  als  der  eine  „Außenbegriff"  (Caius)  und  weniger  allgemein 
als  der  andere  Außenbegriff  (sterbliches  Wesen). 

20  21.  „Seiner  Stellung  nach".  A.  ordnet  die  drei  syllogistischen  Begriffe 
dem  Grade  der  Allgemeinheit  nach  in  eine  Reihe  und  numeriert  sie,  wobei 
der  allgemeinste  Begriff  die  erste  Stelle  auf  der  Linie  und  das  erste  alphabetische 
Zeichen  erhält.  Das  nennt  er  Stellung  oder  (wörtlicher)  „Setzung".  Wir 
können  zwar  die  Numerierung  mit  Buchstaben  beibehalten,  ziehen  aber  dem 
graphischen  Symbol  der  Linie  die  Umfangsbezeichnung  durch  ICreise  vor. 
Siehe  die  Figuren  auf  S.  39. 

20  25.  Die  Sterblichkeit  (A)  wird  von  allen  Menschen  (B),  das  Mensch- 
sein (B)  vom  Caius  (C)  in  seinem  ganzen  Umfange  ausgesagt.     So  entsteht 


3 


m. 


o 


40  Aristoteles. 

mit  Notwendigkeit  und  ohne  Hilfe  anderer  Sätze  die  Erkenntnis,  daß  die  Sterb- 
lichkeit von  Caius  auszusagen  ist.     Vergleiche  Figur  1. 

2027.    Vergleiche  Figur  2. 

21  3.    Vergleiche  die  beiden  Fälle  in  Figur  3. 

21  9.  Die  Schlüsse,  von  denen  a  der  Figur  3,  I  und  b  der  Figur  3,  II  ent- 
spricht, lauten: 

a)  Die  Bestimmung  Lebewesen  (A)  ist  in  allen  Menschen  (B)  enthalten. 

Das  Menschsein  (B)  ist  in   keinem    Pferde  (C)  enthalten 

Dennoch  ist  die  Bestimmung  Lebewesen  in  allen  Pferden  enthalten. 

b)  Die  Bestimmung  Lebewesen  ist  in  allen  Menschen  enthalten 
Das  Menschsein  ist  in  keinem  Stein  (C)  enthalten 

Dennoch  ist  die  Bestimmung  Lebewesen  in  k  e  i  n  e  m  Stein  enthalten. 

Der  Schlußsatz  erhält  demnach  bald  eine  bejahende,  bald  eine  verneinende 
Beziehung  zwischen  Subjekt  und  Prädikat.  Daraus,  daß  bald  dies,  bald  jenes 
der  Wahrheit  entsprechen  kann,  ergibt  sich,  daß  eine  richtige  Schlußfolgerung 
hier  nicht  vorliegt, 

21 13.  Vergleiche  Figur  4.  Die  Beispiele  sind  ebenso  wie  die  vorangegange- 
nen aufzufassen.  Da  wir  der  Anordnung  bei  A.  folgen  müssen,  so  lauten  sie 
in  unserer  Sprache  sehr  schwerfälUg,  nämlich  folgendermaßen: 

c)  Der  Begriff  der  Wissenschaft  ist  nicht  in  dem  der  Linie  enthalten 
Der  Begriff  der  Linie  ist   nicht  in  dem  der  Arzneikunde  enthalten 
Aber  der  Begriff  der  Wissenschaft   ist   in  dem  der  Arzneikunde  ent- 
halten. 

d)  Der  Begriff  der  Wissenschaft  ist  nicht  in  dem  der  Linie  enthalten 
Der  Begriff  der  Linie   ist   nicht   in  dem  der  Eins  enthalten 

Aber  der  Begriff  der  Wissenschaft   ist   nicht   in  dem  der  Eins  ent- 
halten. 

21 33.  Vergleiche  Figur  5.  Aus  diesen  Figuren  ist  der  Zusammenhang 
leichter  abzunehmen  als  aus  wörtlichen  Umschreibungen.  Übrigens  enthält 
wohl  jedes  Lehrbuch  der  Logik  eine  Darstellung  der  Aristotelischen  Syllogistik, 
freilich  unter  Übertragung  in  die  heute  üblichen  Formen.  — 

Das  zweite  Lesestück  gibt  den  Anfang  der  Aristotelischen  „Meta- 
physik" unverkürzt  wieder.  Der  Name  Metaphysik  ist  in  der  Sammlung  der 
Aristotehschen  Schriften  denjenigen  verliehen  Avorden,  die  hinter  die  natur- 
wissenschaftlichen gestellt  wurden  (xa  jj-etcc  xa  cpusixa);  er  hat  dann  später 
sachliche  Bedeutung  gewonnen  und  bezeichnete  nunmehr,  was  A.  ,,die  erste 
Philosophie"  nannte,  nämlich  die  Lehre  „vom  Sein  als  solchem".  Vergleiche 
die  Erläuterung  zu  24 13. 

Unsere  Übertragung  ist  frei,  da  eine  wortgetreue  Übersetzung  dem  nicht 
fachmäßig  geschulten  Leser  unverständlich  bleiben  muß.  Wemi  es  sich 
dabei  nicht  immer  vermeiden  ließ,  moderne  Begriffe  in  das  antike  Denken 
hineinzutragen,  so  ist  dies  Übel  für  unsere  Zwecke  jedenfalls  das  kleinere. 
Die  vorliegenden  Übersetzungen  von  Schwegler,  Kirchmann  und  Bonitz  leiden 


Erläuterungen.  41 


an  mancherlei  ^Mängeln;  daher  haben  wir  es  mit  lebhaftem  Dank  begrüßt, 
daß  Herr  Professor  A.  Lasson  —  hier  wie  bei  den  Stücken  aus  der  Ethik  — 
uns  seine  (noch  nicht  veröffentlichte)  Übersetzung  zur  Vergleichung  und  Be- 
nutzung überließ.  —  Dem  Verständnis  leisten  gute  Dienste  die  (französische) 
Übersetzung  von  Barthelemy  St.  Hilaire  mit  ihrer  ausführlichen  Einleitung 
und  den  zahlreichen  Anmerkungen  (1879)  und  Hermann  Siebecks  Mono- 
graphie „Aristoteles"  (1899).  Kürzlich  (1904)  erschien  eine  von  L.  Rolfes 
besorgte  neue  Übersetzung  und  Erklärung  der  ersten  sieben  Bücher  der  Aristo- 
telischen Metaphysik.  Für  diese  Übertragung  war  der  Rolfes  leitende  Ge- 
sichtspunkt: man  müsse  aus  ihr  das  Griechische  rekonstruieren  können. 

Verbindende    Erörterung. 

Die  Syllogistik  als  Lehre  von  der  wissenschaftlichen  Beweisführung 
gilt  A,  als  eine  Vorschule  der  Wissenschaft.  Hier  wie  dort,  in  der  Logik  wie 
auf  allen  Gebieten  der  Wissenschaft,  "wdrd  von  ihm  vorausgesetzt,  daß  ein 
objektives  Begriffssystem  sich  in  der  Welt  ver^\drkliche.  Wenn  die  Wissenschaft 
feststellen  v^iW,  was  bestimmten  Dingen  mit  Notwendigkeit  und  Allgemein- 
gültigkeit zukommt,  sagen  wir  den  Kristallen,  so  muß  sie  sich  auf  den  Begriff 
der  Kristalle  stützen  und  auf  alles  das,  was  unmittelbar  daraus  abgeleitet 
werden  kann.  In  allen  vidrklichen  Kristallen  ist  der  Begriff  des  Kristalls  ent- 
halten (die  Lehre  von  der  Immanenz  der  Ideen  als  substantiale  Formen) 
und  durch  ihn  werden  sie  eben  als  Kristalle  gedacht.  Was  irgend  ein  Kristall, 
den  ^vir  jetzt  in  die  Hand  nehmen,  außerdem  noch  an  Eigenschaften  zeigen 
mag,  das  geht  nicht  in  seinen  Begriff  ein,  ist  somit  zufällig ;  davon  gibt  es  keine 
wissenschaftliche  Erkenntnis.  Eine  richtige  ..Theorie"  hat  es  daher  mit  dem 
Allgemeinen,  das  heißt  begrifflich  Notwendigen  zu  tun.  Insofern  nun  die  Er- 
kenntnis des  Notwendigen  gleichbedeutend  ist  mit  der  Erkenntnis  des  inneren 
Grundes,  warum  ein  Ding  gerade  das  ist  was  es  ist,  kann  die  Aufgabe  der 
Wissenschaft  auch  dahin  bestimmt  werden,  daß  sie  die  inneren  Gründe  der 
Dinge  zu  erforschen  habe.     Vergleiche  zu  24 13. 

222.  Auch  in  der  Pliilosophie  bleiben  Erfahrungen  des  Gesichtssinnes 
sachlich  und  terminologisch  von  Wichtigkeit.  So  ist  die  Unterscheidung  der 
dunklen  und  klaren  Vorstellungen  bei  Descartes  von  optischen  Anschauungen 
hergenommen,  und  Leibnizens  Ausdruck,  daß  jede  Monade  das  Weltall  von 
einem  besonderen  ..Gesichtspunkt"  aus  betrachtet,  ist  im  Anschluß  an  die 
Lehre  von  der  Perspektive  gewählt.  Vergleiche  R.  Sommer,  Grundzüge  einer 
Gesch.   der  deutschen  Psychol.  u.  Ästh.,   1892,   S.  76. 

22  12.  Wir  würden  sagen,  daß  diese  Tiere  auf  ihren  Instinkt  beschränkt  sind. 

22  24.  Polus  war  ein  Sophist,  ein  Schüler  von  Gorgias.  Der  hier  zitierte 
Ausspruch  findet  sich  in  Piatos  Dialog  Gorgias. 

22  41  f.  Methodologische  Fragen,  die  hiermit  zusammenhängen,  sind  gegen- 
wärtig mit  aller  Lebhaftigkeit  gestellt  und  verhandelt  worden.  Die  ausführ- 
lichsten und  jüngsten  Untersuchungen  darüber,  ob  Wissenschaft  auf  Allge- 
meines beschränkt  sei,  finden  sich  in  Hugo  Münsterbergs  Grundzügen  der 
Psj^chologie,  I,  1900,  und  in  Heinrich  Rickerts  Buch  „Die  Grenzen  der  natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung",   1902. 


42  Aristoteles. 


24  4.  Wie  hier  der  uninteressierte  Geist  reiner  Wissenschaft  geschildert 
wird,  das  sollte  in  unserer  wirrenreichen  Zeit  nicht  überhört  werden.  Vergleiche 
die  Erläuterungen  zu  Bacon. 

24  9.  Nach  der  sogenannten  Nikomachischen  Ethik  von  A.  (VI,  3,  4) 
sind  die  praktischen  Disziplinen  auf  ein  Handeln,  Hervorbringen  angelegt, 
die  theoretischen  Wissenschaften  auf  ein  Erkennen ;  jene  bewegen  sich  im  Reich 
des  Möglichen,  diese  beziehen  sich  auf  das  Notwendige  und  Ewige. 

24 12.  In  den  Worten  „nach  allgemeiner  Ansicht"  ist  der  Gang  der  Unter- 
suchung völlig  eingeschlossen.  Denn  von  einfachen  und  verbreiteten  Erfahrungs- 
vorstellungen  war  A.  ausgegangen;  durch  Verfolgung  des  Vorgefundenen  ge- 
wann er  den  dies  Kapitel  abschließenden  Hauptbegriff. 

24  13.  Die  höchste  Wissenschaft,  die  Metaphysik,  geht  auf  die  allgemeinsten 
Gründe.  Ein  solches  Wissen  ist  das  umfassendste  (weil  im  Allgemeinsten  alles 
andere  enthalten  ist)  und  das  lehrreichste  (da  es  die  obersten  Gründe  anzu- 
geben vermag);  es  ist  das  sicherste  (insofern  es  die  Fülle  des  Zufälligen  aus- 
schliesst)  und  dennoch  das  seltenste  (denn  der  in  die  letzten  Prinzipien  Ver- 
tiefte muß  alle  sinnliche  Erfahrung  beiseite  lassen).  — 

Auch  die  dritte  Stelle  ist  aus  der  „Metaphysik"  entnommen,  und  zwar 
aus  dem  neunten  Kapitel  des  Buches  L.  Ihre  Macht,  die  zweiundzwanzig 
Jahrhunderte  hindurch  sich  erhalten  hat,  liegt  in  der  wuchtigen  Aufstellung 
des  Problems.  Gott  als  das  schlechthin  unkörperliche  Grundwesen  muß  reines 
Denken  sein;  denn  nur  dieses  bleibt  von  aller  StofQichkeit  frei.  Alles  Hervor- 
bringen und  Handeln  braucht  einen  Stoff  und  verfolgt  einen  außerhalb  liegen- 
den Zweck,  das  absolute  Wesen  aber  bedarf  keines  fremden  Inhaltes  und  ist 
sich  selbst  der  letzte  Zweck.  Im  Denken  liegt  Gottes  Würde,  und  da  Gott 
unabänderlich  nur  das  Größte  denken  kann,  so  denkt  er  das  Denken:  der  Ge- 
danke und  der  gedachte  Gegenstand  fallen  zusammen. 

24  26.  Wir  verstehen  diese  Stelle  dahin,  daß  jenes  andere,  das  etwa  in  Gott 
herrschen  könnte,  ein  der  höchsten  Vernunft  fremder  Seelenteil,  zum  Beispiel 
die  Begierde,  wäre.  Dadurch  käme  das  Denken,  das  unzweifelhaft  den  Kern 
des  göttlichen  Wesens  bildet,  in  eine  Abhängigkeit  und  würde  auf  die  Stufe 
eines  Vermögens  hinabsinken. 

25  ö.  Weil  jede  Veränderung  in  Gott  ein  Schlechterwerden  bedeuten 
würde,  so  ist  das  göttliche  Denken  unveränderlich.  Der  darauf  folgende  Zu- 
satz zeigt  deutlich,  wie  eng  die  griechische  Weltanschauung  an  den  Eleatismus 
gebunden  blieb:  das  Unbedingte  erschien  mit  Selbstverständlichkeit  als  be- 
wegungsloses, ruhendes  Sein.  Die  gleiche  Auffassung  des  Vollendeten  durch- 
drang die  klassische  Wissenschaft  und  Kunst. 

25 12.  Unser  Denken  ist  abhängig  von  den  Formen  der  Welt,  denn  in 
unseren  Begriffen  bilden  wir  sie  nach.  Dem  göttlichen  Denken  hingegen  sind 
von  niemand  anderem  Linien  vorgezeichnet,  die  es  nachzuziehen  hätte. 

25  18.  Viele  und  folgenschwere  Einsichten  sind  in  diesem  Ergebnis  auf- 
gehäuft. Das  absolute,  unbedingte,  voraussetzungslose  Sein  erweist  sich  als 
identisch  mit  dem  Geistigen ;  es  wird  als  ein  von  der  Welt  verschiedenes  Wesen 
aufgefaßt.     Seine  Tätigkeit  ist  die  höchste,  also  Denken;  ihr  Inhalt  ist  der 


Erläuterungen.  43 


höchste,  also  auch  Denken.  Man  mag  dies  Denken  des  Denkens  allenfalls  als 
Selbstbewußtsein  deuten,  darf  es  aber  schwerlich  nach  unserem  Begriff  des 
Monotheismus  als  eine  selbstbewußte  und  aktive  Individualität  fassen,  denn 
das  auf  sich  selbst  reflektierende  Denken  scheint  mit  dem  Abstrakten  und 
Allgemeinen  in  Beziehung,  der  konkreten  Persönlichkeit  aber  fremd  zu  sein. 
Vergleiche  die  Erläuterungen  zu  Piotin.  — 

Die  vierte  Stelle  findet  sich  im  zweiten  Buch  der  Nikomachischen 
Ethik  (Kap.  4 — 7,  erste  Hälfte).  Sie  steht  im  Zusammenhang  einer  allgemeinen 
Tugendlehre,  deren  echt  griechischer  Charakter  zu  philosophiegeschichtlichen 
Betrachtungen  Anlaß  geben  kann.  Der  Gedankengang  des  mitgeteilten  Ab- 
schnittes, der  nur  bis  zu  den  ersten  Proben  einer  Einzelaufzählung  führt, 
erscheint  trotz  mancher  Schwerfälligkeiten  als  so  klar,  daß  er  nicht  noch 
ausdrücklich  herausgehoben  zu  werden  braucht;  die  Hauptabschnitte  sind: 
25-20 — 26 14  (Einordnung),  26 15 — 28  (formale  Beschreibung),  26  29  ff.  (inhalt- 
liche Bestimmung  der  Tugend). 

25  28.  Ein  weiterer  Unterschied  zwischen  Vermögen  (Anlage)  und  Gemüts- 
richtung (Beschaffenheit)  liegt  darin,  daß  ein  Vermögen  nach  verschiedenen 
Seiten  bestimmbar,  also  eine  unbestimmte  Fähigkeit,  hingegen  die  Gemüts- 
richtung etwas  verhältnismäßig  Fertiges  und  Bestimmtes  ist. 

26  11.  Im  ersten  Kapitel  des  zweiten  Buches  heißt  es:  „Hieraus  erhellt  auch, 
daß  keine  der  sittlichen  Tugenden  uns  von  der  Natur  gegeben  wird,  denn  alles 
Natürliche  kann  durch  Gewöhnung  nicht  geändert  werden,  so  kann  z.  B.  der 
Stein,  der  von  Natur  nach  unten  treibt,  nicht  durch  Gewöhnung  zur  Aufwärts - 

bewegung  gebracht  werden. Deshalb  haben  wir  die  Tugenden  nicht 

von  Natur  und  auch  nicht  gegen  die  Natur,  sondern  wir  haben  die  Anlage  zu 
ihrer  Erlangung;  aber  freilich  müssen  wir  sie  durch  Gewöhnung  vollständig 

erwerben. Aus  dem  gleichmäßigen  Handeln  bilden  sich  dauernde 

Gemütsrichtungen;  deshalb  muß  man  sein  Handeln  entsprechend  einrichten, 
denn  so  wie  dieses  beschaffen  ist,  gestaltet  sich  auch  die  Gemütsrichtung. 
Darum  ist  es  keine  Kleinigkeit,  ob  man  gleich  von  Jugend  auf  sich  so  oder  so 
gewöhnt;  im  Gegenteil,  es  kommt  hierauf  sehr  viel  oder  vielmehr  alles  an." 

26  17,  Die  bekannte  weite  Fassung  des  Tugendbegriffs.  Was  wir  Tugend 
nennen,  ist  eine  Unterart  und  wird  als  solche  ja  auch  27  20  ausdrücklich  be- 
zeichnet. Der  Mensch  besitzt  Tüchtigkeiten  seines  leibHchen  Organismus 
(vgl.  das  Beispiel  des  Auges),  ferner  theoretische  („dianoetische")  Tugenden 
der  Seele,  wie  z.  B.  die  Einsicht,  und  er  hat  schließHch  Tüchtigkeiten  des  sitt- 
lichen Handelns,  die  „ethischen"  Tugenden.  Bei  diesen  handelt  es  sich  um 
diejenigen  Gesinnungen  und  Willensdispositionen,  die  der  Herrschaft  der 
Vernunft  unterliegen;  die  sittUchen  Tugenden  wurzeln  in  der  Macht  eines 
richtigen  und  vernünftigen  Willens,  in  der  Herrschaft  der  Vernunft  über  das 
Begehren. 

27  ''.  Da  hier  nachträglich  von  Wettlauf  und  Ringkampf  gesprochen  wird, 
scheint  A.  vorher  an  den  Faustkampf  und  an  den  Trainer  für  die  Faust- 
kämpfer gedacht  zu  haben.  Damit  stimmt  freilich  die  Erwähnung  Milos  nicht, 
denn  der  war  ein  bekannter  Ringkämpfer  und  siegte  als  solcher  sieben  Mal  in 


44  Aristoteles. 


Olympia;  er  wird  wohl  als  allerberühmtester  Vertreter  der  Sports  überhaupt 
genannt  sein. 

27  22.  A.  erkennt  richtig,  daß  Gefühle,  Begierden  und  Affekte  sich  zwischen 
Gegensätzen  bewegen.  Wenn  nun  die  sittlichen  Fehler  in  dem  unbeschränk- 
ten, der  Vernunftregierung  entzogenen  Walten  jener  Gemütsvorgänge  bestehen, 
so  muß  auch  an  ihnen  die  Gegensätzlichkeit  sich  ausprägen.  Daher  treten 
die  sittlichen  Fehler  paarweise  auf:  Geiz — Verschwendung,  Feigheit — Toll- 
kühnheit u.  s.  w. 

2726.  Diese  Bestimmungen  (mit  denen  28  22  zu  vergleichen  ist)  können  über 
eine  etwas  mechanistische,  aber  übliche  Auffassung  der  A.schen  Lehre  hinaus- 
führen. Die  „rechte  Mitte",  ein  nur  formaler  Allgemeinbegriff,  hilft  bei  einer 
sittlichen  Entscheidung  nicht  viel;  soll  eine  Handlung  tugendhaft  sein,  d.  h. 
aus  vernünftiger  Willensherrschaft  entspringen,  so  müssen  die  von  A.  aufge- 
zählten Momente  gewahrt  werden.  Das  Moralische  besteht  in  der  Überein- 
stimmung einer  Handlung  mit  der  rechten  Erkenntnis,  und  die  rechte 
Erkenntnis  nimmt  Rücksicht  auf  die  hier  erwähnten  Umstände.  Mit  dem  Be- 
griff des  Maßes  ist  also  der  Inhalt  der  Tugend,  d.  h.  jener  vernünftigen  Wil- 
lensherrschaft, noch  nicht  erschöpft.  —  Der  an  dieser  Stelle  in  gewisse 
Kategorien  auseinander  gelegte  Zusammenhang  zwischen  ethischer  und 
intellektueller  Büdung  gehört  zu  den  Grundüberzeugungen  der  griechischen 
Ethik  überhaupt. 

27  36.    A.  hat  in  seiner  Metaphysik  (I,  5)  eine  von  den  Pythagoreern  aufge- 
stellte Tafel  von  Gegensätzen  mitgeteilt,  in  der  an  den  Grundgegensatz  von 
■  Grenze  und  Unbegrenztheit  sich  u.  a.  anschließen  Eins  und  Vieles,  Gutes  und 
Böses. 

27  41.  Dies  Zitat  ist  aus  einem  unbekannten  Elegiker  entnommen. 
28 1.  Mit  dem  Begriff  der  „vorsätzlichen  Beschaffenheit",  der  durch  den 
beigefügten  Erläuterungsausdruck  für  den  Leser  des  Textes  wenigstens  einige 
Klarheit  gewinnen  soll,  ist  gemeint:  sowohl  eine  mit  Vorsatz  erworbene  Fertig- 
keit oder  Gemütsrichtung,  als  auch  eine  Disposition  zu  bestimmter  Handlungs- 
weise; diese  Disposition  beruht  ja  auf  jener  Fertigkeit,  denn  die  sittlichen 
Tugenden  entstehen  aus  gewohnten  und  geübten  Handlungsweisen  und  be- 
fähigen wiederum  zu  erneuten  Handlungsweisen  der  gleichen  Art.  —  In  der 
Fortsetzung  dieser  Begriffsbestimmung  wird  das  Normale  abhängig  gemacht 
von  der  Vernunft  und  dem  Urteil  des  Einsichtigen.  Nimmt  man  die  Stellen 
27  26  und  28  22  hinzu,  so  scheint  es,  daß  A.  allgemein  gültige  Feststellungen  im 
Gebiet  der  praktischen  Sittlichkeit  überhaupt  nicht  anerkennt  und  deshalb 
die  Ethik  von  der  theoretischen  Wissenschaft  unterscheidet,  die  es  mit  Dingen 
zu  tun  hat,  die  „nicht  anders  sein  können".  A.  denkt  eben  immer  an  das 
Tatsächliche  und  Einzelne,  worauf  es  im  Handeln  ankommt,  und  begnügt 
sich  nicht  mit  „dem  Guten"  Piatos  (vgl.  das  erste  Lesestück).  Wie  man  beim 
körperlichen  Organismus  nicht  ein-  für  allemal  sagen  kann:  das  ist  zu  viel 
oder  zu  wenig,  sondern  sich  nach  der  Individualität  richten  muß,  so  auch  beim 
seeUschen  Organismus.  Es  gibt  also  kein  unbedingtes,  ausnahmsloses  Sitten- 
gesetz, sondern  nur  eine  von  dem  Einzelnen  für  sich  zu  erringende  dauernde 


Erläuterungen.  45 


Beschaffenheit  und  jenen  sittlichen  Takt,  den  der  Einsichtige  billigen  würde. 
—  Ob  auch  auf  diese  Anschauungsweise  Dantes  Ausspruch  zutrifft,  A.  sei 
der  „Meister  derer,  die  da  wissen",  oder  ob  andere  Richtungen  der  Ethik  der 
Wahrheit  näher  kommen,  wäre  zu  untersuchen;  die  Lesestücke  aus  Meister 
Eckharts  Schriften  und  aus  Kants  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten" 
ermöglichen  lehrreiche  Vergleichungen. 

293.  Die  Systematik  der  hier  beginnenden  Aufzählung  erläutert  Th. 
Ziegler  folgendermaßen.  1.  Reine  Tugenden  (Versittlichung  des  unvernünf- 
tigen Seelenteils):  Mannhaftigkeit,  Besonnenheit.  2.  Richtige  Benutzung  der 
in  den  äußeren  Gütern  gegebenen  Vorbedingungen  für  ein  vollkommen  glück- 
liches, also  auch  tugendhaftes  Leben:  a)  Geld  und  Gut  (bis  hierher  geht  unser 
Stück),  b)  Ehre,  c)  Geselliges  Leben.  3.  Tugenden,  die  das  sittliche  Verhalten 
zur  Lust  normieren,  besonders  die  Mäßigkeit.  Vgl.  die  minder  streng  gehaltene 
Ausführung  in  des  A.  Rhetorik  I,  9. 

29  21.    Geschieht  im  4.  Kapitel  des  vierten  Buches. 

Als  fünftes  Stück  bieten  wir  das  sechste  und  siebente  Kapitel  aus 
dem  zehnten  Buch  der  Nikomachischen  Ethik.  Das  Thema  der  Auseinander- 
setzung lautet:  Glückseligkeit  ist  das  höchste  Gut  im  menschlichen  Leben. 
Worin  besteht  sie?  In  der  unbehinderten  Wesensbetätigung,  zu  höchst  Ver- 
nunft betätigung.  Wie  gelangt  man  zu  ihr?  Durch  die  Sittlichkeit  als  durch 
die  von  vernünftiger  Überlegung  bestimmte  Ordnung  des  Lebens.     Vgl.  31 12. 

31  7.  Anacharsis,  ein  weiser  Skythe  aus  älterer  Zeit,  soll  sein  iiaiCw  oitcuc 
oTTODodc^o)  gesagt  haben,  als  er  wegen  Würfelspiels  getadelt  wurde;  U.  v.  Wilamo- 
witz  vermutet  aber,  daß  ursprünglich  ein  Tadel  der  hellenischen  Gymnastik 
darin  gelegen  habe. 

31 20.  Gewisse  Bedingungen  zur  Entfaltung  sittlicher  Tätigkeit  fehlen 
dem  Sklaven,  er  kann  daher  Glückseligkeit  nicht  erringen.  Auch  die  Freien 
entbehren  oft  dieser  oder  jener  Bedingung  zur  Glücksehgkeit,  z.  B.  der  Ge- 
sundheit oder  des  Reichtums.  Gesundheit  und  Reichtum  sind  zwar  nicht  in« 
haltliche  Bestandstücke  der  Glückseligkeit,  aber  doch  Voraussetzungen  für 
ihr  Eintreten  und  daher  sittliche  Güter  von  beträchtlichem  Wert.  Der  Mensch 
lebt  eben  nicht  in  einer  idealen  Welt. 

31  41.  Die  innere  Befriedigung  ist  also  etwas,  was  zur  Glückseligkeit  hinzu- 
kommt.    Diese,  und  nicht  etwa  die  Lust,  bildet  das  Ziel  der  Tugend. 

32  ö.    Vgl.   S.  108. 

3225.  Die  Kriegskunst  trennt  A.  immer  von  der  Staatskunst;  die  Er- 
werbstätigkeit schätzt  er  so  niedrig  ein,  daß  sie  überhaupt  nicht  genannt 
wird. 

33?.  Dies  bedeutet  nicht,  daß  der  einzelne  Mensch  ein  hohes  Alter  er- 
reichen muß,  sondern  daß  die  Betätigung  der  Vernunft  sich  zu  einer  dauernden 
Lebensform  entwickeln  muß.  Wer  nur  für  kurze  Zeiträume  in  der  tugendhaften 
Seelenbetätigung  verharrt,  oder  wer  durch  äußeres  Mißgeschick  an  der  stetigen 
Ausbildung  sittlicher  Willensrichtungen  zeitweilig  gehindert  wird,  kann  nicht 
zur  höchsten  Glückseligkeit  gelangen.  Dadurch  unterscheidet  sich  die  Glück- 
seligkeit von  der  Lust,  die  im  Augenblicke  fertig  ist;  denn  es  gibt  keine  Lust, 


46  Aristoteles. 


„die  durch  die  Verlängerung  ihrer  Dauer  erst  zur  Vollendung  in  ihrer  Art 
käme".     (Nik.  Eth.  1174a  13.) 

33 18.  „Diese  Mahnungen  sind  der  Niederschlag  der  althellenischen  Moral; 
nichts  anderes  meint  der  Gruß  des  delphischen  Apollo  yvwÖ",  aaüxöv,  d.  h. 
YvwO-t  ävd-piuTzoQ  uiv.  Im  5.  Jahrhundert  wird  das  so  oft  in  der  von  A.  bezeich- 
neten prägnanten  Form  ausgesprochen,  daß  man  keinen  bestimmten  Vers  an- 
geben kann,  den  er  im  Sinne  hat."  (U.  v.  Wilamowitz,  Griech.  Lesebuch 
II,  2  S.  184.) 

Verbindende    Erörterung. 

Der  Anfang  der  „Politik"  ist  als  letzte  Probe  der  Aristotelischen  Philosophie 
von  uns  gewählt  worden.  Wir  haben  die  Verdeutschung  von  J.  Bernays  zu 
Grunde  gelegt  und  auch  die  kiirzen  (in  eckigen  Klammern  stehenden)  Sätze 
beibehalten,  mit  denen  Bernays  gelegentlich  den  Text  ergänzt  hat;  auf  diese 
Art  konnte  der  Kommentar  entlastet  werden.  Für  ein  genaueres  Studium 
empfehlen  wir  die  Ausgaben  von  Susemihl  (Leipzig  1879)  und  W.  L.  Newman 
(Oxford  1887). 

Die  „Politik"  schließt  sich  an  die  „Ethik"  an,  indem  sie  den  Staat  als  das 
wichtigste  Mittel  für  die  Verwirklichung  sittlicher  Forderungen  behandelt. 
Die  Gewöhnung,  die  der  Jugend  unentbehrlich  ist  (vgl.  die  Anm.  zu  26  ii), 
vollzieht  sich  am  leichtesten  in  der  staatlichen  Gemeinschaft,  da  diese  Ver- 
nunft, Recht  und  Macht  in  sich  vereinigt:  das  tüchtige  und  glückselige  Leben 
zu  fördern,  ist  Zweck  des  Staats.  —  Außer  den  moralphilosophischen  An- 
schauungen bringt  A.  Voraussetzungen  von  doppelter  Art  an  seinen  Gegen- 
stand heran.  Die  einen  entspringen  aus  den  Verhältnissen  seiner  Zeit  und 
seines  Landes.  „Staat"  {iz6X'.<;)  bedeutet  nicht  das,  was  wir  mit  dem  gleichen 
Wort  und  auch  wohl  mit  „Nation"  meinen,  sondern  eine  Stadt  mit  umliegen- 
dem Gebiet;  der  griechische  Staat  unterscheidet  sich  ferner  in  seinen  Ein- 
richtungen erheblich  von  unseren  heutigen  Staaten  und  Städten.  Die  Sklaverei 
wird  von  A.  anerkannt,  denn  es  gibt  seiner  Meinung  nach  Menschen  —  und 
zwar  Nichtgriechen  — ,  deren  natürliche  Bestimmung  die  Hörigkeit  ist.  Vgl. 
34  37.  —  Die  andere  Gruppe  von  Voraussetzungen  stammt  aus  der  Metaphysik. 
Jedes  Ding  empfängt  seine  Einheit  und  die  Richtung  seiner  Entwicklung  von 
dem  ihm  bestimmten  Zweck.  Also  auch  der  Staat.  Die  niederen  Verbände 
(Hausstand,  Dorf)  sind  Vorstufen  für  ihn  und  ihm  untergeordnet,  also  sein 
„Stoff"  oder  seine  „Möglichkeit".  Näheres  darüber  bei  der  Erläuterung  ein- 
zelner Stellen. 

33  33 — 3425.  Die  Würde  des  Staates  wird  aus  seinem  Zweck,  nämlich  der 
Erreichung  des  höchsten  Gutes,  abgeleitet.  Piatos  Lehre,  daß  die  Verbands - 
formen  einerseits,  die  Herrschaftsformen  anderseits  nur  quantitative  Unter- 
schiede aufweisen,  soll  durch  eine  zergliedernd-genetische  Untersuchung  wider- 
legt werden. 

34  26  ff.  Diese  Untersuchung  ist  in  Wahrheit  nicht  induktiv,  sondern  eine 
gewaltsame  Konstruktion.  Die  Familie  kann  schwerlich  als  elementarste 
Form,  demnach  als  ein  den  Tatsachen  entsprechender  Ausgangspunkt  zuge- 
standen werden ;  es  fragt  sich,  ob  die  gesellschaftliche  Verrichtung  der  niederen 


Erläuterungen.  47 


Gemeinschaften  zur  Verrichtung  des  Staates  gehört  (und  hierdurch  gewinnt 
A.  das  Ergebnis,  der  Staat  genüge  sich  selbst);  endlich  hört  die  Entwicklung 
in  Wirklichkeit  nicht  bei  dem  Stadt-Staat  auf. 

35 1.  Dies  Messer  konnte  mit  seinem  breiten  eisernen  Rücken  auch  als 
Hammer  benutzt  werden. 

35 10.    Euripides,  Iphigenie  in  Aulis  1401. 

35 16.    Hesiod,  Werke  und  Tage  403. 

35 19.  Charondas ,  ein  berühmter  Gesetzgeber  Siziliens,  lebte  mehrere 
Jahrhunderte  vor  Aristoteles.  Epimenides  war  ein  Zeitgenosse  der  sieben 
Weisen. 

35  34.    Homer,  Odyssee  9,  ii4. 

363.  Das  „vollkommene  Sichselbstgenügen"  bedeutet,  daß  kein  über 
den  Staat  hinausgehender  Verband  nötig  ist,  um  allen  Wünschen  des  Menschen 
gerecht  zu  werden. 

364.  Das  gute  Leben  ist  das  möglichst  vollkommene  und  glückliche. 
Da  die  Begriffsbestimmung  immer  die  höchste  Stufe  eines  Dinges  (seinen  Zweck 
oder  sein  Ziel  oder  seine  Endursache)  treffen  muß,  für  unseren  Fall:  da  Leben 
so  zu  definieren  ist,  daß  das  vollendete  Leben  definiert  wird,  so  hat  man  mit 
Recht  gesagt:  der  Staat  ist  nach  A.  für  des  Menschen  Leben  so  wesentHch 
wie  der  Akt  der  Geburt. 

36.".  Der  Hausstand  (mit  Einschluß  der  Sklaven)  ist  eine  naturgemäße 
Bildung  und  demgemäß  auch  der  Staat.  A.  wendet  sich  gegen  Sophisten  und 
Kyniker,  die  den  Staat  aus  bloßer  Übereinkunft  hergeleitet  hatten ;  mit  seiner 
Behauptung,  der  Staat  sei  ein  Erzeugnis  der  Natur,  wird  nur  das  Belieben, 
nicht  das  Wollen  von  der  Entstehung  des  Staates  ausgeschlossen.  Vgl.  37 10. 
—  Die  natürUche  Notwendigkeit  und  sittliche  Bedeutung  des  Staates  wurzelt 
darin,  daß  erst  in  ihm  alle  Anlagen  des  Menschen  sich  entfalten  können,  seine 
Natur  in  ihm  zum  Abschluß  gelangt.  A.  würde  nicht  zugeben,  daß  Humanität 
außerhalb  des  Staatslebens  zu  blühen  vermag;  vgl.  36  32. 

36  16.    Homer,  Ilias  9,  63. 

3633.  Früher  nicht  der  Zeit,  sondern  dem  Begriff  nach.  Der  Staat 
ist  höher  und,  weil  ein  Ganzes,  selbständiger  als  das  Indi\'iduum.  Vgl. 
Metaph.  I,  8,  10. 

37 1.  Über  die  Gleichnamigkeit  siehe  den  Anfang  der  Aristotelischen 
„Kategorien".  Dessoir. 


III. 
Sextus  Empiricus. 


Die  Tropen  der  Skeptiker. 

Gewöhnlich  werden  von  den  älteren  Skeptikern  gewisse  ./Tropen" 
überliefert,  durch  die  eine  Zurückhaltung  im  Urteil  herbeigeführt  zu 
werden  scheint,  und  zwar  zehn  an  der  Zahl,  die  sie  in  gleicher  Bedeutung 
auch  .,Eeden"  und  „Gesichtspunkte"  nennen.  Es  sind  die  folgenden: 
Der  erste  Tropus  gründet  sich  auf  die  Verschiedenheit  der  lebenden  5 
Wesen,  der  zweite  auf  den  Unterschied  unter  den  Menschen,  der  dritte 
auf  die  verschiedenartigen  Einrichtungen  der  Sinneswerkzeuge,  der 
vierte  auf  die  besonderen  und  wechselnden  Umstände,  der  fünfte  auf 
Stelluncj,  Abstand  und  Standort  des  Beobachters,  der  sechste  auf  die 
zu  den  Dingen  hinzutretenden  Beimischungen,  der  siebente  auf  die  10 
Größen  Verhältnisse  und  Zurichtungsarten  der  Dinge.  Der  achte  Tropus 
entsteht  aus  der  allgemeinen  Kelativität;  der  neunte  gründet  sich  auf 
die  Fortdauer  oder  Seltenheit  der  Vorkommnisse;  der  zehnte  auf  die 
Lebensführungen,  die  Sitten,  Gesetze,  mythischen  Glaubenssätze  und 
die  lehrphilosophischen  Annahmen.  Wir  bedienen  uns  übrigens  dieser  15 
Anordnung  nach  eigener  Festsetzung 

Der  erste  Tropus,  sagten  wir,  sei  der,  dem  gemäß  wegen  der  Ver- 
schiedenheit der  Lebewesen  von  denselben  Dingen  aus  nicht  dieselben 

Erscheinungsbilder  in  die  Sinne  fallen Der  Unterschied  der 

wichtigsten  Teile  des  Körpers  und  besonders  der  zum  Urteilen  und  zum  20 
Wahrnehmen  von  Natur  geeigneten  vermag  nach  der  abweichenden 
Beschaffenheit  der  Lebewesen  einen  Widerstreit  in  den  Vorstellungen 
zu  bewirken,  der  sehr  groß  ist.  Meinen  doch  die  Gelbsüchtigen,  es  sei 
gelb,  was  uns  weiß  erscheint,  und  die,  welche  an  blutunterlaufenen  Augen 
leiden,  es  sei  blutrot.  Da  nun  auch  von  den  Lebewesen  einige  die  Augen  25 
gelb  haben,  andere  blutunterlaufen,  andere  weißlich,  andere  anders- 
gefärbt, so  ist  es,  denke  ich,  wahrscheinlich,  daß  ihnen  eine  verschiedene 

x^uffassung  der  Farben  zu  teil  wird. Wenn  wir  ferner  das 

Auge  seitwärts  drücken,  so  erscheinen  die  Gestalten  und  Figuren  und 


Die  Tropen  der  Skeptiker.  49 

Größen  der  sichtbaren  Gegenstände  länglich  und  schmal.  Es  ist  also 
wahrscheinlich,  daß  alle  Lebewesen  mit  schräger  und  länglicher  Pupille, 
wie  die  Ziegen,  Katzen  u.  dergl.,  von  den  Dingen  an  sich  verschiedene 
Erscheinungsbilder  haben  und  nicht  solche,  wie  die  Tiere  mit  runden 

5   Pupillen  sie  annehmen. •  —    Die  gleiche  Betrachtungsweise  gilt 

auch  von  den  anderen  Sinnen. Deutlicher  noch  kann  man  das 

Verhältnis  kennen  lernen  aus  dem,  was  für  die  Lebewesen  erstrebens- 
und  fliehenswert  ist.  Myrrhe  z.  B.  erscheint  den  Menschen  sehr  angenehm, 
den  Skarabäen  und  Bienen  unerträghch;  das   öl  nützt  den  Menschen, 

10  tötet  aber  Wespen  und  Bienen,  wenn  es  auf  sie  gesprengt  wird;  das 
Meerwasser  ist  für  Menschen  unangenehm,   wenn  es  getrunken  wird, 

und  giftähnhch,  für  Fische  aber  sehr  angenehm  und  trinkbar. 

FolgHch:  Wenn  dieselben  Gegenstände  den  einen  unangenehm  sind, 
den  anderen  angenehm,  das  Angenehme  aber  und  Unangenehme  auf 

15  einem  Erscheinungsbilde  beruht,  so  werden  den  Lebewesen  von  den 
objektiven  Dingen  aus  verschiedene  Erscheinungsbilder  zu  teil.  Wenn 
aber  dieselben  Dinge  ungleichmäßig  erscheinen  nach  der  Verschieden- 
heit der  lebenden  Wesen,  so  werden  wir  zwar  sagen  können,  wie  von  uns 

r  das  Seiende  angeschaut  wird,  wie  es  aber  in  Wirklichkeit  ist,   darüber 

20  werden  wir  uns  des  Urteils  enthalten.  Denn  nicht  einmal  über  die  Er- 
scheinungsbilder zu  entscheiden  werden  wir  selbst  im  stände  sein, 
weder  über  unsere  eigenen  noch  die  der  anderen  lebenden  Wesen,  da 
wir  ja  selbst  eine  Seite  des  Widerspruchs  bilden  und  deswegen  vielmehr 
jemandes  bedürfen  würden,   der  entscheiden  soll,   also  daß   wir  selbst 

25   entscheiden  könnten. 

Als  zweiten  Tropus  nannten  wir  den  von  dem  Unterschied  der  Men- 
schen herrührenden;  denn  gesetzt,  es  gäbe  einer  zu,  daß  die  Menschen 
glaub^vürdiger  wären  als  die  unvernünftigen  Tiere,  so  werden  wir  finden, 
daß  auch,  soweit    unsere    Verschiedenheit  in  Betracht  kommt,  die 

30  Urteilsenthaltung  sich  einstellt.  Da  man  sagt,  zwei  Dinge  seien  es,  aus 
denen  der  Mensch  zusammengesetzt  ist,  Seele  und  Körper,  so  unter- 
scheiden wir  uns  in  Bezug  auf  diese  beiden  voneinander;  z.  B.  in  Bezug 
auf  den  Körper  durch  die  Gestalten  und  die  eigentümhchen  Zusammen- 
setzungen.    Es  unterscheidet  sich  ja  in  der  Gestalt  der  Körper  eines 

35  Skythen  von  eines  Inders  Körper,  den  Unterschied  aber  bewirkt,  wie 
man  sagt,  das  verschiedene  Vorherrschen  der  Säfte.  Nach  dem  verschie- 
denen Vorherrschen  der  Säfte  aber  werden  auch  die  Erscheinungsbilder 
verschieden,  wie  wir  es  beim  ersten  Tropus  dargestellt  haben.  Deshalb 
ist  sicherUch  auch  im  Wählen  und  Vermeiden  der  Außendinge  ein  großer 

*o  Unterschied  unter  den  Menschen;  denn  an  anderem  ergötzen  sich  die 
Inder  und  an  anderem  unsere  Landsleute;  an  Verschiedenem  aber  sich 

Dessoir-Menz er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  4 


50  Sextus  Empiricus. 


zu  ergötzen,  ist  ein  Anzeichen  davon,  daß  man  von  den  objektiven  Dingen 

her  unterschiedene  Vorstellungen  empfängt. Da  nun  Wählen 

und  Vermeiden  auf  Lust  und  Unlust  beruht,  die  Lust  und  die  Unlust 
aber  auf  Wahrnehmung  sich  gründet  und  auf  ein  Erscheinungsbild,  so 
ist  es,  wenn  die  einen  dasselbe  wählen,  was  die  anderen  meiden,  folge-  5 
recht  für  uns,  zu  schließen,  daß  sie  auch  nicht  auf  gleiche  Weise  von 
denselben  Dingen  bewegt  werden,  da  sie  auf  gleiche  Weise  sonst  das- 
selbe wählen  oder  ihm  ausweichen  würden.  Wenn  aber  dieselben  Dinge 
auf  verschiedene  Weise  das  Gemüt  bewegen,  je  nach  der  Verschieden- 
heit der  Menschen,  so  möchte  bilhg  auch  hieraus  die  Zurückhaltung  lo 
im  Urteil  sich  ergeben;  insofern  wir  vielleicht  zu  sagen  vermögen,  wie 
jedes  der  objektiven  Dinge  in  Bezug  auf  jegliche  Verschiedenheit  er- 
scheint, jedoch  nicht  im  stände  sind  zu  offenbaren,  was  es  gemäß  seiner 
Kraft,  der  Natur  nach,  ist.  Denn  entweder  werden  wir  allen  Menschen 
Glauben  schenken  oder  nur  einigen.  Aber  wenn  allen,  so  werden  wir  15 
einerseits  Unmöghches  versuchen,  anderseits  müssen  wir  dann  das  ein- 
ander Entgegengesetzte  hinnehmen.  Wenn  aber  nur  einigen,  so  soll 
man  uns  sagen,  welchen  beizupflichten  ist:  der  Platoniker  nämUch 
wird  sagen,  dem  Plato,  der  Epikureer,  dem  Epikur,  und  die  übrigen  in 
entsprechender  Weise  ;  und  indem  sie  so  unentscheidbar  uneins  sind,  20 
werden  sie  uns  wiederum  in  die  Zurückhaltung  drängen.  Wer  aber  sagt, 
der  Mehrheit  solle  man  beistimmen,  tut  etwas  Kindisches,  da  niemand  zu 
allen  Menschen  gehen  und  ausrechnen  kann,  was  den  meisten  gefällt, 
denn  es  ist  möglich,  daß  innerhalb  von  Völkern,  die  wir  nicht  ken- 
nen, das  bei  uns  Seltene  sich  bei  der  Mehrzahl  findet,  hingegen  das,  26 
was  den  meisten  von  uns  zukommt,  dort  nur  selten  vorhanden  ist.  — 
Damit  wir  auch  durch  Einschränkung  der  Betrachtung  auf  einen 
Menschen,  wie  z.  B.  auf  den  von  dogmatischen  Philosophen  erträumten 
Weisen,  zur  Zurückhaltung  gelangen,  so  machen  wir  uns  an  den  der 
Ordnung  nach  dritten  Tropus.  Als  diesen  bezeichnen  wir  den  vom  Unter-  30 
schied  der  Wahrnehmungen  ausgehenden.  Daß  aber  die  Wahrnehmungen 
sich  gegeneinander  unterscheiden,  ist  ganz  offenbar.  So  z.  B.  scheinen 
die  Gemälde  für  den  Gesichtssinn  Vertiefungen  und  Erhöhungen  zu 
haben,  nicht  aber  auch  für  den  Tastsinn.  Und  der  Honig  erscheint  bei 
einigen  für  die  Zunge  angenehm,  für  die  Augen  aber  unangenehm.   Auch   36 

bei  der  Myrrhe  verhält  es  sich  ebenso.  — Deshalb  werden  wir 

nicht  sagen  können,  wie  seiner  Natur  nach  jedes  dieser  Dinge  beschaffen 
ißt;  wie  es  aber  jedesmal  erscheint,  ist  zu  sagen  möglich.    Auch  anderes, 
mehr  als  dieses,   läßt  sich  anführen;  indessen  soll  nur  folgendes  gesagt 
werden.     Jedes  der  uns  erscheinenden  wahrnehmbaren  Dinge  scheint   40 
sich  mannigfach  darzustellen:  wie  z.  B.  der  Apfel  glatt,  wohlriechend, 


Die  Tropen  der  Skeptiker.  51^ 

ßüßj  gelb.  Unbekannt  ist  nun,  ob  er  wohl  in  Wirklichkeit  gerade  diese 
Beschaffenheiten  hat ;  oder  ob  er  nur  eine  Beschaffenheit  hat,  nach 
der  verschiedenen  Einrichtung  der  Sinneswerkzeuge  aber  verschieden 
erscheint ;  oder  ob  er  noch  mehr  Qualitäten  als  die  erscheinenden  hat, 

5   uns  jedoch  einige  davon  sich  nicht  darstellen. 

Der  zehnte  Tropus  hängt  ganz  besonders  mit  den  sittlichen  Dingen 
zusammen.  Er  bezieht  sich  auf  die  Lebensführung,  die  Sitten,  die  Ge- 
setze, die  mythischen  Glaubenssätze  und  die  dogmatischen  Annahmen. 
Lebensführung  nun  ist  die  Wahl  einer  Lebensart  oder  irgend  eines  Ver- 

10  haltens,  das  bei  einem  oder  vielen  sich  findet,  z.  B.  bei  Diogenes  oder 
den  Spartanern.  Gesetz  ist  eine  schrifthch  niedergelegte  Übereinkunft,  die 
bei  den  Angehörigen  eines  Staates  gilt  und  deren  Übertreter  bestraft 
wird.  Eine  Sitte  aber  oder  Gewohnheit  —  denn  dazwischen  besteht  kein 
Unterschied  —  ist  eine  vielen  Menschen  gemeinsame  Bilhgung  eines 

15  Verhaltens,  deren  Übertreter  durchaus  nicht  bestraft  vdrd;  wie  es  bei- 
spielsweise Gesetz  ist,  nicht  Ehebruch  zu  treiben,  Sitte  aber  bei  uns  ist, 
nicht  auf  offener  Straße  mit  einer  Frau  geschlechtlich  zu  verkehren. 
Ein  mythischer  Glaubenssatz  ist  eine  Bilhgung  nicht  geschehener  und 
erdichteter  Dinge,  wie  etwa  das  über  den  Kronos  Erzählte  und  anderes 

20  mehr;  denn  dies  verführt  viele  zum  Glauben.  Eine  Annahme  der  dog- 
matischen Philosophie  aber  ist  die  Zustimmung  zu  etwas,  das  durch  eine 
Überlegung  oder  irgend  einen  Beweis  gefestigt  scheint,  z.  B.  daß  die 
Grundteile  des  Seienden  unteilbar  oder  gleichteihg  oder  sehr  klein  oder 
irgendwie  anders  beschaffen  sind.    Wir  jedoch  stellen  jedes  liiervon  bald 

25  sich  selbst,  bald  jedem  der  anderen  gegenüber.  Beispielsweise  eine  Sitte 
einer  anderen  so :  einige  Äthiopier  tätowieren  die  kleinen  Kinder,  wir  aber 
nicht;  die  Perser  halten  es  für  schicklich,  ein  buntgefärbtes  und  bis  auf 
die  Füße  reichendes  Gewand  zu  brauchen,  wir  halten  es  für  unschick- 
lich.   Ein  Gesetz  aber  stellen  mr  einem  anderen  so  gegenüber : 

30  bei  den  Römern  bezahlt,  wer  dem  väterlichen  Vermögen  entsagt,  nicht 
die  Schulden  des  Vaters,  bei  den  Rhodiern  jedoch  bezahlt  er  sie;  bei 
den  Taurern  in  Skythien  war  es  Gesetz,  die  Fremden  der  Artemis  zu 
opfern,  bei  uns  aber  ist  es  verboten,  einen  Menschen  an  heihger  Stätte 
zu  töten.     Eine  Lebensweise  spielen  wir  gegen  eine  andere  aus,  sobald 

35  wir  die  Lebensweise  des  Diogenes  der  des  Aristipp  oder  die  der  Spartaner 
der  itahenischen  gegenüberstellen ;  einen  mytliischen  Glaubenssatz  gegen 
einen  anderen,  sobald  wir  erwägen,  daß  bald  Zeus  als  Vater  der  Menschen 
und   Götter  vorgestellt  w^ird,  bald  Okeanos,  indem  wir  sagen: 

„Okeanos,  der  Götter  Erzeuger,  und  Tethys,  die  Mutter." 
40  (Ilias,  14,  201.) 

Lehrphilosophische  Annahmen    aber    stellen    wir    einander    gegenüber, 


52  Sextus  Empiricus. 


wenn  wir  sagen,  die  einen  behaupten,  es  gebe  nur  ein  Element,  die 
anderen,  es  gebe  unbegrenzt  viele ;  und  die  einen,  durch  Vorsehung  der 
Götter  würden  die  Dinge  bei  uns  geordnet,  die  anderen  hingegen,  es 
geschehe  ohne  Vorsehung  —  —  —  — .  Einer  lehrphilosophischen 
Annahme  aber  wird  eine  Sitte  entgegengesetzt,  wenn  es  bei  uns  Sitte  5 
ist,  von  den  Göttern  das  Gute  zu  erbitten,  Epikur  indessen  sagt,  das 
Götthche  kümmere  sich  nicht  um  uns,  und  wenn  Aristipp  es  für  etwas 
Gleichgültiges  hielt,  ein  Frauenkleid  anzuziehen,  wir  aber  dies  für  häßlich 
erklären.  Eine  Lebensweise  stellen  wir  einem  Gesetz  gegenüber,  wenn 
gegen  das  gesetzhche  Verbot,  einen  freien  und  edelgeborenen  Mann  zu  10 
schlagen,  die  King-  und  Faustkämpfer  einander  schlagen  infolge  der  bei 
ihnen  üblichen  Lebensführung,  und  wenn,  obwohl  das  Morden  verboten 
ist,  die  Zweikämpfer  einander  töten  aus  derselben  Ursache 

Kurzum,  da  eine  so  große  Ungleichmäßigkeit  der  Dinge  auch  mittels 
dieses  Tropus  sich  zeigt,  so  werden  wir,  wie  das  an  sich  Seiende  der  15 
Natur  nach  beschaffen  ist,  nicht  zu  sagen  vermögen,  wohl  aber  wie  es 
beschaffen  erscheint  in  Bezug  auf  diese  und  jene  Lebensweise  oder  in 
Rücksicht  auf  dies  und  das  Gesetz  oder  in  Betrefi  dieser  und  jener  Sitte 
und  in  Bezug  auf  jedes  der  anderen  Dinge.  Auch  wegen  dieses  Tropus 
ist  es  also  nötig,  daß  wir  mit  dem  Urteil  über  die  Natur  der  objektiven  20 
Außendinge  an  uns  halten. 

So  gelangen  wir  demnach  mittels  der  zehn  Tropen  zuletzt  zur  Zurück- 
haltung. 

Das  vorliegende  Stück  ist  aus  des  Sextus  Empiricus  ,.Pyrrhonischen 
Grundzügen"  entnommen  und  zwar  aus  dem  14.  Kapitel  des  1.  Buches  (§§36 
bis  163).  Wir  haben  uns  starke  Kürzungen  erlaubt,  in  der  Meinung,  daß  die 
Wiedergabe  sämtHcher  Beispiele  und  Nebengedanken  keinen  Wert  für  unsere 
Leser  hat  und  die  schriftstellerische  Persönlichkeit  des  S.  auch  in  dieser  Form 
erkennbar  bleibt.  S.,  ein  Arzt,  der  um  200  n.  Chr.  lebte,  ist  als  derjenige  Plü- 
losoph  des  Altertums  bezeichnet  worden,  „welcher  der  studierenden  Jugend 
nach  der  Beschäftigung  mit  Plato  und  Aristoteles  als  Vorbereitung  auf  die 
neuere  Philosophie  vorzugsweise  empfohlen  zu  werden  verdient".  Eine  vor- 
zügliche Übersetzung  und  Erläuterung  seines  eben  genannten  Buches  verdankt 
die  Wissenschaft  Eugen  Pappenlieim  (Leipzig  1877  u.  1881,  in  der  „Philos. 
Bibl.");  empfehlenswert  und  von  uns  benützt  ist  R.  Richters  Werk  „Der 
Skeptizismus  in  der  Philosophie",  Bd.  I,  1904. 

Die  Skepsis  der  Griechen  bedeutet  die  wahrhaft  klassische  Ausbildung 
dieser  Denkweise:  Pyrrho  hat  sie  begründet,  Timon  sie  formuliert  und  S. 
ihr  eine  energisch  abschließende,  zusammenhängende  Darstellung  geliehen. 
Es  handelt  sich  hier  nicht  um  jenen  leeren  Zweifel,  der  an  nichts  glauben  will, 
überall  nur  Täuschung  erblickt  und  schließlich  in  Verzweiflung  umschlägt, 
sondern  um  die  aus  einem  reichen  Wissen  entspringende  Einsicht,  daß  unauf- 


Erläuterungen.  53 


hebbare  Widersprüche  uns  Menschen  niemals  zur  Erkenntnis  der  eigentlichen 
Natur  des  Seienden  gelangen  lassen.  Als  Folgerung  schließt  sich  an:  der 
Verzicht  auf  jedes  Urteil  über  die  objektive  Beschaffenheit  der  Dinge,  und  als 
Endergebnis:  die  nunmehr  mit  Berechtigung  eintretende  glückerfüllte  Ruhe 
des  Gemüts.  Nach  den  „Pyrrh.  Grundz."  (I,  4  §§  8 — 10)  besteht  die  Skepsis 
darin,  ,,daß  sie  Erscheinendes  und  Gedachtes  auf  jede  Weise  gegenüberstellt; 
und  von  hier  gelangen  \\4r  infolge  der  Gleichkräftigkeit  in  den  gegenüberge- 
stellten Dingen  und  Gedanken  zuerst  zur  Zurückhaltung,  nachher  aber  zur 
ünbeirrtheit. Gleichkräftigkeit  nennen  wir  die  Gleichheit  in  Glaub- 
würdigkeit und  Unglaubwürdigkeit,  so  daß  keine  von  den  streitenden  Behaup- 
tungen der  anderen  als  glaubwürdiger  voransteht.  Zurückhaltung  ist  ein 
Stillestehen  der  Einsicht,  infolge  wovon  wir  weder  etwas  verneinen  noch  be- 
jahen, ünbeirrtheit  ist  Ungestörtheit  und  Windstille  der  Seele".  Die  inhalt- 
lich entgegengesetzten,  aber  an  Überzeugungskraft  gleichwertigen  Behauptungen 
beziehen  sich  auf  die  Dinge,  wie  sie  an  sich,  ihrer  Natur  nach  oder  in  Wirklich- 
keit sind,  während  über  die  Erscheinungen  richtig  geurteilt  und  ihnen  gemäß 
auch  richtig  gehandelt  werden  kann,  denn  das  Erscheinende  und  seine  Wirkung 
auf  uns  3Ienschen  wird  nicht  angezweifelt.  ^lan  darf  daher  sagen,  daß  schon 
in  dieser  philosophischen  Schule  der  Skeptizismus  zum  Positivismus  führt. 
(Vgl.  die  unter  beiden  Stichworten  im  Sachverzeichnis  erwähnten  Stellen.) 

48 1.  Bei  den  »älteren  Skeptikern"  ist  vornehmlich  auch  an  Änesidemus 
zu  denken,  über  den  (wie  über  die  anderen  beiläufig  genannten  Philosophen) 
die  Lehrbücher  der  Philosophiegeschichte  Auskunft  geben. 

48  8.  Die  Darstellung  der  Tropen  4 — 9  fehlt  in  unserer  Übersetzung.  Der 
vierte  schließt  aus  der  wechselnden  und  ungleichartigen  Reaktion  desselben 
Sinnesorgans  und  aus  der  individuellen  Veränderlichkeit  ästhetischer  Be- 
wertung auf  die  Unerkennbarkeit  des  Objektiven;  der  fünfte  handelt  von  den 
Sinnestäuschungen;  6 — 8  bieten  nichts  Neues;  der  neunte  Tropus  beruft  sich 
auf  den  Unterschied  der  Gefühle  gegenüber  gewohnten  und  gegenüber  seltenen 
Erfahrungen  und  will  damit  die  Unerforschlichkeit  des  Ansich  erweisen,  gleich 
als  ob  dieses  auch  unabhängig  von  der  Beziehung  auf  den  Menschen  bestimmte 
Gefühlsqualitäten  besäße.  Gemeinsam  ist  den  ersten  neun  Tropen,  daß  Wider- 
sprüche in  den  Sinneswahrnehmungen  als  Beweismittel  gegen  die  Erkennbar- 
keit der  zu  Grunde  liegenden  Dinge  benützt  werden. 

48  17.    Der  erste  Tropus  galt  als  der  wichtigste. 

48  19 — 49').  Der  Gedanke  ist,  daß  durch  die  verschiedene  Beschaffenheit 
der  Sinnesorgane  die  von  dem  gleichen  Ding  ausgehenden  Eindrücke  auch 
verschieden  ausfallen  müssen. 

49  7  ff.  Die  Verschiedenheit  der  Gefühls-  und  Willensreaktionen  wird  zu 
der  bekannten  Folgerung  benützt. 

49  26.  Beim  zweiten  und  dritten  Tropus  findet  eine  allmähliche  Einschrän- 
kung des  Vergleichungsfeldes  statt,  wie  Pappenheim  richtig  hervorhebt. 

5028.  Die  Stoiker  sind  gemeint,  wie  meist  bei  S.,  wenn  von  Dogmatikern 
oder  Lehrphilosophen  die  Rede  ist. 

51 1.    Da  zwischen  den  Qualitäten  der  verschiedenen  Sinne  kein  Wider- 


54  Sextua  Empiricus. 


Spruch  festgestellt  werden  kann,  sondern  z.  B.  eine  bestimmte  Farbe  mit  jeder 
beliebigen  tast-  oder  schmeckbaren  Eigenschaft  vereint  vorkommt,  so  wird 
das  Problem  an  einen  anderen  Ort  verlegt  und  die  auch  noch  heute  interessierende 
Frage  aufgeworfen,  ob  die  Dinge  mehr  oder  weniger  Qualitäten  besitzen,  als 
wir  durch  unsere  fünf  Sinne  an  ihnen  wahrnehmen. 

51  6.  Auch  der  zehnte  Tropus,  der  einen  consensus  omnium  in  sittlichen 
und  religiösen  Angelegenheiten  leugnet,  führt  durch  Aufdeckung  der  hier 
bestehenden  Widersprüche  zu  der  Einsicht  eines  seiner  Natur  nach  Unerkenn- 
baren. Vielleicht,  so  will  S.  sagen,  gibt  es  absolute  ethische  Werte,  aber  uns 
sind  sie  unzugänglich.  Wertgegenstand  und  Wahrnehmungsgegenstand  werden 
gleich  gesetzt:  auch  in  der  Sphäre  der  Sittlichkeit  finden  sich  sozusagen  Dinge 
an  sich  (absolute  Werte),  die  indessen  in  den  verschiedenen  Gesetzen  und  ver- 
änderlichen Sitten  derart  verschiedentlich  „erscheinen",  daß  die  Erkenntnis  bei 
den  moralischen  Phänomenen  und  ihrer  Relativität  stehen  bleiben  muß. 

ol9  £f.  Diese  Begriffsbestimmungen  stammen  vermutlich  aus  der  stoischen 
Philosophie. 

5135.  Aristipp  vertrat  eine  gemäßigte  Genußlehre.  Vgl.  S.  18  die  An- 
merkung zu  7  35. 

D  e  s  s  o  i  r. 


IV. 

Seneca. 


Ein  glückseliges  Leben. 

II.  Wenn  es  sich  um  die  Glückseligkeit  des  Lebens  handelt,  so  darfst 
du  mir  nicht,  als  könnte  darüber  abgestimmt  werden,  mit  der  Ant- 
wort kommen,  daß  die  Majorität  auf  dieser  oder  jener  Seite  stehe;  wo 
sie  steht,  steht  auch  das  Schlechte,  denn  leider  ist  es  um  die  Mensch- 

5  heit  nicht  so  gut  bestellt,  daß  die  Mehrzahl  immer  für  das  Bessere  sich 
entscheide :  wo  die  Masse  sich  schart ,  darfst  du  das  SchUmmste  er- 
warten. Wir  müssen  nach  dem  Besten,  nicht  nach  dem  Gebräuchlichsten 
fragen,  nach  dem,  was  uns  den  sichern  Besitz  ewigen  Glückes  verbürgt, 
nicht  nach  dem,  was  beim  Pöbel,  dem  unzureichendsten  Dolmetsch  der 

10  Wahrheit,  gut  angeschrieben  steht.  Zum  Pöbel  aber  rechne  ich  Leute 
im  Königsmantel  ebenso  gut  wie  solche  im  groben  Kittel :  denn  ich  sehe 
nicht  auf  den  äußerlichen  Schmuck  des  bunten  Kleides;  ich  vertraue 
mich  meinem  Auge  nicht  an  bei  der  Beurteilung  eines  Menschen;  ich 
habe  ein  besseres,  ein  zuverlässigeres  Licht,  um  Falsches  von  Wahrem 

13  zu  unterscheiden:  nur  der  Geist  erkunde  den  Wert  des  Geistes!  Wenn 
er  einmal  Ruhe  gewinnt  und  in  sich  geht,  ^\^e  wird  er  dann,  von  eigner 
Folter  gequält,  ein  Geständnis  ablegen  müssen  und  sagen:  „Was  ich 
bisher  getan  —  lieber  sah'  ich  es  ungetan!  Was  ich  gesprochen  —  die 
Stummen  beneide  ich,  wenn  ich  daran  zurückdenke !  Was  mein  Herzens- 

20  wünsch  war,  erscheint  mir  wie  der  Fluch  eines  Feindes!  Was  meine 
Herzensangst  war  —  gütige  Götter!  wieviel  besser  wäre  es  für  mich 
gewesen,  als  all  das,  was  ich  heiß  begehrt  habe.  Wie  vielen  war  ich  Feind 
und  wurde  dann  ihr  Freund,  wenn  es  unter  Schlechten  überhaupt  Freund- 
schaft gibt:  mein  eigener  Freund   aber   bin   ich  noch  nicht  geworden. 

25  Alle  Mühe  habe  ich  mir  gegeben,  mich  aus  der  Masse  emporzuarbeiten, 
durch  irgend  ein  Talent  mich  bemerkbar  zu  machen.  Was  erreichte 
ich  damit  anderes,  als  daß  ich  mich  Anfeindungen  preisgab,  und  der 
Bosheit  die  Blöße  wies,  wo  sie  ihren  Zahn  einschlagen  konnte.  Siehst 
du  alle  jene,  die  deine  Redefertigkeit  rühmen,  deinem  Reichtum  nach- 


56  Seneca. 

laufen,  deine  Gunst  erschmeicheln,  deine  Macht  in  den  Himmel  heben? 
alle  sind  sie  deine  Feinde,  oder  —  was  keinen  Unterschied  macht  —  sie 
könnten  es  sein.  Soviel  Bewunderer,  soviel  Neider!  So  will  ich  denn 
etwas  anerkannt  Gutes  suchen,  was  ich  im  inneren  Herzen  fühle,  nicht 
was  ich  außen  zur  Schau  trage:  denn  all  die  Dinge,  die  begafft  werden,  5 
die  die  Menge  umdrängt,  die  einer  dem  anderen  staunend  zeigt,  sie  blenden 
nach  außen  hin,  im  Kern  aber  sind  sie  faul." 

III.  So  also  wollen  wir  ein  Gut  aufsuchen,  das  kein  Scheingut  ist, 
das  gediegen  und  sich  selbst  gleich  bleibt,  das  verborgen  in  der  Tiefe 
seinen  Wert  hat.     Ein  solches  gilt  es  aufzuspüren.     Und   es   liegt  gar    lo 
nicht  so  vv^eit  in  der  Ferne.    Wir  werden  es  finden.    Nur  müssen  wir 
wissen,  wie  es  zu  ergreifen  ist!    Jetzt  tappen  wir  im  Finstern  gerade 
am  Nächsthegenden  vorbei  und  stoßen  uns  an  dem,  was  wir  suchen. 
In  Einem  sind  alle  Stoiker  einig:  An  die  Natur  werde  ich  mich  halten, 
und  weise  sein  heißt,  von  ihr  nicht  abzuirren,  nach  ihrer  Satzung,  ihrem   is 
Vorbild  sich  zu  bilden.     Glückselig    ist    ein    Leben,    das 
mit     seiner     eigenen     Natur     in     Einklang     steht! 
Dies  aber  kann  nur  erreicht  werden,  wenn  der  Geist  gesund  und  in 
beständigem   Besitz   seiner    Gesundheit  ist;   auch   muß   er   stark  und 
energisch,  wohlgebildet  und  standhaft  sein,  er  muß  sich  in  die  Ver-   20 
hältnisse  schicken  können,  muß  den  Bedürfnissen  des  Körpers  Rechnung 
tragen,  ohne  doch  gar  zu  ängstlich  um  ihn  besorgt  zu  sein.   Schheßlich 
muß  er  sein  Augenmerk  richten  auf  all  das,  was  zum  Leben  gehört, 
ohne  doch  auf  irgend  etwas  zu  großen  Wert  zu  legen;  er  soll  sich  der 
Gaben  des  Glücks  bedienen,  ohne  doch  ihr  Sklave  zu  sein.    Auch  wenn   25 
ich  es  nicht  ausdrückhch  hinzufügte,  erkennst  du:  daraus  fließt  eine 
beständige  Gemütsruhe  und  Freiheit,  die  erlöst  ist  von  allem,  was  reizt 
und  schreckt.     Denn  an  Stelle  der  Sinnenlust  und   jener  Genüsse,   die 
geringwertig,  flüchtig  und  in  ihrer  Gemeinheit  außerdem  schädlich  sind, 
tritt  eine  starke,  freudige  Erhobenheit,  unerschütterlich  und  ewig  sich   so 
gleich,  Friede  und  Eintracht,  Größe  im  Bunde  mit  Milde:  denn  alles 
unbändige  Wesen  ist  ein  Zeichen  von  Schwäche. 

IV.  —  —  —  —  Darum  muß  man  sich  durchringen  zur  Freiheit: 
die  aber  kann  uns  aus  nichts  anderem  entspringen  als  aus  der  Gleich- 
gültigkeit gegen  das  Schicksal :  aus  ihr  erwächst  jenes  unschätzbare  Gut:   30 
die  Ruhe  und  Erhabenheit  des  Geistes,  der  seinen  festen  Standpunkt 
gefunden   hat.   —   —   —   — 

V. Glücklich  kann  der  Mensch  genannt  werden,  welcher 

unter  Leitung  der  Vernunft  nichts  mehr   wünscht  und   nichts  mehr 
fürchtet.    Steine  und  Tiere  sind  zwar  auch  frei  von  Furcht  und  Trübsal,   4o 
glückhch  aber  wird  sie  niemand  nennen,  weil  ihnen  das  Bewußtsein 


Ein  glückseliges  Leben.  57 


des  Glückes  fehlt.  Auf  derselben  Stufe  stehen  jene  Menschen,  die  Stumpf- 
sinn und  Mangel  an  Bewußtsein  zum  Vieh  herabsinken  Heß.  Zwischen 
Tier  und  Mensch  ist  dann  nicht  der  geringste  Unterschied;  dort  findet 
sich  zwar  keine  Vernunft,  hier  eine  verdorbene,  die  verkehrt  und  zu 
5  ihrem  eigenen  Schaden  wirksam  ist.  Denn  glückhch  kann  niemand 
heißen,  der  an  der  Wahrheit  keinen  Teil  hat.  Glücklich  ist  also  ein 
Leben  zu  nennen,  das  auf  richtiger  und  klarer  Vernunfteinsicht  uner- 
schütterhch  und  unveränderlich  ruht.  Dann  ist  die  Seele  rein  und  frei 
von  allen  Übeln,  wenn  sie  über  die  kleinen  Quälereien  ebenso  wie  über 

10  die  großen  Qualen  hinweggekommen  ist,  wenn  sie  sich  dort  fest  be- 
hauptet, wo  sie  einmal  steht,  und  ihren  Platz  auch  gegen  das  zornige 
Andrängen  des  Geschickes  verteidigt.  Mag  der  Strom  der  Sinnenlust 
von  allen  Seiten  her  uns  überschwemmen,  auf  allen  Wegen  und  Stegen 
wider  uns  einfließen,    mag  er  unseren  Sinn  mit  seinen  Lockungen  um- 

15  schmeicheln,  mag  er  ein  Mittel  nach  dem  anderen  aufbieten,  uns  oder 
einen  Teil  von  uns  in  Unruhe  zu  versetzen:  wer  könnte  den  AVillen  haben, 
sofern  noch  eine  Spur  von  Menschentum  in  ihm  lebt,  Tag  und  Nacht 
sich  diesem  Kitzel  hinzugeben,  die  Pflege  des  Geistes  zu  vernachlässigen 
und  nur  der  gemeinen  Lust  zu  frönen? 

20         VI. Sogar  die  Philosophen,  welche  die  Lust  für  das  höchste 

Gut  erklärten,  haben  ihr  nur  eine  niedrige  Stelle  eingeräumt:  deshalb 
lehren  sie,  daß  wahre  Lust  ohne  Tugend  nicht  bestehen  könne,  und 
bestreiten,  daß  sich  ein  angenehmes  Leben  führen  ließe,  welches  nicht 
zugleich  sittlich  wertvoll,  ^vie  ein  sittlich  wertvolles,  das  nicht  zugleich 

25   angenehm  sei. 

VII.  Ich  sehe  aber  nicht  ein,  wie  man  zw^ei  so  verschiedene  Dinge 
zusammenbringen  will.  Ich  bitte  euch,  warum  soll  man  denn  die 
Sinnenlust  nicht  von  der  Tugend  trennen  können?  Vielleicht  w^eil  ein 
jedes  Gut  seinen  Ursprung  in  der  Tugend  hat?  und  weil  aus  dieser  Wurzel 

30  auch  all  das,  was  man  liebt  und  wünscht,  entsproßt?  Ließen  sich  diese 
beiden  wirklich  gar  nicht  voneinander  trennen,  so  dürften  wir  folge- 
richtig auch  niemals  erleben,  daß  manches  angenehm,  aber  dennoch 
sitthch  wertlos,  manches  von  höchstem  sittlichen  Wert,  aber  nur  auf 
rauhem  Pfad  und  unter  Schmerzen  erringbar  ist.     Es  kommt  hinzu, 

35  daß  auch  das  verworfenste  Leben  sich  mit  sinnlicher  Lust  verträgt, 
während  die  wahre  Sittlichkeit  eine  schlechte  Lebensführung  erst  gar 
nicht  an  sich  heranläßt,  daß  Menschen,  nicht  weil  ihnen  der  Genuß 
gemeiner  Vergnügungen  versagt  blieb,  unglückUch  sind,  sondern  gerade, 
weil  sie  zuviel  davon  gekostet.     Und  dies  könnte  nie  geschehen,  wenn 

40  Lust  und  Tugend  sich  jemals  in  eine  Einheit  verschmelzen  ließen:  oft 
zwar  fehlt  der  Tugend  die  Lust,  niemals  aber  bedarf  sie  ihrer 


58  Seneca. 

VIII.  Die  Lust  empfinden  die  Guten  und  die  Schlechten,  und  dem 
gemeinen  Menschen  wird  seine  Schmach  ebenso  zum  Genuß,  wie  dem 
Edlen  seine  sittliche  Würde.  Darum  auch  gaben  die  Alten  jene  Vor- 
schrift: man  solle  nicht  das  angenehmste,  sondern  das  beste  Leben  sich 
zum  Ziel  erküren,  und  nicht  solle  die  Lust  der  Leiter,  sondern  der  Be-  s 
gleiter  der  guten  und  sittlichen  Triebe  in  uns  sein.  Die  Natur  soll  uns 
Führerin  sein:  die  Natur  beobachte,  die  Natur  befrage  der  vernünftige 
Mensch.      Glücklich    leben    und    naturgemäß     leben 

ist   eins. Der  Gott,  welcher  das  Universum  umfaßt  und 

lenkt,  ^virkt  nach  außen,  doch  kehrt  er  immer  von  jedem  Wege  wieder   lo 
in  sich  selbst  zurück.    Also  handle  auch  unser  Geist:  er  folge  dem  Zug 
der  Sinne  und  wirke  mit  seiner  Kraft  hinaus  in  die  umgebende  Welt: 
dann  herrsche  er  über  das  äußere  Dasein  und  über  sein  eigenes  Innere. 
So  wird  ihm  eine  in  sich  harmonische  Macht  zu  eigen  werden,  es  wird 
jene  zuverlässige  Art  von  Vernunft  daraus  entspringen,  die  einig  mit  sich   i5 
selbst,  nicht  wankt  in  Meinung,  Begriff  und  Überzeugung.     Und  wenn 
diese    Überzeugung  innere   Ordnung  errungen,   wenn  sie   sich  bis   ins 
Einzelne    folgerichtig   durchgebildet   und,    sozusagen,    harmonisch  ein- 
gestimmt hat,  dann  rührt  sie  an  das  höchste  Gut.     Nichts  Verkehrtes, 
nichts  Schwankendes  findet  sich  mehr  an  einem  solchem  Menschen,    20 
nichts, das  ihn  zum  Straucheln  oder  Gleiten  verführen  könnte;  in  allem 
handelt  er  nach  selbst  gegebenem  Gesetz,  nichts  kann  ihm  unerwartet 
widerfahren.     Alles  gerät  ihm  leicht,  glatt,  ohne  Zögern  und  Zaudern. 
Träge   Unschlüssigkeit    ist    ein    Zeichen    von    Zwiespalt    und    innerer 
Schwäche.    So  kann  man  kühn  behaupten,  daß  ein  mit  sich  selbst  einiger   25 
Geist  das  höchste  Gut  sei,  denn  wo  vollkommene  Harmonie  herrscht, 
muß  auch  Tugend  sein.    Das  Laster  liegt  mit  sich  selbst  im  Kampf. 

IX.  „  Aber  auch  du, "  könnte  man  einwenden,  „  pflegst  die  Tugend  nur, 
weil  du  dir  irgend  eine  Lust  davon  versprichst."     Dagegen  fürs  erste: 
gewährt  auch  die   Tugend  Lust,   so  ist  diese   doch   30 
nicht  der   Grund   unseres  Strebens  nach  ihr.    Nicht 
Lust  gewährt  die  Tugend,  sondern  auch   Lust  gewährt  sie.    Nicht  der 
Lust  wegen  müht  man  sich  um  sie,  sondern  jedem,  der  sich  um  Tugend 
müht,  fällt  auch  Lust  in  den  Schoß,  mag  das  Ziel  seines  Strebens  auch 
in  ganz  anderer  Richtung  liegen.     Wie  auf  einem  Acker  unter  dem   35 
Korn  Feldblumen  mit  aufsprießen,  ohne  daß  man  besondere  Mühe  auf- 
wandte, sie,  die  so  hübsch  aussehen,  anzubauen  (der  Sämann  jedenfalls 
ging  anderen  Zwecken  nach,   und  dies  war  nur  ein  unbeabsichtigter 
Nebenerfolg)  —  so  ist  auch  die  Lust  nicht  der  Lohn  der  Tugend,  nicht 
ihr  Bestimmungsgrund,  sondern   eine  Zugabe  zu  ihr:   man  entscheidet   40 
sich  nicht  für  sie,  weil  sie  Lust  bringt,  sondern,  wenn  man  sich  für  sie 


Ein  glückseliges  Leben.  59 


entschieden  hat,  empfindet  man  auch  Lust  durch  sie.  Das  höchste 
Gut  liegt  im  vernünftigen  Bewußtsein  und  der  vernünftigen  Haltung 
der  bestmöghchen  Geistesbeschaffenheit.  Wenn  diese  ihre  Aufgaben 
erfüllt,  bestimmte  Grenzen  um  sich  gezogen  hat,  dann  hat  sie  das  höchste 
6  Gut  in  sich  aufgenommen,  und  es  bleibt  ihr  nichts  mehr  zu  wünschen 
übrig.  Denn  über  das  Ganze  hinaus  gibt  es  nichts  mehr,  und  über 
die  letzte  Grenze  hinaus  ebensowenig.  Darum  ist  schon  die  Frage- 
stellung verkehrt,  aus  welchem  Grunde  ich  die  Tugend  erstrebe.  Denn 
diese  Frage  geht  über  das  Höchste  hinaus.    Du  fragst,  was  ich  von  der 

10   Tugend  wolle :  sie  selbst  will  ich.   Sie  hat  nichts  Besseres  als  sich  selbst, 

sie  ist  ihr  eigener  Lohn. —  — 

XL Als  einen  Weisen  kann  ich  den  nicht  bezeichnen, 

der  noch  irgend  etwas  über  sich  anerkennt,  vollends  gar  die  sinnliche 
Lust :  wie  kann  er  unter  ihrem  Szepter  der  Mühe  und  Gefahr,  der  Armut 

15  und  all  den  mannigfachen  Nöten  Trotz  bieten,  welche  das  Menschen- 
leben rings  umdräuen  ?  Wie  wird  er  den  Anblick  des  Todes  vertragen 
und  den  des  Schmerzes,  wie  das  Erbeben  der  Erde,  das  Toben  so  vieler 
Feinde,  wenn  schon  ein  so  schwacher  Gegner  ihn  wirft?  Was  die  Lust 
von  ihm  verlangt,  das  wird  er  tun,  und  sie  wird  \'iel  von  ihm  verlangen. 

20  ., Aber  nichts  Unehrenhaftes!"  sagst  du,  „weil  ja  die  Lust  in  inniger 
Verbindung  mit  der  Tugend  lebt."  Aber  was  ist  das  für  ein  höchstes 
Gut,  das  einen  Aufpasser  nötig  hat,  um  überhaupt  als  Gut  bestehen 
zu  können?  Wie  aber  kann  die  Tugend  die  Lenkerin  der  Lust  sein,  und 
ihr  dabei  nachlaufen,   denn  Nachlaufen  ist  Sache  des   Gehorchenden, 

25   Vorangehen  aber  Sache  des  Gebietenden. 

XII. Auch  die  Unvernünftigen  können  ein  Leben  der  Lust 

führen,  trotz  ihrer  inneren  Unsicherheit  und  den  drohenden  Gewissens- 
ängsten, und  man  muß  zugeben,  daß  sie  von  den  Unannehmhchkeiten 
des  Lebens  ebensowenig  etwas  erfahren,  wie  von  der  wahrhaft  sittlichen 

30  Lebensführung,  und  daß  die  Mehrzahl  von  ihnen  in  vergnügter  Besin- 
nungslosigkeit und  lachender  Tollheit  dahinlebt.  Die  Lust  des  Weisen 
dagegen  ist  abgedämpft,  genügsam,  ohne  Heftigkeit,  nicht  ausschweifend 
und  unauffällig ;  sie  naht  sich  von  selbst,  ohne  ausdrücklich  herbeigerufen 
zu  sein,  sie  steht  nicht  gar  so  hoch  in  Ehren,  ob  sie  auch  freiwillig  kam, 

35  man  nimmt  sie  in  Empfang  ohne  irgendwelche  Freudenbezeigungen; 
man  läßt  sie  in  den  Strom  des  Lebens  mit  einfließen,  wie  etwa  Spiel 
und  Scherz  in  den  Ernst.  Man  suche  also  fürder  nicht  Dinge  mitein- 
ander in  Verbindung  zu  bringen,  die  nie  zueinander  passen,  man  flechte 
nicht  länger  Tugend  und  Lust  in  eins:  das  ist  ein  Mißgriff,  der  nur  zur 

40   Folge  hat,  daß  die  Schlechten  sich  geschmeichelt  fühlen. 

XIII.    Und  ich  bin  nun  der  Ansicht  (vielleicht  hören  meine  Brüder 


60  Seneca. 

von  der  Stoa  das  nicht  gern)  daß  Epikur  hierin  gute  und  rechte  Vor- 
schriften gibt,  Vorschriften,  welche  von  großem  Ernst  zeugen,  wenn  man 
ihnen  nur  wirkhch  näher  tritt:  die  Lust  wird  nämhch  von  ihm  in  ihrer 
Bedeutung  bis  auf  den  geringsten  Umfang  eingeschränkt,  und  was  wir 
unter  Tugend  verstanden  wissen  Vs^ollen,  versteht  er  unter  Lust.  Er  5 
fordert,  die  Lust  müsse  der  Natur  Untertan  sein.  Was  der  Natur  genug 
ist,  genügt  nicht  den  Ansprüchen  eines  schwelgerischen  Lebens.  Ein 
Mensch,  der  in  Müßiggang  und  unaufhörlichem  Wechsel  von  materiellen 
Genüssen  und  sinnhchen  Ausschweifungen  hinlebt,  und  der  dies  dann 
als  sein  Glück  bezeichnet,  sucht  eine  schlechte  Sache  mit  einem  guten  lo 
Namen  zu  belegen,  und  ist  ihm  das  gelungen,  so  überantwortet  er  sich 
der  Leitung  dieses  verführerischen  Namens- und  geht  jener  Art  von  Lust 
nach,  die  seinen  Begierden,  nicht  dem  Worte  der  Lehrer  entspricht. 
Und  hat  er  erst  einmal  begonnen,  seine  Fehltritte  als  rechte  Erfüllungen 
der  Lehrvorschriften  anzusehen,  so  gibt  er  sich  ihnen  frech  am  hellen  is 
lichten  Tage  hin.  Schamlos,  ja  stolz  erhobenen  Hauptes  führt  er  sein 
liederliches  Leben.  So  sage  ich  nicht,  wie  die  Mehrzahl  unserer  Gesin- 
nungsgenossen, die  Schule  Epikurs  sei  eine  Pflanzstätte  der  Ruchlosigkeit : 
ich  sage,  sie  steht  in  schlimmem  Rufe,  sie  ist  verschrieen,  aber  zu  Un- 
recht.   Es  müßte  nur  jemand  zwischen  den  verschiedenen   20 

Arten  der  Lust  fein  die  Unterscheidung  treffen,  um  zu  wissen,  welche  in 
den  Schranken  natürlichen  Verlangens  bleiben,  und  welche  Hals  über 
Kopf  ins  Ungemessene  forttreiben,  um  so  unersättlicher,  je  mehr  man 
sich  an  ihnen  zu  sättigen  sucht.  —  Die  Tugend  schreite  voran,  dann  ist 
der  Weg  sicher.  Zuviel  der  Lust  ist  schädHch.  Bei  der  Tugend  aber  ist  25 
ein  Zuviel  nicht  zu  befürchten:  denn  sie  ist  selbst  das  Maß. 

XIV. Die  Menschen,  welche  der  Lust  die  Führerstellung 

eingeräumt  haben,  müssen  gerade  dann  beides  entbehren:  die  Tugend 
verHeren  sie;  und  nicht  sie  haben  die  Lust,  sondern  die  Lust  hat  sie; 
entweder  quält  sie  der  Mangel  an  Lust,  oder  sie  ersticken  im  Überfluß ;  30 
sie  sind  elend,  wenn  sie  sie  nicht,  doppelt  elend,  wenn  sie  sie  im  Überfluß 
haben;  sie  gleichen  den  Schiffern  in  einem  Meere  voller  Sandbänke: 
das  eine  Mal  sitzen  sie  auf  dem  Trockenen,  das  andere  Mal  fahren  sie  auf 
hochgehenden  Wogen  dahin. 

XV.  „Warum  aber  können  denn,"  wendet  man  ein,  „Tugend  und  S5 
Lust  nicht  eine  Einheit  bilden,  und  warum  kann  das  höchste  Gut  nicht 
'.ugleich  ein  sittlich  wertvolles  und  sinnnch  angenehmes  sein?"  Weil 
j'in  Teil  der  Sittlichkeit  wieder  etwas  Sittliches  sein  muß,  und  das  höchste 
Gut  seine  Reinheit  nicht  gewahrt  hätte,  wenn  es  einen  unedlen  Bestand- 
teil in  sich  sehen  müßte;  auch  die  Freude,  die  einem  sittlichen  Lebens-  40 
Wandel  entquillt,  die  sicherlich  einen  sittlichen  Wert  besitzt,  ist  kein 


Ein  glückseliges  Leben.  ß'[ 


Teil  des  absoluten  Gutes,  ebensowenig  wie  der  innere  Frohmut  und  die 
Seelenruhe,  mögen  sie  auch  aus  den  besten  Ursachen  entspringen.  Sie 
sind  zwar  Güter,  doch  sind  sie  nur  Folgen  und  nicht  Wesensteile  des 
höchsten  Gutes.  Wie  könnte  ein  Mensch  sich  der  Gottheit  gehorsam 
5  erweisen,  wie  könnte  er  alle  Schicksalsschläge  ungetrübten  Mutes  hin- 
nehmen, wie  könnte  er  ohne  ein  Wort  der  Klage  und  ohne  Verbitterung 
die  Zufälle  des  Daseins  ertragen,  wenn  ihn  schon  das  geringfügigste 
Quentlein  Schmerz  oder  Lust  in  dem  seelischen  Gleichgewicht  stört? 
und  ebensowenig  wird  er  ein  wackerer  Schutz,  ein  Streiter  fürs  Vater- 

10  land,  ein  Vorkämpfer  für  seine  Freunde  sein,  wenn  er  nur  auf  die  Lust 
sein  einziges  Augenmerk  hat.  Deshalb  muß  das  höchste  Gut  auf  solcher 
Höhe  thronen,  daß  keine  Gewalttat  es  herabzuzerren  vermag,  daß  nicht 
Leid,  nicht  Furcht,  noch  Hoffnung  es  erreichen  und  nichts  ihm  Eintrag 
tun  kann.     Allein  die  Tugend  vermag  zu  solcher  Höhe  aufwärts  zu 

15  steigen.  Nur  ihr  Schritt  vermag  die  Steilheit  jenes  Weges  zu  überwinden. 
Sie  wird  starken  Fußes  dort  standhalten,  und  was  kommen  soll,  wird 
sie  ertragen,  nicht  allein  in  geduldiger  Resignation,  sondern  in  frei- 
wilhgem  Auf  sichnehmen ;  jede  Not  der  Zeiten  wird  sie  in  die  Gesetz- 
mäßigkeit des  Naturiaufs  einzuordnen  wissen;  und,   wie  der  tüchtige 

20  Soldat  seine  Wunden  mit  Ruhe  trägt,  seine  Narben  mit  Stolz  zählt, 
und  vom  tödlichen  Geschoß  durchbohrt  im  Augenblick  des  Todes  noch 
des  Feldherrn  hebend  gedenkt,  für  den  er  fiel,  so  wird  der  sitthche 
Mensch  jene  alte  Lehre  im  Herzen  tragen:  ,,dem  Gotte  Gehor- 
sam!"   Wer  aber  mit  Tränen,  Klagen  und  Seufzern  sich  wehrt,  gegen 

25  den  ^vird  Gewalt  gebraucht,  bis  er  dem  Befehle  folgt;  weil  er  wider- 
spenstig ist,  wird  er  zu  dem,  was  man  von  ihm  verlangt,  geschleppt. 
Wie  töricht  aber  ist  es,  sich  ziehen  zu  lassen,  anstatt  freiwilhg  zu  gehen! 
Und  gewiß  ist  es  keine  geringere  Torheit  und  Verkennung  der  Bedingungen 
des  eigenen  Lebens,  von  einem  bösen  Zufall  sich  bekümmern  zu  lassen, 

30  oder  in  Verwunderung  und  Mißmut  über  Dinge  zu  geraten,  die  Gute  und 
Schlechte  gleichermaßen  treffen  können,  Tod,  Gebrechen,  Krankheit 
und  all  die  anderen  Unzuträglichkeiten  des  menschhchen  Daseins.  Wor- 
ein man  sich  nach  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Weltverlaufs  schicken 
muß,  das  nehme  man  ungebeugten  Mutes  auf  sich.     Auf  das    Sakra- 

35  ment  haben  wir  uns  hier  eingeschworen,  Menschüches  zu  erdulden,  und 
uns  nicht  irre  machen  zu  lassen  durch  das,  was  zu  vermeiden  außerhalb 
unserer  Macht  steht.  Als  Untertanen  des  Höchsten  sind  wir  geboren; 
Diener   Gottes  sein,  heißt  frei  sein. 

Das  ausgewählte  Stück  soll  mit  den  ethischen  Hauptgedanken  der  stoischen 
Schule  bekannt  machen,  deren  Lehre  in  ständiger  Umbüdung  und  Fortent- 


62  Seneca. 

Wicklung  von  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  bis  über  Marc  Aurel  hinaus 
auf  die  Lebensgestaltung  des  Altertums  einen  mächtigen  Einfluß  gewonnen 
hat.  Die  Schule,  welche  den  Namen  von  einer  Halle  (a-zoö.)  trägt,  in  der  sich 
ihre  Mitglieder  versammelten,  machte  verschiedene  Perioden  der  Entwicklung 
durch.  Die  bedeutendsten  ihrer  Stifter  sind  Zenon  (c.  340  bis  c.  260  v.  Chr.) 
und  der  überaus  fruchtbare  Chrysippos  (282  bis  209  v.  Chr.).  Von  den  Schriften 
dieser  ältesten  Stoiker  sind  uns  nur  Fragmente  in  Anthologieen  und  Sammel- 
werken oder  als  Zitate  erhalten. 

Dagegen  besitzen  wir  zahlreiche  zusammenhängende  Abhandlungen  von 
dem  vornehmsten  Anhänger  der  römischen  Stoa  aus  der  ersten  Kaiserzeit, 
von  Lucius  Annans  Seneca,  dem  Lehrer  Neros  (geb.  3  n.  Chr.,  tötete  sich 
selbst  auf  Neros  Befehl  i.  J.  65).  Aus  der  an  seinen  Bruder  Gallio  gerichteten 
Schrift  „De  vita  beata"  stammt  das  gewählte  Lesestück  (Kap.  2 — 15,  mit  vielen 
Auslassungen).  Die  Übersetzung  ist  angefertigt  mit  Berücksichtigung  der 
bei  Reclam  erschienenen  deutschen  Ausgabe  von  Senecas  ausgewählten 
Schriften. 

Zur  weiteren  Orientierung  über  die  Stoa  können  die  bei  Lesestück  I  an- 
geführten Lehrbücher  der  Geschichte  der  Philosophie  dienen.  Von  Spezial- 
werken  ist  am  leichtesten  zugänglich  das  von  P.  Barth,  Die  Stoa,  Stuttgart  1903. 
Die  Stoiker  beschäftigt  vor  allem  die  Frage:  Wie  läßt  sich  der  notwendige 
Ablauf  des  Weltgeschehens  mit  der  sittlichen  Freiheit  des  Individuums  ver- 
einen? Ihr  Interesse  konzentrierte  sich  auf  die  hieraus  fließenden  Fragen 
nach  dem  Heil  des  Einzelnen,  nach  der  praktisch  sittlichen  Lebensgestaltung; 
im  Mittelpunkt  ihrer  Diskussion  stand  das  Ideal  des  „Weisen",  den  der  Besitz 
der  „Tugend"  zur  höchsten  „Glückseligkeit"  befähigt.  Die  Antwort  auf  diese 
Probleme  gab  die  ethische  Grundformel  der  Stoiker:  „das  Leben  in  Überein- 
stimmung mit  der  Natur"  (6|i.oXoYO'j|X£Vüj;  z-fj  'fUGst  C^^v).  Vgl.  56  u  f.  und  die 
Erläuterung  zu  dieser  Stelle. 

56 14.  Was  die  Stoiker  unter  dem  „  Leben  in  Übereinstimmung  mit  der  Natur" 
begriffen  wissen  wollten,  ist  nicht  eindeutig  zu  entscheiden.  Bei  den  einen 
erscheint  diese  Natur  als  Natur  des  Weltalls,  die  späteren  —  wie  auch  Seneca  — 
bevorzugen  die  anthropologische  Fassung,  und  Natur  bedeutet  ihnen:  der 
sittlich  wertvolle  Wesenskern  des  Menschen.  Dort  findet  sich  auch  eine  Ver- 
einigung dieser  beiden  Gedanken:  die  Weltvernunft  spricht  sich  sowohl  im 
Lauf  des  Naturgeschehens,  wie  im  sittlichen  Zustande  der  menschlichen  Seele 
aus ;  auch  sie  ist  ein  Teil  der  Weltvernunft,  somit  Natur,  und  in  Übereinstim- 
mung mit  einem  dieser  beiden  leben  heißt  folgerichtig  nichts  anderes,  als  in 
Übereinstimmung  mit  beiden  leben.  So  wird  uns  von  Chrysippos  überliefert: 
„Es  ist  das  Ziel  der  Menschen,  in  Übereinstimmung  mit  der  Natur  zu  leben, 
d.  h.  mit  der  des  Individuums  ebenso,  wie  mit  der  des  Universums,  und  sich 
alles  dessen  zu  enthalten,  was  das  eine,  sie  beide  beherrschende  Gesetz,  die 
Vernunft,  verbietet,  welche  das  Weltall  durchströmt  und  identisch  mit  Gott 
ist.  Glück  und  Gleichmaß  im  Leben  bedeutet  nichts  anderes,  als  daß  in  jedem 
Tun  sich  die  Harmonie  des  Einzelwillens  mit  dem  Willen  dessen,  der  alles 
lenkt,  kundgibt."     (Diog.  Laert.  VII,  88.) 


Erläuterungen.  63 


56  36.  Die  Seelenruhe  des  Weisen  nennen  die  griechischen  Stoiker  Apatheia, 
Freiheit  von  den  Affekten:  sie  ist  die  wahre,  die  eine  Tugend;  und  indem 
nun  der  Affekt  als  „Vernunft-  und  natur-widrige  Seelenerregung"  definiert 
wird,  erhält  man  den  positiven  Inhalt  dieser  zunächst  negativen  Bestimmung: 
denn  danach  ist  zur  Apatheia  ein  vernünftiges  Urteil  über  Gut  und 
Böse  nötig,  d.  h.  die  Apatheia,  die  Tugend  an  sich,  ist  ein  Wissen. 

58  9.  Das  Universum  der  Stoiker  stellt  einen  großen  wirkenden  Zusammen- 
hang dar,  der  von  der  Gottheit  bis  in  die  äußersten  Glieder  hinein  beseelt  ist. 
Die  stoische  Gotteslehre  ist  Pantheismus.  Ihr  Gott  ist  die  vernunftmäßige 
Lebenskraft,  die  befruchtende  Vernunft  (ko^oq  a::£pjxaT'v.&c),  die  wirkende  Ur- 
sache des  Geschehens,  zugleich  sein  Wert  und  Sirm:  er  setzt  sich  in  die  zweck- 
voUe  Ordnung  der  einzelnen  Bildungen  um  nach  dem  Gesetz  kausaler  Not- 
wendigkeit, das  alles  —  auch  die  menschUche  Seele  —  unter  sich  zwingt. 
Diese  Notwendigkeit  ist  einmal  unentrinnbares  Geschick,  aber  —  sofern  die 
Gottheit  Vernunft  ist  —  auch  Vorsehung:  „Nicht  das  geringste  in  der  Welt 
verhält  sich  anders,  als  der  Ratschlag  des  Zeus  es  gewollt!"  Der  Gedanke  der 
Naturnotwendigkeit  wird  mit  größter  Bewußtheit  aus  dem  Lauf  des  Geschehens 
herausgelesen.  Doch  diese  rühmenswerte  Konsequenz  verwickelte  die  Stoa  in 
unlösbare  Widersprüche,  als  sie  daran  ging,  die  sittliche  Freiheit  des  Indivi- 
duums zu  retten:  hier  sollte  einmal  der  Gedanke  helfen,  daß  die  Gottheit  in 
ihrer  Güte  das  sittliche  Übel  selber  unmögHch  hervorgebracht  haben  könnte, 
daß  das  Geschick  nicht  die  Haupt-,  sondern  nur  die  Nebenursachen  herbei- 
führe, und  die  freie  Zustimmung  bei  uns  stehe,  anderseits  suchte  man  sein 
Heil  in  haarspalterischen  Trugschlußketten,  auf  welche  hin  der  Gegner  gleich 
spitzfindige  Gegenargumente  ausspielte.     Die  Lösung  mißlang. 

60 1.  Die  Schule  Epikurs  (geb.  341  v.  Chr.),  der  die  Lust  als  höchstes  Prinzip 
der  Glückseligkeit  aufgestellt  hatte,  war  jahrhundertelang  im  erbittertsten 
Kampfe  mit  der  Stoa  begriffen.  Daß  jedoch  hier  von  S.  ohne  große  Ge- 
waltsamkeit ein  vermittelnder  Standpunkt  gefunden  werden  konnte,  zeugt 
von  der  tiefen  Verwandtschaft  in  den  Grundzügen  des  stoischen  und  epiku- 
reischen Philosophierens:  beider  Interesse  ging  auf  die  Herstellung  der 
Lebenssicherheit  des  Individuums,  Physik  und  Logik  waren  für  sie  beide 
nur  vorbereitenden  Charakters;  das  Ziel  war  die  praktische  Ordnung  des 
Einzellebens.  Nur  suchten  die  Stoiker  es  durch  völlige  Unterwerfung  des 
Individuums  unter  das  Gesetz  der  Gesamtheit  zu  erreichen;  die  Epikureer 
jedoch  durch  völliges  Zurückziehen  des  Individuums  auf  sich  selbst,  durch 
den  gleichmäßigen  Selbstgenuß  des  gebildeten  Geistes.  Da  aber  die  Lust 
Epikurs  nicht  die  das  Gleichgewicht  (Ataraxie)  gefährdende  Sinnenlust  war, 
da  ferner  nach  Epikur  zu  richtiger  Abschätzung  des  bekömmlichen  Maßes  an 
Lust  die  wahre  „Einsicht"  als  oberste  Tugend  benötigt  wurde,  da  er  Lust  über- 
haupt nur  als  Schmerzlosigkeit  faßte,  zu  deren  Erreichung  man  durch 
Bekämpfung  der  störenden  Begierden,  durch  Unabhängigkeit  von  den  äußeren 
Einflüssen  gelangte,  so  nähert  sich  von  der  anderen  Seite  dieses  Ideal  der 
Glückseligkeit  wieder  dem  stoischen. 

Die  spätere  Stoa  ließ  dann  das  Schwergewicht  der  Lehre  von  den  großen 


ß4  Seneca. 

metaphysischen  Gedanken,  deren  Betonung  die  Differenz  zu  dem  auf  dem 
Boden  der  Atomistik  stehenden  Epikureismus  fühlbarer  gemacht  hatte,  noch 
mehr  auf  die  rein  praktischen  Lehren  hinübergleiten:   umso  leichter  wurde 
es  dem  eklektischen  Geiste  des  S.,  die  vermittelnden  Worte  zu  finden. 
61  2i.    Dazu  die  Verse  des  Kleanthes  (331—232  v.  Chr.) 

„Du  führe  mich,  o  Zeus,  und  du,  mein  Schicksal, 
Die  Pfade,  welche  mir  beschieden  sind. 
Frei  will  ich  folgen !    Wollt'    ich  es  auch  nicht. 
So    müßt'    ich  doch,  und  war'  dazu  noch  elend. " 

M  e  n  z  e  r. 


V. 

Plotin. 


Von  dem  Einen. 

Jede  Art  von  Leben  ist  in  gewissem  Sinne  ein  Denken,  jedocli  lichter 
oder  weniger  licht  —  gleichwie  das  Leben  selber.  Jenes  Hchte  und 
ursprüngliche  Leben  aber  und  der  absolute  Geist  sind  eins.  Ein  Denken 
also  ist  das  ursprünghche  Leben,  und  das  abgeleitete  Leben  ein  ab- 

5  geleitetes  Denken,  und  das  niederste  Leben  ein  niederstes  Denken. 
Demnach  ist  alles  zur  Gattung  Leben  Gehörende  auch  ein  Denken. 
Nun  können  die  Menschen  wohl  unterschiedene  Grade  des  Lebens  leicht 
angeben,  aber  unterschiedene  Grade  des  Denkens  geben  sie  nicht  an, 
sondern  die  einen  nennen  sie  Denken,   die  anderen  überhaupt  nicht  so, 

10    weil   sie   schlechterdings   nicht   untersuchen,    was   denn   eigentlich   das 

Leben  ist. 

Nachdem  das  Schauende  als  Eins  begonnen  hatte,  bheb  es  nicht, 
wie  es  begonnen  hatte,  sondern  wurde  unbewußt  zu  vielem,  gleichsam 
als  wäre  es  belastet,  und  es  entwickelte  sich,  indem  es  alles  in  sich  umfassen 

15  wollte.  Freihch  wäre  es  ihm  besser  gewesen,  dies  nicht  zu  wollen. 
Denn  es  wurde  nun  ein  Abgeleitetes:  gerade  wie  ein  Kreis,  der  sich  ent- 
faltet, Figur  wird  und  Fläche,  Peripherie  und  Mittelpunkt,  Sehnen  und 
teils  ein  Oben,  teils  ein  Unten.  Der  Ursprung  ist  das  Bessere,  die  Abr 
folge  das  Schlechtere.     Denn  der  Ursprung  war  nicht  von  gleicher  Be- 

20  schafienheit  wie  der  Ursprung  zusammen  mit  der  Abfolge,  noch  waren 
Ursprung  und  Abfolge  von  derselben  Beschaffenheit  wie  der  Ursprung 
allein.  Anderseits  ist  der  Geist  nicht  Geist  eines  einzelnen,  sondern  All- 
geist, und  als  Allgeist  auch  Geist  von  allem.  Weil  er  also  Allgeist  ist 
und  Geist  von  allem,  so  muß  er  auch  den  Teil  von  sich  als  Ganzes  und 

25  Alles  in  sich  haben.  Wäre  dem  nicht  so,  so  würde  er  einen  Teil  in  sich 
haben,  der  nicht  Geist  wäre,  und  würde  zusammengesetzt  sein  aus 
Nichtgeistigem;  er  würde  ein  zusammengewehter  Haufe  sein,  der  erst 
noch  erwartete,  aus  den  Bestandteilen  zum  Geist  zu  werden.  Deshalb 
ist  er  auch  unendhch,  und  wenn  etwas  von  ihm  ausgeht,  so  ist  weder  das 

D es 3 oir-Menz er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  5 


66  Plotin. 

von  ihm  Abstammende  zu  einem  Geringeren  geworden,  weil  auch  dieses 
das  Ganze  ist,  noch  der,  von  dem  es  stammt,  weil  es  da  keine  Zusammen- 
setzung aus  Teilen  gab. 

Solcher  Art  also  ist  der  Geist.     Darum  ist  er  nicht  das  letzte  Ur- 
sprüngliche, sondern  es  muß  noch  etwas  sein,  was  jenseits  seiner  ist,    0 
das,  worauf  auch  die  bisherigen  Auseinandersetzungen  abzielten.     Zu- 
nächst schon  aus  dem  Grunde,  weil  die  Vielheit  später  ist  als  das  Eine. 
Dies  ist  etwas  Zahlenmäßiges;  das  Prinzip  der  Zahl  aber  und  einer  Zahl 
von  solcher  Beschaffenheit  ist  das,  was  wahrhaft  Eins  ist.     Ferner  ist 
nun  der  Geist  denkender  Geist  und  das  Objekt  zugleich,  also  zwei  in   10 
einem.     Wenn  aber  zwei,  so  muß  man  das,  was  der  Zwei  vorausliegt, 
ergreifen.    Was  also?    Denkender  Geist  allein?    Aber  mit  jedem  denken- 
den Subjekt  ist  das  gedachte  Objekt  mitgegeben;  wenn  nun  das  Objekt 
nicht  mitgegeben  sein  darf,  so  wird  auch  jenes  nicht  Subjekt  sein  können. 
Wenn  es  also  nicht  Subjekt  ist,  sondern    alle  Zweiheit    entschwindet,    is 
so  muß  das,  was  das  Prius  der  Zweiheit  ist,  über  den  denkenden  Geist 
hinaus  liegen. 

Was  hindert  denn  nun,  daß  dies  das  Objekt  selber  sei?     Doch  wohl 
der  Umstand,  daß  mit  dem  Objekt  wieder  auch  das  Subjekt  verbunden 
ist.     Wenn  es  nun  weder  das  Subjekt  noch  das  Objekt  des  Denkens   20 
sein  kann,  was  kann  es  dann  sein?    Dasjenige,  werden  wir  sagen,  woraus 
beides,  das  Subjekt  wie  das  mit  ihm  gegebene  Objekt,  stammt.     Was 
nun  ist  dies  und  in  welcher  Gestalt  werden  wir  es  uns  vorstellen?  Wird 
es  doch  wieder  ein  denkendes  Subjekt  oder  ein  nicht  denke  ides  sein 
müssen.    Ist  es  aber  ein  denkendes  Subjelrt,  so  ist  es  Geist;  ist  es  nicht   25 
denkendes  Subjekt,  so  wird  es  auch  nicht  einmal  seiner  selbst  bewußt 
sein.     Was  also  wäre  daran  so  Erhabenes?     Selbst  wenn  wir  sagten, 
es  sei  das  Gute  und  es  sei  das  Einfachste,  werden  wir  —  zwar   das 
Wahre    aussagend  —  doch  damit  nichts  sagen,  was  klar  und 
deutlich  wäre,  solange  wir  nicht  etwas  haben,  worauf  wir  unsere  Re-   so 
flexion  stützen  können.     Und   wiederum,   wenn  doch  die  Erkenntnis 
der  anderen  Dinge  durch  den  denkenden  Geist  erlangt  wird,  und  wir 
vermittels  des  denkenden  Geistes  ein  denkendes  Subjekt  zu  erkennen 
vermögen:   woher  nehmen  wir  die  gesammelte  Kraft  des  Ergreifens, 
um  das  zu  erfassen,  was  über  das  Wesen  des  denkenden  Geistes  hinaus   36 
hegt?     Wie  dies  möghch  ist,  das  gilt  es  zu  bezeichnen. 

Wir  werden  sagen :  vermittels  des  in  uns  liegenden  Ebenbildes.    Denn 
wir  tragen  etwas  davon  in  uns;  oder  vielmehr,  bei  denjenigen,  denen  ein 
Teilhaben  an  ihm  vergönnt  ist,  gibt  es  keinen  Punkt,  wo  es  nicht  wäre. 
Denn  wenn  man  an  das,  was  überall  ist,  in  irgend  einem  Punkte  das   40 
anknüpft,  was  man  zu  haben  vermag,  so  hat  man  es  von  dort  her.    Zum 


Von  dem  Einen.  57 


Beispiel,  wenn  ein  Schall  eine  Einöde  erfüllt,  in  der  sich  auch  Menschen 
befinden,  so  wird  man  an  jedem  Punkte  der  Einöde,  wenn  man  sein  Ohr 
aufmerken  läßt,  den  ganzen  Schall  in  sich  aufnehmen  und  auch  wieder 
nicht  den  ganzen  Schall.  Was  werden  wir  nun  in  uns  aufnehmen,  wenn 
5  wir  den  Geist  aufmerken  lassen?  Es  muß  doch  w^ohl  der  Geist,  wenn  er 
jenes  schauen  will,  gleichsam  hinter  sich  zurückweichen;  er  darf,  indem 
er  gleichsam  sich  selbst  an  das  hinter  ihm  Liegende  aufgibt  —  da  er 
auch  dort  noch  ein  Gedoppeltes  ist  —  nicht  ganz  und  gp,r  Geist  sein. 
Denn  er  ist  selbst  das  ursprüngHche  Leben  als  die  wirkende  Kraft  im 

10  Durchgang  durch  das  All,  im  Durchgang,  nicht  so,  daß  er  das  All  durch- 
dringt, sondern  so,  daß  er  es  schon  durchdrungen  hat.  Ist  er  nun  Leben 
und  Durchdringen,  so  umfaßt  er  alles  in  strengem  Sinne  und  nicht  nur 
der  Hauptsache  nach;  denn  sonst  A\ürde  er  es  in  unvollkommener  und 
undeuthcher  Weise  umfassen.    Er  muß  also  aus  einem,  anderen  stammen, 

15  was  nicht  mehr  in  dem  Durchdringen  begriffen,  sondern  Prinzip  des 
Durchdringens,  Prinzip  des  Lebens,  des  Geistes  und  des  Alls  ist.  Denn 
das  All  ist  nicht  Prinzip,  sondern  aus  dem  Prinzip  stammt  das  All ;  das 
Pi'inzip  aber  ist  nicht  mehr  das  All  noch  etw^as  vom  All,  sondern,  damit 
es  das  All  erzeuge  und  nicht  eine  Vielheit  sei,  das  Prinzip  der  Vielheit. 

■zu    Das  Erzeugende  nämlich  ist  überall  einfacher  als  das  Erzeugte. 

Aber  was  ist  es  denn?  Die  Möghchkeit  von  allem.  Wäre  diese  nicht, 
so  wäre  auch  das  All  nicht,  nicht  der  Geist,  nicht  das  ursprüngliche 
noch  jedes  andere  Leben.  Was  aber  über  das  Leben  hinausliegt,  ist 
Ursache  des  Lebens.     Denn  nicht  die  Wirklichkeit  des  Lebens,  die  das 

25  All  ist,  ist  das  Ursprüngliche,  sondern  sie  entspringt  gleichsam  selbst 
wie  aus  einer  Quelle.  Denke  dir  eine  Quelle,  die  keinen  Ursprung 
weiter  hat,  sich  selbst  aber  den  Flüssen  allen  mitteilt,  ohne  durch  die 
Flüsse  erschöpft  zu  werden,  vielmehr  ruhig  in  sich  selbst  beharrt.  Ihre 
Ausflüsse  hingegen  denke  dir,  wie  sie  —  vor   ihrem  Auseinandergehen 

30  nach  verschiedenen  Richtungen  —  noch  beisammen  sind,  doch  aber 
jeder  gewissermaßen  schon  weiß,  wohin  er  seine  Fluten  ergießen  wird. 
Oder  stelle  es  dir  vor  wie  das  Leben  eines  gewaltigen  Baumes,  das  das 
Ganze  durchströmt,  indem  das  Prinzip  bleibt  und  sich  nicht  im  Ganzen 
zerstreut,  gleichsam  festgegründet  in  der  Wurzel.     Dies  also  hat  dem 

35  Baum  sein  gesamtes  reiches  Leben  gegeben,  ist  aber  es  selbst  geblieben, 
nicht  eine  Vielheit,  sondern  Prinzip  der  Vielheit. 

Und  das  ist  kein  Wunder.  Vielmehr  ist  es  ein  Wunder,  wie  die  Viel- 
heit aus  dem  entstanden  ist,  was  keine  Vielheit  war,  und  wie  die  Vielheit 
nicht  war,  wenn  nicht  vor  der  Vielheit  das  war,  was  nicht  Vielheit  war. 

40  Denn  nicht  zerteilt  sich  das  Prinzip  in  das  All ;  zerteilt  nämlich  würde  es» 
auch  das  All  vernichtet  haben ;  ja  dieses  würde  nicht  einmal  geworden  sein, 


68  Plotin. 

wenn  das  Prinzip  nicht  bestehen  blieb,  sondern  in  sich  selbst  ein  anderes 
wurde.    Deshalb  findet  auch  überall  die  Zurückführung  statt  auf  Eines. 

In  jedem  einzelnen  ist  ein  Eines,  auf  das  man  es  zurückführen  kann, 
so  auch  das  All  auf  das  Eine,  das  ihm  voraushegt,  nicht  auf  ein  vielfach 
Eines,  solange  man  noch  nicht  zu  dem  einfach  Einen  gelangt  ist;  dieses  & 
aber  geht  nicht  mehr  auf  ein  anderes  zurück,  sondern  wenn  so,  auf  jenes 
Eine  in  der  Pflanze,  und  das  ist  das  Prinzip,  das  bleibt.  Es  ist  das  Eine 
im  Tier  und  das  Eine  in  der  Seele  und  das  Eine  im  All;  erfaßt  man  es, 
so  erfaßt  man  jedesmal  das  Mächtigste  und  das  Wertvolle.  Und  wenn 
man  das  Eine  im  wahrhaft  Seienden,  das  Prinzip,  die  Quelle,  das  Ver-  lo 
mögen  erfaßt,  dann  sollten  wir  uns  ungläubig  verhalten  und  darunter 
das  Nichts  vermuten?  Allerdings  ist  es  nichts  von  dem,  dessen  Prinzip 
es  ist,  aber  es  ist  doch  nichts  nur  in  dem  Sinne,  daß  nichts  von  ihm  aus- 
gesagt werden  kann,  nicht  Sein,  nicht  Wesen,  nicht  Leben:  nur  daß 
es  über  allem  diesem  hinausliegt.  Faßt  man  es  aber,  indem  man  das  is 
Sein  wegnimmt,  so  hat  man  ein  Wunder,  und  wenn  man  sich  zu  ihm 
aufschwingt  und  es  trifft  in  dem,  was  ihm  zugehört,  dann  darf  man  inne- 
halten und  dann  suche  man  es  zu  verstehen,  indem  man  seiner  wie  im 
Ansturm  tiefer  inne  wird,  aber  seine  Größe  überschauend  vermittels 
dessen,  was  nach  ihm  und  um  seinetwillen  ist. 20 

Und  noch  eine  andere  Weise  gibt  es.  Als  Sehen,  und  zwar  als  sehendes 
Sehen,  ist  der  Geist  ein  in  die  Wirksamkeit  übergegangenes  Vermögen. 
Es  ist  mithin  an  ihm  Materie  einerseits,  Form  anderseits,  wie  das  Sehen 
auch  eine  Wirksamkeit  darstellt,  seine  Materie  aber  in  dem  Objekte 
des  Denkens  hat.  Denn  auch  das  wirkhche  Sehen  bildet  eine  Gedoppelt-  25 
heit.  Vor  dem  Sehen  war  Eines;  nun  ist  das  eine  zu  zweien  und  aus  den 
zweien  ist  eines  geworden.  Für  das  Sehen  nun  kommt  die  Fülle  des 
Gesehenen  von  dem  sinnlichen  Objekt  und  damit  gleichsam  seine  Voll- 
endung ;  für  das  Sehen  des  Geistes  ist  es  das  Gute,  das  ihn  erfüllt.  Denn 
wäre  er  selbst  das  Gute,  wozu  brauchte  er  dann  überhaupt  noch  zu  sehen  so 
oder  sich  zu  betätigen?  Denn  alles  andere  übt  seine  Wirksamkeit 
im  Sinne  des  Guten  und  um  des  Guten  willen;  das  Gute  aber  bedarf 
nichts,  und  deshalb  gehört  ihm  nichts  zu,  als  es  sich  selber.  Wer  also 
vom  Guten  spricht,  der  soll  dabei  an  nichts  weiter  denken ;  denn  wenn  man 
etwas  hinzufügt,  so  macht  man  es  nur  in  dem  Grade  ärmer,  als  man  35 
irgend  etwas  weiteres  hinzugefügt  hat.  Also  lege  man  ihm  auch  nicht 
das  Denken  bei,  um  es  nicht  damit  zu  einem  anderen  und  so  zu  zweien 
zu  machen,  zu  Geist  und  Gutem.  Denn  der  Geist  bedarf  wohl  des  Guten, 
das  Gute  aber  nicht  des  Geistes.  Daher  nimmt  der  Geist  durch  Er- 
langung des  Guten  die  Art  des  Guten  an  und  wird  durch  das  Gute  40 
vollendet,  indem  die  Form,  die  ihm  von  dem  Guten  her  zu  teil  wird,  ihm 


Von  dem  Einen.  69 


die  Art  des  Guten  mitteilt.  Gerade  so  aber,  wie  am  Geiste  die  Spur  des 
Guten  erblickt  wird,  stellt  man  sich  sein  wahrhaftes  Urbild  am  an- 
gemessensten vor,  indem  man  es  eben  auf  Grund  der  dem  Geiste  sich 
eingrabenden   Spur    denkend    erfaßt.      Die    dem    Geiste    eingegrabene 

5  Spur  des  Guten  zu  erfassen,  hat  das  Gute  dem  Geist,  der  sein  Schauen 
darauf  richtet,  verheben.  Daher  im  Geiste  das  Streben,  ein  stetiges 
Streben  und  stetiges  Ergreifen.  Dort  aber  ist  weder  ein  Streben  —  denn 
wonach  wohl!  —  noch  ein  Ergreifen  —  denn  es  war  ja  auch  kein  Streben 
da.     Demnach  ist  dort  auch  nicht  Geist,  weil  in  diesem  ein  Streben  ist 

Lo   und  ein  Hinneigen  zur  Form  des  Guten. 

Da  also  der  Geist  herrlich  und  das  Herrhchste  von  allem  ist,  da  er 
im  reinen  Licht  und  reinen  Glänze  wohnt  und  das  Wesen  des  Seienden 
in  sich  schheßt,  so  daß  auch  die  Herrhchkeit  dieser  Welt  ein  Schatten 
und  Abbild  von  ihm  ist,  der  in  vollkommener  strahlender  Pracht  thront, 

15  weil  nichts  Ungeistiges,  m'chts  Finsteres  oder  Maßloses  in  ihm  ist,  und 
er  ein  sehges  Leben  lebt :  so  mag  den,  der  ihn  erbUckt  und  —  wie  er  sollte 
—  sich  in  ihn  versenkt  und  mit  ihm  sich  vereint,  wohl  Staunen  ergreifen. 
Wie  aber  der,  der  im  Aufblick  zum  Himmel  den  Glanz  der  Sterne  ge- 
schaut hat,  den  Schöpfer  denkt  und  sucht,  so  muß  auch  der,  der  die 

io  Geisteswelt  erschaut,  betrachtet  und  bewundert  hat,  ihren  Schöpfer  suchen 
und  nachforschen,  wer  und  wo  er  oder  wie  er  sie  so  zu  Stand  und  Wesen 
gebracht  hat,  er,  der  diesen  Sohn,  den  Geist,  gezeugt  hat,  den  herrhchen 
Sprößling,  der  ihm  sein  Dasein  verdankt.  Doch  er  ist  schlechterdings 
weder  Geist  noch  Sohn,  sondern  vor  dem  Geist  und  dem  Sohn;  denn 

25  nach  ihm  kommt  Geist  und  Sohn,  kommt,  was  noch  erst  des  Erfülltseins 
und  des  Gedachthabens  bedarf.  Freilich  steht  dies  demjenigen  nahe, 
was  weder  Mangel  noch  Bedürfnis  hat,  was  auch  des  Denkens  nicht  be- 
darf; es  hat  wahrhafte  Fülle  und  wahrhaftes  Denken,  weil  es  sie  aus 
erster  Hand  hat.     Aber  das,  was  ihm  zuvor  hegt,  das  braucht  weder 

30   etwas,  noch  hat  es  etwas  —  sonst  wäre  es  nicht  das  Gute. 

Plotinus  (204 — 2G9  n.  Chr.)  „hat  nicht  bloß  das  Altertum  abgeschlossen 
und  innerhch  aufgelöst,  nicht  bloß  dem  Christentum  befreiende  Kräfte  zu- 
geführt und  im  IVIittelalter  gegenüber  aller  Veräußerhchung  der  Organisation 
einen  Neben-  und  Unterstrom  reinen  Gemütslebens  erhalten,  auch  der  Re- 
naissance waren  seine  Ideen  unentbehrliche  Hilfen  zur  Erkämpfung  selbständiger 
Überzeugungen,  selbst  die  moderne  Spekulation  wie  die  moderne  Kunstlehre 
zeigen  seinen  Einfluß.  So  hat  PL  durch  alle  Zeiten  gewirkt;  als  ein  wahrhaft 
ursprünglicher  Denker  bleibt  er  auch  heute  ein  Quell  großer  Anschauungen 
und  Anregungen',  (Eucken,  Die  Lebensanschauungen  der  großen  Denker, 
5.  Auflage,  1903,  S.   128/9.) 

Unser  Lesestück  ist  verhältnismäßig  einfach  und  klar;  da  es  trotzdem 


70  Plotin. 

hier  und  dort  anstatt  scharfer  begrifflicher  Umrisse  Intuitionen  bietet,  so 
raten  wir  an,  sich  nicht  allzu  ängstlich  an  die  Worte  zu  binden,  vielmehr  die 
Lehren  im  großen  aufzufassen.  Die  gewählte  Stelle  steht  in  der  dritten  Enneade, 
im  achten  Kapitel,  und  enthält  die  §§10  und  11;  ausgelassen  sind  ein  paar 
Sätze  vom  Anfange  des  elften  Paragraphen.  Der  Text  und  eine  Übersetzung 
der  Enneaden  wurden  1878 — 80  von  Hermann  Friedrich  Müller  herausgegeben. 
Unsere  Übersetzung,  bei  der  uns  Adolf  Lassons  Hilfe  zu  teil  wurde,  weicht  erheb- 
lich "»^on  der  MüUerschen  ab.  Zur  Erläuterung  empfehlen  wir  Vorgerückteren 
die  gedrungene  Darstellung  in  Windelbands  Lehrbuch  der  Geschichte  der 
Philosophie  (3.  Auflage,  1903)  und  die  ausführliche,  unter  den  Gesichtspunkt 
der  Kategorienlehre  gestellte  Abhandlung  in  Eduard  v.  Hartmanns  Geschichte 
der  Metaphysik  (I,  1899).  Gleichfalls  nützlich  und  von  vins  benützt  ist  Zellers 
besonnene  Darstellung  im  letzten  Band  seines  großen  Werkes  (4.  Aufl.,  1903). 

Die  Lesestücke  aus  Plato  und  Aristoteles  haben  uns  den  Unterschied 
des  begrifflichen  Wissens  und  der  bloßen  Meinung,  der  denkenden  Erkenntnis 
und  der  Sinneswahrnehmung  kennen  gelehrt.  In  diesem  Unterschied  ruht 
zum  guten  Teil  die  griechische  Weltanschauung.  PI.  entfernt  sich  von  ihr  und 
nähert  sich  orientalischer  Geistesweise,  er  setzt  an  die  Stelle  des  klassischen 
Ideals  ein  mj'^stisch-romantisches.  Er  sieht  nämlich  das  letzte  Ziel  der  Phi- 
losophie nicht  mehr  im  logischen  Erfassen,  sondern  in  einer  ihm  übergeordneten 
Berührung  mit  der  Gottheit;  diese  unmittelbare  Anschauung  des  göttlichen 
Wesens,  des  ., Einen",  vollzieht  sich  ohne  Begriffe  und  Worte  und  kennt  keine 
Trennung  dessen,  der  anschaut,  und  dessen,  das  angeschaut  wird.  Nur  in 
solcher  mystischen  Versenkung  —  also  weder  mit  den  Sinnen  noch  mit  dem 
Denken  —  werden  vriv  inne  des  letzten  Grundes  und  höchsten  Zieles  alles  Seins ; 
es  ist  ein  religiöser  Gemütszustand,  durch  den  wir  mit  Gott  vereinigt  werden. 
Demnach  gelten  die  Platonischen  Ideen  nicht  mehr  als  letztes,  sondern  als  ein 
Mittelglied,  gleichwie  das  ihnen  entsprechende  begriffliche  Denken  als  Zwischen- 
stufe zwischen  Wahrnehmung  und  Ekstase  erscheint.  Nun  hatte  zwar  Plato 
das  Gute  oder  die  göttliche  Vernunft  (siehe  S.  18)  an  die  Spitze  der  Ideenwelt  ge- 
stellt und  Aristoteles  hatte  als  Inhalt  des  göttlichen  Geistes  das  Denken  seiner 
selbst  (s.  S,  25)  bezeichnet,  aber  jener  hatte  immerhin  noch  das  Gute  den  Ideen 
zugerechnet  und  dieser  ihm  die  Zweiheit  des  Denkenden  und  des  Gedachten 
belassen.  Plotin  dagegen  erhebt  das  „Eine"  über  die  Ideenwelt,  über  den  Geist 
und  über  alle  Vielheit,  selbst  über  die  Zweiheit  des  Denkenden  und  Gedachten. 

So  entsteht  ein  Problem,  das  in  etwas  anderen  Formen  im  dritten  Lese- 
stück aus  den  Aristotelischen  Schriften  uns  begegnet  ist  und  bei  Spinoza 
wieder  entgegentreten  wird.  Das  höchste  Sein  ist  gänzlich  unbewegt  und  eigen- 
schaftslos ;  dennoch  soll  aus  ihm  alles  Leben  und  die  Fülle  der  Eigenschaften 
abgeleitet  werden.  Gott  steht  völlig  jenseits,  in  weltüberlegener  Größe; 
dennoch  soll  er  allgegenwärtig,  überall  wirksam  sein  und  der  Mannigfaltig- 
keit des  Seienden  die  Einheit  schaffen.  Um  diesen  Gegensatz  zu  versöhnen, 
bildet  PI.  die  Vorstellung  eines  absteigenden  Stufenreiches.  Gott  bleibt  fern, 
aber  Kräfte,  die  von  ihm  ausgehen,  ohne  ihn  zu  schwächen  (und  zwar  zunächst 
die  ., Ideen'",   die  in  ihrer   Gesaintheit  den  „Geist"  ausmachen),   halten  den 


Erläuterungen.  7 1 

Zusammenhang  mit  ihm  aufrecht.  Die  erste  Stufe  steht  der  Vollkommenheit 
am  nächsten^  die  folgenden  sind  immer  geringer  bis  herab  zur  Materie,  die  nur 
noch  eine  ..Abschattung'"  ist. 

65 1  ft.  In  diesem  Abschnitt  spricht  PI.  aus,  daß  die  ganze  Sinnenwelt, 
auch  die  unorganische,  belebt  und  beseelt  sei,  ein  von  der  Weltseele  gestalteter 
Organismus.  Selbst  die  Materie  ist  aus  dem  Absoluten  hervorgegangen  und 
trägt  daher  die  Züge  ihres  Urbilds ;  mag  sie  zunächst  ein  leerer,  finsterer  Raum 
sein,  so  wird  doch  auch  sie  von  der  göttlichen  Urkraft  schwach  durchleuchtet. 

65  12  ff.  Man  pflegt  diese  Ableitung  als  Emanationslehre  oder  dynamischen 
Pantheismus  zu  bezeichnen.  Der  schlechtweg  so  genannte  Pantheismus  des 
Altertums  faßte  die  Welt  auf  als  einen  Körper,  der  von  der  göttlichen  be- 
wuxßten  Vernunft  beseelt  ist,  oder  gleichsam  als  eine  Auseinanderfaltung  des 
Inhaltes  der  Gottheit.  So  die  stoische  Schule.  Plotins  Anschauung  ist  die, 
daß  aus  der  unendlichen  Fülle  Gottes  Kräfte  ausfließen;  sein  Schema  ist  das 
einer  in  absteigenden  Stufen  erfolgenden  Minderung  der  Gottheit. 

66  4 f.  Der  Geist  (Nus)  ist  nicht  das  Erste.  Denn  er  enthält  die  (Platoni- 
schen) Ideen  in  sich  wie  der  Gattungsbegriff  die  Art  begriffe,  besitzt  also  eine 
Vielheit,  die  dem  Urwesen  nicht  anhaften  darf.  Indem  der  Geist  die  Ideen 
denkt,  denkt  er  freilich  nur  sich  selber,  aber  er  bleibt  doch  gespalten  in  die 
Tätigkeit  des  Denkens  und  in  das  gedachte  Objekt;  das  ..Eine"  muß  über 
alle  Tätigkeit  hinaus  sein,  da  diese  immer  den  Unterschied  des  Subjekts  und 
des  Objekts  erfordert.  —  Hier  lernen  wir  die  große  Lehre  von  der  Ideenwelt 
in  einer  dritten  Gestalt  kennen.  Die  erste,  die  Platonische,  ist  ausführlich 
erläutert  worden.  Die  zweite,  die  Aristotelische,  versenkt  die  Ideen  —  als 
substantiale  Formen  —  in  die  Dinge:  die  Einzeldinge,  die  allein  wirklich  sein 
sollen  (obwohl  nur  das  Allgemeine  wißbar  ist),  tragen  in  sich  ein  System  von 
Wesenheiten.     Plotin  endlich  verlegt  die  Ideen  in  das  göttliche  Denken. 

67  19  f.  Soviel  ist  demnach  klar,  daß  dies  göttliche  Prinzip  —  das  Gute 
und  das  Einfachste  (nach  66  28)  —  weder  mit  der  Vielfältigkeit  des  Seienden 
identisch  noch  ein  Teil  des  Weltganzen  sein  soll.  Man  wird  etwa  sagen  dürfen, 
daß  von  dem  Ureinen  Kraftwirkungen  ausgehen,  die  seine  Substanz  indessen 
nicht  verringern.  Ein  Bild  von  schöner  Deutlichkeit  findet  sich  wenige  Zeilen 
später  (67  27).  Indessen  sind  jene  Kraftwirkungen  nicht  als  ein  Zeitveiiauf, 
sondern  als  ein  Verhältnis  des  Zusammenseins  aufzufassen.  v 

68  14.  Wir  würden  das  die  Prädikatlosigkeit  des  Ersten  nennen.  Im  Grunde 
genommen  kann  gar  nichts  von  ihm  ausgesagt  werden,  da  es  das  übernünftige 
ist  und  da  jedes  Prädikat  eine  Bestimmung,  eine  Einschränkung  bedeuten 
würde.  Es  ist  daher  eine  Inkonsequenz,  wenn  PI.  das  Urwesen  als  unendlich 
und  einfach,  als  den  absoluten  Grund  alles-  Seienden  und  als  den  Endzweck 
alles  Geschehens  tatsächlich  näher  bestimmt.  Zum  Guten  verhält  sich  der 
Geist  —  das  erste  Überquellen  der  göttlichen  Wirksamkeit  —  wie  etwas,  das 
an  einem  anderen  teil  hat:  durch  Teilnahme,  die  aus  einem  Bedürfen  ent- 
sprungen ist,  nähert  er  sich  dem  Guten  und  der  Einheit.  Indem  Gott  den 
Geist  aus  sich  entläßt,  schafft  er  die  Urbilder  und  bewegenden  Kräfte  der 
Wirklichkeit.  D  e  s  s  o  i  r. 


VI. 

Thomas  von  Aquino. 


TTber  die  TTniversalien. 

1.  Unter  den  Dingen,  die  durch  Namen  bezeichnet  werden,  findet  sich 
eine  dreifache  Verschiedenheit.  Es  gibt  nämHch  Dinge,  die  ihrem  ganzen 
vollständigen  Sein  nach  außerhalb  der  Seele  existieren:  so  sind  die  voll- 
ständigen Wesen,  wie  Mensch  und  Stein.  Andere  aber  gibt  es,  die  nichts 
außerhalb  der  Seele  haben:  wie  Traumbilder  und  das  Phantasiebild  b 
von  einer  Schimäre.  Andere  endlich  gibt  es,  die  eine  Grundlage  in  der 
realen  Welt  außerhalb  der  Seele  haben;  aber  die  Vervollständigung 
ihres  Begriffes  in  Bezug  auf  das,  was  ihn  eigentlich  zu  stände  bringt, 
geschieht  erst  durch  die  Tätigkeit  der  Seele:  wie  es  klar  ist  bei  dem 
Universale.  „Menschheit"  ist  nämUch  etwas  in  der  realen  Welt,  hat  lo 
jedoch  hier  nicht  die  Bedeutung  eines  Universale,  da  es  keine  vielen 
gemeinsame  Menschheit  außerhalb  der  Seele  gibt;  sondern  insofern  sie 
im  Intellekt  erfaßt  wird,  verbindet  man  mit  ihr,  durch  die  Tätigkeit  des 
Intellekts,  die  gedankhche  Beziehung,  nach  der  sie  eine  spezifische 
Art  genannt  wird.  is 

2.  Der  Ausdruck  ,,das  abstrahierte  Universale"  besagt  zweierlei, 
nämHch  die  Natur  eines  Dinges  und  die  Abstraktion  oder  Universahtät. 
Die  Natur  selbst,  für  die  es  zufälhg  ist,  daß  sie  erkannt  oder  abstrahiert 
wird  oder  die  gedankliche  Beziehung  der  Universalität  bekommt,  exi- 
stiert nur  in  den  Singularien;  aber  gerade  dasjenige,  worin  ihr  Erkannt-  20 
werden  oder  Ab  strahiert  werden  oder  die  gedankliche  Beziehung  der 
Universalität  besteht,  das  ist  im  Intellekt  vorhanden.  Das  können  wir 
an  einem  ähnlichen  Beispiel  beim  Sinnesvermögen  sehen.  Der  Gesichts- 
sinn sieht  nämlich  die  Farbe  des  Apfels  ohne  den  Geruch  desselben. 
Wenn  man  also  fragt,  wo  die  Farbe  ist,  die  ohne  den  Geruch  gesehen  25 
wird,  so  ist  es  offenbar,  daß  die  Farbe,  die  gesehen  wird,  nur  in  dem 
Apfel  existiert.  Aber  daß  sie  ohne  den  Geruch  gesehen  wird,  das  kommt 
ihr  zufällig  zu  auf  Grund  des  Gesichtssinnes,  insofern  nämlich,  als  im 
Gesichtssinn  ein  Eindruck  vorhanden  ist,  welcher  der  Farbe,  aber  nicht 


über  die  Universalien.  73 


dem  Geruch  ähnlich  ist.  In  ähnHcher  Weise  existiert  die  Menschheit, 
die  begriff Hch  erkannt  wird,  nur  in  diesem  oder  in  jenem  Menschen; 
aber  daß  die  Menschheit  ohne  ihre  individuellen  Beschaffenheiten  er- 
faßt wird  —  und  gerade  darin  besteht  das  Abstrahiertwerden,  auf  das 

5  die  gedankUche  Beziehung  der  Universahtät  folgt  — ,  das  kommt  der 
Menschheit  zufälHg  zu,  insofern  sie  von  einem  Intellekt  wahrgenommen 
wird,  in  dem  ein  Abbild  von  der  spezifischen  Art  und  nicht  von  den 
indi\äduellen   Prinzipien   vorhanden   ist. 

3.     Das  Universale  kann  in  zweifacher  Weise  genommen  werden. 

10  Einmal  als  die  allgemeine  Natur  selbst,  wie  sie  der  gedank- 
üchen  Beziehung  der  Universahtät  zu  Grunde  Hegt;  das  andere  Mal 
als  diese  gedankliche  Beziehung  selbst :  gerade  so  wie  ,, das 
Weiße"  dasjenige  Ding  bezeichnen  kann,  dem  es  zufälhg  zukommt 
weiß  gefärbt  zu  sein,  oder  den  weißen  Gegenstand  als  Träger   der 

15  weißen  Farbe.  Die  Natur  selbst,  der  die  gedankhche  Beziehung 
der  Universahtät  zufällt,  zum  Beispiel  die  Natur  des  Menschen,  hat  aber 
ein  zweifaches  Sein :  das  eine  ist  ein  materielles,  insofern  es  in  dem  natür- 
hchen  Stoffe  liegt;  das  andere  dagegen  ist  immateriell,  insofern  es  im 
Intellekt  vorhanden  ist.    Im  ersten  Falle  kann  die  gedankliche  Beziehung 

20  der  Universahtät  nicht  zur  Natur  eines  Dinges  hinzukommen,  weil  die 
letztere  durch  die  Stofflichkeit  individuahsiert  wird.  Die  universale 
Beziehung  kommt  also  erst  dadurch  hinzu,  daß  die  Natur  von  dem  in- 
dividuellen Stoffe  abstrahiert  wird.  Sie  kann  aber  nicht  real  von  dem 
individuellen  Stoffe  abstrahiert  werden,  wie  es  die  Platoniker  annahmen. 

25  Der  Mensch  existiert  nämhch  nur  in  d  i  e  s  e  m  Fleisch  und  in  d  i  e  s  e  n 
Knochen,  wie  der  Philosoph  (Aristoteles)  im  siebenten  Buch  der  „Meta- 
physik" beweist.  Es  bleibt  also  nur  übrig,  daß  die  menschHche  Natur 
kein  anderes  Sein  hat  außerhalb  ihrer  individuahsierenden  Prinzipien, 
als  im  Intellekt  allein.     Jedoch  ist  der  Intellekt  nicht  deshalb  falsch, 

30  weil  er  eine  allgemeine  Natur  erfaßt  ohne  ihre  individuahsierenden 
Prinzipien,  ohne  die  sie  in  der  realen  Welt  nicht  existieren  kann;  denn 
der  Intellekt  macht  nicht  die  Wahrnehmung,  daß  eine  allgemeine  Natur 
ohne  individuahsierende  Prinzipien  existiert;  sondern  er  erfaßt  eine  all- 
gemeine Natur,  ohne  ihre  individuahsierenden  Prinzipien  mitzuerf assen ; 

35  und  das  ist  nichts  Falsches.  Ebenso  wäre  die  gedankhche  Wahrnehmung 
eine  falsche,  wenn  man  von  einem  weißen  Menschen  die  weiße  Farbe 
so  trennen  wollte,  daß  der  Intellekt  die  Einsicht  gewinnt:  jener  Mensch 
ist  nicht  weiß.  Wenn  man  aber  die  weiße  Farbe  von  dem  weißen  Menschen 
nur  so  trennt,  daß  der  Mensch  begriffhch  wahrgenommen  würde,  ohne 

40  daß  dabei  die  weiße  Farbe  begrifflich  mit  wahrgenommen  ist,  so  wäre 
die  Wahrnehmung  keine  falsche;  es  ist  nämhch  zur  Wahrheit  der  be- 


Thomas  von  Aquino. 


griffliclien  Wahrnehmung  nicht  erforderlich,  daß  derjenige,  der  ein 
Ding  wahrnimmt,  alle  Merkmale  wahrnimmt,  die  in  dem  Ding  ent- 
halten sind.  So  also  abstrahiert  der  Intellekt  ohne  Unrichtigkeit  die 
Gattung  von  den  Arten,  insofern  er  die  Natur  der  Gattung  erkennt, 
ohne  die  (spezifischen)  Unterschiede  zu  erkennen.  Und  in  ähnhcher  5 
Weise  abstrahiert  er  die  Art  von  den  Individuen,  insofern  er  die  Natur 
der  Art  erkennt,  ohne  die  individualisierenden  Prinzipien  zu  erkennen. 
So  also  ist  es  klar,  daß  man  einer  allgemeinen  Natur  die  gedankliche 
Beziehung  der  Universalität  nicht  beilegen  kann,  außer  nach  dem  Sein, 
das  diese  Natur  in  der  Seele  und  im  Intellekt  besitzt.  So  allein  ist  sie  lo 
also  Eins,  was  von  vielen  ausgesagt  werden  kann,  insofern  sie  ohne  die 
individualisierenden  Prinzipien  gedacht  wird;  oder  Eins,  was  in  vielen 
vorkommen  kann,  nämlich  in  den  Individuen  oder  den  unter  ihr  ent- 
haltenen Dingen,  die  in  dem  Höheren  Eins  sind.  Darum  bleibt  nur 
übrig,  daß  die  Universalien  als  solche  nur  in  der  Seele  da  sind;  die  Naturen  i5 
selbst  aber,  zu  denen  die  gedankliche  Beziehung  der  Universalität 
hinzutritt,  existieren  in  der  realen  Welt.  Und  deswegen  werden  die 
allgemeinen  Namen,  welche  die  Naturen  selbst  bezeichnen,  von  den 
Individuen  ausgesagt,  nicht  aber  diejenigen  Namen,  welche  zur  Be- 
zeichnung der  gedanklichen  Beziehungen  dienen:  Sokrates  nämlich  ist  20 
ein  Mensch,   aber  nicht   eine   Art. 

4.  Was  vielen  gemeinsam  ist,  das  existiert  nicht  als  etwas  außerhalb 
dieser  vielen,  sondern  im  bloßen  Gedanken:  zum  Beispiel  „Tier"  ist 
nicht  etwas  anderes  als  Sokrates  und  Plato  und  alle  die  übrigen  tierischen 
Wesen,  sondern  es  i  s  t  nur  durch  den  Intellekt,  der  die  Wesensform  des  25 
Tieres  als  entblößt  von  allen  individualisierenden  und  artbestimmenden 
Merkmalen  wahrnimmt.  Mensch  ist  nämlich  dasjenige,  was  wahrhaft 
ein  tierisches  Wesen  ist:  sonst  würde  folgen,  daß  in  Sokrates  und  Plato 
mehrere  Tierheiten  wären,  nämlich  das  allgemeine  Tier  und  der  allge- 
meine Mensch  und  Plato  selbst.  Noch  viel  weniger  ist  also  ,.das  Sein  30 
im   allgemeinen"   etwas   außerhalb   aller   existierenden   Dinge,   sondern 

es  ist  nur  im  Intellekt  allein. 

5.  Es  kann  aber  eingewendet  werden,  daß  dieser  Name  „Sokrates" 
oder  ,, Plato"  dazu  bestimmt  ist,  von  mehreren  prädikativ  ausgesagt 
zu  werden;  w^eil  kein  Grund  verbietet,  daß  es  viele  gibt,  die  mit  diesem  35 
Namen  gerufen  werden.  Aber  darauf  ist  dife  Antwort  klar,  wenn  man  auf 
die  Worte  des  Aristoteles  aufmerksam  achten  will.  Er  selbst  teilte  näm- 
lich nicht  die  Namen  ein  in  das  Universale  und  Partikuläre,  sondern 
die  Dinge.  Und  deshalb  muß  man  einsehen,  daß  etwas  nicht  nur 
dann  ein  Universale  genannt  wird,  wann  der  Name  von  mehreren  als  40 
Prädikat  ausgesagt  werden  kann;  sondern  auch  dann,  wann  das,  was 


über  die  Uni  Versalien.  75 


durch  den  Namen  bezeichnet  wird,  seiner  Natur  nach  dazu  bestimmt 
ist,  in  mehreren  gefunden  zu  werden :  das  trifft  aber  bei  den  vorgenannten 
Namen  nicht  zu;  denn  dieser  Name  „Sokrates''  oder  ,, Plato"'  bezeichnet 
die  menschhche  Natur  gemäß  ihrem  Dasein  in  d  i  e  s  e  r  Materie.  Wenn 
5  aber  dieser  Name  einem  anderen  Menschen  beigelegt  würde,  so  wird  er 
etwas  anderes  bezeichnen,  und  deshalb  wäre  er  nicht  universal,  sondern 
mehrdeutig. 

Weil  immer  etwas  von  etwas  ausgesagt  wird,  von  den  Dingen  jedoch 
einige  Uni  versahen  sind,  andere  aber  Singularien,  so  ist  es  notwendig, 

10  daß  manchmal  ausgesagt  wird,  etwas  sei  in  irgend  einem  der  Univer- 
salien, oder  es  sei  nicht  darin,  manchmal  aber,  es  sei  in  irgend  einem  der 
Singularien.  Es  ist  aber  zu  betrachten,  daß  von  einem  Universale  etw^as 
in  vierfacher  Weise  ausgesagt  wird.  Denn  das  Universale  kann  einmal 
betrachtet  werden,  wie  wenn  es  getrennt  wäre  von  den  Singularien  — 

15  sei  es  als  etwas  für  sich  Bestehendes,  wie  Plato  behauptete,  sei  es  gemäß 
der  Lehrentscheidung  des  Aristoteles  nach  dem  Sein,  welches  es  im  In- 
tellekt hat.  Und  so  kann  ihm  ein  Attribut  (Prädikat)  beigelegt  werden 
in  dreifacher  Weise.  Manchmal  nämlich  wird  ihm,  wenn  es  so  betrachtet 
ist,  etwas  beigelegt,   was  zur  bloßen  Innentätigkeit  des  Intellekts  ge- 

^0  hört;  \\4e  wenn  man  sagt:  dies  ist  prädikativ  aussagbar  von  vielen,  sei 
es  ein  Universale  oder  eine  Art.  Derartige  Gedankengebilde  formt 
nämUch  der  Intellekt,  indem  er  sie  einer  erkannten  Natur  beilegt,  in- 
sofern er  dieselbe  mit  den  Dingen  vergleicht,  welche  außerhalb  der  Seele 
da  sind.    Manchmal  dagegen  legt  man  dem  so  betrachteten  Universale 

25  ein  Prädikat  bei,  weil  der  Intellekt  das  Universale  als  eine  Einheit, 
als  Eines  erfaßt  hat;  jedoch  betrifft  dann  dasjenige,  was  ihm  beigelegt 
wird,  nicht  den  Akt  des  Intellekts,  sondern  das  Sein,  das  die  erfaßte 
Natur  in  den  Dingen  hat,  die  außerhalb  der  Seele  da  sind,  wie  zum  Bei- 
spiel wenn  man  sagt:  der  Mensch  ist  das  edelste  der  Geschöpfe.     Dies 

30   kommt  nämlich  der  menschhchen  Natur  zu  auch  gemäß  ihrem  Dasein 
in  den  Singularien.     Denn  jeder  behebige  einzelne  Mensch  ist  edler  als 
alle    unvernünftigen    Geschöpfe.       Aber    dennoch    sind    alle    einzelnen 
Menschen  nicht  der  eine  Mensch  außerhalb  der  Seele,  sondern  nur  in 
der  Auffassung  des  Intellekts:  und  auf  diese  Weise  wird  ihm  das  Prädi- 

35  kat  beigelegt,  nämUch  als  eine  m  Dinge.  Das  andere  Mal  aber  wird 
etwas  dem  Universale  so  beigelegt,  wie  es  in  den  Singularien  ist,  und  das 
in  zweifacher  Weise.  Manchmal  nämlich  auf  Grund  der  universalen 
Natur  selbst;  \vie  zum  Beispiel  wenn  ihm  etwas  beigelegt  wird,  was  zu 
seiner  Wesenheit  gehört,  oder  was  auf  die  wesentlichen  Prinzipien  folgt: 

40  wie  wenn  man  sagt,  der  Mensch  ist  ein  tierisches  Wesen  oder  lachfähig. 
Manchmal  aber  wird  ihm  etwas  beigelegt  auf  Grund  des  Singularen, 


76  Thomas  von  Aquino. 


in  welchem  es  sich  vorfindet;  zum  Beispiel  wenn  ihm  etwas  beigelegt 
wird,  was  zur  Tätigkeit  des  Individuums  gehört:  wie  wenn  man  sagt, 
der  Mensch  wandelt  umher.  Dem  Singularen  aber  wird  etwas  in  drei- 
facher Weise  beigelegt.  Einmal  danach,  daß  es  unter  die  Wahrnehmung 
fällt:  wie  wenn  man  sagt,  Sokrates  ist  etwas  Singulares  oder  prädikativ  5 
aussagbar  von  einem  allein.  Manchmal  aber  auf  Grund  der  gemeinsamen 
Natur:  wie  wenn  man  sagt,  Sokrates  ist  ein  tierisches  Wesen.  Manch- 
mal aber  auf  Grund  seiner  selbst:  wie  wenn  man  sagt,  Sokrates  wandelt 
nmher.  Auf  ebensoviele  Weisen  werden  auch  die  verneinenden  Aus- 
sagen variiert;  weil  alles,  was  mögUcherweise  bejaht  werden  kann,  10 
möghcherweise  auch  verneint  werden  kann. 

Thomas  von  Aquino  (c.  1225 — 1274),  der  Fürst  der  Scholastik,  hat  den 
Widerstand  seiner  Zeit  gegen  den  Aristotelismus  endgültig  gebrochen  und 
mit  pietätvoller  Berücksichtigung  des  Piatonismus  und  der  von  Augustinus 
zusammengefaßten  patristischen  Philosophie  ein  einheitlich  abgeschlossenes, 
großartiges  System  der  Philosophie  geschaffen,  welches  den  Anspruch  auf 
eine  universelle  theistische  (theomonarchische)  Weltanschauung  erhebt.  Er 
gebrauchte  es  als  Unterbau  für  die  christlich-theologische  Spekulation,  die 
er  jedoch  von  der  Philosophie  selbst  nach  Gegenstand,  Erkenntnisquelle  und 
Methode  scharf  unterschieden  wissen  woUte.  In  seiner  Philosophie  geht  er 
von  der  Analyse  der  gesamten  Erfahrung  aus  und  erhebt  sich  zu  den  höchsten 
und  einfachsten  Grundsätzen.  Indem  er  jede  Bildersprache  verschmähte, 
gelang  es  ihm,  seine  Beweisführung  von  der  analogen  Bedeutung  des  Seins- 
begriffes aus  in  einer  ununterbrochenen  Kette  von  Vernunftschlüssen  kon- 
sequent durchzuführen.  (Vergleiche  Reginaldus,  Doctrinae  D.  Thomae  tria 
principia  cum  suis  consequentiis.  Tolosae  1675,  Paris  1878.)  In  vielen  Fragen 
hat  er  Aristoteles  verbessert  und  dessen  Gedanken  wesentUch  erweitert,  dabei 
auch  aus  arabischen  wie  jüdischen  Philosophen  wertvolles  Material  aufge- 
nommen, das  er  seinem  System  harmonisch  einzuweben  verstand.  Eucken 
nennt  ihn  ein  architektonisches  Talent,  Dilthey  rühmt  ihn  als  den  weisesten 
aller  Vermittler;  unter  den  Scholastikern  ist  er  unstreitig  der  größte.  So  hat 
er  die  Gegenströmungen  innerhalb  der  Scholastik  (Scotismus  und  Nominalismus) 
siegreich  überwunden,  in  den  Schulen  des  Mittelalters  die  Herrschaft  errungen 
und  sie  bis  zur  Renaissance  ausschließlich  behauptet.  Auch  später  besaß  seine 
Philosophie  eine  ununterbrochene  Schule,  die  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
eine  zweite  Blüte  und  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  einen  neuen  Auf- 
schwung erlebt  hat.  Da  er  die  Philosophie  meist  nur  als  Hilfsmittel  seiner 
theologischen  Untersuchungen  verwendete,  so  hat  er  sie  nur  in  den  Kommen- 
taren zu  Aristoteles  und  in  einigen  kleineren  Monographien  systematisch  be- 
handelt. Man  ist  daher  genötigt,  den  philosophischen  Stoff  aus  der  Gesamt- 
heit seiner  Werke  zusammenzutragen. 

Die  Literaturangaben  findet  man  am  besten  bei  Mausbach  im  Kirchen- 
lexikon, 2.  Auflage,  Freiburg  1899,  XI,  S.  1626  ff.  Vergleiche  Überweg-Heinze, 


Erläuterungen.  77 


n,  9.  Auflage,  Berlin  1905,  S.  294  ff. ;  Wulf,  Histoire  de  la  philosophie  medievale, 
Louvain  1900,  Nr.  266 — 282;  Willmann,  Gesch.  des  Idealismus,  II,  Braun- 
schweig 1896,  S.  442 — 541 ;  Eucken,  Thomas  von  Aquino  und  Kant,  Berlin 
1901 ;  Commer,  Die  immerwährende  Philosophie,  Wien  1899. 

Die  kritische  Untersuchung  über  seine  Werke  ruht  noch  immer  auf  De 
Rubels,  De  gestis  et  scriptis  ac  doctrina  D.  Thomae  Aq.,  Venetiis  1790.  Vergleiche 
Denifle,  Archiv  für  Literatur  und  Kirchengeschichte  des  Mttelalters,  II,  1886, 
S.  237.  —  Gesamtausgaben  (Mausbach  S.  1639):  Rom  1570/71,  18  vol.  Venedig 
1593/94.  Antwerpen  1612.  Paris  1636—41.  Parma  1852—73,  25  Bde.  in  Fol. 
(nach  dieser  Ausgabe  zitieren  wir,  wo  Band  und  Seite  angegeben  sind),  Paris 
1871 — 82,34  vol.  Eine  neue  krit.  Ausgabe:  Rom  1882,  bis  jetzt  9  Bde.  (darin 
auch  De  Rubels  abgedruckt).  —  Für  die  Philosophie  kommen  in  Betracht: 
Kommentare  zu  Aristoteles  Perihermenias,  Analyt.  post.,  de  coelo  et  mundo, 
de  gener.  et  corrupt.,  meteor.,  de  anima,  parva  naturalia,  Metaph.,  Ethic,  Politic. 
Kommentare  zum  liber  de  causis,  zu  den  areopagitischen  Schriften  und  zu 
Boetius.  Ferner  Kommentar  zu  den  Sentenzen  des  Petrus  Lombardus,  Summa 
contra  gentües  {S.  philosophica) ,  Summa  theologica  (deutsche  Übersetzung  von 
C.  M.  Schneider,  Regensburg,  1886,  9  Bde.),  —  die  beiden  letzteren  sind  die 
reifsten  Werke.  Eingehendere  philosophische  Untersuchungen  enthalten  die 
Quaestiones  disputatae  und  Quodliheta.  Endlich  Opuscula :  de  ente  et  essentia, 
Compendium  theologiae  (deutsch  mit  Anmerk.  von  Abert,  Würzburg  1896), 
de  differentia  divini  verhi  et  hum^ni,  de  natura  verbi  intellectus,  de  suhstantiis 
separatis,  de  unitate  intellectus  contra  Averroistas  (die  vier  letzteren  erkenntnis- 
theoretisch), de  regimine  principum  (soziologisch;  echt  nur  lib.  1  und  lib.  2 
cap.  1 — 4),  de  aeternitate  mundi  contra  murmurantes,  de  natura  materiae,  de 
mistione  elementorum,  de  pluralitate  formarum,  de  quo  et  quod  est,  u.  a.  m. 

Wegen  der  präzisen,  aber  für  uns  fremdartigen  Terminologie  setzt  das 
Studium  seiner  Philosophie  am  besten  ein  bei  den  logischen  Schriften.  Zur 
Orientierung  dient  das  1.  Buch  Perihermenias.  Für  die  Naturphilosophie  und 
Psychologie  beginnt  man  mit  der  summarischen  Darstellung  in  den  beiden 
Summen  und  zieht  dann  einige  Opuscula  zu  Rate;  darauf  die  Aristoteles- 
kommentare und  zuletzt  die  betreffenden  Stellen  aus  den  übrigen  Werken. 
Für  die  Metaphysik  empfiehlt  es  sich,  mit  dem  wichtigen  Op.  de  ente  et  essentia 
zu  beginnen.  Als  Hilfsmittel  kann  das  Thomas-Lexikon  von  Schütz,  2.  Auflage, 
Paderborn  1895,  gebraucht  werden;  besser  noch  das  Lexicon  peripateticum  von 
Signoriello,  Neapoli  1854,  besonders  die  2.,  vermehrte  Auflage,  1872.  Den 
größten  Nutzen  gewährt  indes  die  als  Konkordanz  angelegte  Tabula  aurea 
von  Petrus  von  Bergomo  (Bologna  1473/75  und  öfter,  ein  Auszug  daraus  in 
der  edit.  Parm.  vol.  25),  worin  die  Stellen  aus  allen  Werken  nach  Materien 
systematisch  und  vollständig  angezeigt  und  scheinbare  Widersprüche  gehoben 
sind.  Zu  gründlichem  Studium  sind  jedoch  die  größeren  Kommentare  nicht 
zu  entbehren:  zu  den  logischen  Schriften  von  ZigÜara  (in  der  neuen  röm.  Aus- 
gabe), zur  Summa  theol.  von  Cajetanus  (ebenda),  zur  Summa  philosophica 
von  Sylvester  Ferrariensis.  Ferner  folgende  Werke:  Johannes  Capreolus, 
Defensiones  theologiae  D.  Thomae,  Venetiis  1483,  1589;  Turonibus  (Tours)  1900. 


78  Thomas  von  Aquino. 


Joannes  a.  S.  Thema  (Poinsot),  Cursus  'philosophicus  tJiomisticus,  Romae  163ß, 
Paris  1883.  Philippus  a  SS.  Trinitate  (Esprit  Julien),  Summa  philosophica  .  .  . 
Lugduni  1648.  Endlich  die  Zeitschriften:  Divus  Tliomas,  Piacenza  1879  ff., 
Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie,  Paderborn  1886  ff. ; 
Revue  Thomiste,  Paris  1893  ff. 

1.  Die  erste  Stelle  ist  aus  dem  Kommentar  genommen,  welchen  Thomas 
zu  den  Sentenzen büchern  des  Petrus  Lombardus  (f  c.  1160)  in  den  Jahren 
1252 — 57  geschrieben  hat:  Sentent.  Hb.  1  distinctio  19  quaestio  5  articulus  1  {edit. 
Parm.  vol.  6  p.  167).  Von  der  äußeren  und  inneren  Erfahrung  ausgehend, 
teilt  er  den  Erfahrungsinhalt,  die  Dinge  (das  heißt  alles,  M^as  irgendwie  außer- 
halb des  Nichts  ist)  so  ein:  1.  in  dasjenige,  was  unabhängig  von  unserem 
Denken  in  der  x4.ußenwelt  vollständig  existiert;  2.  in  dasjenige,  was  als  Vor- 
stellungsinhalt nur  in  der  Seele  vorhanden  ist;  3.  in  dasjenige,  wovon  wir 
uns  eine  innere  Vorstellung,  aber  nicht  willkürlich,  sondern  auf  einer  in  der 
äußeren  Welt  vorgefundenen  sachlichen  Grundlage  durch  das  Denken  bilden. 
Zur  letzteren  Klasse  gehören  auch  die  sogenannten  Uni  versahen  oder  Aligeniein- 
begriffe, die  auch  Ideen  heißen  und  von  den  Sammelbegriffen  verschieden 
sind.  Thomas  definiert  das  Universale,  das  heißt  den  objektiven  Inhalt  dieser 
Allgemeinbegriffe,  im  Gegensatz  zu  den  Singularien,  den  Einzeldingen,  mit 
Aristoteles  vom  logisch-grammatischen  Standpunkte  zuerst  so  {Perihermenias 
Hb.  l  lectio  10,  v.  18  p.  21):  „Das  Universale  ist  dasjenige,  was  seiner  Natur 
nach  geeignet  ist,  von  mehreren  Einzeldingen  (Individuen)  als  Prädikat  aus- 
gesagt zu  werden."  Zum  Beispiel  Mensch  =  menschliche  Natur  =  Mensch- 
heit in  dem  Satze:  dieses  bestimmte  Einzelwesen  (Plato)  ist  ein  Mensch  =  einer, 
der  die  menschliche  Natur  hat.  „Das  Singulare  dagegen  ist  das,  was  seiner 
Natur  nach  nicht  geeignet  ist,  von  mehreren  ausgesagt  zu  werden,  sondern 
nur  von  einem  allein."  Das  Universale  ist  als  solches  {unum  versus  alia)  in 
seiner  Allgemeinheit,  nämlich  mit  der  gedanklichen  Beziehung  auf  mehrere 
Einzelwesen,  ein  Produkt  unseres  Denkens:  wir  bilden  aber  diese  Vorstellung 
(den  Begriff)  in  der  Seele  auf  realer  Grundlage,  aus  der  Erfahrung  von  der 
wirklichen  Welt.  Das  Universale  ist  also  kein  bloßer  Sammelname,  der  mehrere 
Einzeldinge  nur  zusammen  bezeichnet  (wie  das  Wort  „Heer"  viele  Soldaten 
zusammenfaßt).  Es  ist  auch  keine  bloß  subjektive  Vorstellung;  sondern  ihm 
entspricht  tatsächlich  etwas  in  der  wirklichen  Welt  außerhalb  unserer  Ge- 
danken. Denn  sonst  wäre  die  logische  Aussage  falsch,  in  welcher  wir  „Mensch" 
sowohl  von  jedem  einzelnen  für  sich,  wie  von  allen  zusammen  aussagen.  Darum 
ward  das  Universale  noch  genauer  so  definiert:  dasjenige,  was  seiner  Natur 
(innersten  Beschaffenheit)  nach  geeignet  ist,  in  mehreren  zu  sein  und  deshalb 
auch  von  ihnen  im  eindeutigen  Sinne  ausgesagt  zu  werden.  Vergleiche  Sum. 
theol  P.  I  qu.  13  art.  9  (v.  1  p.  55). 

72  15.  Da  aber  etwas  in  mehrfacher  Weise  geeignet  sein  kann,  in  mehreren 
zu  sein  und  von  ihnen  ausgesagt  zu  werden,  so  werden  die  Universalien  von 
Aristoteles  und  Thomas  in  fünf  oberste  Klassen  eingeteilt:  Qa.t.tung  (genus), 
^j^iSU^ispecies),  artbildender  Unterschied,  logische  Eigenschaft  und  logisches 
Accidens.    Vergleiche  Op.  de  ente  et  essentia  cap.  3  (v.  16  p.  331  sqq).     So  be- 


Erläuterungen.  79 


zeichnet  ..Mensch"  die  allen  Einzelmenschen  gemeinsame  gleiche  Natur  nach 
der  Vollständigkeit  ihrer  Merkmale  als  die  alle  Einzelmenschen  umfassende 
(spezifische)  Art.  ..Tier''  dagegen  (=  Tiernatur,  Tierheit  =  ein  mit  Sinnes- 
kräften begabter  lebendiger  organischer  Körper)  bezeichnet  dasjenige,  was 
vielen  Arten  (nämlich  dem  Menschen  und  den  Arten  der  vernunftlosen  Tiere) 
gemeinsam  ist  als  Gattung,  welche  das  Wesen  der  einzelnen  Menschen  und 
Tiere  nur  unvollständig  rri-drückt.  Endlich  bezeichnet  .^mit  Vernunft  begabt 
sein"  den  art bildenden  l.  r.terschied,  welcher  den  Gattungsbegrifit  Tier  zum 
Artbegriff  Mensch  verengt  und  genau  bestimmt.  Vergleiche  Anal.  post.  lih.  2 
lect.    13—15  (v.  18  p.  209  sqq.). 

2.  Die  zweite  Stelle  ist  aus  der  zw,  1255—1273  verfaßten  Summa  theol. : 
P.  L  qu.  85  a.2  ad2  (v.  1  p.  338).  Sie  erklärt,  wie  der  Intellekt,  das  heißt 
das  geistige  Denk-  oder  Erkenntnisvermögen  (=  Vernunft  und  Verstand), 
welches  tiefer  als  die  Sinneswahrnehmung  in  das  innerste  Sein  der  Dinge  hinein- 
dringt {inielligere  =  intus  legere :  Sum.  theol.  P.  II,  2  qu.  8  art.  1 ;  v.  3  p.  30), 
sich  die  Universalvorstellung  bildet.  Dies  geschieht  durch  eine  Art  von  Ab- 
straktion, das  heißt  durch  das  gedankliche  Herausziehen  (abs-trahere)  der 
Merkmale,  die  vielen  Dingen  gemeinsam  sind.  Das  ist  aber  nichts  anderes  als 
diejenige  gedankliche  Betrachtung  eines  Dinges,  bei  welcher  man  von  den- 
jenigen Merkmalen  absieht,  die  diesem  Dinge  ganz  allein  zukommen.  Ver- 
gleiche Sum.  theol.  I  qu.  13  a.  9  (v.  1  p.  55).  Über  den  zweifachen  Sinn  von 
Abstraktion:  Sum.  theol.  1  qu.  85  a.  1  ad  1,  ad  4,  ad  5  (v.  1  p.  337);  Opuscul. 
de  suhstantiis  separat is  (v.  16  p.  184);  Metaph.  lih.  7  lect.  13  §  Universale 
dupliciter  (v.  20  p.  498). 

73  8.  Mit  dem  Worte  ..Mensch"  bezeichnet  man  die  Summe  der  Merk- 
male, die  allen  Einzel  menschen  gemeinsam  sind.  Individuelle  Merkmale  sind 
dagegen  diejenigen,  welche  in  ihrer  Gesamtheit  nur  einem  bestimmten  einzelnen 
Menschen  im  Unterschied  von  allen  anderen  Menschen  zukommen:  zum  Bei- 
spiel seine  bestimmte  Größe,  Farbe,  Abstammung,  Geburtsort  und  -zeit.  In- 
dividuelle Prinzipien  heißen  die  sachlichen  Gründe  und  Ursachen  für  diese 
Merkmale:  sie  entspringen  aus  dem  stofflichen  Element,  woraus  der  Mensch 
besteht.     Vergleiche  Sum.  theol.  P.  I.  qu.  3  art.  3  (v.  1  p.  11). 

3.  Die  dritte  Stelle  ist  aus  dem  Opusculum  de  sensu  respectu  sensibilium 
et  intellectu  respectu  universalium  (v.  17  p.  118).  Sie  führt  die  Lehre  von  den 
Universalien  durch  eine  Unterscheidung  weiter  aus,  wobei  auch  die  Bedeutung 
der  Abstraktion  noch  mehr  hervortritt.  Th.  unterscheidet  eine  doppelte  Be- 
trachtung einer  universalen  Natur.  Wir  kömien  sie  1.  absolut  für  sich  betrach- 
ten, nachdem  ^^-ir  sie  einmal  aus  den  Dingen",  in  welchen  sie  vorkommt,  durch 
das  Denken  herausgeschält  haben:  so  betrachtet,  hat  sie  noch  nicht  die  Be- 
ziehung zu  vielen,  die  Universalität,  sondern  existiert  real  nur  in  den  Einzel- 
dingen. Wir  können  sie  aber  2.  durch  Vergleichung  mit  vielen  Einzeldingen, 
in  denen  sie  vorkommt,  zur  gedanklichen  Allgemeinheit  erheben:  und  so  auf- 
gefaßt, mit  der  Beziehung  der  Allgemeinheit,  existiert  sie  nicht  real,  sondern 
nm*  als  Gedanke  in  der  Seele.  Die  späteren  Scholastiker  nannten  das  Univer- 
sale,   was  absolut  für  sich  gedacht  wird,    das   Universale  metaphysicum,  da- 


80  Thomas  von  Aquino. 


gegen  das  mit  der  Beziehung  der  Allgemeinheit  gedachte  das  Universale  logicum. 
Th.  zeigt  in  dieser  Stelle  die  logische  Berechtigung  zu  einer  solchen  Unter- 
scheidung, die  auch  bei  Avicenna  vorkommt.  Eine  noch  tiefere  Ausführung 
dieser  Lehre  gibt  besonders  das  zwischen  1245  und  1248  verfaßte  Opusculum 
de  erUe  et  essentia  cap.  4  (v.  16  p.  333),  zu  welchem  Cajetanus  (Thomas  de  Vio, 
t  1534)  einen  berühmten  Kommentar  schrieb  {Opuscula,  Lugduni  1588),  ferner 
Metaph.  lib.  7  lect.  13  (v.  20  p.  498)  und  Quodlibetum  8  art.  1  (v.  9  p.  571). 
Das  Resultat  der  Untersuchung  über  die  Universalien,  welche  Thomas  geführt 
hat,  ist  kurz  und  klar  in  dem  Opuscul.  de  natura  generis  c.  7  (v.  17  p.  8;  unsere 
Stelle  auf  p.  12)  ausgesprochen,  dessen  Echtheit  jedoch  von  einigen  (Wulf 
a.  a.  0.  p.  261)  bezweifelt  wird:  „Eine  Natur,  von  der  man  die  gedankliche 
Beziehung  der  Allgemeinheit  wegdenkt,  läßt  pine  dreifache  Betrachtung  zu. 
1.  Man  kann  sie  einmal  absolut  an  sich  betrachten,  und  so  kommt  ihr  kein 
anderes  Prädikat  zu  als  das  allein,  was  zu  ihrem  Begriff  gehört.  So  gehört 
beispielsweise  zum  Begriffe  , Tierwesen'  ein  beseelter  (belebter)  und  mit  Sinnes- 
kräften begabter  Körper;  denn  alles  andere  kann  dem  Tierwesen  an  sich  in 
dieser  absoluten  Betrachtung  nur  fälschlich  beigelegt  werden,  zum  Beispiel, 
daß  es  weiß  oder  musikalisch  ist  oder  etwas  anderes  dergleichen.  2.  In  anderer 
Weise  kann  diese  Natur  so  betrachtet  werden,  wie  sie  in  ein  Einzelwesen  ihrer 
Gattung  aufgenommen  ist ;  und  so  aufgefaßt  wird  noch  die  Wesensbeschaffen- 
heit in  ihr  liegen,  die  absolut  zu  ihrem  Begriffe  gehört.  ,Das  Tierwesen'  näm- 
lich, das  Sokrates  ist,  ist  eine  beseelte  und  mit  Sinneskräften  begabte  Substanz. 
Aber  wenn  diese  Natur  in  mehrere  Individuen  aufgenommen  wird,  so  ver- 
vielfältigt sich  notwendigerweise  sowohl  die  Natur  selbst  wie  ihr  Begriff: 
Sokrates  und  Plato  nämlich  sind  zwei  tierische  Wesen  und  zwei  beseelte  und 
mit  Sinneskräften  begabte  Substanzen.  Obwohl  nun  in  der  Natur  des  Tier- 
wesens keine  Einzigkeit  oder  Mehrheit  liegt,  indem  diese  Natur  von  selbst 
dazu  geeignet  ist ,  in  e  i  n  Individuum  oder  in  mehrere  aufgenommen  zu 
vs^erden,  da  sie  ja  tatsächlich  in  eins  und  in  mehrere  aufgenommen  werden 
kann,  —  so  liegt  doch  eine  gewisse  Einheit  in  der  Natur  selbst,  wenn  man  sie 
absolut  auffaßt,  weil  offenbar  ihre  Definition  nur  eine  und  ihr  Name  nur  einer 
ist.  3.  Auf  eine  dritte  Weise  kann  man  diese  Natur  betrachten,  so  wie  sie  in 
der  denkenden  Seele  ist.  Und  weil  alles,  was  in  der  Seele  ist,  von  jeder  mate- 
riellen Teilung  und  Verschiedenheit  losgelöst  ist,  so  legt  man  dieser  Natur 
auf  Grund  der  Einförmigkeit,  die  sie  in  allen  Individuen  hat,  die  Bedeutung 
eines  Universale  bei,  das  ,eins  in  vielen'  ist.  Und  deswegen  wird  diese  Natur 
(als  logischer  Allgemeinbegriff  aufgefaßt)  in  den  unter  ihr  enthaltenen  Gliedern 
nicht  vervielfältigt."  Zu  dieser  Dreiteilung  in  Universale  metaphysicum, 
Singulare  und  Universale  logicum  vergleiche  die  für  unecht  gehaltenen  Opuscula 
de  universalibus  (v.  17  p.  128  sqq.)  und  de  Logicae  Aristotelis  Summa  (v.  17 
p.  54),  die  jedoch  aus  echten  Stellen  zusammengesetzt  sind.  Für  die  weitere 
Erklärung  und  Fortbildung  der  Lehre  vergleiche  Commer,  Logik,  Paderborn 
1897,  S.  52— 84. 

4.  Die  vierte  Stelle  ist  aus  der  zwischen  1261  und  1264  verfaßten  Summa 
philosophica,  lib.  1  cap.  26  §  Adhuc,  und  enthält  eine  kurze,  aber  schlagende 


Erläuterungen.  gl 


Widerlegung  des  übertriebenen  Realismus  der  Platoniker  mittels  einer,  schon 
von  Aristoteles  angewandten  Beweisführung,  welcher  Th.  jedoch  noch  eine 
besondere  Anwendung  hinzufügt.  Nach  der  Platonischen  Ansicht  existieren 
die  Universalien  als  selbständige  Wesen  für  sich  außerhalb  der  nach  ihnen 
benannten  realen  Dinge.  Weil  aber  jeder  einzelne  Mensch  einige  Merkmale 
besitzt,  die  zusammen  die  allgemeine  Natur  des  Menschen  ausmachen  und  den 
Artbegriff  „Mensch"  bilden,  und  weil  ferner  der  Mensch  in  seiner  allgemeinen 
Natur  wiederum  etwas  mit  allen  tierischen  Wesen  gemein  hat,  so  ist  „  tierisches 
Wesen"  der  Gattungsbegriff,  unter  welchem  die  (spezifische)  Art  „Mensch" 
enthalten  ist:  und  unter  letztere  fallen  die  einzelnen  Menschen  als  Individuen 
einer  und  derselben  Art.  Nach  der  Ansicht  der  Realisten  ist  aber  der  Einzel- 
mensch (zum  Beispiel  Plato)  ebenso  real  wie  die  Art,  zu  der  er  gehört,  nämlich 
„Mensch  im  allgemeinen",  und  wie  die  darüber  stehende  Gattung,  nämlich 
„tierisches  Wesen"  oder  „Tier  im  allgemeinen".  Demgemäß  müßten  in  jedem 
Einzelmenschen  er  selbst  als  Individuum  und  außerdem  noch  „Mensch  im  all- 
gemeinen" und  „Tier  im  allgemeinen"  voneinander  getrennt  enthalten  sein, 
also  drei  reale  Wesen,  was  doch  absurd  erscheint,  weil  es  die  erfahrungsmäßige 
und  natürliche  Einheit  des  Menschen  aufheben  würde.  Th.  wendet  aber  hier 
diesen  Beweis  zur  Widerlegung  des  pantheistischen  ReaUsmus  des  Amalrich 
von  Bena  (f  1209)  an.  Letzterer  behauptete,  das  Sein,  was  sich  in  jedem 
Dinge  vorfindet,  existiere  selbständig  für  sich  als  das  allgemeine  Sein  und  identi- 
fizierte es  mit  Gott.  Th.  beweist  aber,  daß  „das  Sein  im  allgemeinen",  in  dieser 
Allgemeinheit  aufgefaßt,  die  übrigen  Uni  versahen  noch  überragt,  weil  es  von 
jedem  Individuum,  von  jeder  Art  und  von  jeder  Gattung  ausgesagt  werden 
kann;  deshalb  ist  es  nichts  Reales,  sondern  nur  die  höchste  gedankHche  Ver- 
allgemeinerung, die  nicht  mit  Gott  identifiziert  werden  kann,  wenn  man  am 
realen  Dasein  Gottes  festhält.   Vergleiche  Sum.  pMlos.  Hb.  1  cap.  25  (v.  5  p.  21). 

Die  ausführhche  Widerlegung  des  Platonischen  Realismus  und  die  ein- 
gehende Begründung  der  AristoteUschen  Ansicht  findet  man  an  folgenden 
Stellen:  Metaph.  Hb.  1  ha.  14  et  15  (v.  20  p.  278  sqq.);  lect.  10  (v.  20  p.  274  sqq.), 
besonders  §  Patet  autem  diligenter  intuenti  (p.  275) ;  Sum.  theol.  P.  I.  qu.  84 
art.  1  (v.  1  p.  329). 

74  23.  „Tier"  bezeichnet  als  Universale  einen  lebendigen  oder  (was  bei 
Th.  dasselbe  besagt)  einen  beseelten  organischen  Körper,  der  mit  Sinneskräften 
begabt  ist. 

74  25.  Die  Wesensform  {forma)  eines  Dinges  ist  dasjenige  Seinselement 
oder  derjenige  Wirklichkeitsfaktor  {actus)  in  dem  Dinge,  durch  dessen  Vor- 
handensein in  dem  Ding  das  letztere  seine  innerste,  wesentliche  Seins beschaffen- 
heit  {essentiä)  empfängt  und  sich  wesentHch  (das  heißt  nicht  dem  realen  Da- 
sein nach,  sondern  seiner  ganzen  innersten  Beschaffenheit  nach)  von  jeder 
anderen  Klasse  von  Dingen  spezifisch  unterscheidet. 

5.  Die  letzte  Stelle  findet  sich  in  dem  zwischen  1269  und  1271  geschriebenen 
Kommentar  zur  Aristotelesschrift  de  interpretatione:  Perihermenias  lib.  1  lect.  10 
(v.  18  p.  22).  Th.  entwickelt  hier  im  engsten  Anschluß  an  den  griechischen 
Philosophen  die  logische  Lehre  von  den  Universalien  an  der  Betrachtung  des 

Dessoir-Menz  er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  6 


82  Thomas  von  Aquino. 


grammatischen  Satzes  und  der  logischen  Aussage.  Die  Stelle  enthält  zuerst 
(74  33 — 75  8)  die  Lösung  eines  Einwandes  gegen  die  Definition  des  Univer- 
sale (vergleiche  75  21)  und  darauf  (75  12  ff.)  die  Darstellung  der  mehrfachen 
logischen  Aussagemöglichkeit  der  Universalien  (siehe  die  Thomasstellen  darüber 
bei  Commer,  Logik  S.  149  ff.).  Man  kann  aus  dieser  Stelle  die  Methode  kennen 
lernen,  welche  Th.  bei  der  Aristoteleserklärung  befolgt.  Er  benützte  dabei 
nicht  die  arabischen  Übersetzungen,  sondern  griechisch-lateinische  und  ließ 
dazu  selbst  durch  Wilhelm  von  Mörbeke  (f  1300)  in  der  Zeit  zwischen  1260 
und  1270)  eine  wortgetreue  Übersetzung  aus  dem  Urtext  herstellen;  den  ge- 
reinigten Text  erklärt  er  in  streng  objektiver  Weise,  indem  er  den  wörtHchen 
Sinn  und  den  Zusammenhang  der  Gedanken  festzustellen  sucht. 

Commer. 


YII. 

Meister  Eckhart. 


Von  der  Liebe. 

Du  könntest  sagen:  ,,Wo]il!  Herr,  Ihr  meinet  immer,  es  sollte  ein- 
mal dazu  kommen,  daß  diese  Geburt  in  mir  geschehe,  der  Sohn  in  mir 
geboren  werde.  Nun  denn,  kann  ich  dafür  ein  Zeichen  haben,  woran 
ich  zu  erkennen  vermag,  daß  es  geschehen  ist?" 

Ja  gewiß,  untrügliche  Zeichen  gibt  es  wohl  drei.  Nur  eins  davon  will 
ich  für  jetzt  kundtun.  Man  fragt  mich  oft,  ob  der  Mensch  dahin  gelangen 
könne,  daß  er  nicht  mehr  gehindert  werde  durch  Zeit,  Vielheit  und 
Materie.  Ja  und  abermals  ja!  Wenn  diese  Geburt  in  der  Wahrheit  ge- 
schieht, dann  vermögen  dich  alle  Kreaturen  nicht  zu  hindern,  vielmehr 
leiten  sie  alle  dich  zu  Gott  und  zu  dieser  Geburt.  Dafür  finden  wir  ein 
Gleichnis  am  Bhtz.  Was  auch  immer  der  Bhtz  beim  Einschlagen  trifft, 
sei  es  Baum  oder  Tier  oder  Mensch,  das  kehrt  er  durch  den  Schlag 
zu  sich  hin;  und  hätte  ein  Mensch  den  Eücken  hingekehrt,  allsogleich 
wirft  er  ihn  mit  dem  AntUtz  herum.  Und  hat  ein  Baum  tausend  Blätter, 
die  drehen  sich  alle  herum,  mit  der  vorderen  Fläche  dem  Schlage  ent- 
gegen. Siehe,  ebenso  geschieht  es  allen  denen,  die  von  dieser  Geburt 
getroffen  werden:  aufs  schnellste  werden  sie  dieser  Geburt  zugewendetv 
in  allem,  was  zeitUch  in  ihnen  vorhanden  ist,  mag  es  noch  so  irdisch  grob 
sein.  Ja,  was  dir  vorher  ein  Hinderm".s  war,  das  fördert  dich  jetzt  aller- 
orten. So  vöUig  wird  das  AntHtz  dieser  Geburt  zugekehrt:  was  immer 
du  auch  siehst  und  hörst,  du  vermagst  in  allem  immer  nur  diese  Geburt 
entgegenzunehmen,  alle  Dinge  werden  dir  schlechthin  zu  Gott,  denn  in 
allen  Dingen  hast  du  nur  rein  noch  Gott  im  Auge.  Gerade  wie  wenn  ein 
Mensch  lange  in  die  Sonne  bhckt  —  aus  allem,  was  er  nachher  ansieht, 
leuchtet  ihm  die  Sonne  entgegen.  Wo  dir  das  mangelt,  daß  du  nicht  in 
allem  und  jedem  Gott  suchst  und  im  Auge  hast,  da  mangelt  dir  diese 
Geburt. 

Du  könntest  nun  fragen:  „Soll  sich  der  Mensch,  der  so  weit  gelangt 


84  Meister  Eckhart. 


ist,  noch  in  Bußwerken  üben,  oder  versäumt  er  etwas,  wenn  er  es  nicht 
tut?"  Gib  acht!  Alle  Übung  in  Büß  werken  ist  neben  anderen  Ursachen 
darum  erfunden  worden  —  das  Fasten,  "Wachen,  Beten,  Knieen,  Kasteien, 
härenes  Gewand  tragen,  auf  hartem  Lager  liegen  und  was  es  sonst  noch  gibt 
—  das  ist  alles  darum  erdacht  worden,  weil  der  Leib  und  das  Fleisch  sich  5 
jederzeit  dem  Geist  entgegenstellen:  der  Leib  ist  ihm  gar  oft  zu  stark, 
geradezu  ein  Krieg  herrscht  allerwegen  zwischen  ihnen,  ein  ewiger  Streit. 
Der  Leib  ist  hier  stark  und  kühn,  denn  er  ist  hier  daheim,  die  Welt 
hilft  ihm,  das  Erdreich  ist  sein  Vaterland,  ihm  helfen  hier  all  seine  Ver- 
wandten: die  Speise,  der  Trank,  das  Wohlleben.  Das  alles  ist  wider  den  lo 
Geist.  Der  Geist  ist  hier  in  der  Fremde  —  im  Himmel  hat  er  alle  seine 
Verwandten  und  sein  ganzes  Geschlecht :  dort  ist  er  an  Freunden  reich. 
Um  nun  dem  Geist  in  dieser  Verlassenheit  zu  Hilfe  zu  kommen  und  dem 
Leib  etwas  Abbruch  zu  tun  in  diesem  Streite,  damit  er  nicht  über  den 
Geist  siege,  darum  legt  man  ihm  den  Zaum  der  Bußübungen  an  und  is 
drückt  ihn  nieder,  damit  sich  der  Geist  seiner  erwehren  könne. 

Man  tut  das  also,  um  ihn  gefangen  zu  legen;  willst  du  ihn  nun  tausend- 
fach besser  fangen  und  mit  Ketten  belasten,  so  lege  ihm  an  den  Zaum 
der    Liebe.     Mit  der  Liebe  überwindest  du  ihn  am  vollkommensten, 
und  mit  der  Liebe  belastest  du  ihn  am  schwersten.    Und  darum  lauert   20 
uns  Gott  mit  nichts  anderem  so  auf  und  bedrängt  uns  mit  nichts  anderem 
so  wie  mit  der  Liebe.    Denn  mit  der  Liebe  ist  es  geradeso  wie  mit  der 
Angel  des  Fischers.    Dem  Fischer  kann  der  Fisch  nicht  zu  teil  werden, 
er  hafte  denn  an  der  Angel:  in  dem  AugenbHck,  da  der  Fisch  anbeißt, 
ist  der  Fischer  seiner  sicher  —  wohin  sich  auch  der  Fisch  dreht,  hin   25 
und  her,  der  Fischer  hält  ihn  ganz  sicher.    Also  sage  ich  von  der  Liebe: 
wer  von  ihr  gefangen  wird,  der  trägt  das  allerstärkste  Band  und  doch  eine 
süße  Bürde.    Wer  diese  süße  Bürde  auf  sich  genommen  hat,  der  erreicht 
mehr  und  kommt  damit  näher  zum  Ziel  heran  als  mit  allen  den  harten 
Bußübungen,  die  nur  immer  Menschen  üben  mögen.    Er  vermag  auch   so 
mit  süßer  Freudigkeit  alles  zu  ertragen  und  zu  erleiden,  was  ihn  befällt 
und  was  Gott  über  ihn  verhängt.     Kein  Ding  macht  dich  Gott,  noch 
Gott  dir  so  zu  eigen,  wie  dieses  süße  Band.  Wer  diesen  Weg  gefunden  hat, 
der  suche  keinen  anderen.     Wer  an  dieser  Angel  haftet,  der  ist  so  ge- 
fangen, daß  Fuß  und  Hand,  Mund,  Augen  und  Herz  und  alles,  was  am   35 
Menschen  ist,  alles  muß  Gott  zu  eigen  sein.    Und  darum  vermagst  du 
diesen  Feind  gar  nicht  besser  zu  überwinden,  daß  er  dir  keinen  Schaden 
zufüge,  als  mit  der  Liebe.   Darum  steht  geschrieben :  „  Die  Liebe  ist  stark 
wie  der  Tod,  fest  wie  die  Hölle. "   Der  Tod  scheidet  die  Seele  vom  Leibe, 
aber  die  Liebe  scheidet  alle  Dinge  von  der  Seele.    Was  nicht  Gott  oder  40 
göttlich  ist,  das  duldet  sie  um  keinen  Preis.  Wer  in  diesem  Netz  gefangen 


Wie  der  Wille  alle  Dinge  vermag.  85 


ist  und  wer  auf  diesem  Wege  wandelt,  was  für  ein  Werk  er  auch  immer 
tut:  die  Liebe  schafft  es,  deren  Werk  ist  es  allein  —  er  tue  etwas  oder  tue 
nichts,  darauf  kommt  es  nicht  an.  Dieses  Menschen  geringste  Handlung 
oder  Beschäftigung  ist  für  ihn  selbst  und  alle  anderen  Menschen  nütz- 
licher und  fruchtbarer  und  Gott  wohlgefälHger  als  aller  Menschen 
Schaffen,  die  zwar  ohne  Todsünden,  aber  an  Liebe  ärmer  sind.  Sein 
Kühen  ist  heilsamer  als  eines  anderen  Wirken. 

Darum  harre  allein  dieser  Angel,  so  wirst  du  sehg  gefangen,  und  je 
mehr  gefangen,  je  mehr  befreit. 

Daß  wir  also  gefangen  und  befreit  werden,  dazu  helfe  uns  der,  der 
selber  die  Liebe  ist.     Amen. 


Wie  der  Wille  alle  Dinge  vermag  und  wie  alle  Tugenden  in  dem 
Willen  beschlossen  liegen,  sofern  er  ein  rechter  Wille  ist. 

Der  Mensch  soll  vor  keinem  Ding  zurückschrecken,  solange  er  in 
sich  die  Festigkeit  eines  guten  Willens  findet,  und  er  soll  sich  nimmer- 
mehr betrüben,  wenn  er  nicht  alles,  was  er  möchte,  in  Werken  zu  voll- 

16  bringen  vermag.  Er  soll  sich  nicht  von  den  Tugenden  verbannt  glauben, 
solange  er  in  sich  einen  rechten  guten  Willen  findet.  Denn  Tugend  und 
alles  Gute  beruht  im  guten  Willen.  Dir  kann  nichts  mangeln,  sofern 
du  den  wahren,  rechten  Willen  hast,  nicht  Liebe,  nicht  Demut,  noch 
irgend  eine  Tugend.    Was  du  mit  voller  Kraft  und  ganzem  Willen  willst, 

20  das  besitzest  du,  und  das  vermag  dir  Gott  und  alles  Gottesgeschöpf 
nicht  zu  rauben,  wenn  nur  der  Wille  fest  ist  und  ein  götthcher  Wille 
und  Gott  zugewandt  ist.  Nicht  in  dem  Sinne  „Ich  will  für  späterhin" 
—  das  würde  noch  auf  die  Zukunft  gehen  —  sondern  „Ich  will,  daß 
es  augenbhckHch  so  ist".    Merk  auf!    Wäre  ein  Ding  tausend  Meilen  ent- 

25  fernt,  und  ich  will  es  haben,  so  habe  ich's  mehr  zu  eigen  als  das,  was  ich 
in  meinem  Schöße  halte,  und  worauf  mein  Wille  nicht  gerichtet  ist. 
Und  das  Gute  hat  nicht  minder  Kraft  zum  Guten  ala  das  Böse  zum  Bösen. 
Das  präge  dir  ein !  Gesetzt,  ich  hätte  niemals  eine  böse  Tat  getan,  dennoch, 
wenn  der  Wille  nach  dem  Bösen  steht,  so  bin  ich  mit  der  Sünde  beladen, 

30  als  ob  ich  die  Tat  begangen  hätte.  Und  ich  könnte  allein  dadurch,  daß 
ein  fester  Wille  mich  ganz  erfüllt,  ebenso  große  Sünde  tun,  als  ob  ich 
die  ganze  Welt  gemordet  hätte,  und  hätte  doch  keine  Hand  dazu  ge- 
rührt. Warum  sollte  dasselbe  nicht  ebenso  mit  einem  guten  Willen 
möghch  sein  ?   In  der  Tat,  und  sogar  noch  ungleich  mehr.  Ja  wahrhaftig, 

35   mit  dem  bloßen  Willen  vermag  ich  alles,  ich  vermag  aller  Menschen 


86  Meister  Eckhärt. 


Mühsal  auf  mich  zu  nehmen  und  allen  Armen  Speise  zu  geben  und  aller 
Menschen  Taten  zu  tun  und  was  man  sonst  noch  erdenken  kann;  wenn 
es  dir  nicht  am  "Willen  fehlt,  sondern  lediglich  an  der  Macht,  so  hast 
du  vor  Gott  es  alles  vollendet.  Und  niemand  kann  es  dir  nehmen  und 
dich  daran  hindern,  auch  nur  für  einen  Augenblick.  Denn  etwas  tun 
wollen,  sobald  man  es  vermag,  und  etwas  getan  haben,  vor 
Gott  ist  es  ein  Ding. 

Johannes  Eckhart  (1260 — 1327)  ist  es,  der  zu  uns  spricht.  Die  ausgewähl- 
ten Worte  stehen  in  dem  Band  „  Meister  Eckhart,  herausgegeben  von  Franz 
Pfeiffer",  1857,  S.  28— 30  und  S.  552.  Im  Jahre  1903  erschienen:  „Meister 
Eckeharts  Schriften  und  Predigten,  übersetzt  und  herausgegeben  von  Hermann 
Büttner"  und  „Meister  Eckharts  Mystische  Schriften,  in  unsere  Sprache  über- 
tragen von  Gustav  Landauer".  In  Landauers  Ausgabe  „ist  all  das,  was  nicht 
von  Eckharts  Größe  kommt,  sondern  von  seinem  Zeitgeist,  weggelassen". 
Dem  Verständnis  des  mystischen  Philosophen  dient  am  besten  Adolf  Lassons 
Schrift  (Meister  E.,  1868)  und  desselben  Autors  kurze  Darstellung  in  Überweg- 
Heinzes  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  II,  350  ff.  (1905,  9.  Aufl.). 

Was  E.  sagt,  sind  Wahrheiten,  die  nicht  zu  einer  bestimmten  Stunde  ge- 
boren wurden  und  nach  Jahrzehnten  starben  oder  nach  Jahrhunderten  sterben 
werden,  sondern  es  sind  zeitlose  Wahrheiten.  Ihre  Übereinstimmung  mit  ur- 
alter Weisheit  und  späterer  Spekulation  wirkt  fast  beunruhigend.  Und  noch 
erschütternder  ist  die  Wahrnehmung,  wie  seine  Aussprüche  das  innerste, 
dem  eigenen  Bewußtsein  kaum  enthüllte  Leben  des  sittlich  sich  Entwickelnden 
zu  treffen  wissen.  Er  wiU  den  Weg  zum  Heil  und  zur  Freiheit  weisen.  Dieser 
schon  von  Plotini)  betretene  Weg  führt  fort  vom  Irdischen,  das  wie  ein  Nichts 
ist,  und  hin  zum  Absoluten,  zur  Gottheit.  Sittlichkeit  beruht  in  der  Rückkehr 
der  Seele  zu  Gott,  in  der  Aufhebung  der  vielfältigen  und  nur  scheinbar  wirk- 
lichen Natürlichkeit.  Wenn  der  Mensch  sich  selber  aufgibt,  um  Gott  zu  werden, 
dann  tritt  er  in  den  Zustand  der  „Abgeschiedenheit";  in  diesem  Zustand 
läßt  Gott  in  ihm  seinen  Sohn  lebendig  werden.  Hier  setzt  unser  Stück 
ein,  das  von  dem  Eintritt  in  ein  höheres  geistiges  und  sittliches  Leben 
handelt. 

83  7.  Zeit  und  Raum,  die  in  ihnen  befangene  Materie  und  die  durch  sie 
bedingte  Vielheit  bedeuten  nichts  gegenüber  dem  einen,  zeit-  und  raumlosen 
göttUchen  Geiste.    In  den  Upanishads  heißt  es: 

„Den  einen  Herrn  und  innres  Selbst  der  Wesen, 
Der  seine  eine  Form  ausbreitet  vielfach. 
Wer  den,  als  Weiser,  in  sich  selbst  sieht  wohnen, 
Der  nur  ist  ewig  selig,  und  kein  andrer." 
Aus  der  Käthaka-Upanishad  s.  Deussen,  Allg.  Gesch.  d.  Phil.  I,  2  S  316. 


^)  Plotin  war  ein  Gegner  des  Christentums. 


Erläuterungen.  87 


Ein  weiteres  Beispiel  für  das  oben  Behauptete  möchte  den  Leser  dazu 
anregen,  daß  er  diesen  Verwandtschaften  selber  nachgehe. 

„Doch  wer  die  Wesen  hier  alle 
Wiedererkennt  im  eigenen  Selbst 
Und  sich  in  allem,  was  lebet, 
Der  ängstigt  sich  vor  keinem  mehr." 

J  5ä  6—7. 

„Im  Geiste  soll  man  dies  merken: 
Nicht  ist  hier  Vielheit  irgendwie, 
Von  Tod  zu  neuem  Tode  schreitet, 
Wer  hier  Verschiednes  meint  zu  sehn." 

„Das  Licht,  als  eines,  eindringt  in  den  Weltraum, 
Und  schmiegt  sich  dennoch  jeglicher  Gestalt  an; 
So  wohnt  das  eine  innre  Selbst  der  Wesen 
Geschmiegt  in  jede  Form  und  bleibt  doch  draußen." 

Aus:  Deussen,  Sechzig  Upanishads  des  Veda,  1897,  S.  280  und  283. 

84  5.  Schon  Seneca  hatte  den  stärksten  Gegensatz  zwischen  „Fleisch" 
und  Geist  gepredigt,  und  Philo  (ein  etwa  im  Jahre  25  v.  Chr.  geborener  und  in 
Alexandrien  lebender  Jude)  hatte  den  Leib  als  einen  Kerker  für  den  Geist 
und  als  den  Grund  aller  Sünde  gebrandmarkt.  Im  Christentum  war  dann 
die  Gegenüberstellung  in  der  bekannten  Weise  fortgebildet  worden. 

84  19.  Was  die  Schriften  des  Neuen  Testamentes  über  die  Macht  der  Liebe 
sagen,  ist  heranzuziehen.  E.s  Lehre  wird  von  Lasson  dahin  bestimmt:  „Die 
Liebe  ist  das  Prinzip  aller  Tugenden ;  sie  strebt  nach  dem  Guten,  sie  ist  nichts 
anderes  als  Gott  selber." 

84  30.  Man  beachte,  daß  ein  Dominikaner  vor  sechshundert  Jahren  so 
zur  Gemeinde  sprach. 

84  38.    Hohelied  8,  6. 

85  2.  Diese  Ausführung  bildet  den  schärfsten  Widerspruch  zum  ethischen 
ütihtarismus,  wonach  der  Nützlichkeitswert  von  Handlungen  über  ihre  sitt- 
liche Beschaffenheit  entscheidet.  Auch  Kant  hat  späterhin  dagegen  Stellung 
genommen,  daß  der  sittliche  Wille  sich  durch  Wohlfahrtsgründe  bestimmen 
lasse:  das  wesenhaft  Gute  Uegt  in  der  Gesinnung  beschlossen  und  der  Erfolg 
sei  nebensächUch.     Vgl.  das   Lesestück  aus  Mills  Schriften. 

An  diesen  Gedanken  schließt  sich  das  zweite  der  ausgewählten  Stücke. 
Hier  wäre  an  mancherlei  zu  erinnern,  zum  Beispiel  schon  an  Abälards  Gesinnungs- 
ethik; wir  begnügen  uns  aber  mit  dem  Hinweis  auf  Kants  (im  15.  Lesestück 
enthaltenes)  Wort:  „Es  ist  überall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch  außer 
derselben  zu  denken  möglich,  was  ohne  Einschränkung  für  gut  könnte  gehalten 
werden  als  allein  ein  guter  Wille."  Die  Kraft  und  Entschiedenheit,  mit  der 
hier  von  E.  Wille  und  Tat  gegeneinander  gehalten  werden,  darf  nicht  zu  der 
Meinung  verleiten,  als  habe  er  die  Untätigkeit  anempfohlen.     In  der  Predigt 


38  Meister  Eckhart. 


über  Martha  und  Maria  warnt  er  vielmehr  vor  dem  Quietismus.  Seine  innerste 
Überzeugung  ist  diese,  daß  die  Gesinnung  über  den  Werken  stehe.  Eine 
Freveltat,  die  ohne  Absicht  geschieht,  darf  nicht  „Verbrechen"  genannt  werden, 
und  anderseits  bedeutet  alles  fromme  Handeln  ohne  fromme  Absicht  nichts. 
JegUches  Menschen  Seele  kann  sich  entscheiden,  ob  sie  zu  Gott  oder  zur  Zeit- 
lichkeit sich  halte :  im  guten  Willen  spüren  wir  den  Atem  der  Gottheit.  Wahres 
Christentum  besteht  für  E.  nicht  in  einem  Dogmengewirr,  sondern  in  einer 
persönlichen  Entscheidung,  die  von  allem  Kleinen  und  Selbstischen  frei  bleiben 
muß.  D  e  s  s  o  i  r. 


VIII. 

Francis  Bacon. 


Von  der  Induktion. 

19.  Zwei  Wege  gibt  es  und  kann  es  geben  zur  Erforschung  und  Ent- 
deckung der  Wahrheit.  Auf  dem  einen  fliegt  man  von  dem  Sinnlichen 
und  dem  Einzelnen  zu  den  allgemeinsten  Grundsätzen  und  bildet  und 
ermittelt  aus  diesen  obersten  Sätzen  und  ihrer  unerschütterlichen  Wahr- 

5  heit  die  mittleren  Sätze;  dieser  Weg  ist  der  gebräuchhche.  Der  zweite 
leitet  aus  dem  Sinnhchen  und  dem  Einzelnen  Grundsätze  ab,  indem  er 
allmählich  und  stufenweise  aufsteigt  und  so  zuletzt  zu  den  allgemeinsten 
Sätzen  gelangt;  dies  ist  der  wahre,  aber  unbetretene  Weg. 

20.  Jenen  ersten  Weg  betritt  der  sich  selbst  überlassene  Verstand 
10   und  verfährt  nach  den  Eegeln  der  Dialektik.     Denn  der  Geist  ist  von 

Verlangen  erfüllt,  eilig  zum  Allgemeineren  hinaufzukommen,  um  da  aus- 
zuruhen; und  der  Erfahrung  wird  er  bald  überdrüssig.  Dieses  Übel  ist 
durch  die  Dialektik  noch  gewachsen,  zum  Besten  glanzvoller  Dispu- 
tationen. 

15  21.  Bei  besonnenen,  ruhigen  und  ernsten  Naturen  versucht  der  sich 
selbst  überlassene  Verstand  —  besonders  wenn  er  durch  die  überkom- 
menen Lehren  nicht  gehemmt  wird  —  ab  und  zu  jenen  zweiten  Weg, 
der  zwar  geradeaus  führt,  aber  nur  langsam  weiterbringt.  Denn  der 
Verstand  ist  ohne  Leitung  und  Unterstützung  ein  unbeständiges  Ding 

20   und   ganz   unfähig,   die   Dunkelheit   der    Gegenstände   zu  überwinden. 

22.  Beide  Wege  gehen  von  dem  Sinnlichen  und  dem  Einzelnen  aus 

und  endigen  in  dem  Allgemeinsten;  aber  sie  weichen  darin  unendlich 

voneinander  ab ,    daß  man  auf    dem  einen  das  Gebiet  der  Erfahrung 

und  des  Einzelnen  nur  flüchtig  durchstreift,  auf  dem  anderen  dagegen 

25  richtig  und  ordentHch  sich  damit  beschäftigt.  Ebenso  werden  auf  dem 
einen  gleich  von  vornherein  abstrakte  und  nutzlose  Allgemeinheiten 
aufgestellt,  während  der  andere  Schritt  vor  Schritt  zu  denen  aufsteigt, 
die  in  Wirklichkeit  der  Natur  der  Sache  mehr  entsprechen. 


90  Francis  Bacon. 


23.  Es  ist  kein  geringer  Unterscliied  zwischen  den  Idolen  des  mensch- 
lichen Geistes  und  den  Ideen  des  göttlichen  Geistes,  das  heißt  zwischen 
gewissen  leeren  Meinungen  und  den  wahren,  den  Kreaturen  aufgepräg- 
ten Zeichen,  wie  sie  gefunden  werden. 

24.  Unmöglich  können  die  bloß  auf  Beweisführungen  gegründeten  6 
Sätze  zu  neuen  Entdeckungen  etwas  beitragen,  weil  die  Feinheit  der 
Natur  die  Feinheit  der  Beweisführung  vielfach  übertrifft ;  aber  die  Sätze, 
die  von  dem  Einzelnen  richtig  und  ordentlich  abgeleitet  sind,  weisen  leicht 
wieder  auf  neues  Einzelnes  hin  und  machen  so  die  Wissenschaften 
fruchtbar.  lo 

103.  Aber  auch  nachdem  die  Fülle  des  Einzelnen  gehörig  vor  Augen 
geführt  ist,  darf  man  nicht  gleich  zur  Erforschung  neuer  Einzelheiten 
und  zur  Erfindung  neuer  Werke  übergehen,  oder  wenigstens,  wenn  es 
doch  geschieht,  nicht  dabei  stehen  bleiben.  Denn  es  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß,  wenn  alle  Erfahrungen  in  allen  Künsten  gesammelt  und  geordnet  sein  15 
und  der  Kenntnis  und  dem  Urteil  eines  einzelnen  Menschen  zu  Gebote 
stehen  werden,  aus  der  bloßen  Übertragung  der  Erfahrungen  der  einen 
Kunst  auf  andere  viele  neue  Erfindungen  zum  Nutzen  des  menschhchen 
Lebens  und  Wohlstandes  gemacht  werden  können,  auf  dem  Wege,  den 
ich  die  wissenschaftUche  Erfahrung  nenne.  Dennoch  ist  das,  was  wir  von  20 
dieser  zu  erwarten  haben,  das  Geringere;  die  Hauptsache  ist  zu  erhoffen 
von  dem  neuen  Licht  der  aus  jenen  Einzelheiten  nach  festen  Kegeln 
abgeleiteten  Grundsätze,  die  dann  wieder  auf  neues  Einzelnes  führen 
können.  Denn  der  Weg  führt  nicht  auf  einer  Ebene  entlang,  sondern 
bergauf  und  bergab;  zuerst  bergauf  zu  Axiomen,  dann  bergab  zu  Werken.   25 

104.  Doch  ist  es  nicht  zulässig,  daß  der  Geist  von  dem  Einzelnen 
zu  den  entlegenen  und  allgemeinsten   Grundsätzen  (den  sogenannten    > 
Prinzipien  der  Künste  und  der  Dinge)  springe  und  fliege  und  dann  nach 
dem  Maßstabe  ihrer  unerschütterlichen  Wahrheit  die  mittleren  Sätze 
prüfe  und  darlege.    Allerdings  ist  es  bisher  immer  so  geschehen  infolge   30 
einer  natürHchen  Neigung  des  Geistes,  der  außerdem  durch  die  syllo- 
gistische  Beweisführung  schon  lange  dazu  erzogen  und  daran  gewöhnt 
worden  ist.     Aber  erst  dann  können  wir  für  die  Wissenschaften  Gutes 
hoffen,  wenn  man  auf  einer  richtigen  Stufenleiter,  allmähhch  und  nicht 
sprungweise,   von  dem  Einzelnen  zu  den  unteren  Lehrsätzen  aufsteigt,    35 
dann  zu  den  mittleren,  zu  immer  höheren,  und  zuletzt  erst  zu  den  all- 
gemeinsten.    Denn  die  untersten  Sätze  unterscheiden  sich  nicht  viel 
von  der  bloßen  Erfahrung;  aber  jene  höchsten  und  allgemeinsten,  die 
im  Schwange  sind,  sind  begriffhch,    abstrakt  und  ohne   einen  festen 
Kern.    Dagegen  die  mittleren  Sätze  sind  die  wahren,  zuverlässigen  und   40 


Von  der  Induktion.  <)1 


lebendigen,  auf  denen  das  Leben  und  Wolil  der  Menschheit  beruht; 
und  darauf  stützen  sich  dann  endhch  die  ganz  allgemeinen  Sätze,  natür- 
lich solche,  die  nicht  bloß  abstrakt  sind,  sondern  in  den  mittleren  ihre 
tatsächhchen  Grenzen  haben. 
5  Sonach  sollte  man  dem  menschlichen  Geist  keine  Flügel  verleihen, 
sondern  ihm  lieber  Bleigewichte  anhängen,  die  jedes  Springen  und 
FHegen  verhindern.  Bis  jetzt  ist  dies  noch  nicht  geschehen;  wenn  es 
aber  so  weit  gekommen  ist,  werden  wir  Besseres  von  den  Wissenschaften 
hoffen  dürfen. 

10  105.  Bei  der  Feststellung  der  Grundsätze  aber  muß  eine  andere 
Form   der   Induktion   ermittelt   werden   als   die   bisher   gebräuchUche, 

r  und  diese  soll  nicht  nur  zur  Prüfung  und  Auffindung  der  sogenannten 
Prinzipien,  sondern  auch  der  unteren  und  mittleren  und  überhaupt 
aller  Sätze  dienen.    Denn  eine  Induktion,  deren  Verfahren  in  einfacher 

15  Aufzählung  besteht,  ist  Kinderei;  sie  schließt  willkürlich,  sie  ist  der 
Gefahr  widersprechender  Fälle  ausgesetzt,  und  sie  urteilt  meistens  nach 
zu  wenigen  oder  bloß  nach  den  Fällen,  die  ihr  gerade  zur  Hand  sind. 
Dagegen  eine  Induktion,  die  für  die  Entdeckung  und  Darlegung  von 
Wissenschaften  und  Künsten  nutzbringend  sein  soll,  muß  eine  Scheidung 

20  des  Stoffes  vornehmen  durch  sachgemäße  Verwerfung  und  Aussonderung 
und  dann,  wenn  die  negativen  Fälle  erschöpft  sind,  auf  die  positiven 
schheßen.  Das  ist  bisher  weder  so  gemacht,  noch  auch  nur  versucht 
worden,  ausgenommen  allein  von  Plato,  der  zur  genauen  Ergründung 
seiner  Definitionen  und  Ideen  sich  dieser  Form  der  Induktion  mitunter 

25  bedient.  Allein  zum  guten  und  richtigen  Aufbau  dieser  Induktion  oder 
Beweisführung  gehört  eine  ganze  Menge,  was  bisher  noch  keinem  Sterb- 
Uchen  in  den  Sinn  gekommen  ist,  und  er  erfordert  mehr  Mühe,  als  bisher 
auf  den  Syllogismus  verwendet  wurde.  Diese  Induktion  soll  uns  nicht 
nur  bei  der  Auffindung  der  Grundsätze,  sondern  auch  bei  der  Bildung 

30  der  Begriffe  helfen;  und  von  einer  solchen  Induktion  ist  der  größte 
Erfolg  zu  erwarten. 

106.  Bei  der  Aufstellung  von  Grundsätzen  auf  dem  Wege  dieser 
Induktion  ist  ferner  sorgfältig  zu  prüfen,  ob  der  Satz,  den  man  auf- 
stellt, nur  auf  die  Einzelfälle  paßt,  aus  denen  er  abgeleitet  wird,  oder 

35  ob  er  einen  größeren  Umfang  besitzt.  Läßt  er  eine  weitere  Anwendung 
zu,  so  ist  nachzusehen,  ob  diese  durch  Hinweis  auf  neue  Einzelfälle  be- 
stätigt und  verbürgt  wird,  damit  wir  weder  in  den  bereits  bekannten 
stecken  bleiben,  noch  etwa  durch  zu  weite  Fassung  abstrakte  Schatten- 
bilder statt  inhaltUch  fest  bestimmter  Ergebnisse  erhaschen.    Erst  wenn 

40  dies  Verfahren  zur  Anwendung  kommt,  wird  uns  endhch  verdienter- 
maßen eine  sichere  Hoffnung  erglänzen. 


92  Francis  Bacon. 


Von  den  Idolen. 

38.  Die  Idole  und  falschen  Begriffe,  die  den  menschlichen  Verstand 
nachgerade  in  Besitz  genommen  haben  und  fest  in  ihm  wurzeln,  halten 
die  Geister  der  Menschen  nicht  bloß  insofern  in  Fesseln,  als  die  Wahrheit 
nur  schwer  einen  Zutritt  zu  ihnen  findet,  sondern  auch  indem  sie,  selbst  5 
wenn  ihr  dieser  Zutritt  gewährt  und  bewilhgt  worden  ist,  gerade  bei  der 
Erneuerung  der  Wissenschaften  immer  wiederkehren;  und  sie  werden 
sich  lästig  bemerkbar  machen,  solange  die  Menschen  nicht,  dieser  Warnung 
eingedenk,  sich  nach  Möglichkeit  gegen  sie  verwahren. 

39.  Vier  Arten  von  Idolen  gibt  es,   die  den  menschlichen   Geist   lo 
beherrschen.    Damit  sie  sich  recht  einprägen,  habe  ich  ihnen  besondere 
Namen  gegeben.     Die  erste  Art  nenne  ich  die  Idole  des  Stammes,  die 
zweite  die  der  Höhle,  die  dritte  die  des  Marktes,  die  vierte  die  des  Theaters. 

40.  Die  Aufstellung  der  Begriffe  und  Sätze  vermittels  der  wahren 
Induktion  ist  sicherUch  ein  geeignetes  Mittel,  um  die  Idole  abzuhalten  und  i5 
zu  entfernen;  aber  auch  die  Beschreibung  der  Idole  ist  von  großem 
Nutzen.  Denn  die  Lehre  von  den  Idolen  verhält  sich  ähnHch  zur  Natur- 
forschung, wie  die  Lehre  von  den  sophistischen  Künsten  zur  gewöhnUchen 
Dialektik. 

41.  Die  Idole  des  Stammes  haben  ihre  Wurzel  in  der  menschUchen   20 
Natur  selbst  und  in  dem  Stamm  oder  Geschlecht  der  Menschen.    Denn 

es  ist  falsch,  wenn  behauptet  wird,  der  menschliche  Sinn  sei  das  Maß 
der  Dinge;  im  Gegenteil:  alle  Wahrnehmungen,  die  sinnhchen  wie  die 
geistigen,  entsprechen  der  Natur  des  Menschen,  nicht  der  Natur  des 
Alls.  Der  menschliche  Verstand  gleicht  einem  Spiegel,  der  die  Strahlen  25 
der  Gegenstände  ungleichmäßig  zurückwirft  und  die  Dinge,  indem  er 
in  ihre  Beschaffenheit  seine  eigene  hineinwirft,  verzerrt  und  verfälscht. 

42.  Die  Idole  der  Höhle  sind  die  Idole  des  einzelnen  Menschen. 
Jeder  Einzelne  hat  nämhch  —  außer  den  Verirrungen  der  menschUchen 
Natur  im  allgemeinen  —  sozusagen  eine  besondere  Höhle  oder  Grotte,  30 
die  das  natürliche  Licht  bricht  und  verdirbt.  Das  folgt  entweder  aus  der 
eigentümHchen  und  besonderen  Natur  eines  jeden  oder  aus  der  Er- 
ziehung und  dem  Umgang  mit  anderen  oder  aus  der  Lektüre  und  der 
Verehrung  und  Bewunderung  von  Autoritäten  oder  aus  den  Unterschieden 
der  Eindrücke,  die  einerseits  ein  voreingenommener  und  Vorurteils-  35 
voller,  die  anderseits  ein  gleichmäßiger  und  ruhiger  Sinn  empfängt, 
und  dergleichen  mehr.     Der  menschliche  Geist  ist  eben  —  je  nachdem 

er  bei  den  einzelnen  Menschen  angelegt  ist  —  ganz  veränderHch,  ver- 
worren und  ein  Spiel  des  Zufalls.     Sehr  richtig  sagt  daher  Heraklit, 


Von  den  Idolen.  93 


die  Menschen  suchten  ihr  Wissen  in  ihren  kleinen  Welten  statt  in  der 
großen  allgemeinen. 

43.  Es  gibt  auch  Idole  infolge  der  gegenseitigen  Berührung  und 
Gemeinschaft  des  menschlichen   Geschlechts,   die  ich  wegen  des  Ver- 

5  kehrs  und  der  Verbindung  der  Menschen  die  Idole  des  Marktes  nenne. 
Denn  die  Menschen  bilden  Gemeinschaften  vermittels  der  Rede;  aber 
die  Worte  werden  der  Auffassung  der  Menge  entsprechend  geprägt. 
So  ist  es  denn  erstaunlich,  wie  die  schlechte  und  unpassende  Namen- 
gebung  den  Geist  irreführt.     Auch  die  Definitionen  oder  Erklärungen, 

10  womit  sich  die  Gelehrten  manchmal  wappnen  und  verteidigen,  bessern 
die  Sache  keineswegs.  Denn  die  Worte  tun  eben  dem  Verstände  Ge- 
walt an,  bringen  alles  in  Verwirrung  und  verleiten  die  Menschen  zu  zahl- 
losen nichtigen  Streitigkeiten  und  Erdichtungen. 

44.  Es  gibt  endlich  Idole,  welche  in  die  Seele  der  Menschen  aus  den 
15   mannigfachen   philosophischen   Lehrsätzen   und    auch   aus   verkehrten 

Regeln  für  Beweisführungen  eingedrungen  sind;  diese  nenne  ich  die 
Idole  des  Theaters.  Denn  so  viel  philosophische  Systeme  aufgenommen 
oder  erfunden  worden  sind,  so  viele  Theaterstücke  sind  meiner  Ansicht 
nach  damit  ersonnen  und  aufgeführt  worden,  die  aus  der  Welt  eine 

20  Dichtung  und  eine  Schaubühne  gemacht  haben.  Ich  spreche  hier  nicht 
bloß  von  den  schon  vorhandenen  oder  auch  den  alten  philosophischen 
Systemen  und  Sekten,  da  man  ja  noch  andere  und  mehr  solcher  Märchen 
erdichten  und  zurechtmachen  kann,  und  weil  die  Ursachen  ganz  ver- 
schiedener Irrtümer  eben  doch  fast  überall  dieselben  sind.     Und  ich 

25  beziehe  das  wiederum  nicht  bloß  auf  ganze  philosophische  Systeme, 
sondern  auch  auf  manche  Prinzipien  und  Lehrsätze  in  den  Wissen- 
schaften, die  durch  Überheferung,  Leichtgläubigkeit  und  Nachlässigkeit 
zu  Ansehen  gekommen  sind. 

Francis  Bacons  (1561 — 1626)  Novum  Organum  (1620  erschienen,  von 
J.  H.  V,  Kirchmann  1870  verdeutscht)  bringt  im  1.  Buch  vorläufige  Angaben 
über  zwei  Hauptpunkte  der  Baconischen  Philosophie,  Angaben,  die  uns  wegen 
ihrer  Kürze  zur  Wiedergabe  besonders  geeignet  erschienen.  Über  die  In- 
duktion und  ihre  Geschichte  unterrichtet  vortrefflich  Sigwarts  Logik,  von 
den  Idolen  findet  man  näheren  Bericht  in.  jeder  Geschichte  der  neueren  Phi- 
losophie. Eine  vertiefte  und  von  der  Überlieferung  mehrfach  abweichende 
Auffassung  in  Hans  Heußlers  Buch:  Francis  B.  und  seine  geschichtliche  Stel- 
lung, 1889;  eine  schöne  Gesamtübersicht  bei  Rudolf  Eucken,  Die  Lebens- 
anschauungen der  großen  Denker,  5.  Auflage,   1903. 

Nach  B,  ist  das  Grundproblem  des  menschlichen  Lebens  nicht  das  Ver- 
hältnis des  Menschen  zu  Gott  oder  zur  eigenen  Innerlichkeit,  sondern  seine 
Beziehung  zum  All,  das  heißt  zur  Natur.     Diese,  an  Größe  ihm  unendHch 


94  Francis  Bacon. 


überlegen,  kann  dennoch  bezwungen  werden.  Und  Herrschaft  über  die  Natur 
bedeutet  Kultur  und  Glück.  Zur  Herrschaft  gehört  aber  ausgedehnte  Er- 
fahrung (denn,  wie  Aristoteles  zitiert,  „Mangel  an  Erfahrung  gibt  dem  Zu- 
fall preis",  siehe  S.  22  25)  und  eine  sichere  Methode,  die  den  modernen  Menschen 
weiter  bringen  soll  als  den  Menschen  des  Altertums.  Erst  aus  einer  neuen 
Methode  wird  sich  nach  B.s  Meinung  eine  fruchtbare  Wissenschaft  entwickeln. 
Die  praktische  Seite  der  Wissenschaft  ist  dem  englischen  Philosophen  die 
Wissenschaft  überhaupt;  anderseits  fällt  für  ihn  Wissenschaft  zusammen  mit 
Naturwissenschaft.  Während  so  in  zwei  Beziehungen  der  Begriff  verengt 
wird,  erhält  er  doch  dadurch  einen  bestimmten  und  gültigen  Inhalt,  daß  die 
wesentliche  Bedeutung  der  Methode  für  die  Wissenschaft  hervorgehoben  wird. 
B.s  Methode  der  Induktion  und  des  Experimentes  stellt  sich  der  Deduktion 
und  der  Mathematik  gegenüber;  ihr  Ziel  ist  die  Kausalerkenntnis,  denn  wer 
Ursachen  erkennt,  der  kann  Wirkungen  entweder  herbeiführen  oder  doch 
wenigstens  voraussehen.  So  wird  Wissen  zur  Macht,  so  soll  eine  gemeinsame 
europäische  Wissenschaft  entstehen. 

89  10.  Mit  Dialektik  (siehe  die  Anmerkung  zu  Plato  13  3)  wird  gewöhn- 
lich eine  rein  formale  Schulung  gemeint,  das  Auffassen  logischer  Beziehungen 
zwischen  den  Begriffen.  Des  genaueren  versteht  Aristoteles  unter  Dialektik 
das  Aufsuchen  höchster  Erklärungsprinzipien.  Es  erfolgt,  indem  der  Forscher 
von  sinnlichen  Einzelerfahrungen  aus  und  unterstützt  durch  die  allgemein 
verbreiteten  Ansichten  zu  höchsten  Sätzen  vordringt,  deren  Wahrheit  unmittel- 
bar und  unbeweisbar  ist.  Diese  dialektische  Induktion  ist  etwas  Vorläufiges,  ein 
Probieren  ohne  absolute  Sicherheit;  die  strenge  Wissenschaft  besteht  erst 
in  der  darauf  folgenden  Tätigkeit,  aus  den  obersten,  allgemeinsten  Sätzen 
weniger  allgemeine  Erkenntnisse  syllogistisch  abzuleiten.  Wissenschaft  ist 
nach  Aristoteles  das  beweisende  und  erklärende  Fortschreiten  vom  Allgemeinen 
zum  Besonderen  und  zwar  mit  Hilfe  des  Schlußverfahrens  (siehe  S.  41).  Da 
hierbei  nur  angeordnet,  auseinandergelegt,  begrifflich  verkettet,  aber  nichts 
vorher  Unbekanntes  entdeckt  oder  gar  erfunden  werden  kann,  so  tadelt  B.  die 
syllogistische  Wissenschaft  (und  die  mathematische  Deduktion)  als  unfrucht- 
bar. Immerhin  wird  man  dem  Syllogismus  einen  Erkenntniswert  nicht  ab- 
sprechen dürfen,  denn  welche  Prämissen  die  gesuchte  Beziehung  zwischen 
Subjekt  und  Prädikat  des  Schlußsatzes  ermöglichen  —  dies  festzustellen 
bedeutet  in  vielen  Fällen  einen  Fortschritt  unserer  Einsicht. 

91  14.  Die  Induktion  durch  bloße  Aufzählung  ist  im  Grunde  genommen 
einem  Analogieschluß  gleich.  Wenn  ich  in  allen  mir  bekannten  Fällen  einer 
bestimmten  Art  mit  den  Merkmalen  a  b  c  noch  das  weitere  Merkmal  d  ver- 
bunden finde,  so  schheße  ich  daraus,  daß  bei  allen  ferneren  Verbindungen 
von  a  b  c  auch  d  vorhanden  sein  muß.  Dies  Aufzählen  der  bisher  bekannten 
Fälle  und  das  analogische  SchHeßen  auf  alle  weiteren  Fälle  kann  natürUch 
(nach  B.s  Meinung)  jeden  Augenblick  durch  eine  negative  Instanz  widerlegt 
werden:  hatte  ich  bisher  bei  Lichtausstrahlung  auch  immer  Wärmeentwick- 
lung gefunden  und  daher  die  wissenschaftUche  Behauptung  eines  notwendigen 
Zusammenhanges  aufgestellt,  so  wird  diese  „Erkenntnis"  durch  eine  einzige 


Erläuterungen.  95 


negative  Instanz  (wo  Licht  ohne  Wärme  auftritt)  widerlegt.  Deshalb  kommt 
alles  darauf  an,  die  negativen  Fälle  genau  zu  prüfen;  durch  Aufzählung  der 
positiven  Fälle  ergründet  man  niemals  das  „Wesen"  einer  Erscheinung.  — 
Die  nähere  Ausführung,  die  B.  später  gibt,  ist  sehr  verwickelt  und  der  scho- 
lastischen Syllogistik  keineswegs  so  entgegengesetzt,  wie  er  glauben  machen 
will.  Aber  noch  heute  ist  die  Theorie  der  Induktion  nicht  vollendet.  Man 
pflegt  seit  J.  St.  Mill  {System  of  logic  1843)  das  Recht,  mit  dem  wir  in  der  Wissen- 
schaft von  einer  begrenzten  Zahl  von  Beobachtungen  auf  alle  ähnhchen  Fälle, 
also  auf  einen  inneren  und  notwendigen  Zusammenhang  schließen,  aus  der 
Annahme  einer  Gleichförmigkeit  des  Naturlaufs  abzuleiten.  Näheres  in  den 
Lehrbüchern  der  Logik  von   Sigwart,   Wundt,   B.   Erdmann. 

91  23.  Wegen  der  Allgemeinheit  der  Angabe  ist  es  schwer  zu  sagen,  an  welche 
Ausführungen  Piatos  B.  denkt.  Vielleicht  an  den  Dialog  Sophistes  —  vor- 
ausgesetzt, daß  B.  ihn  gelesen  hat  — ,  weil  in  ihm  die  Methode  des  zweiteilenden 
Entweder  —  Oder,  des  Gegenüberstellens  von  Bejahung  und  Verneinung 
geübt  wird.  Das  allgemeine  Verfahren,  durch  negative  Kj-itik  zum  Positiven 
zu  gelangen,  findet  sich  hundertfach  bei  Plato. 

92  1.  Es  ist  mit  Recht  bemerkt  worden,  daß  die  Lehre  von  diesen  falschen 
Begriffen  bei  B.  eine  ähnliche  Bedeutung  hat,  wie  bei  Aristoteles  die  Lehre 
von  den  Trugschlüssen.     Vergleiche  92  i8. 

92  22.  B.  spielt  auf  den  sogenannten  Tiomo-mensuraSaitz  an.  Der  griechische 
Sophist  Protagoras  hatte,  und  zwar  zunächst  in  Bezug  auf  das  sinnliche  Wahr- 
nehmen, den  Satz  aufgestellt:  „Aller  Dinge  Maß  ist  der  Mensch  ..."  Damit 
wollte  er  für  das  Zeugnis  unserer  wahrnehmenden  Fähigkeiten  eintreten;  er 
meinte,  daß  das  Wahrgenommene  als  die  einzige  Wirklichkeit  zu  gelten  habe. 
Hiergegen  eben  bemerkt  B.,  daß  die  Wahrnehmungen  nicht  der  Natur  des  Alls 
entsprechen.  —  Von  den  Anthropomorphismen,  wie  wir  diese  Trugbilder  nennen 
dürfen,  hat  B.  besonders  die  Teleologie,  die  Hineintragung  des  Zweckgedankens 
in  das  Naturgeschehen,  bekämpft.     Vergleiche  das  Lesestück  aus  Spinoza. 

92  39.  Ein  solcher  Satz  findet  sich  in  Heraklits  Fragmenten  nicht,  doch 
ist  der  Sinn  HerakUtisch. 

93  3  f.  Über  die  Mangelhaftigkeit  und  Ersetzbarkeit  des  sprachlichen 
Ausdrucks  ist  von  alters  her  geklagt  und  nachgedacht  worden.  Aus  älterer 
Zeit  sind  die  Bemühungen  Leibnizens  um  diese  Frage  die  bekanntesten:  ihm 
zufolge  vermag  die  Vernunft  Zeichen  zu  ersinnen,  die  jeden  einfachen  Begriff 
und  jede  Begriffsverbindung  unzweideutig  in  Charakteren  und  Formeln  nieder- 
legen. Seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  gibt  es  eine  mit  Symbolen,  anstatt 
mit  Worten,  arbeitende  Logik,  von  der  in  Wundts  „Logik"  (I^  246  ff.)  das 
Nötigste  gesagt  ist.  Vergleiche  auch  L.  Liard,  Die  neuere  englische  Logik, 
deutsch  von  Imelmann,  2.  Auflage,   1883.  D  e  s  s  o  i  r. 


IX. 

Descartes. 


Erste  Betrachtung. 
Woran  man  zweifeln  kann. 

Schon  vor  einer  Keihe  von  Jahren  habe  ich  bemerkt,  wieviel  Falsches 
ich  in  der  Jugend  als  wahr  hingenommen  habe,  und  wie  zweifelhaft 
alles  ist,  was  ich  später  darauf  gründete,  und  es  ist  mir  klar  geworden, 
daß  ich  einmal  im  Leben  alles  von  Grund  aus  umstoßen  und  ganz  von 
vorn  beginnen  müsse,  wenn  ich  überhaupt  jemals  etwas  Festes  und  & 
Bleibendes  in  den  Wissenschaften  ausmachen  wolle. 

Das  schien  mir  jedoch  eine  ungeheure  Aufgabe  zu  sein,  und  ich 
wartete  daher  jenes  reife  Alter  ab,  dem  kein  anderes  nachfolgt,  das  zur 
Erwerbung  der  Wissenschaften  noch  geeigneter  wäre.  Infolgedessen 
habe  ich  so  lange  gezögert,  daß  ich  jetzt  eine  Schuld  auf  mich  laden  würde,  lo 
wenn  ich  die  zum  Handeln  noch  übrige  Zeit  mit  weiteren  Bedenken 
vergeuden  wollte. 

Und  da  trifft  es  sich  günstig,  daß  ich  heute  meinen  Geist  von  allen 
Sorgen  befreit,  daß  ich  mir  eine  sichere  Muße  verschafft  und  mich  in 
die  Einsamkeit  zurückgezogen  habe:  so  will  ich  denn  endUch  ernsten   is 
und  freien  Sinnes  zu  diesem  allgemeinen  Umsturz  meiner  bisherigen 
Meinungen  schreiten. 

Dazu  wird  indessen  nicht  nötig  sein,  sie  alle  als  falsch  aufzuzeigen, 
denn  das  würde  ich  vielleicht  niemals  erreichen  können;  vielmehr,  da 
schon  der  gesunde  Instinkt  rät,  in  ebenso  vorsichtiger  Weise  bei  dem  20 
nicht  ganz  Gewissen  und  Unzweifelhaften  wie  bei  dem  offenbar  Falschen 
die  Zustimmung  zurückzuhalten,  so  wird  es  hinreichen,  sie  alle  zurück- 
zuweisen, wenn  ich  in  einer  jeden  irgend  einen  Grund  zum  Zweifel  an- 
treffe. Auch  braucht  man  sie  dazu  nicht  alle  einzeln  durchzugehen, 
was  eine  endlose  Arbeit  wäre,  sondern,  da  nach  Untergrabung  der  Grund-  25 
lagen  alles  darauf  Gebaute  von  selbst  zusammenstürzt,  so  werde  ich  den 


Erste  Betrachtung.    Woran  man  zweifeln  kann.  97 

Angriff  sogleich  auf  eben  die  Prinzipien  richten,  auf  die  sich  alle  meine 
früheren  Meinungen  stützten. 

Alles  nämlich,  was  ich  bisher  am  ehesten  für  wahr  hingenommen 
habe,  empfing  ich  von  den  Sinnen  oder  durch  Vermittlung  der  Sinne. 

5  Nun  aber  bin  ich  dahinter  gekommen,  daß  diese  uns  bisweilen  täuschen, 
und  es  ist  ein  Gebot  der  Klugheit,  niemals  denen  ganz  zu  trauen,  die 
auch  nur  ein  einziges  Mal  uns  getäuscht  haben. 

Indessen  —  mögen  uns  auch  die  Sinne  über  zu  kleine  und  entfernte 
Gegenstände  bisweilen  täuschen,  so  gibt  es  am  Ende  doch  sehr  vieles 

10  andere,  woran  man  gar  nicht  zweifeln  kann,  wenn  es  gleich  aus  denselben 
Quellen  geschöpft  ist,  so  zum  Beispiel  daß  ich  jetzt  hier  bin,  daß  ich 
meinen  Winterrock  anhabe  und  am  Kamin  sitze,  daß  ich  dies  Papier 
mit  den  Händen  betaste,  und  Ähnliches;  vollends  daß  eben  dies  meine 
Hände  sind,  daß  dieser  gesamte  Körper  der  meine  ist,  wie  könnte  man  mir 

15  das  abstreiten?  Ich  müßte  mich  denn  mit  ich  weiß  nicht  welchen 
Wahnsinnigen  vergleichen,  deren  Gehirn  durch  widrige  Dünste  infolge 
schwarzer  Galle  so  geschwächt  ist,  daß  sie  hartnäckig  behaupten,  sie 
seien  Könige,  während  sie  bettelarm  sind,  oder  sie  trügen  Purpur,  während 
sie  nackt  sind,  oder  sie  hätten  einen  tönernen  Kopf,  oder  sie  seien  über- 

20  haupt  Kürbisse  oder  aus  Glas;  —  allein  das  sind  ja  Wahnsinnige,  und  ich 
würde  ebenso  verrückt  erscheinen,  wenn  ich  das,  was  von  ihnen  gilt, 
auf   mich   übertragen   wollte. 

VortreffHch!  —  Bin  ich  denn  nicht  ein  Mensch,  der  des  Nachts  zu 
schlafen  pflegt,  und  dem  genau  dieselben  oder  bisweilen  noch  weniger 

25  wahrscheinhche  Dinge  im  Traume  begegnen,  wie  jenen  im  Wachen?! 
Wie  oft  kommt  es  vor,  daß  ich  alle  jene  gewöhnUchen  Umstände:  ich 
sei  hier,  ich  säße,  mit  meinem  Rocke  bekleidet,  am  Kamin  —  mir  mitten 
im  Schlafe  einbilde,  während  ich  doch  entkleidet  im  Bette  liege.  —  Aber 
jetzt  schaue  ich  doch  sicher  mit  wachen  Augen  auf  dieses  Papier;  dies 

30  Haupt,  das  ich  hin  und  her  bewege,  ist  doch  nicht  vom  Schlaf  befangen; 
mit  Vorbedacht  und  Bewußtsein  strecke  ich  meine  Hand  aus  und  fühle 
das.  Im  Schlafe  würde  mir  das  doch  nicht  so  deuthch  entgegentreten !  — 
Als  wenn  ich  mich  nicht  entsänne,  daß  ich  auch  sonst  durch  ähnhche 
Gedankengänge  im  Traume  irregeführt  worden  bin!    Denke  ich  einmal 

35  aufmerksamer  hierüber  nach,  so  sehe  ich  ganz  klar,  daß  niemals  Wachen 
und  Traum  nach  sicheren  Kennzeichen  unterschieden  werden  können, 
—  so  daß  ich  ganz  betroffen  bin,  und  diese  Betroffenheit  selbst  mich  bei- 
nahe in  der  Meinung  bestärkt,  daß  ich  träume. 

Sei  es  denn:  wir  träumen.    Mögen  wirkhch  alle  jene  Einzelheiten 

40    nicht  wahr  sein,  daß  wir  die  Augen  öffnen,  den  Kopf  bewegen,  die  Hände 
ausstrecken;  ja,  mögen  wir  vielleicht  gar  keine  solchen  Hände,  noch  über- 
Desso  ir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  7 


98  Descartes. 

haupt  einen  solchen  Körper  haben.  Immerhin  muß  man  doch  gestehen, 
daß  alles  während  des  Schlafes  Geschaute  sich  gleichsam  wie  Malereien 
verhalte,  die  nur  nach  dem  Muster  wahrer  Dinge  gebildet  werden  konnten ; 
daß  also  wem'gstens  dies  Allgemeine:  Augen,  Haupt,  Hände  und  über- 
haupt der  ganze  Körper  als  nicht  eingebildete,  sondern  wirkliche  Dinge  5 
existieren.  Sind  doch  auch  die  Maler,  selbst  wenn  sie  Sirenen  und  Satyrn 
in  den  fremdartigsten  Gestalten  zu  bilden  versuchen,  nicht  im  stände, 
ihnen  in  jeder  Hinsicht  neue  Eigenschaften  beizulegen,  sie  mischen 
vielmehr  nur  die  Gheder  von  verschiedenen  lebenden  Wesen  durchein- 
ander; oder  wenn  sie  vielleicht  etwas  so  unerhört  Neues  sich  ausdenken,  lo 
wie  man  Ähnliches  überhaupt  nie  gesehen  hat,  also  etwas  völlig  Er- 
dichtetes und  Unwirkhches,  so  müssen  es  doch  zum  mindesten  wirldiche 
Farben  sein,  aus  denen  sie  es  zusammensetzen.  Wenn  also  auch  dies 
Allgemeine :  Augen,  Haupt,  Hände  und  dergleichen  nur  in  der  Einbildung 
vorhanden  sein  könnte,  so  muß  man  doch  notwendigerweise  gestehen,  15 
daß  wenigstens  gewisse  andere,  noch  einfachere  und  allgemeinere  Dinge 
wirkUch  vorhanden  sind,  mit  denen  —  wie  oben  mit  den  wirklichen 
Farben  —  alle  jene  wahren  oder  falschen  Bilder  von  Dingen,  die  wir 
in  unserem  Bewußtsein  haben,  sich  in  uns  malen.  Von  dieser  Art  scheinen 
zu  sein  die  Natur  des  Körpers  überhaupt  und  seine  Ausdehnung,  ferner  20 
die  Gestalt  der  ausgedehnten  Dinge,  ebenso  die  Quantität,  d.  i.  ihre 
Größe  und  Zahl,  ebenso  der  Ort,  an  welchem  sie  existieren,  die  Zeit, 
während  welcher  sie  dauern,  und  dergleichen. 

Man  darf  daher  hieraus  wohl  mit  Kecht  schheßen,  daß  zwar  die  Physik, 
die  Astronomie,  die  Medizin  und  alle  anderen  Wissenschaften,  die  von  25 
der  Betrachtung  der  zusammengesetzten  Dinge  abhängen,  ungewiß  sind, 
daß  dagegen  die  Arithmetik,  die  Geometrie  und  andere  Wissenschaften 
dieser  Art,  die  nur  von  den  allereinfachsten  und  allgemeinsten  Gegen- 
ständen handeln  und  sich  wenig  darum  kümmern,  ob  diese  in  der  Wirk- 
hchkeit  vorhanden  sind  oder  nicht,  etwas  von  zweifelloser  Gewißheit  30 
enthalten.  Denn  ob  ich  nun  wache  oder  schlafe,  so  ist  doch  stets  2  -|-  3  =  5, 
und  das  Quadrat  hat  nie  mehr  als  vier  Seiten,  und  es  scheint  unmöglich, 
daß  so  augenscheinliche  Wahrheiten  in  den  Verdacht  der  Unrichtigkeit 
geraten  können. 

Es  ist  indessen  meinem  Geiste  eine  alte  Meinung  eingeprägt,  daß  35 
ein  Gott  sei,  der  alles  vermag,  und  von  dem  ich  so,  wie  ich  bin,  ge- 
schaffen sei.  Woher  weiß  ich  aber,  daß  er  nicht  bewirkt  hat,  daß  es 
überhaupt  keine  Erde,  keinen  Himmel,  kein  ausgedehntes  Ding,  keine 
Gestalt,  keine  Größe,  keinen  Ort  gibt,  und  daß  trotzdem  alles  dies  genau 
so  wie  jetzt  mir  da  zu  sein  scheint?  Oder  vielmehr,  daß  —  so  wie  ich  4o 
urteile,  daß  bisweilen  auch  andere  sich  in  dem  irren,  was  sie  aufs  voll- 


Erste  Betrachtung.    Woran  man  zweifeln  kann.  99 

kommenste  zu  \vissen  meinen  —  auch  ich  mich  täusche,  so  oft  ich  2  und  3 
addiere,  oder  die  Seiten  des  Quadrats  zähle,  oder  was  man  sich  noch 
Leichteres  denken  mag. 

Aber  vielleicht  hat  Gott  nicht  gewollt,  daß  ich  mich  so  täusche? 
o  Heißt  er  doch  der  Allgütige !  —  Allein  wenn  es  mit  seiner  Güte  unverein- 
bar wäre,  mich  so  zu  schaffen,  daß  ich  mich  stets  täusche,  so  schiene 
es  doch  ebensowenig  dieser  Eigenschaft  entsprechend,  mir  zu  erlauben, 
daß  ich  mich  bisweilen  täusche.  Und  dies  läßt  sich  doch  nicht 
behaupten. 

10  FreiHch  möchte  es  wohl  manche  geben,  die  lieber  einen  so  mächtigen 
Gott  überhaupt  leugnen  würden,  als  daß  sie  an  die  Ungewißheit  aller 
anderen  Dinge  glaubten;  allein  mit  denen  wollen  wir  nicht  streiten  und 
einmal  zugeben,  alles  von  Gott  Gesagte  sei  eine  bloße  Fiktion.  Sie 
mögen  nun  annehmen,  ich  sei  durch  Schicksal  oder  Zufall  oder  durch 

15  die  Verkettung  der  Umstände  oder  sonstwie  zu  dem  geworden,  was  ich 
bin,  jedenfalls  scheint  doch  das  Sichtäuschen  und  Irren  eine  gewisse 
Unvollkommenheit  zu  sein;  demnach  wird  es,  je  geringere  Macht  man 
dem  Urheber  meines  Seins  zuschreibt,  umso  wahrscheinlicher  sein,  ich 
sei  so  unvollkommen,  daß  ich  mich  stets  täusche. 

20  Auf  diese  Gründe  habe  ich  schlechterdings  keine  Antwort,  und  so 
sehe  ich  mich  schließUch  zu  dem  Geständnis  gezwungen,  daß  an  allem, 
was  ich  früher  für  wahr  hielt,  ein  Zweifel  möglich  ist,  und  zwar  nicht  aus 
Unbesonnenheit  oder  Leichtsinn,  sondern  aus  triftigen  und  wohlerwogenen 
Gründen;  daß  ich  folghch  auch  diesem  allem,  nicht  minder  als  dem  offen- 

25  bar  Falschen,  fortan  meine  Zustimmung  aufs  vorsichtigste  versagen 
muß,  wenn  ich  zu  etwas   Gewissem  gelangen  will. 

Doch  ist  es  nicht  genug,  dies  einmal  bemerkt  zu  haben,  sondern  man 
muß  Sorge  tragen,  es  sich  stets  gegenwärtig  zu  halten;  kehren  doch  die 
gewohnten  Meinungen  unablässig  wieder  und  nehmen  memen  leicht- 

30  gläubigen  Smn,  den  sie  gleichsam  durch  langen  Verkehr  und  durch  ver- 
trauhche  Bande  an  sich  gefesselt  haben,  fast  auch  wider  meinen  Willen 
in  Beschlag.  Und  ich  werde  es  noir  niemals  abgewöhnen,  ihnen  bei- 
zustimmen und  zu  vertrauen,  solange  ich  sie  für  das  ansehe,  was  sie  in 
der  Tat  sind,  nämhch  —  wie  bereits  gezeigt  —  für  einigermaßen  zweifel- 

35  haft,  aber  immerhin  recht  wahrscheinhch,  so  daß  es  weit  vernunft- 
gemäßer ist,  sie  zu  glauben  als  zu  leugnen. 

Es  wird  daher,  denke  ich,  wohl  angebracht  sein,  wenn  ich  meiner 
Willkür  die  gerade  entgegengesetzte  Wirkung  gebe,  mich  selbst  täusche 
und  für  eine  Weile  die  Fiktion  mache,  jene  Meinungen  seien  durchweg 

40  falsch  und  bloße  Einbildungen,  bis  ich  schUeßHch  meine  Vorurteile 
auf  beiden  Seiten  so  ins  Gleichgewicht  gebracht  habe,  daß  keine  üble 


^ 


100  Bescartes. 

Gewohnheit  fernerhin  mein  Urteil  von  der  wahren  Erkenntnis  der  Dinge 
ablenkt.  Denn  ich  weiß  ja,  daß  hieraus  inzwischen  weder  Gefahr  noch 
Irrtum  entstehen  kann,  und  daß  ich  meinem  Mißtrauen  gar  nicht  zu 
weit  nachgeben  kann,  da  es  mir  ja  für  jetzt  nicht  auf  ein  Handeln,  sondern 
nur  auf  ein  Erkennen  ankommt.  5 

So  will  ich  denn  annehmen,  daß  nicht  der  allgütige  Gott,  die  Quelle 
der  Wahrheit,  sondern  daß  irgend  ein  böser  Geist,  der  zugleich  höchst 
mächtig  und  verschlagen  ist,  allen  seinen  Fleiß  daran  gewandt  habe, 
mich  zu  täuschen;  ich  will  glauben,  Himmel,  Luft,  Erde,  Farben,  Ge- 
stalten, Töne  und  alle  Außendinge  seien  nichts  als  das  täuschende  10 
Spiel  von  Träumen,  durch  die  jener  Geist  meiner  Leichtgläubigkeit 
Fallen  stellt;  mich  selbst  will  ich  so  ansehen,  als  hätte  ich  keine  Hände, 
keine  Augen,  kein  Fleisch,  kein  Blut,  überhaupt  keine  Sinne,  sondern 
glaubte  nur  fälschlich  dies  alles  zu  besitzen.  Und  ich  werde  hartnäckig 
an  dieser  Art  der  Betrachtung  festhalten,  und  wenn  es  dann  auch  nicht  i5 
in  meiner  Macht  steht,  irgend  eine  Wahrheit  zu  erkennen,  so  will  ich  doch 
entschlossenen  Sinnes  mich  in  acht  nehmen,  soviel  an  mir  liegt,  nichts 
Falschem  zuzustimmen  noch  von  jenem  Betrüger  mich  hintergehen  zu 
lassen,  so  machtvoll  und  listig  er  sein  mag. 

Aber  das  ist  ein  mühevolles  Unternehmen,  und  eine  gewisse  Trag-  20 
heit  führt  mich  zur  gewohnten  Lebensweise  zurück.  Etwa  wie  ein  Ge- 
fangener im  Traume  eine  eingebildete  Freiheit  genießen  kann,  und  wenn 
er  zu  merken  beginnt,  daß  er  nur  träumt,  sich  vor  dem  Erwachen  fürchtet 
und  den  schmeichlerischen  Vorspieglungen  solange  wie  möglich  sich 
hingibt,  so  sinke  ich  von  selbst  in  die  alten  Meinungen  zurück  und  25 
fürchte  mich  vor  dem  Erwachen.  Denn  das  arbeitsvolle  Wachen,  das 
auf  die  behagliche  Ruhe  folgt,  kann  nicht  im  Lichte,  sondern  muß  in 
der  undurchdringUchen  Finsternis  der  schon  angedeuteten  Schwierigkeiten 
verbracht  werden. 


Zweite  Betrachtung. 

Über  die  Natur  des  menschlichen  Geistes;  daß  er  leichter  erkennbar 

ist  als  der  Körper. 

Die  gestrige  Betrachtung  hat  mich  in  so  gewaltige  Zweifel  gestürzt, 
daß  ich  sie  nicht  mehr  vergessen  kann.  Einen  Weg  zur  Lösung  sehe  ich 
auch  nicht.  Sondern  wie  wenn  ich  unversehens  in  einen  tiefen  Strudel 
hinabgestürzt  wäre,  bin  ich  so  verwirrt,  daß  ich  weder  auf  dem  Grunde 
festen  Fuß  fassen  noch  zur  Oberfläche  emporschwimmen  kann.    Dennoch 


30 


Zweite  Betrachtung.    Über  die  Natur  des  menschlichen  Geistes.      101 

will  ich  mich  herausarbeiten  und  von  neuem  eben  den  Weg  versuchen, 
den  ich  gestern  beschritten  hatte,  indem  ich  nämlich  alles  von  mir  fern- 
halte, was  auch  nur  den  geringsten  Zweifel  zuläßt,  genau  so,  wie  wenn 
ich  in  sichere  Erfahrung  gebracht  hätte,  daß  es  durchaus  falsch  sei. 
ö  Ich  will  so  lange  weiter  vordringen,  bis  ich  irgend  etwas  Gewisses,  oder, 
wenn  nichts  anderes,  so  doch  zum  mindesten  das  für  gewiß  erkenne, 
daß  es  nichts  Gewisses  gibt.  Nichts  als  einen  festen  und  unbewegHchen 
Punkt  verlangte  Archimedes,  um  die  ganze  Erde  von  ihrer  Stelle  zu 
bewegen;  auch  ich  darf  Großes  hoffen,  wenn  ich  auch  nur  das  Germgste 

10   finde,  das  von  unerschütterhcher  Gewißheit  ist. 

Ich  setze  also  voraus,  alles,  was  ich  sehe,  sei  falsch ;  ich  glaube,  daß 
niemals  etwas  von  dem  allem  existiert  hat,  was  das  trügerische  Gedächtnis 
mir  darstellt:  ich  habe  überhaupt  keine  Sinne;  Körper,  Gestalt,  Größe, 
Bewegung  und  Ort  sind  nichts  als  Schimären.     Was  soll  da  noch  wahr 

lö   sein?    Vielleicht  nur  dies  eine,  daß  es  nichts  Gewisses  gibt. 

Aber  woher  weiß  ich  denn,  daß  es  nicht  etwas  von  allem  bereits 
Aufgezähltem  Verschiedenes  gibt,  an  dem  zu  zweifeln  auch  nicht  der 
geringste  Anlaß  vorHegt?  Gibt  es  etwa  einen  Gott,  oder  wie  ich  sonst 
den  nennen  mag,  der  mir  diese  Vorstellungen  einflößt?    —    Doch  wozu 

20  sollte  ich  das  annehmen,  da  ich  doch  am  Ende  selbst  ihr  Urheber  sein 
könnte!  Also  wäre  doch  zum  mindesten  ich  irgend  etwas?  Indessen 
—  ich  habe  bereits  geleugnet,  daß  ich  irgendwelche  Sinne,  irgend  einen 
Körper  hätte.  Doch  hier  stutze  ich:  was  soll  daraus  folgen?  Bin  ich 
etwa  so  an  den  Körper  und  die  Sinne  gefesselt,  daß  ich  ohne  sie  nicht 

25  sein  kann?  Freilich,  ich  habe  mich  überredet,  es  sei  gar  nichts  in  der 
Welt:  kein  Himmel,  keine  Erde,  keine  Geister,  keine  Körper.  Also 
auch  wohl  ich  selber  nicht  ?  Keineswegs ;  ich  war  sicherlich  da,  wenn 
ich  mich  dazu  überredet  habe.  —  Aber  es  gibt  einen,  ich  weiß  nicht 
welchen,  höchst  mächtigen  und  schlauen  Betrüger,  der  mich  geflissentlich 

30  stets  täuscht.  —  Nun,  wenn  er  mich  täuscht,  so  ist  es  unzweifelhaft,  daß 
doch  ich  bin.  Er  täusche  mich,  soviel  er  kann,  niemals  wird  er  es  fertig 
bringen,  daß  ich  nichts  bin,  solange  ich  denke,  daß  ich  etwas  sei.  Und 
so  komme  ich,  nachdem  ich  so  alles  mehr  als  zur  Genüge  hin  und  her 
erwogen  habe,  schließhch  zu  dem  Ergebnis,  daß  dieser  Satz :  „Ich  bin, 

35  ich  existiere"  notwendig  wahr  ist,  so  oft  ich  ihn  ausspreche  oder  in 
Gedanken  erfasse. 

Noch  erkenne  ich  aber  nicht  zur  Genüge,  wer  ich  denn  bin,  der  ich 
mit  Notwendigkeit  bin.  Ich  muß  mich  nun  hüten,  daß  ich  nicht  etwa 
unvorsichtigerweise  etwas  anderes  für  mich  selbst  ansehe  und  auf  diese 

40  Weise  sogar  in  der  Erkenntnis  abirre,  von  der  ich  behaupte,  sie  sei  die 
gewisseste  und  einleuchtendste  von  allen.     Ich  will  deshalb  jetzt  von 


102  Descartes. 

neuem  erwägen,  was  ich  denn  früher  zu  sein  glaubte,  bevor  ich  noch 
auf  diese  Gedanken  gekommen  war.  Und  davon  will  ich  dann  alles  ab- 
ziehen, was  durch  die  oben  beigebrachten  Gründe  auch  nur  im  geringsten 
erschüttert  werden  kann,  so  daß  schheßlich  genau  nur  das  übrig  bleibt, 
was  von  unerschütterhcher  Gewißheit  ist.  b 

Wofür  also  habe  ich  vordem  mich  gehalten?  Doch  wohl  für  einen 
Menschen.  Aber  was  ist  das,  „ein  Mensch?"  Soll  ich  sagen:  ein  ver- 
nünftiges lebendes  Wesen?  Keineswegs;  denn  dann  müßte  man  ja 
weiter  fragen,  was  „ein  lebendes  Wesen"  und  was  „vernünftig"  ist, 
und  so  würde  ich  aus  einer  Frage  in  mehrere  und  noch  schwierigere  lo 
geraten.  Auch  habe  ich  nicht  so  viel  Zeit,  daß  ich  sie  mit  derartigen 
Spitzfindigkeiten  vergeuden  möchte.  Lieber  will  ich  hier  mein  Augen- 
merk darauf  richten,  was  vordem  ganz  von  selbst  und  naturgemäß  sich 
meinem  Bewußtsein  darbot,  so  oft  ich  erwog,  was  ich  sei. 

Da  bot  sich  mir  nun  zunächst  dar,  daß  ich  Gesicht,  Hände,  Arme  15 
und  diese  ganze  GHedermaschine  habe,  die  man  auch  an  einem  Leichnam 
wahrnimmt;  ich  nannte  sie  Leib.  Ferner  bemerkte  ich,  daß  ich  mich 
ernähre,  gehe,  empfinde  und  denke,  und  zwar  bezog  ich  diese  Tätigkeiten 
auf  die  Seele;  was  aber  diese  Seele  sei,  darauf  achtete  ich  entweder  gar 
nicht,  oder  wenn  doch,  so  stellte  ich  mir  darunter  ein  feines  Etwas  vor,  20 
nach  Art  eines  Windes,  Feuers  oder  Äthers,  das  in  meine  gröberen 
Bestandteile  ausgegossen  sei.  Was  aber  den  Körper  angeht,  so  zweifelte 
ich  daran  nicht  im  mindesten,  sondern  ich  vermeinte  seine  Natur  genau 
zu  kennen,  und  wenn  ich  etwa  versucht  hätte,  sie  so  zu  beschreiben, 
wie  ich  sie  mir  dachte,  so  würde  ich  mich  folgendermaßen  darüber  25 
erklärt  haben:  „Unter  , Körper'  verstehe  ich  alles,  was  durch  irgend 
eine  Figur  begrenzt  und  örthch  umschrieben  werden  kann,  was  einen 
Kaum  so  erfüllt,  daß  es  aus  ihm  jeden  anderen  Körper  ausschheßt; 
was  durch  Gefühl,  Gesicht,  Gehör,  Geschmack  oder  Geruch  wahrge- 
nommen oder  auch  auf  mannigfache  Art  bewegt  werden  kann;  zwar  30 
nicht  durch  sich  selbst,  jedoch  durch  irgend  etwas  anderes,  von  dem  es 
berührt  wird."  Denn  ich  nahm  an,  daß  die  Fähigkeit,  sich  selbst  zu  be- 
wegen, ebenso  wie  die  zu  empfinden  oder  zu  denken,  keineswegs  zur 
Natur  des  Körpers  gehöre,  ja,  ich  war  geradezu  überrascht,  solche 
Fähigkeiten  in  manchen  Körpern  vorzufinden.  35 

Nun  aber,  da  ich  voraussetze  ,  daß  irgend  ein  höchst  mächtiger  und, 
wenn  man  so  sagen  darf,  boshafter  Betrüger  sich  in  jeder  Beziehung, 
soweit  er  vermochte,  Mühe  gegeben  hat,  mich  zu  täuschen  —  kann  ich 
da  noch  behaupten,  auch  nur  das  Geringste  von  allem  dem  zu  besitzen, 
wovon  ich  oben  gesagt  habe,  es  gehöre  zur  Natur  des  Körpers?  Mit  ge-  40 
spannter  Aufmerksamkeit  denke  ich  immer  wieder  darüber  nach,  — 


Zweite  Betrachtung.    Über  die  Natur  des  menschlichen  Geistes.     103 

nichts  bietet  sich  mir  dar,  und  ich  werde  es  müde,  fruchtlos  immer  das- 
selbe  zu  wiederholen. 

Wie  verhält  es  sich  aber  mit  den  Eigenschaften,  die  ich  der  Seele 
zuschrieb,  zunächst  mit  der  Ernährung  und  dem  Gehen?     Nun,  da  ich 

5  jetzt  überhaupt  keinen  Körper  habe,  so  smd  auch  das  bloß  Erdichtungen. 
Und  wie  steht  es  mit  dem  Empfinden?  Auch  dieses  kommt  ohne  den 
Körper  nicht  zu  stände,  außerdem  glaubte  ich  sehr  vieles  während  des 
Traumes  zu  empfinden,  von  dem  ich  hernach  bemerkte,  daß  ich  es  nicht 
empfunden  hatte.    Und  das  Denken?     Hier  finde  ich  nun:  das  Denken 

10  ist's,  das  Denken  allein  kann  von  mir  nicht  getrennt  werden :  I  c  h  bin, 
ich    existiere,  das  ist  gewiß. 

Wie  lange  aber  bin  ich?  Offenbar  nur  so  lange  wie  ich  denke.  Denn 
es  wäre  wohl  möglich,  daß  ich  alsbald  zu  existieren  aufhören  würde, 
sobald  ich  gänzUch  aufhörte  zu  denken.    Für  jetzt  lasse  ich  nichts  gelten, 

15  als  was  notwendig  wahr  ist!  Ich  bin  also  genau  genommen  nur  ein 
denkendes  Ding,  das  heißt  Geist,  Seele,  Verstand,  Vernunft  —  lauter 
Ausdrücke,  deren  Bedeutung  mir  früher  unbekannt  war.  Aber  ein 
wahres  und  wahrhaft  existierendes  Ding  bin  ich.  Was  für  ein  Ding? 
Ich  sagte  es  bereits  —  ein  denkendes. 

20  Und  was  heißt  das?  Nun  —  ein  Ding,  das  zweifelt,  einsieht,  bejaht, 
verneint,  wtU,  nicht  will,  und  das  auch  Einbildung  und  Empfindung  hat. 
In  der  Tat,  es  ist  nicht  wenig,  wenn  dies  alles  zu  mir  gehören  soll !  Doch 
wie  sollte  es  nicht?  Bin  ich  es  nicht  selbst,  der  jetzt  fast  an  allem  zweifelt, 
der  dennoch  einiges  erkennt,  der  behauptet,  dies  eine  sei  wahr,  der  alles 

2ö  übrige  leugnet,  der  mehr  wissen  möchte,  der  sich  nicht  täuschen  lassen 
will,  der  vieles,  selbst  gegen  seinen  Willen,  in  der  Einbildung  hat,  vieles 
auch  als  wie  von  den  Sinnen  kommend  bemerkt?  Mag  ich  immerhin 
stets  schlafen,  mag  mein  Schöpfer,  so  sehr  er  vermag,  mich  täuschen  — 
ist  nicht  dies  alles  trotzdem  ebenso  w^ahr,  wie  daß  ich  bin?     Ist  irgend 

30  etwas  davon  von  meinem  Bewußtsein  trennbar?  Oder  läßt  sich  etwa 
von  sonst  etwas  behaupten,  daß  es  von  meinem  Ich  getrennt  sei?  Denn 
daß  i  c  h  es  bin,  der  zweifelt,  der  einsieht,  der  will,  das  ist  so  offenbar, 
daß  es  durch  nichts  noch  augenscheinhcher  gemacht  werden  kann. 
Ich  bin  aber  ferner  auch  derselbe,  der  «twas  in  seiner  Einbildung  hat; 

35  denn  wenn  vielleicht  auch,  wie  ich  angenommen  habe,  kein  Objekt, 
das  sich  der  Einbildung  darstellt,  wahr  ist,  so  besteht  doch  diese  Kraft 
der  Einbildung  wirklich  und  macht  einen  Teil  meines  Bew'ußtseins  aus. 
Schließlich  bin  ich  es  auch,  der  wahrnimmt,  das  heißt,  der  die  körper- 
lichen Dinge  als  durch  die  Sinne  gegeben  bemerkt.    Ich  sehe  doch  oifen- 

40   bar  jetzt  das  Licht,  ich  höre  das  Geräusch,  fühle  die  Wärme  .  .  .  aber 


104  Descartes. 

nein,  das  ist  doch  falsch;  denn  ich  schlafe  ja.  Gewiß.  Immerhin  ist  mir 
doch  so,  a  1  s  ob  ich  sähe,  hörte,  Wärme  fühlte,  und  das  kann  nicht 
falsch  sein;  das  ist  es  eigentlich,  was  an  mir  Empfinden  genannt  wird. 
Und  wenn  ich  das  Empfinden  genau  so  verstehe,  ist  es  nichts  anderes 
als  Bewußtsein.  5 

Hieraus  beginne  ich  in  der  Tat  schon  erheblich  besser  zu  erkennen, 
was  ich  bin.  Dennoch  scheint  es  bisher  immer  noch  —  und  ich  kann 
mich  dieser  Meinung  gar  nicht  erwehren  — ,  als  ob  die  körperlichen 
Dinge,  deren  Bilder  sich  in  meinem  Bewußtsein  gestalten  und  die  durch 
die  Sinne  selbst  erforscht  werden,  viel  deutlicher  erkannt  würden  als  10 
jenes  Etwas  in  mir,  das  kein  Gegenstand  der  Einbildung  ist.  Allerdings 
bleibt  es  recht  wunderbar,  daß  ich  die  Dinge,  die  mir  als  zweifelhaft, 
unbekannt  und  mir  fremd  erscheinen,  deuthcher  erfassen  sollte  als  das 
Wahre,  mir  Bekannte,  kurz  als  mich  selbst. 

Aber  ich  sehe  schon,   wie  es  sich  hiermit  verhält:  meinem  Geiste   is 
macht  es  Freude  abzuirren ,    er  verträgt  es   noch  nicht,  sich  in  den 
Schranken  der  Wahrheit  zu  halten.     So  sei  es  denn!     Lassen  wir  ihm 
noch  einmal  die  Zügel  locker,  um  sie  dann  zur  rechten  Zeit  wieder  an- 
zuziehen und  ihn  umso  leichter  lenken  zu  können.    Betrachten  wir  die- 
jenigen  Gegenstände,   die  nach  der  gewöhnlichen  Meinung  am  deut-   20 
liebsten  erfaßt  werden,  das  heißt  die  Körper,  die  wir  betasten  und  sehen, 
und  zwar  nicht  die  Körper  im  allgemeinen;  denn  solche  allgemeinen 
Begriffe  pflegen  bedeutend  verworrener  zu  sein.     Nehmen  wir  vielmehr 
irgend  einen  Körper  im  besonderen,  zum  Beispiel  dieses  Stück  Wachs. 
Vor  kurzem  erst  hat  man  es  aus  der  Wachsscheibe  gewonnen,  noch  ver-   25 
lor  es  nicht  ganz  den  Geschmack  des  Honigs,  noch  blieb  ein  wenig  zurück 
von  dem  Duft  der  Blumen,  aus  denen  es  gesammelt  wurde;  seine  Farbe, 
Gestalt,  Größe  Hegen  offen  zu  Tage ;  es  ist  hart,  auch  kalt,  man  kann  es 
leicht  anfassen,  und  klopft  man  mit  dem  Knöchel  darauf,  so  gibt  es 
einen  Ton  von  sich.   Kurz,  es  besitzt  alles,   was  erforderhch  scheint,   30 
um  einen  Körper  aufs  deutlichste  erkennbar   zu   machen.     Doch  sieh! 
Während  ich  noch  so  rede,  kommt  es  dem  Feuer  zu  nahe.     Da  geht 
verloren,  was  es  noch  an  Geschmack  hatte,  der  Geruch  entschwindet, 
die  Farbe  ändert  sich,  seine  Gestalt  wird  vernichtet,  die  Größe  wächst, 
es  wird  flüssig,  wird  warm,  läßt  sich  kaum  mehr  anfassen,  und  wenn   35 
man  darauf  klopft,  so  wird  es  keinen  Ton  mehr  von  sich  geben.    Bleibt 
es  nun  noch  dasselbe  Wachs?     Man  muß  zugeben,  es  bleibt  dasselbe; 
keiner  leugnet  es,  niemand  ist  anderer  Meinung!     Was  war  denn  nun 
an  ihm,    was  man  so  deutlich  erkannte?     Sicherlich  nichts  von  dem, 
was  im  Bereich  der  Sinne  lag;  denn  alles,  was  unter  den  Geschmack,    40 
den  Geruch,  das  Gesicht,  das  Gefühl  oder  das  Gehör  fiel,  ist  ja  jetzt 


Zweite  Betrachtung.    Über  die  Natur  des  menschlichen  Geistes.     105 

anders  geworden,  und  doch  bleibt  es  —  das  Wachs.  Vielleicht  verhielt 
es  sich  so,  wie  ich  mir  jetzt  denke,  nämlich:  das  Wachs  selbst  war  nicht 
jene  Süßigkeit  des  Honigs,  nicht  der  Duft  der  Blumen,  nicht  die  weiße 
Farbe,  nicht  die  Gestalt  oder  der  Ton,  sondern  ein  Körper,  der  sich  kurz 
5  zuvor  mit  solchen  Bestimmungen  meinem  BUcke  darbot,  jetzt  aber 
mit  anderen. 

Was  ist  aber  genau  das,  was  ich  hierbei  mir  vorstelle?  Geben  wir 
acht:  entfernen  wir  alles,  was  nicht  dem  Wachse  zugehört,  und  sehen 
wir  zu,  was  übrig  bleibt !    Nun  —  nichts  anderes  als  etwas  Ausgedehntes, 

10   Biegsames  und  VeränderUches. 

Und  was  ist  nun  dieses  Biegsame,  Veränderliche?  Etwa,  daß  ich 
mir  vorstelle,  wie  dieses  Wachs  aus  der  runden  Gestalt  in  die  quadra- 
tische, oder  aus  dieser  in  die  dreieckige  übergehen  kann?  Keineswegs. 
Denn  ich  begreife  wohl,  daß  es  fähig  ist,  unzählige  derartige  Verände- 

15  rungen  zu  erleiden;  diese  unzähligen  Veränderungen  aber  kann  ich  nicht 
alle  in  der  Einbildung  durchlaufen.  Es  kommt  also  dieser  BegrifE  nicht 
durch  die  Einbildungskraft  zu  stände. 

Und  was  ist  das  Ausgedehnte?  Ist  etwa  auch  seine  Ausdehnung 
mir  unbekannt?     Denn  in  dem  schmelzenden  Wachs  wird  sie  größer, 

20  noch  größer  in  dem  siedenden,  und  wiederum  größer,  wenn  die  Hitze 
weiter  zunimmt.  Auch  würde  ich,  was  das  Wachs  ist,  nicht  richtig 
beurteilen,  wenn  ich  nicht  annähme,  daß  es  auch  der  Ausdehnung  nach 
noch  mehr  Verschiedenheiten  zuläßt,  als  ich  jemals  in  der  Einbildung 
umfaßt  habe.    Es  bleibt  mir  also  nichts  übrig  als  einzuräumen,  daß  ich 

25  nicht  einmal,  was  dieses  Wachs  hier  ist,  vorzustellen  vermag, 
sondern  es  nur  rein  geistig,  denkend  erfassen  kann.  Und  dies  sage  ich 
von  dem  einzelnen  Stück  Wachs;  denn  von  dem  Wachs  überhaupt  ist 
es  noch  klarer. 

Was  ist  denn  aber  dieses  Wachs,  das  sich  nur  im  Geist  erfassen  läßt? 

30  Offenbar  dasselbe,  das  ich  sehe,  betaste  und  in  der  Einbildung  habe, 
kurz,  dasselbe,  das  ich  von  Anfang  an  gemeint  habe;  aber  —  wohlge- 
merkt —  seine  Erkenntnis  ist  nicht  ein  Sehen,  ein  Berühren,  ein  Vor- 
stellen, und  ist  es  auch  nie  gewesen,  wenngleich  es  früher  mir  so  schien, 
sondern  sie  ist  eine  Einsicht  einzig  und  allein  des  Verstandes,  die  ent- 

35  weder,  wie  früher,  unvollkommen  und  verworren,  oder,  wie  jetzt,  klar 
und  deutUch  sein  kann.  Das  hängt  von  der  größeren  oder  geringeren 
Aufmerksamkeit  ab,  mit  der  ich  auf  seine  Bestandteile  achte. 

Inzwischen  bemerke  ich  mit  Verwunderung,  wie  sehr  doch  mein 
Geist  zum  Irrtum  neigt;  denn  obgleich  ich  das  obige  bei  mir  schweigend 

40  und  ohne  zu  reden  erwäge,  bleibe  ich  doch  an  den  Worten  hängen  und 
lasse  mich  durch  den  Sprachgebrauch  beinahe  beirren.    Nämlich  wir  sagen 


106  Descartes. 

doch:  wir  sehen  das  Wachs  selbst,  wenn  es  da  ist,  und  sagen  nicht:  wir 
urteilen  aus  der  Farbe  und  der  Gestalt,  daß  es  da  sei.  Daraus  möchte 
ich  gleich  schließen,  daß  man  also  das  Wachs  durch  das  Sehen  des  Auges 
und  nicht  durch  die  Einsicht  des  Verstandes  allein  erkennt.  Doch  da  sehe 
ich  zufälHg  vom  Fenster  aus  Menschen  auf  der  Straße  vorübergehen,  5 
von  denen  ich  ebenfalls,  genau  wie  vom  Wachs,  gewohnt  bin  zu  sagen, 
ich  sehe  sie,  und  dennoch  sehe  ich  nichts  als  die  Hüte  und  Kleider, 
unter  denen  sich  ja  Maschinen  verbergen  könnten!  Ich  urteile  aber, 
daß  es  Menschen  sind.  Und  so  erkenne  ich  das,  was  ich  mit  den  Augen 
zu  sehen  vermeinte,  einzig  und  allein  durch  die  meinem  Geiste  inne-  lo 
wohnende  Fähigkeit  des  Urteils. 

Aber  ich  sollte  mich  schämen,  daß  mir,  der  ich  weiser  als  die  Menge 
sein  will.   Bedenken  aus  den  Sprachbildungen  kommen,  die  doch  die 
Menge  erfunden  hat.     So  wollen  wir  denn  weiter  untersuchen,  ob  ich 
damals  vollkommener  und  klarer  erfaßte,  was  das  Wachs  sei,  als  ich  es   is 
zuerst  erblickte  und  es  durch  die  bloßen  äußeren  Sinne  oder  doch  durch 
den  sogenannten   Gemeinsinn,   das  heißt  durch  die   Einbildungskraft, 
zu  erkennen  glaubte  —  oder  eher  jetzt,  nachdem  ich  sorgfältig  nach- 
geforscht habe,  einmal,  was  das  Wachs  ist,  ferner,  wie  es  erkannt  wird. 
Darüber  zu  zweifeln  wäre  gewiß  töricht.     Denn  was  war  m  der  ersten   20 
Wahrnehmung  deutlich?     War  etwas  in  ihr,  was  nicht  jedes  Tier  ver- 
mutlich ebenso  haben  könnte?  ^  Hingegen  wenn  ich  das  Wachs  von 
seinen  äußeren  Formen  unterscheide,  es  gleichsam  entkleidet  und  in  seiner 
Nacktheit  betrachte,  so  kann  ich  es  in  der  Tat  —  mag  mein  Urteil  immer 
noch  einen  Irrtum  enthalten  —  doch  nicht  ohne  menschlichen  Geist  in   25 
dieser  Weise  erfassen. 

Was  aber  soll  ich  von  diesem  Geist  oder  von  meinem  Ich  sagen? 
(denn  ich  rechne  nichts  anderes  zu  meinem  Ich  als  den  Geist).  Wenn 
ich  dieses  Wachs  so  deuthch  zu  erkennen  glaube,  sollte  ich  da  nicht 
mich  selbst  so  viel  wahrer,  so  viel  gewisser,  ja  viel  deutlicher  und  ein-    30 
leuchtender  erkennen?     Denn  wenn  ich  das  Wachs  sehe  und  daraus 
urteile :  das  Wachs  existiert,  —  so  folgt  doch  eben  daraus,  daß  i  c  h  das 
Wachs  sehe,  noch  viel  augenscheinlicher,  daß  ich  selbst  existiere.    Denn 
es  wäre  möglich,  daß  das,  was  ich  sehe,  in  Wirklichkeit  kein  Wachs 
wäre;  es  wäre  auch  möglich,  daß  ich  überhaupt  keine  Augen  hätte,   35 
etwas  zu  sehen;  aber  es  ist  ganz  unmöglich,  daß,  während  ich  sehe  oder 
—  was  ich  hier  nicht  unterscheide  —  das  Bewußtsein  habe  zu  sehen, 
ich  selbst,  der  ich  dies  Bewußtsein  habe,  nicht  irgend  etwas  bin.    ÄhnUch, 
wenn  ich  das  Wachs  berühre  und  daraus  urteile :  das  Wachs  existiert,  — 
so  folgt  daraus  wieder  dasselbe,  nämlich  daß  ich  bin;  oder  wenn  ich  das-    40 
selbe  Urteil  daraus  fälle,  daß  ich  das  Wachs  in  meiner  Einbildung  habe, 


Erläuterungen.  107 


oder  aus  irgend  einem  anderen  Grunde,  so  folgt  offenbar  dasselbe.  Ich 
kann  aber  eben  das,  was  ich  hier  vom  Wachs  bemerke,  auch  auf  alles 
übrige,  was  außer  mir  ist,  anwenden.  Sollte  aber  weiterhin  die  Erkenntnis 
des  Wachses  deuthcher  erscheinen,  nachdem  es  mir  nicht  bloß  durch  das 
5  Gesicht  oder  durch  den  Tastsinn,  sondern  durch  eine  Reihe  von  Ursachen 
bekannt  geworden  ist,  um  wie  viel  deuthcher  muß  ich,  wie  man  zugeben 
wird,  jetzt  mich  selber  erkennen,  da  dieselben  Gründe,  die  zur  Erkenntnis 
des  Wachses  oder  irgend  eines  sonstigen  Körpers  beitragen  können,  alle 
noch  besser  die  Natur  meines  Geistes  beweisen.    Es  ist  überdies  noch  so 

10  \'ieles  andere  dem  Geiste  selbst  eigen,  wodurch  man  zu  einer  deutlicheren 
Kenntnis  von  ihm  gelangen  kann,  daß,  was  der  Körper  uns  in  dieser 
Beziehung  bietet,  dagegen  kaum  in  Anrechnung  zu  bringen  ist. 

Und  sieh  da !  so  bin  ich  schließhch  ganz  von  selbst  dahin  gekommen, 
wo  ich  hinaus  wollte.     Denn  da  ich  jetzt  weiß,  daß  die  Körper  nicht 

lö  eigenthch  durch  die  Sinne  oder  durch  die  Fähigkeit  der  Einbildung, 
sondern  einzig  und  allein  durch  den  Verstand  erfaßt  werden,  auch  nicht 
dadurch,  daß  man  sie  betastet  oder  sieht,  sondern  dadurch,  daß  man  sie 
denkt,  so  erkenne  ich  ganz  ofienbar,  daß  ich  nichts  leichter  und  augen- 
scheinlicher erfassen  kann  —  als  meinen  Geist.     Doch  da  man  die  Ge- 

20  wohnheit  einer  eingewurzelten  Meinung  nicht  so  schnell  ablegen  kann, 
so  halte  ich  es  für  gut,  hier  einzuhalten,  damit  sich  diese  neu  erworbene 
Kenntnis   durch   längeres    Nachdenken   meinem    Gedächtnis   einprägt. 

Rene  Descartes  [Renatus  Cartesius  1596 — 1650)  hat  die  Meditationes  de 
prima  philosophia,  von  denen  die  beiden  ersten  (mit  einer  kleinen  Auslassung) 
dem  Leser  hier  vorgelegt  werden,  im  Jahre  1641  veröffentlicht.  1642  erschien 
eine  etwas  erweiterte  zweite  Ausgabe,  1647  eine  von  Descartes  durchgesehene 
französische  Übersetzung,  die  in  der  Neuausgabe  von  C.  Güttier  (München  1901) 
neben  dem  lateinischen  Text  abgedruckt  ist.  Verdeutscht  und  mit  einer 
lesenswerten  Einleitung  versehen  wurden  die  Meditationen  durch  Kuno  Fischer 
(1863,  2,  Aufl.  1868).  Die  Reclamsche  Universalbibliothek  enthält  eine  von 
Ludwig  Fischer  besorgte  Übertragung;  die  allzu  wortgetreue  Übersetzung 
Artur  Buchenaus,  die  1902  in  der  „Philosophischen  Bibliothek"  herauskam, 
ist  1904  durch  einen  ausführlichen,  auf  D.s  eigene  Schriften  gestützten  Kom- 
mentar ergänzt  worden.  Gute  Abrisse  des  Gedankenganges  finden  sich  in 
den  Philosophiegeschichten  von  Überweg-Heinze,  Falckenberg  und  Berg- 
mann. Will  man  das  Werden  und  den  Zusammenhang  der  Cartesischen  Phi- 
losophie erfassen,  so  muß  man  mit  dem  1637  veröffentlichten  Discours  de 
la  methode  beginnen;  wünscht  man  jedoch  in  den  Mittelpunkt  einzudringen, 
so  bieten  sich  die  beiden  ersten  der  „Betrachtungen"  dar. 

Diese  Betrachtungen  sind  so  überaus  anziehend,  weil  sie  einen  wahrhaften 
Philosophen  bei  der  Arbeit  zeigen.  Allen  Wegen  seines  Gedankens  folgen 
vir.  Wenn  sie  auch  bisweilen  gegeneinander  und  zurück  zu  führen  scheinen  — 


108  Descartes. 

gerade  dieses  Hin  und  Her  gibt  der  Darstellung  die  äußerste  Lebendigkeit. 
Erhöht  wird  sie  dadurch,  daß  es  ganz  einfache  Tatsachen  sind,  die  hier  zu  den 
tiefsten  Überlegungen  Anlaß  geben.  Philosophieren  heißt  eben,  das  Pro- 
blematische im  Selbstverständhchen  erkennen;  unphilosophisch  ist  ein  Kopf, 
dem  das  Dasein  von  etwas  dadurch,  daß  es  immer  so  war,  hinreichend  erklärt 
ist.  Der  Leser  versuche,  sich  völlig  in  die  Stimmung  eines  bewegten  und  zu- 
gleich reifen  Nachdenkens  hineinzuleben. 

Der  Anfang  scheint  der  Skepsis  das  Wort  zu  reden,  also  jener  Ansicht, 
die  wir  aus  Lesestück  III  kennen.  In  Wahrheit  aber  ist  D.  kein 
Skeptiker,  sondern  er  benützt  den  grundsätzUchen  Zweifel  nur  als  das 
Radikalmittel,  um  zur  Gewißheit  zu  gelangen.  Das  Verfahren  ist:  alles 
Zweifelhafte  auszusondern  und  das  Sichere  zurückzubehalten.  Auch  das 
vollständigste  Zerstörungswerk  —  lehrt  die  zweite  Betrachtung  —  läßt  den 
Zerstörer  bestehen.  So  gelangen  wir  zu  einem  festen  Punkt,  zur  Selbstgewiß- 
heit des  Subjekts.  An  allem  läßt  sich  zweifeln,  nur  nicht  daran,  daß  ich  zweifle, 
und  demnach,  da  das  Zweifeln  ein  Denken  ist,  nicht  daran,  daß  ich  denke. 
Unerschütterlich  gewiß  ist  das  Ich,  insofern  es  zweifelt,  denkt,  bewußt  ist.  — 
Die  Aufstellung  dieses  Grundsatzes  entspringt  der  unausgesprochenen  Voraus- 
setzung, daß  ohne  etwas  unbedingt  Sicheres  alles  Forschen  nach  Wahrheit 
in  der  Luft  schwebe.  Hier  wäre  nun  für  ein  selbständiges  Philosophieren 
zu  erwägen,  ob  es  sich  tatsächlich  und  notwendig  in  unserem  Denken  so  ver- 
hält, zum  mindesten,  ob  „der  Zustand  des  Wissens  noch  größere  Freude  be- 
reitet als  der  des  Suchens",  wie  bereits  Aristoteles  (s.  S.  32  5)  behauptet  hat. 
In  Augustins  Schrift  Contra  Academicos  vertritt  eine  der  redenden  Personen 
die  Ansicht,  die  uns  durch  Lessing  vertraut  geworden  ist,  daß  schon  das 
Streben  nach  Wahrheit  glücklich  mache;  Augustin  selber  hält  freilich  den 
Besitz  der  Wahrheit  für  erforderlich.  Noch  deutlicher  entscheidet  er  sich 
in  späteren  Schriften*)  dahin,  daß  das  eigene  Denken  und  daher  das  eigene 
Sein  das  Gewisseste  sei;  man  hat  ihn  deshalb  den  bedeutendsten  Vorgänger 
Descartes'  genannt.  Im  weiteren  Verlauf  der  Philosophiegeschichte  hat  Kant 
die  „reine  Apperzeption":  „Ich  denke",  die  allem  Erkennen  zu  Grunde  liege, 
als  eine  „Wirklichkeit  schlechtweg"  bezeichnet. 

An  D.'s  Hauptsatz  heften  sich  also  mehrere  Fragen.  Erstens:  Bedarf 
das  Denken,  damit  es  zur  „Wahrheit"  gelange,  eines  unbedingt  sicheren  An- 
satzes oder  kann  es  in  bloßen  Relativitäten  sich  bewegen?  (Vgl.  zu  Plato  610 
u.  das  Lesestück  aus  Comte).  Zweitens:  Auch  wenn  das  relativistische  Erkennen 
den  Anforderungen  des  täglichen  Lebens  genügt,  muß  nicht  der  zum  Höchsten 
Strebende  auf  dieser  instdbilis  tellus,  inndbilis  unda  sich  unglücklich  fühlen? 
Drittens:  Bietet  das  Bewußtsein  als  ein  von  den  Objekten  verschiedenes  Sein 
den  gesuchten  Punkt  der  Vollgültigkeit?  Ist  wirklich  das  seines  Daseins 
gewisse  Selbstbewußtsein  etwas  Gegebenes  und  Einfaches,  nicht  vielleicht  eine 


*)  Solüoquia  II,  1:  „Weißt  du,  dass  du  denkst?"  „Das  weiß  ich."  De 
trinitate  XIV,  7:  „Denn  nichts  kennt  der  Geist  so  wie  das,  was  ihm  gegen- 
wärtig ist,  und  nichts  ist  dem  Geist  gegenwärtiger  als  er  sich  selbst." 


Erläuterungen.  1 09 


nachträgliche  und  verwickelte  Konstruktion?  Zum  mindesten:  Ist  nicht  die 
scheinbar  einfachste  Tatsache  der  eigenen  Existenz,  indem  ich  sie  in  Urteils- 
form ausspreche,  durch  allerhand  Denkvorgänge  umgeformt? 

96-3.  Hier  mag  man  an  das  denken,  was  Plato  die  bloße  ».Meinung"  und 
Francis  Bacon  die  Trugbilder  nennt. 

96  17,  Damit  endet  die  Einleitung,  die  von  den  Voraussetzungen  und 
Bedingungen  des  Philosophierens  handelt. 

97  3 — 98  1.  Die  Sinne,  deren  Aussagen  dem  Unbefangenen  als  ganz  sicher 
erscheinen,  verdienen  unser  Zutrauen  nicht.  Die  Sinnestäuschungen,  die 
Halluzinationen  und  die  Träume  sprechen  dagegen;  diese  letzten  natürlich 
nur  unter  der  Annahme,  daß  aus  den  wirklichen  Wahrnehmungen  das  Dasein 
der  wahrgenommenen  Dinge  folgt. 

97  17.  Die  „schwarze  Galle"  wurde  seit  dem  Altertum  als  Ursache  von  Tem- 
peramentsstörungen und  Geisteskrankheiten  angesehen.  Die  „Dünste"  {vapores, 
vapeurs),  die  aus  der  schwarzen  Galle  oder  aus  dem  krankhaft  veränderten 
Menstrualblut  und  dergleichen  zum  Kopf  emporsteigen  sollen,  haben  sich  bis 
heute  in  dem  Volksausdruck  von  der  „  verschlagenen  Milch  "  erhalten.  Vergleiche 
Dessoir,  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie  I^  S.  321,  475  und  479. 

98  1  f.  Das  „immerhin"  lenkt  ein.  Die  Elemente  der  Sinnenwelt  (98  19—23) 
können  wahr  sein;  es  gibt  ferner  Vernunftwahrheiten,  die  von  dem  Sein  oder 
Nichtsein  ihrer  Gegenstände  unabhängig  sind  (98  29).  Beide  Gruppen  von 
Wahrheiten  zerfallen  aber  in  sich,  wenn  Gott  uns  täuschen  mll.  So  kommt  es 
denn  zu  dem  Geständnis  99  22. 

100  18.  D.  befindet  sich  hier  in  einer  wunderlichen  Verwirrung.  Schon  daß 
der  deceptor  malignus  keine  Wahrheit  spenden  kann,  wäre  ja  eine  bestimmte 
Erkenntnis.  Vor  allem  aber  ist  der  Vorsatz,  „nichts  Falschem  zuzustimmen", 
doch  nur  dann  möglich,  wenn  bereits  zwischen  Richtigem  und  Unrichtigem 
unterschieden,  das  Kennzeichen  der  Wahrheit  also  gefunden  ist. 

101  34.  Über  diese  entscheidende  Stelle  hat  D.  selbst  mit  gleichzeitigen 
Philosophen  vielfach  verhandelt.  Am  bekanntesten  ist  die  Fassung  cogito 
ergo  sum.  Aber  sie  ist  nicht  die  beste,  weil  sie  wie  ein  Schluß  aussieht.  In 
Wahrheit  ist  ein  unmittelbares  Erfassen  des  Seins  durch  das  Bewußtsein 
gemeint:  das  cogüare  verbürgt  ohne  weiteres  das  esse.  Der  ganze  Beweisgang 
läßt  sich  auf  zwei  Glieder  zurückführen.  Erstens:  Wenn  ich  denke,  daß  ich 
einen  Körper  habe,  oder  daß  dort  Wachs  vor  mir  liegt,  oder  daß  alles  falsch 
ist,  so  Hegt  hierin,  daß  ich  überhaupt  denke.  Zweitens:  Indem  ich  überhaupt 
denke,  bin  ich  meines  Daseins  sofort  sicher.  Denn  in  allem  Denken  steckt  das 
Ich.  Meine  tatsächliche  Existenz  ist  mit  meinen  Bewußtseinsvorgängen  un- 
mittelbar gegeben,  während  es  zunächst  fraglich  bleibt,  ob  und  was  tatsächlich 
dem  Inhalt  dieser  Bewnißtseinsvorgänge  (zum  Beispiel  der  Vorstellung  des 
Wachses)  entsprechen  mag.  Man  beachte  aber  die  Einschränkung  101  35.  Eine 
höchst  scharfsinnige  Kritik  steht  am  Anfang  von  Schellings  Münchner  Vor- 
lesungen über  Geschichte  der  neueren  Philosophie. 

102  ti.  Das  Ich,  dessen  Dasein  keinen  Zweifel  mehr  zuläßt,  soll  durch  ein  Ver- 
fahren fortschreitender  Einschränkungen  seinem  Inhalt  nach  bestimmt  werden. 


110  Descartes. 

102  8.   Scholastisch-logische  Begriffsbestimmungen  siehe  S,  78. 

102 18  und  20.  Wir  rechnen  heute  Ernährung  und.  Bewegung  nicht  zur 
Seele.  Aber  „  Seele"  hat,  seit  dem  Beginn  der  griechischen  Philosophie,  vielfach 
die  weitere  Bedeutung  von  Lebenskraft  und  umfaßt  daher  auch  rein  physio- 
logische Funktionen.  Daß  die  Seele  ein  feiner  Stoff  sei,  wurde  seit  Urzeiten 
aus  der  Beobachtung  des  dampfenden  Blutes  und  des  belebenden  Atems  er- 
schlossen ;  als  Luft  galt  die  Psyche,  weil  Seele  Leben  und  Leben  Atem  ist ;  dem 
Feuer  wurde  sie  durch  den  Vergleichungspunkt  der  Beweglichkeit  angenähert. 

103  10.  Vom  Denken  kann  ich  nicht  absehen,  weil  dies  Abstrahieren  ja 
selber  wieder  ein  Denken  ist.  Hier  erhält  der  Cartesische  Begriff  des  Denkens, 
der  sonst  unserem  „Bewußtsein"  entspricht,  den  Charakter  des  reinen  Denkens. 

103  17.  Daß  diese  Ausdrücke  jetzt  ganz  klar  geworden  wären,  läßt  sich 
schwerlich  zugeben.  Entscheidend  ist  die  Behauptung:  ich  sei  ein  denkendes 
Ding,  res  cogüans.  D.  glaubt,  daß  mit  der  Selbstgewißheit  des  Denkens  auch 
die  Existenz  eines  geistigen  Dinges  verbürgt  sei,  das  Ich  als  wahrhaft  vor- 
handene unkörperliche  Substanz  erwiesen  sei.  Die  Folgezeit  hat  diese  Be- 
weisführung übernommen  und  ausgebaut,  Kant  hat  sie  als  einen  Fehlschluß 
gebrandmarkt.  Zur  ersten  Orientierung  über  den  Substanzbegriff  vergleiche 
die  unter  diesem  Stichwort  verzeichneten  Stellen  in  Paulsens  Einleitung  in 
die  Philosophie  und  in  Külpes  gleichnamigem  Buch. 

104-2.  Wir  würden  etwa  sagen:  wenn  ich  Licht  zu  sehen  meine,  so  mag 
objektiv  kein  Licht  vorhanden,  also  der  Inhalt  meiner  Wahrnehmung  falsch 
sein;  aber  der  Akt  des  Wahrnehmens,  der  Bewußtseinsvorgang  als  solcher 
ist  eine  unumstößliche  Wirklichkeit. 

104  15.  Hier  beginnt  eine  neue  Erwägung.  Das  Beispiel  des  Wachses  soll 
klar  machen,  daß  die  sinnlichen  Eigenschaften  eines  Körpers  sein  Wesen  nicht 
erschöpfen.  Das  Bleibende  am  Wachs  wird  nicht  mit  den  Sinnen  aufgefaßt; 
die  cera  ipsa  ist  weder  die  weiße  Farbe  noch  der  Geruch,  sondern  etwas,  das 
diese  Eigenschaften  gleichsam  trägt.  Die  Dinglichkeit  des  Wachses  enthüllt 
sich  nicht  den  Sinnen,  sondern  dem  Denken,  der  solius  mentis  inspectio.  Hier- 
nach wäre  das  Wesen  der  Gegenstände  etwas  Gedankliches,  was  zwar  geistig 
aufgefaßt,  aber  nicht  mehr  bildlich  vorgestellt  werden  kann.  Vergleiche 
was  über  die  Aristotelische  Lehre  gesagt  wurde  S.  41  und  das  Lesestück  aus 
Berkeley.  Genau  so  meint  es  indessen  D.  nicht.  Vielmehr  lehrt  er,  daß  dem 
Körper  an  sich  die  Eigenschaften  der  Gestalt,  Größe,  Lage  und  Bewegung 
zukommen.  Das  seien  Beschaffenheiten,  die  über  den  Wert  einer  subjektiv- 
menschlichen Vorstellungsweise  hinausgehen,  die  nicht  nur  aus  der  Wirkung 
auf  unsere  Sinne  stammen.  John  Locke  hat  sie  im  Anschluß  an  D.  als  „pri- 
märe" Eigenschaften  bezeichnet.  Da  sie  zugleich  diejenigen  sind,  die  dem 
mathematischen  Denken  sich  fügen,  so  begreift  man,  daß  sie  der  sinnlichen 
Erkenntnisweise  gegenübergestellt  werden.  Eine  gute  Darstellung  in  Windel- 
bands Lehrbuch  der  Gesch.  der  Philos.,  3.  Aufl.,   1903. 

1068.  Wir  sehen  nicht  eigentlich  die  Dinge,  sondern  wir  urteilen  auf  Grund 
der  Sinneseindrücke.  Um  zu  einer  gültigen  Einsicht  zu  gelangen,  muß  die 
Wahrnehmung  sich  mit  dem  Urteil  verbinden.  D  e  s  s  o  i  r. 


X. 

Spinoza. 

Gott  ist  die  Ursache  aller  Dinge. 

Lehrsatz  XVI.  Aus  der  Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur 
muß  Unendliches  auf  unendHch  viele  Weisen  folgen,  das  heißt  alles, 
was  von  einem  unendhchen  Verstände  gedacht  werden  kann. 

Beweis.  Dieser  Lehrsatz  muß  jedem  klar  sein,  der  nur  beachtet, 
5  daß  der  Verstand  aus  der  Definition  irgend  eines  Gegenstandes  ver- 
schiedene Eigenschaften  ableitet,  welche  in  Wahrheit  aus  ihr  (das  heißt 
aus  dem  Wesen  des  Dinges  selbst)  notwendig  folgen,  und  zwar  desto 
mehr,  je  mehr  ReaHtät  das  Wesen  des  definierten  Dinges  enthält.  Da 
nun  die  göttliche  Natur  unbedingt  unendhch  viele  Attribute  hat  (nach 
10  Definition  VI),  von  denen  jedes  eine  unendliche  Wesenheit  in  seiner 
Art  ausdrückt,  so  muß  aus  ihrer  Notwendigkeit  Unendliches  auf  unend- 
lich viele  Weisen  folgen  (das  heißt  alles,  was  von  einem  unendlichen 
Verstand  gedacht  werden  kann). 

Folgesatz  I.  Hieraus  ergibt  sich:  1.  daß  Gott  die  wirkende 
15  Ursache  aller  Dinge  ist,  welche  von  einem  unendlichen  Verstand  ge- 
dacht werden  können. 

F  o  1  g  e  s  a  t  z  IL  Es  ergibt  sich :  2.  daß  Gott  diese  Ursache  durch 
sich  allein  ist,  nicht  durch  ein  Hinzukommendes. 

Folgesatz  III.  Es  ergibt  sich :  3.  daß  Gott  die  unbedingt  erste 
20   Ursache  ist. 

Lehrsatz  XVII.  Gott  handelt  nur  nach  den  Gesetzen  seiner 
Natur  und  von  niemand   gezwungen. 

Beweis.  Ich  habe  soeben  in  Lehrsatz  XVI  gezeigt,  daß  aus  der 
bloßen  Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur,  oder  was  dasselbe  ist,  aus 
25  den  bloßen  Gesetzen  seiner  Natur  unendlich  vieles  unbedingt  folge, 
und  in  Lehrsatz  XV  habe  ich  bewiesen,  daß  ohne  Gott  nichts  sein  noch 
gedacht  werden  könne,  vielmehr  alles  in  Gott  sei.  Daher  kann  es  nichts 
außer  ihm  geben,  was  ihn  zum  Handeln  bestimmen  oder  zwingen  könnte, 


112  Spinoza. 

und  Gott  handelt  daher  nur  nach  den  Gesetzen  seiner  Natur  und  von 
niemand  gezwungen. 

Folgesatz  I.  Hieraus  folgt:  1.  daß  es  keine  Ursache  gibt,  welche 
Gott  von  außen  oder  von  innen  neben  der  Vollkommenheit  seiner  Natur 
zum  Handeln  bestimmte.  s 

F  o  1  g  e  s  a  t  z  II.  Es  folgt:  2.  daß  nur  Gott  eine  freie  Ursache  sei. 
Denn  nur  Gott  allein  existiert  und  handelt  aus  der  bloßen  Notwendig- 
keit seiner  Natur;    er  ist  daher  allein  eine  freie  Ursache. 

Erläuterung.    Andere  meinen,  Gott  sei  deshalb  eine  freie  Ur- 
sache, weil  er,  nach  ihrer  Ansicht,  bewirken  kann,  daß  das  nicht  geschieht   lo 
oder  von  ihm  hervorgebracht  wird,  was,  wie  angegeben,  aus  seiner  Natur 
folgt,  das  heißt  was  in  seiner  Macht  steht.    Aber  dies  wäre  gerade  so, 
als  wenn  man  behauptete,   Gott  könne  bewirken,  daß  aus  der  Natur 
des  Dreiecks  nicht  folge,  daß  seine  drei  Winkel  gleich  zwei  rechten  seien, 
oder  daß  aus  einer  gegebenen  Ursache  keine  Wirkung  folge;  was  wider-    is 
sinnig  ist.    Ferner  werde  ich  unten  ohne  Hilfe  dieses  Lehrsatzes  zeigen, 
daß  der  Natur  Gottes  weder  Verstand  noch  Wille  zukommt.    Ich  weiß 
allerdings,  daß  viele  beweisen  zu  können  glauben,  zur  Natur  Gottes 
gehöre  höchster  Verstand  und  freier  Wille ;  denn  nichts  Vollkommeneres 
sei  ihnen  bekannt  und  könne  Gott  zugeteilt  werden,  als  das,  worin  unsere   20 
eigene   höchste   Vollkommenheit   besteht.    Obgleich   sie   nun    Gott   als 
den  in  Wirklichkeit  höchsten  Verstand  denken,  so  glauben  sie  doch 
nicht,  daß  er  die  Existenz  von  allem,  was  er  wirklich  vorstellt,  auch 
bewirken  könne;    denn  sie  glauben  auf  diese  Weise  die  Macht  Gottes 
zu  zerstören:    hätte  er  nämhch  alles,  was  in  seinem  Verstände  ist,  er-   25 
schaffen,  so  könnte  er  dann  nichts  weiter  erschaffen;  was  nach  ihrer 
Meinung  der  Allmacht  Gottes  widerstreitet.     Man  nimmt  daher  lieber 
an,   Gott  sei  allem  gegenüber  gleichgültig  und  erschaffe  nur  das,  was 
er  nach  einem  gewissen  unbedingtenWillen  zu  schaffen  beschlossen  hat. 
Ich  glaube  jedoch  deutlich  genug  bewiesen  zu  haben ,    daß  aus  der  so 
höchsten  Macht  oder  unendHchen  Natur  Gottes  Unendliches  auf  unend- 
lich viele  Weisen,  das  heißt  alles  notwendig  hervorgegangen  ist  oder 
stets  mit  derselben  Notwendigkeit  folgt;    in  derselben  Weise  wie  aus 
der  Natur  eines  Dreiecks  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit  folgt,  daß  seine 
Winkel  gleich  zwei  rechten  sind.    Gottes  Allmacht  ist  daher  von  Ewig-   35 
keit  wirklich  gewesen  und  wird  in  derselben  Wirklichkeit  in  Ewigkeit 
bleiben.     Auf  diese  Weise  wird  nach  meiner  Ansicht  Gottes  Allmacht 
weit  vollkommener  hingestellt;    ja  wenn  ich  offen  sprechen  darf,   so 
scheinen  jene  Gegner  vielmehr  Gottes  Allmacht  zu  leugnen.     Müssen 
sie  doch  einräumen,  daß  Gott  unendlich  Vieles  als  möglich  denkt,  was    40 
er  doch  niemals  wird  erschaffen  können.     Denn  sonst,  wenn  er  alles, 


Gott  ist  die  Ursache  aller  Dinge.  113 

was  er  denkt,  erschüfe,  würde  er  nach  ihrer  Meinung  seine  Allmacht 
erschöpfen  und  sich  unvollkommen  machen.  Um  also  Gott  als  voll- 
kommen anzunehmen,  müssen  sie  zugleich  annehmen,  daß  er  nicht 
alles  bewirken  kann,  worauf  sich  seine  Macht  erstreckt.  Ich  wüßte  aber 
5  keine  Annahme,  welche  widersinniger  wäre  und  der  Allmacht  Gottes 
mehr  widerstritte  als  diese. 

Nun  noch  einiges  über  den  Gott  gewöhnhch  zugeteilten  Verstand 
und  Willen!  Sollen  Verstand  und  Wille  zu  Gottes  ewigem  Wesen  ge- 
hören,   so  ist  unter  diesen    beiden  Attributen  etwas  anderes  zu  ver- 

10  stehen,  als  die  Menschen  gemeinhin  tun.  Der  Verstand  und  Wille, 
welche  Gottes  Wesen  bilden  sollen,  müßten  von  unserem  Verstand  und 
Willen  ganz  und  gar  verschieden  sein  und  könnten  nur  im  Namen  über- 
einstimmen, nicht  anders  als  etwa  übereinstimmen  der  Hund  als  Stern- 
bild und  der  Hund  als  bellendes  Tier. 

15  Mein  Beweis  ist  folgender:  Wenn  zur  göttlichen  Natur  ein  Ver- 
stand gehört,  so  kann  er  nicht  wie  der  unsrige  den  von  ihm  gedachten 
Gegenständen  nachfolgen  oder  zugleich  mit  ihnen  sein:  denn  Gott 
ist  der  Kausalität  nach  vor  allen  Dingen  (Lehrsatz  XVI,  Folgesatz  I); 
vielmehr  ist  die  Wahrheit  und  das  wirkHche  Wesen  der  Dinge  so  be- 

20   schafien,  weil  sie  in  Gottes  Verstände  so  objektiv  bestehen. 

Daher  ist  der  Verstand  Gottes,  sofern  in  ihm  das  Wesen  Gottes 
begriffen  gedacht  wird,  in  Wahrheit  die  Ursache  aller  Dinge,  sowohl 
ihrem  Wesen  wie  ihrem  Dasein  nach.  Dies  scheinen  auch  diejenigen 
bemerkt   zu   haben,    welche   behaupten,    Gottes   Verstand,    Wille   und 

25  Macht  sei  eines  und  dasselbe.  Ist  demnach  Gottes  Verstand  die  alleinige 
Ursache  sowohl  von  dem  Wesen  wie  von  dem  Dasein  der  Dinge,  so  muß 
er  selbst  notwendig  sowohl  nach  seinem  Wesen  wie  nach  seinem  Dasein 
von  den  Dingen  unterschieden  sein.  Denn  das  Bewirkte  unterscheidet 
sich  von  seiner  Ursache  gerade  in  dem,  was  es  von  der  Ursache  hat. 

30  Ein  Mensch  zum  Beispiel  ist  wohl  die  Ursache  des  Daseins,  aber  nicht 
des  Wesens  eines  anderen  Menschen  —  dies  ist  eine  ewige  Wahrheit  — 
und  so  können  beide  ihrem  Wesen  nach  übereinstimmen,  dem  Dasein 
nach  aber  müssen  sie  voneinander  unterschieden  sein.  Deshalb  wird, 
wenn  das  Dasein  des  einen  aufhört,  nicht  auch  das  des  anderen  aufhören; 

35  wenn  aber  das  Wesen  des  einen  zerstört  und  falsch  werden  könnte, 
so  würde  auch  das  Wesen  des  anderen  zerstört  werden.  Was  also  Ur- 
sache einer  Wirkung  ihrem  Wesen  und  Dasein  nach  ist,  muß  sich  von 
dieser  Wirkung  unterscheiden  sowohl  seinem  Wesen  wie  seinem  Dasein 
nach.   Nun  ist  aber  Gottes  Verstand  die  Ursache  sowohl  von  dem  Wesen 

40    wie  von  dem  Dasein  unseres  Verstandes:    Gottes  Verstand,  soweit  er 
als  das  göttliche  Wesen  bildend  gedacht  wird,  ist  daher  von  unserem 
Dessoir-Menz er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  8 


114  Spinoza. 

Verstände  dem  Wesen  wie  dem  Dasein  nach  unterschieden  und  kann, 
wie  hervorgehoben,  nur  im  Namen  mit  ihm  übereinstimmen.  In  Bezug 
auf  den  Willen  gilt  dasselbe,  wie  man  leicht  einsehen  kann. 


Die  Natur  handelt  nicht  nach  Zwecken. 

Anhang  zu  Lehrsatz  XXXVI.  Hiermit  habe  ich  die  Natur 
Gottes  und  seine  Eigenschaften  dargelegt ,  nämlich  5 
daß  er  notwendig  existiert;  daß  er  ein  einziger  ist; 
daß  er  nur  aus  der  Notwendigkeit  seiner  Natur 
ist  und  handelt;  daß  er  die  freie  Ursache  aller  Dinge 
ist  und  in  welcher  Weise;  daß  alles  in  Gott  ist 
und  von  ihm  so  abhängt,  daß  ohne  ihn  nichts  sein  10 
noch  gedacht  werden  kann,  und  endlich,  daß  alles  von 
Gott  vorausbestimmt  worden  ist,  und  zwar  nicht  aus 
Freiheit  des  Willens  oder  aus  einem  unbedingten  Belieben,  sondern 
aus  der  unbedingten  Natur  oder  unendlichen 
MachtGottes.  15 

Ich  habe  ferner  bei  jeder  Gelegenheit,  die  Vorurteile  zu  entfernen 
gesucht,  welche  das  Verständnis  meiner  Beweise  hindern  könnten. 
Da  indes  noch  manche  sonstige  Vorurteile  bleiben,  welche  auch,  und 
zwar  ganz  besonders,  hindern  könnten  und  können,  daß  man  die  Ver- 
kettung der  Dinge  so,  wie  ich  sie  dargelegt  habe,  erfasse,  so  habe  ich  20 
es  für  nötig  erachtet,  diese  Vorurteile  hier  einer  Prüfung  durch  die  Ver- 
nunft zu  unterwerfen.  Und  da  alle  Vorurteile,  welche  ich  hier  be- 
sprechen will,  von  der  gewöhnlichen  Meinung  der  Menschen  abhängen, 
daß  alle  natürlichen  Dinge,  wie  sie  selbst,  eines  Zweckes  wegen  handeln, 
ja  daß  Gott  selbst  unzweifelhaft  alles  nach  einem  gewissen  Ziele  leitet  25 
(sie  sagen  nämlich,  Gott  habe  alles  des  Menschen  wegen  gemacht,  den 
Menschen  aber,  daß  er  ihn  verehre),  so  will  ich  diese  Meinung  zunächst 
betrachten.  Ich  werde  zuerst  den  Grund  suchen,  weshalb  sie  meistens 
sich  bei  diesem  Vorurteil  beruhigen,  und  alle  zu  dieser  Annahme  von 
Natur  geneigt  sind,  sodann  werde  ich  seine  Unwahrheit  darlegen. 30 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  dies  aus  der  Natur  des  menschlichen 
Geistes  abzuleiten,  es  wird  genügen,  wenn  ich  von  dem  ausgehe,  was 
von  jedermann  anerkannt  werden  muß,  nämlich  davon,  daß  die  Menschen 
ohne  Kenntnis  der  Ursachen  der  Dinge  auf  die  Welt  kommen,  und  daß 
alle  den  Trieb  haben,  das  ihnen  Nützliche  zu  suchen,  und  daß  sie  sich  35 
dessen  bewußt  sind. 


Die  Natur  handelt  nicht  nach  Zwecken.  115 

Daraus  folgt  zunächst,  daß  die  Menschen  sich  für  frei  halten;  denn 
sie  sind  sich  ihres  Begehrens  und  ihrer  Triebe  bewußt  und  denken  nicht 
im  Traume  an  die  Ursachen,  welche  sie  zum  Begehren  und  Wollen  ver- 
anlassen, da  sie  diese  nicht  kennen.     Sodann  folgt  daraus,  daß  die  Men- 

5  sehen  alles  um  eines  Zweckes  willen  tun,  nämlich  des  Nutzens  wegen, 
den  sie  begehren ;  daher  kommt  es,  daß  sie  immer  nur  nach  den  Zwecken 
des  Geschehenen  fragen,  und  sobald  sie  diese  erfahren,  sich  beruhigen, 
da  sie  keinen  Anlaß  zu  weiteren  Zweifeln  haben.  Können  sie  aber  diese 
Zwecke  von  anderen  nicht  erfahren,  so  bleibt  ihnen  nur  übrig,  auf  sich 

10  selbst  und  auf  die  Zwecke  zu  sehen,  wodurch  sie  zu  Ähnhchem  bestimmt 
zu  werden  pflegen;  und  so  beurteilen  sie  die  Sinnesweise  des  anderen 
notwendig  nach  ihrer  eigenen.  Da  sie  ferner  in  sich  und  außer  sich 
viele  Mittel  finden,  die  zur  Erreichung  ihres  Nutzens  erhebhch  beitragen, 
wie  zum  Beispiel  die  Augen  zum  Sehen,  die  Zähne  zum  Kauen,  die 

15  Kräuter  und  Tiere  zur  Nahrung,  die  Sonne  zum  Licht,  das  Meer  zur 
Ernährung  der  Fische  u.  s.  w.,  so  kommt  es,  daß  sie  alles  Natürliche 
gleichsam  als  Mittel  für  ihren  Nutzen  ansehen,  und  da  sie  wissen,  daß 
sie  diese  Mittel  nicht  hergerichtet,  sondern  vorgefunden  haben,  so 
entstand  der  Glaube,  daß  irgend  ein  anderer  es  sein  müsse,  der  diese 

20  Mittel  zu  ihrem  Nutzen  bereitet  habe.  Denn  nachdem  sie  einmal  die 
Dinge  als  Mittel  betrachtet  hatten,  so  konnten  sie  nicht  annehmen, 
daß  diese  sich  selbst  gemacht  hätten ;  vielmehr  mußten  sie  aus  den  Mitteln, 
welche  sie  sich  selbst  herzurichten  pflegen,  schließen,  daß  es  einen  oder 
mehrere  Lenker  der  Natur  gäbe,  welche  mit  menschlicher  Freiheit  aus- 

25  gestattet,  alles  für  sie  besorgt  und  zu  ihrem  Nutzen  gemacht  haben. 
Da  sie  nun  von  dem  Verstände  dieser  Lenker  niemals  etwas  gehört 
hatten,  so  mußten  sie  ihr  Urteil  darüber  nach  ihrem  Verstände  bilden; 
und  so  nahmen  sie  an,  daß  die  Götter  alles  zum  Nutzen  der  Menschen 
lenken,  um  sich  dieselben  zu  verbinden  und  von  ihnen  in  höchsten  Ehren 

30   gehalten  zu  werden. 

Daher  ist  es  gekommen,  daß  der  eine  diese,  der  andere  jene  Art 
der  Gottesverehrung  in  seinem  Kopfe  erdacht  hat,  damit  Gott  ihn  mehr 
als  die  übrigen  Menschen  heben  und  die  ganze  Natur  zum  Besten  seiner 
bhnden   Begierde   und   unersättlichen   Habsucht   lenken   möge.      Dies 

35  Vorurteil  ist  zum  Aberglauben  geworden  und  hat  in  den  Geistern  tiefe 
Wurzeln  geschlagen;  es  war  der  Grund,  daß  jeder  vor  allem  die  End- 
zwecke der  Dinge  einzusehen  und  zu  erklären  sich  bemühte.  Während 
sie  aber  zu  zeigen  suchten,  daß  die  Natur  nichts  umsonst  tue,  das  heißt 
nichts,  was  nicht  zum  Besten  der  Menschen  diene,  so  haben  sie  doch 

40  nur  damit  gezeigt,  daß  die  Natur  und  die  Götter  ebenso  wie  die  Menschen 
wahnwitzig  sind.     Man  sehe  nur,  wohin  dies  endUch  führte!     Unter 


116  Spinoza. 

vielem  Nützlichen  mußten  sie  auch  vieles  Schädliche  in  der  Natur  be- 
merken, wie  Stürme,  Erdbeben,  Krankheiten  u.  s.  w.,  und  sie  nahmen 
nun  an,  diese  kämen,  weil  die  Götter  erzürnt  wären  über  die  ihnen  von 
den  Menschen  angetanen  Kränkungen,  oder  über  die  in  ihrem  Dienste 
begangenen  Versehen.  Und  obgleich  die  Erfahrung  täghch  widersprach  5 
und  durch  unzähUge  Beispiele  zeigte,  daß  Nutzen  und  Schaden  ohne 
Unterschied  die  Frommen  wie  die  Gottlosen  treffen,  so  ließ  man  doch 
von  dem  eingewurzelten  Vorurteile  nicht  ab.  Denn  es  wurde  ihnen 
leichter,  diese  Erfahrung  zu  dem  anderen  Unbekannten,  dessen  Nutzen 
man  nicht  einsah,  zu  rechnen  und  so  den  gegenwärtigen  und  angeborenen  lo 
Zustand  der  Unwissenheit  zu  bewahren,  als  das  ganze  Gebäude  nieder- 
zureißen und  ein  neues  auszudenken.  Es  galt  ihnen  daher  als  gewiß, 
daß  die  Beschlüsse  der  Götter  die  menschliche  Fassungskraft  weit 
übersteigen.  Dies  allein  hätte  hingereicht,  daß  die  Wahrheit  dem  mensch- 
lichen Geschlecht  ewig  verborgen  geblieben  wäre,  wenn  nicht  die  Mathe-  15 
matik,  welche  sich  nicht  mit  den  Zwecken,  sondern  nur  mit  dem  Wesen 
und  den  Eigenschaften  der  Gestalten  beschäftigt,  den  Menschen  ein 
anderes  Richtmaß  der  Wahrheit  gezeigt  hätte.  Auch  können  neben 
der  Mathematik  noch  andere  Gründe  (deren  Aufzählung  hier  überflüssig 
ist)  angeführt  werden,  durch  welche  die  Menschen  veranlaßt  wurden,  20 
diese  gemeinen  Vorurteile  zu  bemerken  und  zur  wahren  Erkenntnis  der 
Dinge  überzugehen. 

Damit  habe  ich,  was  ich  an  erster  Stelle  auseinander  zu  setzen 
versprach,  erledigt.  Um  nun  aber  zu  zeigen,  daß  die  Natur  sich  keinen 
Zweck  vorgesetzt  hat,  und  daß  alle  Endzwecke  nichts  als  menschliche   25 
Einbildungen  sind,  dazu  bedarf  es  nicht  viel.   Denn  ich  glaube,  daß 
dies  schon  genügend  sich  ergibt  aus  den  Quellen  und  Ursachen,  aus 
welchen  ich  den  Ursprung  dieses  Vorurteils  abgeleitet  habe,  als  auch 
aus  Lehrsatz  XVI  und  den  Folgesätzen  zu  Lehrsatz  XXXII,  und  aus 
allem,  wodurch  ich  gezeigt  habe,  daß  alles  in  der  Natur  mit  einer  ge-   30 
wissen  ewigen  Notwendigkeit  und  höchsten  Vollkommenheit  vor  sich 
gehe.     Indes  will  ich  noch  hinzufügen,   daß  durch  diese  Lehre  vom 
Zweck  die  Natur  überhaupt  ganz  zur  verkehrten  Welt  gemacht  wird. 
Denn  sie  behandelt  das  als  Wirkung,  was  in  Wahrheit  Ursache  ist,  und 
umgekehrt;  ferner  macht  sie  das,  was  von  Natur  früher  ist,  zum  Späteren,    35 
und  endlich  das  Höchste  und  Vollkommenste  zum  Unvollkommensten. 
Denn  wenn  ich  die  zwei  ersten  Punkte  beiseite  lasse,  weil  sie  sich  von 
selbst  verstehen,  so  erhellt  aus  Lehrsatz  XXI,  XXII  und  XXIII,  daß 
diejenige  Wirkung  die  vollkommenste  ist,  welche  von  Gott  unmittelbar 
hervorgebracht  wird;  je  mehr  Mittelursachen  eine  solche  zu  ihrer  Hervor-   40 
bringung  bedarf,  desto  unvollkommener  ist  sie.     Wenn  nun  aber  die 


Die  Natur  handelt  nicht  nach  Zwecken.  117 

von  Gott  unmittelbar  hervorgebrachten  Dinge  nur  gemacht  wären, 
damit  Gott  seinen  Zweck  erreichte,  so  müßten  notwendig  die  letzten, 
für  die  die  früheren  gemacht  sind,  die  vorzüglichsten  sein.  Auch  hebt 
diese  Lehre  die  Vollkommenheit  Gottes  auf;  denn  wenn  Gott  wegen  eines 

5  Zweckes  handelt,  so  begehrt  er  notwendig  etwas,  was  ihm  fehlt.  Wenn 
nun  auch  die  Theologen  und  Metaphysiker  zwischen  dem  Zweck,  dessen 
man  bedarf,  und  dem  Zweck,  dem  man  sich  annähern  will,  unterscheiden, 
so  gestehen  sie  doch  zu,  daß  Gott  alles  nur  seinetwegen  getan  hat  und 
nicht  der  zu  schaffenden  Dinge  wegen,  weil  sie  vor  der  Schöpfung  nichts 

10  neben  Gott  angeben  können,  für  dessen  Nutzen  Gott  gehandelt  hätte. 
So  müssen  sie  also  einräumen,  daß  Gott  dasjenige,  wofür  er  die  Mittel 
hat  bereiten  wollen,  entbehrt  hat,  und  daß  er  es  begehrt  hat,  wie  von 
selbst  klar  ist. 

Es  muß  hier  auch  erwähnt  werden,  daß  die  Anhänger  dieser  Lehre, 

15  welche  in  Aufstellung  von  Zwecken  der  Dinge  ihren  Scharfsinn  zeigen 
wollten,  für  den  Beweis  ihrer  Lehre  eine  neue  Art  der  Begründung 
aufgebracht  haben,  indem  sie  diese  nicht  auf  die  Unmöghchkeit,  sondern 
auf  die  Unwissenheit  zurückführten,  woraus  erhellt,  daß  ihnen  kein 
anderes  Mittel  der  Begründung  zu  Gebote  gestanden  hat.     Wenn  zum 

20  Beispiel  ein  Stein  aus  einer  Höhe  auf  eines  Menschen  Kopf  fällt  und 
ihn  tötet,  so  beweisen  sie  nach  dieser  Methode,  daß  der  Stein  gefallen 
sei,  um  den  Menschen  zu  töten;  denn  w^äre  er  nicht  zu  diesem  Zweck 
nach  dem  Willen  Gottes  gefallen,  wie  konnten  da  so  viele  Umstände 
aus  Zufall  zusammentreffen?     (Denn  oft  wirken  mehrere  zugleich.) 

25  Man  wird  vielleicht  antworten,  es  sei  so  gekommen,  weil  der  Wind 
geweht,  und  weil  den  Menschen  sein  Weg  dahin  geführt  habe.  Aber 
jene  werden  darauf  bestehen:  Weshalb  hat  der  Wind  damals  geweht? 
Weshalb  führte  den  Menschen  zur  selben  Zeit  sein  Weg  dahin?  Wenn 
man  darauf  erwidert,  der  Wind  sei  damals  entstanden,  weil  das  Meer 

30  den  Tag  vorher  bei  ruhigem  Wetter  angefangen  hatte,  bewegt  zu  werden, 
und  weil  der  Mensch  von  einem  Freunde  eingeladen  worden  war,  so 
werden  sie  wiederum  nicht  ablassen,  da  des  Fragens  hier  kein  Ende  ist: 
Warum  wurde  das  Meer  unruhig?  Weshalb  war  der  Mensch  damals 
eingeladen?     Und  so  werden  sie  fort  und  fort  nach  den  Ursachen  der 

35  Ursachen  fragen,  bis  man  zu  dem  Willen  Gottes,  das  heißt  zu  dem  Asyl 
der  Unwissenheit  seine  Zuflucht  nimmt. 

Ebenso  staunen  sie  bei  dem  AnbHck  des  Baues  des  menschlichen 
Körpers,  und  weil  sie  die  Ursachen  von  so  viel  Kunst  nicht  kennen, 
so  schUeßen  sie,  daß  er  nicht  durch  mechanische  Kräfte,  sondern  durch 

40  eine  götthche  und  übernatürliche  Kunst  gebildet  und  so  eingerichtet 
Avorden  sei,  daß  kein  Teil  den  anderen  verletzt.  So  kommt  es,  daß  der, 


118  Spinoza. 

welcher  die  wahren  Ursachen  der  Wunder  aufsucht  und  sich  bestrebt, 
die  Naturvorgänge  als  ein  Wissender  einzusehen  und  nicht  wie  ein 
Tor  anzustaunen,  hie  und  da  für  einen  Ketzer  und  Gottlosen  gehalten 
und  als  ein  solcher  von  denen  verschrieen  wird,  welche  die  Menge  als 
die  Dolmetscher  der  Natur  und  der  Götter  verehrt.  Denn  diese  wissen, 
daß  mit  dem  Wegfall  der  Unwissenheit  auch  das  Erstaunen,  das  heißt 
das  einzige  Mittel  für  ihre  Beweise  und  für  Erhaltung  ihrer  Autorität, 
aufhört. 


Die  göttliche  Liebe. 

Lehrsatz  XXXII.  Was  wir  in  der  dritten  Art  der  Erkenntnis 
erkennen,  daran  erfreuen  wir  uns  und  denken  dabei  zugleich  an  Gott   lo 
als  Ursache. 

Beweis.     Aus  dieser  Art  der  Erkenntnis  entsteht  die  höchste 
Befriedigung  des  Geistes,  die  es  geben  kann,  das  heißt  (nach  Definition 
Nr.  XXV  der  Affekte)  die  höchste  Freude,  wobei  wir  an  uns  selbst  (nach 
Lehrsatz   XXVII   dieses   Buches)   und   folglich   (nach   Lehrsatz   XXX    is 
dieses  Buches)  zugleich  an  Gott  als  die  Ursache  denken. 

Folgesatz.  Aus  der  dritten  Art  der  Erkenntnis  entsteht  not- 
wendig die  geistige  Liebe  zu  Gott.  Denn  aus  dieser  Art  der  Erkennt- 
nis entsteht  Freude,  begleitet  von  der  Vorstellung  Gottes,  als  Ursache 
(nach  Lehrsatz  XXXII),  das  heißt  die  Liebe  zu  Gott  (nach  Defini-  20 
tion  VI  der  Affekte),  nicht  insofern  wir  ihn  als  gegenwärtig  vorstellen, 
sondern  sofern  wir  Gott  als  ewig  seiend  erkennen  (nach  Lehr- 
satz XXIX  dieses  Buches),  und  dies  ist,  was  ich  die  geistige  Liebe  zu 
Gott  nenne. 

Lehrsatz    XXXIII.     Die  geistige  Liebe  zu   Gott,  welche  aus   25 
der  dritten  Art  der  Erkenntnis  entsteht,  ist  ewig. 

Beweis.  Denn  die  dritte  Art  der  Erkenntnis  ist  ewig  (nach 
Lehrsatz  XXXI  dieses  Buches  und  Axiom  III  von  Buch  I).  Folghch 
ist  die  Liebe,  welche  aus  ihr  entspringt,  auch  notwendig  ewig  (nach 
demselben  Axiom).  30 

Erläuterung.  Obgleich  diese  Liebe  zu  Gott  keinen  Anfang 
hat,  so  hat  sie  doch  alle  Vollkommenheiten  der  Liebe  ebenso  (nach 
dem  vorigen  Lehrsatz),  als  wenn  sie  entstanden  wäre,  wie  im  Folgesatz 
zu  vorigem  Lehrsatz  angenommen  worden  ist.  Es  ist  hier  kein  Unter- 
schied, außer,  daß  die  Seele  dieselben  Vollkommenheiten,  welche  wir  35 
dort  als  hinzutretend  angenommen  haben,  von  Ewigkeit  gehabt  hat, 
und  zwar  begleitet  von  der  Vorstellung   Gottes  als   ewiger  Ursache. 


Die  göttliche  Liebe.  119 


Wenn  die  Freude  in  dem  Übergange  zu  einer  größeren  Vollkommenheit 
besteht,  so  muß  die  SeUgkeit  sicherlich  darin  bestehen,  daß  die  Seele 
mit  der  Vollkommenheit  selbst  begabt  ist. 

Lehrsatz    XXXIV.     Die  Seele  ist  nur  so  lange  der  Körper  be- 
5   steht  denjenigen  Afiekten  unterworfen,  welche  ein  Leiden  enthalten. 
Folgesatz.    Hieraus  ergibt  sich,  daß  keine  andere  Liebe,  außer 
der  geistigen,  ewig  ist. 

Lehrsatz  XXXV.  Gott  liebt  sich  selbst  mit  einer  unendHchen 
geistigen  Liebe. 

10  Beweis.  Gott  ist  unbedingt  unendlich,  das  heißt  Gottes  Natur 
erfreut  sich  einer  unendlichen  Vollkommenheit,  und  zwar  begleitet 
von  der  Vorstellung  seiner,  das  heißt  von  der  Vorstellung  seiner  als 
Ursache,  und  dies  ist,  was  im  Folgesatz  zum  Lehrsatz  XXXII  die  geistige 
Liebe  genannt  worden  ist. 

15  Lehrsatz  XXXVI.  Die  geistige  Liebe  der  Seele  zu  Gott  ist 
Gottes  Liebe  selbst,  durch  welche  Gott  sich  selbst  hebt,  nicht  sofern 
er  unendlich  ist,  sondern  sofern  er  durch  das  Wesen  des  menschlichen 
Geistes,  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Ewigkeit  betrachtet,  ausge- 
drückt werden  kann,  das  heißt  die  geistige  Liebe  der  Seele  zu  Gott  ist 

20   ein  Teil  der  unendlichen  Liebe,  womit  Gott  sich  selbst  liebt. 

Beweis.  Diese  Liebe  der  Seele  gehört  zu  ihren  Handlungen 
(Folgesatz  zum  Lehrsatz  XXXII)  und  ist  eine  Handlung,  wodurch  die 
Seele  sich  selbst  betrachtet,  unter  Begleitung  der  Vorstellung  Gottes 
als  Ursache  (nach  demselben  Folgesatz),  das  heißt  eine  Handlung,  wo- 

25  durch  Gott,  insoweit  er  durch  die  menschliche  Seele  ausgedrückt  werden 
kann,  sich  selbst  betrachtet  unter  Begleitung  der  Vorstellung  seiner 
selbst.  Mithin  ist  diese  Liebe  der  Seele  (nach  vorigem  Lehrsatz)  ein 
Teil  der  unendhchen  Liebe,  mit  der  Gott  sich  selbst  liebt. 

Folgesatz.     Hieraus  ergibt  sich,  daß  Gott,  insofern  er  sich  selbst 

30   liebt,   die  Menschen  hebt,   und  folghch,   daß   die  Liebe  Gottes  zu  den 

Menschen  und  die  geistige  Liebe  der  Seele  zu  Gott  ein  und  dasselbe  sind. 

Erläuterung.    Hieraus  kann  man  deutlich  erkennen,    worin 

unser    Heil    oder    unsere    Seligkeit    oder    Freiheit 

besteht,    nämlich  in  beständiger  und  ewiger  Liebe  zu  Gott  oder 

35  in  der  Liebe  Gottes  zu  den  Menschen.  Und  diese  Liebe  oder  SeUgkeit 
wird  in  den  heihgen  Schriften  nicht  mit  Unrecht  Ruhm  (gloria)  ge- 
nannt, denn  mag  diese  Liebe  auf  Gott  oder  auf  die  Seele  bezogen  werden, 
so  kann  sie  mit  Recht  Zufriedenheit  der  Seele  genannt  werden,  welche 
sich  in  Wahrheit  von  dem  Ruhme  nicht  unterscheidet.     Denn  so  weit 

40  sie  auf  Gott  bezogen  wird,  ist  es  Freude  (nach  Lehrsatz  XXXV),  wenn 
es  noch  gestattet  ist,  dieses  Wort  zu  gebrauchen,  unter  Begleitung  der 


10 


120  Spinoza. 

Vorstellung  Gottes,  und  dasselbe  gilt,  wenn  diese  Freude  auf  die  Seele 
bezogen  wird  (nach  Lehrsatz  XXVII).  Weil  ferner  das  Wesen  unserer 
Seele  nur  in  der  Erkenntnis  besteht,  deren  Prinzip  und  Grundlage 
Gott  ist,  so  wird  nun  dadurch  verständhch,  wie  und  auf  welche  Weise 
unsere  Seele  nach  ihrer  Wesenheit  und  ihrem  Dasein  aus  der  göttlichen 
Natur  folgt  und  fortwährend  von  Gott  abhängt.  Ich  habe  dies  hier  er- 
wähnen wollen,  um  an  diesem  Beispiel  zu  zeigen,  wieviel  jene  Erkenntnis 
der  Einzeldinge,  welche  ich  die  intuitive  oder  die  der  dritten  Art  ge- 
nannt habe ,  vermag  und  höher  steht  als  die  allgemeine  Erkenntnis, 
welche  ich  die  der  zweiten  Art  genannt  habe.  Denn  obgleich  ich  im 
I.  Teil  überhaupt  gezeigt  habe,  daß  alles  und  mithin  auch  die  mensch- 
liche Seele  von  Gott  nach  Wesenheit  und  Existenz  abhängig  ist,  so  ist 
jener  Beweis,  obgleich  er  richtig  und  über  allen  Zweifel  erhaben  ist, 
doch  für  unseren  Verstand  nicht  so  überzeugend,  als  wenn  dies  aus  der 
eigenen  Wesenheit  jeder  einzelnen  Sache,  welche  ich  als  von  Gott  ab-  is 
hängig  erklärt  habe,  gefolgert  wird. 

Lehrsatz    XXXVII.     Es  gibt  in  der  Natur  nichts,  was  dieser 
geistigen  Liebe  entgegen  ist  oder  sie  aufheben  könnte. 

Beweis.  Die  geistige  Liebe  folgt  notwendig  aus  der  Natur  der 
Seele,  sofern  sie  als  eine  ewige  Wahrheit  durch  die  Natur  Gottes  auf-  20 
gefaßt  wird  (nach  Lehrsatz  XXXIII).  Wenn  es  also  einen  Gegensatz 
gegen  diese  Liebe  gäbe,  so  wäre  dies  ein  Gegensatz  gegen  das  Wahre, 
und  mithin  bewirkte  das,  was  diese  Liebe  aufzuheben  vermöchte,  daß 
das  Wahre  falsch  wäre,  was  (wie  von  selbst  klar  ist)  widersinnig  ist. 
Es  gibt  deshalb  nichts  in  der  Natur  u.  s.  w.  20 


Baruch  Despinoza  (1632 — 1677)  hat  die  „Ethica  ordine  geometrico  denwn- 
strata'  1662  begonnen;  nach  seinem  Tode  wurde  sie  herausgegeben  in  den 
,.Opera  posthuma'  1677.  Die  beste  Ausgabe  seiner  Werke  ist  die  von  Vloten 
und  Land,  2.  Auflage  1895.  Die  sämtlichen  Werke  Spinozas  hat  Auerbach 
übersetzt  (1841,  2.  Auflage  1872),  ferner  J.  H.  v.  Kirchmann  in  der  „Philo- 
sophischen BibHothek";  auch  in  Reclams  Universalbibliothek  ist  eine  Über- 
setzung der  Ethik  erschienen.  Die  vorhegende  Übersetzung  schließt  sich  an 
v.  Kirchmann  an.  Eine  neue,  mit  Einleitung,  Anmerkung  und  einem  für  den 
Anfänger  sehr  nützHchen  Register  versehene  Übersetzung  von  O.  Baensch 
erschien  1905  als  Bd.  92  der  „Philosophischen  Bibliothek". 

Eine  gute  Übersicht  der  Lehre  S.s,  besonders  des  Hauptwerkes,  findet 
der  Leser  in  Überwegs  Grundriß,  9.  Auflage,  Bd.  III,  S.  109—144.  Ferner 
sei  hingewiesen  auf  die  Darstellung  in  Windelband,  Geschichte  der  neueren 
Philosophie,  2.  Auflage,  Band  I,  S.  196—235.  Für  die  Lebensgeschichte  S.s 
sei  das  Buch  des  bekannten  Spinozaf orschers  J.  Freudenthal  erwähnt:  „Spinoza, 
sein  Leben  und  seine  Lehre".     Bd.  I.     Das  Leben  Spinozas.     1904. 


Erläuterungen.  121 


Die  erkenntnistheoretische  Grundlegung  der  Metaphysik  S.s  ist  enthalten 
in  dem.  „Tractatus  de  intellectus  emendatione''  (ebenfalls  herausgegeben  in  den 
Opera  posthuma).  In  Übereinstimmung  mit  Descartes  sieht  S.  das  Kriterium 
der  Wahrheit  in  der  unmittelbaren  Evidenz  gewisser  Elemente  der  Erkenntnis, 
Begriffe  oder  Sätze.  Wie  es  in  der  Geometrie  gewisse  Begriffe  und  Grund- 
wahrheiten, Axiome,  gibt,  so  müssen  solche  einfachen  Wahrheiten  (simplicia) 
in  der  Metaphysik  aufgesucht  werden;  -wie  sich  in  der  Geometrie  aus  Defini- 
tionen und  Axiomen  alle  weiteren  geometrischen  Verhältnisse  in  notwendiger 
Folge  ableiten  lassen,  so  müssen  in  der  Metaphysik  mit  derselben  Notwendigkeit 
nach  derselben  Methode  aus  intuitiv  sicheren  Definitionen  und  Axiomen  alle 
Verhältnisse  der  Wirklichkeit  abgeleitet  werden.  So  beginnt  S.  seine  Ethik 
mit  Definitionen  der  Grundbegriffe  der  Wirklichkeit  und  Aufstellung  von 
Axiomen.  Aus  diesen  durch  sich  selbst  gewissen  Grundsätzen  werden  die 
Lehrsätze  {Propositiones)  abgeleitet.  Diesen  Lehrsätzen  können  sich  dann 
anschließen  CoroUarien,  das  heißt  unmittelbar  aus  den  Lehrsätzen  sich  er- 
gebende Folgesätze,  und  Schollen,  das  heißt  Erläuterungen  der  Lehrsätze 
und  Beweise.  Die  nach  S.  evidenten  Grundbegriffe  seines  Systems  sind  die 
Substanz,  das  Attribut,  der  Modus.  Unter  Substanz  ver- 
steht S.  das,  was  in  sich  ist  und  durch  sich  begriffen  wird,  das  heißt,  dessen 
Begriff  nicht  des  Begriffs  eines  anderen  Dinges  bedarf,  um  daraus  abgeleitet 
werden  zu  müssen ;  unter  Attribut  das,  was  der  Verstand  von  der  Substanz 
erfaßt  als  das,  was  ihr  Wesen  ausmacht;  unter  Modus  endlich  die  Zustände  der 
Substanz  oder  das,  was  in  einem  anderen  ist,  durch  das  es  auch  begriffen  wird. 

Unter  Zuhilfenahme  der  Axiome  bestimmt  nun  S.  im  ersten  Buch  seiner 
Ethik  aus  diesen  Grundbegriffen  das  Wesen  Gottes.  Unter  Gott  versteht  er 
das  absolut  unendliche  Wesen,  das  heißt  die  Substanz,  welche  aus  unendlichen 
Attributen  besteht,  von  denen  jedes  eine  ewige  und  unendliche  Wesenheit 
ausdrückt.  Einem  absolut  unendlichen  Wesen  können  keine  unendlichen 
Attribute  abgesprochen  werden.  Außer  Gott  kann  es  keine  Substanz  geben, 
denn,  würde  irgend  eine  Substanz  außer  Gott  existieren,  so  müßte  die  Wesen- 
heit dieser  Substanz,  da  Gott  als  dem  absolut  unendlichen  Wesen  kein  Attribut 
abgesprochen  werden  kann,  durch  irgend  ein  Attribut  Gottes  ausgedrückt 
werden;  es  gäbe  also  zwei  Substanzen  mit  demselben  Attribut.  Zwei  Sub- 
stanzen von  derselben  Wesenheit  wären  aber  überhaupt  nicht  mehr  zwei  ver- 
schiedene Substanzen;  also  gibt  es  nur  eine  absolut  unendliche  Substanz. 
Gibt  es  aber  nur  eine  einzige  Substanz,  so  muß  alles  in  Gott  sein.  Die  Attribute 
drücken  ja  nur  die  Wesenheit  und  die  Modi  nur  die  Zustände  der  Substanz 
aus;  und  außer  der  Substanz,  den  Attributen  und  den  Modi  gibt  es  in  der 
Wirklichkeit  nichts.  Wie  ist  nun  das  Verhältnis  der  Wirklichkeit,  wie  sie  sich 
in  der  Vielheit  der  Einzeldinge  darstellt,  zu  dieser  einen  unendlichen  gött- 
lichen Substanz?  Es  ist  das  Verhältnis  der  mathematischen  Folge;  aus  dem 
Wesen  Gottes  muß  die  ganze  Wirklichkeit  abgeleitet  werden.  Hier  setzt 
Lehrsatz  XVI  ein. 

111  9.     Siehe  Einleitung. 

111  26.    Siehe  Einleitung. 


122  Spinoza. 

112  4.  Un Vollkommenheit  ist  nach  S.  immer  ein  Mangel,  eine  Einschränkung, 
eine  Negation;  da  Gott  ein  absolut  unendliches  Wesen  ist,  das  heißt,  da  von 
ihm  kein  Attribut  negiert  werden  kann,  so  ist  Gott  ein  absolut  vollkommenes 
Wesen.  Für  S.  sind  absolute  Realität,  absolute  Macht,  absolute  Vollkommen- 
heit dasselbe.  Diese  Vollkommenheit  ist,  wie  wir  sehen  werden,  weit  entfernt 
von  dem,  was  die  Menschen  als  gut  und  böse  bezeichnen. 

112  16  f.  Über  den  Gott  persönlich  zugeschriebenen  Verstand  und  Willen 
vergleiche  Anmerkung  zu  116  29  und  im  Verlauf  der  Erläuterung. 

113  19  ff.  Die  Begriffe  „Wahrheit"  und  „Falschheit"  der  Dinge  sind  zu  ver- 
stehen, wenn  wir  den  Gegensatz  von  Wesen  {essentia)  und  Dasein  (existentia) 
der  Dinge  beachten,  wie  er  113  21  ff.  erörtert  wird.  Danach  unterscheidet  S. 
an  den  Dingen  eine  begriffliche,  zeitlose  Essenz  und  eine  sinnlich  zeitliche 
Existenz.  Das  Beispiel  11 3  30  f.  orientiert  über  diesen  Gegensatz.  So  können 
wir  sagen,  daß  ein  einzelner  Mensch  zu  einem  Teile,  sofern  er  den  Gattungs- 
charakter des  Menschen  besitzt,  am  Ewigen  teil  hat,  sofern  es  aber  dieser  ein- 
zelne Mensch,  zum  Beispiel  Sokrates,  ist,  ist  er  vergänglich.  Wenn  die  Essenz 
eines  Dinges  (zum  Beispiel  des  Menschen)  eine  ewdge  Wahrheit  ist,  so  ist 
deutUch,  daß  wir  über  ihre  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  nicht  entscheiden 
können  mit  den  Bestimmungen,  die  wir  von  dem  nur  zeitlich  Existierenden 
hernehmen.  Ein  solches  zeitloses  Bestehen  gibt  es  nun  in  den  logischen  Be- 
ziehungen. Die  im  Syllogismus  (vergleiche  oben  S.  20  2  ff.)  ausgedrückte  Ab- 
hängigkeit des  Einzelnen  vom  Allgemeinen  gilt  zeitlos.  Wollen  wir  über  die 
Möglichkeit  der  Essenz  eines  Wesens  entscheiden,  so  können  wir  dies  nur  mit 
Hilfe  solcher  logischen  Bestimmungen,  zum  Beispiel  des  Satzes  vom  Wider- 
spruch. Die  Idee  eines  viereckigen  Dreiecks  wäre  logisch  angesehen  ein  Wider- 
spruch, die  Essenz  eines  solchen  wäre  falsch,  wir  brauchten  nicht  erst  die  Exi- 
stenz eines  solchen  zu  versuchen.  Wir  erkennen  aber  unsere  Grenze  als  Men- 
schen, wenn  wir  die  Idee  eines  Centauren  bilden.  Da  hätten  wir  eine  logisch 
widerspruchslose  Essenz,  aber  nicht  die  Existenz.  Wir  können  überhaupt 
sagen,  daß  die  Essenz  der  Dinge  ihre  Existenz  nicht  einschließt,  sondern  daß 
Gott,  insofern  zu  seiner  Natur  allein  die  Existenz  gehört  (Lehrsatz  XXIV 
von  Buch  I)  die  Ursache  der  Existenz  der  Dinge  ist.  Dies  fordert  die  pan- 
theistische  Grundanschauung  S.s.  Vergleiche  L.  Busse:  Über  die  Bedeutung 
der  Begriffe  essentia  und  existentia  bei  S.,  Vierteljahrschrift  für  wiss.  Phil.  X, 
1886,  S.  283—306. 

Verbindende   Erörterung. 

Nachdem  S.  gezeigt  hat,  wie  aus  Gottes  Natur  auf  unendliche  Weise  Un- 
endliches folgt  (Lehrsatz  XVI)  und  den  Grundsatz  eines  ununterbrochenen 
Kausalzusammenhanges,  das  heißt  in  seinem  Sinn  einer  logisch-mathematischen 
notwendigen  Folge,  der  Dinge  mit  Gott  und  der  Dinge  untereinander,  unter 
Ausschluß  jeglichen  Zufalls,  aufgestellt  hat,  wendet  er  sich  gegen  alle  Versuche, 
die  Welt  aus  einem  zwecksetzenden  Willen  Gottes  abzuleiten. 

114  31.  Die  Vorurteile  leitet  S.  in  seiner  Affektenlehre  (Buch  III,  Über  den 
Ursprung  und  die  Natur  der  Affekte)  aus  der  Mechanik  des  menschlichen 
Seelenlebens  ab. 


Erläuterungen.  123 


116 18.  S.  lebte  zu  einer  Zeit,  wo  im  Gebiete  der  Naturwissenschaft  überall 
die  quantitativen  Beziehungen  der  Wirklichkeit  gemessen  und  mathematisch 
bestimmt  wurden  und  die  exakte  Naturwissenschaft  entstand  (Kepler  und 
Galilei). 

116  29  f.  Lehrsatz  XVI  vergleiche  verbindende  Erörterung  S.  122  Z.  9  v.  u.  f. 
In  dem  Folgesatz  I  zu  Lehrsatz  XXXII  ergibt  sich  für  S.  unmittelbar  aus 
der  Behauptung,  daß  der  Wille  nicht  frei  sein  könne,  weil  auch  die  Willens- 
handlung nichts  ist  als  ein  Glied  in  einer  unendlichen  Kausalreihe,  die  Tatsache, 
daß  Gott  nicht  aus  sogenanntem  freien  Willen  handeln  könne.  Auch  Wille 
und  Geist  Gottes  sind  gerade  so  wie  Ruhe  und  Bewegung  in  bestimmter  Weise 
durch  seine  Natur  determiniert  (Folgesatz  II). 

116  38.  Die  Lehrsätze  XXI  bis  XXIII  besagen,  daß  alles,  was  aus  der  unend- 
lichen Natur  eines  Attributes  Gottes  oder  aus  einem  Modus,  der  sich  aus  der 
unendlichen  Natur  eines  Attributes  herleitet,  folgt,  ewig  und  unendlich  ist. 
Je  mehr  Glieder  dagegen  zwischen  einem  Attribut  oder  einem  Modus,  der  aus 
einem  Attribut  folgt,  und  einem  Dinge  in  der  logisch-mathematischen  Folge 
sich  einschieben,  desto  unvollkommener  ist  das  Ding.  Die  Schwierigkeit, 
wie  überhaupt  aus  dem  Unendlichen  und  Vollkommenen  etwas  Endliches 
und  Unvollkommenes  folgen  kann,  ist  offenkundig. 

117  6  f.  Diese  Unterscheidung  wird  in  der  Scholastik  überaus  häufig  ge- 
macht und  geht  schUeßHch  auf  Aristoteles  zurück.  J.  Freudenthal,  dem  wir 
diese  ^Mitteüung  verdanken,  glaubt,  daß  S.  sie  aus  dem  von  ihm  oft  benützten 
Adrien  Heereboord  (Cartesianer,  gest.  1659)  geschöpft  hat  {Disputationum  vol. 
II  p.  269a  ed.  1665). 

118  3.  S.  kannte  den  Haß  derer,  welche  die  Menge  als  die  Dolmetscher 
der  Natur  und  der  Götter  verehrt,  aus  eigener  Erfahrung.  Er  wurde  1656 
durch  Bannfluch  aus  der  Synagoge  ausgestoßen.  Sein  tractatus  theologico- 
polüicus  (1670)  wurde  von  allen  Parteien  in  gehässigster  Weise  angegriffen. 
Der  schon  bei  Lebzeiten  beabsichtigten  Herausgabe  seiner  Ethik  wurde  der 
hartnäckigste  Widerstand  entgegengesetzt. 

118  8.  S.  fordert,  wie  wir  sehen,  die  strengste  Durchführung  der  mechani- 
schen Naturerklärung  unter  Ausschluß  jeder  Erklärung  der  Vorgänge  der 
Wirklichkeit  aus  einem  göttlichen  Zweckhandeln.  Diese  Forderung  hat  sich 
die  ganze  moderne  Naturwissenschaft  zu  eigen  gemacht;  eine  Flucht  in  das 
Asyl  der  Unwissenseit  ist  dem  exakten  Naturforscher  nicht  mehr  erlaubt. 
Dagegen  ist  die  teleologische  Betrachtungsweise  unter  Ausschluß  der  Hypo- 
stasierung  eines  göttHchen  zwecksetzenden  Willens  seit  Kants  Kritik  der  Urteils- 
kraft als  bloßes  wissenschaftliches  Forschungsprinzip  (nicht  als  Erklärungs- 
prinzip) anerkannt. 

VerbindendeErörterung. 

Hat  S.  im  ersten  Buch  („Über  Gott")  das  Wesen  Gottes  oder  der  Natur 
als  der  einen  unendlfchen  Substanz  in  ihrem  Verhältnis  zu  den  Attributen 
und  Modi  dargestellt,  so  gibt  er  im  zweiten  Buch  („Über  die  Natur  und  den 
Ursprung  des  Geistes")  die  beiden  parallelen  Kausalzusammenhänge  der 
Attribute  „Denken  und  Ausdehnung".    Im  dritten  Buch  („Über  den  Ursprung 


124  Spinoza. 

und  die  Natur  der  Affekte")  bedient  sich  dann  S,  seiner  mathematisch-mecliani- 
schen  Betrachtungsweise,  um  eine  Mechanik  der  menschlichen  Affekte  zu  geben, 
erörtert  dann  im  vierten  Buch  („Über  die  menschhche  Knechtschaft  oder  die 
Macht  der  Affekte"),  wie  der  Mensch  mit  derselben  Notwendigkeit,  die  überall 
in  der  Natur  herrscht,  unter  die  Herrschaft  der  Affekte  geraten  muß,  um  dann 
im  fünften  Buch  („Über  die  Macht  des  Intellekts  oder  die  menschliche  Frei- 
heit") zu  zeigen,  wie  der  Mensch  von  dieser  Knechtschaft  frei  werden  kann. 

118  9.  S.  unterscheidet  drei  Arten  der  Erkenntnis:  1.  die  Meinung  (opinio) 
oder  Einbildung  {imaginatiö),  welche  von  einzelnen  ungeordneten  Sinnes- 
wahrnehmungen oder  bloßen  Worten  ausgeht  und  nicht  adäquate  Erkenntnis 
übermittelt;  2.  die  Verstandeserkenntnis  [ratio),  welche  das  aUen  Dingen 
gemeinsame  adäquat  begreift,  z.  B.  die  Ideen  der  Ausdehnung,  Denken  etc. ; 
3.  das  intuitive  Wissen,  das  von  der  adäquaten,  unmittelbar  evidenten  Er- 
kenntnis der  Attribute  Gottes  zm*  Erkenntnis  des  Wesens  der  Dinge  fort- 
schreitet.    Vergleiche  Ethik  Buch  II,  Erläuterung  II  zu  Lehrsatz  XL. 

118 12  f.  Die  höchste  Befriedigung,  die  der  Mensch  in  sich  selbst  finden  kann, 
ist  die  Freude,  wenn  er  in  sich  die  Macht  zu  handeln,  nicht  zu  leiden,  nicht 
durch  etwas  eingeschränkt  zu  werden  besitzt  (siehe  Anmerkung  112  4).  Sie 
entspringt  aus  der  dritten  Art  der  Erkenntnis,  aus  der  Betrachtung  der  Dinge 
vom  Standpunkt  der  Ewigkeit,  aus  dem  Bewußtsein,  daß  wir  in  Gott  sind. 
Diese  dritte  Art  der  Erkenntnis  stammt  nur  aus  dem  ewigen  Geiste  Gottes; 
der  intuitiv  erkennende  Mensch  weiß,  daß  Gott  die  Ursache  seiner  höchsten 
Freude  ist;  weiß  er  das,  so  liebt  er  Gott  als  ewige  Wesenheit. 

11827.  Da  die  dritte  Art  der  Erkenntnis  ewig  ist,  so  muß,  weil  aus  einer 
gegebenen  Ursache  immer  eine  bestimmte  Folge  folgen  muß  und  die  dritte 
Art  der  Erkenntnis  Ursache  der  geistigen  Liebe  Gottes  ist,  die  geistige  Liebe 
Gottes  ewig  sein.  Axiom  3  gibt  die  Definition  der  Substanz,  vergleiche  die 
Einleitung. 

118  32.  Jede  andere  Liebe  richtet  sich  auf  eine  vergängUche  Ursache  der 
Freude,  und  schwindet  mit  ihr;  nur  die  Liebe  zu  Gott  ist  ewig,  anfangs-  und 
endlos  (siehe  Lehrsatz  XXXIV,  Folgesatz),  weil  ihre  Ursache  ewig  und  unver- 
änderUch  ist,  sie  ist  ein  ewiges  Glück,  nicht  eine  vorübergehende  Freude. 

1195.  Alle  Affekte,  denen  der  Mensch  bloß  leidend  hingegeben  ist,  ent- 
springen der  ersten  Stufe  der  Erkenntnis  (siehe  Anmerkung  1189),  aus  in- 
adäquaten Ideen,  verworrenen  Sinneseindrücken,  denen  der  Mensch  sich  nur 
sinnlich  perzipierend  ohne  Denktätigkeit  hingibt.  Da  diese  Sinneseindrücke 
durch  die  körperliche  Natur  des  Menschen  bedingt  sind,  so  schwinden  diese 
inadäquaten  Ideen  und  die  durch  sie  verursachten  Leidenschaften,  wenn  der 
Mensch  von  seiner  KörperUchkeit  erlöst  ist. 

119  37.  Siehe  Jes.  6,  3;  Ps.  8,  6,  113,  4;  Joh.  11,  40;  Rom.  3,  23;  Eph.  1, 
17,  18.  Luther  übersetzt  das,  was  S.  hier  als  Ruhm  bezeichnet,  als  Herrlich- 
keit Gottes. 

1202.    Vergleiche  zu  118  12. 

120  14.  Die  Methode,  durch  ein  deduktives  Schlußverfahren  die  Wahr- 
heiten abzuleiten,  gehört  der  zweiten  Art  der  Erkenntnis  an;  sie  ist  die  Me- 


Erläuterungen.  125 


thode,  deren  S.  sich  in  seinen  Beweisführungen  bedient  hat.  Bei  der  dritten 
Art  der  Erkenntnis  dagegen  bedarf  es  keines  Schlußverfahrens;  wer  das 
intuitive  Wissen  hat,  erkennt  unmittelbar,  wie  das  Wesen  jedes  Dinges  in 
Gott  ruht.  S.  selbst  hat,  wie  er  sagt,  nur  sehr  wenig  auf  diese  Art  eingesehen. 
120  26.  Die  mitgeteilten  Stücke  haben  wohl  deutlich  gezeigt,  wie  es  auf  der 
einen  Seite  S.s  Bestreben  ist,  nach  strenger  logischer  Methode  das  Wesen  Gottes 
und  der  Natur  gedankenmäßig  zu  erfassen,  wie  er  aber  anderseits  dies  unendliche 
Wesen  in  der  intellektuellen  Liebe  gefühlsmäßig  in  sich  aufnehmen  will.  Alles 
ist  in  Gott  und  Gott  ist  in  allem,  das  ist  seine  pantheistische  Weltansicht,  und 
dieses  unendliche  Allwesen  liebt  der  Weise  mit  einer  unendlichen  ewigen  Liebe, 
die  sich  doch  wieder  zum  Urgründe  alles  Seins  zurückwendet  und  aus  ihm 
entspringt.  Der  kalte  Gedankenbau  wird  durchglüht  von  wärmender  gött- 
licher Liebe,   das  konsequenteste  Verstandessystem  endigt  im  Mystizismus. 

M  e  n  z  e  r. 


XL 

Locke. 

Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren. 

§  1.  Der  Nachweis  des  Weges,  auf  dem  wir  zu 
irgendwelchem  Wissen  gelangen,  genügt,  um  dar- 
zutun, daß  es  nicht  angeboren  ist.  —  Bei  manchen 
Leuten  steht  die  Ansicht  fest,  daß  der  Verstand  gewisse  ihm  angeborene 
Grundbegriffe  enthalte,  gewisse  ursprüngliche  Vorstellungen,  xoival  5 
svvotai,  dem  menschUchen  Bewußtsein  gleichsam  aufgeprägte  Schrift- 
züge, die  die  Seele  bei  ihrem  Eintritt  in  das  Dasein  empfange  und  mit 
sich  in  die  Welt  bringe.  Um  vorurteilsfreie  Leser  von  der  Unrichtigkeit 
dieser  Annahme  zu  überzeugen,  würde  es  genügen,  wenn  ich  nur  zeigte, 
wie  die  Menschen  bloß  durch  den  Gebrauch  ihrer  natürlichen  Fähigkeiten  10 
alles  Wissen,  das  sie  besitzen,  ohne  Beihilfe  irgendwelcher  angeborenen 
Eindrücke  erwerben  und  ohne  solche  ursprünglichen  Vorstellungen  oder 
Grundbegriffe  zur  Gewißheit  gelangen  können.  Denn  ich  denke,  jeder- 
mann wird  leicht  zugeben,  daß  es  ungereimt  sein  würde,  die  Ideen 
der  Farben  bei  einem  Geschöpfe  für  angeboren  zu  halten,  dem  Gott  15 
das  Gesicht  und  die  Kraft  gegeben  hat,  sie  vermittels  der  Augen  von 
äußeren  Gegenständen  zu  empfangen;  und  nicht  weniger  unvernünftig 
wäre  es,  einige  Wahrheiten  natürlichen  Eindrücken  und  angeborenen 
Schriftzügen  zuzuschreiben,  wenn  wir  Fähigkeiten  in  uns  wahrnehmen 
können,  die  uns  in  den  Stand  setzen,  sie  mit  ebenso  großer  Leichtig-  20 
keit  und  Sicherheit  zu  erkennen,  als  wenn  sie  dem  Geiste  ursprünglich 
eingeprägt  wären. 

Weil  es  aber  niemand  ohne  Tadel  gestattet  ist,  bei  der  Erforschung 
der  Wahrheit  seinen  eigenen  Gedanken  zu  folgen,  wenn  sie  ihn  auch  nur 
ein  wenig  von  der  gemeinen  Heerstraße  ableiten,  so  werde  ich  die  Gründe,  25 
die  mich  an  der  Wahrheit  jener  Meinung  zweifeln  heßen,  zur  Entschuldi- 
gung meines  Irrtums  auseinandersetzen  für  den  Fall,  daß  ich  mich  in 
einem  solchen  befinde.     Das  Urteil  darüber  überlasse  ich  denen,  die 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegrijßfe  angeboren.  127 

gleich  mir  entsclilossen  sind,  sich  die  Wahrheit  anzueignen,  wo  immer 
sie  sie  finden. 

§  2.  Die  allgemeine  Zustimmung  als  Hauptargu- 
ment.    Nichts  wird  allgemeiner  als  zugestanden  angesehen,  als  daß 

5  es  gewisse  Grundsätze  gebe,  sowohl  theoretische  wie  praktische,  denen 
die  ganze  Menschheit  stets  und  überall  zustimme;  diese  müßten  des- 
halb —  so  folgert  man  —  notwendigerweise  dauernde  Eindrücke  sein, 
die  die  Seelen  der  Menschen  bei  ihrem  ersten  Eintritt  in  das  Dasein  emp- 
fingen, und  die  sie  ebenso  notwendig  und  tatsächhch  mit  sich  in  die 

10   Welt  brächten,  wie  irgend  eine  der  ihnen  innewohnenden  Fähigkeiten. 

§  3.    Die  allgemeine  Zustimmung  beweist  nicht 

das    Angeborensein.      Dies  von  der  allgemeinen  Zustimmung 

abgeleitete  Argument  ist  ein  unglückliches  zu  nennen,  weil,  wenn  es 

wirkhch   gewisse,    von   allen   Menschen   anerkannte   Wahrheiten   gebe, 

15   darin  noch  kein  Beweis  für  ihr  Angeborensein  Hegen  würde;  denn  es 

heße  sich  vielleicht  irgendwelche  andere  Weise  zeigen,  wie  die  Menschen 

zu  jener  allgemeinen  Übereinstimmung  in  den  Sachen,  worüber  sie  einer 

Meinung  sind,  kommen  können;  und  ich  denke,  das  läßt  sich  tun. 

§4.     Den    Sätzen:    „was    ist,    das    ist",    und:    „kein 

20  Ding  kann  zugleich  sein  und  nicht  sein",  wird 
nicht  allgemein  zugestimmt.  —  Was  aber  noch  schUmmer 
ist:  dieses  Argument  von  der  allgemeinen  Zustimmung,  dessen  man 
sich  bedient,  um  die  Existenz  angeborener  Grundsätze  zu  beweisen, 
scheint  mir  vielmehr  zu  zeigen,  daß  es  solche  nicht  gibt,  weil  es  keine 

25  gibt,  denen  die  ganze  Menschheit  stets  und  überall  beistimmte.  Ich 
werde  mit  den  spekulativen  beginnen,  und  als  Beispiel  die  gepriesenen 
Grundlagen  des  Beweisens:  .,was  ist,  das  ist",  und:  „kein  Ding  kann 
zugleich  sein  und  nicht  sein",  benutzen,  die,  wie  ich  glaube,  unter  allen 
anderen   den   am   meisten   anerkannten   Anspruch   auf   Angeborensein 

30  haben.  Ihr  Ruf  als  allgemein  angenommene  Axiome  steht  so  fest,  daß 
es  sicherHch  für  seltsam  gelten  wird,  wenn  irgend  jemand  daran  zu 
zweifeln  scheint.  Dennoch  nehme  ich  mir  die  Freiheit  zu  sagen,  daß 
diese  Sätze  so  weit  davon  entfernt  sind,  allgemeine  Zustimmung  zu 
finden,  daß  sie  einem  großen  Teil  der  Menschheit  überhaupt  nicht  be- 

35   kannt  sind. 

§5.  Sie  sind  dem  Geiste  nicht  von  Natur  ein- 
geprägt, weil  sie  den  Kindern,  Idioten  u.  s.  w. 
nicht  bekannt  sind.  —  Denn  erstens  hegt  es  auf  der  Hand, 
daß  alle  Kinder  und  Idioten  nicht  den  geringsten  Begriff  oder  Gedanken 

40  von  ihnen  haben,  und  dieser  Mangel  genügt,  um  die  allgemeine  Zustim- 
mung zu  vernichten,  die  notwendig  der  unausbleibliche  Begleiter  aller 


128  Locke. 

angeborenen  Wahrheiten  sein  muß;  denn  es  scheint  mir  fast  ein  Wider- 
spruch darin  zu  liegen,  wenn  man  sagen  wollte,  es  gebe  der  Seele  ein- 
geprägte Wahrheiten,  die  sie  nicht  bemerke  oder  verstehe,  da  das  Ein- 
prägen, wenn  es  überhaupt  einen  Sinn  hat,  nur  darin  bestehen  kann, 
daß  die  Erkenntnis  gewisser  Wahrheiten  bewirkt  wird.  Denn  daß  dem  5 
Geiste  etwas  eingeprägt  werde,  ohne  daß  es  ihm  zum  Bewußtsein  käme, 
scheint  mir  kaum  verständHch  zu  sein.  Wenn  deshalb  Kinder  und 
Idioten  Seelen  haben,  oder  einen  Geist  besitzen,  die  mit  solchen  Ein- 
drücken versehen  sind,  so  müssen  sie  diese  unausbleibUch  bemerken, 
sie  müssen  diese  Wahrheiten  notwendig  erkennen  und  ihnen  beipflichten,  lo 
und  da  sie  das  nicht  tun,  gibt  es  augenscheinhch  solche  Eindrücke  nicht. 
Denn  wenn  es  keine  von  Natur  eingeprägte  Vorstellungen  sind,  wie 
können  sie  dann  angeboren  sein?  und,  wenn  es  eingeprägte  Vorstellungen 
sind,  w^ie  können  sie  dann  unbekannt  sein?  Sagen,  daß  eine  Vorstellung 
dem  Geiste  eingeprägt  sei,  und  doch  zugleich  behaupten,  daß  der  Geist  i5 
kein  Bewußtsein  von  ihr  habe  und  sie  noch  niemals  beachtete,  heißt, 
ihre  Einprägung  zu  nichte  machen.  Von  einem  Satze,  der  dem  Geiste  noch 
niemals  bekannt  gewesen  ist,  dessen  er  sich  noch  niemals  bewußt  ge- 
worden, kann  man  nicht  sagen,  daß  er  in  ihm  enthalten  sei.  Wäre  dies 
bei  einem  zulässig,  so  darf  man  aus  demselben  Grunde  von  allen  20 
wahren  Sätzen,  denen  der  Geist  jemals  zustimmen  mag,  behaupten, 
sie  seien  in  ihm  enthalten  und  ihm  eingeprägt.  Wenn  sich  von  irgend 
einem  sagen  läßt,  er  sei  in  ihm  enthalten,  so  kann  dies  nur  deshalb 
gestattet  sein,  weil  der  Geist  fähig  ist,  ihn  kennen  zu  lernen,  und  dies 
von  allen  Wahrheiten  gilt,  die  er  jemals  einsehen  wird.  Ja,  auf  die  25 
Art  können  dem  Geiste  Wahrheiten  eingeprägt  sein,  die  er  niemals 
gewußt  hat,  noch  jemals  wissen  wird;  denn  es  kann  jemand  lange  in 
der  Unkenntnis  mancher  Wahrheiten  leben  und  endhch  darin  sterben, 
zu  deren  Erkenntnis,  und  zwar  mit  Sicherheit,  sein  Geist  befähigt  war. 
So  daß,  wenn  die  behauptete  ursprünghche  Einprägung  in  der  Möglich-  30 
keit  Wissen  zu  erwerben  besteht,  alle  Wahrheiten,  zu  deren  Erkenntnis 
einer  jemals  gelangt,  aus  diesem  Grunde  Stück  für  Stück  angeboren 
sein  werden;  und  dieser  Hauptpunkt  wird  auf  nichts  mehr  als  eine 
recht  unpassende  Ausdrucksweise  hinauslaufen,  die,  während  sie  das 
Gegenteil  zu  behaupten  vorgibt,  nur  dasselbe  sagt,  wie  die,  welche  an-  35 
geborene  Grundbegriffe  leugnen.  Denn  niemand  hat,  meine  ich,  jemals 
geleugnet,  daß  der  Geist  fähig  sei,  manche  Wahrheiten  zu  erkennen. 
Die  Fähigkeit,  heißt  es,  ist  angeboren,  das  Wissen  ist  erworben.  Wozu 
dann  aber  dieser  Kampf  für  gewisse  angeborene  Grundsätze?  Wenn 
Wahrheiten  dem  Verstände  eingeprägt  sein  können,  ohne  daß  sie  be-  40 
merkt  werden,  so  sehe  ich  nicht  ein,  daß  zwischen  den  Wahrheiten,  zu 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren.  129 

deren  Erkenntnis  der  Geist  fähig  ist,  hinsichtlich  ihres  Ursprungs  irgend 
ein  Unterschied  bestehen  könnte;  sie  müssen  alle  angeboren,  oder  alle 
erworben  sein;  vergeblich  würde  man  versuchen,  hier  einen  Unterschied 
zu  machen.     Wer  von  angeborenen   Gedanken  im  Verstände  spricht, 

5  kann  deshalb  (wenn  er  darunter  eine  besondere  Art  von  Wahrheiten 
versteht)  nicht  meinen,  daß  der  Verstand  solche  Wahrheiten  enthalte, 
die  er  noch  niemals  erfaßt  hat,  und  die  ihm  noch  völlig  unbekannt 
sind.  Denn,  wenn  diese  Worte  (im  Verstände  enthalten  sein)  irgendwie 
zutreffend  sind,   so  bedeuten  sie  „verstanden  werden",  so  daß  „im  Ver- 

10  stände  enthalten  sein  und  nicht  verstanden  werden",  „im  Geiste  ent- 
halten sein  und  niemals  bemerkt  werden",  ganz  dasselbe  ist,  als  wenn 
jemand  sagte,  etwas  sei  und  sei  zugleich  nicht  im  Geiste  oder  Verstände. 
Wenn  also  diese  beiden  Sätze:  „was  ist,  das  ist",  und:  „kein  Ding  kann 
zugleich  sein  und  nicht  sein",  uns  von  Natur  eingeprägt  sind,  so  können 

15  sie  den  Kindern  nicht  unbekannt  sein.  Kleine  Kinder  und  alle  beseelten 
Wesen  müssen  sie  notwendig  in  ihrem  Verstände  haben,  ihre  Wahrheit 
einsehen  und  ihnen  beipflichten. 

§6.    Erwiderung  darauf,    daß   sie  den  Menschen 
bewußt    werden,    sobald    sie    zum    Gebrauch    ihrer 

20   Vernunft    gelangen.  —  Um  dieser  Folgerung  zu  entgehen,  er- 
\vidert  man  gewöhnhch,  daß  alle  Menschen  sie  einsehen  und  ihnen  bei- 
pflichten, sobald  sie  zum  Gebrauch  ihrer  Vernunft  kommen,  und  daß 
dies  genüge,  um  ihr  Angeborensein  zu  beweisen.    Darauf  entgegne  ich: 
§  7.     Zweifelhafte  Ausdrücke,  die  kaum  irgendwelchen  Sinn  haben, 

25  gelten  für  klare  Gründe  bei  denen,  die  voreingenommen  sind  und  sich 
deshalb  nicht  die  Mühe  geben,  auch  nur  das  zu  prüfen,  was  sie  selbst 
sagen.  Denn  damit  diese  Antwort  sich  mit  irgend  einem  erträghchen 
Sinn  auf  unser  gegenwärtiges  Thema  anwenden  lasse,  muß  sie  entweder 
bedeuten:    daß,  sobald  die  Menschen  zum  Gebrauch  ihrer  Vernunft  ge- 

30   langen,  jene  vermeintlich  angeborenen  Inschriften  ihnen  bekannt  U4d 
von  ihnen  wahrgenommen  werden,  oder  aber,  daß  der  Gebrauch  und 
die  Übung  der  Vernunft  den  Menschen  bei  der  Entdeckung  jener  Grund- 
sätze behilflich  sind  und  die  gewisse  Kenntnis  derselben  übermittelt. 
§  8.    Wenn  die  Vernunft  sie  entdeckte,  so  würde 

35  dadurch  ihrxA.ngeborensein  nicht  bewiesen.  —  Wenn 
man  glaubt,  daß  die  Menschen  jene  Grundsätze  durch  den  Gebrauch 
ihrer  Vernunft  entdecken  können,  und  daß  dies  genüge,  um  ihr  An- 
geborensein zu  beweisen,  so  Hegt  darin  folgende  Schlußfolgerung: 
daß  alle  Wahrheiten,  die  die  Vernunft  mit  Gewißheit  offenbaren,  und 

40   wofür  sie  unsere  feste  Zustimmung  gewinnen  kann,  dem   Geiste  von 
Natur  eingeprägt  seien,  da  die  allgemeine  Zustimmung,  die  als  Kenn- 
D  es  soir-Menz  er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  9 


130  Locke. 

zeichen  dienen  soll,  auf  nicht  mehr  als  darauf  hinausläuft,  daß  wir  im 
Stande  sind,  durch  den  Gebrauch  der  Vernunft  zu  ihrer  sicheren  Kennt- 
nis zu  gelangen  und  ihnen  beizupflichten;  und  danach  gibt  es  keinen 
Unterschied  zwischen  den  Axiomen  der  Mathematiker  und  den  daraus 
von  ihnen  abgeleiteten  Lehrsätzen;  alle  müssen  gleichermaßen  für  5 
angeboren  gelten,  weil  alle  mit  Hilfe  der  Vernunft  entdeckt  worden 
sind,  und  ihre  Wahrheit  von  einem  vernünftigen  Geschöpfe  sicher  er- 
kannt werden  kann,  wenn  es  sein  Denkvermögen  auf  diesen  Gegenstand 
recht  anwendet. 

§9.     Daß    die    Vernunft    sie    entdecke,    ist    nicht   lo 
wahr.  —  Aber  wie  kann  man  glauben,  daß  der  Gebrauch  der  Vernunft 
zur  Entdeckung  von  Grundsätzen  nötig  sei,  die  für  angeboren  gelten, 
wenn  die  Vernunft  (wie  man  uns  lehrt)  nur  das  Vermögen  ist,  unbekannte 
Wahrheiten  aus  schon  bekannten   Grundbegriffen  oder   Sätzen  abzu- 
leiten.   Das,  zu  dessen  Entdeckung  wir  die  Vernunft  nötig  haben,  kann   i5 
sicherhch  niemals  für  angeboren  gelten;  sonst  werden  uns,  wie  gesagt, 
alle  sicheren  Wahrheiten,  die  wir  jemals  durch  die  Vernunft  kennen 
lernen,  dafür  gelten  müssen.    Wir  könnten  ebensogut  den  Gebrauch  der 
Vernunft  für  erforderlich  halten,  damit  unsere  Augen  sichtbare  Gegen- 
stände  wahrnehmen,    als   daß    die   Vernunft   oder   deren   Anwendung   20 
nötig  sein  sollten,  damit  der  Verstand  etwas  gewahr  werde,  was  ihm 
ursprünglich  eingeprägt  ist  und  nicht  früher  im  Verstände  enthalten 
sein  kann,  bevor  es  von  ihm  aufgefaßt  wird.     Läßt  man  demnach  die 
Vernunft  jene  so  eingeprägten  Wahrheiten  entdecken,  dann  sagt  man, 
durch  den  Gebrauch  der  Vernunft  werde  jemand  etwas  offenbar,  was   25 
er  schon  vorher  wußte;    und  wenn  die  Menschen  jene  bei  der  Geburt 
ihnen  eingeprägten  Wahrheiten  ursprünglich  und  vor  dem  Vernunft- 
gebrauch besitzen,  sich  aber  doch  in  beständiger  Unkenntnis  derselben 
befinden,  bis  sie  zum  Gebrauch  ihrer  Vernunft  gelangen,  so  heißt  das 
wirklich  nichts  anderes,  als  daß  sie  dieselben  zu  gleicher  Zeit  wissen  und   so 
nicht  wissen. 

§12.  Die  Zeit,  wo  wir  zum  Gebrauch  der  Ver- 
nunft gelangen,  ist  nicht  die  der  Erkenntnis 
jener  Axiome.  —  Wenn  mit  der  Behauptung,  daß  wir  sie  erkennen 
und  ihnen  beipflichten,  sobald  wir  zum  Gebrauch  der  Vernunft  gelangen,  35 
gemeint  ist,  daß  dies  der  Zeitpunkt  sei,  zu  welchem  wir  uns  ihrer  be- 
wußt werden,  und  daß,  sobald  die  Kinder  zum  Gebrauch  der  Vernunft 
gelangen,  sie  auch  dazu  kommen,  jene  Axiome  zu  erkennen  und  ihnen 
beizupflichten,  so  ist  auch  das  falsch  und  gedankenlos.  Erstens  ist 
es  darum  falsch,  weil  ein  Bewußtsein  dieser  Axiome  offenbar  nicht  so   4o 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren.  131 

früh  eintritt,  wie  der  Gebrauch  der  Vernunft,  und  deshalb  der  Beginn 
des  Vernunftgebrauchs  mit  Unrecht  als  die  Zeit  ihrer  Entdeckung  be- 
zeichnet wird.  Wie  viele  Beispiele  des  Vernunftgebrauchs  können  wir 
nicht  bei  Kindern  beobachten,  lange  Zeit  bevor  sie  irgendwelche  Kennt- 
5  nis  des  Axioms  haben:  ,,kein  Ding  kann  zugleich  sein  und  nicht  sein!" 
Und  ein  großer  Teil  der  ungebildeten  Leute  und  der  Wilden  verbringt 
viele  Jahre  auch  ihres  vernünftigen  Alters,  ohne  jemals  diese  oder  ähn- 
liche allgemeine  Sätze  zu  denken.  Ich  räume  ein,  daß  die  Menschen  zur 
Erkenntnis  dieser  allgemeinen  und  mehr  abstrakten  Wahrheiten,   die 

10  man  für  angeboren  hält,  nicht  eher  gelangen,  als  bis  sie  ihre  Vernunft 
gebrauchen  lernen,  und  füge  hinzu:  auch  dann  noch  nicht.  Das  verhält 
sich  so,  weil  erst  nach  dem  Eintritt  des  Vernunftgebrauchs  im  Geiste 
sich  die  allgemeinen  abstrakten  Ideen  bilden,  worauf  jene  allgemeinen 
Axiome  sich  beziehen,  die  man  irrtümUch  für  angeborene  Grundsätze 

15  hält,  während  sie  in  der  Tat  Entdeckungen  sind,  die  ebenso  gemacht, 
und  Wahrheiten,  die  ebenso  in  das  Bewußtsein  eingeführt  und  gebracht 
und  durch  dieselben  Schritte  gefunden  werden,  wie  manche  andere 
Sätze,  die  für  angeboren  zu  halten  noch  niemand  eingefallen  ist. 

Ich  räume  demnach  die  Notwendigkeit  ein,  daß  die  Menschen  zum 
20    Gebrauch  der  Vernunft  kommen  müssen,  bevor  sie  sich  jener  allgemeinen 
Wahrheiten  bewußt  werden,  leugne  aber,  daß  der  Beginn  des  Vernunft- 
gebrauchs bei  den  Menschen  der  Zeitpunkt  ihrer  Entdeckung  sei. 

§  14.    Wenn   der   Beginn   des   Vernunftgebrauchs 
der   Zeitpunkt   ihrer   Entdeckung   wäre,   so   würde 

25   dadurch   nicht  ihr   Angeborensein   erwiesen.  —  Ich 
stimme  also  mit  den  Verteidigern  der  angeborenen  Grundsätze  darin 
überein,  daß  jene  allgemeinen  und  von  selbst  einleuchtenden  Axiome 
dem  Geiste  nicht  bewußt  werden,  bevor  er  zum  Vernunftgebrauch  ge-, 
langt;    ich  leugne  aber,  daß  der  Beginn  des  Vernunftgebrauches  genau 

30  der  Zeitpunkt  ist,  wann  sie  zuerst  erkannt  werden,  und  wäre  er  der  genaue 
Zeitpunkt  dafür,  so  leugne  ich,  daß  sie  dadurch  als  angeboren  erwiesen 
würden.  Alles,  was  unter  dem  Satze,  daß  die  Menschen  ihnen  beipflichten, 
wenn  sie  zum  Vernunftgebrauch  kommen,  irgendwie  in  Wahrheit  ge- 
meint sein  kann,  ist  nur,  daß,  weil  die  Bildung  allgemeiner  abstrakter 

35  Ideen  und  das  Verständnis  allgemeiner  Namen  die  Fähigkeit  zum  ver- 
nünftigen Denken  begleiten  und  mit  ihr  sich  entwickeln,  die  Kinder 
gewöhnhch  jene  allgemeinen  Ideen  nicht  erfassen,  und  deren  Namen 
nicht  erlernen,  bevor  sie  ihre  Vernunft  eine  Zeitlang  an  alltäghchen 
und  einzelnen  besonderen  Ideen  geübt  haben,  und  dann  in  ihrer  richtigen 


132  Locke. 

Art  mit  anderen  zu  reden  und  zu  verkehren  für  befähigt  zu  einer  ver- 
nünftigen Unterhaltung  gelten.  Wenn  es  auf  irgendwelche  andere  Art 
wahr  sein  kann,  daß  die  Menschen  den  Axiomen  beipflichten,  sobald  sie 
zum  Vernunftgebrauch  gelangt  sind,  so  möge  man  mir  das  nachweisen, 
oder  wenigstens,  wie  dadurch  in  diesem  oder  irgend  einem  anderen  Sinne  5 
ihr  Angeborensein  bewiesen  wird. 

§  15.  Durch  welche  Schritte  der  Geist  zu  mannig- 
facher Erkenntnis  gelangt.  —  Zuerst  lassen  die  Sinne 
einzelne  besondere  Ideen  ein  und  statten  damit  das  noch  leere  Ge- 
mach aus,  und  wenn  der  Verstand  nach  und  nach  mit  manchen  von  lo 
ihnen  vertraut  geworden,  dann  werden  sie  in  dem  Gedächtnis  unter- 
gebracht und  mit  Namen  versehen.  Hernach  abstrahiert  der  Verstand 
in  weiterem  Fortschritt  aus  ihnen  Begriffe  und  lernt  allmählich  den 
Gebrauch  allgemeiner  Namen.  Auf  diese  Art  wird  der  Geist  mit  Ideen 
und  Sprache  ausgestattet,  den  Materialien,  woran  er  sein  Denkvermögen  is 
üben  kann,  und  der  Vernunftgebrauch  wird  täglich  umso  sichtbarer, 
je  mehr  diese  Materiahen,  die  ihm  Beschäftigung  geben,  sich  anhäufen. 
Obgleich  aber  der  Besitz  allgemeiner  Ideen  und  der  Gebrauch  all- 
gemeiner Wörter  und  der  Vernunft  gewöhnlich  miteinander  wachsen, 
so  sehe  ich  nicht  ein,  inwiefern  dies  irgendwie  ihr  Angeborensein  be-  20 
weist.  Ich  gebe  zu,  daß  die  Kenntnis  gewisser  Wahrheiten  sich  sehr 
früh  im  Geiste  findet,  aber  in  einer  Weise,  die  zeigt,  daß  sie  nicht  ange- 
boren sind.  Denn  wenn  wir  genau  zusehen,  so  werden  wir  immer  finden, 
daß  jene  Kenntnis  nicht  angeborene,  sondern  erworbene  Ideen  betrifft, 
und  zwar  zuerst  solche,  die  von  äußeren  Dingen  herrühren,  mit  denen  Kin-  25 
der  am  frühesten  zu  tun  haben  und  die  am  häufigsten  Eindruck  auf  ihre 
Sinne  machen.  An  den  so  erworbenen  Ideen  entdeckt  der  Geist,  daß 
einige  übereinstimmen  und  andere  sich  unterscheiden,  vermuthch,  sobald 
er  zu  irgendwelchem  Gebrauche  des  Gedächtnisses  gelangt  und  fähig 
ist,  bestimmte  Ideen  zu  behalten  und  wahrzunehmen.  Mag  es  aber  30 
alsdann  geschehen,  oder  nicht,  so  viel  ist  gewiß,  er  tut  das  viel  früher, 
als  er  Worte  gebrauchen  lernt,  oder  zu  dem  gelangt,  was  man  gewöhn- 
lich Vernunftgebrauch  nennt.  Denn  ein  Kind  kennt,  bevor  es  sprechen 
kann,  ebenso  gewiß  den  Unterschied  zwischen  den  Ideen  von  süß  und 
bitter  (das  heißt,  daß  süß  nicht  bitter  ist),  wie  es  nachher  (wenn  es  35 
sprechen  gelernt  hat),  weiß,  daß  Wermut  und  Zuckerkörner  nicht  das- 
selbe Ding  sind.  1 

§  16.     Ein  Kind  weiß  nicht,  daß  drei  und  vier  gleich  sieben  sind, 
bevor  es  bis  sieben  zählen  kann  und  den  Namen  wie  die  Idee  der  Gleich- 
heit gewonnen  hat,  und  dann  pflichtet  es  der  Wahrheit  jenes  Satzes  bei,   40 
oder  vielmehr  es  erkennt  sie,  nachdem  ihm  jene  Worte  erklärt  worden 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren.  133 

sind.  Aber  es  gibt  dann  weder  seine  Zustimmung  deshalb  bereitwillig, 
weil  er  eine  angeborene  Wahrheit  ist,  noch  auch  fehlte  dies  bis  dahin, 
weil  ihm  der  Vernunftgebrauch  mangelte,  vielmehr  leuchtet  ihm  die 
Wahrheit  des  Satzes  ein,  sobald  es  die  mit  jenen  Namen  bezeichneten 
ä  Ideen  klar  und  deuthch  in  sein  Bewußtsein  aufgenommen  hat,  und  dann 
erkennt  es  die  Wahrheit  jenes  Satzes  aus  denselben  Gründen  und  durch 
dieselben  Mittel,  vermöge  welcher  es  früher  wußte,  daß  eine  Rute  und 
eine  Kirsche  nicht  dasselbe  Ding  sind,  und  auch  aus  denselben  Gründen, 
woher  ihm  später  bekannt  werden  mag,  daß  .,  kein  Ding  zugleich  sein 

10  und  nicht  sein  kann",  wie  weiterhin  näher  gezeigt  werden  soll.  Je  später 
demnach  jemand  dazu  kommt,  die  allgemeinen  Ideen  aufzufassen,  w^omit 
jene  Axiome  sich  beschäftigen,  oder  die  Bedeutung  der  allgemeinen 
Ausdrücke  zu  verstehen,  die  sie  bezeichnen,  oder  die  von  diesen  Aus- 
drücken vertretenen  Ideen  in  seinem  Geiste  zusammenzufügen,  umso 

15  später  wird  er  auch  dazu  gelangen,  den  Axiomen  beizupflichten;  denn 
da  deren  Ausdrücke  nebst  den  Ideen,  die  sie  bezeichnen,  nicht  mehr 
angeboren  sind  als  die  einer  Katze  oder  eines  Wiesels,  so  muß  er  warten, 
bis  die  Zeit  und  die  Beobachtung  ihn  damit  bekannt  gemacht  haben, 
und  dann  wird  er  im  stände  sein,  die  Wahrheit  jener  Axiome  bei  der 

20  ersten  Gelegenheit  zu  erkennen,  die  ihn  veranlaßt,  jene  Ideen  in  seinem 
Bewußtsein  nebeneinander  zu  stellen  und  zu  beachten,  ob  sie  über- 
einstimmen oder  verschieden  sind,  je  nachdem  das  eine  oder  das  andere 
in  den  fraghchen  Sätzen  ausgesprochen  ist.  Deshalb  ist  es  für  einen 
Mann  ebenso  von  selbst  einleuchtend,  daß  achtzehn  und  neunzehn  zu- 

25   sammen  gleich  siebenunddreißig  sind,  wie  daß  eins  und  zwei  gleich  drei 
sind,  während  ein  Kind  das  eine  nicht  so  früh  wie  das  andere  erkennt, 
nicht  weil  ihm  der  Vernunftgebrauch  fehlte,   sondern  weil  die  mit  den 
Wörtern  achtzehn,  neunzehn  und  siebenunddreißig  bezeichneten  Ideen 
nicht  so  früh  erworben  werden  ,  wie  die  mit  eins,  zwei  und  drei  be- 

30    zeichneten.  v 

§  17.  Daß  ein  Satz  Zustimmung  findet,  sobald  er  vor- 
getragen undverstanden  ist,  beweist  nicht,  daß  er  eine 
angeborene  Wahrheit  enthält.  —  Da  also,  wie  wir  gesehen 
haben,  die  Ausflucht  mit  der  allgemeinen  Zustimmung  der  Menschen, 

35  wenn  sie  zum  Vernunftgebrauch  gelangen,  fehlschlägt,  und  zwischen  den 
vermeintlich  angeborenen  und  anderen  Wahrheiten,  die  später  erworben 
und  gelernt  werden,  kein  Unterschied  übrig  bleibt,  so  hat  man  versucht, 
für  die  sogenannten  Axiome  eine  allgemeine  Zustimmung  sicher  zu  stellen, 
indem  man  sagt:  ihnen  werde  allgemein  beigepflichtet,  sobald  sie  vor- 

40  getragen,  und  die  Ausdrücke,  worin  das  geschehe,  verstanden  seien. 
Da  man  sieht,  daß  alle  Menschen,  sogar  Kinder,  sobald  sie  die  Aus- 


134  Locke. 

drücke  hören  und  verstehen,  diesen  Sätzen  beipflichten,  so  denkt  man, 
das  genüge,  um  sie  als  angeboren  zu  erweisen.  Denn  weil  die  Menschen, 
nachdem  sie  einmal  die  Worte  verstanden  haben,  nie  verfehlen,  sie  als 
zweifellose  Wahrheiten  anzuerkennen,  so  schließt  man,  daß  solche  Sätze 
dem  Verstände  von  Anfang  an  sicherlich  eingepflanzt  waren,  denen  der  5 
Geist  ohne  irgendwelche  Belehrung  bei  dem  allerersten  Vortrag  ohne 
weiteres  sich  anschließt  und  zustimmt,  und  die  er  später  niemals  wieder 
bezweifelt. 

§18.    Wenn   solche  Zustimmung   ein  Zeichen   des 
Angeborenseins  wäre,   dann  müßten  auch  die  Sätze:    lo 
„eins    und   zwei    sind    gleich    drei",    „süß    ist    nicht 
bitter",   und  tausend  ähnliche    angeboren   sein.  — 
In    Erwiderung   darauf   frage   ich:    „ob  es    ein   sicheres   Kennzeichen 
eines  angeborenen  Grundsatzes  ist,  daß  er  beim  Hören  und  Verstehen 
der  Ausdrücke  sofort  Zustimmung  findet?"     Wenn  nicht,    dann   wird   is 
solch  eine  allgemeine  Zustimmung  vergebens  als  Probe   dafür  geltend 
gemacht,  sagt  man  aber,  es  sei  ein  Kennzeichen  des   Angeborenseins, 
dann  muß  man  alle  Sätze  als  angeboren  anerkennen,    die    allgemeine 
Zustimmung  finden,  sobald  jemand  sie  hört,  und  dabei  wird  man    sich 
selbst  mit  angeborenen  Grundsätzen  reichlich  versorgt   finden.     Denn   20 
aus  demselben  Grunde,  weshalb  man  will,  daß  jene  Axiome  für  angeboren 
gelten  sollen,  nämlich  wegen  der  Zustimmung,  die  sie  bei  dem  ersten 
Hören  und  Verstehen  der  Ausdrücke  finden,  muß  man  auch  eine  Reihe 
von  Sätzen  über  Zahlenverhältnisse  für  angeboren  gelten  lassen:    daß 
eins  und  zwei  gleich  drei  sind,  daß  zweimal  zwei  gleich  vier  ist,  und  eine   25 
Menge  anderer  ähnlicher  auf  Zahlen  bezüglicher  Sätze,  denen  jeder  beim 
ersten  Hören  und  Verstehen  der  Ausdrücke  beistimmt,  müssen  sonach 
unter  diesen  angeborenen  Axiomen  Platz  finden.    Auch  gilt  dies  nicht 
allein  von  den  Zahlen  und  Sätzen,  die  sich  auf  deren  Verhältnisse  be- 
ziehen, sondern  selbst  die  Naturkunde  und  alle  anderen  Wissenschaften   so 
bieten  uns  Sätze  dar,  die  sicher  Zustimmung  finden,  sobald  sie  ver- 
standen sind.     Daß  zwei  Körper  sich  nicht  in  demselben  Räume  be- 
finden können,  ist  eine  Wahrheit,  vor  deren  Annahme  sich  niemand 
länger  bedenkt  als  bei  den  Axiomen,  „daß  kein  Ding  zugleich  sein  und 
nicht  sein  kann,  daß  weiß  nicht  schwarz,  daß  ein  Viereck  kein  Kreis,   3r> 
daß  bitter  nicht  süß  ist".    Diesen  und  einer  Milhon  anderen  ebensolchen 
Sätzen,    wenigstens   so   vielen,    wie   wir   unterschiedene   Ideen   haben, 
muß  jedermann,  der  bei  gesundem  Verstände  ist,  notwendig  zustimmen, 
sobald  er  sie  hört  und  weiß,  was  die  Worte  bedeuten.    Wenn  man  der 
selbst  aufgestellten  Regel  treu  bleiben  und  die  Zustimmung  beim  ersten   40 
Hören  und  Verstehen  der  Ausdrücke  als  Kennzeichen  des  Angeboren- 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren.  135 

Seins  festhalten  will,  so  muß  man  nicht  nur  so  ^^ele  angeborene  Wahr- 
heiten zulassen,  wie  die  Menschen  unterschiedene  Ideen  haben,  sondern 
so  viele,  wie  sie  Sätze  bilden  können,  worin  unterschiedene  Ideen  von- 
einander verneint  werden.  Denn  jeder  Satz,  in  dem  zwei  Ideen  von- 
5  einander  unterschieden  werden,  wird  ebenso  gewiß  beim  ersten 
Hören  und  Verstehen  der  Ausdrücke  Zustimmung  finden,  wie  der  all- 
gemeine Satz:  „kein  Ding  kann  zugleich  sein  und  nicht  sein",  oder  der, 
welcher  diesen  begründet,  und  von  beiden  der  leichter  verständliche 
ist:    „dasselbe  ist  nicht  etwas  anderes";    und  aus  diesem  Grunde  wird 

10  man  Legionen  angeborener  Wahrheiten  allein  von  dieser  Art  haben; 
anderer  gar  nicht  zu  gedenken.  Weil  aber  kein  Satz  angeboren  sein  kann, 
wenn  nicht  die  Ideen,  die  er  betrifft,  angeboren  sind,  so  heißt  das  so 
viel,  wie  alle  unsere  Ideen  von  Farben,  Tönen,  Geschmack,  Gestalt 
u.  s.  \\\  für  angeboren  halten,  was  der  Vernunft  und  Erfahrung  so  sehr 

15  wie  nur  sonst  irgend  etwas  zuwiderlaufen  würde.  Allgemeine  und  so- 
fortige Zustimmung  nach  dem  Hören  und  Verstehen  der  xlusdrücke  ist, 
^\^e  ich  zugebe,  ein  Kennzeichen  des  von  selbst  Einleuchtenden,  aber 
weil  das  Vonselbsteinleuchten  nicht  auf  angeborenen  Eindrücken,  son- 
dern (wie  weiterhin  gezeigt  werden  wird)    auf  etwas  anderem  beruht, 

20  so  kommt  es  vielen  Sätzen  zu,  die  noch  niemand  gewagt  hat,  für  an- 
geboren auszugeben. 

§21.  Daß  diese  Axiome  mitunter  unbekannt 
bleiben,  bis  sie  mitgeteilt  w^  erden,  zeigt,  daß  sie 
nicht  angeboren     sind.  —  Aber  mr  sind   mit  der  BilHgung 

25  von  Sätzen  beim  ersten  Hören  und  Verstehen  ihrer  Worte  noch  nicht 
zu  Ende;  zunächst  müssen  wir  noch  Notiz  davon  nehmen,  daß  darin 
anstatt  eines  Kennzeichens  für  ihr  Angeborensein  vielmehr  ein  Beweis 
des  Gegenteils  liegt,  weil  es  voraussetzt,  daß  manche,  die  andere  Dinge 
verstehen  und  wissen,  dieser  Prinzipien  unkundig  bleiben,  bis  sie  ihnen 

30  vorgetragen  werden,  und  daß  jemand  von  diesen  Wahrheiten  nicht 
eher  Kenntnis  erhalten  mag,  als  er  sie  von  anderen  erfährt.  Denn  wenn 
sie  angeboren  wären,  wie  könnten  sie  es  dann  nötig  haben,  erst  vorge- 
tragen zu  werden,  um  Zustimmung  zu  finden,  da  sie  doch  infolge  einer 
natürlichen  und  ursprünglichen  Einprägung  (wenn  es  eine  solche  gäbe) 

35  schon  vorher  bekannt  sein  müßten?  Oder  prägt  ihr  Vortrag  sie  dem 
Geiste  deutlicher  ein  als  die  Natur?  Wäre  das  der  Fall,  so  würde  folgen, 
daß  jemand,  nachdem  sie  ihm  gelehrt  worden,  sie  besser  als  vorher  ver- 
stände. Und  daraus  würde  sich  ergeben,  daß  diese  Grundsätze  uns 
durch   Belehrung  von  selten  anderer  einleuchtender  gemacht  werden 

40   könnten,  als  die  Natur  sie  durch  ihre  Einprägung  gemacht  hat,  und  das 


136  Locke. 

würde  zu  der  Hochsciiätzung  der  angeborenen  Prinzipien  schlecht  passen 
und  ihnen  nur  geringes  Ansehen  verleihen,  ja  sogar  im  Gegenteil  sie 
ungeeignet  machen,  allem  unseren  anderen  Wissen  als  Grundlage  zu 
dienen,  was  sie  doch  tun  sollen.  Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  die 
Menschen  mit  vielen  dieser  von  selbst  einleuchtenden  Wahrheiten  & 
zuerst  durch  Unterricht  bekannt  werden;  es  ist  aber  klar,  daß  jeder, 
dem  dies  widerfährt,  in  sich  selber  wahrnimmt,  daß  ihm  alsdann  ein 
bisher  unbekannter  Satz  bewußt  zu  sein  anfängt,  den  er  fortan  niemals 
bezweifelt,  nicht  weil  er  ihm  angeboren  war,  sondern  weil  die  Betrach- 
tung der  Natur  der  in  seinen  Worten  enthaltenen  Dinge  ihm  nicht  er-  lo 
laubt,  anders  zu  denken,  so  oft  er  veranlaßt  wird,  ihnen  seine  Aufmerk- 
samkeit zuzuwenden.  Und  wenn  alles,  was  beim  ersten  Hören  und  Ver- 
stehen der  Ausdrücke  Zustimmung  findet,  für  einen  angeborenen  Grund- 
satz gelten  muß,  so  muß  jede  wohlbegründete  Beobachtung,  die  aus 
den  einzelnen  Fällen  zu  einer  allgemeinen  Regel  erhoben  ist,  angeboren  i5 
sein;  obgleich  es  gewiß  ist,  daß  nicht  alle,  sondern  nur  scharfsinnige 
Köpfe  zuerst  auf  solche  Beobachtungen  geraten  und  sie  auf  allgemeine 
Sätze  zurückführen,  die  ihnen  nicht  angeboren  waren,  sondern  aus 
voraufgehender  Erfahrung  und  Nachdenken  über  einzelne  Beispiele 
allmähhch  gefolgert  wurden.  Wenn  aufmerksame  Leute  diese  gebildet  20 
haben,  so  können  auch  unaufmerksame,  denen  sie  vorgetragen  werden, 
ihre  Zustimmung  nicht  versagen. 

§27.  Sie  sind  nicht  angeboren,  weil  sie  am 
wenigsten  offenbar  sind,  während  das  Angeborene 
sich  am  deutlichsten  zeigt.  —  Daß  die  allgemeinen  25 
Axiome,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  Kindern,  Idioten  und  einem  großen 
Teil  der  Menschen  unbekannt  sind,  haben  wir  schon  genügend  nach- 
gewiesen; und  daraus  erhellt,  daß  sie  weder  allgemeine  Zustimmung 
finden,  noch  auch  allgemeine  Eindrücke  sind.  Aber  es  liegt  darin  noch 
dieses  weitere  Argument  gegen  ihr  Angeborensein,  daß,  wenn  sie  natür-  so 
liehe  und  ursprüngliche  Eindrücke  wären,  ihre  Schriftzüge  sich  am 
reinsten  und  klarsten  in  den  Personen  zeigen  müßten,  bei  denen  wir 
noch  keine  Spur  von  ihnen  finden;  es  spricht  meiner  Meinung  nach 
sehr  gegen  ihr  Angeborensein,  daß  sie  denen  am  wenigsten  bekannt  sind, 
bei  welchen  sie  sich,  falls  sie  angeboren  wären,  mit  der  größten  Stärke  35 
und  Lebhaftigkeit  geltend  machen  müßten.  Denn  da  Kinder,  Idioten, 
Wilde  und  ungebildete  Leute  unter  allen  übrigen  am  wenigsten  durch 
Gewohnheiten  oder  Meinungen  verdorben  sind,  da  Unterricht  und  Er- 
ziehung ihr  natürhches  Denken  nicht  in  neue  Formen  gegossen,  und 
nicht  durch  Bedeckung  mit  fremden  und  eingelernten  Doktrinen  die   40 


Dem  Geiste  sind  keine  Grundbegriffe  angeboren.  137 

reinen  dort  von  der  Natur  geschriebenen  Schriftzüge  verwischt  haben, 
so  sollte  man  vernünftigerweise  denken,  daß  in  ihren  Geistern  die  an- 
geborenen Wahrheiten  für  jedermanns  Auge  offen  zu  Tage  hegen  würden, 
wie  das  doch  sicherhch  mit  den  Gedanken  der  Kinder  der  Fall  ist.    Es 

5  ließe  sich  wohl  erwarten,  daß  diese  Grundsätze  auch  Blödsinnigen  voll- 
kommen bekannt  sein  müßten,  weil  sie  (wie  man  annimmt)  unmittel- 
bar der  Seele  eingeprägt  sind,  also  nicht  von  der  Konstitution  oder 
den  Organen  des  Körpers  abhängig  sein  können,  w^orin  zugestandener- 
maßen der  alleinige  Unterschied  zwischen  jenen  und  anderen  Menschen 

10  hegt.  Man  sollte  nach  Maßgabe  der  Prinzipien  ihrer  Verteidiger  denken, 
daß  alle  jene  angeborenen  Lichtstrahlen  (wenn  es  solche  gäbe)  an  denen, 
die  keine  Zurückhaltung,  keine  Künste  der  Verheimlichung  kennen, 
sich  in  ihrem  vollen  Glänze  zeigen  würden,  und  daß  uns  ihre  Existenz 
daselbst  ebenso  zweifellos  werden  müßte,  wie  das  Vorhandensein  der 

15  Liebe  zum  Vergnügen  und  des  Abscheues  vor  dem  Schmerze.  Aber 
ach,  welche  allgemeinen  Axiome,  welche  universalen  Prinzipien  des 
Wissens  finden  sich  wohl  bei  Kindern,  Idioten,  Wilden  und  völhg  Un- 
gebildeten? Ihre  Begriöe  sind  wenige  und  beschränkte,  nur  von  Ob- 
jekten erborgt,  womit  sie  am  meisten  zu  tun  gehabt  haben,  und  die  auf 

20  ihre  Sinne  die  häufigsten  und  stärksten  Eindrücke  gemacht  haben. 
Ein  Kind  kennt  seine  Amme  und  seine  Wiege  und  nach  und  nach  die 
Spielsachen  für  ein  etwas  höheres  Lebensalter,  und  der  Kopf  eines  jungen 
Wilden  ist  \äelleicht,  der  Sitte  seines  Stammes  gemäß,  voll  von  Liebe 
zur  Jagd.    Wer  aber  bei  einem  unterrichteten  Kinde  oder  einem  wilden 

25  Waldbewohner  jene  abstrakten  Axiome  und  berühmten  Prinzipien  der 
Wissenschaften  erw^arten  wollte,  der  würde  sich,  fürchte  ich,  getäuscht 
finden.  Allgemeine  Sätze  dieser  Art  hört  man  selten  in  den  Hütten  der 
Indianer,  und  noch  weniger  sind  sie  in  den  Gedanken  der  Kinder  zu 
finden,  oder  irgendwie  als  Eindrücke  auf  den  Geist  eines  Blödsinnigen. 

30  Sie  sind  die  Sprache  und  die  Beschäftigung  der  Schulen  und  Akademien 
gelehrter  Nationen,  die  an  solche  Art  der  Gelehrsamkeit  und  Unter- 
haltung gewöhnt  sind,  und  wo  häufig  Disputationen  stattfinden.  Denn 
jene  Axiome  sind  für  eine  künstliche  Beweisführung  geeignet  und  nütz- 
lich zur  Überführung  des  Gegners,  während  sie  zur  Entdeckung  der 

35    Wahrheit  und  zur  Förderung  des  Wissens  nicht  viel  beitragen. 

§  28.  Im  ganzen  genommen  kann  ich  keinen  Grund  dafür  absehen, 
jene  beiden  spekulativen  Axiome  für  angeboren  zu  halten,  weil  ihnen 
nicht  allgemein  beigestimmt  wird,  und  weil  der  Beifall,  den  sie  gewöhnlich 
finden,  kein  anderer  ist  als  der,  welcher  ebenso  wie  ihnen  verschiedenen 

40  Sätzen  zu  teil  wird,  die  man  nicht  für  angeboren  gelten  läßt;  endlich, 
weil  der  Beifall,  den  sie  erhalten,  auf  andere  Weise  entsteht  und  nicht 


138  Locke. 

von  einer  natürlichen  Einprägung  herrührt.  Und  wenn  es  sich  ergibt, 
daß  diese  ersten  Prinzipien  der  Erkenntnis  und  Wissenschaft  nicht 
angeboren  sind,  dann  läßt  sich,  denke  ich,  von  keinen  anderen  speku- 
lativen Axiomen  das  mit  mehr  Recht  behaupten. 

John  Lockes  (1632 — 1704)  „Versuch  über  den  menschlichen  Verstand" 
wurde  in  den  Grundzügen  entworfen  1670.  Nach  vielfachen  Änderungen 
erschien  das  ganze  Werk  1689/90.  L.s  philosophische  Werke  sind  1854  von 
St.  John  herausgegeben  worden;  sein  „Versuch  über  den  menschlichen  Ver- 
stand" von  Fräser  1894.  Von  neuesten  Übersetzungen  dieses  Werkes  sind 
zu  nennen  die  von  v.  Kirchmann  und  die  in  Reclams  Universalbibliothek 
erschienene;  an  die  letztere  schließt  unsere  Übertragung  des  vorstehenden 
Abschnittes  sich  an.  Die  etwas  umständliche  und  weitschweifige  Darstellung 
L.s  gab  den  Grund  zu  manchen  Auslassungen.  Eine  Streitschrift  gegen 
das  Werk  L.s  verfaßte  Leibniz  1704  unter  dem  Titel:  „Nouveaux  essais  sur 
r erUendemerU  humain'';  sie  erschien  erst  nach  Leibnizens  Tode  1765.  Diese 
Streitschrift  ist  in  Dialogform  abgefaßt;  ein  Vertreter  der  Lockeschen  und 
ein  Vertreter  der  Ansicht  von  Leibniz  disputieren  miteinander.  Vergleiche 
hierüber:  Hartenstein,  Lockes  Lehre  von  der  menschlichen  Erkenntnis  in 
Vergleichung  mit  Leibniz'  Kritik.     1865. 

L.  bezeichnet  in  seiner  Einleitung  des  „Versuches  über  den  menschlichen 
Verstand"  als  Zweck  dieses  Werkes  „eine  Untersuchung  über  den  Ursprung, 
über  die  Gewißheit  und  den  Umfang  der  menschlichen  Erkenntnis,  über  die 
Gründe  und  Grade  des  Glaubens,  der  Meinung  und  der  Zustimmung".  Durch 
Zergliederung  des  Bewußtseins  in  die  einfachsten  Elemente  schafft  sich  L. 
die  Grundlage  für  die  Lösung  der  erkenntnistheoretischen  Probleme.  Sein 
Ausgangspunkt  ist  also  ein  psychologischer;  er  ist  der  Schöpfer  einer  wissen- 
schaftlich durchgeführten  Psychologie  der  Erkenntnis.  Von  dieser  Psychologie 
der  Erkenntnis  aus  sucht  er  die  Frage  nach  dem  Erkenntniswert,  nach  dem 
Wahrheitsgehalt  unserer  Bewußtseinsinhalte  zu  beantworten.  Im  ersten 
Buch  polemisiert  L.  gegen  die  Lehre  von  den  angeborenen  Ideen,  um  dann  im 
zweiten  Buch  in  positiven  Ausführungen  nachzuweisen,  woher  der  Geist 
seine  Ideen  habe. 

Eine  vortreffliche  Darstellung  der  Philosophie  L.s  findet  der  Leser  bei 
Falckenberg,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  5.  Auflage  1905,  S.  134 — 158. 
—  Vergleiche  auch  Vorländer  a.  a.  O.  II,  S.   134 — 144. 

126  5.  xoival  swoia:  {notiones  communes  bei  Cicero)  oder  Tzpokri'J^siz  sind 
„gemeinsame"  Begriffe,  die  aller  wissenschaftlichen  Untersuchung  voraus- 
gehen. Die  xotval  l'vvoiat  sind  wenigstens  bei  den  älteren  Stoikern  keine  ange- 
borenen, sondern  nur  naturgemäß  aus  den  Wahrnehmungen,  das  heißt  ohne 
absichtliche  und  methodische  Denktätigkeit  entstandene  Begriffe.  L.s  Pole- 
mik richtet  sich  einmal  gegen  englische  Denker  wie  Herbert  von  Cherbury 
(Begründer  des  Deismus,  1581 — 1648),  den  er  bei  Bekämpfung  der  an- 
geborenen  praktischen  Grundsätze   nennt,   dann  aber  auch  gegen  Descartes 


Erläuterungen.  139 


in  Bezug  auf  die  von  Locke  so  genannten  theoretischen  Sätze.  Vergleiche 
darüber  Eduard  Grimm,  Zur  Geschichte  des  Erkenntnisproblems,  Leipzig  1890, 
S.  200  ff. 

126 12.  Es  sei  darauf  hingewiesen,  daß  L.  unter  „Eindrücken"  (impressions) 
hier  etwas  anderes  versteht  als  später  Hume.  L.  hält  an  dem  ursprünglichen 
Bild  fest,  nach  dem  der  Seele  etwas  eingeprägt,  etwas  eingedrückt  wird,  was 
sie  nun  dauernd  behält.  Vergleiche  127  7.  Zur  Erläuterung  kann  auch  der 
Ausdruck  „angeborene  Schriftzüge"  dienen.     Vergleiche  126 18. 

126 19.  Unter  Idee  versteht  Locke  jeden  Denkinhalt  überhaupt.  Ver- 
gleiche Buch  II,  Kap.  8,  §  8:  „Alles,  was  der  Geist  in  sich  selber  wahr- 
nimmt, oder  was  das  unmittelbare  Objekt  der  Wahrnehmung,  des  Denkens 
oder  des  Verstandes  ist,   das  nenne  ich  Idee." 

127  ö.  Beispiele  für  theoretische  Sätze  gibt  L.  in  §  4,  auf  die  praktischen 
Prinzipien,  wie  zum  Beispiel:  „Jeder  soll  so  handeln,  wie  er  wünschen  kann, 
daß  andere  gegen  ihn  handeln",  geht  er  im  dritten  Kapitel  des  ersten  Buches  ein. 

127  19.  Über  diese  beiden  Grundgesetze  des  menschlichen  Denkens,  den 
Satz  der  Identität  und  des  Widerspruches  vergleiche  die  Anmerkung  zu  157  38. 

128  e,  L.  bestreitet  also  hier  die  MögUchkeit  eines  unbewußt  Psychischen. 
Die  moderne  Psychologie  stellt  sich  zu  dieser  Frage  anders,  wie  aus  dem  Satze 
eines  ihrer  Vertreter  hervorgeht:  „In  der  Psychologie  auf  das  Unbewußte 
verzichten  heißt  auf  die  Psychologie  verzichten"  (Lipps).  Ohne  auf  die  viel- 
erörterte Frage  einzugehen,  sei  hier  darauf  hingewiesen,  daß  für  alle,  die  die 
psychischen  Vorgänge  als  eine  besondere  Reihe  neben  den  physischen  an- 
sehen, die  Notwendigkeit  besteht,  unbewußte  psychische  Zustände  anzu- 
nehmen. Wie  wären  sonst  die  bewußten  psychischen  Vorgänge  zu  erklären, 
da  sie  aus  den  physischen  nicht  erklärt  werden  können?  Vergleiche  Th.  Lipps, 
Der  Begriff  des  Unbewußten  in  der  Psychologie,  Dritter  internationaler  Kon- 
greß für  Psychologie  1897,  S.  146—164. 

128  30  f.  Leibniz  erwidert  in  den  „Nouveaux  Essais''  auf  diese  Behaup- 
tung L.s,  daß  man  die  Vernunftwahrheiten,  das  heißt  die  ewigen  mit  absoluter 
Notwendigkeit  geltenden  Wahrheiten,  wozu  die  arithmetischen  und  geo- 
metrischen Sätze  gehören,  in  dem  Sinne  als  angeboren  betrachten  muß,  daß 
sie  virtuell,  das  heißt  der  Anlage  nach  im  menschlichen  Geist  vorhanden  sind. 
Vergleiche  Anmerkung  zu   135 15. 

132?.  In  §  15  deutet  L.  ganz  kurz  seine  eigenen  positiven  Anschauungen 
über  den  Ursprung  der  Erkenntnis  an ;  weiter  ausgeführt  hat  er  diese  Gedanken 
im  zweiten  und  im  dritten  Buch.  Der  Entwicklungsprozeß  ist  kurz  folgender: 
Zuerst  sind  Wahrnehmungen  im  Bewußtsein;  gewisse  von  diesen  Wahr- 
nehmungen werden  im  Gedächtnis  behalten,  das  heißt  sie  können  als  Vor- 
stellungen wieder  erweckt  werden,  durch  Abstraktion  werden  viele  von  diesen 
Vorstellungen  in  eine  zusammengefaßt  und  so  wird  eine  Allgemeinvorstellung 
gebildet. 

135  15.  Nach  Leibniz  sind  allerdings  die  reinen  Vorstellungen,  die  er  den 
„phantastischen  Erscheinungen  der  Sinne"  entgegensetzt,  der  Seele  bereits 
eingeprägt.     „In  diesem  Sinne  muß  man  sagen,  daß  die  ganze  Arithmetik 


140  Locke. 

und  die  ganze  Geometrie  angeboren  und  auf  eine  potentielle  Weise 
in  uns  sind,  dergestalt,  daß  man  sie,  wenn  man  aufmerksam  das  im  Geist« 
schon  Vorhandene  betrachtet  und  ordnet,  darin  auffinden  kann,  ohne  sich 
irgend  einer  durch  die  Erfahrung  oder  Überlieferung  von  einem  anderen  er- 
lernten Wahrheit  zu  bedienen."  Aber  „niemals  können  wir  abstrakte  Ge- 
danken haben,  ohne  dazu  etwas  Sinnliches  zu  bedürfen".  Dies  Sinnliche 
enthält  aber  noch  nicht  die  notwendigen  Wahrheiten,  diese  kommen  also 
erst  zu  stände  durch  Körper  und  Seele  zugleich,  zwischen  denen  vorherbestimmte 
Harmonie  herrscht.  So  können  wir  sagen,  daß  der  Geist  die  notwendigen 
Wahrheiten  aus  sich  selbst,  nämlich  insofern  er  tätig  ist,  schöpft.  Es  gibt 
nun  verschiedene  Grade  der  Schwierigkeit,  mit  der  wir  uns  bewußt  werden, 
was  in  uns  ist.  „Es  gibt  angeborene  Grundsätze,  die  allen  bekannt  und  sehr 
leicht  faßlich  sind;  es  gibt  Lehrsätze,  die  man  auch  gleich  entdeckt,  und  aus 
denen  die  natürlichen  Wissenschaften  bestehen,  welche  bei  dem  einen  aus- 
gebreiteter sind  als  bei  dem  anderen.  Endlich  können  in  einem  noch  weiteren 
Sinne,  den  anzuwenden  gut  ist,  alle  diejenigen  Wahrheiten  angeborene  ge- 
nannt werden,  die  man  aus  den  ursprünglichen  angeborenen  Erkenntnissen 
ziehen  kann,  weil  der  Geist  sie  aus  seinem  eigenen  Innern  zu  schöpfen  vermag, 
was  oft  keine  leichte  Sache  ist."  Diese  Ansicht  hängt  mit  Leibnizens  Lehre 
von  den  Monaden  überhaupt  zusammen.  Vergleiche  deshalb  Lesestück  XIII. 
Über  den  Zusammenhang  von  Kants  Lehre  vom  Apriori  mit  diesen  Theorien 
vergleiche  die  Vorbemerkung  zu  dem  ersten  Lesestück  aus  Kant. 

135  19.  Die  Evidenz  beruht  auf  dem  intuitiven  Wissen,  das  heißt  darauf, 
daß  die  Seele  den  Einklang  oder  Widerstreit  zweier  Ideen  sofort,  sobald  sie 
nur  im  Geiste  vorhanden  sind,  ohne  Dazwischenkunft  und  ohne  Hilfe  einer 
dritten  vermittelnden  Vorstellung,  ohne  jeglichen  Beweis  gewahrt. 

136  38.  Hier  klingen  Gedanken  an,  welche  L.  ausführlicher  entwickelt  hat 
in  seinen  „Gedanken  über  Erziehung",  1693  (Übersetzung  in  K.  Richters 
„Pädagogischer  Bibliothek"  1872).  Falckenberg  faßt  ihren  Gehalt  zusammen 
mit  den  Worten:  „Die  Erziehung  soll  nichts  in  den  Zögling  hineintragen, 
sondern  aUes  aus  ihm  herauslocken,  soll  ihn  leiten,  aber  nicht  meistern,  seine 
Anlagen  naturgemäß  entwickeln,  seine  Selbsttätigkeit  wecken,  nicht  ihn  zur 
Gelehrsamkeit  abrichten"  (a.  a.  O.  S.  158).  Diese  Forderung  einer  natür- 
lichen Erziehung  wurde  in  Anschluß  an  L.  dann  lauter  und  wirksamer  aus- 
gesprochen von  J.  J.  Rousseau  in  seinem  „Emile",  1762  (Übersetzung  von 
Dehnhardt  in  Reclams  Universalbibliothek).  M  e  n  z  e  r. 


XII. 

Berkeley. 

Von  den  abstrakten  Ideen. 

VI. Wer  nicht  durchaus  ein  Fremdling  in  Schriften  und 

Disputationen  der  Philosophen  ist,  muß  zugeben,  daß  kein  kleiner 
Teil  von  ihnen  sich  auf  abstrakte  Ideen  bezieht.  Man  nimmt 
an,  daß  sie  vorzugsweise  das  Objekt  der  Wissenschaften  bilden,  welche 

5  die  Namen  Logik  und  Metaphysik  tragen ,  und  überhaupt 
derjenigen,  welche  für  die  abstraktesten  und  höchsten  Lehrobjekte 
gelten.  In  ihnen  allen  wird  man  schwerUch  eine  Frage  behandelt  finden 
ohne  die  Voraussetzung,  daß  abstrakte  Ideen  im  Geiste  existieren 
und  daß  er  mit  ihnen  wohlbekannt  sei. 

10  VII.  Allseitig  wird  anerkannt,  daß  die  Eigenschaften  oder  Be- 
schaffenheiten der  Dinge  nicht  einzeln  für  sich  und  gesondert  von  allen 
anderen  in  Wirkhchkeit  existieren,  sondern  daß  jedesmal  mehrere  von 
ihnen  in  demselben  Objekt  gleichsam  miteinander  vermischt  und  ver- 
bunden sind.    Doch  man  sagt  uns,  daß  der  Geist  sich  selbst  abstrakte 

15  Ideen  bilde,  da  er  fähig  ist,  jede  Eigenschaft  einzeln  zu  betrachten, 
oder  sie  von  den  anderen  Eigenschaften,  mit  welchen  sie  vereinigt  sind, 
abzusondern.  Wenn  z.  B.  durch  den  Gesichtssinn  ein  ausgedehntes, 
farbiges  und  bewegtes  Objekt  wahrgenommen  worden  ist,  so  bildet, 
sagt  man,  der  Geist,  indem  er  diese  gemischte  oder  zusammengesetzte 

20  Idee  in  ihre  einfachen  Bestandteile  auflöst  und  einen  jeden  derselben 
für  sich  mit  Ausschluß  der  übrigen  betrachtet,  die  abstrakten  Ideen 
der  Ausdehnung,  Farbe,  Bewegung.  Nicht  als  ob  es  möghch  wäre,  daß 
Farbe  oder  Bewegung  ohne  Ausdehnung  existieren;  es  soll  nur  der 
Geist  für  sich  selbst  durch   Abstraktion   die  Idee  der  Farbe  ohne 

25  Ausdehnung  und  der  Bewegung  ohne  Farbe  und  Ausdehnung  bilden 
können. 

VIII.    Da  ferner  der  Geist  beobachtet  hat,  daß  bei  den  einzelnen 
durch  die  Sinne  wahrgenommenen  Ausdehnungen  etwas  Gleiches,  ihnen 


142  Berkeley. 

allen  Gemeinsames  ist,  und  etwas  anderes,  den  einzelnen  Ausdehnungen 
Eigentümliches,  wie  diese  oder  jene  Form  oder  Größe,  wodurch  sie  sich 
voneinander  unterscheiden :  so  betrachtet  er  das  Gemeinsame  besonders 
oder  scheidet  es  als  ein  Objekt  für  sich  ab,  und  bildet  demgemäß  eine 
sehr  abstrakte  Idee  einer  Ausdehnung,  die  weder  Linie,  noch  Fläche,   5 
noch  Körper  ist,  noch  auch  eine  bestimmte  Form  oder  Größe  hat,  sondern 
eine  von  diesem  allem  abgelöste  Idee  ist.    In  gleicher  Weise  bildet  der 
Geist,  indem  er  von  den  einzelnen  sinnlich  perzipierten  Farben  das- 
jenige wegläßt,  was  sie  voneinander  unterscheidet,    und  nur  dasjenige 
zurückbehält,  was  allen  gemeinsam  ist,  eine  Idee  von  Farbe  in  abstracto,    lo 
die  weder  rot,  noch  blau,  noch  weiß,  noch  irgend  eine  andere  bestimmte 
Farbe  ist.    In  gleicher  Art  wird  auch  die  abstrakte  Idee  der  Bewegung, 
welche    gleichmäßig    allen    einzelnen    sinnUch  wahrgenommenen    Be- 
wegungen entspricht,   dadurch  gebildet,   daß   die  Bewegung  nicht  nur 
abgesondert  von  dem  bewegten  Körper,  sondern  ebenso  auch  von  der   15 
beschriebenen  Figur  und  von  allen  besonderen  Richtungen  und   Ge- 
schwindigkeiten betrachtet  wird. 

IX.    Wie  der  Geist  sich  abstrakte  Ideen  von  Eigenschaften  oder  Be- 
schaffenheiten bildet,  so  erlangt  er  durch  denselben  Akt  der  sondernden 
Unterscheidung  oder  Vorstellungszerlegung  auch  abstrakte  Ideen  von   20 
den   mehr  zusammengesetzten  Dingen,   welche  verschiedene  zusammen 
existierende   Eigenschaften   enthalten.      Hat   zum   Beispiel   der    Geist 
beobachtet,   daß   Peter,   Jakob   und  Johann   einander   durch   gewisse, 
ihnen    allen    gemeinsam    zukommende    Beschaffenheiten    der    Gestalt 
und  anderer  Eigenschaften  gleichen,  so  läßt  er  aus  der  komplexen  oder   25 
zusammengesetzten  Idee,  die  er  von  Peter,  Jakob  und  anderen  einzelnen 
Menschen  hat,  dasjenige  weg,  was  einem  jeden  von  ihnen  eigentümlich 
ist,  behält  nur  dasjenige  zurück,  was  ihnen  allen  gemeinsam  ist,  und 
bildet  so  eine  abstrakte  Idee,   an  welcher  alle  einzelnen  gleichmäßig 
teilhaben,    indem   er  von  allen    den  Umständen  und  Unterschieden,   30 
welche  sie  zu  irgend  einer  Einzelexistenz  gestalten  können,  gänzlich  ab- 
strahiert und  dieselben  ausscheidet.   Auf  diese  Weise,  sagt  man,  erhalten 
wir  die  abstrakte  Idee  des  Menschen  oder,  wenn  wir  lieber  wollen, 
der  Menschheit  oder  der  menschlichen  Natur.    Darin  liegt  zwar  die  Idee 
der  Farbe,  da  kein  Mensch  ohne  Farbe  ist;   aber  dies  kann  weder  die   35 
weiße,  noch  die  schwarze,  noch  irgend  eine  andere  einzelne  Farbe  sein, 
weil  es  keine  einzelne  Farbe  gibt,  an  der  alle  Menschen  teilhaben.  Ebenso 
Hegt  darin  auch  die  Idee-  der  Körpergestalt,  aber  dies  ist  weder  eine 
große,  noch  eine  kleine,  noch  eine  mittlere  Gestalt,  sondern  etwas  von 
diesen  allen  Abstrahiertes.     Das  gleiche  gilt  von  allen  übrigen.     Da  es  40 
ferner  eine  große  Menge  anderer  Geschöpfe  gibt,  die  in  einigen  Teilen, 


Von  den  abstrakten  Ideen.  143 

aber  nicht  in  allen,  mit  der  abstrakten  Idee  Mensch  übereinstimmen, 
so  läßt  der  Geist  die  Teile  weg,  welche  den  Menschen  eigentümhch  sind, 
behält  nur  diejenigen,  welche  allen  lebenden  Wesen  gemeinsam  sind, 
und  bildet  so  die  Idee  des  .^anwiaV'  (tierisches  Wesen),  w^orin  nicht  nur 
5  von  allen  einzelnen  Menschen,  sondern  auch  von  allen  Vögeln,  Vier- 
füßlern, Fischen  und  Insekten  abstrahiert  wird.  Die  wesentlichen  Teile 
der  abstrakten  Idee  eines  Tieres  (animal)  sind:  Körper,  Leben,  Sinnes- 
empfindung und  freiwilUge  Bewegung.  Unter  „Körper"  wird  ver- 
standen ein  Körper  ohne  irgend  eine  besondere  Gestalt  oder  Figur,  da 

10  keine  solche  allen  Tieren  gemeinsam  ist,  ohne  Bedeckung  mit  Haaren, 
Federn  oder  Schuppen  u.  s.  w.,  aber  auch  nicht  nackt,  da  Haare,  Federn, 
Schuppen  und  Nacktheit  unterscheidende  Eigentümlichkeiten  einzelner 
Tiere  sind  und  darum  aus  der  abstrakten  Idee  wegbleiben. 
Aus  demselben  Grunde  darf  die  freiwillige  Bewegung  weder  ein  Gehen, 

15  noch  ein  Fhegen,  noch  ein  Kriechen  sein;  sie  ist  nichtsdestoweniger 
eine  Bewegung,  —  was  für  eine  Bewegung  aber,  ist  nicht  leicht  zu  be- 
greifen. 

X.    Ob  andere  diese  wunderbare  Fähigkeit  der  Ideenab  strak- 
t  i  0  n   besitzen,  können  sie  uns  am  besten  sagen ;   was  mich  betrifft,  so 

20  finde  ich  in  der  Tat  in  mir  eine  Fähigkeit,  mir  die  Ideen  der  einzelnen 
Dinge,  die  ich  wahrgenommen  habe,  vorzustellen  oder  zu  vergegen- 
wärtigen, und  dieselben  mannigfach  zusammenzusetzen  und  zu  teilen. 
Ich  kann  mir  einen  Mann  mit  zwei  Köpfen  oder  auch  die  oberen  Teile 
eines   Menschen   mit   dem   Leibe   eines   Pferdes   verbunden  vorstellen. 

25  Ich  kann  die  Hand,  das  Auge,  die  Nase,  jedes  für  sich  abstrakt  oder  ge- 
trennt von  den  übrigen  Teilen  des  Körpers  betrachten.  Was  für  eine 
Hand  oder  was  für  ein  Auge  ich  dann  auch  mir  vorstellen  mag,  so  muß 
doch  dieser  Hand  oder  diesem  Auge  irgend  eine  bestimmte  Gestalt  und 
Farbe  zukommen.    Ebenso  muß  auch  die  Idee  eines  Mannes,  die  ich  mir 

30  bilde,  entweder  die  eines  weißen  oder  eines  schwarzen  oder  eines  rot- 
häutigen, eines  gerade  oder  krumm  gewachsenen,  eines  großen  oder 
kleinen  oder  eines  Mannes  von  mittlerer  Größe  sein.  Es  ist  mir  unmög- 
lich, durch  angestrengtes  Denken  die  oben  beschriebene  abstrakte  Idee 
zu  erfassen.    Ebenso  unmöglich  ist  es  mir,  die  abstrakte  Idee  einer  Be- 

35  wegung  ohne  einen  sich  bewegenden  Körper,  die  weder  schnell  noch 
langsam,  weder  krummhnig  noch  geradlinig  ist,  zu  bilden,  und  das  gleiche 
gilt  von  jeder  anderen  abstrakten  allgemeinen  Idee.  Um  mich  genauer 
zu  erklären:  ich  finde  mich  selbst  befähigt  zur  Abstraktion  in  einem 
Sinne,  und  zwar  so,  daß  ich  gewisse  einzelne  Teile  oder  Eigenschaften 

40  gesondert  von  anderen  betrachte,  mit  denen  sie  zwar  in  irgendwelchem 
Objekt  vereinigt  sind,  ohne  die  sie  aber  in  Wirkhchkeit  existieren  können. 


144  Berkeley. 

Aber  ich  finde  mich  nicht  befähigt,  diejenigen  Eigenschaften  vonein- 
ander durch  Abstraktion  zu  trennen  oder  gesondert  zu  betrachten, 
welche  nicht  mögUcherweise  ebenso  gesondert  existieren  können;  auch 
kann  ich  nicht  einen  allgemeinen  Begriff  durch  Abstraktion  von  den 
besonderen  in  der  vorhin  bezeichneten  Weise  bilden.  In  diesen  beiden  6 
letzteren  Bedeutungen  aber  wird  eigenthch  der  Terminus  Abstrak- 
tion gebraucht.  Auch  ist  die  Annahme  nicht  unbegründet,  daß  die 
meisten  Menschen  zugeben  werden,  mit  mir  in  gleichem  Falle  zu  sein. 
Die  meisten  Menschen,  welche  schHcht  und  ungelehrt  sind,  machen 
keinen  Anspruch  auf  den  Besitz  abstrakter  Begriffe.  Man  lo 
sagt,  sie  seien  schwierig  und  nicht  ohne  Mühe  und  Studium  zu  erlangen. 
Wir  dürfen  nach  dem  obigen  vernünftigerweise  schheßen,  daß,  wenn 
es  abstrakte  Begriffe  gibt,  dieselben  nur  bei  Gelehrten  sich  finden. 

XI.    Ich  schreite  nun  zur  Prüfung  dessen  fort,  was  zur  Verteidigung 
der  Lehre  von  der  Abstraktion  vorgebracht  werden  kann,  und  versuche    10 
zu  entdecken,  was  es  sei,  wodurch  wissenschaftliche  Männer  bewogen 
werden,  eine  Meinung  anzunehmen,  welche  dem  gemeinen  Menschen- 
verstände so  fremd  ist,  wie  diese  es  zu  sein  scheint.    Ein  kürzHch  ver- 
storbener,  mit   Recht  geschätzter  Philosoph  hat   ohne   Zweifel  dieser 
Meinung  Vorschub  geleistet,  da  er  zu  denken  scheint,  der  Besitz  abstrakter   20 
Ideen  sei  das,  was  zwischen  der  Verstandeskraft  des  Menschen  und  der 
Tiere   den   größten   Unterschied   ausmache.      „Der   Besitz   allgemeiner 
Ideen,"  sagte  er,  „begründet  einen  durchgängigen  Unterschied  zwischen 
dem  Menschen  und  den  vernunftlosen  Wesen  und  ist  ein  Vorzug,  der 
den  Fähigkeiten  der  letzteren  in  keiner  Weise  erreichbar  ist.    Denn  es   25 
ist  offenbar,  daß  wir  bei  ihnen  keine  Spuren  des  Gebrauches  allgemeiner 
Zeichen  für  universale  Ideen  finden,    sonach   haben  wir  Grund  anzu- 
nehmen, daß  sie  nicht  die  Fähigkeit  zu  abstrahieren  oder  allgemeine 
Ideen  zu  bilden  besitzen,  da  sie  keine  Worte  oder  irgendwelche  allgemeine 
Zeichen  gebrauchen. "    Und  bald  darauf :  „  Demgemäß  dürfen  wir,  denke   30 
ich,  annehmen,  daß  hierin  der  spezifische  Unterschied  der  Tiere  von 
den  Menschen  bestehe;    dieser  eigentümhche  Unterschied  sondert  sie 
gänzlich  und  erweitert  sich  zuletzt  zu  einem  so  beträchthchen  Abstände. 
Denn  haben  die  Tiere  überhaupt  irgendwelche  Vorstellungen  und  sind 
sie  nicht,  wie  einige  wollen,  bloße  Maschinen,  so  können  wir  nicht  leugnen,    35 
daß  sie  in  einem  gewissen  Sinne  Vernunft  besitzen.   Ebenso  offenbar  wie 
die  Tatsache,  daß  sie   Sinne  besitzen,  scheint  mir  auch  dies  zu  sein, 
daß  einige  von  ihnen  in  gewissen  Fällen  Schlüsse  ziehen,  aber  nur  mittels 
solcher  Einzelvorstellungen,  wie  sie  dieselben  von  ihren  Sinnen  emp- 
fangen.   Auch  die  obersten  Tierklassen  bleiben  in  diese  engen  Grenzen   40 
gebannt,  ohne  sie  durch  irgendwelche  Abstraktion  erweitern  zu  können" 


Von  den  abstrakten  Ideen.  145 

(Versuch  über  den  menschlichen  Verstand,  Buch  II,  Kapitel  XI,  10  und 
11).  Ich  stimme  diesem  gelehrten  Schriftsteller  unbedenkhch  darin 
bei,  daß  den  Fähigkeiten  der  Tiere  die  Abstraktion  durchaus 
unerreichbar  ist ;  nur  fürchte  ich,  daß,  wenn  hierin  ihr  Unterscheidungs- 

5  merkmal  Hegen  soll,  sehr  viele  von  denen,  die  für  Menschen  gelten, 
mit  ihnen  in  eine  Klasse  zu  setzen  sind.  Der  hier  angegebene  Grund, 
den  Tieren  keine  abstrakten  Ideen  zuzuschreiben,  liegt  darin,  daß  wir 
bei  ihnen  keinen  Gebrauch  von  Worten  oder  anderen  allgemeinen  Zeichen 
beobachten.     Dieser  Grund  ruht  auf  der  Voraussetzung,  daß  der  Ge- 

10  brauch  von  Worten  an  den  Besitz  allgemeiner  Ideen  geknüpft  sei,  woraus 
folgt,  daß  Menschen,  die  sich  der  Sprache  bedienen,  fähig  sind  zu  abstra- 
hieren oder  ihre  Ideen  zu  verallgemeinern.  Daß  dies  der  Sinn  und  die 
Folgerung  des  Verfassers  ist,  geht  ferner  aus  seiner  Antwort  auf  die 
Frage  hervor,  die  er  an  einer  anderen  Stelle  aufwirft:  „Da  doch  alle 

15  existierenden  Dinge  Einzelobjekte  sind,  wie  gelangen  wir  zu  allgemeinen 
Bezeichnungen?"  Er  antwortet:  „Worte  werden  dadurch  allgemein, 
daß  sie  zu  Zeichen  allgemeiner  Ideen  gemacht  werden"  (a.  a.  0.  Buch  III, 
Kapitel  III,  6).  Es  scheint  jedoch,  daß  ein  Wort  allgemein  wird,  indem 
es  als  Zeichen  gebraucht  wird  nicht  für  eine  abstrakte  allgemeine  Idee, 

20  sondern  für  mehrere  EinzeHdeen,  deren  jede  es  besonders  im  Geiste 
anregt.  Wird  zum  Beispiel  gesagt :  die  Bewegungsänderung 
ist  proportional  der  angewandten  Kraft,  oder : 
alles  Ausgedehnte  ist  teilbar,  so  sind  diese  Regeln  von 
Bewegung   und   Ausdehnung   im   allgemeinen   zu   verstehen;    dennoch 

25  folgt  nicht,  daß  sie  in  meinem  Geiste  eine  Vorstellung  von  Bewegung 
ohne  einen  bewegten  Körper  oder  ohne  eine  bestimmte  Richtung  und 
Geschwindigkeit  anregen,  oder  daß  ich  eine  abstrakte  allgemeine  Idee 
einer  Ausdehnung  bilden  müsse,  die  weder  Linie,  noch  Fläche,  noch 
Körper,  weder  groß  noch  klein,  weder  schwarz  noch  weiß  noch  rot, 

30  noch  von  irgend  einer  anderen  bestimmten  Farbe  sei;  sondern  es  liegt 
darin  nur,  daß  das  Axiom  von  der  Bewegung  sich  gleichmäßig  bewahr- 
heitet, welche  Bewegung  ich  auch  immer  betrachten  mag:  sei  sie  schnell 
oder  langsam,  senkrecht,  wagerecht  oder  schräg,  sei  sie  die  Bewegung 
dieses  oder  jenes  Objektes.     Ebenso  bewahrheitet  sich  der  andere  Satz 

35  bei  jeder  besonderen  Ausdehnung,  wobei  es  keinen  Unterschied  macht, 
ob  sie  eine  Linie  oder  eine  Fläche  oder  ein  Körper,  ob  sie  von  dieser 
oder  jener  Größe  oder  Figur  ist. 

XII.    Indem  wir  beobachten,  wie  Ideen  allgemein  werden,  gelangen 
wir  zu  einem  richtigeren  Urteil  darüber,  wie  Worte  dies  werden.     Ich 

49   muß  hier  bemerken,  daß  ich  nicht  absolut  die  Existenz  von  allgemeinen 
Ideen,  sondern  nur  die  von  abstrakten  allgemeinen  Ideen 
D  es  soir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  10 


146  Berkeley. 

leugne ;  denn  an  den  obigen  Stellen,  wo  allgemeine  Ideen  erwähnt  werden, 
ist  stets  vorausgesetzt,  daß  sie  durch  Abstraktion  gebildet  sind, 
auf  die  in  VIII  und  IX  auseinandergesetzte  Weise.  Wollen  wir  nun 
mit  unseren  Worten  einen  bestimmten  Sinn  verbinden  und  nur  von 
BegreifHchem  reden,  so  müssen  wir,  glaube  ich,  anerkennen,  daß  eine  5 
Idee,  die  an  und  für  sich  eine  Einzelvorstellung  ist,  allgemein  dadurch 
wird,  daß  sie  dazu  verwendet  wird,  alle  anderen  Einzelvorstellungen 
derselben  Art  zu  repräsentieren  oder  statt  ihrer  aufzutreten.  Damit 
dies  durch  ein  Beispiel  klar  werde,  stelle  man  sich  vor,  daß  ein  Mathe- 
matiker den  Nachweis  führe,  wie  eine  Linie  in  zwei  gleiche  Teile  zu  lo 
zerlegen  ist.  Er  zeichnet  etwa  eine  schwarze  Linie  von  der  Länge  eines 
Zolls;  diese  Linie,  die  an  und  für  sich  eine  einzelne  Linie  ist,  ist  nichts- 
destoweniger mit  Rücksicht  auf  das,  was  durch  sie  bezeichnet  wird, 
allgemein,  da  sie,  wie  sie  hier  gebraucht  wird,  alle  einzelnen  Linien, 
wie  diese  auch  immer  beschaffen  sein  mögen,  repräsentiert,  so  daß,  i5 
was  von  ihr  bewiesen  ist,  von  allen  Linien,  oder  mit  anderen  Worten, 
von  einer  Linie  im  allgemeinen  bewiesen  ist.  Ebenso,  wie  die  einzelne 
Linie  dadurch,  daß  sie  als  Zeichen  dient,  allgemein  wird,  so  ist  der  Name 
Linie,  der  an  sich  partikular  ist,  dadurch,  daß  er  als  Zeichen  dient,  all- 
gemein geworden.  Und  wie  die  Allgemeinheit  jener  Idee  nicht  darauf  20 
beruht,  daß  sie  ein  Zeichen  für  eine  abstrakte  oder  allgemeine  Linie 
wäre,  sondern  darauf,  daß  sie  ein  Zeichen  für  alle  einzelnen  geraden 
Linien  ist,  die  existieren  können,  so  muß  auch  angenommen  werden, 
daß  das  Wort  Linie  seine  Allgemeinheit  derselben  Ursache  verdanke, 
nämlich  dem  Umstände,  daß  es  verschiedene  einzelne  Linien  Unterschieds-  25 
los  bezeichnet. 

XIII.    Um  dem  Leser  eine  noch  klarere  Einsicht  in  die  Natur  ab- 
strakter Ideen  und  in  die  Anwendungen,  um  derentwillen  man   ihrer 
zu  bedürfen  glaubt,  zu  verschaffen,  will  ich  noch  folgende  Stelle  aus  dem 
„ Versuch  über  den  menschhchen  Verstand "  anführen :    „Abstrakte   so 
Ideen  sind  Kindern  oder  im  Denken  noch  ungeübten  Personen  nicht 
so    leicht    verständHch  oder   faßbar,    wie  Einzehdeen;   soweit  sie  dies 
den  Erwachsenen  sind,  sind  sie  es  nur  durch  den  beständigen,  gewohnten 
Gebrauch  geworden.     Achten  wir  genau  auf  sie,  so  werden  wir  finden, 
daß  allgemeine  Ideen  Gebilde  und  Erfindungen  des  Geistes  sind,  die   35 
nicht  ohne  Schwierigkeit  hergestellt  werden  und  sich  nicht  so  leicht  von 
selbst  einstellen,  wie  wir  zu  glauben  geneigt  sind.     Erheischt  es  z.  B. 
nicht  einige  Mühe  und  Geschickhchkeit,  die  allgemeine  Idee  eines  Drei- 
ecks zu  bilden,  die  doch  noch  keine  der  abstraktesten,  umfassendsten 
und  schwierigsten  ist?    Es  soll  die  Idee  eines  Dreiecks  gebildet  werden,   40 
welches  weder  schiefwinkhg  noch  rechtwinklig,   weder  gleichseitig  noch 


Von  den  abstrakten  Ideen.  147 

gleichschenklig  noch  ungleichschenkHg  ist,  sondern  alles  dieses 
und  zugleich  auch  nichts  von  diesem.  In  der  Tat  ist 
dies  etwas  Unvollständiges,  das  nicht  existieren  kann,  eine  Idee,  in  welcher 
einige  Teile  verschiedener  und  miteinander  unvereinbarer  Ideen 
ö  verbunden  sind.  Allerdings  bedarf  der  Geist  in  seinem  gegenwärtigen 
unvollkommenen  Zustande  solcher  Ideen  und  eilt  möghchst  sie  zu 
bilden  zum  Zweck  der  Mitteilung  und  Erweiterung  der  Erkenntnis, 
da  er  zu  beidem  von  Natur  eine  sehr  starke  Neigung  hat.  Doch  läßt 
sich  mit  Recht  vermuten,  daß  solche  Ideen  Merkmale  unserer  Unvoll- 

10  kommenheit  sind.  Zum  mindesten  reicht  das  Gesagte  hin,  zu  beweisen, 
daß  die  abstraktesten  und  allgemeinsten  Ideen  nicht  diejenigen  sind, 
mit  welchen  der  Geist  zuerst  und  am  leichtesten  vertraut  wird,  nicht 
diejenigen,  auf  welche  seine  ersten  Kenntnisse  sich  beziehen"  (a.  a.  0.  IV, 
Kapitel  VII,  9).    Falls  irgend  jemand  die  Fähigkeit  besitzt,  in  seinem 

15  Geiste  eine  solche  Dreiecksidee  zu  bilden,  wie  sie  hier  beschrieben  ist, 
so  ist  es  vergeblich,  sie  ihm  abdisputieren  zu  wollen;  ich  unternehme  das 
nicht.  Mein  Wunsch  geht  nur  dahin,  der  Leser  möge  sich  vollständig 
und  mit  Ge^dßheit  überzeugen,  ob  er  eine  solche  Idee  habe  oder  nicht. 
Und  dies,  denke  ich,  kann  für  niemand  eine  schwer  zu  lösende  Aufgabe 

20  sein.  Was  kann  einem  jeden  leichter  sein,  als  ein  wenig  in  seinen  eigenen 
Gedankenkreis  hineinzuschauen  und  zu  erproben,  ob  er  eine  der  Be- 
schreibung, welche  hier  von  der  allgemeinen  Idee  eines  Dreiecks  gegeben 
worden  ist,  entsprechende  Idee  habe  oder  erlangen  könne:  die  Idee 
eines  Dreiecks,  welches   weder  schiefwinklig  noch  recht- 

25  winklig,  weder  gleichseitig  noch  gleichschenk- 
lig noch  ungleichseitig,  sondern  dieses  alles  und 
zugleich    auch    nichts    von    diesem    ist? 

XIV.     Es   wird  hier  vieles  von  der   Schwierigkeit   gesagt,   welche 
sich  an  abstrakte  Ideen  knüpfe,  von  der  Mühe  und  Kunst,  die  erforderhch 

30  sei,  um  sie  zu  bilden.  Es  ist  auch  gar  nicht  zu  bezweifeln,  daß  es  großer 
Mühe  und  Anstrengung  des  Geistes  bedarf,  unser  Denken  von  den  Einzel- 
objekten loszumachen  und  sich  zu  den  hohen  Spekulationen  zu  erheben, 
die  sich  auf  abstrakte  Ideen  beziehen.  Die  natürhche  Konsequenz 
hieraus  scheint  doch  zu  sein,  daß  etwas  so  Schwieriges,  wie  die  Bildung 

35  abstrakter  Ideen,  nicht  notwendig  für  die  Gedankenmitteilung 
sei,  die  etwas  allen  Klassen  der  Menschen  so  Leichtes  und  Gewöhnliches 
ist.  Doch  man  sagt  uns,  wenn  sie  Erwachsenen  naheliegend  und  leicht 
zu  sein  scheinen,  so  seien  sie  dies  nur  durch  beständi- 
gen   und    gewöhnlichen    Gebrauch    geworden.     Nun 

40  möchte  ich  gern  wissen,  zu  welcher  Zeit  die  Menschen  damit  beschäftigt 
sind,  jene  Schwierigkeit  zu  überwinden  und  sich  mit  jenen  notwendigen 


148  Berkeley. 

Mitteln  zur  Unterredung  zu  versorgen.  Dies  kann  nicht  dann  geschehen, 
wenn  sie  erwachsen  sind,  denn  zu  dieser  Zeit  sind  sie,  wie  es  scheint, 
sich  keiner  derartigen  Bemühung  bewußt;  somit  bleibt  nur  übrig,  daß 
es  ein  Werk  ihrer  Kindheit  ist.  Gewiß  wird  man  finden,  daß  die  große 
und  vielfache  Mühe  der  Bildung  abstrakter  Ideen  eine  harte  Aufgabe  s 
für  dies  zarte  Alter  ist.  Ist  es  nicht  schwer,  sich  vorzustellen,  daß  ein 
paar  Kinder  nicht  miteinander  von  ihren  Zuckerbohnen  und  Klappern 
und  ihrem  anderen  Tand  plaudern  können,  wenn  sie  nicht  zuvor  zahl- 
lose Widersprüche  miteinander  vereinigt  und  so  in  ihrem  Geist  a  b- 
strakte  allgemeine  Ideen  gebildet  und  dieselben  an  jeden  lo 
Gemeinnamen,  dessen  sie  sich  bedienen,  geknüpft  haben? 

XV.  Auch  glaube  ich,  daß  diese  zur  Erweiterung  der  Er- 
kenntnis ganz  ebensowenig  wie  zur  Mitteilung  erforderHch 
sind.  Es  wird,  wie  ich  wohl  weiß,  entschieden  behauptet,  daß  alle  Er- 
kenntnis und  Beweisführung  allgemeine  Begriffe  betreffe,  und  ich  stimme  is 
meinerseits  dieser  Behauptung  völlig  bei;  doch  scheint  mir,  daß  diese 
Begriffe  nicht  durch  Abstraktion  in  der  vorhin  bezeichneten  Weise  ge- 
bildet sind;  denn  Allgemeinheit  besteht,  soviel  ich  begreifen  kann, 
nicht  in  dem  absoluten  positiven  Wesen  oder  Begriffe  von  irgend  etwas, 
sondern  in  der  Beziehung,  in  welcher  etwas  zu  anderem  einzelnen  steht,  20 
was  dadurch  bezeichnet  oder  vertreten  wird.  Dadurch  geschieht  es, 
daß  Dinge,  Namen  oder  Begriffe,  die  ihrer  eigenen  Natur  nach  parti- 
kular sind,  allgemein  werden.  Wenn  ich  irgend  einen  Satz 
aus  der  Lehre  vom  Dreieck  beweise,  so  nimmt  man  an,  daß  ich  den  all- 
gemeinen Begriff  des  Dreiecks  im  Auge  habe;  dies  muß  aber  nicht  so  25 
verstanden  werden,  als  ob  ich  eine  Idee  eines  Dreiecks,  das  weder 
gleichseitig  noch  ungleichseitig  noch  gleichschenklig  wäre,  bilden  könnte, 
sondern  nur  so,  daß  das  einzelne  Dreieck,  welches  ich  betrachte,  gleich- 
gültig ob  dasselbe  von  dieser  oder  jener  Art  sei,  geradlinige  Dreiecke  aller 
Art  repräsentiert  oder  statt  derselben  steht  und  in  diesem  Sinne  all-  30 
gemein  ist.  Dieses  alles  scheint  sehr  klar  zu  sein  und  keine  Schwierig- 
keit zu  enthalten. 

XVI.  Doch  mag  hier  gefragt  werden,  wie  wir  anders  wissen  können, 
daß  ein  Satz  von  allen  einzelnen  Dreiecken  wahr  sei,  als  wenn  wir  ihn 
zuerst  an  der  abstrakten  Idee  eines  Dreiecks,  die  von  allen  einzelnen  35 
gleichmäßig  gilt,  bewiesen  gesehen  haben.  Denn  daraus,  daß  gezeigt 
sein  mag,  eine  Eigenschaft  komme  irgend  einem  einzelnen  Dreieck  zu, 
folgt  ja  doch  nicht,  daß  sie  gleicherweise  auch  irgend  einem  anderen 
Dreieck  zukomme,  welches  nicht  in  jeder  Beziehung  identisch  mit  jenem 
ist.  Habe  ich  z.  B.  gezeigt,  daß  die  drei  Winkel  eines  gleichschenkligen  40 
rechtwinkligen  Dreiecks  zwei  rechten  Winkeln  gleich  sind,  so  kann  ich 


Erläuterungen.  149 


hieraus  nicht  schüeßen,  daß  das  nämHche  von  allen  Dreiecken  gilt, 
welche  weder  einen  rechten  Winkel  noch  zwei  einander  gleiche  Seiten 
haben.  Es  scheint  demnach,  daß  wir,  um  gewiß  zu  sein,  daß  dieser 
Satz  allgemein  wahr  ist,  entweder  einen  besonderen  Beweis  für  jedes 
B  einzelne  Dreieck  führen  müssen,  was  unmöglich  ist,  oder  es  ein  für 
allemal  zeigen  müssen  an  der  aligemeinen  Idee  eines  Drei- 
ecks, woran  alle  einzelnen  unterschiedslos  teilhaben  und  wodurch 
sie  alle  gleichmäßig  repräsentiert  werden.  Darauf  antworte  ich,  daß, 
obschon  die  Idee,  die  ich  im  Auge  habe,  während  ich  den  Beweis  führe, 

10  zum  Beispiel  die  Idee  eines  gleichschenkHgen,  rechtwinkligen  Dreiecks 
ist,  dessen  Seiten  von  einer  bestimmten  Länge  sind,  ich  nichtsdesto- 
weniger gewiß  sein  kann,  derselbe  Beweis  finde  Anwendung  auf  alle 
anderen  geradhnigen  Dreiecke,  von  welcher  Form  oder  Größe  sie  auch 
immer  sein  mögen,   und  zwar  darum,  weil  weder  der  rechte  Winkel 

15  noch  die  Gleichheit  zweier  Seiten  noch  auch  die  bestimmte  Länge  der 
Seiten  irgendwie  bei  der  Beweisführung  in  Betracht  gezogen  worden 
sind.  Zwar  trägt  das  Gebilde,  welches  ich  vor  Augen  habe,  alle  diese 
Besonderheiten  an  sich,  aber  es  ist  durchaus  keine  Erwähnung  derselben 
in  dem  Beweise  des   Satzes  geschehen.     Es  ist  nicht  gesagt  worden, 

20  die  drei  Winkel  seien  darum  zwei  rechten  gleich,  weil  einer  von  ihnen 
ein  rechter  sei,  oder  weil  die  Seiten,  welche  diesen  einschUeßen,  gleich 
lang  seien;  das  zeigt  ausreichend,  daß  der  Winkel,  der  ein  rechter  ist, 
ein  schiefer  hätte  sein  können  und  die  Seiten  ungleich,  und  daß  nichts- 
destoweniger der  Beweis  gültig  geblieben  wäre.     Aus  diesem   Grunde 

25  und  nicht  darum,  weil  ich  von  der  abstrakten  Idee  eines  Dreiecks  den 
Beweis  geführt  hätte,  schHeße  ich,  daß  das  von  einem  einzelnen  recht- 
\vinkLigen,  gleichschenkHgen  Dreieck  Erwiesene  von  jedem  schief wink- 
hgen  und  ungleichseitigen  Dreieck  wahr  ist.  Es  muß  hier  zugegeben 
werden,  daß  es  möglich  ist,  eine  Figur  bloß  als  Dreieck  zu  betrachten, 

30  ohne  daß  man  auf  die  besonderen  Eigenschaften  der  Winkel  oder  Ver- 
hältnisse der  Seiten  achtet.  Insoweit  kann  man  abstrahieren;  aber  dies 
beweist  keineswegs,  daß  man  eine  abstrakte  allgemeine  widersinnige 
Idee  eines  Dreiecks  bilden  könne.  In  gleicher  Art  können  wir  Peter, 
insofern  er  ein  Mensch  ist  oder  insofern  er  ein  lebendes  Wesen  ist,  be- 

35  trachten,  ohne  die  vorerwähnte  abstrakte  Idee  eines  Menschen  oder 
eines  lebenden  Wesens  zu  bilden,  indem  wir  nicht  alles  Wahrgenommene 
in  Betracht  ziehen. 


George  Berkeley  (1685 — 1753)  sieht  seine  philosophische  Aufgabe  vornehm- 
lich in  der  Widerlegung  von  zwei  Grundirrtümern:  des  Glaubens  an  die 
Existenz  einer  Körperwelt  außerhalb  unseres  Bewußtseins  und  der  Annahme 


150  Berkeley. 

von  abstrakten  Begriffen.  In  Bezug  auf  die  erste  Frage  lautet  seine  Ant- 
wort: Es  gibt  nichts  als  Geister  und,  deren  Bewußtseinstätigkeiten.  Auf  die 
zweite  Frage  gibt  das  mitgeteilte  Stück  die  Antwort.  B.  zeigt  sich  hier  als 
einen  Vertreter  des  konsequenten  Nominalismus,  das  heißt  der  schon  im  Mittel- 
alter vertretenen  Ansicht,  daß  die  universalia  (das  Allgemeine,  die  Begriffe) 
keine  Realität  haben,  sondern  nur  Vorstellungen,  nur  Namen  (nomina)  sind. 
Einen  dieser  Lehre  entgegengesetzten  Standpunkt  (Realismus)  findet  der 
Leser  in  den  Lesestücken  aus  Plato  vertreten.  Vergleiche  auch  die  Erläute- 
rungen zu  Lesestück  VI. 

Die  beiden  Hauptschriften  B.s  heißen:  „Three  dialogues  between  Hylas 
and  Philonous''  1743,  übersetzt  von  R.  Richter  in  der  Philos.  Bibliothek  und 
„A  treatise  concerning  the  principles  of  human  knowledge''  1710,  übersetzt  von 
Fr.  Überweg  in  der  Philos.  Bibhothek.  Aus  diesem  Werk  (unter  Zugrunde- 
legung der  genannten  Übersetzung)  ist  unser  Lesestück  genommen.  Eine 
Gesamtausgabe  der  Werke  B.s  in  vier  Bänden  erschien  im  Jahre  1871  (Fräser 
ist  der  Herausgeber).  Klare  Darstellungen  seiner  Lehre  findet  der  Leser  bei 
Falckenberg,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  5.  Auflage,  S.  187 — 193, 
und  Vorländer,  Gesch.  der  Phil.  II,  S.  151—157. 

141  3.  Bei  B.  bedeutet  Idee  wie  bei  Locke  so  viel  wie  Bewußtseinsinhalt 
überhaupt.  —  Die  Terminologie  in  Bezug  auf  das  Wort  „abstrakt"  ist  nicht 
eine  feststehende.  Man  stellt  „abstrakt"  in  Gegensatz  zu  „konkret"  und  nennt 
die  Vorstellungen  „konkret",  welche  sich  auf  einen  selbständig  existierenden 
Gegenstand  (zum  Beispiel:  Baum),  diejenigen  „abstrakt",  welche  sich  auf 
etwas  nur  unselbständig  Existierendes  beziehen  (die  Farbe  als  Eigenschaft 
an  vielen  einzelnen  Dingen).  Dieser  hauptsächlich  in  der  Grammatik  gebräuch- 
lichen Unterscheidung  stellt  die  Logik  den  Gegensatz  der  allgemeinen  Begriffe 
und  der  nur  für  Einzelnes  geltenden  Vorstellungen  gegenüber,  wobei  gleich- 
gültig ist,  ob  ein  solcher  Begriff  für  selbständig  existierende  Gegenstände 
gilt  oder  nicht  (zum  Beispiel:  Baum  —  Bewegung).  Das  Verfahren,  durch  das 
wir  zu  solchen  Begriffen  kommen,  nennen  wir  Abstraktion.  In  diesem  bildet 
man  durch  Reflexion  auf  die  gleichen  Merkmale  und  Abstraktion  von  den 
ungleichartigen  Merkmalen  einzelner  Dinge  den  allgemeinen  Begriff  (zum 
Beispiel:  Eiche,  Buche,  Fichte,  Tanne  u.  s.  w.  —  Baum).  Falsch  ist  es,  wenn 
man  nur  von  einem  Fortlassen  der  besonderen  Merkmale  des  einzelnen  Dinges 
spricht,  es  muß  ein  bestimmtes  Prinzip  sein,  wonach  die  Abstraktion  sich 
richtet.  Dies  Prinzip  wird  gegeben  durch  praktische  (zum  Beispiel:  Nutzholz) 
und  wissenschaftliche  Gesichtspunkte  (zum  Beispiel:  Einteilung  der  Menschen 
in  Rassen),  schließlich  letzte  Erkenntnisprinzipien  (zum  Beispiel:  Physisches 
und  Psychisches).  Vergleiche  Überweg,  System  der  Logik,  1882,  §  47  und  51, 
und  Th.  Lipps,  Grundzüge  der  Logik,  1893,  S.  124  ff.,  R.  Lehmann,  Lehrbuch 
der  philosophischen  Propädeutik,  1905,  S.  20 f.  Man  beachte,  wie  B.  die 
beiden  Bedeutungen  von  „abstrakt"  miteinander  vermischt. 

141  8.  „Geist"  definiert  B.  wie  folgt:  ein  Geist  ist  ein  einfaches,  unteilbares, 
tätiges  Wesen,  welches,  sofern  es  Ideen  perzipiert.  Verstand,  und  sofern 
es  sie  hervorbringt  oder  anderweitig  in  Bezug  auf  sie  tätig  ist,  Wille  heißt. 


Erläuterungen.  151 


143  39.  Man  vergleiche  die  Beispiele,  welche  B.  143  23  ff.  gegeben  hat.  Er 
spricht  dort  nur  von  Teilen,  aber  nicht  von  Eigenschaften.  Diese  können 
nicht,  wie  es  oben  heißt,  in  Wirklichkeit  existieren.  B.s  Ausdrucksweise  ist 
hier  etwas  ungenau. 

144  19.    Es  ist  Locke  gemeint,  wie  sich  aus  dem  folgenden  ergibt. 

144  35.  Dies  hatt«  Descartes  gelehrt.  Über  die  Psychologie  der  Tiere  ver- 
gleiche W.  Wundt,  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tierseele,  3.  Auf- 
lage 1897,  S.  385  ff. 

145  17.  Das  dritte  Buch  des  Lockeschen  Hauptwerkes  enthält  seine  Sprach- 
philosophie. Das  Kapitel,  aus  welchem  B.  zitiert,  hat  die  Überschrift:  „Über 
allgemeine  Ausdrücke". 

146  15.  B.  wendet  hier  gerade  das  an,  was  er  bestreitet.  Wie  kann  eine 
einzelne  Linie  überhaupt  als  Beweismittel  benützt  werden?  Wie  kommen  wir 
überhaupt  dazu,  ein  Einzelnes  im  HinbUck  auf  ein  Allgemeines  zu  denken? 
Die  Linie  repräsentiert  nicht  durch  das,  was  an  ihr  eigenartig  ist,  was  sie 
zu  einer  einzelnen  Linie  (hier:  Schwärze  und  Länge  von  25  Zoll)  macht, 
sondern  durch  das,  was  jede  Linie,  also  auch  diese  einzelne,  zur  Linie  macht. 
Nicht  das  sinnlich  Wahrnehmbare  an  ihr,  sondern  die  unsinnlichen  Eigen- 
schaften, wie  sie  die  Mathematik  von  der  Linie  bestimmt,  ermögUchen  das, 
was  B.  Repräsentation  nennt. 

149  37.  Die  Schwierigkeiten,  welche  B.  entwickelt  hat,  gehören  zu  den 
ungelösten  Problemen  des  menschlichen  Denkens  und  haben  die  Philosophen 
vielfach  beschäftigt.  Die  menschlichen  Sinne  haben  nur  eine  begrenzte  Auf- 
fassungsfähigkeit gegenüber  der  Vielheit  der  einzelnen  Vorstellungen,  die 
in  unserem  Bewußtsein  auftreten.  Wären  wir  auf  den  jeweiUgen  Bestand 
unseres  Bewußtseins  angewiesen,  so  würde  der  Umkreis  unseres  Wissens  ein 
höchst  dürftiger  sein  und  das  menschliche  Denken  und  Handeln  würde  allen 
Zusammenhang  verlieren  müssen.  Als  ein  Mittel,  einen  solchen  zu  geben, 
kennen  wir  das  Gedächtnis.  Doch  dies  Mittel  ist  bekanntlich  ein  verhältnis- 
mäßig unzureichendes.  Es  genügt  nicht  der  durch  die  praktischen  Forderungen 
des  Lebens  gegebenen  Notwendigkeit,  unerschütterliche,  für  alle  Fälle  gel- 
tende, von  allen  Menschen  anerkannte  Einsichten  zu  geben.  Diesen  Mangel 
versucht  die  Wissenschaft  zu  beseitigen.  Ihr  Ziel  ist  stets:  eine  allgemein- 
gültige Erkenntnis  zu  gewinnen.  Von  den  populären  Vorstellungen  über 
das  Wesen  der  Dinge  und  über  die  Gleichmäßigkeit  der  Vorgänge  in  der  Natur 
steigt  sie  auf  dem  Wege  immer  höherer  Abstraktion  empor  zu  festumgrenzten 
und  klar  bestimmten  Begriffen  von  den  Dingen  und  stets  gleichbleibenden 
Gesetzen  der  Natur.  An  die  Stelle  der  anschaulichen,  am  einzelnen  haftenden 
Auffassung  ist  das  verstandesmäßige,  das  Allgemeine  erfassende  Erkennen  ge- 
treten, welches  in  der  Logik  und  ^Mathematik  hauptsächlich  die  Grundlage 
findet  für  die  Konstruktion  der  Wirklichkeit.  Doch  durch  diese  begriffliche 
Konstruktion  ist  ein  Gedankenzusammenhang  geschaffen,  den  wir  niemals 
durch  die  Sinne  wahrnehmen  oder  im  vorstellenden  BewTißtsein  erfahren  oder, 
wenn  man  will,  erleben  können.  Man  denke  zum  Beispiel  an  die  mathematische 
Linie  oder  das  Fallgesetz,  Begriffe  wie  Volk,  Menschheit.     Zwischen  diesen 


152  Berkeley. 

beiden  Arten  des  Aufnehmens  der  Wirklichkeit:  begrifflicher  Konstruktion 
und  sinnlicher  Auffassung  (als  Zusammenhang  im  Bewußtsein)  besteht  eine 
unüberbrückbare  Kluft.  Man  verdeutliche  sich  diesen  Widerstreit  an  dem 
Atombegriff.  Der  Verstand  fordert  ein  letztes  Unteilbares,  daher  Unaus- 
gedehntes, die  Sinne  können  dieser  Forderung  nicht  genügen  und  es  ist  un- 
möglich, ohne  den  Atombegriff  aufzugeben,  aus  Unausgedehntem  das  Aus- 
gedehnte sich  zusammengesetzt  zu  denken.  Man  vergleiche  die  Vorbemerkung 
zu  Plato,  ferner  Anmerkung  zu  187  ii.  Eine  gute  Einführung  in  diese  Frage 
bietet  die  Philosophie  der  Eleaten,  vergleiche  die  Darstellung  von  Gomperz, 
Griechische  Denker,  Bd.  I,  134  ff.  M  e  n  z  e  r. 


tätig 
es  sie  . 


XIII. 

Leibniz. 


Die  Monadologie. 

1.  Die  Monade,  von  der  wir  hier  sprechen  werden,  ist  niclits  anderes 
als  eine  einfache  Substanz,  aus  der  sich  die  zusammengesetzten  Dinge 
bilden;   ., einfach"  bedeutet  „ohne  Teile". 

2.  Solche  einfachen  Substanzen  muß  es  geben,   weil   es  zusammen- 
5   gesetzte  Dinge  gibt;  denn  das  Zusammengesetzte  ist  nichts  anderes  als 

eine  Anhäufung  oder  ein  Aggregat  der  einfachen  Substanzen. 

3.  Wo  es  nun  keine  Teile  gibt,  da  gibt  es  auch  keine  Ausdehnung, 
keine  Gestalt  und  keine  Teilbarkeit.  Diese  Monaden  sind  die  wahren 
Atome  der  Natur  und  mit  einem  Wort:  die  Elemente  der  Dinge. 

10  4.  Es  ist  bei  ihnen  auch  keine  Auflösung  zu  befürchten,  und  man 
kann  sich  auf  keine  Weise  vorstellen,  wie  eine  einfache  Substanz  auf 
natürlichem  Wege  untergehen  könnte. 

5.  Aus  demselben  Grunde  kann  man  sich  auch  nicht  vorstellen, 
wie   eine   einfache  Substanz  auf  natürhchem  Wege  anfangen  könnte, 

15   da  sie  durch  Zusammensetzung  nicht  gebildet  werden  kann. 

6.  Man  darf  daher  sagen,  daß  die  Monaden  nur  mit  einem  Schlage 
anfangen  oder  aufhören  können,  das  heißt  sie  können  nur  durch  Er- 
schaffung anfangen  und  nur  durch  Vernichtung  aufhören,  während 
das  Zusammengesetzte  aus  Teilen  entsteht  oder  in  Teile  sich  auflöst. 

20  7.  Es  gibt  auch  kein  Mittel  zu  erklären ,  wie  eine  Monade  durch 
irgend  ein  anderes  Erschaffenes  in  ihrem  Innern  eine  Veränderung  oder 
einen  Wechsel  erfahren  könnte,  da  man  nichts  in  sie  hineinzubringen, 
noch  eine  innere  Bewegung  in  ihr  vorzustellen  vermag,  die  darin  erregt, 
gelenkt,  vermehrt  oder  vermindert  würde,  wie  dies  beim  Zusammen- 

25  gesetzten  möghch  ist,  wo  ein  Wechsel  unter  den  Teilen  stattfindet. 
Die  Monaden  haben  keine  Fenster,  durch  die  etwas  in  sie  hinein  oder 
aus  ihnen  herausgehen  könnte.  Die  Accidenzen  können  sich  von  den 
Substanzen  nicht  ablösen,  noch  außerhalb  ihrer  sich  bewegen,  wie  es 
ehemals   die   .,sinnhchen  Eigenschaften"   bei  den  Scholastikern   taten. 


154  Leibniz. 

Sonach  kann  weder  eine  Substanz  noch  ein  Accidens  von  außen  in  eine 
Monade  hineingelangen. 

8.  Trotzdem  müssen  die  Monaden  gewisse  Eigenschaften  haben, 
sonst  könnte  man  nicht  einmal  sagen,  daß  sie  sind.  Und  wenn  sich  die 
einfachen  Substanzen  nicht  durch  ihre  Eigenschaften  unterschieden,  5 
so  gäbe  es  kein  Mittel,  überhaupt  eine  Veränderung  in  den  Dingen  zu 
bemerken.  Denn  das,  was  in  dem  zusammengesetzten  Ding  enthalten  ist, 
kann  nur  von  den  einfachen  Bestandteilen  kommen;  und  wenn  die 
Monaden  keine  Eigenschaften  hätten,  so  wären  sie  voneinander  nicht 
zu  unterscheiden,  zumal  sie  auch  in  der  Quantität  nicht  verschieden  lo 
sind.     Wenn  man  daher  annimmt,  daß  es  keinen  leeren  Kaum  gibt, 

so  würde  jeder  Ort  im  Falle  der  Bewegung  immer  nur  das  Äquivalent 
dessen  erhalten,  was  er  vorher  hatte,  und  ein  Zustand  wäre  vom  anderen 
nicht  zu  unterscheiden. 

9.  Es  muß  aber  auch  jede  Monade  von  jeder  anderen  verschieden   is 
sein.    Denn  es  gibt  in  der  Natur  niemals  zwei  Dinge,  von  denen  das  eine 
dem  anderen  vollkommen  gleich  wäre,  und  wo  es  nicht  möglich  wäre, 
einen  inneren  Unterschied  oder  einen  Unterschied  zu  finden,  der  auf 
einer  inneren,  eigentlichen  Bezeichnung  beruht. 

10.  Ich  nehme  ferner  als  zugestanden  an,  daß  jedes  erschaffene  Wesen   20 
der  Veränderung  unterworfen  ist,  mithin  auch  die  erschaffene  Monade,  und 
ferner,  daß  diese  Veränderung  in  einer  jeden  ununterbrochen  fortdauert. 

11.  Aus  dem  Gesagten  folgt,  daß  die  natürlichen  Veränderungen 
der  Monaden  von  einem  inneren  Prinzip  herrühren,  da  eine  äußere 
Ursache  auf  ihr  Inneres  keinen  Einfluß  haben  kann.  25 

12.  Aber  es  muß  außer  dem  Prinzip  der  Veränderung  noch  eine 
Eigentümlichkeit  dessen,  was  sich  verändert,  vorhanden  sein,  die  so- 
zusagen die  Arten  und  die  Verschiedenheiten  der  einfachen  Substanzen 
herbeiführt. 

13.  Diese  Eigentümlichkeit  muß  eine  Vielheit  in  der  Einheit  oder  in   30 
dem  Einfachen  umfassen.     Denn  da  jede  natürliche  Veränderung  all- 
mähhch  vor  sich  geht,  so  wechselt  etwas,  und  etwas  bleibt.     FolgUch 
muß  es  in  der  einfachen  Substanz  eine  Mehrheit  von  Erregungen  und 
Beziehungen  geben,  obgleich  sie  keine  Teile  hat. 

14.  Der  veränderliche  Zustand,  der  eine  Vielheit  in  der  Einheit  35 
oder  in  der  einfachen  Substanz  umfaßt  oder  darstellt,  ist  nichts  anderes 
als  das,  was  man  die  Perzeption  nennt.  Man  muß  sie  von  der  Apper- 
zeption oder  von  dem  Bewußtsein  unterscheiden,  wie  sich  aus  dem 
folgenden  ergeben  wird.  Hierin  haben  die  Cartesianer  einen  groben 
Fehler  gemacht,  indem  sie  die  Perzeptionen,  deren  man  sich  nicht  40 
bewußt  wird,  für  nichts  gerechnet  haben.     Dies  hat  sie  auch  zu  dem 


Die  Monadologie.  155 


Glauben  geführt,  daß  bloß  die  Geister  Monaden  seien,  und  daß  es  keine 
Tierseelen  oder  andere  Entelechien  gebe.  Auch  haben  sie  deshalb,  in 
Übereinstimmung  mit  der  ■voilgären  Anschauung,  eine  lange  Betäubung 
mit  dem  Tode  im  strengen  Sinne  verwechselt  und  sind  dadurch  in  das 
5  scholastische  Vorurteil  geraten,  daß  es  ganz  für  sich  bestehende  Seelen 
gebe.  Die  schwächeren  Köpfe  hat  das  dann  in  der  Meinung  von  der 
Sterblichkeit  der  Seelen  bestärkt. 

15.  Die  Tätigkeit  des  inneren  Prinzips,  das  den  Wechsel  oder  den 
Übergang  von  einer  Perzeption  zur  anderen  bewirkt,  kann  man  Be- 

10  gehren  nennen.  Allerdings  kann  die  Begierde  nicht  immer  vollständig 
zu  jeder  Perzeption  gelangen,  nach  der  sie  strebt;  aber  sie  erlangt  immer 
etwas  davon  und  gelangt  zu  neuen  Perzeptionen. 

16.  Wir  selbst   erfahren   eine  Vielheit  in  der  einfachen  Substanz, 
wenn  wir  finden,  daß  der  geringste  Gedanke,  dessen  wir  uns  bewußt 

15  werden,  eine  Mannigfaltigkeit  in  seinem  Gegenstande  enthält.  Wer 
also  die  Seele  als  eine  einfache  Substanz  anerkennt,  muß  auch  diese 
Vielheit  in  der  Monade  anerkennen;  und  Herr  Bayle  brauchte  hier 
keine  Schwierigkeit  zu  finden,  wie  es  in  seinem  Wörterbuche  bei  dem 
Artikel  .,  Rorarius"  geschieht. 

20  17.  Übrigens  muß  man  bekennen,  daß  die  Perzeption,  und  das, 
was  von  ihr  abhängt,  sich  aus  mechanischen  Gründen,  das  heißt  durch 
die  Gestaltungen  und  die  Bewegungen,  nicht  erklären  läßt.  Stellt  man 
sich  eine  Maschine  vor,  die  vermittels  ihres  Baues  zu  denken,  zu  fühlen 
und  zu  empfinden  vermöchte,  so  kann  man  sie  sich  unter  Beibehaltung 

23  derselben  Verhältnisse  so  vergrößert  denken,  daß  man  in  sie  eintreten 
könnte  wie  in  eine  Mühle.  Unter  diesen  Voraussetzungen  wird  man  bei 
Besichtigung  des  Innern  nur  Stücke  finden,  von  denen  eines  das  andere 
treibt,  aber  niemals  etwas,  wodurch  man  eine  Perzeption  erklären 
könnte.     Demnach  muß  man  diese  in  der  einfachen  Substanz  und  nicht 

30  in  dem  Zusammengesetzten  oder  in  der  Maschine  suchen.  Also  kaiin 
man  auch  nur  dies  in  der  einfachen  Substanz  finden,  nämlich  die  Per- 
zeptionen und  ihre  Veränderungen.  Darin  allein  können  alle  inneren 
Tätigkeiten  der  einfachen  Substanzen  bestehen. 

18.  Man  könnte  alle  einfachen  Substanzen  oder  erschaffenen  Monaden 
35    Entelechien  nennen;  denn  sie  haben  in  sich  eine  gewisse  Vollkommenheit 

(eyy:t:ji  zb  IvtsXsc;)  ,  sie  haben  eine  Selbstgenügsamkeit  (aordpxsia),  die 
sie  zu  Quellen  ihrer  inneren  Tätigkeiten  und  gleichsam  zu  unkörper- 
lichen Automaten  macht. 

19.  Wenn   wir   alles,    was   Perzeptionen   und   Begierden   hat,   Seele 
40   nennen  wollen  in  dem  allgemeinen  Sinne,  den  ich  eben  erklärt  habe, 

so  könnten  wir  alle  einfachen  Substanzen  oder  erschaffenen  Monaden 


156  Leibniz. 

Seelen  nennen;  allein  da  der  Gedanke  etwas  mehr  als  eine  bloße  Perzep- 
tion  ist,  so  bin  ich  damit  einverstanden,  daß  der  allgemeine  Name  Monade 
oder  Entelechie  für  die  einfachen  Substanzen  genüge,  die  nur  die  Per- 
zeption  haben,  und  daß  man  bloß  diejenigen  Monaden  Seelen  nenne, 
deren  Perzeption  deutUcher  und  mit  Erinnerung  verbunden  ist.  0 

20.  Denn  wir  erfahren  an  uns  selbst  einen  Zustand,  wo  wir  uns  an 
nichts  erinnern  und  keine  deutliche  Perzeption  haben,  zum  Beispiel 
wenn  wir  in  Ohnmacht  fallen  oder  in  einen  tiefen  und  traumlosen  Schlaf 
versunken  sind.  In  diesem  Zustande  unterscheidet  sich  die  Seele  nicht 
merkhch  von  einer  einfachen  Monade;  allein  da  dieser  Zustand  nicht  10 
dauernd  ist  und  die  Seele  wieder  frei  von  ihm  wird,  so  ist  sie  etwas  mehr. 

21.  Daraus  folgt  aber  keineswegs,  daß  dann  die  einfache  Substanz 
ohne  jede  Perzeption  ist.  Das  ist  aus  den  oben  entwickelten  Gründen 
auch  nicht  einmal  möglich;  denn  sie  kann  nicht  untergehen  und  auch 
nicht  ohne  alle  Erregung  bestehen,  und  diese  ist  ja  nichts  anderes  als  ihr  15 
Perzipieren.  Wenn  aber  eine  große  Menge  kleiner  Perzeptionen  eintritt, 
wobei  man  nichts  unterscheiden  kann,  so  ist  man  betäubt :  wie  wenn  man 
sich  mehrere  Male  hintereinander  in  derselben  Eichtung  herumdreht, 
wobei  ein  Schwindel  eintritt,  der  uns  ohnmächtig  machen  kann  und  uns 
nichts  unterscheiden  läßt.  Der  Tod  kann  die  tierischen  Geschöpfe  eine  20 
Zeitlang  in  diesen  Zustand  versetzen. 

22.  Da  jeder  gegenwärtige  Zustand  einer  einfachen  Substanz  natur- 
gemäß eine  Folge  ihres  vorhergehenden  Zustandes  ist,  so  kann  man  sagen, 
daß  der  gegenwärtige  mit  dem  kommenden  schwanger  geht. 

23.  Da  man  nun  bei  dem  Erwachen  aus  der  Betäubung  sich  seiner   25 
Perzeption  bewußt  wird,  so  muß  man  unmittelbar  vorher  solche  gehabt 
haben,  obgleich  man  es  nicht  bemerkt  hat;  denn  eine  Perzeption  kann 
auf  natürhche  Weise  nur  von  einer  anderen  Perzeption  kommen,  wie  eine 
Bewegung  auf  natürliche  Weise  nur  von  einer  Bewegung  kommen  kann. 

24.  Man  sieht  daraus,  daß,  wenn  wir  nichts  Bestimmtes  und  so-   so 
zusagen   Höheres   und   Feineres   in  unseren   Perzeptionen  hätten,    wir 
uns  immer  in  der  Betäubung  befänden.    Und  dies  ist  der  Zustand  der 
bloßen,  ganz  hilflosen  Monaden. 

25.  So  sehen  wir  auch,  daß  die  Natur  den  Tieren  höhere  Perzeptionen 
gegeben  hat,  indem  sie  eine  besondere  Sorgfalt  darauf  verwandt  hat,  35 
ihnen  Organe  zu  verleihen,  die  mehrere  Lichtstrahlen  oder  mehrere 
Luftwellen  zusammenfassen,  um  sie  durch  diese  Vereinigung  wirksamer 
zu  machen.  Es  gibt  etwas  Ähnliches  beim  Geruch,  Geschmack  und 
Getast,  und  vielleicht  noch  bei  vielen  anderen  Sinnen,  die  wir  nicht  kennen. 
Ich  werde  nun  gleich  erklären,  wie  das,  was  in  der  Seele  vorgeht,  das  ^^ 
vorstellt,   was  in   den   Organen   geschieht. 


Die  Monadologie.  157 


26.  Das  Gedächtnis  gewährt  den  Seelen  eine  Art  von  Folgerichtigkeit, 
die  der  Vernunft  nachahmt,  von  ihr  aber  unterschieden  werden  muß. 
So  erwarten  die  Tiere  bei  der  Perzeption  von  etwas,  was  ihnen  auffällt 
und  wovon  sie  früher  eine  ähnhche  Perzeption  gehabt  haben,  kraft  der 
5  Vorstellung  ihres  Gedächtnisses  wieder  das,  was  bei  jener  früheren  Per- 
zeption damit  verbunden  gewesen  war,  und  neigen  zu  ähnUchen  Ge- 
danken wie  in  dem  früheren  Falle.  Wenn  man  zum  Beispiel  den  Hunden 
den  Stock  zeigt,  so  erinnern  sie  sich  des  Schmerzes,  den  er  ihnen  ver- 
ursacht hat,  und  heulen  oder  laufen  davon. 

10  27.  Die  starke  Einbildungskraft,  welche  die  Seelen  erregt  und  be- 
wegt, kommt  entweder  von  der  Größe  oder  von  der  Menge  der  vorher- 
gegangenen Perzeptionen.  Denn  oft  wirkt  ein  einmaUger  starker  Ein- 
druck ebenso  wie  eine  lange  Gewohnheit  oder  wie  viele  mäßige,  aber 
immer  wiederholte  Perzeptionen. 

15  28.  Insoweit,  als  die  Folge  der  Perzeptionen  nur  durch  das  Prinzip 
des  Gedächtnisses  bestimmt  wird,  handeln  die  Menschen  wie  die  Tiere; 
sie  gleichen  den  Empirikern  unter  den  Ärzten,  die  eine  bloß  praktische 
Erfahrung  ohne  Theorie  haben;  und  wir  sind  bei  drei  Vierteln  unserer 
Handlungen  nur  Empiriker.    Wenn  man  zum  Beispiel  erwartet,  daß  es 

20  morgen  Tag  wird,  so  verhält  man  sich  als  Empiriker,  weil  es  bis  jetzt 
immer  so  gewesen  ist.     Nur  der  Astronom  urteilt  hier  nach  Gründen. 

29.  Dagegen  ist  es  die  Kenntnis  der  notwendigen  und  ewigen  Wahr- 
heiten, die  uns  von  den  bloßen  Tieren  unterscheidet  und  bewirkt,  daß 
wir  Vernunft  und  Wissenschaften  haben,  indem  sie  uns  zur  Kenntnis 

25  unser  selbst  und  Gottes  erhebt.  Und  das  ist  es,  was  man  die  vernünftige 
Seele  oder  den  Geist  in  uns  nennt. 

30.  Durch  die  Kenntnis  der  notwendigen  Wahrheiten  und  deren 
Abstraktionen  erheben  wir  uns  auch  zu  den  auf  uns  selbst  gerichteten 
Beobachtungen,  die  uns  an  das  denken  lassen,  was  man  das  Ich  nennt, 

30  und  uns  erwägen  lassen,  daß  dieses  und  jenes  in  uns  ist.  Und  indem  wir 
so  an  uns  selbst  denken,  denken  wir  an  das  Seiende,  an  die  Substanz, 
an  das  Einfache  oder  das  Zusammengesetzte,  an  das  Immaterielle  und 
an  Gott  selbst,  indem  wir  begreifen,  daß  das,  was  in  uns  beschränkt  ist, 
bei  ihm  ohne  Schranken  ist.    Diese  auf  uns  selbst  sich  richtenden  Beob- 

35  achtungen  Hefern  die  hauptsächhchen  Gegenstände  unserer  vernünf- 
tigen Erwägungen. 

31.  Unsere  vernünftigen  Erwägungen  stützen  sich  auf  zwei  große 
Prinzipien:  auf  den  Satz  des  Widerspruchs,  demzufolge  wir  für  falsch 
erklären,  was  einen  Widerspruch  enthält,  und  für  wahr,  was  dem  Falschen 

40   kontradiktorisch  entgegengesetzt  ist. 

32.  Und  auf  den  Satz  des  zureichenden  Grundes,  vermöge  dessen 


158  Leibniz. 

wir  annelimen,  daß  kein  Ereignis  wahr  oder  wirklich  und  kein  Aus- 
spruch wahrhaft  sein  kann,  wenn  nicht  ein  zureichender  Grund  dafür 
vorhanden  ist,  warum  es  sich  so  und  nicht  anders  verhält;  obgleich  diese 
Gründe  uns  in  den  meisten  Fällen  nicht  bekannt  sein  können. 

33.  Es  gibt  auch  zwei  Arten  von  Wahrheiten:  die  tatsächlichen  und  5 
die  begründeten.  Die  begründeten  "Wahrheiten  sind  notwendig,  und 
ihr  Gegenteil  ist  unmöghch;  die  tatsächhchen  sind  zufälhg,  und  ihr 
Gegenteil  ist  möghch.  Wenn  eine  Wahrheit  notwendig  ist,  so  kann  man 
den  Grund  dafür  durch  Analyse  auffinden,  indem  man  sie  so  lange  in 
einfachere  Vorstellungen  und  Wahrheiten  auflöst,  bis  man  zu  den  ur-  10 
sprünghchen  gelangt. 

34.  In  dieser  Weise  werden  von  den  Mathematikern  die  theoretischen 
Lehrsätze  und  die  praktischen  Regeln  durch  Analyse  auf  Definitionen, 
Axiome  und  Forderungen  zurückgeführt. 

35.  Es  gibt  schheßhch  einfache  Ideen,  die  sich  nicht  mehr  definieren   15 
lassen;  es  gibt  auch  Axiome  und  Forderungen,  mit  einem  Wort:  ur- 
sprüngliche Prinzipien,  die  nicht  bewiesen  werden  können  und  es  auch 
nicht  nötig  haben.  Es  sind  dies  die  identischen  Aussagen,  deren  Gegenteil 
einen  ausdrücklichen  Widerspruch  enthält. 

36.  Der  zureichende  Grund  muß  aber  auch  bei  den  zufälligen  oder  den   20 
tatsächlichen  Wahrheiten  vorhanden  sein,  das  heißt  in  der  Folge  der 
Dinge,  die  durch  das  Universum  des  Erschaffenen  hin  verbreitet  sind, 
wo  die  Auflösung  in  besondere  Gründe  sich  in  eine  Zergüederung  ohne 
Ende  verlaufen  könnte,  wegen  der  unermeßhchen  Mannigfaltigkeit  der 
Dinge  in  der  Natur  und  der  unendHchen  Teilbarkeit  der  Körper.     Es   25 
gibt  eine  unendhche  Menge  von  Gestalten  und  Bewegungen  in  der  Gegen- 
wart und  in  der  Vergangenheit,  die  zu  der  wirkenden  Ursache  zum  Bei- 
spiel der  von  mir  geschriebenen  Worte  gehören,  und  ebenso  gibt  es  eine 
unendliche  Menge  kleiner  Neigungen  und  Anlagen  meiner  Seele  in  der 
Gegenwart  und  in  der  Vergangenheit,   die  zu  der  Endursache  dieser   30 
meiner  Arbeit  gehören. 

Gottfried  Wilhelm  Leibniz  (1646 — 1716)  hat  eine  zusammenfassende 
Übersicht  seines  Systems  in  einer  (1714  französisch  abgefaßten)  Abhandlung 
niedergelegt,  die  man  die  „Monadologie"  zu  nennen  pflegt.  Sie  ist  in  den 
Gesamtausgaben  Leibnizischer  Schriften  von  Erdmann  (1840)  und  Gerhardt 
(1875 — 1890)  abgedruckt;  eine  Ausgabe  mit  guten  Erläuterungen  erschien 
(Paris,  2.  Auflage  1881)  unter  dem  Titel:  La  Monadologie,  publiee  d'apns 
les  manuscrits  et  accompagnee  d'eclaircissements  par  Emile  Boutroux.  Vor 
kurzem  (1904)  wurde  veröffentlicht  der  erste  Band  von  Leibnizens  „Haupt- 
schriften zur  Grundlegung  der  Philosophie",  in  deren  zweitem  Band  der  Heraus- 
geber, Ernst  Cassirer,  die  Monadologie  von  neuem  mitzuteilen  beabsichtigt. 


Erläuterungen.  159 


Inzwischen  kann  auf  die  in  Reclams  Universalbibliothek  enthaltenen  „Kleineren 
philosophischen  Schriften"  Leibnizens  hinge\viesen  werden.  Aus  der  Literatur 
nennen  wir:  Joh.  Rehmke,  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  (1896, 
S.  194  ff.,  trotz  großer  Kürze  reich  an  Beziehungen),  J.  E.  Erdmann,  Grund- 
riß der  Geschichte  der  Philosophie  (1896  II  ^  155  ff.,  unmittelbar  aus  den 
Quellen  geschöpft)  und  E.  Cassirer,  Leibniz'  System  (1902,  eine  wirkliche 
Untersuchung). 

In  der  „Monadologie"  lassen  sich  drei  Teile  unterscheiden.  Wir  geben 
nur  den  ersten  wieder,  dessen  eine  Hälfte  (§§  1 — 17)  die  Natur  der  Monaden, 
dessen  andere  Hälfte  (§§  18 — 36)  ihre  Vollkommenheitsgrade  behandelt.  Der 
Gedankenfortschritt  darin  ist  der  folgende.  Von  außen  angesehen  zeigt  sich 
die  Monade  als  einfach,  unteilbar  und  sonst  noch  vielfältig  bestimmbar  (§§  1 — 7), 
von  innen  betrachtet  erweist  sie  sich  als  ein  perzipierendes  und  nach  deutlichen 
Vorstellungen  strebendes  Wesen.  Von  der  größeren  oder  geringeren  Deut- 
hchkeit  ihrer  Vorstellungen  hängt  der  Vollkommenheitsgrad  einer  Monade 
ab.  Zu  Unterst  stehen  die  unorganischen  Körper  und  die  Pflanzen  mit  einer 
Art  von  verworrenem  Vorstellen  und  Streben.  Bei  den  Tieren  tritt  Gedächt- 
nis und  Erfahrungswissen  hinzu.  Der  Mensch  besitzt  Apperzeptionsfähigkeit, 
Vernunft  und  Einsicht  in  ewige  Wahrheiten.  Alle  vernünftigen  Erwägungen 
gehen  auf  zwei  große  Grundsätze  zurück,  denen  zwei  Arten  von  Wahrheiten 
entsprechen. 

Die  Entstehung  der  Leibnizischen  Monadenlehre  ist  uns  nicht  durch- 
sichtig, doch  scheint  die  Philosophie  Giordano  Brunos  und  die  Mathematik, 
namentlich  der  Begriff  des  Differentials,  den  größten  Einfluß  geübt  zu  haben. 
Die  Monadenlehre  w^ar  ein  Versuch,  die  uns  umgebende  Welt  in  aU  ihrer  Mannig- 
faltigkeit zu  erklären.  Zwar  glaubte  L.  mit  Spinoza,  daß  nur  ein  Allum- 
fassendes Substanz  sein  könne,  aber  er  besaß  einen  so  lebhaften  Sinn  für  den 
Wert  des  Einzelnen  und  die  Wirklichkeit  der  Unterschiede,  daß  er  als  letztes 
Element  der  Dinge  nicht  eine  einzige  Substanz  zugeben  konnte,  sondern 
viele  Substanzen  annahm.  Soll  jede  dieser  vielen  Substanzen  alles 
umfassen,  so  kann  sie  nicht  räumüch  sein.  L.  denkt  sie  sich  daher  als  aus- 
dehnungslose Kxaftwesen,  als  tätige,  wirkende  Wesen,  die  den  Grund,  aus 
dem  ihre  Veränderungen  hervorgehen,  in  sich  selbst  tragen.  Hiermit  ist  bereits 
ausgesprochen,  daß  jede  Monade  als  wahrhafte  Substanz  nur  aus  sich  heraus 
wirkt  und  nicht  von  anderen  Monaden  bestimmt  wird.  Ihr  Zusammenhang 
untereinander  ruht  nicht  in  gegenseitiger  Beeinflussung,  sondern  in  einer 
eigentümlichen  Beziehung,  die  jede  Monade  zu  allen  übrigen  hat:  jede  spiegelt 
(in  ihrer  Weise)  die  Gesamtheit  der  anderen  (das  heißt  das  Universum),  in 
jeder  sind  die  anderen  vertreten,  „repräsentiert".  Dadurch  scheint  nun  frei- 
lich die  Monade  jene  Einheit  und  Einfachheit  zu  verlieren,  die  doch  für  die 
Selbständigkeit  und  Unvergänglichkeit  eines  bleibenden  Seins  von  nöten  ist. 
L.  überwindet  diese  Schwierigkeit,  indem  er  das  Wort  „repräsentieren"  in  einer 
zweiten  Bedeutung  gleich  „vorstellen"  faßt.  Das  Vorstellen  nämlich,  ja  über- 
haupt jede  seelische  Tätigkeit  ist  ein  Zusammenfassen  des  Vielfachen  zur  Ein- 
heit.    Daher  kann  das  Wirken  jenes  Kraftwesens  nur  im  „Perzipieren"  be- 


j  Leibniz. 

fiehen  (siehe  Anmerkung  zu  15437),  denn  das  ist  eine  immaterielle  Tätigkeit, 
bei  der  Vielheit  und  Einheit  sich  nicht  ausschließen. 

153  4.  Die  Einfachheit  gilt  als  ein  Kennzeichen  der  unvergänglichen  und 
in  sich  selbst  ruhenden  Substanz.  Alles  Zusammengesetzte  ist  als  solches 
Erscheinung. 

153  9.  Wahre  Atome  im  Gegensatz  zu  den  physischen  Atomen.  Die 
Monaden  besitzen  tätige  Kräfte  und  ihre  Einheit  birgt  qualitative  Mannig- 
faltigkeit in  sich;  die  Atome  verfügen  weder  über  eigene  Tätigkeit  noch  über 
Mannigfaltigkeit  noch  über  qualitative  Unterschiede. 

153  20.  Im  folgenden  dreht  es  sich  um  die  Kausalität,  um  das  Verhältnis 
von  Ursache  und  Wirkung.  L.  leugnet  einen  physischen  Einfluß  der  Monaden 
aufeinander.  Es  können  keine  Teilchen  und  keine  stofflosen  Zustände  von 
einer  Monade  in  die  andere  übergehen.  Dennoch  besteht  ein  Kräfteverhält- 
lüs  zmschen  ihnen,  von  dem  freihch  an  unserer  Stelle  nicht  weiter  gesprochen 
wird.     Vergleiche  E.  v.  Hartmann,  Geschichte  der  Metaphysik,  1899,  I,  437. 

153  28  f.  Die  species  sensibiles  machen  die  Accidentien,  das  heißt  die  zu- 
fälligen, sinnUchen  Eigenschaften  eines  Dinges  erkennbar,  beispielsweise  die 
schwarze  Farbe  und  länglich  runde  Form  dieses  Federhalters,  während  die 
species  irUelligibües  den  unveränderlichen  Begriffsinhalt  des  Federhalters  über- 
haupt bezeichnen.  Vergleiche  die  Aristotelische  Auffassung  S.  41.  Die  scho- 
lastische Lehre  der  species  sensibiles,  gegen  die  L.  hier  ankämpft,  ruht  auf 
der  antiken  Annahme  von  Wanderbildchen.  Kleine  Bilder,  so  meinte  man, 
lösen  sich  von  den  Gegenständen  ab  und  wandern  bei  der  Wahrnehmung 
durch  Sinne  und  Nervenröhren  hindurch  in  das  sensorium  commune,  wo  sie 
gewissermaßen  das  Objekt  wiederholen.  Unmittelbar  werden  diese  species 
und  durch  sie  mittelbar  die  Objekte  erkannt.  Nachdem  aber  durch  Galilei 
und  Kepler  die  gründliche  Verschiedenheit  von  den  in  Wahrheit  bloß  ausge- 
dehnten Gegenständen  und  unseren  qualitativen  (Klänge,  Töne  u.  s.  f.  ent- 
haltenden) Wahrnehmungen  festgestellt  worden  war,  ließ  sich  eine  bildartige 
AhnUchkeit  zwischen  Ding  und  Vorstellung  nicht  mehr  aufrechthalten.  — 
Übrigens  muß  bemerkt  werden,  daß  L.s  Polemik  die  großen  Scholastiker 
wie  zum  Beispiel  Thomas  nicht  trifft.  Denn  diese  bekämpfen  die  materiellen 
Wanderbildchen,  weil  durch  sie  die  Sinnesorgane  schheßlich  vollgestopft  und 
die  Objekte  aufgezehrt  werden  müßten;  die  species  sensibiles  bei  Thomas 
sind  nur  intentionales ,  denen  ein  esse  physicum  nicht  zugeschrieben  werden 
darf. 

154  3.  Kant  ist  hingegen  der  Meinung,  daß  der  Verstand  von  der  über- 
sinnUchen  Welt  wohl  ihre  Existenz,  aber  keine  Eigenschaften  aussagen  könne. 

154 18.  Das  sogenannte  principium  indiscernibilium.  Mit  dem  „Innern 
Unterschied"  ist  einer  der  Qualität  gemeint,  denn  bloße  Größenunterschiede 
machen  nach  L.  zwei  Dinge  noch  nicht  verschieden  (was  Kant  späterhin  be- 
stritten hat). 

154  35.  Das  uralte  Problem,  wie  die  Vielheit  mit  der  Einheit  zu  versöhnen 
sei,  erscheint  hier  gewissermaßen  im  kleinsten  Format.  Jede  Monade  ist  eine 
Einheit,  so  zum  Beispiel  unsere  menschliche  Seele ;  in  dieser  Einheit  findet  sich 


Erläuterungen.  Ißl 


aber  eine  Vielheit,  so  oft  eine  Perzeption  auftritt,  denn  der  Gegenstand  einer 
beliebigen  Perzeption  (denken  \dr  wieder  an  den  Federhalter)  bildet  ja  eine 
Mannigfaltigkeit  in  sich.     Vergleiche  §  16. 

154  37,    Perzeption  bezeichnet  alles,  was  in  der  Seele  vorgeht. 

155  1.  ]VIit  ..Geistern'"  sind  die  Seelen  der  Menschen,  der  Engel  und  Gottes 
gemeint. 

155  10.  Unter  Begehren  {appetüio7i)  versteht  L.  die  Tatsache,  daß  die 
Monaden  eine  Kraft  haben,  von  einer  Perzeption  zur  anderen  überzugehen. 

155  17.  Die  Stelle  in  Bayles  Wörterbuch  lautet:  „Enfin  comme  il  {Leibniz) 
suppose  avec  heaucoup  de  raison  que  toutes  les  ämes  sont  simples  et  indivisibles, 
on  ne  saurait  comprendre  qu'elles  j^uissent  etre  comparees  ä  une  pendule;  c'est 
ä  dire  que,parleur  Constitution  originale,  elles  puissent  diversißer  leurs  Operations, 
en  sc  servant  de  Vactivite  spontanee  qu'elles  recevraient  de  leur  Createur.  On 
con^oit  clalrement  qii'un  etre  simple  agira  toujours  tmiformement ,  si  aucune 
cause  etrangere  ne  le  detourne.  S'il  etait  compose  de  plusieurs  pieces  comme 
une  machine,  il  agirait  diversement,  parceque  l'activite  particuliere  de  chaque 
pi^ce  pourrait  changer  a  tout  moment  le  cours  de  celle  des  autres ;  mais  dans  une 
substance  unique,  oii  trouverez-vous  la  cause  du  changement  d'operation  ?^  {Dic- 
tionnaire  historique  et  critique.  Par  Monsieur  Bayle.  Tome  3%  2«  ed.  Rotter- 
dam, 1702,  S.  2608.) 

155  35.  Entelechie  heißt  bei  Aristoteles  die  Form  als  Erfüllung  einer  stoff- 
lichen Anlage  oder  als  der  in  der  Materie  sich  realisierende  Zweck:  der  Stoff, 
der  durch  die  Form  bewältigt  wird,  ist  an  sich  bloße  Möglichkeit,  die  Form 
hingegen  ist  die  Macht  sich  zu  verwirklichen,  ist  der  (von  vornherein  angelegte) 
Vollendungszustand.  Für  L.  liegt  die  Vollkommenheit  in  dem  Reichtum  der 
Einzelheiten,  die  etwas  in  sich  enthält;  in  diesem  Sinn  wird  die  Vollkommen- 
heit zum  Prinzip  des  Seins  und  der  Entwicklung. 

155  38.  xA.utomat  bedeutet  hier  ein  Wesen,  das  in  sich  selbst  das  Prinzip 
seiner  Bewegung  hat.  Die  Handlung  dieser  Leibnizischen  Automaten  ist 
natürlich  das  Perzipieren. 

156  15.  Erregung  =  affection.  Ursprünglich  hatte  L.  Variation  geschrieben, 
was  den  Sinn  des  endgültig  gewählten  Wortes  gut  erläutert. 

156  16  f.  Über  die  petites  perceptions,  die  dumpfen,  unbewußten  Vorstel- 
lungen, vergleiche  Dessoir,  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie, 
1902,  1-,  38. 

157  22  und  158  5.  Die  Aufstellung  der  beiden  Wahrheitsklassen,  der  Nach- 
weis eines  zweifachen  Ursprungs  unseres  Wissens  vermittelt  zwischen  fran- 
zösischem Rationalismus  und  englischem  Empirismus.  Die  Methode  besteht 
bei  den  ewigen  Wahrheiten  in  „geometrischer'"  Ableitung  (vergleiche  Spinoza) 
aus  ersten  Wahrheiten,  bei  den  Tatsachenwahrheiten  in  empirischer  Fest- 
stellung; jene  Wahrheiten  übertreffen  diese  an  Wert.  Der  rein  logische  Cha- 
rakter der  notwendigen  Wahrheiten  zeigt  sich  darin,  daß  sie  analytische  Sätze 
sind,  das  heißt  durch  bloße  Zergliederung  der  in  ihnen  enthaltenen  Begriffe 
sich  ergeben.  Wenn  ich  lehre:  „Jeder  Körper  ist  ausgedehnt",  so  genügt  die 
Analyse  des  Begriffes  eines  Körpers,  um  die  Einsicht  zu  gewinnen,  daß  er 

Dcsöoir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  11 


162  Leibniz. 

ausgedehnt  sein  muß  (vergleiche  S.  177  25  ff.).  Der  letzte  Maßstab  für  solche 
Sätze  ist  ihre  Denknotwendigkeit  (oder  die  Unmöglichkeit  des  Gegenteils), 
weshalb  sie  schließlich  auf  den  Satz  des  Widerspruchs  zurückführen.  Die 
empirischen  Wahrheiten  hingegen  (zum  Beispiel  „Dieser  Federhalter  ist 
schwarz")  lassen  sich  nicht  durch  bloße  Zergliederung  feststellen,  noch  aus 
obersten  Axiomen  ableiten:  sie  sind  Tatsachen  und  immer  nur  wieder  auf 
Tatsachen  zurückzuführen.  Das  Prinzip  für  dieses  System  von  Wahrheiten 
liegt  demnach  im  Kausalzusammenhang  der  Erscheinungen:  es  ist  der  Satz 
vom  zureichenden  Grunde.  Über  eine  weitere  Bedeutung  des  gleichen  Satzes 
unterrichtet  die  Anmerkung  zu  157  41. 

157  38.  Anderwärts  (zum  Beispiel  in  den  Nouveaux  Essais  IV,  2,  §  1)  unter- 
scheidet L.  vom  Satz  des  Widerspruchs  noch  den  damit  eng  zusammen- 
gehörigen Satz  der  Identität  A  =  A.  Der  Satz  des  Widerspruchs,  seit  Ari- 
stoteles, ja  seit  Parmenides  als  ein  Denkaxiom  anerkannt,  das  eines  Beweises 
weder  fähig  noch  bedürftig  ist,  tritt  uns  hier  in  zwei  Fassungen  entgegen. 
Falsch  ist  erstens,  was  einen  Widerspruch  in  sich  birgt,  wie  wenn  ich  von 
diesem  Federhalter  in  gleicher  Beziehung  aussage,  er  sei  schwarz  und  er  sei 
nicht  schwarz.  Wahr  ist  zweitens,  was  dem  Falschen  kontradiktorisch,  das 
heißt  so  entgegengesetzt  ist,  daß  ein  dritter  möglicher  Fall  ausgeschlossen  ist. 
Ist  es  also  falsch,  daß  der  Federhalter  die  schwarze  Farbe  hat,  so  folgt  daraus 
unmittelbar  das  Urteil  als  richtig:  er  hat  nicht  die  schwarze  Farbe.  Freilich 
kann  man  aus  dem  bloßen  Grundsatz  des  Widerspruchs  nicht  wissen,  ob  die 
erste  Behauptung  falsch  war,  sondern  bedarf  dazu  anderer  Erkenntnismittel. 
Aber  darauf  geht  L.  nicht  ein. 

157  41.  Auch  das  Denkgesetz  des  zureichenden  Grundes  tritt  hier  in  doppelter 
Fassung  auf.  Die  eine  ist  metaphysisch,  nämlich,  daß  kein  Ereignis  ohne 
genügenden  Grund  sich  vollziehe,  die  andere  ist  logisch,  nämlich,  daß  jedes 
wahre  Urteil  hinreichend  begründet  sein  müsse.  Eine  noch  weitere  Aus- 
dehnung hat  Schopenhauer  diesem  Satz  gegeben  in  seiner  Promotionsschrift 
„Über  die  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde",  1813. 
Gegenwärtig  wird  meist  die  Beschränkung  auf  die  logische  Fassung  emp- 
fohlen. Alsdann  kann  man  den  Satz  dahin  erläutern,  daß  im  strengen  Denken 
mit  jeder  vorhergehenden  Erkenntnis  die  Notwendigkeit  der  folgenden  gegeben 
ist.  Logische  Beziehung  nennen  wir  eine  Abhängigkeit  der  Denkinhalte  von- 
einander: das,  wovon  etwas  abhängt,  heißt  der  Grund,  das  Abhängige  heißt 
die  Folge.  Dieser  positive  Ausdruck  der  Denkgesetzmäßigkeit  bezeichnet 
ebenso  wie  der  negative  Ausdruck  (der  Satz  des  Widerspruchs)  die  Eigen- 
tümlichkeiten, an  welche  die  Gültigkeit  der  Denkakte  gebunden  ist. 

158  12.    Vergleiche  den  Anfang  unseres  Kommentars  zu  Spinoza. 

D  e  s  s  o  i  r. 


XIV. 

Hume. 


Vom  Ursprung  der  Ideen. 

Wir  können  (daher)  sämtliche  Vorstellungen  des  Geistes  in  zwei 
Klassen  oder  Gattungen  einteilen,  die  sich  durch  ihre  verschiedenen  Grade 
von  Stärke  und  Lebhaftigkeit  unterscheiden.  Die  weniger  starken  und 
lebendigen  heißen  gewöhnlich  Gedanken  oder  Ideen.  Für  die 
5  andere  Gattung  fehlt  in  unserer  und  den  meisten  anderen  Sprachen 
ein  Name;  ich  vermute,  weil  es  für  keine  anderen  als  philosophische 
Zwecke  erforderUch  war,  sie  unter  eine  allgemeine  Bezeichnung  oder 
Benennung  einzureihen.  Nehmen  wdr  uns  daher  eine  kleine  Freiheit 
und  nennen  sie  ., Eindrücke",  dies  Wort  in  einem  etwas  anderen  als  dem 

10  übhchen  Sinn  gebraucht.  Mit  dem  Worte  Eindruck  also  meine 
ich  alle  unsere  lebendigeren  Vorstellungen,  wenn  wir  hören,  sehen, 
fühlen,  heben,  hassen,  wünschen  oder  wollen.  Eindrücke  sind  ferner 
verschieden  von  Ideen,  die  in  den  weniger  lebendigen  Vorstellungen  be- 
stehen, deren  war  uns  bewußt  sind,  wenn  wir  an  irgend  eine  jener  oben 

15   erwähnten  Empfindungen  oder  Gemütsbewegungen  zurückdenken. 

Nichts  mag  auf  den  ersten  Bhck  schrankenloser  scheinen  als  das 
menschhche  Denken,  das  sich  nicht  nur  aller  menschlichen  Macht  und 
Autorität  entzieht,  sondern  nicht  einmal  in  die  Grenzen  von  Natur 
und  Wirklichkeit  gebannt  ist.   Ungeheuer  zu  bilden  und  widersprechende 

20  Gestalten  und  Erscheinungen  zu  verbinden,  kostet  der  Einbildungs- 
kraft nicht  mehr  Mühe,  als  die  natürlichsten  und  vertrautesten  Gegen- 
stände vorzustellen.  Und  während  der  Körper  auf  einen  Planeten 
beschränkt  ist,  auf  dem  er  leidvoll  und  schwerfälHg  umherkriecht,  kann 
uns  der  Gedanke  blitzschnell  in  die  entlegensten  Gebiete  des  Weltalls 

25  versetzen  oder  selbst  darüber  hinaus  ins  unbegrenzte  Chaos,  wo  die 
Natur,  wie  man  glaubt,  in  gänzhcher  Verwirrung  hegt.  Was  niemals 
gesehen  oder  gehört  wurde,  kann  doch  vorgestellt  werden;  und  nichts 
liegt  jenseits  der  Macht  des  Gedankens,  außer  was  einen  unbedingten 
Widerspruch  in  sich  enthält. 


164  Hume. 

Aber  obgleich  unser  Denken  diese  unbeschränkte  Freiheit  zu  besitzen 
scheint,  werden  wir  doch  bei  näherer  Untersuchung  finden,  daß  es  in 
Wirkhchkeit  in  sehr  enge  Grenzen  eingeschlossen  ist,  und  daß  diese 
ganze  schöpferische  Macht  des  Geistes  auf  nicht  mehr  hinauskommt 
als  auf  die  Fähigkeit,  die  uns  von  den  Sinnen  und  der  Erfahrung  ge-  s 
lieferten  Stoffe  zu  verbinden,  umzustellen,  zu  vermehren  oder  zu  ver- 
mindern. Denken  wir  an  einen  goldenen  Berg,  so  verbinden  wir  nur 
zwei  miteinander  verträgliche  Ideen,  Gold  und  Berg,  mit  denen 
wir  zuvor  bekannt  waren.  Ein  tugendhaftes  Pferd  können  wir  vorstellen, 
weil  wir  von  unserem  eigenen  Gefühl  aus  Tugend  vorstellen  können;  lo 
und  diese  können  wir  mit  dem  Aussehen  und  der  Gestalt  eines  Pferdes 
vereinigen,  das  ein  uns  vertrautes  Tier  ist'.  Kurz,  alle  Stoffe  des  Denkens 
sind  entweder  von  unserem  äußeren  oder  unserem  inneren  Gefühl  her- 
geleitet: ihre  Mischung  und  Zusammensetzung  allein  gehört  dem  Geist 
und  dem  Willen  an.  Oder,  um  mich  in  philosophischer  Sprache  aus-  i5 
zudrücken:  alle  unsere  Ideen  (oder  schwächeren  Vorstellungen)  sind 
Kopien  unserer  Eindrücke   (oder  lebendigeren  Vorstellungen). 

Um  dies  zu  beweisen,  werden  hoffentlich  die  beiden  folgenden  Argu- 
mente genügen.    Erstens:  zergliedern  wir  unsere  Gedanken  oder  Ideen, 
mögen  sie  noch  so  zusammengesetzt  oder  erhaben  sein,  so  finden  wir   20 
stets,  daß  sie  sich  in  solche  einfachen  Ideen  auflösen,  die  die  Kopien 
eines  früheren  Fühlens  oder  Empfindens  sind.     Selbst  jene  Ideen,  die 
beim  ersten  Anblick  am  weitesten  von  diesem  Ursprung  entfernt  er- 
scheinen, zeigen  sich  bei  näherer  Untersuchung  davon  hergeleitet.    Die 
Idee  von  Gott,  im  Sinne  eines  unendlich  intelhgenten,  weisen  und  gütigen   25 
Wesens,  entspringt  aus  dem  Nachdenken  über  die  Tätigkeiten  unseres 
eigenen  Geistes  und  aus  der  ins  Unendliche  gehenden  Steigerung  jener 
Eigenschaften :  Güte  und  Weisheit.   Wir  mögen  diese  Untersuchung  fort- 
setzen, soweit  es  uns  behebt,  —  immer  werden  wir  dabei  finden,  daß  jede 
Idee,  die  wir  prüfen,  die  Kopie  eines  gleichartigen  Eindrucks  ist.    Wer   30 
behaupten  wollte,  dieser  Satz  sei  nicht  allgemein  wahr  noch  ausnahms- 
los, hat  nur   ein,   und  zwar  ein  leichtes  Verfahren,  ihn  zu  widerlegen : 
indem  er  die  Idee  nachweist,  die  nach  seiner  Meinung  nicht  aus  dieser 
Quelle  geschöpft  ist.     Alsdann  wird  es  uns  obüegen,  wenn  wir  unsere 
Lehre  aufrecht  halten  wollen,  den  Eindruck  oder  die  lebendige  Vor-   35 
Stellung  nachzuweisen,  die  ihr  entspricht. 

Zweitens:  kommt  es  infolge  eines  Fehlers  am  Sinnesorgan  vor,  daß 
ein  Mensch  für  eine  Empfindung  irgendwelcher  Art  nicht  empfänglich 
ist,  so  finden  wir  stets,  daß  er  dann  ebensowenig  der  entsprechenden 
Ideen  fähig  ist.    Ein  Bhnder  kann  sich  keinen  Begriff  von  Farben,  ein  40 
Tauber  keinen  von  Tönen  machen.    Gibt  man  jedem  von  ihnen  den  Sinn 


Vom  Ursprung  der  Ideen.  165 

wieder,  dessen  er  ermangelt,  so  ist  ihm  mit  der  Öffnung  dieses  neuen 
Zuganges  für  seine  Empfindungen  auch  ein  Zugang  für  die  Ideen  ge- 
öffnet, und  er  findet  keine  Schwierigkeit,  sich  diese  Gegenstände  vor- 
zustellen. Der  Fall  ist  derselbe,  wenn  der  Gegenstand,  der  geeignet  ist, 
5  irgend  eine  Empfindung  anzuregen,  niemals  auf  das  Organ  eingewirkt 
hat.  Ein  Lappländer  oder  ein  Neger  hat  keinen  Begriff  vom  Geschmack 
des  Weines.  Und  obgleich  es  wenig  oder  keine  Beispiele  einer  ähnlichen 
Mangelhaftigkeit  des  Geistes  gibt,  wo  jemand  eine  seiner  Gattung  eigen- 
tümliche Empfindung  oder  Leidenschaft  nie  gefühlt  hat  oder  ihrer  gänz- 

10  hch  unfähig  ist,  so  finden  wir  hier  doch  die  gleiche  Beobachtung  in  einem 
geringeren  Grade.  Ein  Mensch  von  gutmütigem  Charakter  kann  sich 
keine  Idee  von  eingewurzelter  Eache  oder  Grausamkeit  bilden,  noch 
ein  selbstsüchtiges  Herz  sich  leicht  den  Gipfel  von  Freundschaft  und 
Edelmut  vorstellen.    Gern  wird  zugestanden,  daß  andere  Wesen  manche 

15  Sinne  besitzen  mögen,  von  denen  wir  keine  Vorstellung  haben  können, 
weil  die  Ideen  davon  auf  dem  einzigen  Wege,  auf  dem  eine  Idee  Zugang 
zum  Geiste  haben  kann,  niemals  in  uns  eingeführt  worden  sind :  nämlich 
durch  das  tatsächliche  Fühlen  und  Empfinden. 

Gleichwohl  gibt  es  eine  dem  widersprechende  Erscheinung,  die  be- 

20  weisen  könnte,  daß  es  für  Ideen  nicht  schlechtweg  unmöglich  sei,  un- 
abhängig von  ihren  entsprechenden  Eindrücken  zu  entstehen.  Ich  glaube, 
es  wird  gern  zugegeben,  daß  die  einzelnen  verschiedenen  Ideen  von  Farbe, 
die  durch  das  Auge  eindringen,  oder  die  von  Ton,  die  durch  das  Ohr 
zugeführt  werden ,    wirkhch  alle  voneinander  verschieden,    wenn  auch 

25  zugleich  ähnlich  sind.  Ist  dies  nun  von  verschiedenen  Farben  wahr,  so 
muß  es  nicht  weniger  von  den  verschiedenen  Schattierungen  derselben 
Farbe  wahr  sein;  jede  Schattierung  bringt  eine  bestimmte,  von  den 
übrigen  unabhängige  Idee  hervor.  Denn  würde  dies  geleugnet,  so  wäre 
durch  die  stetige  Abstufung  der  Schattierungen  das  unmerkHche  Ver- 

30  laufen  einer  Farbe  in  eine  ihr  ganz  entgegengesetzte  möglich;  und  wer 
die  Verschiedenheit  irgendwelcher  Mittelglieder  nicht  zugeben  will, 
kann  nicht  ohne  inneren  Widerspruch  die  Gleichheit  der  äußeren  leugnen. 
Man  nehme  also  an,  eine  Person  habe  sich  dreißig  Jahre  lang  ihres  Augen- 
lichtes erfreut  und  sei  mit  Farben  aller  Art  bekannt  geworden,  ausge- 

35  nommen  zum  Beispiel  eine  besondere  Schattierung  von  blau,  die  sie 
anzutreffen  niemals  das  Glück  hatte.  Legen  wir  alle  die  verschiedenen 
Schattierungen  dieser  Farbe  außer  jener  einzigen,  von  der  dunkelsten 
bis  zur  hellsten  allmählich  absteigend,  vor  sie  hin,  so  ist  offenbar:  sie 
stellt  da,  wo  diese  Schattierung  fehlt,  eine  Lücke  vor  und  wird  an  dieser 

40  Stelle  eine  größere  Entfernung  zwischen  den  angrenzenden  Farben 
empfinden  als  an  irgend  einer  anderen.   Nun  frage  ich,  ob  es  für  sie  mög- 


166  Hume. 

lieh  sei,  aus  ihrer  eigenen  Einbildungskraft  diesen  Ausfall  zu  decken 
und  sich  die  Idee  jener  besonderen  Schattierung  zu  verschaffen,  obgleich 
sie  ihr  durch  die  Sinne  niemals  zugeführt  worden  war.  Ich  glaube,  es 
werden  nur  wenige  der  Meinung  sein,  sie  könne  es  nicht.  Und  dies 
kann  als  Beweis  dafür  dienen,  daß  die  einfachen  Ideen  nicht  immer  und  & 
unter  allen  Umständen  von  den  entsprechenden  Eindrücken  abgeleitet 
sind;  obgleich  dieser  Fall  so  vereinzelt  dasteht,  daß  er  kaum  unserer 
Beachtung  wert  ist  und  nicht  verdient,  daß  wir  seinetwegen  allein  unseren 
allgemeinen  Grundsatz  ändern. 

Hier  haben  wir  also  einen  Satz,  der  nicht  nur  in  sich  selbst  einfach   lo 
und  verständlich  scheint,  sondern  der  auch  bei  richtiger  Anwendung 
jede  Streitfrage  in  gleicher  Weise  klären  und  das  ganze  Kauderwelsch 
verbannen  könnte,  das  so  lange  die  metaphysischen  Betrachtungen  in 
Besitz  gehabt  und  in  Verruf  gebracht  hat.  Alle  Ideen,  besonders  die 
abstrakten,  sind  von  Natur  matt  und  dunkel;    der  Geist  hat  nur  einen   is 
kümmerlichen  Halt  an  ihnen;  sie  werden  leicht  mit  anderen  ähnlichen 
Ideen  verwechselt ;  und  haben  wir  irgend  einen  Ausdruck  oft  gebraucht, 
wenn  auch  ohne  bestimmte  Bedeutung,  so  sind  wir  geneigt  uns  einzu- 
bilden, es  sei  eine  bestimmte  Idee  mit  ihm  verknüpft.   Dagegen  sind  alle 
Eindrücke,  das  heißt  alle  inneren  oder  äußeren  Empfindungen,  stark  und   20 
lebhaft;  die  Grenzen  zwischen  ihnen  sind  genauer  bestimmt,  und  es  ist 
nicht  leicht,  in  Hinsicht  auf  sie  einen  Irrtum  oder  eine  Verwechslung 
zu  begehen.    Hegen  wir  daher  Verdacht,  ein  philosophischer  Ausdruck 
sei  ohne  irgend  eine  Bedeutung  oder  Idee  angewendet   —  was  freilich 
nur  allzu  häufig  geschieht  — ,  so  brauchen  wir  nur  zu  fragen:    von   25 
welchem   Eindruck   ist   jene   angebliche   Idee   her- 
geleitet?   Und  läßt  sich  keiner  aufweisen,  so  wird  dies  dazu  dienen, 
unseren  Verdacht  zu  bestärken.    Indem  wir  die  Ideen  in  ein  so  klares 
Licht  gebracht  haben,  dürfen  wir  vernünftigerweise  hoffen,  jeden  Streit 
zu  entfernen,  der  sich  hinsichtlich  ihrer  Natur  und  Wirklichkeit  erheben   30 
könnte. 


Von  der  Idee  der  notwendigen  Verknüpfung. 

In  der  Metaphysik  kommen  keine  dunkleren  und  unbestimmteren 
Ideen  vor  als  die  von  Vermögen,  Kraft,  Energie  oder 
notwendiger  Verknüpfung,  von  denen  wir  notwendiger- 
weise jeden  Augenblick  in  allen  unseren  Untersuchungen  zu  handeln 
haben.  Wir  werden  uns  daher  in  diesem  Abschnitt  bemühen,  womöglich 
den  genauen  Sinn  dieser  Bezeichnungen  festzustellen  und  dadurch  einen 


Von  der  Idee  der  notwendigen  Verknüpfung.  167 

Teil  jener  Dunkelheit  zu  beseitigen,  über  die  in  dieser  Art  von  Philosophie 
so  sehr  geklagt  wird. 

Es  scheint  ein  Satz  zu  sein,  der  nicht  viel  Streit  zulassen  dürfte, 
daß  alle  unsere  Ideen  nichts  als  Kopien  unserer  Eindrücke  sind,  oder 

5  mit  anderen  Worten,  daß  es  uns  unmöglich  ist,  irgend  etwas  zu  denken, 
was  WTT  nicht  vorher  durch  unsere  äußeren  oder  inneren  Sinne  aufgenom- 
men haben.  Ich  habe  mich  bemüht,  diesen  Satz  zu  erläutern  und  zu 
beweisen,  und  habe  meine  Hoffnung  ausgedrückt,  daß  die  Menschen  durch 
seine  geeignete  Anwendung  größere  Klarheit  und  Genauigkeit  im  philo- 

10  sophischen  Denken  erreichen  dürften,  als  sie  bisher  zu  erlangen  im  stände 
waren.  Zusammengesetzte  Ideen  können  vielleicht  durch  eine  Begriffs- 
bestimmung gut  erkannt  werden,  die  nichts  als  eine  Aufzählung  jener 
Teile  oder  einfachen  Ideen  ist,  aus  denen  sie  bestehen.  Aber  wenn  wir 
mit  Definitionen  bis  zu  den  einfachsten  Ideen  hinauf  gekommen  sind 

15  und  immer  noch  einige  Zweideutigkeit  und  Dunkelheit  finden:  welche 
Hilfsquelle  besitzen  wir  dann  noch?  Durch  welche  Erfindung  können 
wir  Licht  über  diese  Idee  verbreiten  und  sie  für  unseren  geistigen  Blick 
insgesamt  genau  und  bestimmt  machen?  Man  weise  die  Eindrücke  oder 
ursprünglichen  Gefühle  nach,  deren  Kopien  die  Ideen  sind.    Diese  Ein- 

20  drücke  sind  alle  stark  und  sinnfälhg.  Sie  lassen  keine  Zweideutigkeit 
zu.  Sie  stehen  nicht  nur  selbst  in  vollem  Licht,  sondern  können  auch  die 
ihnen  entsprechenden,  in  Dunkel  hegenden  Ideen  aufhellen.  Und  so 
erhalten  wir  vielleicht  ein  neues  Mikroskop  oder  eine  Art  Sehwerkzeug, 
wodurch  die  winzigsten  und  einfachsten  Ideen  in  den   Geisteswissen- 

25   Schäften  so  vergrößert  werden  können,  daß  sie  unserer  Auffassung  un- 
mittelbar zugänghch  sind  und  ebenso  wie  die  gröbsten  und  sinnfältigvSten 
Ideen  erkannt  werden,  die  der  Gegenstand  unserer  Forschung  sein  können. 
Um  also  mit  der  Idee  von  Vermögen  oder  notwendiger  Verknüpfung 
völhg  vertraut  zu  werden,  wollen  \\4r  den  ihr  zu  Grunde  liegenden  Ein- 

30  druck  prüfen;  und  um  ihn  mit  größerer  Sicherheit  zu  finden,  suchen  wir 
nun  nach  ihm  in  allen  den  Quellen,  aus  denen  er  möghcherweise  her- 
geleitet werden  kann. 

Bücken  wir  um  uns  auf  äußere   Gegenstände  und  betrachten  die 
Wirksamkeit  von  Ursachen,  so  können  wir  niemals,  in  keinem  einzigen 

35  Fall,  irgend  ein  Vermögen  oder  eine  notwendige  Verknüpfung  entdecken, 
irgend  eine  Qualität,  die  die  Wirkung  an  die  Ursache  bindet  und  die 
eine  zur  unfehlbaren  Folge  der  anderen  macht.  Wir  finden  bloß,  daß 
das  eine  wirkhch  und  tatsächlich  auf  das  andere  folgt.  Auf  den  Stoß  der 
einen  Billardkugel  folgt  die  Bewegung  in  der  zweiten.     Das  ist  alles, 

40  was  den  äußeren  Sinnen  erscheint.  Der  Geist  hat  kein  Gefühl  oder 
inneren  Eindruck  von  dieser  Folge  der  Gegenstände ;  demnach  liegt 


168  Hume. 

in  irgend  einem  einzelnen,  besonderen  Beispiel  von  Ursache  und  Wirkung 
niclits,  was  die  Idee  von  Vermögen  oder  notwendiger  Verknüpfung 
eingeben  könnte. 

Bei  dem  Erscheinen  eines  Gegenstandes  können  wir  niemals  gleich 
erraten,  welche  Wirkung  sich  aus  ihm  ergeben  werde.  Vermöchte  jedoch  0 
der  Geist  das  Vermögen  oder  die  Energie  irgend  einer  Ursache  zu  ent- 
decken, so  könnten  wir  die  Wirkung  sogar  ohne  Erfahrung  voraussehen 
und  gleich  beim  ersten  Male  mit  Gewißheit  über  sie  urteilen  durch  die 
bloße  Kraft  des  Denkens  und  Schließens. 

Als  Tatsache  wissen  wir,  daß  Hitze  ein  beständiger  Begleiter  der  10 
Flamme  ist;  doch  zu  einer  Vermutung  oder  Vorstellung,  was  das  Bindende 
zwischen  ihnen  sei,  haben  wir  nicht  genug  Anlaß.  Es  ist  daher  unmög- 
lich, die  Idee  von  Kraft  aus  der  Betrachtung  der  Körper  in  den  Einzel- 
fällen ihrer  Wirksamkeit  abzuleiten,  da  kein  Körper  je  irgend  eine  Kraft 
enthüllt,  die  das  Urbild  dieser  Idee  sein  kann.  15 

Weil  uns  also  äußere  Gegenstände,  wie  sie  den  Sinnen  erscheinen, 
durch  ihre  Wirksamkeit  in  einzelnen  Fällen  keine  Idee  von  Vermögen 
oder  notwendiger  Verknüpfung  geben,  wollen  wir  sehen,  ob  diese  Idee 
aus  einer  Reflexion  auf  die  Tätigkeit  unseres  eigenen  Geistes  abgeleitet 
und  nach  einem  inneren  Eindruck  abgebildet  ist.  Man  könnte  behaup-  20 
ten,  wir  seien  jeden  Augenblick  uns  eines  inneren  Vermögens  bewußt, 
wann  wir  fühlen,  daß  wir  durch  den  einfachen  Befehl  unseres  Willens 
die  Organe  unseres  Körpers  bewegen  oder  die  Fähigkeiten  unseres 
Geistes  leiten  können.  .  .  .  Die  Bewegung  unseres  Körpers  folgt  auf 
den  Befehl  unseres  Willens.  Dessen  sind  wir  uns  jederzeit  bewußt.  25 
Aber  die  Mittel,  wodurch  dies  geschieht,  die  Energie,  durch  die  der 
Wille  eine  so  außerordentliche  Tat  vollbringt,  sind  dem  unmittelbaren 
Bewußtsein  so  sehr  entzogen,  daß  sie  unserer  eifrigsten  Forschung  für 
immer  entgehen  müssen. 

Doch  eilen  wir  zu  einem  Beschluß  dieser  Erörterung,  die  schon  zu  30 
sehr  in  die  Länge  gezogen  ist.  Vergebens  haben  wir  nach  einer  Idee  von 
Vermögen  oder  notwendiger  Verknüpfung  in  allen  den  Quellen  gesucht, 
aus  denen  sie  vermutUch  geflossen  sein  könnte.  Es  zeigt  sich,  daß  wir 
in  einzelnen  Fällen  von  körperhchen  Vorgängen  auch  bei  gewissenhaf- 
tester Untersuchung  nichts  weiter  entdecken  können  als  das  Folgen  eines  3b 
Vorgangs  auf  den  anderen,  ohne  fähig  zu  sein,  irgend  eine  Kraft  oder 
ein  Vermögen  zu  begreifen,  durch  das  die  Ursache  wirkt,  oder  irgend 
eine  Verknüpfung  zwischen  ihr  und  ihrer  angenommenen  Wirkung. 
Dieselbe  Schwierigkeit  stellt  sich  bei  der  Betrachtung  der  Einwirkungen 


Von  der  Idee  der  notwendigen  Verknüpfung.  1(39 

des  Geistes  auf  den  Körper  ein,  wo  wir  beobachten,  wie  die  Bewegung 
auf  das  Wollen  folgt,  nicht  aber  im  stände  sind,  das  Band,  das  Wollen 
und  Bewegung  verbindet,  oder  die  Energie,  durch  die  der  Geist 
diese  Wirkung  hervorbringt,  zu  beobachten  oder  zu  begreifen.  Die 
5  Macht  des  Willens  über  seine  eigenen  Fähigkeiten  und  Ideen  ist  nicht 
im  geringsten  faßhcher,  —  so  daß  sich  überhaupt  in  der  ganzen  Natur 
nicht  ein  einziger  Fall  von  Verknüpfung  zeigt,  den  wir  begreifen  könnten. 
Alle  Vorgänge  scheinen  völhg  lose  und  getrennt  zu  sein.  Ein  Vorgang 
folgt  dem  anderen ;  niemals  aber  können  wir  ein  Band  zwischen  ihnen 

10  beobachten.  Sie  scheinen  verbunden,  aber  nie  verknüpft.  Und 
da  wir  von  nichts,  was  sich  weder  unserem  äußeren  Sinn  noch  inneren 
Gefühl  jemals  zeigte,  eine  Idee  haben  können,  so  scheint  der  not- 
wendige Schluß  der:  wir  haben  keine  Idee  von  Verknüpfung  oder  Ver- 
mögen überhaupt,  und  diese  Worte  sind  völhg  sinnlos,  sei  es,  daß  sie  in 

15  philosophischen  Betrachtungen  oder  im  gewöhnlichen  Leben  angewendet 
werden. 

Es  bleibt  aber  doch  noch  ein  Weg,  diesem  Schluß  zu  entgehen,  und 
eine  Quelle,  die  wir  noch  nicht  geprüft  haben.  Haben  wir  irgend  einen 
natürhchen  Gegenstand  oder  Vorgang  vor  uns,  so  ist  es  uns  unmögUch, 

20  selbst  mit  Aufbietung  alles  Scharfsinns  und  aller  Einsicht,  ohne  Erfah- 
rmig  zu  entdecken  oder  auch  nur  zu  vermuten,  welches  Ereignis  aus  ihm 
hervorgehen  werde,  oder  mit  unserer  Voraussicht  über  jenen  Gegenstand 
hinauszukommen,  der  dem  Gedächtnis  und  den  Sinnen  unmittelbar 
gegenwärtig  ist.    Selbst  nach   einem    Falle  oder  Versuche,  wobei  wir 

25  beobachtet  haben,  wie  ein  einzelner  Vorgang  auf  einen  anderen  folgte, 
sind  wir  nicht  berechtigt,  eine  allgemeine  Regel  daraus  zu  bilden  oder 
vorauszusagen,  was  in  gleichen  Fällen  geschehen  werde;  denn  mit  Recht 
gilt  es  für  eine  unverzeihUche  Unbesonnenheit,  aus  einer  einzigen  noch 
so  genauen  und  sicheren  Probe  über  den  ganzen  Lauf  der  Natur  zu  ur- 

30  teilen.  Ist  aber  ein  Vorgang  von  besonderer  Art  immer,  in  allen  FäUen, 
mit  einem  anderen  verbunden  gewesen,  so  stehen  wir  nicht  länger  an, 
den  einen  bei  Erscheinen  des  anderen  vorauszusagen  und  die  Beweisfüh- 
rung anzuwenden,  die  allein  uns  über  irgendwelche  Tatsache  oder  Existenz 
Gewißheit  geben  kann.      Wir  nennen  alsdann  den  einen   Gegenstand 

35  Ursache,  den  anderen  Wirkung.  Wir  setzen  voraus,  zwischen 
ihnen  bestehe  eine  Verknüpf ung ;  irgend  ein  Vermögen  sei  in  dem  einen, 
wodurch  er  unfehlbar  den  anderen  hervorbringt,  und  mit  der  größten 
Sicherheit  und  strengsten  Notwendigkeit  wirkt. 

Es  zeigt  sich  also :  diese  Idee  einer  notwendigen  Verknüpfung  zwischen 

40  Vorgängen  entspringt  aus  einer  Anzahl  ähnhcher  Fälle  der  beständigen 
Verbindung  dieser  Vorgänge;  und  jene  Idee  kann  niemals  durch  irgend 


170  Hume. 

einen  dieser  Fälle  eingegeben  werden,  mag  man  ihn  auch  in  allen  mög- 
lichen Beleuchtungen  und  Stellungen  betrachten.  Allein  es  gibt  in  einer 
Anzahl  von  Fällen  nichts,  was  von  jedem  einzelnen  als  genau  gleich- 
artig vorausgesetzten  Fall  verschieden  wäre;  ausgenommen  nur,  daß 
nach  einer  Wiederholung  gleichartiger  Fälle  der  Geist  durch  die  Gewöh-  s 
nung  dahin  gebracht  wird,  beim  Erscheinen  des  einen  Vorgangs  seinen 
gewöhnlichen  Begleiter  zu  erwarten  und  zu  glauben,  er  werde  ins 
Dasein  treten.  Diese  Verknüpfung  also,  die  wir  im  Geist  fühlen, 
dieser  gewohnheitsmäßige  Übergang  der  Einbildungskraft  von  einem 
Gegenstand  zu  seinem  gewöhnlichen  Begleiter  ist  das  Gefühl  oder  der  lo 
Emdruck,  aus  dem  wir  die  Idee  von  Vermögen  oder  notwendiger  Ver- 
knüpfung bilden.  Weiter  liegt  dabei  nichts  vor.  Man  betrachte  die 
Sache  von  allen  Seiten:  man  wird  nie  irgend  einen  anderen  Ursprung 
jener  Idee  finden.  Dies  ist  der  einzige  Unterschied  zmschen  einem 
Falle,  aus  dem  wir  niemals  die  Idee  von  Verknüpfung  gewinnen  können,  is 
und  einer  Anzahl  gleichartiger  Fälle,  durch  die  sie  eingegeben  wird.  Sieht 
ein  Mensch  zum  ersten  Male  die  Mitteilung  der  Bewegung  durch  Stoß, 
wie  beim  Zusammenprall  zweier  Billardkugeln,  so  kann  er  nicht  urteilen, 
der  eine  Vorgang  sei  mit  dem  anderen  verknüpft,  sondern  nur, 
er  sei  mit  ihm  verbunden.  Hat  er  mehrere  derartige  Fälle  beob-  20 
achtet,  dann  urteilt  er,  sie  seien  verknüpft.  Welche  Veränderung  ist 
geschehen,  die  diese  neue  Idee  von  Verknüpfung  entstehen  läßt? 
Nichts  als  daß  er  jetzt  fühlt,  daß  diese  Vorgänge  in  seiner  Ein- 
bildung verknüpft  sind,  und  sofort  die  Existenz  des  einen  aus  dem 
Erscheinen  des  anderen  voraussagen  kann.  Sagen  wir  also,  ein  Objekt  25 
ist  mit  einem  anderen  verknüpft,  so  meinen  wir  nur,  sie  haben  in  unserem 
Denken  eine  Verknüpfung  gewonnen  und  veranlassen  diese  Folgerung, 
wodurch  sie  gegenseitig  zu  Beweisen  ihrer  Existenz  werden:  ein  Schluß, 
der  etwas  außergewöhnlich  ist,  doch  auf  genügende  E\'idenz  gegründet 
scheint.  Seine  Evidenz  wird  auch  durch  kein  allgemeines  Mißtrauen  30 
des  Verstandes  oder  einen  skeptischen  Verdacht  in  Bezug  auf  jeden  neuen 
und  außerordenthchen  Schluß  geschwächt  werden.  Keine  Schlüsse 
können  dem  Skeptizismus  angenehmer  sein  als  solche,  die  über  die 
Schwäche  und  die  engen  Grenzen  der  menschlichen  Vernunft  und  Fas- 
sungskraft Aufklärungen  geben.  35 

Und  welcher  zwingendere  Beweis  könnte  für  die  überraschende 
Unwissenheit  und  Schwäche  des  Verstandes  beigebracht  werden  als  der 
gegenwärtige?  Denn  sicherlich :  gibt  es  irgend  eine  Beziehung  zwischen 
Gegenständen,  an  deren  vo]lkommener  Kenntnis  uns  gelegen  ist,  so  ist 
es  die  von  Ursache  und  Wirkung.  Hierauf  sind  alle  unsere  Schlüsse  40 
über  eine  Tatsache  oder  Existenz  gegründet.  Durch  sie  allein  erlangen  wir 


Von  der  Idee  der  notwendigen  Verknüpfung.  171 

überhaupt  Sicherheit  über  Gegenstände,  die  von  dem  gegenwärtigen 
Zeugnis  unseres  Gedächtnisses  und  unserer  Sinne  weit  abliegen.  Der  ein- 
zige unmittelbare  Nutzen  aller  Wissenschaften  besteht  darin,  daß  sie  uns 
lehren,  zukünftige  Ereignisse  durch  ihre  Ursachen  zu  beherrschen  und 

ö  zu  regulieren.  Unsere  Gedanken  und  Überlegungen  sind  also  jeden 
Augenbhck  mit  diesem  Verhältnis  beschäftigt;  so  unvollkommen  sind 
jedoch  die  davon  gebildeten  Ideen,  daß  es  unmöglich  ist,  eine  richtige 
Definition  von  Ursache  zu  geben,  wenn  man  nicht  etwas  ihr  Äußerhches 
und  Fremdes  mit  hineinnehmen  will.      Gleichartige   Gegenstände  sind 

10  stets  mit  gleichartigen  verbunden.  Das  sagt  uns  die  Erfahrung.  Dieser 
Erfahrung  entsprechend  können  wir  daher  eine  Ursache  definieren 
als  einen  Gegenstand,  dem  ein  anderer  folgt,  wo- 
bei allen  dem  ersten  gleichartigen  Gegenstän- 
den   andere    folgen,    die    dem    zweiten    gleichartig 

15  sind;  oder  mit  anderen  Worten :  wo,  wenn  der  e  r  s  t  e  G  e  g  e  n- 
stand  nicht  gewesen  wäre,  der  zweite  niemals 
existiert  hätte.  Das  Erscheinen  einer  Ursache  führt  den  Geist 
durch  eine  gewohnheitsmäßige  Übertragung  immer  auf  die 
Idee  der  Wirkung.    Auch  das  lehrt  uns  die  Erfahrung.    Wir  können  also 

20  dieser  Erfahrung  gemäß  noch  eine  andere  Definition  von  Ursache  bilden 
und  sie  bezeichnen  als  einen  Gegenstand,  dem  ein  anderer 
folgt,  und  dessen  Erscheinen  die  Gedanken  stets 
auf  jenen  anderen  führt.  Sind  nun  auch  diese  beiden  De- 
finitionen aus  Umständen  hergenommen,  die  der  Ursache  fremd  sind, 

25  so  können  wir  doch  diesem  Übelstand  nicht  abhelfen  oder  zu  irgend  einer 
vollkommeneren  Begriffsbestimmung  gelangen,  die  jenen  Umstand  in 
der  Ursache  bezeichnet,  der  sie  mit  ihrer  Wirkung  verknüpft.  Wir 
haben  keine  Idee  von  dieser  Verknüpfung  noch  selbst  einen  deutlichen 
Begriff  von  dem  Wesen  dessen,  was  wir  zu  wissen  w^ünschen,  wenn  wir 

30  nach  einer  Vorstellung  davon  verlangen.  Wir  sagen  zum  Beispiel,  die 
Schwingung  dieser  Saite  ist  die  Ursache  dieses  einzelnen  Tones.  Was 
meinen  wir  aber  mit  dieser  Behauptung?  Entweder:  dieser 
Schwingung  folgt  dieser  Ton,  und  auf  alle  gleich- 
artigen    Schwingungen     sind     gleichartige     Töne 

35  gefolgt;  oder :  dieser  Schwingung  folgt  dieser  Ton, 
und  bei  Erscheinen  des  einen  kommt  der  Geist 
den  Sinnen  zuvor  und  bildet  sofort  eine  Idee 
von  dem  andere  n.  Wir  können  die  Beziehung  von  Ursache 
und  Wirkung  in  einer  dieser  beiden  Beleuchtungen  betrachten;  doch 

40   darüber  hinaus  haben  wir  keine  Idee  davon. 

Fassen  wir    also  kurz    die  Beweisführungen   dieses  Abschnitts  zu- 


172  Hume. 

sammen.  Jede  Idee  ist  die  Kopie  irgend  eines  vorhergelienden  Ein- 
drucks oder  Gefühls;  und  wo  wir  keinen  Eindruck  finden  können,  da  ist 
sicher  auch  keine  Idee.  In  allen  einzelnen  Fällen  der  Wirksamkeit  von 
Körpern  oder  Geistern  gibt  es  nichts,  was  irgend  einen  Eindruck  von 
Vermögen  oder  notwendiger  Verknüpfung  hervorbringt,  folglicher-  5 
weise  auch  nichts,  was  eine  Idee  davon  eingeben  kann.  Treten  aber 
viele  gleichförmige  Fälle  ein,  und  ist  derselbe  Gegenstand  stets  von 
demselben  Erfolge  begleitet,  dann  beginnen  wir  den  Begriff  von  Ursache 
und  Verknüpfung  in  uns  aufzunehmen.  Wir  fühlen  alsdann  ein 
neues  Gefühl  oder  einen  Eindruck,  das  heißt  eine  gewohnheitsmäßige  lo 
Verknüpfung  im  Denken  oder  Einbilden  zwischen  einem  Gegenstand 
und  seinem  gewöhnlichen  Begleiter;  und  dieses  Gefühl  ist  das  Urbild 
jener  Idee,  nach  der  wir  suchen.  Denn  da  diese  Idee  aus  einer  Anzahl 
gleichartiger  Fälle  und  nicht  aus  einem  einzelnen  Fall  hervorgeht,  so 
muß  sie  aus  jenem  Umstand  hervorgehen,  worin  die  Anzahl  der  Fälle  i5 
von  jedem  Einzelfall  abweicht.  .  .  . 

David  Humes  (1711 — 1776)  Hauptwerk  ist  der  Treatise  on  human  nature 
(1739/40),  dessen  erster  Teil  („Über  den  Verstand")  von  E.  Köttgen  übersetzt 
und  von  Th.  Lipps  mit  Anmerkungen  und  einem  ausführlichen  Verzeichnis 
versehen  worden  ist  ( 1895).  Das  Enquiry  concerning  human  understanding  (1748) 
steht  jenem  Hauptwerk  an  Bedeutung  nach,  ist  aber  gedrungener  und  über- 
sichtlicher, so  daß  es  für  unsere  Zwecke  sich  empfahl,  aus  ihm  (und  zwar  aus  dem 
2.  und  7.  Abschnitt)  einige  Stellen  zu  entnehmen.  Unter  dem  Titel  „Eine 
Untersuchung  über  den  menschlichen  Verstand"  erschien  in  der  Philosophischen 
Bibliothek  eine  Verdeutschung  (5.  Auflage  1902),  Wir  haben  uns  mehr  der 
strengen  Übersetzung  von  C.  Nathanson  (1893)  angeschlossen.  —  Aus  der 
Literatur  heben  wir  hervor  die  leicht  verständlichen  Darstellungen  in  Jul. 
Bergmanns  Geschichte  der  Philosophie  (I,  1892)  und  W.  Windelbands  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  (I-,  1899).  Nützlich  ist  ferner:  Ed.  Grimm, 
Zur  Geschichte  des  Erkenntnisproblems.  Von  Bacon  zu  Hume.  1890.  (Die 
Verwandtschaft  mit  Bacon  wird  schon  aus  einer  Vergleichung  unserer  beiden 
Lesestücke  ersichtlich.)  Für  Vorgerückte:  A.  Meinong,  Hume-Studien,  1877 
und   1882. 

Die  geschichtliche  Bedeutung  H.s  reicht  gleich  weit  nach  vorwärts  wie  nach 
rückwärts.  In  seinem  empiristischen  Skeptizismus,  das  heißt  in  seinem  aus 
der  Erfahrung  abgeleiteten  Zweifel,  vollendet  sich  die  englische  Aufklärung; 
durch  ihn  ist  Kant  angeregt  und  diejenige  Geistesrichtung  im  19.  Jahrhundert 
vorbereitet  worden,  die  man  Positivismus  nennt.  Sachlich  betrachtet  ist  diese 
Erkenntnistheorie  bedeutsam  durch  die  Folgerichtigkeit,  mit  der  das  Wissen 
auf  die  Erfahrung  und  diese  auf  sich  selbst  beschränkt  Avird.  All  unser  Wissen, 
so  meint  H.,  entspringt  aus  der  Einwirkung  des  vorgestellten  Gegenstandes  auf 
das  vorstellende  Ich :  wir  sind  passiv  Empfangende,  die  nichts  weiter  vermögen 


Erläuterungen.  173 


als  Eindrücke  aufzunehmen,  in  schwächeren  Abbildern  zu  wiederholen  und 
verschiedentlich  zu  kombinieren.  Wenn  es  so  scheint,  als  ob  v.iT  einen  not- 
wendigen Zusammenhang  zwischen  den  gegebenen  Tatsachen  feststellen 
könnten,  so  ist  das  kein  Ergebnis  wissenschaftlicher  Beweisführung,  sondern 
eines  gewohnlieitsmäßigen  Glaubens.  Diese  Theorie,  nicht  nur  gegen  speku- 
lativen Übermut,  sondern  auch  gegen  übliche  Voraussetzungen  der  Erfahrungs- 
\vissenschaften  gerichtet,  bedeutet  den  abstrakten  Ausdruck  einer  ganzen 
Weltanschauung. 

163  10.    Vergleiche  S.  139  die  Anmerkung  zu  126  12. 

163  12.  Die  „Eindrücke"  umfassen  also  außer  den  Sinneswahrnehmungen 
noch  die  unmittelbaren  Erlebnisse  der  Seele,  wie  lieben  und  hassen.  Ob  die 
Erinnerungs-  und  Phantasievorstellungen  von  ihren  Urbildern  \\-irklich  nur 
durch  einen  Unterschied  der  Stärke  getrennt  sind,  mag  billig  bezweifelt 
werden.  Denn  es  müßte  sich  doch  zum  Beispiel  die  Vorstellung  eines  sehr 
lauten  Tones  der  Wahrnehmung  eines  sehr  leisen  Tones  wenigstens  nähern, 
und  das  geschieht  nicht. 

164  6.  Hier  wird  nicht  nur  die  Schöpferkraft  des  Ich  geleugnet,  sondern 
auch  seine  Fähigkeit  zu  formalen  Neubildungen  auf  vier  Vorgänge  (verbinden, 
umstellen,  vermehren,  vermindern)  eingeschränkt.  Es  würde  lohnen,  die  Be- 
hauptung an  den  Leistungen  der  künstlerischen  Phantasie  nachzuprüfen. 
Vergleiche  W.  Dilthey,  Das  Schaffen  des  Dichters,  in  den  E.  Zeller  zu  seinem 
fünfzigjährigen  Doktor  Jubiläum  gewidmeten  „Philosophischen  Aufsätzen"  ver- 
schiedener Verfasser  (1887). 

165  35.  Wenn  die  ^littelglieder  in  einer  Farbenskala  nicht  versclüeden  sind, 
also  keine  unterschiedenen  Vorstellungen  zurücklassen,  so  wären  auch  die  End- 
punkte der  Reihe  nicht   verschieden,   was  der  Voraussetzung  widerstreitet. 

165  36.  Die  von  hier  ab  besprochene  Möglichkeit  stellt  eine  Ausnahme  dar 
von  der  Regel  ..alle  einfachen  Ideen  stammen  aus  den  entsprechenden  Ein- 
drücken". Selbst  wenn  sie  so  selten  und  unbeträchtlich  wäre,  wie  H.  annimmt, 
so  bleibt  es  doch  bedenklich,  daß  der  grundlegende  Satz  eine  Ausnahme  erleide. 
Zur  Sache  selbst  wird  man  folgendes  sagen  müssen.  H.  vereinfacht  das  Problem 
zu  sehr  und  unterschätzt  seine  Schwierigkeiten.  Kann  man  die  Frage  überhaupt 
zum  Austrag  bringen,  so  müßten  schon  Untersuchungen  an  blind  geborenen  und 
später  operierten  Personen  zu  Hilfe  genommen  werden  und  zwar  müßten 
längere  Zeit  nach  der  Operation  noch  alle  Gesichtseindrücke  notiert  werden. 
Auch  in  den  anderen  Sinnesgebieten  sind  die  Verhältnisse  viel  zu  verwickelt, 
als  daß  sie  mit  einer  wahrscheinlichen  Vermutung  abgetan  werden  könnten. 

166 15.  Von  hier  ab  mrd  der  Wert  des  unmittelbar  Erfahrenen 
mit  größter  Energie  herausgestellt:  man  nennt  das  öfters  Humes  ..psycho- 
logischen Empirismus".  Der  Gegensatz  zu  Piatos  Rationalismus  wird  durch 
Rückgreifen  auf  unser  erstes  Lesestück  leicht  nachweisbar. 

166  31.  Das  Problem  ist  in  Wahrheit  hiermit  nicht  abgeschlossen.  Kant 
hat  es  neu  aufgenommen  und  umgestaltet. 

166  33.  Die  Nebeneinanderstellung  dieser  Begriffe  erklärt  sich  so,  daß  H.  die 
notwendige,  das  heißt  kausale  Verknüpfung  als  das  Werk  einer  Krafttätigkeit 
auffaßt.  Die  Wirkung  entstehe  aus  der  Ursache  durch  ein  Vermögen  oder  eine 
Energie,  die  das  Spätere  aus  dem  Früheren  hervortreibt. 


174  Hume. 

168  9.  Der  Gedankengang  ist  dieser:  Aus  dem  Begriff  des  Körpers  läßt 
sich  durch  keine  logische  Zerghederung  herauslesen,  daß  er,  seiner  Stütze  beraubt, 
fallen  muß.  Er  könnte  ebensogut  emporsteigen.  Erst  die  Erfahrung  belehrt 
uns  darüber,  daß  er  jenes  und  nicht  dieses  tut.  Hierdurch  unterscheiden 
sich  die  Kausalverbindungen  in  der  Außenwelt  vom  Denkzusammenhang 
des  Grundes  und  der  Folge.  Denn  die  logische  Folge  ist  ohne  weiteres  aus  ihrem 
Grunde  zu  entnehmen:  wenn  ich  aus  dem  Urteil  „2  -)-  3  =  5"  das  andere  Urteil 
„5  —  3  =  2"  erschließe,  so  bedarf  es  dazu  keiner  besonderen  Erfahrung.  Man 
wird  hierauf  (mit  Bergmann,  Geschichte  der  Philosophie,  I,  373)  erwidern 
dürfen:  „Die  Unmöglichkeit,  ohne  Kenntnis  der  aus  der  Erfahrung  geschöpften 
Gesetze  über  die  Aufeinanderfolge  der  Ereignisse  vorherzusehen,  welche 
Wirkung  irgend  ein  Vorgang  nach  sich  ziehen  werde,  habe  ihren  Grund  in  der 
ünvoUständigkeit  unserer  Erkenntnis  dieses  Vorganges  und  der  Dinge,  an  denen 
er  stattfinde." 

169  10.  Diese  Verbindung  der  beiden  Gedankengruppen  scheint  gezwungen, 
wenn  nicht  sogar  widerspruchsvoll.  Wir  haben  doch  die  Vorstellung  der 
Kausalität!  Da  es  nun  keine  angeborenen  Vorstellungen  geben  soll,  vielmehr 
alle  Vorstellungen  Kopien  von  Eindrücken  sind,  so  muß  auch,  wie  es  scheint, 
die  Vorstellung  ursächlichen  Zusammenhangs  in  einem  Eindi-uck  wurzeln. 
Indessen  gilt  das  nach  H.  nur  für  die  richtigen  Ideen;  die  Idee  einer  Kraft, 
die  aus  der  Ursache  die  Wirkung  zu  stände  bringe,  ist  eben  erdichtet,  eine 
subjektive  Zutat  zu  der  ausschließlich  erfahrenen  Zeitfolge  der  zwei  Ereignisse 
und  als  solche  der  Gewöhnung  zu  verdanken.  Vergleiche  den  Schluß  des 
Lesestückes. 

169  30.  H.  spricht  hier  von  Vorgängen,  wenige  Zeilen  später  freihch  von 
Gegenständen.  Immerhin  geht  die  Richtung  seiner  Gedanken  dahin,  die  alte 
Auffassung,  als  sei  die  Ursache  ein  Ding,  durch  eine  andere  zu  ersetzen,  wonach 
auch  sie  als  ein  Vorgang  aufgefaßt  wird. 

170  7.  Die  subjektive  Nötigung,  eine  bestimmte  Erscheinung  zu  erwarten, 
wird  nach  H.  als  ein  Notwendigkeits Verhältnis  innerhalb  der  objektiven 
Wirklichkeit  aufgefaßt,  als  ob  unabhängig  von  uns  ein  Vorgang  den  anderen 
durch  eine  Energie  tatsächlich  erzwinge.  Die  Erklärung  geht  also  dahin, 
aus  BeAvußtseinsvorgängen  das  scheinbar  Objektive  verständlich  zu  machen, 
aus  der  Psychologie  die  Entscheidung  über  Gültigkeit  und  Grenzen  des  Er- 
kennens  zu  entnehmen.  Vergleiche  den  Anfang  unserer  Erläuterungen  zu 
Locke. 

170  40.  Die  Bedeutung  der  Kausalität  wird  von  H.  kräftig  herausgehoben. 
In  neuester  Zeit  ist  sie  von  Naturforschern  (zum  Beispiel  Mach)  und  Philo- 
sophen (zum  Beispiel  Avenarius)  eingeschränkt  worden.  Vergleiche  die  kurze, 
aber  tüchtige  Darstellung  in  Wundts  Logik  (12,  583 — 630)  und  das  zwei- 
bändige Werk  von  Edm.  König,  Die  Entwicklung  des  Kausalproblems,  1888 
bis  1890. 

171 40.  Nach  allen  diesen  Bestimmungen  wäre  das  Kausalgesetz  der 
Hauptsache  nach  das  Gesetz  der  regelmäßigen  Aufeinanderfolge.  In  dieser 
regelmäßigen  Aufeinanderfolge  selber  steckt  aber  eine  Schwierigkeit,  die  von 


Erläuterungen.  175 


Kant  aufgedeckt  worden  ist;  man  lese  nach,  was  die  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" über  die  zweite  Analogie  der  Erfahrung  aussagt.  Eine  weitere  Schwierig- 
keit ergibt  sich  aus  den  im  Seelenleben  vorkommenden  Ursachverknüpfungen, 
da  diese  zwar  vom  Gefühl  der  Notwendigkeit,  aber  nicht  vom  Bewußtsein  der 
Ausnahmelosigkeit  begleitet  sind.  Wenn  nämlich  auch  eine  Wahrnehmung  zu 
wiederholten  Malen  ein  Lustgefühl  erwirkt  hat,  so  kann  sie  doch  bei  nächster 
Gelegenheit  ein  Unlustgefühl  zur  Folge  haben:  die  Kausal  Verknüpfung  zmschen 
Wahmehmungsinhalt  und  Lust  —  sofern  sie  überhaupt  so  genannt  werden  soll 
—  läßt  Ausnahmen  zu,  und  auch  in  den  Ausnahmefällen  haben  wir  das 
Bewußtsein  eines  dm'chaus  notwendigen  Zusammenhangs  der  beiden 
GUeder.  —  Vortreffhche,  vielleicht  etwas  schwierige  Darlegungen  in  Schuppes 
Grundriß  der  Erkenntnistheorie  und  Logik  1894,  S.  58 — 77. 

D  e  s  s  o  i  r. 


XV. 

Kant. 


Vorerinnerung  von  dem  Eigentümlichen  aller  metaphysischen 

Erkenntnis. 

§  1. 
Von  deu  (^wellen  der  Metaphysik. 

Wenn  man  eine  Erkenntnis  als  Wissenschaft  darstellen  will, 
so  muß  man  zuvor  das  Unterscheidende,  was  sie  mit  keiner  anderen 
gemein  hat  und  was  ihr  also  eigentümlich  ist,  genau  bestimmen 
können;  widrigenfalls  die  Grenzen  aller  Wissenschaften  ineinander  5 
laufen,  und  keine  derselben  ihrer  Natur  nach  gründlich  abgehandelt 
werden  kann. 

Dieses  Eigentümliche  mag  nun  in  dem  Unterschiede  des  Objekts 
oder  der  Erkenntnisquellen   oder  auch  der   Erkenntnis- 
art oder   einiger,  wo  nicht    aller  dieser  Stücke  zusammen  bestehen,    10 
so  beruht  darauf  zuerst  die  Idee  der  möglichen  Wissenschaft  und  ihres 
Territorium. 

Zuerst ,  was  die  Quellen  einer  metaphysischen  Erkenntnis  be- 
trifft, so  liegt  es  schon  in  ihrem  Begriffe,  daß  sie  nicht  empirisch  sein 
können.  Die  Prinzipien  derselben  (wozu  nicht  bloß  ihre  Grundsätze,  15 
sondern  auch  Grundbegriffe  gehören)  müssen  also  niemals  aus  der  Er- 
fahrung genommen  sein:  denn  sie  soll  nicht  physische,  sondern  meta- 
physische, das  ist  jenseit  der  Erfahrung  liegende,  Erkenntnis  sein.  Also 
wird  weder  äußere  Erfahrung,  welche  die  Quelle  der  eigentlichen  Physik, 
noch  innere,  welche  die  Grundlage  der  empirischen  Psychologie  aus-  20 
macht,  bei  ihr  zum  Grunde  liegen.  Sie  ist  also  Erkenntnis  a  friori, 
oder  aus  reinem  Verstände  und  reiner  Vernunft. 

Hierin  würde  sie  aber  nichts  Unterscheidendes  von  der  reinen  Mathe- 
matik haben;  sie  wird  also  reine  philosophische  Erkenn  t- 
n  i  s  heißen  müssen.  —  So  viel  von  den  Quellen  der  metaphysischen   26 
Erkenntnis. 


Vorerinnerung  v.  d.  Eigentümliclien  aller  metaphjsisclien  Erkenntnis.      177 

§2. 
Ton  der  Erkenntnisart,   die  allein  metaphysisch  heißen  kann. 

a)  Von  dem    Unterschiede    synthetischer   und    ana- 
lytischer Urteile   überhaupt. 

5  Metaphysische  Erkenntnis  muß  lauter  Urteile  a  priori  enthalten, 
das  erfordert  das  Eigentümliche  ihrer  Quellen.  Allein  Urteile  mögen 
nun  einen  Ursprung  haben,  welchen  sie  wollen,  oder  auch  ihrer  logischen 
Form  nach  beschaffen  sein,  wie  sie  wollen,  so  gibt  es  doch  einen  Unter- 
schied derselben  dem  Inhalte  nach,  vermöge  dessen  sie  entweder  bloß 

10  erläuternd  sind  und  zum  Inhalte  der  Erkenntnis  nichts  hinzutun, 
oder  erweiternd  und  die  gegebene  Erkenntnis  vergrößern ;  die 
ersteren  werden  analytisch  e,  die  zweiten  synthetische 
Urteile  genannt  werden  können. 

Analytische  Urteile  sagen  im  Prädikate  nichts  als  das,  was  im  Be- 

15  griffe  des  Subjekts  schon  wirklich,  obgleich  nicht  so  klar  und  mit  gleichem 
Bewußtsein  gedacht  war.  Wenn  ich  sage:  alle  Körper  sind  ausgedehnt, 
so  habe  ich  meinen  Begriff  vom  Körper  nicht  im  mindesten  erweitert, 
sondern  ihn  nur  aufgelöst,  indem  die  Ausdehnung  von  jenem  Begriffe 
schon  vor  dem  Urteile,   obgleich  nicht  ausdrücklich  gesagt,   dennoch 

20  wirklich  gedacht  war;  das  Urteil  ist  also  analytisch.  Dagegen  enthält 
der  Satz:  einige  Körper  sind  schwer,  etwas  im  Prädikate,  was  in  dem 
allgemeinen  Begriffe  vom  Körper  nicht  wirklich  gedacht  wird;  er  ver- 
größert also  meine  Erkenntnis,  indem  er  zu  meinem  Begriffe  etwas  hinzu- 
tut, und  muß  daher  ein  synthetisches  Urteil  heißen. 

25   b)    Das    gemeinschaftliche    Prinzip    aller    analyti- 
schen   Urteile   ist  der   Satz   des   Widerspruchs. 

Alle  analytischen  Urteile  beruhen  gänzlich  auf  dem  Satze  des  Wider- 
spruchs und  sind  ihrer  Natur  nach  Erkenntnisse  a  priori,  die  Begriffe, 
die  ihnen  zur  Materie  dienen,  mögen  empirisch  sein  oder  nicht.  Denn 
30  weil  das  Prädikat  eines  bejahenden  analytischen  Urteils  schon  vorher 
im  Begriffe  des  Subjekts  gedacht  wird,  so  kann  es  von  ihm  ohne  Wider- 
spruch nicht  verneint  werden;  ebenso  wird  sein  Gegenteil  in  einem  ana- 
lytischen, aber  verneinenden  Urteile  notwendig  von  dem  Subjekt  ver- 
neint und  zwar  auch  zufolge  dem  Satze  des  Widerspruchs.  So  ist  es 
35  mit  den  Sätzen:  Jeder  Körper  ist  ausgedehnt,  und:  Kein  Körper  ist 
unausgedehnt  (einfach),  beschaffen. 

Eben   darum   sind   auch   alle   analytischen   Sätze   Urteile   a  priori, 
wenngleich  ihre  Begriffe  empirisch  sind,  zum  Beispiel  Gold  ist  ein  gelbes 
Metall;  denn  um  dieses  zu  wissen  brauche  ich  keine  weitere  Erfahrung 
Dessoir-Meuzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  12 


178  Kant. 

außer  meinem  Begriffe  vom  Golde,  der  enthielte,  daß  dieser  Körper 
gelb  und  Metall  sei;  denn  dieses,  machte  eben  meinen  Begriff  aus,  und 
ich  durfte  nichts  tun  als  diesen  zergliedern,  ohne  mich  außer  demselben 
wonach  anders  umzusehen. 

c)    Synthetische    Urteile    bedürfen    ein   anderes      5 
Prinzip  als  den   Satz  des  Widerspruchs. 

Es  gibt  synthetische  Urteile  a  'posteriori,  deren  Ursprung  empirisch 
ist;  aber  es  gibt  auch  deren,  die  a  priori  gewiß  sind,  und  die  aus  reinem 
Verstände  und  Vernunft  entspringen.  Beide  kommen  aber  darin  über- 
ein, daß  sie  nach  dem  Grundsatze  der  Analysis,  nämlich  dem  Satze  lo 
des  Widerspruchs,  allein  nimmermehr  entspringen  können;  sie  erfordern 
noch  ein  ganz  anderes  Prinzip,  ob  sie  zwar  aus  jedem  Grundsatze,  welcher 
er  auch  sei,  jederzeit  dem  Satze  des  Widerspruchs  ge- 
mäß abgeleitet  werden  müssen;  denn  nichts  darf  diesem  Grundsatze 
zuwider  sein,  obgleich  eben  nicht  alles  daraus  abgeleitet  werden  kann.  i5 
Ich  will  die  synthetischen  Urteile  zuvor  unter  Klassen  bringen. 

1.  Erfahrungsurteile  sind  jederzeit  synthetisch.  Denn  es 
wäre  ungereimt,  ein  analytisches  Urteil  auf  Erfahrung  zu  gründen, 
da  ich  doch  aus  meinem  Begriffe  gar  nicht  hinausgehen  darf,  um  das 
Urteil  abzufassen,  und  also  kein  Zeugnis  der  Erfahrung  dazu  nötig  habe.  20 
Daß  ein  Körper  ausgedehnt  sei,  ist  ein  Satz,  der  a  priori  feststeht,  und 
kein  Erfahrungsurteil.  Denn  ehe  ich  zur  Erfahrung  gehe,  habe  ich  alle 
Bedingungen  zu  meinem  Urteile  schon  in  dem  Begriffe,  aus  welchem 
ich  das  Prädikat  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  nur  herausziehen 
und  dadurch  zugleich  der  Notwendigkeit  des  Urteils  bewußt  25 
werden  kann,  welche  mir  Erfahrung  nicht  einmal  lehren  würde. 

2.  Mathematische  Urteile  sind  insgesamt  synthetisch. 
Dieser  Satz  scheint  den  Bemerkungen  der  Zerghederer  der  menschUchen 
Vernunft  bisher  ganz  entgangen,  ja  allen  ihren  Vermutungen  gerade 
entgegengesetzt  zu  sein,  ob  er  gleich  unwidersprechlich  gewiß  und  in  30 
der  Folge  sehr  wichtig  ist.  Denn  weil  man  fand,  daß  die  Schlüsse  der 
Mathematiker  alle  nach  dem  Satze  des  Widerspruches  fortgehen  (welches 
die  Natur  einer  jeden  apodiktischen  Gewißheit  erfordert),  so  überredete 
man  sich,  daß  auch  die  Grundsätze  aus  dem  Satze  des  Widerspruches 
erkannt  würden,  worin  sie  sich  sehr  irrten;  denn  ein  synthetischer  Satz  35 
kann  allerdings  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  eingesehen  werden, 
aber  nur  so,  daß  ein  anderer  synthetischer  Satz  vorausgesetzt  wird, 
aus  dem  er  gefolgert  werden  kann,  niemals  aber  an  sich  selbst. 

Zuvörderst  muß  bemerkt  werden:    daß  eigentUche  mathematische 
Sätze  jederzeit  Urteile  a  priori  und  nicht  empirisch  sind,  weil  sie  Not-   40 


Vorerinnerung  v.  d.  Eigentümlichen  aller  metaphysischen  Erkenntnis.      179 

wendigkeit  bei  sich  führen,  welche  aus  Erfahrung  nicht  abgenommen 
werden  kann.  Will  man  mir  aber  dieses  nicht  einräumen,  wohlan,  so 
schränke  ich  meinen  Satz  auf  die  reine  Mathematik  ein,  deren 
Begrifi  es  schon  mit  sich  bringt,  daß  sie  nicht  empirische,  sondern  bloß 

ö   reine  Erkenntnis  a  ^priori  enthalte. 

Man  sollte  anfänglich  wohl  denken,  daß  der  Satz  7  -j-  5  =  12  ein 
bloß  analytischer  Satz  sei,  der  aus  dem  Begriffe  einer  Summe  von  sieben 
und  fünf  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  erfolge.  Allein  wenn  man  es 
näher  betrachtet,  so  findet  man,  daß  der  Begriff  der  Summe  von  sieben 

10  und  fünf  nichts  weiter  enthalte,  als  die  Vereinigung  beider  Zahlen  in 
eine  einzige,  wodurch  ganz  und  gar  nicht  gedacht  wird,  welches  diese 
einzige  Zahl  sei,  die  beide  zusammenfaßt.  Der  Begriff  von  zwölf  ist 
keineswegs  dadurch  schon  gedacht,  daß  ich  mir  bloß  jene  Vereinigung 
von  sieben  und  fünf  denke ;  und  ich  mag  meinen  Begriff  von  einer  solchen 

iB  möglichen  Summe  noch  so  lange  zergliedern,  so  werde  ich  doch  darin 
die  zwölf  nicht  antreffen.  Man  muß  über  diese  Begriffe  hinausgehen, 
indem  man  die  Anschauung  zu  Hilfe  nimmt,  die  einem  von  beiden 
korrespondiert,  etwa  seine  fünf  Finger  oder  fünf  Punkte,  und  so  nach 
und  nach  die  Einheiten  der  in  der  Anschauung  gegebenen  fünf  zu  dem 

20  Begriffe  der  sieben  hinzutut.  Man  erweitert  also  wirklich  seinen  Begriff 
durch  diesen  Satz  7  -f-  5  =  12  und  tut  zu  dem  ersteren  Begriff  einen 
neuen  hinzu,  der  in  jenem  gar  nicht  gedacht  war,  das  ist  der  arithmetische 
Satz  ist  jederzeit  synthetisch,  welches  man  desto  deutlicher  inne  wird, 
wenn  man  etwas  größere  Zahlen  nimmt;  da  es  denn  klar  einleuchtet, 

25  daß,  wir  möchten  unseren  Begriff  drehen  und  wenden,  wie  wir  wollen, 
wir,  ohne  die  Anschauung  zu  Hilfe  zu  nehmen,  vermittels  der  bloßen 
Zerghederung  unserer  Begriffe  die  Summe  niemals  finden  könnten. 

Ebensowenig  ist  irgend  ein  Grundsatz  der  reinen  Geometrie  ana- 
lytisch.   Daß  die  gerade  Linie  zwischen  zwei  Punkten  die  kürzeste  ist, 

30  ist  ein  synthetischer  Satz.  Denn  mein  Begriff  vom  Geraden  enthält  nichts 
von  Größe,  sondern  nur  eine  Quahtät.  Der  Begriff  des  Kürzesten  kommt 
also  gänzhch  hinzu  und  kann  durch  keine  Zerghederung  aus  dem  Be- 
griffe der  geraden  Linie  gezogen  werden.  Anschauung  muß  also  hier 
zu  Hilfe  genommen  werden,   vermittels  deren  allein  die  Synthesis  mög- 

35   lieh  ist. 

Einige  andere  Grundsätze,  welche  die  Geometer  voraussetzen,  sind 
zwar  wirkhch  analytisch  und  beruhen  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs; 
sie  dienen  aber  nur,  wie  identische  Sätze,  zur  Kette  der  Methode  und 
nicht  als  Prinzipien,  zum  Beispiel  a  =  a,  das  Ganze  ist  sich  selber  gleich, 

40  oder  (a  -[-  b)  >  a,  das  ist:  das  Ganze  ist  größer  als  sein  Teil.  Und  doch 
auch  diese  selbst,  ob  sie  gleich  nach  bloßen  Begriffen  gelten,  werden  in 


180  Kant. 

der  Mathematik  nur  darum  zugelassen,  weil  sie  in  der  Anschauung  können 
dargestellt  werden.  Was  uns  hier  gemeiniglich  glauben  macht,  als  läge 
das  Prädikat  solcher  apodiktischen  Urteile  schon  in  unserem  Begriffe, 
und  das  Urteil  sei  also  analytisch,  ist  bloß  die  Zweideutigkeit  des  Aus- 
drucks. Wir  sollen  nämlich  zu  einem  gegebenen  Begriffe  ein  gewisses  & 
Prädikat  hinzudenken,  und  diese  Notwendigkeit  haftet  schon  an  den 
Begriffen.  Aber  die  Frage  ist  nicht,  was  wir  zu  dem  gegebenen  Begriffe 
hinzu  denken  sollen,  sondern  was  wir  wirklich  in  ihm, 
obzwar  nur  dunkel,  denken;  und  da  zeigt  sich,  daß  das  Prädikat 
jenem  Begriffe  zwar  notwendig,  aber  nicht  unmittelbar,  sondern  ver-  lo 
mittels  einer  Anschauung,  die  hinzukommen  muß,  anhänge. 


Der    Prolegomenen    Allgemeine    Frage: 
Ist  überall  Metaphysik  möglich  ^J 

§4. 

Wäre    Metaphysik,    die   sich   als    Wissenschaft   behaupten   könnte,    15 
wirkHch;    könnte  man  sagen:    hier  ist  Metaphysik,  die  dürft  ihr  nur 
lernen,    und   sie   wird   euch   unwiderstehlich   und   unveränderlich   von 
ihrer  Wahrheit  überzeugen:   so  wäre  diese  Frage  unnötig,  und  es  bliebe 
nur  diejenige  übrig,  die  mehr  eine  Prüfung  unserer  Scharfsinnigkeit, 
als  den  Beweis  von  der  Existenz  der   Sache  selbst  beträfe,   nämlich   20 
wie    sie    möglich    sei,    und  wie  Vernunft  es  anfange,  dazu  zu 
gelangen.    Nun  ist  es  der  menschlichen  Vernunft  in  diesem  Falle  so  gut 
nicht  geworden.     Man  kann  kein  einziges  Buch  aufzeigen,  so  wie  man 
einen    Euklid   vorzeigt,  und  sagen :    das  ist  Metaphysik,  hier  findet 
ihr  den  vornehmsten  Zweck  dieser  Wissenschaft,  das  Erkenntnis  eines   25 
höchsten  Wesens  und  einer  künftigen  Welt,  bewiesen  aus  Prinzipien 
der  reinen  Vernunft.    Denn  man  kann  uns  zwar  viele  Sätze  aufzeigen, 
die  apodiktisch  gewiß  sind  und  niemals  bestritten  worden;    aber  diese 
sind  insgesamt  analytisch  und  betreffen  mehr  die  Materialien  und  das 
Bauzeug  zur  Metaphysik,  als  die  Erweiterung  der  Erkenntnis,  die  doch   30 
unsere  eigentliche  Absicht  mit  ihr  sein  soll  (§2  lit.  c).     Ob  ihr  aber  gleich 
auch    synthetische    Sätze    (zum   Beispiel    den   Satz    des   zureichenden 
Grundes)  vorzeigt,  die  ihr  niemals  aus  bloßer  Vernunft,  mithin,  wie  doch 
eure  Pflicht  war,  a  ^priori  bewiesen  habt,  die  man  euch  aber  doch  gerne 
einräumt:  so  geratet  ihr  doch,  wenn  ihr  euch  derselben  zu  eurem  Haupt-   35 
zwecke  bedienen  wollt,  in  so  unstatthafte  und  unsichere  Behauptungen, 
daß  zu  aller  Zeit  eine  Metaphysik  der  anderen  entweder  in  Ansehung 
der  Behauptungen  selbst,  oder  ihrer  Beweise  widersprochen  und  dadurch 


Ist  überall  Metaphj^sik  möglich?  181 

ihren  Anspruch  auf  dauernden  Beifall  selbst  vernichtet  hat.  Sogar  sind 
die  Versuche,  eine  solche  Wissenschaft  zu  stände  zu  bringen,  ohne  Zweifel 
die  erste  Ursache  des  so  früh  entstandenen  Skeptizismus  gewesen,  einer 
Denkungsart,  darin  die  Vernunft  so  gewalttätig  gegen  sich  selbst  ver- 

5  fährt,  daß  diese  niemals  als  in  vöUiger  Verzweiflung  an  Befriedigung 
in  Ansehung  ihrer  wichtigsten  Absichten  hätte  entstehen  können. 
Denn  lange  vorher,  ehe  man  die  Natur  methodisch  zu  befragen  an- 
fing, befrug  man  bloß  seine  abgesonderte  Vernunft,  die  darch  gemeine 
Erfahrung  in  gewissem  Maße  schon  geübt  war,  weil  Vernunft  uns  doch 

10  immer  gegenwärtig  ist,  Naturgesetze  aber  gemeiniglich  mühsam  auf- 
gesucht werden  müssen:  und  so  schwamm  Metaphysik  obenauf  wie 
Schaum,  doch  so,  daß  so  wie  der,  den  man  geschöpft  hatte,  zerging, 
sich  sogleich  ein  anderer  auf  der  Oberfläche  zeigte,  den  immer  einige  be- 
gierig aufsammelten,  wobei  andere,  anstatt  in  der  Tiefe  die  Ursache 

15  dieser  Erscheinung  zu  suchen,  sich  damit  weise  dünkten,  daß  sie  die 
vergfebliche  Mühe  der  ersteren  belachten. 

Das  WesentHche  und  Unterscheidende  der  reinen  mathemati- 
schen Erkenntnis  von  aller  anderen  Erkenntnis  a  priori  ist,  daß  sie 
durchaus  nicht   aus    Begriffen,    sondern   jederzeit   nur  durch 

20  die  Konstruktion  der  Begriffe  vor  sich  gehen  muß.  Da  sie  also  in  ihren 
Sätzen  über  den  Begriff  zu  demjenigen,  was  die  ihm  korrespondierende 
Anschauung  enthält,  hinausgehen  muß :  so  können  und  sollen  ihre  Sätze 
auch  niemals  durch  ZergUederung  der  Begriffe,  das  ist  analytisch,  ent- 
springen und  sind  insgesamt  daher  synthetisch. 

25  Eigentlich  metaphysische  Urteile  sind  insgesamt  syn- 
thetisch. Man  muß  zur  Metaphysik  gehörige  von  eigent- 
lich metaphysischen  Urteilen  unterscheiden.  Unter  jenen  sind 
sehr  viele  analytisch,  aber  sie  machen  nur  die  Mittel  zu  metaphysi- 
schen Urteilen  aus,   auf  die  der  Zweck  der  Wissenschaft  ganz  und  gar 

30  gerichtet  ist,  und  die  allemal  synthetisch  sind.  Denn  wenn  Begriffe  zur 
Metaphysik  gehören,  zum  Beispiel  der  von  Substanz,  so  gehören  die 
Urteile,  die  aus  der  bloßen  Zerghederung  derselben  entspringen,  auch 
notwendig  zur  Metaphysik,  zum  Beispiel  Substanz  ist  dasjenige,  was 
nur  als  Subjekt  existiert  u.  s.  w.,  und  vermittels  mehrerer  dergleichen 

35  analytischen  Urteile  suchen  wir  der  Definition  der  Begriffe  nahe  zu 
kommen.  Da  aber  die  Analysis  eines  reinen  Verstandesbegriffs  (der- 
gleichen die  Metaphysik  enthält)  nicht  auf  andere  Art  vor  sich  geht, 
als  die  Zerghederung  jedes  anderen,  auch  empirischen  Begriffs,  der 
nicht  in  die  Metaphysik  gehört  (zum  Beispiel  Luft  ist  eine  elastische 

40   Flüssigkeit,  deren  Elastizität  durch  keinen  bekannten  Grad  der  Kälte 


182  Kant. 

aufgehoben  wird),  so  ist  zwar  der  Begriff,  aber  nicht  das  analytische 
Urteil  eigentümlich  metaphysisch:  denn  diese  Wissenschaft  hat  etwas 
Besonderes  und  ihr  Eigentümliches  in  der  Erzeugung  ihrer  Erkenntnisse 
a  priori,  die  also  von  dem,  was  sie  mit  allen  anderen  Verstandeserkennt- 
nissen gemein  hat,  muß  unterschieden  werden;  so  ist  zum  Beispiel  der  5 
Satz:  alles,  was  in  den  Dingen  Substanz  ist,  ist  beharrUch,  ein  syn- 
thetischer und  eigentümhch  metaphysischer   Satz. 

Wenn  man  die  Begriffe  a  priori,  welche  die  Materie  der  Metaphysik 
und  ihr  Bauzeug  ausmachen,  zuvor  nach  gewissen  Prinzipien  gesammelt 
hat,  so  ist  die  Zergliederung  dieser  Begriffe  von  großem  Werte;  auch  lo 
kann  dieselbe  als  ein  besonderer  Teil  (gleichsam  als  philosophia  definitiva), 
der  lauter  analytische,  zur  Metaphysik  gehörige  Sätze  enthält,  von  allen 
synthetischen  Sätzen,  die  die  Metaphysik  selbst  ausmachen,  abgesondert 
vorgetragen  werden.  Denn  in  der  Tat  haben  jene  Zerghederungen 
nirgends  anders  einen  beträchtlichen  Nutzen  als  in  der  Metaphysik,  is 
das  ist  in  Absicht  auf  die  synthetischen  Sätze,  die  aus  jenen  zuerst  zer- 
gliederten Begriffen  sollen  erzeugt  werden. 

Der  Schluß  dieses  Paragraphen  ist  also:  daß  Metaphysik  es  eigent- 
lich mit  synthetischen  Sätzen  a  priori  zu  tun  habe,  und  diese  allein 
ihren  Zweck  ausmachen,  zu  welchem  sie  zwar  allerdings  mancher  Zer-  20 
ghederungen  ihrer  Begriffe,  mithin  analytischer  Urteile  bedarf,  wobei 
aber  das  Verfahren  nicht  anders  ist  als  in  jeder  anderen  Erkenntnis- 
art,  wo  man  seine  Begriffe  durch  Zergliederung  bloß  deutlich  zu  machen 
sucht.  Allein  die  Erzeugung  der  Erkenntnis  a  priori  sowohl  der 
Anschauung  als  Begriffen  nach,  endHch  auch  synthetische  Sätze  a  priori  25 
und  zwar  im  philosophischen  Erkenntnisse  machen  den  wesentlichen 
Inhalt  der  Metaphysik  aus. 

Überdrüssig  also  des  Dogmatismus,  der  uns  nichts  lehrt,  und  zu- 
gleich des  Skeptizismus,  der  uns  gar  überall  nichts  verspricht,  auch 
nicht  einmal  den  Ruhestand  einer  erlaubten  Unwissenheit,  aufgefordert  30 
durch  die  Wichtigkeit  der  Erkenntnis,  deren  wir  bedürfen,  und  miß- 
trauisch durch  lange  Erfahrung  in  Ansehung  jeder,  die  wir  zu  besitzen 
glauben,  oder  die  sich  uns  unter  dem  Titel  der  reinen  Vernunft  anbietet, 
bleibt  uns  nur  noch  eine  kritische  Frage  übrig,  nach  deren  Beantwortung 
wir  unser  künftiges  Betragen  einrichten  können:  Ist  überall  35 
Metaphysik  möglich?  Aber  diese  Frage  muß  nicht  durch 
skeptische  Einwürfe  gegen  gewisse  Behauptungen  einer  wirklichen  Meta- 
physik (denn  wir  lassen  jetzt  noch  keine  gelten),  sondern  aus  dem  nur 
noch  problematischen  Begriffe  einer  solchen  Wissenschaft  be- 
antwortet werden.  40 


Wie  ist  Erkenntnis  aus  reiner  Vernunft  möglich?  183 

Es  trifit  sich  aber  glücklicherweise,  daß,  ob  wir  gleich  nicht  annehmen 
können,  daß  Metaphysik  als  Wissenschaft  wirklich  sei,  wir  doch 
mit  Zuversicht  sagen  können,  daß  gewisse  reine  synthetische  Erkenntnis 
a  priori  wirklich  und  gegeben  sei,  nämlich    reine    Mathematik 

5  und  reine  Naturwissenschaft;  denn  beide  enthalten  Sätze, 
die  teils  apodiktisch  gewiß  durch  bloße  Vernunft,  teils  durch  die  all- 
gemeine Einstimmung  aus  der  Erfahrung  und  dennoch  als  von  Erfahrung 
unabhängig  durchgängig  anerkannt  werden.  Wir  haben  also  einige 
wenigstens  unbestrittene  synthetische  Erkenntnis  a  'priori  und 

10  dürfen  nicht  fragen,  ob  sie  mögHch  sei  (denn  sie  ist  wirkhch),  sondern 
nur  wie  sie  möglich  sei,  um  aus  dem  Prinzip  der  Möglichkeit 
der  gegebenen  auch  die  Möghchkeit  aller  übrigen  ableiten  zu  können. 

Allgemeine    Frage: 
Wie  ist  Erkenntnis  ans  reiner  Vernunft  möglich? 

15  §  5. 

Wir  haben  oben  den  mächtigen  Unterschied  der  analytischen  und 
synthetischen  Urteile  gesehen.  Die  Möghchkeit  analytischer  Sätze 
konnte  sehr  leicht  begriffen  werden;  denn  sie  gründet  sich  lediglich  auf 
dem    Satze   des   Widerspruchs.      Die   Möghchkeit  synthetischer   Sätze 

20   a  posteriori,  das  ist  solcher,  welche  aus  der  Erfahrung  geschöpft  werden, 
bedarf  auch  keiner  besonderen  Erklärung;    denn  Erfahrung  ist  selbst 
nichts   anderes   als   eine   kontinuierUche   Zusammenfügung   (Synthesis) 
der  Wahrnehmungen.      Es  bleiben  uns   also   nur  synthetische   Sätze 
a  priori  übrig,  deren  Möghchkeit  gesucht  oder  untersucht  werden  muß, 

25  weil  sie  auf  anderen  Prinzipien  als  dem  Satze  des  Widerspruchs  beruhen 
muß. 

Wir  dürfen  aber  die  Möglichkeit  solcher  Sätze  hier  nicht 
zuerst  suchen,  das  ist  fragen,  ob  sie  möglich  seien.  Denn  es  sind  deren 
genug  und  zwar  mit  unstreitiger  Gewißheit  wirklich  gegeben,  und  da 

30  die  Methode,  die  wir  jetzt  befolgen,  analytisch  sein  soll,  so  werden  wir 
davon  anfangen,  daß  dergleichen  synthetische,  aber  reine  Vernunft- 
erkenntnis wirklich  sei;  aber  alsdann  müssen  wir  den  Grund  dieser 
Möghchkeit  dennoch  untersuchen  und  fragen,  wie  diese  Erkennt- 
nis möglich  sei,  damit  wir  aus  den  Prinzipien  ihrer  Möghchkeit  die  Be- 

35   dingungen  ihres   Gebrauchs,   den  Umfang  und  die   Grenzen  desselben 
zu  bestimmen  in  Stand  gesetzt  werden.  Die  eigentliche,  mit  schulgerechter 
Präzision  ausgedrückte  Aufgabe,  auf  die  alles  ankommt,  ist  also: 
Wie  sind  synthetische   Sätze  a  p  r  ior  i  möglich? 
Ich  habe  sie  oben  der  Popularität  zu  Gefallen  etwas  anders,  nämlich 


184  Kant. 

als  eine  Frage  nach  der  Erkenntnis  aus  reiner  Vernunft,  ausgedrückt, 
welches  ich  dieses  Mal  ohne  Nachteil  der  gesuchten  Einsicht  wohl  tun 
konnte:  weil,  da  es  hier  doch  ledighch  um  die  Metaphysik  und  deren 
Quellen  zu  tun  ist,  man  nach  den  vorher  gemachten  Erinnerungen  sich 
wie  ich  hoffe,  jederzeit  erinnern  wird,  daß,  wenn  wir  hier  von  Erkennt-  5 
nis  aus  reiner  Vernunft  reden,  niemals  von  der  analytischen,  sondern 
ledighch  der  synthetischen  die  Rede  sei. 

Auf  die  Auflösung  dieser  Aufgabe  nun  kommt  das  Stehen  oder 
Fallen  der  Metaphysik  und  also  ihre  Existenz  gänzhch  an.  Es  mag 
jemand  seine  Behauptungen  in  derselben  mit  noch  so  großem  Schein  10 
vortragen,  Schlüsse  auf  Schlüsse  bis  zum  Erdrücken  aufhäufen;  wenn 
er  nicht  vorher  jene  Frage  hat  genugtuend  beantworten  können,  so 
habe  ich  recht  zu  sagen:  es  ist  alles  eitle,  grundlose  Philosophie  und 
falsche  Weisheit.  Du  sprichst  durch  reine  Vernunft  und  maßest  dir 
an,  a  priori  Erkenntnisse  gleichsam  zu  erschaffen,  indem  du  nicht  bloß  15 
gegebene  Begriffe  zerghederst,  sondern  neue  Verknüpfungen  vorgibst, 
die  nicht  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs  beruhen,  und  die  du  doch  so 
ganz  unabhängig  von  aller  Erfahrung  einzusehen  vermeinst;  wie  kommst 
du  nun  hierzu,  und  wie  willst  du  dich  wegen  solcher  Anmaßungen  recht- 
fertigen? Dich  auf  Bestimmung  der  allgemeinen  Menschen  Vernunft  zu  20 
berufen,  kann  dir  nicht  gestattet  werden;  denn  das  ist  ein  Zeuge,  dessen 
Ansehen  nur  auf  dem  öffentlichen  Gerüchte  beruht.  Quodcumque  ostendis 
mihi  sie,  incredulus  odi.     Horat. 

So  unentbehrhch  aber  die  Beantwortung  dieser  Frage  ist,  so  schwer 
ist  sie  doch  zugleich;    und  obzwar  die  vornehmste  Ursache,  weswegen   25 
man  sie  nicht  schon  längst  zu  beantworten  gesucht  hat,  darin  liegt,  daß 
man  sich  nicht  einmal  hat  einfallen  lassen,  daß  so  etwas  gefragt  werden 
könne,  so  ist  doch  eine  zweite  Ursache  diese,  daß  eine  genugtuende  Be- 
antwortung dieser  einen  Frage  ein  weit  anhaltenderes,  tieferes  und  müh- 
sameres Nachdenken  erfordert  als  jemals  das  weitläufigste  Werk  der   30 
Metaphysik,  das  bei  der  ersten  Erscheinung  seinem  Verfasser  Unsterb- 
lichkeit versprach.    Auch  muß  ein  jeder  einsehende  Leser,  wenn  er  diese 
Aufgabe  nach  ihrer  Forderung  sorgfältig  überdenkt,  anfangs  durch  ihre 
Schwierigkeit  erschreckt,  sie  für  unauflösHch,  und  gäbe  es  nicht  wirk- 
hch  dergleichen  reine  synthetische  Erkenntnisse  a  priori,  sie  ganz  und   35 
gar  für  unmöglich  halten ;    welches    dem  David    Hume    wirklich 
begegnete,  ob  er  sich  zwar  die  Frage  bei  weitem  nicht  in  solcher  Allge- 
meinheit vorstellte,  als  es  hier  geschieht  und  geschehen  muß,  wenn  die 
Beantwortung   für   die    ganze    Metaphysik    entscheidend    werden   soll. 
Denn  wie  ist  es  möglich,  sagt  der  scharfsinnige  Mann,  daß,  wenn  mir   40 
ein  Begriff  gegeben  ist,  ich  über  denselben  hinausgehen  und  einen  anderen 


Wie  ist  Erkenntnis  aus  reiner  Vernunft  möglich?  185 

damit  verknüpfen  kann,  der  in  jenem  gar  niclit  enthalten  ist,  und  zwar 
so,  als  wenn  dieser  notwendig  zu  jenem  gehöre?  Nur  Erfahrung 
kann  uns  solche  Verknüpfungen  an  die  Hand  geben  (so  schloß  er  aus 
jener  Schwierigkeit,  die  er  für  Unmöglichkeit  hielt),  und  alle  jene  ver- 
5  meintliche  Notwendigkeit  oder,  welches  einerlei  ist,  dafür  gehaltene 
Erkenntnis  a  priori  ist  nichts  als  eine  lange  Gewohnheit,  etwas  wahr 
zu  finden  und  daher  die  subjektive  Notwendigkeit  für  objektiv  zu  halten. 

Alle  Metaphysiker  sind  demnach  von  ihren  Geschäften  feierlich 
und  gesetzmäßig  so  lange  suspendiert,  bis  sie  die  Frage :    Wie    sind 

10  synthetische  Erkenntnisse  a  f  r  i  o  r  i  möglich?  ge- 
nugtuend werden  beantwortet  haben.  Denn  in  dieser  Beantwortung 
allein  besteht  das  Kreditiv,  welches  sie  vorzeigen  mußten,  wenn  sie 
im  Namen  der  reinen  Vernunft  etwas  bei  uns  anzubringen  haben;  in 
Ermanglung  desselben  aber  können    sie  nichts  anderes  erwarten,    als 

15  von  Vernünftigen,  die  so  oft  schon  hintergangen  worden,  ohne  alle 
weitere  Untersuchung  ihres  Anbringens  abgewiesen  zu  werden. 

Man  kann  sagen,  daß  die  ganze  Transzendentalphilosophie,  die  vor 
aller  Metaphysik  notwendig  vorhergeht,  selbst  nichts  anderes  als  bloß 
die  vollständige  Auflösung  der  hier  vorgelegten  Frage  sei,  nur  in  syste- 

20  matischer  Ordnung  und  Ausführlichkeit,  und  man  habe  also  bis  jetzt 
keine  Transzendentalphilosophie.  Denn  was  den  Namen  davon  führt, 
ist  eigentlich  ein  Teil  der  Metaphysik;  jene  Wissenschaft  soll  aber  die 
MögUchkeit  der  letzteren  zuerst  ausmachen  und  muß  also  vor  aller 
Metaphysik  vorhergehen.      Man  darf  sich   also   auch  nicht  wundern, 

25   daß  eine  ganze  und  zwar  aller  Beihilfe  aus  anderen  beraubte,  mithin 

an  sich  ganz  neue  Wissenschaft  nötig  ist,  um  nur  eine  einzige  Frage 

hinreichend  zu  beantworten,  wenn  die  Auflösung  derselben  mit  Mühe 

und  Schwierigkeit,  ja  sogar  mit  einiger  Dunkelheit  verbunden  ist. 

Indem  wir  jetzt  zu  dieser  Auflösung  schreiten  und  zwar  nach  ana- 

30  lytischer  Methode,  in  welcher  wir  voraussetzen,  daß  solche  Erkenntnisse 
aus  reiner  Vernunft  wirklich  sind:  so  können  wir  uns  nur  auf  zwei 
Wissenschaften  der  theoretischen  Erkenntnis  (als  von  der 
allein  hier  die  Rede  ist)  berufen,  nämlich  reine  Mathematik 
und   reine  Naturwissenschaft;    denn  nur  diese  können  uns 

36  die  Gegenstände  in  der  Anschauung  darstellen,  mithin,  wenn  etwa  in 
ihnen  ein  Erkenntnis  a  priori  vorkäme,  die  Wahrheit  oder  Übereinstim- 
mung derselben  mit  dem  Objekte  in  concreto,  das  ist  i  h  r  e  W  i  r  k  1  i  c  h- 
k  e  i  t ,  zeigen,  von  der  alsdann  zu  dem  Grunde  ihrer  Möglichkeit  auf 
dem  analytischen  Wege  fortgegangen  werden  könnte.     Dies  erleichtert 


186  Kant. 

das  Geschäft  sehr,  in  welchem  die  allgemeinen  Betrachtungen  nicht 
allein  auf  Fakta  angewandt  werden,  sondern  sogar  von  ihnen  ausgehen, 
anstatt  daß  sie  in  synthetischem  Verfahren  gänzlich  in  abstracto  aus 
Begriffen  abgeleitet  werden  müssen. 

Um  aber  von  diesen  wirklichen  und  zugleich  gegründeten  reinen  6 
Erkenntnissen  a  priori  zu  einer  möghchen,  die  wir  suchen,  nämhch  einer 
Metaphysik  als  Wissenschaft,  aufzusteigen,  haben  wir  nötig,  das,  was 
sie  veranlaßt,  und  als  bloß  natürlich  gegebene,  obgleich  wegen  ihrer 
Wahrheit  nicht  unverdächtige  Erkenntnis  a  priori  jener  zum  Grunde 
liegt,  deren  Bearbeitung  ohne  alle  kritische  Untersuchung  ihrer  Mög-  lo 
lichkeit  gewöhnhchermaßen  schon  Metaphysik  genannt  wird,  mit  einem 
Worte  die  Naturanlage  zu  einer  solchen  Wissenschaft,  unter  unserer 
Hauptfrage  mit  zu  begreifen;  und  so  wird  die  transzendentale  Haupt- 
frage, in  vier  andere  Fragen  zerteilt,  nach  und  nach  beantwortet  werden. 

1.  Wie    ist    reine    Mathematik    möglich?  is 

2.  Wie    ist    reine    Naturwissenschaft    möglich? 

3.  Wie   ist    Metaphysik  überhaupt   möglich? 

4.  Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich? 

Man  sieht,  daß,  wenngleich  die  Auflösung  dieser  Aufgaben  haupt- 
sächlich den  wesenthchen  Inhalt  der  Kritik  darstellen  soll,  sie  dennoch  20 
auch  etwas  EigentümUches  habe,  welches  auch  für  sich  allein  der  Auf- 
merksamkeit würdig  ist,  nämlich  zu  gegebenen  Wissenschaften  die 
Quellen  in  der  Vernunft  selbst  zu  suchen,  um  dadurch  dieser  ihr  Ver- 
mögen, etwas  a  priori  zu  erkennen,  vermittels  der  Tat  selbst  zu  erforschen 
und  auszumessen;  wodurch  denn  diese  Wissenschaften  selbst,  wenn-  25 
gleich  nicht  in  Ansehung  ihres  Inhalts,  doch  was  ihren  richtigen  Ge- 
brauch betrifft,  gewinnen  und,  indem  sie  einer  höheren  Frage,  wegen 
ihres  gemeinschaftlichen  Ursprungs,  Licht  verschaffen,  zugleich  An- 
laß geben,  ihre  eigene  Natur  besser  aufzuklären. 

Der  transzendentalen  Hauptfrage  erster  Teil:      so 
Wie  ist  reine  Mathematik  möglich 'S 

§6- 
Hier  ist  nun  eine  große  und  bewährte  Erkenntnis,  die  schon  jetzt 
von  bewundernswürdigem  Umfange  ist  und  unbegrenzte  Ausbreitung 
auf  die  Zukunft  verspricht,  die  durch  und  durch  apodiktische  Gewiß-  36 
heit,  das  ist  absolute  Notwendigkeit,  bei  sich  führt,  also  auf  keinen  Er- 
fahrungsgründen beruht,  mithin  ein  reines  Produkt  der  Vernunft,  über- 
dem  aber  durch  und  durch  synthetisch  ist.  „  Wie  ist  es  nun  der  mensch- 
lichen Vernunft  möglich,   eine  solche  Erkenntnis  gänzHch  a  priori  zu 


Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?  187 

Stande  zu  bringen?"  Setzt  dieses  Vermögen,  da  es  sich  nicht  auf  Erfah- 
rungen fußt,  noch  fußen  kann,  nicht  irgend  einen  Erkenntnisgrund 
a  priori  voraus,  der  tief  verborgen  liegt,  der  sich  aber  durch  diese  seine 
Wirkungen  offenbaren  dürfte,  wenn  man  den  ersten  Anfängen  derselben 

5   nur  fleißig  nachspürte? 

§7. 
Wir  finden  aber,  daß  alle  mathematische  Erkenntnis  dieses  Eigen- 
tümHche  habe,  daß  sie  ihren  Begrifi  vorher  in   der   Anschauung 
und  zwar  a  priori,  mithin  einer  solchen,  die  nicht  empirisch,  sondern 

10  reine  Anschauung  ist,  darstellen  müsse,  ohne  welches  Mittel  sie  nicht 
einen  einzigen  Schritt  tun  kann;  daher  ihre  Urteile  jederzeit  intuitiv 
sind,  anstatt  daß  Philosophie  sich  mit  diskursiven  Urteilen, 
aus  bloßen  Begriffen,  begnügen  muß  und  ihre  apodiktische 
Lehren  wohl  durch  Anschauung  erläutern,  niemals  aber  daher  ableiten 

16  kann.  Diese  Beobachtung  in  Ansehung  der  Natur  der  Mathematik  gibt 
uns  nun  schon  eine  Leitung  auf  die  erste  und  oberste  Bedingung  ihrer 
Möglichkeit :  nämUch  es  muß  ihr  irgend  eine  reine  Anschau- 
ung zum  Grunde  liegen,  in  welcher  sie  alle  ihre  Begriffe  in  concreto 
und    dennoch  a  priori  darstellen  oder,  wie  man  es  nennt,  sie    k  o  n- 

20  struieren  kann.  Können  wir  diese  reine  Anschauung  und  die 
Möglichkeit  einer  solchen  ausfinden,  so  erklärt  sich  daraus  leicht,  wie 
synthetische  Sätze  a  priori  in  der  reinen  Mathematik,  und  mithin  auch, 
wie  diese  Wissenschaft  selbst  möglich  sei;  denn  so  wie  die  empirische 
Anschauung  es  ohne  Schwierigkeit  möglich  macht,  daß  wir  unseren  Be- 

25  griff,  den  wir  uns  von  einem  Objekt  der  Anschauung  machen,  durch 
neue  Prädikate,  die  die  Anschauung  selbst  darbietet,  in  der  Erfahrung 
synthetisch  erweitern,  so  wird  es  auch  die  reine  Anschauung  tun;  nur 
mit  dem  Unterschied:  daß  im  letzteren  Falle  das  synthetische  Urteil 
a  priori  gewiß  und  apodiktisch,  im  ersteren  aber  nur  a  posteriori  und 

30  empirisch  gewiß  sein  wird,  weil  diese  nur  das  enthält,  was  in  der  zu- 
fälligen empirischen  Anschauung  angetroffen  wird,  jene  aber,  was  in 
der  reinen  notwendig  angetroffen  werden  muß,  indem  sie  als  Anschauung 
a  priori  mit  dem  Begriffe  vor  aller  Erfahrung  oder  einzelnen 
Wahrnehmung  unzertrennlich  verbunden  ist. 

35  §  8. 

Allein  die  Schwierigkeit  scheint  bei  diesem  Schritte  eher  zu  wachsen, 
als  abzunehmen.  Denn  nunmehr  lautet  die  Frage :  wie  ist  es  mög- 
lich, etwas  a  priori  anzuschauen?  Anschauung  ist  eine 
Vorstellung,    so   wie   sie  unmittelbar  von  der  Gegenwart   des   Gegen- 

40   Standes  abhängen  würde.    Daher  scheint  es  unmöglich,  ap  r  i  or  i  u  r- 


188  Kant. 

sprünglich  anzuschauen,  weil  die  Anschauung  alsdann  ohne  einen 
weder  vorher  noch  jetzt  gegenwärtigen  Gegenstand,  worauf  sie  sich 
bezöge,  stattfinden  müßte  und  also  nicht  Anschauung  sein  könnte. 
Begriffe  sind  zwar  von  der  Art,  daß  wir  uns  einige  derselben,  nämlich 
die,  so  nur  das  Denken  eines  Gegenstandes  überhaupt  enthalten,  ganz  s 
wohl  a  priori  machen  können,  ohne  daß  wir  uns  in  einem  unmittelbaren 
Verhältnisse  zum  Gegenstande  befänden,  zum  Beispiel  den  Begriff  von 
Größe,  von  Ursache  u.  s.  w. ;  aber  selbst  diese  bedürfen  doch,  um  ihnen 
Bedeutung  und  Sinn  zu  verschaffen,  einen  gewissen  Gebrauch  in  con- 
creto, das  ist  Anwendung  auf  irgend  eine  Anschauung,  dadurch  uns  lo 
ein  Gegenstand  derselben  gegeben  wird.  Allein  wie  kann  Anschau- 
ung   des  Gegenstandes  vor  dem  Gegenstande  selbst  vorhergehen  ? 

§9. 

Müßte  unsere  Anschauung  von  der  Art  sein,  daß  sie  Dinge  vorstellte, 
so    wie    sie    an    sich    selbst    sind,    so  würde  gar  keine  An-    is 
schauung    a  priori    stattfinden,    sondern    sie    wäre    allemal    empirisch. 
Denn  was  in  dem  Gegenstande  an  sich  selbst  enthalten  sei,  kann  ich 
nur  wissen,  wenn  er  mir  gegenwärtig  und  gegeben  ist.    FreiHch  ist  es 
auch  alsdann  unbegreifUch,   wie  die  Anschauung  einer  gegenwärtigen 
Sache  mir  diese  sollte  zu  erkennen  geben,  wie  sie  an  sich  ist,  da  ihre  Eigen-    20 
Schäften    nicht    in    meine    Vorstellungskraft   hinüberwandem    können; 
allein  die  MögHchkeit  davon  eingeräumt,  so  würde  doch  dergleichen 
Anschauung  nicht  a  priori  stattfinden,  das  ist,  ehe  mir  noch  der  Gegen- 
stand vorgestellt  würde :  denn  ohne  das  kann  kein  Grund  der  Beziehung 
meiner  Vorstellung  auf  ihn  erdacht  werden,    sie  müßte  denn  auf  Ein-   25 
gebung  beruhen.   Es  ist  also  nur  auf  eine  einzige  Art  möghch,  daß  meine 
Anschauung  vor  der  Wirklichkeit  des  Gegenstandes  vorhergehe  und  als 
Erkenntnis   a  priori   stattfinde,    wenn    sie     nämlich     nichts 
anderes   enthält,    als   die   Form   der    Sinnlichkeit, 
die  in  meinem   Subjekt  vor  allen  wirklichen  Ein-    so 
drücken  vorhergeht,    dadurch  ich  von  Gegenstän- 
den   affiziert    werde.      Denn     daß    Gegenstände     der    Sinne 
dieser  Form  der  Sinnhchkeit  gemäß  allein  angeschaut  werden  können, 
kann  ich  a  priori  wissen.   Hieraus  folgt :  daß  Sätze,  die  bloß  diese  Form 
der    sinnHchen   Anschauung   betreffen,    von   Gegenständen    der  Sinne   35 
möghch  und  gültig  sein  werden,  imgleichen  umgekehrt,  daß  Anschau- 
ungen, die  a  priori  möghch  sind,  niemals  andere  Dinge  als  Gegenstände 
unserer  Sinne  betreffen  können. 

§  10. 

Also  ist  es  nur  die  Form  der  sinnlichen  Anschauung,   dadurch  wir   40 
a  priori  Dinge  anschauen  können,  wodurch  wir  aber  auch  die  Objekte 


Wie  ist  reine  Mathematik  möglicla?  189 

nur  erkennen ,  wie  sie  uns  (unseren  Sinnen)  erscheinen  können, 
nicht  wie  sie  an  sich  sein  mögen,  und  diese  Voraussetzung  ist  schlechter- 
dings notwendig,  wenn  synthetische  Sätze  a  ^priori  als  möglich  eingeräumt 
oder,  im  Falle  sie  wirklich  angetroffen  werden,  ihre  MögHchkeit  begriffen 

5   und  zum  voraus  bestimmt  werden  soll. 

Nun  sind  Raum  und  Zeit  diejenigen  Anschauungen,  welche  die 
reine  Mathematik  allen  ihren  Erkenntnissen  und  Urteilen,  die  zugleich 
als  apodiktisch  und  notwendig  auftreten,  zum  Grunde  legt;  denn 
Mathematik  muß  alle  ihre  Begriffe  zuerst  in  der  Anschauung  und  reine 

10  Mathematik  in  der  reinen  Anschauung  darstellen ,  das  ist  sie  kon- 
struieren, ohne  welche  (weil  sie  nicht  analytisch,  nämlich  durch  Zer- 
ghederung  der  Begriffe,  sondern  synthetisch  verfahren  kann)  es  ihr 
unmöghch  ist,  einen  Schritt  zu  tun,  solange  ihr  nämlich  reine  Anschauung 
fehlt,  in  der  allein  der  Stoff  zu  synthetischen  Urteilen  a  'priori  gegeben 

lö  werden  kann.  Geometrie  legt  die  reine  Anschauung  des  Raums  zum 
Grunde.  Arithmetik  bringt  selbst  ihre  Zahlbegriffe  durch  sukzessive 
Hinzusetzung  der  Einheiten  in  der  Zeit  zu  stände,  vornehmlich  aber 
reine  Mechanik  kann  ihre  Begriffe  von  Bewegung  nur  vermittels  der 
Vorstellung  in  der  Zeit  zu  stände  bringen.     Beide  Vorstellungen  aber 

20  sind  bloß  Anschauungen;  denn  wenn  man  von  den  empirischen  An- 
schauungen der  Körper  und  ihrer  Veränderungen  (Bewegung)  alles 
Empirische,  nämhch  was  zur  Empfindung  gehört,  wegläßt,  so  bleiben 
noch  Raum  und  Zeit  übrig,  welche  also  reine  Anschauungen  sind,  die 
jenen  a  priori  zum  Grunde  liegen  und  daher  selbst  niemals  weggelassen 

25  werden  können,  aber  eben  dadurch,  daß  sie  reine  Anschauungen  a  priori 
sind,  beweisen,  daß  sie  bloße  Formen  unserer  Sinnlichkeit  sind,  die 
vor  aller  empirischen  Anschauung,  das  ist  der  Wahrnehmung  wirklicher 
Gegenstände,  vorhergehen  müssen,  und  denen  gemäß  Gegenstände 
a  priori  erkannt  werden  können,  aber  freilich  nur,  wie  sie  uns  erscheinen. 

30  §   IL 

Die  Aufgabe  des  gegenwärtigen  Abschnitts  ist  also  aufgelöst.  Reine 
Mathematik  ist  als  synthetische  Erkenntnis  a  priori  nur  dadurch  mög- 
lich, daß  sie  auf  keine  andere  als  bloße  Gegenstände  der  Sinne  geht, 
deren  empirischer  Anschauung  eine  reine  Anschauung  (des  Raums  und 

35  der  Zeit)  und  zwar  a  priori  zum  Grunde  hegt  und  darum  zum  Grunde 
liegen  kann,  weil  diese  nichts  anderes  als  die  bloße  Form  der  Sinnhch- 
keit  ist,  welche  vor  der  wirklichen  Erscheinung  der  Gegenstände  vor- 
hergeht, indem  sie  dieselbe  in  der  Tat  allererst  möghch  macht.  Doch 
betrifft  dieses  Vermögen,  a  priori  anzuschauen,  nicht  die  Materie  der 

40   Erscheinung,  das  ist  das,  was  in  ihr  Empfindung  ist,  denn  diese  macht 


190  Kant. 

das  Empirische  aus,  sondern  nur  die  Form  derselben,  Raum  und  Zeit. 
Wollte  man  im  mindesten  daran  zweifeln,  daß  beide  gar  keine  den 
Dingen  an  sich  selbst,  sondern  nur  bloße  ihrem  Verhältnisse  zur  Sinn- 
hchkeit  anhängende  Bestimmungen  sind,  so  möchte  ich  gerne  wissen, 
wie  man  es  möglich  finden  kann,  a  priori  und  also  vor  aller  Bekannt-  5 
Schaft  mit  den  Dingen,  ehe  sie  nämlich  uns  gegeben  sind,  zu  wissen, 
wie  ihre  Anschauung  beschaffen  sein  müsse,  welches  doch  hier  der  Fall 
mit  Raum  und  Zeit  ist.  Dieses  ist  aber  ganz  begreifhch,  sobald  beide 
für  nichts  weiter  als  formale  Bedingungen  unserer  Sinnlichkeit,  die 
Gegenstände  aber  bloß  für  Erscheinungen  gelten;  denn  alsdann  kann  lo 
die  Form  der  Erscheinung,  das  ist  die  reine  Anschauung,  allerdings  aus 
uns  selbst,  das  ist  a  priori,  vorgestellt  werden. 

§  12.       , 
Um  etwas  zur  Erläuterung  und  Bestätigung  beizufügen,  darf  man 
nur   das   gewöhnliche    und    unumgänglich    notwendige    Verfahren   der   i& 
Geometer  ansehen.    Alle  Beweise  von  durchgängiger  Gleichheit  zweier 
gegebener  Figuren  (da  eine  in  allen  Stücken  an  die  Stelle  der  anderen 
gesetzt  werden  kann)  laufen  zuletzt  darauf  hinaus,    daß  sie  einander 
decken,  welches  offenbar  nichts  anderes    als  ein  auf  der  unmittelbaren 
Anschauung  beruhender  synthetischer  Satz  ist;    und  diese  Anschauung   20 
muß  rein  und  a  'priori  gegeben  werden,  denn  sonst  könnte  jener  Satz 
nicht  für  apodiktisch  gewiß  gelten,  sondern  hätte  nur  empirische  Ge- 
wißheit.   Es  würde  nur  heißen:   man  bemerkt  es  jederzeit  so,  und  er  gilt 
nur  so  weit,  als  unsere  Wahrnehmung  bis  dahin  sich  erstreckt  hat.    Daß 
der  vollständige  Raum  (der  selbst  keine  Grenze  eines  anderen  Raumes   26 
mehr  ist)  drei  Abmessungen  habe,  und  Raum  überhaupt  auch  nicht 
mehr  derselben  haben  könne,  wird  auf  den  Satz  gebaut,  daß  sich  in  einem 
Punkte  nicht  mehr  als  drei  Linien  rechtwinklig  schneiden  können ;  dieser 
Satz  aber  kann  gar  nicht  aus  Begriffen  dargetan  werden,  sondern  beruht 
unmittelbar  auf  Anschauung  und  zwar  reiner  a  priori,  weil  er  apodiktisch   so 
gewiß  ist;    daß  man  verlangen  kann,   eine  Linie  soll  ins  Unendliche 
gezogen  {in  indeflnitum),  oder  eine  Reihe  Veränderungen  (zum  Beispiel 
durch  Bewegung  zurückgelegte  Räume)  solle  ins  UnendKche  fortgesetzt 
werden,  setzt  doch  eine  Vorstellung  des  Raumes  und  der  Zeit  voraus, 
die  bloß  an  der  Anschauung  hängen  kann,  nämüch  sofern  sie  an  sich   36 
durch  nichts  begrenzt  ist;   denn  aus  Begriffen  könnte  sie  nie  geschlossen 
werden.    Also  liegen  doch  wirkhch  der  Mathematik  reine  Anschauungen 
a  priori  zum  Grunde,  welche  ihre  synthetischen  und  apodiktisch  geltenden 
Sätze    möghch    machen  ;    und    daher    erklärt    unsere    transzendentale 
Deduktion  der  Begriffe  in  Raum  und  Zeit  zugleich  die  Möglichkeit  einer  40 


Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?  191 


reinen  Mathematik,  die  ohne  eine  solche  Deduktion,  und  ohne  daß 
wir  annehmen,  .,  alles,  was  unseren  Sinnen  gegeben  werden  mag  (den 
äußeren  im  Räume,  dem  inneren  in  der  Zeit),  werde  von  uns  nur  an- 
geschaut, wie  es  uns  erscheint,  nicht  wie  es  an  sich  selbst  ist",  zwar 
ö   eingeräumt,   aber  keineswegs  eingesehen  werden  könnte. 

§  13. 
Diejenigen,  welche  noch  nicht  von  dem  Begriffe  loskommen  können, 
als  ob  Raum  und  Zeit  wirkHche  Beschaffenheiten  wären,  die  den  Dingen 
an  sich  selbst  anhingen,   können  ihre   Scharfsinnigkeit  an  folgendem 

io  Paradoxon  üben  und,  wenn  sie  dessen  Auflösung  vergebens  versucht 
haben,  wenigstens  auf  einige  Augenblicke  von  Vorurteilen  frei,  vermuten, 
daß  doch  vielleicht  die  Abwürdigung  des  Raumes  und  der  Zeit  zu  bloßen 
Formen  unserer  sinnlichen  Anschauung  Grund  haben  möge. 

Wenn  zwei  Dinge  in  allen  Stücken,  die  an  jedem  für  sich  nur  immer 

15  können  erkannt  werden  (in  allen  zur  Größe  und  Qualität  gehörigen  Be- 
stimmungen) völHg  einerlei  sind,  so  muß  doch  folgen,  daß  eins  in  allen 
Fällen  und  Beziehungen  an  die  Stelle  des  anderen  könne  gesetzt  werden, 
ohne  daß  diese  Vertauschung  den  mindesten  kennthchen  Unterschied 
verursachen  würde.    In  der  Tat  verhält  sich  dies  auch  so  mit  ebenen 

20  Figuren  in  der  Geometrie;  allein  verschiedene  sphärische  zeigen  uner- 
achtet  jener  völligen  inneren  Übereinstimmung  doch  eine  solche  Ver- 
schiedenheit im  äußeren  Verhältnis,  daß  sich  eine  an  die  Stelle  der  anderen 
gar  nicht  setzen  läßt ;  zum  Beispiel  zwei  sphärische  Triangel  von  beiden 
Hemisphären,   die   einen   Bogen  des   Äquators   zur  gemeinschaftlichen 

25  Basis  haben,  können  völhg  gleich  sein  in  Ansehung  der  Seiten  sowohl 
als  Winkel,  so  daß  an  keinem,  wenn  er  allein  und  zugleich  vollständig 
beschrieben  wird,  nichts  angetroffen  wird,  was  nicht  zugleich  in  der 
Beschreibung  des  anderen  läge,  und  dennoch  kann  einer  nicht  an  die 
Stelle   des   anderen   (nämHch   auf  dem   entgegengesetzten   Hemisphär) 

30  gesetzt  werden ;  und  hier  ist  denn  doch  eine  innere  Verschieden- 
heit beider  Triangel,  die  kein  Verstand  als  innerhch  angeben  kann, 
und  die  sich  nur  durch  das  äußere  Verhältnis  im  Räume  offenbart. 
Allein  ich  will  gewöhnhchere  Fälle  anführen,  die  aus  dem  gemeinen 
Leben  genommen  werden  können. 

35  Was  kann  wohl  meiner  Hand  oder  meinem  Ohr  ähnhcher  und  in  allen 
Stücken  gleicher  sein,  als  ihr  Bild  im  Spiegel?  Und  dennoch  kann  ich 
eine  solche  Hand,  als  im  Spiegel  gesehen  wird,  nicht  an  die  Stelle  ihres 
Urbildes  setzen;  denn  wenn  dieses  eine  rechte  Hand  war,  so  ist  jene 
im  Spiegel  eine  hnke,  und  das  Bild  des  rechten  Ohres  ist  ein  hnkes,  das 

40   nimmermehr  die  Stelle  des  ersteren  vertreten  kann.   Nun  sind  hier  keine 


192  Kant. 

inneren  Unterschiede,  die  irgend  ein  Verstand  nur  denken  könnte;  und 
dennoch  sind  die  Unterschiede  innerhch,  soweit  die  Sinne  lehren,  denn 
die  linke  Hand  kann  mit  der  rechten  unerachtet  aller  beiderseitigen 
Gleichheit  und  ÄhnUchkeit  doch  nicht  zwischen  denselben  Grenzen 
eingeschlossen  sein  (sie  können  nicht  kongruieren);  der  Handschuh  s 
der  einen  Hand  kann  nicht  auf  der  anderen  gebraucht  werden.  Was 
ist  nun  die  Auflösung?  Diese  Gegenstände  sind  nicht  etwa  Vorstellungen 
der  Dinge,  wie  sie  an  sich  selbst  sind,  und  wie  sie  der  pure  Verstand 
erkennen  würde,  sondern  es  sind  sinnliche  Anschauungen,  das  ist  Erschei- 
nungen, deren  Möglichkeit  auf  dem  Verhältnisse  gewisser  an  sich  un-  lo 
bekannten  Dinge  zu  etwas  anderem,  nämlich  unserer  SinnHchkeit,  be- 
ruht. Von  dieser  ist  nun  der  Raum  die  Form  der  äußeren  Anschauung, 
und  die  innere  Bestimmung  eines  jeden  Raumes  ist  nur  durch  die  Bestim- 
mung des  äußeren  Verhältnisses  zu  dem  ganzen  Räume,  davon  jener 
Teil  ist  (dem  Verhältnisse  zum  äußeren  Sinne),  das  ist  der  Teil  ist  nur  i5 
durchs  Ganze  möglich,  welches  bei  Dingen  an  sich  selbst  als  Gegenständen 
des  bloßen  Verstandes  niemals,  wohl  aber  bei  bloßen  Erscheinungen 
stattfindet.  Wir  können  daher  auch  den  Unterschied  ähnlicher  und 
gleicher,  aber  doch  inkongruenter  Dinge  (zum  Beispiel  widersinnig  ge- 
wundener Schnecken)  durch  keinen  einzigen  BegrifE  verständlich  machen,  20 
sondern  nur  durch  das  Verhältnis  zur  rechten  und  linken  Hand,  welches 
unmittelbar  auf  Anschauung  geht. 

Anmerkung  I. 

Anmerkung  II. 

Alles,  was  uns  als  Gegenstand  gegeben  werden  soll,  muß  uns  in  25 
der  Anschauung  gegeben  werden.  Alle  unsere  Anschauung  geschieht 
aber  nur  vermittels  der  Sinne ;  der  Verstand  schaut  nichts  an,  sondern 
reflektiert  nur.  Da  nun  die  Sinne  nach  dem  jetzt  Erwiesenen  uns 
niemals  und  in  keinem  einzigen  Stück  die  Dinge  an  sich  selbst,  sondern 
nur  ihre  Erscheinungen  zu  erkennen  geben,  diese  aber  bloße  Vorstel-  so 
lungen  der  Sinnlichkeit  sind,  „so  müssen  auch  alle  Körper  mitsamt 
dem  Räume,  darin  sie  sich  befinden,  für  nichts  als  bloße  Vorstellungen 
in  uns  gehalten  werden  und  existieren  nirgends  anders,  als  bloß  in 
unseren  Gedanken".     Ist  dieses  nun  nicht  der  offenbare  Idealismus? 

Der  Idealismus  besteht  in  der  Behauptung,  daß  es  keine  andere  als  35 
denkende  Wesen  gebe,  die  übrigen  Dinge,  die  wir  in  der  Anschauung 
wahrzunehmen  glauben,  wären  nur  Vorstellungen  in  den  denkenden 
Wesen,  denen  in  der  Tat  kein  außerhalb  diesen  befindlicher  Gegenstand 
korrespondierte.  Ich  dagegen  sage:  es  sind  uns  Dinge  als  außer  uns 
befindhche  Gegenstände  unserer  Sinne  gegeben,    allein  von  dem,  was   4o 


Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?  193 

sie  an  sich  selbst  sein  mögen,  wissen  wir  nichts,  sondern  kennen  nui 
ihre  Erscheinungen,  das  ist  die  Vorstellungen,  die  sie  in  uns  wirken, 
indem  sie  unsere  Sinne  affizieren.  Demnach  gestehe  ich  allerdings, 
daß  es  außer  uns  Körper  gebe,  das  ist  Dinge,  die,  obzwar  nach  dem, 

5  was  sie  an  sich  selbst  sein  mögen,  uns  gänzhch  unbekannt,  wir  durch 
die  Vorstellungen  kennen,  welche  ihr  Einfluß  auf  unsere  Sinnlichkeit 
uns  verschafft,  und  denen  wir  die  Benennung  eines  Körpers  geben; 
welches  Wort  also  bloß  die  Erscheinung  jenes  uns  unbekannten,  aber 
nichtsdestoweniger  wirklichen  Gegenstandes  bedeutet.    Kann  man  dieses 

Lo   wohl  Ideahsmus  nennen?     Es  ist  ja  gerade  das  Gegenteil  davon. 

Daß  man  unbeschadet  der  wirkUchen  Existenz  äußerer  Dinge  von 
einer  Menge  ihrer  Prädikate  sagen  könne:  sie  gehörten  nicht  zu  diesen 
Dingen  an  sich  selbst,  sondern  nur  zu  ihren  Erscheinungen  und  hätten 
außer  unserer  Vorstellung  keine  eigene  Existenz,  ist  etwas,  was  schon 

L5  lange  vor  L  o  c  k  e  s  Zeiten,  am  meisten  aber  nach  diesen  allgemein 
angenommen  und  zugestanden  ist.  Dahin  gehören  die  Wärme,  die  Farbe, 
der  Geschmack  u.  s.  w.  Daß  ich  aber  noch  über  diese  aus  wichtigen 
Ursachen  die  übrigen  Qualitäten  der  Körper,  die  man  frimarias  nennt, 
die  Ausdehnung,  den  Ort  und  überhaupt  den  Raum  mit  allem,  was  ihm 

10  anhängig  ist  (Undurchdiinglichkeit  oder  Materialität,  Gestalt  u.  s.  w.), 
auch  mit  zu  bloßen  Erscheinungen  zähle,  damder  kann  man  nicht  den 
mindesten  Grund  der  Unzulässigkeit  anführen;  und  so  wenig  wie  der, 
so  die  Farben  nicht  als  Eigenschaften,  die  dem  Objekt  an  sich  selbst, 
sondern  nur  dem  Sinn  des  Sehens  als  Modifikationen  anhängen,  will 

25  gelten  lassen,  darum  ein  Ideaüst  heißen  kann:  so  wenig  kann  mein 
Lehrbegriff  ideaUstisch  heißen,  bloß  deshalb,  weil  ich  finde,  daß  noch 
mehr,  ja  alle  Eigenschaften,  die  die  Anschauung 
eines  Körpers  ausmachen,  bloß  zu  seiner  Erscheinung 
gehören;   denn  die  Existenz  des  Dinges,  was  erscheint,   wird  dadurch 

30  nicht  wie  beim  wirkUchen  Ideahsmus  aufgehoben,  sondern  nur  gezeigt, 
daß  wir  es,  wie  es  an  sich  selbst  sei,  durch  Sinne  gar  nicht  erkennen 
können. 

Ich  möchte  gerne  wissen,  wie  denn  meine  Behauptungen  beschaffen 
sein  müßten,  damit  sie  nicht  einen  Idealismus  enthielten.    Ohne  Zweifel 

35  müßte  ich  sagen:  daß  die  Vorstellung  vom  Raimie  nicht  bloß  dem  Ver- 
hältnisse, was  unsere  Sinnhchkeit  zu  den  Objekten  hat,  vollkommen 
gemäß  sei,  denn  das  habe  ich  gesagt,  sondern  daß  sie  sogar  dem  Objekt 
völhg  ähnhch  sei;  eine  Behauptung,  mit  der  ich  keinen  Sinn  verbinden 
kann,    so  wenig  als  die  Empfindung  des  Roten  mit  der  Eigenschaft 

40  des  Zinnobers,  der  diese  Empfindung  in  mir  erregt,  eine  Ähnhchkeit 
habe. 

D  es  80 ir-Menz  er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  13 


194  Kant. 

Anmerkung  III. 

Hieraus  läßt  sicii  nun  ein  leicht  vorherzuseliender,  aber  niclitiger 
Einwurf  gar  leicht  abweisen:  „daß  nämlich  durch  die  Idealität  des 
Raums  und  der  Zeit  die  ganze  Sinnenwelt  in  lauter  Schein  verwandelt 
werden  würde."  Nachdem  man  nämhch  zuvörderst  alle  philosophische  5 
Einsicht  von  der  Natur  der  sinnHchen  Erkenntnis  dadurch  verdorben 
hatte,  daß  man  die  Sinnhchkeit  bloß  in  einer  verworrenen  Vorstellungs- 
art setzte,  nach  der  wir  die  Dinge  immer  noch  erkennten,  wie  sie  sind, 
nur  ohne  das  Vermögen  zu  haben,  alles  in  dieser  unserer  Vorstellung  zum 
klaren  Bewußtsein  zu  bringen;  dagegen  von  uns  bewiesen  worden,  daß  10 
Sinnhchkeit  nicht  in  diesem  logischen  Unterschiede  der  Klarheit  oder 
Dunkelheit,  sondern  in  dem  genetischen  des  Ursprungs  der  Erkennt- 
nis selbst  bestehe,  da  sinnhche  Erkenntnis  die  Dinge  gar  nicht  vorstellt, 
wie  sie  sind,  sondern  nur  die  Art,  wie  sie  unsere  Sinne  affizieren,  und 
also,  daß  durch  sie  bloß  Erscheinungen,  nicht  die  Sachen  selbst  dem  15 
Verstände  zur  Reflexion  gegeben  werden:  nach  dieser  notwendigen  Be- 
richtigung regt  sich  ein  aus  unverzeihHcher  und  beinahe  vorsätzhcher 
Mißdeutung  entspringender  Einwurf ,  als  wenn  mein  Lehrbegriff  alle 
Dinge  der  Sinnenwelt  in  lauter  Schein  verwandelte. 

Wenn  uns  Erscheinung  gegeben  ist,  so  sind  wir  noch  ganz  frei,  wie   20 
wir  die  Sache  daraus  beurteilen  wollen.     Jene,  nämhch  Erscheinung, 
beruhte  auf  den   Sinnen,   diese  Beurteilung  aber  auf  dem  Verstände, 
und  es  fragt  sich  nur,  ob  in  der  Bestimmung  des  Gegenstandes  Wahr- 
heit sei  oder  nicht.    Der  Unterschied  aber  zwischen  Wahrheit  und  Traum 
wird  nicht  durch  die  Beschaffenheit  der  Vorstellungen,  die  auf  Gegen-    25 
stände  bezogen  werden,  ausgemacht,  denn  die  sind  in  beiden  einerlei, 
sondern  durch  die   Verknüpfung  derselben  nach  den  Regeln,   welche 
den  Zusammenhang  der  Vt)rstellungen  in  dem  Begriffe  eines  Objekts 
bestimmen,  und  wiefern  sie  in  einer  Erfahrung  beisammen  stehen  können 
oder  nicht.    Und  da  liegt  es  gar  nicht  an  den  Erscheinungen,  wenn  unsere   30 
Erkenntnis  den  Schein  für  Wahrheit  nimmt,  das  ist  wenn  Anschauung, 
wodurch  uns  ein  Objekt  gegeben  wird,  für  Begriff  vom   Gegenstande 
oder  auch  der  Existenz  desselben,  die  der  Verstand  nur  denken  kann, 
gehalten  wird.    Den  Gang  der  Planeten  stellen  uns  die  Sinne  bald  recht- 
läufig, bald  rückläufig  vor,  und  hierin  ist  weder  Falschheit  noch  Wahr-   35 
heit,  weil,  solange  man  sich  bescheidet,  daß  dieses  vorerst  nur  Erschei- 
nimg ist,  man  über  die  objektive  Beschaffenheit  ihrer  Bewegung  noch 
gar  nicht  urteilt.     Weil  aber,  wenn  der  Verstand  nicht  wohl  darauf 
acht  hat,  zu  verhüten,  daß  diese  subjektive  Vorstellungsart  nicht  für 
objektiv  gehalten  werde,  leichthch  ein  falsches  Urteil  entspringen  kann,    40 
so  sagt  man:  sie  scheinen  zurückzugehen;  allein  der  Schein  kommt  nicht 


Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?  195 

auf  Rechnung  der  Sinne,  sondern  des  Verstandes,  dem  es  allein  zukommt, 
aus  der  Erscheinung  ein  objektives  Urteil  zu  fällen. 

Auf  solche  Weise,  wenn  wir  auch  garnicht  über  den  Ursprung  unserer 
Vorstellungen  nachdächten  und  unsere  Anschauungen  der  Sinne,  sie 
mögen  enthalten,  was  sie  wollen,  im  Räume  und  Zeit  nach  Regeln  des 
Zusammenhanges  aller  Erkenntnis  in  einer  Erfahrung  verknüpfen:  so 
kann,  nachdem  wir  unbehutsam  oder  vorsichtig  sind,  trüghcher  Schein 
oder  W^ahrheit  entspringen;  das  geht  ledigHch  den  Gebrauch  sinnlicher 
Vorstellungen  im  Verstände  und  nicht  ihren  Ursprung  an.  Ebenso 
w^enn  ich  alle  Vorstellungen  der  Sinne  samt  ihrer  Form,  nämlich  Raum 
und  Zeit,  für  nichts  als  Erscheinungen  und  die  letzteren  für  eine  bloße 
Form  der  Sinnlichkeit  halte,  die  außer  ihr  an  den  Objekten  gar  nicht 
angetroffen  wird,  und  ich  bediene  mich  derselben  Vorstellungen  nur  in 
Beziehung  auf  mögliche  Erfahrung:  so  ist  darin  nicht  die  mindeste  Ver- 
leitung zum  Irrtum,  oder  ein  Schein  enthalten,  daß  ich  sie  für  bloße 
Erscheinungen  halte;  denn  sie  können  dessen  ungeachtet  nach  Regeln 
der  Wahrheit  in  der  Erfahrung  richtig  zusammenhängen.  Auf  solche 
Weise  gelten  alle  Sätze  der  Geometrie  vom  Räume  ebensoTvohl  von  allen 
Gegenständen  der  Sinne,  mithin  in  Ansehung  aller  möglichen  Erfahrung, 
ob  ich  den  Raum  als  eine  bloße  Form  der  Sinnlichkeit,  oder  als  etwas 
an  den  Dingen  selbst  Haftendes  ansehe;  wiewohl  ich  im  ersteren  Falle 
allein  begreifen  kann,  wie  es  möglich  sei,  jene  Sätze  von  allen  Gegen- 
ständen der  äußeren  Anschauung  a  priori  zu  wissen;  sonst  bleibt  in 
Ansehung  aller  nur  möglichen  Erfahrung  alles  ebenso,  wie  wenn  ich 
diesen  Abfall  von  der  gemeinen  Meinung  gar  nicht  unternommen  hätte. 

Wage  ich  es  aber  mit  meinen  Begriffen  von  Raum  und  Zeit  über 
alle  möghche  Erfahrung  hinauszugehen,  welches  unvermeidhch  ist,  wenn 
ich  sie  für  Beschaffenheiten  ausgebe,  die  den  Dingen  an  sich  selbst 
anhingen  (denn  was  sollte  mich  da  hindern,  sie  auch  von  eben  denselben 
Dingen,  meine  Sinne  möchten  nun  auch  anders  eingerichtet  sein  und 
für  sie  passen  oder  nicht,  dennoch  gelten  zu  lassen?),  alsdann  kann 
ein  wichtiger  Irrtum  entspringen,  der  auf  einem  Scheine  beruht,  da  ich, 
das,  was  eine  bloß  meinem  Subjekt  anhängende  Bedingung  der  An- 
schauung der  Dinge  war  und  sicher  für  alle  Gegenstände  der  Sinne, 
mithin  nur  alle  möghche  Erfahrung  galt,  für  allgemein  gültig  ausgab, 
weil  ich  sie  auf  die  Dinge  an  sich  selbst  bezog  und  nicht  auf  Bedingungen 
der  Erfahrung  einschränkte. 

Also  ist  es  so  weit  gefehlt,  daß  meine  Lehre  von  der  Ideahtät  des 
Raumes  und  der  Zeit  die  ganze  Sinnenwelt  zum  bloßen  Scheine  mache, 
daß  sie  vielmehr  das  einzige  Mittel  ist,  die  Anwendung  einer  der  aller- 
wichtigsten    Erkenntnisse,     nämhch    derjenigen,    welche    Mathematik 


196  Kant. 

a  'priori  vorträgt,  auf  wirkliche  Gegenstände  zu  sichern  und  zu  verhüten, 
daß  sie  nicht  für  bloßen  Schein  gehalten  werde,  weil  ohne  diese  Bemerkung 
es  ganz  unmöghch  wäre  auszumachen,  ob  nicht  die  Anschauungen  von 
Raum  und  Zeit,  die  wir  von  keiner  Erfahrung  entlehnen,  und  die  dennoch 
in  unserer  Vorstellung  a  priori  liegen,  bloße  selbstgemachte  Hirnge- 
spinste wären,  denen  gar  kein  Gegenstand,  wenigstens  nicht  adäquat, 
korrespondierte,  und  also  Geometrie  selbst  ein  bloßer  Schein  sei;  dagegen 
ihre  unstreitige  Gültigkeit  in  Ansehung  aller  Gegenstände  der  Sinnen- 
welt eben  darum,  weil  diese  bloße  Erscheinungen  sind,  von  uns  hat 
dargetan  werden  können. 


Übergang  von  der  gemeinen  sittlichen  Vernunfterkenntnis 
zur  philosophischen. 

Es  ist  überall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch  außer  derselben 
zu  denken  möglich,  was  ohne  Einschränkung  für  gut  könnte  gehalten 
werden,  als  allein  ein  guter  Wille.  Verstand,  Witz,  Urteilskraft 
und  wie  die  Talente  des  Geistes  sonst  heißen  mögen,  oder  Mut, 
Entschlossenheit,  Beharrhchkeit  im  Vorsatze  als  Eigenschaften  des  15 
Temperaments  sind  ohne  Zweifel  in  mancher  Absicht  gut  und 
wünschenswert;  aber  sie  können  auch  äußerst  böse  und  schädHch  werden, 
wenn  der  Wille,  der  von  diesen  Naturgaben  Gebrauch  machen  soll  und 
dessen  eigentümliche  Beschaffenheit  darum  Charakter  heißt,  nicht 
gut  ist.  Mit  den  Glücksgaben  ist  es  ebenso  bewandt.  Macht,  20 
Reichtum,  Ehre,  selbst  Gesundheit  und  das  ganze  Wohlbefinden  und 
Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande  unter  dem  Namen  der  Glück- 
seligkeit machen  Mut  und  hierdurch  öfters  auch  Übermut,  wo  nicht 
ein  guter  Wille  da  ist,  der  den  Einfluß  derselben  aufs  Gemüt  und  liiermit 
auch  das  ganze  Prinzip  zu  handeln  berichtige  und  allgemein-zweckmäßig  25 
mache;  ohne  zu  erwähnen,  daß  ein  vernünftiger  unparteiischer  Zuschauer 
sogar  am  Anbhcke  eines  ununterbrochenen  Wohlergehens  eines  Wesens, 
das  kein  Zug  eines  reinen  und  guten  Willens  ziert,  nimmermehr  ein  Wohl- 
gefallen haben  kann,  und  so  der  gute  Wille  die  unerläßHche  Bedingung 
selbst  der  Würdigkeit  glückhch  zu  sein  auszumachen  scheint.  30 

Einige  Eigenschaften  sind  sogar  diesem  guten  Willen  selbst  beförder- 
Hch  und  können  sein  Werk  sehr  erleichtern,  haben  aber  demungeachtet 
keinen  inneren  unbedingten  Wert,  sondern  setzen  immer  noch  einen 
guten  Willen  voraus,  der  die  Hochschätzung,  die  man  übrigens  mit 
Recht  für  sie  trägt,  einschränkt  und  es  nicht  erlaubt,  sie  für  schlechthin  36 


Übergang  v.  d.  gemeinen  sittl.  Vernunfterkenntnis  zur  philosophischen.      1  97 

gut  zu  halten.  Mäßigung  in  Affekten  und  Leidenschaften,  Selbstbeherr- 
schung und  nüchterne  Überlegung  sind  nicht  allein  in  vielerlei  Absicht 
gut ,  sondern  scheinen  sogar  einen  Teil  vom  inneren  Werte  der 
Person  auszumachen;  allein  es  fehlt  viel  daran,  um  sie  ohns  Einschränkung 
für  gut  zu  erklären  (so  unbedingt  sie  auch  von  den  Alten  gepriesen 
worden).  Denn  ohne  Grundsätze  eines  guten  Willens  können  sie  höchst 
böse  werden,  und  das  kalte  Blut  eines  Bösewichts  macht  ihn  nicht  allein 
weit  gefährlicher,  sondern  auch  unmittelbar  in  unseren  Augen  noch 
verabscheuungswürdiger,  als  er  ohne  dieses  dafür  würde  gehalten  werden. 

Der  gute  Wille  ist  nicht  durch  das,  was  er  bewirkt  oder  ausrichtet, 
nicht  durch  seine  Tauglichkeit  zur  Erreichung  irgend  eines  vorgesetzten 
Zweckes,  sondern  allein  durch  das  Wollen,  das  ist  an  sich,  gut  und, 
für  sich  selbst  betrachtet,  ohne  Vergleich  weit  höher  zu  schätzen  als 
alles,  was  durch  ihn  zu  Gunsten  irgend  einer  Neigung,  ja  wenn  man  will, 
der  Summe  aller  Neigungen  nur  immer  zu  stände  gebracht  werden 
könnte.  Wenngleich  durch  eine  besondere  Ungunst  des  Schicksals, 
oder  durch  kärgliche  Ausstattung  einer  stiefmütterlichen  Natur  es  diesem 
Willen  gänzlich  an  Vermögen  fehlte,  seine  Absicht  durchzusetzen;  wenn 
bei  seiner  größten  Bestrebung  dennoch  nichts  von  ihm  ausgerichtet 
würde,  und  nur  der  gute  Wille  (freilich  nicht  etwa  als  ein  bloßer  Wunsch, 
sondern  als  die  Aufbietung  aller  Mittel,  soweit  sie  in  unserer  Gewalt 
sind)  übrigbHebe :  so  würde  er  wie  ein  Juwel  doch  für  sich  selbst  glänzen, 
als  etwas,  das  seinen  vollen  Wert  in  sich  selbst  hat.  Die  Nützlichkeit 
oder  Fruchtlosigkeit  kann  diesem  Werte  weder  etwas  zusetzen,  noch 
abnehmen.  Sie  würde  gleichsam  nur  die  Einfassung  sein,  um  ihn  im 
gemeinen  Verkehr  besser  handhaben  zu  können,  oder  die  Aufmerksam- 
keit derer,  die  noch  nicht  genug  Kenner  sind,  auf  sich  zu  ziehen,  nicht 
aber  um  ihn  Kennern  zu  empfehlen  und  seinen  Wert  zu  bestimmen. 

Es  liegt  gleichwohl  in  dieser  Idee  von  dem  absoluten  Werte  des 
bloßen  Willens,  ohne  einigen  Nutzen  bei  Schätzung  desselben  in  An- 
schlag zu  bringen,  etwas  so  BefremdHches,  daß  unerachtet  aller  Ein- 
stimmung selbst  der  gemeinen  Vernunft  mit  derselben  dennoch  ein 
Verdacht  entspringen  muß,  daß  vielleicht  bloß  hochfliegende  Phantasterei 
insgeheim  zum  Grunde  liege,  und  die  Natur  in  ihrer  Absicht,  warum  sie 
unserem  Willen  Vernunft  zur  Regiererin  beigelegt  habe,  falsch  ver- 
standen sein  möge.  Daher  wollen  wir  diese  Idee  aus  diesem  Gesichts- 
punkte auf  die  Prüfung  stellen. 

In  den  Naturanlagen  eines  organisierten,  das  ist  zweckmäßig  zum 
Leben  eingerichteten,  Wesens  nehmen  wir  es  als  Grundsatz  an,  daß 
kein  Werkzeug  zu  irgend  einem  Zwecke  in  demselben  angetroffen  werde, 
als  was  auch  zu  demselben  das  schicklichste  und  ihm  am  meisten  ange- 


198  Kant. 

messen  ist.  Wäre  nun  an  einem  Wesen,  das  Vernunft  und  einen  Willen 
hat,  seine  Erhaltung,  sein  Wohle  r  gehen,  mit  einem  Worte 
seine  Glückseligkeit,  der  eigentliche  Zweck  der  Natur,  so  hätte 
sie  ihre  Veranstaltung  dazu  sehr  schlecht  getroffen,  sich  die  Vernunft 
des  Geschöpfes  zur  Ausrichterin  dieser  ihrer  Absicht  zu  ersehen.  Denn  5 
alle  Handlungen,  die  es  in  dieser  Absicht  auszuüben  hat,  und  die  ganze 
Kegel  seines  Verhaltens  würden  ihm  weit  genauer  durch  Instinkt  vorge- 
zeichnet und  jener  Zweck  weit  sicherer  dadurch  haben  erhalten  werden 
können,  als  es  jemals  durch  Vernunft  geschehen  kann,  und  sollte  diese 
ja  obenein  dem  begünstigten  Geschöpfe  erteilt  worden  sein,  so  würde  lo 
sie  ihm  nur  dazu  haben  dienen  müssen,  um  über  die  glückliche  Anlage 
seiner  Natur  Betrachtungen  anzustellen,  sie  zu  bewundern,  sich  ihrer 
zu  erfreuen  und  der  wohltätigen  Ursache  dafür  dankbar  zu  sein;  nicht 
aber,  um  sein  Begehrungsvermögen  jener  schwachen  und  trüglichen 
Leitung  zu  unterwerfen  und  in  der  Naturabsicht  zu  pfuschen;  mit  einem  15 
Worte,  sie  würde  verhütet  haben,  daß  Vernunft  nicht  in  praktischen 
Gebrauch  ausschlüge  und  die  Vermessenheit  hätte,  mit  ihren 
schwachen  Einsichten  sich  selbst  den  Entwurf  der  Giücksehgkeit  und 
der  Mittel  dazu  zu  gelangen  auszudenken;  die  Natur  würde  nicht  allein 
die  Wahl  der  Zwecke,  sondern  auch  der  Mittel  selbst  übernommen  und  20 
beide  mit  weiser  Vorsorge  lediglich  dem  Instinkte  anvertraut  haben. 
In  der  Tat  finden  wir  auch,  daß,  je  mehr  eine  kultivierte  Vernunft 
sich  mit  der  Absicht  auf  den  Genuß  des  Lebens  und  der  Giücksehgkeit 
abgibt,  desto  weiter  der  Mensch  von  der  wahren  Zufriedenheit  abkommt, 
woraus  bei  vielen  und  zwar  den  Versuchtesten  im  Gebrauche  derselben,  25 
wenn  sie  nur  aufrichtig  genug  sind,  es  zu  gestehen,  ein  gewisser  Grad 
von  M  i  s  o  1  o  g  i  e  ,  das  ist  Haß  der  Vernunft,  entspringt,  weil  sie 
nach  dem  Überschlage  alles  Vorteils,  den  sie,  ich  will  nicht  sagen  von 
der  Erfindung  aller  Künste  des  gemeinen  Luxus,  sondern  sogar  von 
den  Wissenschaften  (die  ihnen  am  Ende  auch  ein  Luxus  des  Verstandes  30 
zu  sein  scheinen)  ziehen,  dennoch  finden,  daß  sie  sich  in  der  Tat  nur 
mehr  Mühseligkeit  auf  den  Hals  gezogen,  als  an  Glückseligkeit  gewonnen 
haben  und  darüber  endhch  den  gemeineren  Schlag  der  Menschen,  welcher 
der  Leitung  des  bloßen  Naturinstinkts  näher  ist,  und  der  seiner  Ver- 
nunft nicht  viel  Einfluß  auf  sein  Tun  und  Lassen  verstattet,  eher  be-  35 
neiden  als  geringschätzen.  Und  soweit  muß  man  gestehen,  daß  das 
Urteil  derer,  die  die  ruhmredigen  Hochpreisungen  der  Vorteile,  die  uns 
die  Vernunft  in  Ansehung  der  Giücksehgkeit  und  Zufriedenheit  des 
Lebens  verschaffen  sollte,  sehr  mäßigen  und  sogar  unter  Null  herab- 
setzen, keineswegs  grämisch,  oder  gegen  die  Güte  der  Weltregierung  ^^ 
undankbar  sei,  sondern  daß  diesen  Urteilen  insgeheim  die  Idee  von 


Übergang  v.  d.  gemeinen  sittl.  Vernunfterkenntnis  zur  philosophisclien.      199 

einer  anderen  und  viel  würdigeren  Absicht  ihrer  Existenz  zum  Grunde 
hege,  zu  welcher  und  nicht  der  Glücksehgkeit  die  Vernunft  ganz  eigent- 
lich bestimmt  sei,  und  welcher  darum  als  oberster  Bedingung  die  Privat- 
absicht des  Menschen  größtenteils  nachstehen  muß. 

5  Denn  da  die  Vernunft  dazu  nicht  taughch  genug  ist,  um  den  Willen 
in  Ansehung  der  Gegenstände  desselben  und  der  Befriedigung  aller  unserer 
Bedürfnisse  (die  sie  zum  Teil  selbst  vervielfältigt)  sicher  zu  leiten,  als 
zu  welchem  Zwecke  ein  eingepflanzter  Naturinstinkt  viel  gewisser  ge- 
führt haben  würde,  gleichwohl  aber  uns  Vernunft  als  praktisches  Ver- 

Lo  mögen,  das  ist  als  ein  solches,  das  Einfluß  auf  den  Willen  haben  soll, 
dennoch  zugeteilt  ist:  so  muß  die  wahre  Bestimmung  derselben  sein, 
einen  nicht  etwa  in  anderer  Absicht  als  Mittel,  sondern  an  sich 
selbst  guten  Willen  hervorzubringen,  wozu  schlechterdings 
Vernunft  nötig  war,  wo  anders  die  Natur  überall  in  Austeilung  ihrer 

Uj  Anlagen  zweckmäßig  zu  Werke  gegangen  ist.  Dieser  Wille  darf  also 
zwar  nicht  das  einzige  und  das  ganze,  aber  er  muß  doch  das  höchste  Gut 
und  zu  allem  Übrigen,  selbst  allem  Verlangen  nach  Glücksehgkeit  die 
Bedingung  sein,  in  welchem  Falle  es  sich  mit  der  Weisheit  der  Natur 
gar  wohl  vereinigen  läßt,  wenn  man  wahrnimmt,  daß  die  Kultur  der 

20  Vernunft,  die  zur  ersteren  und  unbedingten  Absicht  erforderlich  ist, 
die  Erreichung  der  zweiten,  die  jederzeit  bedingt  ist,  nämlich  der  Glück- 
seligkeit, wenigstens  in  diesem  Leben  auf  mancherlei  Weise  einschränke, 
ja  sie  selbst  unter  nichts  herabbringen  könne,  ohne  daß  die  Natur  darin 
unzweckmäßig  verfahre,  weil  die  Vernunft,  die  ihre  höchste  praktische 

25  Bestimmung  in  der  Gründung  eines  guten  Willens  erkennt,  bei  Er- 
reichung dieser  Absicht  nur  einer  Zufriedenheit  nach  ihrer  eigenen  Art, 
nämhch  aus  der  Erfüllung  eines  Zwecks,  den  wiederum  nur  Vernunft 
bestimmt,  fähig  ist,  sollte  dieses  auch  mit  manchem  Abbruch,  der  den 
Zwecken  der  Neigung  geschieht,  verbunden  sein. 

30  Um  aber  den  Begrifl  eines  an  sich  selbst  hochzuschätzenden  und 
ohne  weitere  Absicht  guten  Willens,  so  wie  er  schon  dem  natürlichen 
gesunden  Verstände  beiwohnt  und  nicht  sowohl  gelehrt  als  vielmehr 
nur  aufgeklärt  zu  werden  bedarf,  diesen  Begriff,  der  in  der  Schätzung 
des  ganzen  Werts  unserer  Handlungen  immer  obenan  steht  und  die 

35  Bedingung  alles  übrigen  ausmacht,  zu  entwickeln:  wollen  wir  den 
Begriff  der  Pflicht  vor  uns  nehmen,  der  den  eines  guten  Willens, 
obzwar  unter  gewissen  subjektiven  Einschränkungen  und  Hindernissen, 
enthält,  die  aber  doch,  weit  gefehlt,  daß  sie  ihn  verstecken  und  unkennt- 
hch  machen  sollten,  ihn  vielmehr  durch  Abstechung  heben  und  desto 

40   heller  hervorscheinen  lassen. 

Ich  übergehe  hier  alle  Handlungen,  die  schon  als  pflichtwidrig  er- 


200  Kant. 

kannt  werden,  ob  sie  gleicli  in  dieser  oder  jener  Absicht  nützlich  sein 
mögen;  denn  bei  denen  ist  gar  nicht  einmal  die  Frage,  ob  sie  aus 
Pflicht  geschehen  sein  mögen,  da  sie  dieser  sogar  widerstreiten. 
Ich  setze  auch  die  Handkmgen  beiseite,  die  wirkhch  pflichtmäßig  sind, 
zu  denen  aber  Menschen  unmittelbar  keine  Neigung  haben,  s 
sie  aber  dennoch  ausüben,  weil  sie  durch  eine  andere  Neigung  dazu 
getrieben  werden.  Denn  da  läßt  sich  leicht  unterscheiden,  ob  die  pflicht- 
mäßige Handlung  aus  Pflicht  oder  aus  selbstsüchtiger  Absicht 
geschehen  sei.  Weit  schwerer  ist  dieser  Unterschied  zu  bemerken, 
wo  die  Handlung  pflichtmäßig  ist  und  das  Subjekt  noch  überdem  lo 
unmittelbare  Neigung  zu  ihr  hat.  Zum  Beispiel  es  ist  allerdings 
pflichtmäßig,  daß  der  Krämer  seinen  unerfahrenen  Käufer  nicht  über- 
teure, und,  wo  viel  Verkehr  ist,  tut  dieses  auch  der  kluge  Kaufmann 
nicht,  sondern  hält  einen  festgesetzten  allgemeinen  Preis  für  jedermann, 
so  daß  ein  Kind  ebensogut  bei  ihm  kauft  als  jeder  andere.  Man  wird  15 
also  ehrlich  bedient;  allein  das  ist  lange  nicht  genug,  um  deswegen 
zu  glauben,  der  Kaufmann  habe  aus  Pflicht  und  Grundsätzen  der  Ehr- 
hchkeit  so  verfahren;  sein  Vorteil  erforderte  es;  daß  er  aber  überdem 
noch  eine  unnnttelbare  Neigung  zu  den  Käufern  haben  sollte,  um  gleich- 
sam aus  Liebe  keinem  vor  dem  anderen  im  Preise  den  Vorzug  zu  geben,  20 
läßt  sich  hier  nicht  annehmen.  Also  war  die  Handlung  weder  aus  Pflicht 
noch  aus  unmittelbarer  Neigung,  sondern  in  eigennütziger  Absicht  ge- 
schehen. 

Dagegen  sein  Leben  zu  erhalten,  ist  Pflicht,  und  überdem  hat  jeder- 
mann dazu  noch  eine  unmittelbare  Neigung.  Aber  um  deswillen  hat  die  25 
oft  ängstliche  Sorgfalt,  die  der  größte  Teil  der  Menschen  dafür  trägt, 
noch  keinen  inneren  Wert  und  die  Maxime  derselben  keinen  morah- 
schen  Gehalt.  Sie  bewahren  ihr  Leben  zwar  pflicht  mäßig,  aber 
nicht  aus  Pflicht.  Dagegen  wenn  Widerwärtigkeiten  und  hoff- 
nungsloser Gram  den  Geschmack  am  Leben  gänzHch  weggenommen  30 
haben;  wenn  der  Unglückhche,  stark  an  Seele,  über  sein  Schicksal  mehr 
entrüstet  als  kleinmütig  oder  niedergeschlagen,  den  Tod  wünscht  und 
sein  Leben  doch  erhält,  ohne  es  zu  lieben,  nicht  aus  Neigung  oder  Furcht, 
sondern  aus  Pflicht :  alsdann  hat  seine  Maxime  einen  moralischen  Gehalt. 

Wohltätig  sein,  wo  man  kann,  ist  Pflicht,  und  überdem  gibt  es  35 
manche  so  teilnehmend  gestimmte  Seelen,  daß  sie  auch  ohne  einen 
anderen  Bewegungsgrund  der  Eitelkeit  oder  des  Eigennutzes  ein  inneres 
Vergnügen  daran  finden,  Freude  um  sich  zu  verbreiten,  und  die  sich 
an  der  Zufriedenheit  anderer,  sofern  sie  ihr  Werk  ist,  ergötzen  können. 
Aber  ich  behaupte,  daß  in  solchem  Falle  dergleichen  Handlung,  so  40 
pflichtmäßig,   so  liebenswürdig  sie   auch  ist,   dennoch  keinen   wahren 


Übergang  v.  d.  gemeinen  sittl,  Yernunfterkenntnis  zur  philosophischen.     201 

sittlichen  Wert  habe,  sondern  mit  anderen  Neigungen  zu  gleichen  Paaren 
gehe,  zum  Exempel  der  Neigung  nach  Ehre,  die,  wenn  sie  glückhcher- 
weise  auf  das  trifft,  was  in  der  Tat  gemeinnützig  und  pflichtmäßig, 
mithin  ehrenwert  ist,  Lob  und  Aufmunterung,  aber  nicht  Hochschätzung 
5  verdient;  denn  der  Maxime  fehlt  der  sittliche  Gehalt,  nämlich  solche 
Handlungen  nicht  aus  Neigung,  sondern  aus  Pflicht  zu  tun.  Ge- 
setzt also,  das  Gemüt  jenes  Menschenfreundes  wäre  vom  eigenen  Gram  um- 
wölkt, der  alle  Teilnehmung  an  anderer  Schicksal  auslöscht,  er  hätte 
immer  noch  Vermögen,  anderen  Notleidenden  wohlzutun,  aber  fremde 

10  Not  rührte  ihn  nicht,  weil  er  mit  seiner  eigenen  genug  beschäftigt  ist, 
und  nun,  da  keine  Neigung  ihn  mehr  dazu  anreizt,  risse  er  sich  doch 
aus  dieser  tödlichen  Unempfindlichkeit  heraus  und  täte  die  Handlung 
ohne  alle  Neigung,  ledigUch  aus  Pflicht,  alsdann  hat  sie  allererst  ihren 
echten  moralischen  Wert.     Noch  mehr:    wenn  die  Natur  diesem  oder 

lö  jenem  überhaupt  wenig  Sjrmpathie  ins  Herz  gelegt  hätte,  wenn  er 
(übrigens  ein  ehrlicher  Mann)  von  Temperament  kalt  und  gleichgültig 
gegen  die  Leiden  anderer  wäre,  vielleicht  weil  er,  selbst  gegen  seine 
eigenen  mit  der  besonderen  Gabe  der  Geduld  und  aushaltenden  Stärke 
versehen,   dergleichen  bei  jedem  anderen  auch  voraussetzt,   oder  gar 

20  fordert;  wenn  die  Natur  einen  solchen  Mann  (welcher  wahrlich  nicht 
ihr  schlechtestes  Produkt  sein  v/ürde)  nicht  eigentlich  zum  Menschen- 
freunde gebildet  hätte,  würde  er  denn  nicht  noch  in  sich,  einen  Quell 
finden,  sich  selbst  einen  weit  höheren  Wert  zu  geben,  als  der  eines  gut- 
artigen Temperaments  sein  mag?    Allerdings!    gerade  da  hebt  der  Wert 

25   des  Charakters  an,  der  moralisch  und  ohne  alle  Vergleichung  der  höchste 
ist,  nämlich  daß  er  wohltue,    nicht  aus  Neigung,    sondern  aus  Pflicht. 
Seine  eigene  Glücksehgkeit  sichern,  ist  Pflicht  (wenigstens  indirekt), 
denn  der  Mangel  der  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande  in  einem  Ge- 
dränge von  \delen  Sorgen  und  mitten  unter  unbefriedigten  Bedürfnissen 

50  könnte  leicht  eine  große  Versuchung  zu  Übertretung  der 
Pflichten  werden.  Aber  auch  ohne  hier  auf  Pflicht  zu  sehen, 
haben  alle  Menschen  schon  von  selbst  die  mächtigste  und  innigste 
Neigung  zur  Glückseligkeit,  weil  sich  gerade  in  dieser  Idee  alle  Neigungen 
zu  einer  Summe  vereinigen.     Nur  ist  die  Vorschrift  der  Glückseligkeit. 

}5  mehrenteils  so  beschaffen,  daß  sie  einigen  Neigungen  großen  Abbruch 
tut  und  doch  der  Mensch  sich  von  der  Summe  der  Befriedigung  aller 
unter  dem  Namen  der  Glückseligkeit  keinen  bestimmten  und  sicheren 
Begriff  machen  kann;  daher  nicht  zu  verwundern  ist,  wie  eine  einzige 
in  Ansehung  dessen,  was  sie  verheißt,  und  der  Zeit,  worin  ihre  Befrie- 

'0  digung  erhalten  werden  kann,  bestimmte  Neigung  eine  schwankende 
Idee  überwiegen  könne,  und  der  Mensch,  zum  Beispiel  ein  Podagrist, 


202  Kant. 

wählen  könne,  zu  genießen,  was  ihm  schmeckt,  und  zu  leiden,  was  er 
kann,  weil  er  nach  seinem  Überschlage  hier  wenigstens  sich  nicht  durch 
vielleicht  grundlose  Erwartungen  eines  Glücks,  das  in  der  Gesundheit 
stecken  soll,  um  den  Genuß  des  gegenwärtigen  Augenblicks  gebracht 
hat.  Aber  auch  in  diesem  Falle,  wenn  die  allgemeine  Neigung  zur  Glück-  5 
sehgkeit  seinen  Willen  nicht  bestimmte,  wenn  Gesundheit  für  ihn 
wenigstens  nicht  so  notwendig  in  diesen  Überschlag  gehörte,  so  bleibt 
noch  hier  wie  in  allen  anderen  Fällen  ein  Gesetz  übrig,  nämlich  seine 
Glückseligkeit  zu  befördern,  nicht  aus  Neigung,  sondern  aus  Pflicht, 
und  da  hat  sein  Verhalten  allererst  den  eigentlichen  morahschen  Wert,    lo 

So  sind  ohne  Zweifel  auch  die  Schriftstellen  zu  verstehen,  darin  ge- 
boten wird,  seinen  Nächsten,  selbst  unseren  Feind  zu  lieben.  Denn 
Liebe  als  Neigung  kann  nicht  geboten  werden,  aber  Wohltun  aus  Pflicht 
selbst,  wenn  dazu  gleich  gar  keine  Neigung  treibt,  ja  gar  natürliche 
und  unbezwingliche  Abneigung  widersteht ,  ist  praktische  und  is 
nicht  pathologische  Liebe ,  die  im  Willen  Hegt  und  nicht  im 
Hange  der  Empfindung ,  in  Grundsätzen  der  Handlung  und  nicht 
schmelzender  Teilnehmung;    jene  aber  allein  kann  geboten  werden. 

Der  zweite  Satz  ist :  eine  Handlung  aus  Pflicht  hat  ihren  morahschen 
Wert   nicht   in   der   Absicht,    welche  dadurch  erreicht  werden   20 
soll,  sondern  in  der  Maxime,  nach  der  sie  beschlossen  wird,  hängt  also 
nicht  von  der  Wirklichkeit  des  Gegenstandes  der  Handlung  ab,  sondern 
bloß  von  dem  Prinzip  des  Wollens,   nach  welchem  die  Hand- 
lung unangesehen  aller  Gegenstände  des  Begehrungsvermögens  geschehen 
ist.    Daß  die  Absichten,  die  wir  bei  Handlungen  haben  mögen,  und  ihre   25 
Wirkungen,  als  Zwecke  und  Triebfedern  des  Willens,  den  Handlungen 
keinen  unbedingten  und  morahschen  Wert  erteilen  können,  ist  aus  dem 
vorigen  klar.  W^orin  kann  also  dieser  Wert  liegen,  wenn  er  nicht  im  Willen 
in  Beziehung  auf  dessen  verhoffte  Wirkung  bestehen  soll  ?  Er  kann  nirgend 
anders  liegen,    als   im   Prinzip   des  Willens   unangesehen  der   30 
Zwecke,  die  durch  solche  Handlung  bewirkt  werden  können;    denn  der 
Wille  ist  mitten  inne  zwischen  seinem  Prinzip  a  priori,  welches  formell 
ist,   und  zwischen  seiner  Triebfeder  a  posteriori,  welche  materiell  ist, 
gleichsam  auf  einem  Scheidewege,  und  da  er  doch  irgend  wodurch  muß 
bestimmt  werden,  so  wird  er  durch  das  formelle  Prinzip  des  Wollens   33 
überhaupt  bestimmt  werden  müssen,  wenn  eine  Handlung  aus  Pflicht 
geschieht,  da  ihm  alles  materielle  Prinzip  entzogen  worden. 

Den    dritten    Satz    als    Folgerung    aus    beiden  vorigen  würde    ich 
so  ausdrücken :   Pflicht    ist    die    Notwendigkeit    einer 
Handlung  aus  Achtung  fürs  Gesetz.     Zum  Objekte  als   40 
Wirkung  meiner  vorhabenden  Handlung   kann   ich    zwar  Neigung 


Übergang  v.  d.  gemeinen  sittl.  Vernunfterkenntnis  zur  philosophisclien.     203 

haben,  aber  niemals  Achtung,  eben  darum  weil  sie  bloß  eine 
Wirkung  und  nicht  Tätigkeit  eines  Willens  ist.  Ebenso  kann  ich  für 
Neigung  überhaupt,  sie  mag  nun  meine  oder  eines  anderen  seine  sein, 
nicht  xA.chtung  haben,  ich  kann  sie  höchstens  im  ersten  Falle  billigen, 

5  im  zweiten  bisweilen  selbst  lieben,  das  ist  sie  als  meinem  eigenen  Vorteüe 
günstig  ansehen.  Nur  das,  was  bloß  als  Grund,  niemals  aber  als  Wirkung 
mit  meinem  Willen  verknüpft  ist,  was  nicht  meiner  Neigung  dient, 
sondern  sie  überwiegt,  wenigstens  diese  von  deren  Überschlage  bei  der 
Wahl  ganz  ausschließt,  mithin  das  bloße  Gesetz  für  sich  kann  ein  Gegen- 

10  stand  der  Achtung  und  hiermit  ein  Gebot  sein.  Nun  soll  eine  Handlung 
aus  Pflicht  den  Einfluß  der  Neigung  und  mit  ihr  jeden  Gegenstand 
des  Willens  ganz  absondern,  also  bleibt  nichts  für  den  Willen  übrig, 
was  ihn  bestimmen  könne,  als  objektiv  das  Gesetz  und  subjektiv 
reine  Achtung  für  dieses  praktische  Gesetz,  mithin  die  Maxime*), 

15  einem  solchen  Gesetze  selbst  mit  Abbruch  aller  meiner  Neigungen 
Folge  zu  leisten. 

Es  hegt  also  der  morahsche  Wert  der  Handlung  nicht  in  der  Wir- 
kung, die  daraus  erwartet  wird,  also  auch  nicht  in  irgend  einem  Prinzip 
der  Handlung,  welches  seinen  Bewegungsgrund  von  dieser  erwarteten 

20  Wirkung  zu  entlehnen  bedarf.  Denn  alle  diese  Wirkungen  (Annehmhch- 
keit  seines  Zustandes,  ja  gar  Beförderung  fremder  GlückseUgkeit) 
konnten  auch  durch  andere  Ursachen  zu  stände  gebracht  werden,  und 
es  brauchte  also  dazu  nicht  des  Willens  eines  vernünftigen  Wesens, 
worin  gleichwohl   das  höchste  und  unbedingte  Gute  allein  angetroffen 

25  werden  kann.  Es  kann  daher  nichts  anderes  als  die  Vorstellung 
des  Gesetzes  an  sich  selbst,  die  freilich  nur  im  ver- 
nünftigen Wesen  stattfindet,  sofern  sie ,  nicht  aber 
die  verhoffte  Wirkung,  der  Bestimmungsgrund  des  Willens  ist,  so  das 
vorzügliche  Gute,  welches  wir  sittlich  nennen,   ausmachen,    welches  in 

30  der  Person  selbst  schon  gegenwärtig  ist,  die  danach  handelt,  nicht 
aber  allererst  aus  der  Wirkung  erwartet  werden  darf. 

Was  kann  das  aber  wohl  für  ein  Gesetz  sein,  dessen  Vorstellung, 
auch  ohne  auf  die  daraus  erwartete  Wirkung  Eücksicht  zu  nehmen, 
den  Willen  bestimmen  muß,    damit  dieser  schlechterdings  und  ohne 

35  Einschränkung  gut  heißen  könne?  Da  ich  den  Willen  aller  Antriebe 
beraubt  habe,  die  ihm  aus  der  Befolgung  irgend  eines  Gesetzes  ent- 
springen könnten,  so  bleibt  nichts  als  die  allgemeine  Gesetzmäßigkeit 

*)  M  a  X  i  m  e  ist  das  subjektive  Prinzip  des  WoUens ;  das  objektive  Prinzip 
(das  ist  dasjenige,  was  allen  vernünftigen  Wesen  auch  subjektiv  zum  prak- 
tischen Prinzip  dienen  würde,  wenn  Vernunft  volle  Gewalt  über  das  Begehrungs- 
vermögen hätte)  ist  das  praktische  Gesetz. 


204  Kant. 

der  Handlungen  überhaupt  übrig,  welche  allein  dem  Willen  zum  Prinzip 
dienen  soll,  das  ist  ich  soll  niemals  anders  verfahren  als  so,  d  a  ß  ich 
auch  wollen  könne,  meine  Maxime  solle  ein  all- 
gemeines Gesetz  werden.  Hier  ist  nun  die  bloße  Gesetz- 
mäßigkeit überhaupt  (ohne  irgend  ein  auf  gewisse  Handlungen  be-  5 
stimmtes  Gesetz  zum  Grunde  zu  legen)  das,  was  dem  Willen  zum  Prinzip 
dient  und  ihm  auch  dazu  dienen  muß,  wenn  Pflicht  nicht  überall  ein 
leerer  Wahn  und  schimärischer  Begriff  sein  soll;  hiermit  stimmt  die 
gemeine  Menschenvernunft  in  ihrer  praktischen  Beurteilung  auch  voll- 
kommen überein  und  hat  das  gedachte  Prinzip  jederzeit  vor  Augen,    lo 

Die  Frage  sei  zum  Beispiel:    darf  ich,  wenn  ich  im  Gedränge  bin, 
nicht  ein  Versprechen  tun,  in  der  Absicht,  es  nicht  zu  halten?   Ich  mache 
hier  leicht  den  Unterschied,  den  die  Bedeutung  der  Frage  haben  kann, 
ob  es  klüglich  oder  ob  es  pflichtmäßig  sei,  ein  falsches  Versprechen  zu 
tun.    Das  erstere  kann  ohne  Zweifel  öfters  stattfinden.    Zwar  sehe  ich   i6 
wohl,  daß  es  nicht  genug  sei,  mich  vermittels  dieser  Ausflucht  aus  einer 
gegenwärtigen  Verlegenheit  zu  ziehen,  sondern  wohl  überlegt  werden 
müsse,  ob  mir  aus  dieser  Lüge  nicht  hinterher  viel  größere  Ungelegen- 
heit  entspringen  könne,  als  die  sind,  von  denen  ich  mich  jetzt  befreie, 
und,  da  die  Folgen  bei  aller  meiner  vermeinten     Schlauigkeit   20 
nicht  so  leicht  vorauszusehen  sind,  daß  nicht  ein  einmal  verlorenes  Zu- 
trauen mir  weit  nachteiliger  werden  könnte  als  alles  Übel,  das  ich  jetzt 
zu  vermeiden  gedenke,  ob  es  nicht  klüglicher  gehandelt  sei,  hierbei 
nach  einer  allgemeinen  Maxime  zu  verfahren  und  es  sich  zur  Gewohn- 
heit zu  machen,  nichts  zu  versprechen  als  in  der  Absicht,  es  zu  halten.   25 
Allein  es  leuchtet  mir  hier  bald  ein,  daß  eine  solche  Maxime  doch  immer 
nur  die  besorglichen  Folgen  zum  Grunde  habe.    Nun  ist  es  doch  etwas 
ganz  anderes,  aus  Pflicht  wahrhaft  zu  sein,  als  aus  Besorgnis  der  nach- 
teiligen Folgen :  indem  im  ersten  Falle  der  Begriff  der  Handlung  an  sich 
selbst  schon  ein  Gesetz  für  mich  enthält,  im  zweiten  ich  mich  allererst   so 
anderwärtsher  umsehen  muß,  welche  Wirkungen  für  mich  wohl  damit 
verbunden  sein  möchten.    Denn  wenn  ich  von  dem  Prinzip  der  Pflicht 
abweiche,  so  ist  es  ganz  gewiß  böse;    werde  ich  aber  meiner  Maxime 
der  Klugheit  abtrünnig,  so  kann  das  mir  doch  manchmal  sehr  vorteil- 
haft sein,  wiewohl  es  freihch  sicherer  ist,  bei  ihr  zu  bleiben.     Um  in-   35 
dessen  mich  in  Ansehen  der  Beantwortung  dieser  Aufgabe,  ob  ein  lügen- 
haftes Versprechen  pflichtmäßig  sei,  auf  die  allerkürzeste  und  doch  un- 
trüghche  Art  zu  belehren,  so  frage  ich  mich  selbst:    vfürde  ich  wohl 
danüt  zufrieden  sein,  daß  meine  Maxime  (mich  durch  ein  unwahres  Ver- 
sprechen aus  Verlegenheit  zu  ziehen)  als  ein  allgemeines  Gesetz  (sowohl   40 
für  mich  als  andere)  gelten  solle,  und  würde  ich  wohl  zu  mir  sagen  können: 


Übergang  v.  d.  gemeinen  sittl.  Vernunfterkenntnis  zur  pliilosopliisclien.     205 

es  mag  jedermann  ein  unwahres  Versprechen  tun,  wenn  er  sich  in  Ver- 
legenheit befindet,  daraus  er  sich  auf  andere  Art  nicht  ziehen  kann? 
So  werde  ich  bald  inne,  daß  ich  zwar  die  Lüge,  aber  ein  allgemeines 
Gesetz  zu  lügen  gar  nicht  wollen  könne;    denn  nach  einem  solchen 

5  würde  es  eigenthch  gar  kein  Versprechen  geben,  weil  es  vergebUch 
wäre,  meinen  Willen  in  Ansehung  meiner  künftigen  Handlungen  anderen 
vorzugeben,  die  diesem  Vorgeben  doch  nicht  glauben,  oder,  wenn  sie 
es  übereilterweise  täten,  mich  doch  mit  gleicher  Münze  bezahlen  würden, 
mithin   meine  Maxime,    sobald   sie  zum  allgemeinen  Gesetze  gemacht 

10   würde,  sich  selbst  zerstören  müsse. 

Was  ich  also  zu  tun  habe,  damit  mein  Wollen  sitthch  gut  sei,  dazu 
brauche  ich  gar  keine  weit  ausholende  Scharfsinnigkeit.  Unerfahren 
in  Ansehung  des  Weltlaufs,  unfähig  auf  alle  sich  ereignenden  Vorfälle 
desselben  gefaßt  zu  sein,  frage  ich  mich  nur:  Kannst  du  auch  wollen, 

15  daß  deine  Maxime  ein  allgemeines  Gesetz  werde?  Wo  nicht,  so  ist  sie 
verwerfhch,  und  das  zwar  nicht  um  eines  dir  oder  auch  anderen  daraus 
bevorstehenden  Nachteils  willen,  sondern  weil  sie  nicht  als  Prinzip 
in  eine  möghche  allgemeine  Gesetzgebung  passen  kann;  für  diese  aber 
zwingt  mir  die  Vernunft  unmittelbare  Achtung  ab,  von  der  ich  zwar 

20  jetzt  noch  nicht  einsehe,  worauf  sie  sich  gründe  (welches  der  Phi- 
losoph untersuchen  mag),  wenigstens  aber  doch  so  viel  verstehe:  daß 
es  eine  Schätzung  des  Wertes  sei,  welcher  allen  Wert  dessen,  was  durch 
Neigung  angepriesen  wird,  weit  überwiegt,  und  daß  die  Notwendigkeit 
meiner   Handlungen   aus    reiner    Achtung   fürs   praktische    Gesetz 

23  dasjenige  sei,  was  die  Pflicht  ausmacht,  der  jeder  andere  Bewegungs- 
grund weichen  muß,  weil  sie  die  Bedingung  eines  an  sich  guten 
Willens  ist,  dessen  Wert  über  alles  geht. 

So  sind  wir  denn  in    der  morahschen  Erkenntnis    der    gemeinen 
Menschenvernunft  bis  zu  ihrem  Prinzip  gelangt,  welches  sie  sich  zwar 

30  freihch  nicht  so  in  einer  allgemeinen  Form  abgesondert  denkt,  aber 
doch  jederzeit  wirkhch  vor  Augen  hat  und  zum  Richtmaße  ihrer  Be- 
urteilung braucht.  Es  wäre  hier  leicht  zu  zeigen,  wie  sie  mit  diesem  Kom- 
passe in  der  Hand  in  allen  vorkommenden  Fällen  sehr  gut  Bescheid 
wisse,  zu  unterscheiden,  was  gut,  was  böse,  pflichtmäßig  oder  pflicht- 

35  widrig  sei,  wenn  man,  ohne  sie  im  mindesten  etwas  Neues  zu  lehren, 
sie  nur,  wie  Sokrates  tat,  auf  ihr  eigenes  Prinzip  aufmerksam  macht, 
und  daß  es  also  keiner  Wissenschaft  und  Philosophie  bedürfe,  um  zu 
wissen,  was  man  zu  tun  habe,  um  ehrlich  und  gut,  ja  sogar  um  weise 
und  tugendhaft  zu  sein.  Das  ließe  sich  auch  wohl  schon  zum  voraus 
40  vermuten,  daß  die  Kenntnis  dessen,  was  zu  tun,  mithin  auch  zu  wissen 
jedem  Menschen  obhegt,  auch  jedes,  selbst  des  gemeinsten  Menschen 


206  Kant. 

Sache  sein  werde.  Hier  kann  man  es  doch  nicht  ohne  Bewunderung  an- 
sehen, wie  das  praktische  Beurteilungsvermögen  vor  dem  theoretischen 
im  gemeinen  Menschenverstände  so  gar  viel  voraus  habe.  In  dem  letz- 
teren, wenn  die  gemeine  Vernunft  es  wagt,  von  den  Erfahrungsgesetzen 
und  den  Wahrnehmungen  der  Sinne  abzugehen,  gerät  sie  in  lauter  Un-  5 
begreifUchkeiten  und  Widersprüche  mit  sich  selbst,  wenigstens  in  ein 
Chaos  von  Ungewißheit,  Dunkelheit  und  Unbestand.  Im  praktischen 
aber  fängt  die  Beurteilungskraft  dann  eben  allererst  an,  sich  recht 
vorteilhaft  zu  zeigen,  wenn  der  gemeine  Verstand  alle  sinnlichen  Trieb- 
federn von  praktischen  Gesetzen  ausschließt.  Er  wird  alsdann  sogar  lo 
subtil,  es  mag  sein,  daß  er  mit  seinem  Gewissen  oder  anderen  Ansprüchen 
in  Beziehung  auf  das,  was  recht  heißen  soll,  schikanieren  oder  auch  den 
Wert  der  Handlungen  zu  seiner  eigenen  Belehrung  aufrichtig  bestimmen 
will,  und  was  das  meiste  ist,  er  kann  in  letzterem  Falle  sich  ebensogut 
Hoffnung  machen,  es  recht  zu  treffen,  als  es  sich  immer  ein  Philosoph  i5 
versprechen  mag,  ja  ist  beinahe  noch  sicherer  hierin,  als  selbst  der  letztere, 
weil  dieser  doch  kein  anderes  Prinzip  als  jener  haben,  sein  Urteil  aber 
durch  eine  Menge  fremder,  nicht  zur  Sache  gehöriger  Erwägungen 
leicht  verwirren  und  von  der  geraden  Richtung  abweichend  machen 
kann.  Wäre  es  demnach  nicht  ratsamer,  es  in  moralischen  Dingen  bei  20 
dem  gemeinen  Vernunfturteil  bewenden  zu  lassen  und  höchstens  nur 
Philosophie  anzubringen,  um  das  System  der  Sitten  desto  vollständiger 
und  faßlicher,  imgleichen  die  Regeln  derselben  zum  Gebrauche  (noch 
mehr  aber  zum  Disputieren)  bequemer  darzustellen,  nicht  aber  um 
selbst  in  praktischer  Absicht  den  gemeinen  Menschenverstand  von  seiner  25 
glücklichen  Einfalt  abzubringen  und  ihn  durch  Philosophie  auf  einen 
neuen  Weg  der  Untersuchung  und  Belehrung  zu  bringen? 

Es  ist  eine  herrliche  Sache  um  die  Unschuld,  nur  es  ist  auch  wiederum 
sehr  schlimm,  daß  sie  sich  nicht  wohl  bewahren  läßt  und  leicht  verführt 
wird.    Deswegen  bedarf  selbst  die  Weisheit  —  die  sonst  wohl  mehr  im   30 
Tun  und  Lassen  als  im  Wissen  besteht  —  doch  auch  der  Wissenschaft, 
nicht  um  von  ihr  zu  lernen,  sondern  ihrer  Vorschrift  Eingang  und  Dauer- 
haftigkeit zu  verschaffen.    Der  Mensch  fühlt  in  sich  selbst  ein  mächtiges 
Gegengewicht  gegen  alle  Gebote  der  Pflicht,  die  ihm  die  Vernunft  so 
hochachtungswürdig  vorstellt,  an  seinen  Bedürfnissen  und  Neigungen,   35 
deren  ganze  Befriedigung  er  unter  dem  Namen  der  GlückseHgkeit  zu- 
sammenfaßt. Nun  gebietet  die  Vernunft,  ohne  doch  dabei  den  Neigungen 
etwas  zu  verheißen,  unnachläßlich,  mithin  gleichsam  mit  Zurücksetzung 
und  Nichtachtung  jener  so  ungestümen  und  dabei  so  billig  scheinenden 
Ansprüche  (die  sich  durch  kein  Gebot  wollen  aufheben  lassen)  ihre  Vor-   40 
Schriften.   Hieraus  entspringt  aber  eine  natürliche  Dialektik, 


Erläuterungen.  207 


das  ist  ein  Hang,  wider  jene  strengen  Gesetze  der  Pflicht  zu  vernünfteln 
und  ihre  Gültigkeit,  wenigstens  ihre  Reinigkeit  und  Strenge  in  Zweifel 
zu  ziehen  und  sie  womöglich  unseren  Wünschen  und  Neigungen  ange- 
messener zu  machen,  das  ist  sie  im  Grunde  zu  verderben  und  um  ihre 
ganze  Würde  zu  bringen,  welches  denn  doch  selbst  die  gemeine  praktische 
Vernunft  am  Ende  nicht  gut  heißen  kann. 

So  wird  also  die  gemeine  Menschen  Vernunft  nicht 
durch  irgend  ein  Bedürfnis  der  Spekulation  (welches  ihr,  solange  sie 
sich  genügt,  bloße  gesunde  Vernunft  zu  sein,  niemals  anwandelt),  sondern 
selbst  aus  praktischen  Gründen  angetrieben,  aus  ihrem  Kreise  zu  gehen 
und  einen  Schritt  ins  Feld  einer  praktischen  Philosophie 
zu  tun,  um  daselbst  wegen  der  Quelle  ihres  Prinzips  und  richtigen  Be- 
stimmung desselben  in  Gegenhaltung  mit  den  Maximen,  die  sich  auf 
Bedürfnis  und  Neigung  fußen,  Erkundigung  und  deutliche  Anweisung 
zu  bekommen,  damit  sie  aus  der  Verlegenheit  wegen  beiderseitiger  An- 
sprüche herauskomme  und  nicht  Gefahr  laufe,  durch  die  Zweideutig- 
keit, in  die  sie  leicht  gerät,  um  alle  echte  sittliche  Grundsätze  gebracht 
zu  werden.  Also  entspinnt  sich  ebensowohl  in  der  praktischen  gemeinen 
Vernunft,  wenn  sie  sich  kultiviert,  unvermerkt  eine  Dialektik, 
welche  sie  nötigt,  in  der  Philosophie  Hilfe  zu  suchen,  als  es  ihr  im  theo- 
retischen Gebrauche  widerfährt,  und  die  erstere  wird  daher  wohl  eben- 
sowenig als  die  andere  irgendwo  sonst,  als  in  einer  vollständigen  Kritik 
unserer  Vernunft  Ruhe  finden. 

Immanuel  Kant  (1724 — 1804)  ist  der  Begründer  der  kritischen  Philosophie. 
Sein  Hauptwerk  ist  die  „  Kritik  der  reinen  Vernunft "  ( 1781 ).  Die  .,  Prolegomena 
zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  die  als  Wissenschaft  wird  auftreten  können" 
(1783),  aus  denen  hier  eine  Probe  gegeben  wird,  sind  als  eine  Erläuterungsschrift 
des  Hauptwerkes  anzusehen  und  infolge  ihrer  übersichtlichen  Anordnung  und 
kürzeren  Fassung  zur  Einleitung  in  die  Philosophie  K.s  geeignet.  Das  aus- 
gewählte Stück  soll  den  Leser  in  die  Fragestellung  Kants  im  allgemeinen  ein- 
führen und  die  Lösung  eines  einzelnen  Problems  als  Beispiel  verdeutlichen. 

Zum  Verständnis  der  Kantischen  Lehre  kann  vielleicht  folgende  elementare 
Betrachtung  dienen.  Die  letzte  Bedingung,  bis  zu  der  unser  Denken  als  seinem 
Ausgangspunkt  zurückgeführt  werden  kann,  ist,  daß  wir  in  allem  Erkennen  ein 
Subjekt,  das  erkennt,  und  ein  Objekt,  das  erkannt  wird,  unterscheiden.  Wir 
können  deshalb  jede  einzelne  Erkenntnis  als  ein  Produkt  eines  subjektiven 
und  eines  objektiven  Faktors  bezeichnen.  Je  nachdem  man  nun  diese  Faktoren 
in  Bezug  auf  ihren  Einfluss  auf  die  fertige  Erkenntnis  einschätzt,  ergeben  sich 
verschiedene  erkenntnistheoretische  Standpunkte.  Wer  den  objektiven  Faktor 
als  den  überwiegenden  auffaßt,  wird  das  Subjekt,  das  Ich,  im  wesentlichen  als 
aufnehmend,  als  passiv  betrachten.  Dies  wäre  der  Standpunkt  des  Empirismus, 
den  Locke  und  Hume  vertreten.     Wer  den  subjektiven  Faktor  als  den  über- 


208  Kant. 

wiegenden  auffaßt,  wird  dem  Ich  ursprüngliche  Aktivität,  Spontaneität  zu- 
schreiben. Das  Objekt  würde  als  ein  von  dem  Subjekt  gestaltetes,  geformtes 
angesehen  werden  müssen.  Dies  wäre  der  Standpunkt  des  Apriorismus.  Diese 
beiden  erkenntnistheoretischen  Standpunkte  ^vurzeln  also  schließlich  in  einer 
bestimmten  Auffassung  des  Ich  oder  populär  ausgedrückt  der  Seele.  Sie 
lassen  sich  deshalb  nicht  streng  beweisen,  sondern  sind  abhängig  von  der 
Lebensanschauung  des  einzelnen  Denkers.  Vergleiche  dazu  das  Lesestück 
XVI  (Fichte). 

Doch  können  die  Vertreter  des  Apriorismus  einige  Schwierigkeiten  an- 
führen, welche  die  empiristische  Anschauung  nicht  lösen  kann.  Der  Empirismus 
vermag  nicht  aufzuzeigen,  wie  aus  den  getrennten  Elementen  des  Erkennens 
(den  Empfindungen)  ihre  Vereinigung  im  Begriff,  welcher  ein  Allgemeines  ent- 
hält, zu  stände  komme,  und  er  kann  nicht  die  Allgemeingültigkeit  und  Not- 
wendigkeit erklären,  mit  denen  einige  Sätze  in  unserem  Erkennen  auftreten. 
Die  Summierung  einzelner  Erfahrungen  führt  niemals  zur  Notwendigkeit, 
die  in  einem  allgemeinen  Satz,  zum  Beispiel  einem  Naturgesetz  ausgedrückt 
wird,  vergleiche  18436  ff.  und  Anmerkung  zu  17826. 

K.  hält  an  dem  Vorhandensein  solcher  allgemeingültigen  und  notwendigen 
Sätze  fest.  Aus  der  Einsicht  in  die  Unzulänglichkeit  des  Empirismus  sieht  er 
sich  als  Erkenntnistheoretiker  zu  dem  Standpunkt  des  Apriorismus  geführt. 
Er  sucht  deshalb  das  Vorhandensein  solcher  Sätze  nachzuweisen  aus  einem 
ursprünglichen  Besitz  der  Seele,  aus  Anlagen  derselben,  und  prüft  danach  die 
Erkenntnisvermögen  des  Menschen:  Anschauung,  Verstand,  Vernunft.  Das 
folgende  Stück  zeigt  uns  den  ursprünglichen  Besitz  der  Seele  in  Bezug  auf  die 
Anschauung. 

Aus  dieser  allgemeinen  Grundanschauung  lassen  sich  nun  drei  Folgerungen 
ziehen:  erstens,  daß  die  Gesetzmäßigkeit  der  Erfahrungswelt  (Natur) 
zurückzuführen  ist  auf  die  ursprünglichen  Anlagen  (Formen)  der  Seele, 
zweitens,  daß  wir  diese  Erfahrungswelt  erkennen  können,  weil  sie  ja  eine 
von  uns  so  geformte  ist,  drittens,  daß  die  erkannten  Dinge  Dinge  für  uns 
sind,  daß  wir  hinter  diesen  Dingen  für  uns  das  Ding  an  sich  denken  müssen, 
das  für  uns  aber  unerkennbar  ist,  da  wir  es  nie  anders  als  durch  die  uns  eigen- 
tümüche  Art  des  Erkennens  (Sinne  und  Verstand)  erkennen  können.  Sobald  wir 
erkennen,  ist  es  sofort  Ding  für  uns.  Man  hüte  sich  vor  allem  vor  der  falschen 
Meinung,  als  läge  in  dieser  Folgerung  eine  skeptische  Ansicht.  Folgerung  2 
sichert  ausdrücklich  die  Erkennbarkeit  der  Erfahrungswelt,  hinter  diese 
dringen  wollen  würde  heißen:  auf  die  menschliche  Art  zu  erkennen,  verzichten 
wollen.  Eine  andere  Art  des  Erkennens  ist  uns  aber  nicht  gegeben  und  nicht 
verständlich. 

Von  dieser  orientierenden  Einleitung  aus  versuche  man  nun  das  folgende 
zu  begreifen  und  vor  allem  die  Begriffe  „a  priori,  Form,  Ding  an  sich"  richtig 
zu  erfassen.     Anmerkungen  erläutern  sie  noch  im  einzelnen. 

Zur  Einführung  in  die  Kantische  Philosophie  können  die  betreffenden 
Abschnitte  in  den  Grundrissen  der  Geschichte  der  Philosophie  dienen:  Über- 
weg-Heinze,  Bd.  III;  J.  E.  Erdmann,  Bd.  II;  Vorländer,  Bd.  IL     Femer  sei 


Erläuterungen.  209 


hingewiesen  auf  die  Darstellung  in  Windelbands  Gesckichte  der  neueren 
Philosophie,  Bd.  II,  auf  Falckenbergs  vielfach  zitiertes  Buch  über  denselben 
Gegenstand  und  besonders  auf  A.  Riehl,  Zur  Einführung  in  die  Philosophie 
der  Gegenwart ,  2.  Aufl.  1904 ,  S.  56  ff.  Durch  große  Klarheit  zeichnet 
sich  aus  Fr.  A.  Langes  Darstellung  in  seiner  Geschichte  des  MateriaUsmus, 
Bd.  II,  S.  1  &.,  und  höheren  Ansprüchen  wird  genügt  durch  Dilthey,  Leben 
Schleiermachers,  1870,  S.  88 — 108.  Über  das  Leben  und  die  Lehre  handeln 
Kuno  Fischer,  Gesch.  d.  n.  Phil.,  Bd.  IV  u.  V,  und  Fr.  Paulsen,  I.  Kant, 
Frommanns  Klassiker  der  Philosophie,  Bd.  VII.  Von  Kants  Hauptwerken 
sind  Einzelausgaben  in  Reclams  üniversalbibliothek  und  in  Kirchmanns  Philo- 
sophischer Bibliothek  erschienen.  Sonderausgaben  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
veranstalteten  außerdem  B.  Erdmann,  5.  Auflage  1900,  Adickes  1889,  Vorländer 
1899.  Für  den  Anfänger  ist  die  zuletzt  genannte  Ausgabe  wegen  des  ange- 
hängten Sachregisters  zu  empfehlen.  Die  augenblicklich  beste  Gesamtausgabe 
ist  die  von  Hartenstein:  J.  Kants  SämtHche  Werke,  8  Bde.,  1867/68.  Eine 
neue  Ausgabe  wird  von  der  Berhner  Akademie  der  Wissenschaften  herausgegeben. 

176  1.  Über  den  Begriff  „Metaphysik"  vergleiche  oben  S.  40  n  v.  u.  und 
die  Anmerkung  zu  24  1 3. 

176  1 4.  Zur  Erläuterung  diene  folgende  Stelle  aus  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft:  „Die  Wirkung  eines  Gegenstandes  auf  die  VorsteUungsfähigkeit, 
sofern  wir  von  demselben  affiziert  werden,  ist  Empfindung.  Die- 
jenige Anschauung,  welche  sich  auf  den  Gegenstand  durch  Empfindung  bezieht, 
heißt  empirisch."  —  „Anschauung  findet  nur  statt,  sofern  uns  der 
Gegenstand  gegeben  wird;  dieses  aber  ist  wiederum  uns  Menschen  wenigstens 
nur  dadurch  möglich,  daß  er  das  Gemüt  auf  gewisse  Weise  affiziere.  Die 
Fähigkeit  (Rezeptivität),  Vorstellungen  durch  die  Art,  wie  wir  von  Gegenständen 
affiziert  werden,  zu  bekommen,  heißt  Sinnlichkeit.  Vermittels  der 
Sinnlichkeit  also  werden  uns  Gegenstände  gegeben,  und  sie  allein  Hefert 
uns  Anschauungen."  Es  ist  deutUch,  daß  die  dem  Gesichtssinn  eigen- 
tümliche Alt  des  Erfassens  der  Außenwelt  hier  im  übertragenen  Sinne  gebraucht 
vdrd.     Vergleiche  auch  Anmerkung  zu  187  ii. 

176  21.  AusführUcher  heißt  es  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft:  „Wir 
werden  unter  Erkenntnissen  a  priori  rucht  solche  verstehen,  die  von  dieser 
oder  jener,  sondern  die  schlechterdings  von  aUer  Erfahrung  unab- 
hängig stattfinden.  Ihnen  sind  empirische  Erkenntnisse  oder  solche,  die  nur 
a  posteriori,  das  ist  durch  Erfahrung  möglich  sind,  entgegengesetzt.  Von  den 
Erkenntnissen  a  priori  heißen  aber  diejenigen  rein,  denen  gar  nichts  Em- 
pirisches beigemischt  ist."  Als  Kennzeichen  der  Sätze  a  priori  gilt  ihre  All- 
gemeingültigkeit und  Notwendigkeit. 

177  21.  Gegen  die  von  K.  angeführte  Unterscheidung  ist  mit  Recht  der 
Einwand  erhoben  worden,  daß  ein  sicheres  Kriterium,  unter  welche  der  beiden 
Klassen  ein  Urteil  zu  rechnen  ist,  nicht  angegeben  sei.  Wer  in  dem  Begriff 
„Körper"  die  „Schwere"  mitdenkt,  wird  das  Urteil  „der  Körper  ist  schwer" 
als  ein  analytisches  auffassen.  Die  Einteilung  K.s  ist  von  der  Ansicht  be- 
einflußt, daß  es  den  Dingen  wesentliche  Eigenschaften  gebe,  ohne  die  sie  nicht 

D e SS oir-:Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  14 


210  Kant. 

gedacht  werden  können,  und  daß  in  Bezug  auf  diese  wesentlichen  Eigenschaften 
ein  Zweifel  nicht  bestehen  könne,  daß  sie  allgemein  anerkannt  werden.  Ver- 
gleiche Sigwart,  Logik,  3.  Auflage,  1904,  Bd.  I,  S.   133—147. 

177  26.  Über  den  Satz  des  Widerspruchs  vergleiche  das  oben  zu  157  38 
Gesagte.  K.  faßt  ihn  in  die  Formel:  „Keinem  Dinge  kommt  ein  Prädikat 
zu,  welches  ihm  widerspricht."  Weiter  heißt  es  dann:  „Er  ist  ein  allgemeines, 
obzwar  bloß  negatives  Kriterium  aller  Wahrheit,  gehört  aber  auch  darum 
bloß  in  die  Logik,  weil  er  von  Erkenntnissen,  bloß  als  Erkenntnissen  über- 
haupt, unangesehen  ihres  Inhalts  gilt  und  sagt,  daß  der  Widerspruch  sie  gänz- 
hch  vernichte  und  aufhebe." 

178  26.  Man  vergleiche  die  Anmerkung  zu  176  21  und  folgenden  Satz  aus 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft:  „Erfahrung  gibt  niemals  ihren  Urteilen  wahre 
oder  strenge,  sondern  nur  angenommene  und  komparative  Allgemeinheit 
(durch  Induktion),  so  daß  es  eigentlich  heißen  muß:  soviel  wir  bisher  wahr- 
genommen haben,  findet  sich  von  dieser  oder  jener  Regel  keine  Ausnahme." 

178  31  ff.  Als  Beispiel  nehme  man  den  Satz:  „In  jedem  Dreieck  ist  die 
Summe  der  Winkel  =  2  R. "  Er  kann  „an  sich  selbst"  nicht  eingesehen  werden, 
sondern  wird  auf  die  bekannte  Weise  abgeleitet.  Wir  können  seine  Richtig- 
keit nach  dem  Satz  des  Widerspruchs  einsehen,  da  seine  Unrichtigkeit  gegen 
frühere  Sätze  verstoßen  würde.  Dagegen  läßt  sich  der  Grundsatz  der  Plani- 
metrie: „Zwischen  zwei  Punkten  ist  die  gerade  Linie  die  kürzeste",  nicht  auf 
diese  Weise  einsehen,  da  er  nicht  aus  anderen  Sätzen  gefolgert  werden  kann; 
er  wird  an  sich  selbst  eingesehen.  —  Das  „apodiktische"  Urteil  ist  nach  Kants 
Bestimmung  in  seiner  Logik  von  „dem  Bewußtsein  der  Notwendigkeit  des 
Urteilens  begleitet".     Vergleiche  Anmerkung  zu  177  26. 

180 11.  In  Bezug  auf  Kants  Raumtheorie  vergleiche  B.  Erdmann,  Die 
Axiome  der  Geometrie,  1877,  und  L.  Goldschmidt,  Kant  und  Helmholtz,  1898. 

180  32.    Vergleiche  oben  157  41  ff. 

182  28  ff.  Zum  besseren  Verständnis  dieses  Gegensatzes  mögen  folgende 
von  K.  an  anderer  Stelle  gegebene  Begriffsbestimmungen  dienen.  „Unter 
dem  Dogmatismus  der  Metaphysik  versteht  die  Kritik  das  allgemeine  Zutrauen 
zu  ihren  Prinzipien  ohne  vorhergehende  Kritik  des  Vernunftvermögens  selbst. 
Skeptizismus  ist  das  ohne  vorhergegangene  Kritik  gegen  die  reine  Vernunft 
gefaßte  allgemeine  Mißtrauen  bloß  um  des  Mißlingens  ihrer  Behauptungen  willen. 
Kritizismus  ist  die  Maxime  eines  allgemeinen  Mißtrauens  gegen  alle  syntheti- 
schen Sätze  a  priori,  bevor  nicht  ein  allgemeiner  Grund  ihrer  Möglichkeit  in  den 
wesentlichen  Bedingungen  unserer  Erkenntnisvermögen  eingesehen  worden." 

182  35.    „überall"  steht  im  Sinne  von  „überhaupt". 

183  30  f.  Über  die  Anwendung  der  analytischen  Methode  in  den  „Pro- 
legomenen"  sagt  K.  im  Vorwort:  „Hier  ist  nun  ein  solcher  Plan  nach  vollendetem 
Werke,  der  nunmehr  nach  analytischer  Methode  angelegt  sein  darf,  da  das 
Werk  (Kritik  der  reinen  Vernunft)  selbst  durchaus  nach  syntheti- 
scher Lehrart  abgefaßt  sein  mußte,  damit  die  Wissenschaft  alle  ihre 
Artikulationen,  als  den  Gliederbau  eines  ganz  besonderen  Erkenntnisver- 
mögens, in  seiner  natürlichen  Verbindung  vor  Augen  stelle." 


Erläuterungen.  211 


184  36.    Vergleiche  oben  S.  171  ii  ff. 

185  17.  „Transzendental"  nennt  K.  „alle  Erkenntnis,  die  sich  nicht  sowohl 
mit  Gegenständen,  sondern  mit  unserer  Erkenntnisart  von  Gegenständen, 
sofern  diese  a  priori  möglich  sein  soll,  überhaupt  beschäftigt."  Diese  Mög- 
lichkeit ist  nach  der  oben  angeführten  Definition  des  Kritizismus  gelegen 
„in  den  wesentUchen  Bedingungen  unserer  Erkenntnisvermögen".  Es  ent- 
steht die  Frage,  was  wir  unter  „Bedingungen"  zu  verstehen  haben.  Wir 
lernen  hier  den  Begriff  „a  priori''  in  einer  anderen  Bedeutung  kennen.  Wir 
soUen  den  Grund  der  allgemeingültigen  und  notwendigen  Sätze  ableiten  aus 
den  Bedingungen  unserer  Erkenntnisvermögen,  das  heißt  wie  sie  jeder  einzelne 
von  uns  besitzt.  Da  nun  jene  Allgemeingültigkeit  sich  aus  unserer  Erfahrung 
(den  Empfindungen)  nicht  gewinnen  läßt,  so  muß  in  unseren  Erkenntnis- 
vermögen etwas  angelegt  sein,  was  diese  Allgemeingültigkeit  erklärlich  macht. 
Angeborene  Sätze  können  es  nicht  sein;  das  hatte  Locke  (vergleiche  Lese- 
stück XI)  erwiesen.  Im  Anschluß  an  Leibniz  (vergleiche  zu  135  i5)  lehrt  K., 
nur  die  Anlage  zur  Gewinnung  allgemeiner  Sätze  sei  angeboren.  Dies  ist  die 
andere  Bedeutung  des  Begriffes  a  priori  (vergleiche  zu  176  21).  Näher  sagt  nun 
Kant,  daß  diese  Anlage  eine  Form  (ohne  Inhalt,  daher  kein  Satz)  sei,  zu  der  erst 
der  Stoff  hinzukommen  müsse  (vergleiche  188  28  ff.).  Nur  durch  eine  Verbindung 
beider  kommt  Erfahrung  zu  stände.  Erfahrung  heißt  in  diesem  Fall  aber 
nicht  mehr  einzelne  Erfahrung  =  Empfindung,  sondern  bedeutet  den  Inbegriff 
aller  Erkenntnis,  zu  deren  Zustandekommen  die  apriorischen  Formen  not- 
wendig sind.  So  wären  also  bei  K.  die  Empfindung  (Stoff,  a  posteriori)  auf 
der  einen  Seite  und  der  Verstand  (Form,  a  priori)  auf  der  anderen  Seite  zu 
ihrem  Rechte  gekommen  und  man  kann  deshalb  seine  Philosophie  als  eine 
Vereinigung  der  sensuahstischen  und  der  rationalistischen  Lehren  bezeichnen. 

187  11.  Über  den  Gegensatz  „intuitiv  —  diskursiv"  sagt  K.  in  seiner  Logik: 
„  Alle  unsere  Erkenntnisse  sind  entweder  Anschauungen  oder  B  e- 
griffe.  Die  ersteren  haben  ihre  Quelle  in  der  Sinnlichkeit,  —  dem 
Vermögen  der  Anschauungen ;  die  letzteren  im  Verstände,  —  dem  Ver- 
mögen der  Begriffe."  Das  Wort  diskursiv  erklärt  er  an  einer  anderen  Stelle; 
„Das  menschliche  Erkenntnis  ist  von  selten  des  Verstandes  diskursiv,  das  heißt 
es  geschieht  durch  Vorstellungen,  die  das,  was  mehreren  Dingen  gemein  ist, 
zum  Erkenntnisgrunde  machen,  mithin  durch  Merkmale,  als  solche. " 
Durch  die  Anschauung  würden  wir  unmittelbar,  das  heißt  nicht  vermittelt' 
durch  Merkmale  ein  Ding  erfassen.  Der  Ausdruck  „diskursiv'  steht  für 
„allgemein",  weil  K.  die  Bezeichnung  „allgemeiner  Begriff"  für  eine  Tauto- 
logie erklärt ;  Begriffe  sind  immer  allgemein.  Vergleiche  zu  diesem  Gegen- 
satz das  Lesestück  aus  Berkeley  und  dort  die  Anmerkung  zu  14937. 

188 15.  „an  sich  selbst",  das  heißt:  losgelöst  von  der  Beziehung  zu  unserer 
Anschauung,  vergleiche  189 1. 

190";.  Zur  Erläuterung  diene  Kants  erster  Beweis  vom  Raum  aus  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft:  „Der  Raum  ist  kein  empirischer  Begriff,  der  von 
äußeren  Erfahrungen  abgezogen  worden.  Denn  damit  gewisse  Empfindungen 
(zum  Beispiel  Licht  der  Sonne)  auf  etwas  außer  mir  bezogen  werden  (das  ist 


212  Kant. 

auf  etwas  in  einem  anderen  Orte  des  Raumes,  als  darinnen  ich  mich  befinde), 
imgleichen  damit  ich  sie  als  außer  und  nebeneinander,  mithin  nicht  bloß  ver- 
schieden, sondern  als  in  verschiedenen  Orten  vorstellen  könne,  dazu  muß  die 
Vorstellung  des  Raumes  schon  zum  Grunde  liegen.  Demnach  kann  die  Vor- 
stellung des  Raumes  nicht  aus  den  Verhältnissen  der  äußeren  Erscheinung 
durch  Erfahrung  erborgt  sein,  sondern  diese  äußere  Erfahrung  ist  selbst  nur 
durch  gedachte  Vorstellung  allererst  möglich." 

190  39.  Über  den  Begriff  „transzendental"  vergleiche  die  Vorbemerkung 
und  Anmerkung  zu  185 17.  Die  Aufgabe  der  Deduktion  entsteht  dadurch, 
daß  K.  durch  den  Nachweis  der  Formen  in  unserem  Bewußtsein  noch  nicht 
erwiesen  hat,  daß  sie  auch  für  die  Gegenstände  der  Erfahrung  (außer  uns) 
gelten.  Dies  leistet  er  dadurch,  daß  er  zeigt,  daß  ohne  diese  Formen  Erfahrung, 
insofern  sie  allgemeingültige  Sätze  enthält,  nicht  möglich  ist,  daß  jene  ihre 
notwendigen  Bedingungen  sind.  Hier  liegt  das  Zwingende  der  Deduktion 
in  dem  Nachweis,  daß  die  Möglichkeit  einer  reinen  Mathematik  nur  durch  die 
Lehre  von  den  apriorischen  Formen  der  Sinnlichkeit  eingesehen,  das  heißt 
abgeleitet  (deduziert)  werden  kann. 

1913.  In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  heißt  es:  „Die  Zeit  ist  nichts 
anderes  als  die  Form  des  inneren  Sinnes,  das  ist  des  Anschauens  unserer  selbst 
und  unseres  inneren  Zustandes.  Denn  die  Zeit  kann  keine  Bestimmung  äußerer 
Erscheinungen  sein;  sie  gehört  weder  zu  einer  Gestalt  oder  Lage  u.  s.  w., 
dagegen  bestimmt  sie  das  Verhältnis  der  Vorstellungen  in  unserem  inneren 
Zustande."  Einfacher  können  wir  sagen,  daß  unsere  psychischen  Vorgänge 
zeitlich  aufeinanderfolgen. 

192?.  Vergleiche  hierzu  Anmerkung  II  des  Kantischen  Textes. 
19235/36.  Eine  solche  Formulierung  hatte  der  Idealismus  durch  Berkeley 
gefunden:  es  gibt  nichts  als  Geister  und  deren  Vorstellungen.  Vergleiche 
hierzu  die  Vorbemerkung  zu  den  Erläuterungen  des  Lesestückes  Nr.  XII. 
193  2.  So  ist  das  Vorhandensein  des  Stoffes  der  Erkenntnis  erklärt.  Man 
sieht  wohl,  wie  sich  die  Wirklichkeit  des  Dinges  an  sich  als  eine  notwendige 
Folgerung  aus  K.s  Unterscheidung  von  Form  und  Stoff  der  Erkenntnis  ergibt. 
193 14  £f.  Die  Unterscheidung  der  Eigenschaften  der  Körper  in  primäre, 
welche  als  zum  Wesen  derselben  gehörig,  also  als  unabhängig  von  unserer 
Wahrnehmung  bestehend,  angesehen  werden,  und  in  sekundäre,  welche  diesen 
gegenüber  zufällige,  abgeleitete  genannt  werden  und  abhängig  von  der  Wahr- 
nehmung durch  unsere  Sinne  sind,  ist  bereits  von  den  griechischen  Atomisten 
vollzogen  worden.  Eigenschaften  wie  „süß,  bitter,  warm,  kalt"  u.  s.  w.  wurden 
von  ihnen  zurückgeführt  auf  die  verschiedene  Größe  und  Gestalt  der  Atome, 
welche  unsere  Sinnesorgane  treffen;  vergleiche  die  zum  ersten  Lesestück  an- 
gegebene Literatur  über  die  griechische  Philosophie.  Dieser  Unterschied  findet 
sich  dann  bei  Descartes  in  seiner  Einteilung  der  Eigenschaften  in  Attribute 
imd  Modi.  Locke  rechnet  zu  den  primären  Eigenschaften:  Ausdehnung, 
Bewegung,  Ruhe,  Zahl,  Figur,  Solidität;  zu  den  sekundären  hart  —  weich, 
heiß  —  kalt,  farbig  —  tönend,  riechend  —  schmeckend.  Jene  sind  wirkUche 
Kopien  der  Eigenschaften  der  Dinge,  diese  Empfindungszustände. 


Erläuterungen.  213 


194  7.    Dies  hatte  Leibniz  und  nach  ihm  Wolff  und  seine  Schule  gelehrt. 

Unser  Lesestück  hat  die  erste  der  von  K.  aufgestellten  Fragen  (S.  186) 
bejaht.  Wie  die  anderen  Fragen  beantwortet  werden,  kann  der  Leser  mit 
Hilfe  der  oben  angegebenen  Literatur  ersehen. 

Verbindende   Erörterung. 

Kants  Ethik  ist  von  seiner  theoretischen  Philosophie  maßgebend 
beeinflußt  worden.  Doch  war  die  hier  zu  lösende  Aufgabe  eine  andere.  In 
der  theoretischen  Philosophie  fand  K.  allgemeingültige  und  notwendige  Sätze 
vor,  er  gab  für  sie  nur  eine  neue  und  sichere  Begründung.  Für  das  sittliche 
Handeln  war  eine  solche  Gesetzgebung  erst  zu  finden.  Die  vorhandenen  Sitten- 
lehren, welche  zum  Ziel  die  allgemeine  GlückseUgkeit  hatten,  waren  einmal 
empirisch  begründet  und  konnten  anderseits  nicht  eindeutig  den  BegrifiE  der 
GlückseHgkeit  bestimmen,  das  heißt  sie  entsprachen  nicht  den  Forderungen, 
welche  die  kritische  Philosophie  an  einen  allgemeingültigen  und  notwendigen 
Satz  stellt.     Ein  solcher  war  nur  apriorisch  zu  begründen. 

Dieser  Forderung  K.s  stand  nun  die  von  den  enghschen  Moralphilosophen 
(Shaftesbury,  Hutcheson,  Hume)  begründete  Ansicht  gegenüber,  daß  in  dem 
ursprüngHchen  Urteil  des  moralischen  Gefühls,  das  unabhängig  von  aller  philo- 
sophischen Begründung  unmittelbar  gefällt  wird,  ein  selbst  für  die  schwierigeren 
sittlichen  Fragen  ausreichender  Maßstab  gelegen  ist.  Bei  K.  tritt  diese  Lehre 
auf  als  Moralprinzip  des  „guten  Willens".  Es  ist  nun  seine  Aufgabe,  das, 
was  der  gute  Wille  aussagt,  als  im  Einklang  nachzuweisen  mit  einem  aus  der 
vernünftigen  Natur  des  Menschen,  a  priori  begründeten  Sittengesetz,  so  daß 
der  gute  Wille  seinen  einzigen  adäquaten  Ausdruck  in  einem  solchen  finden 
kann.  Das  mitgeteilte  Stück  versucht  diese  Lösung  zu  geben.  Es  ist  der  erste 
Abschnitt  der  1785  erschienenen  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten". 
1788  erschien  K.s  ethische  Hauptschrift,  die  „Kritik  der  praktischen  Vernunft". 
Die  zu  dem  ersten  Lesestück  angegebene  allgemeinere  Literatur  kann  zu 
weiterer  Orientierung  auch  über  die  Ethik  dienen. 

1975.  Dies  hatten  vornehmlich  die  Stoiker  getan.  Vergleiche  Lese- 
stück Nr.  IV  und  die  Erläuterungen  dazu.  K.s  Ethik  ist  vielfach  von  der 
stoischen  Lehre  beeinflußt. 

197  38  f.  Dieser  Grundsatz  ist  allerdings  nur  eine  Annahme,  wird  aber 
von  K.  als  zugestanden  behandelt.  Die  moderne  Naturwissenschaft  würde 
eine  solche  Ansicht  von  einem  Plan  der  Natur  nicht  teilen,  sondern  auf  Grund- 
lage von  Darwins  Entwicklungstheorie  (vergleiche  Schulte-Tigges,  Philos. 
Propädeutik  auf  naturmssenschaftlicher  Grundlage,  2.  Aufl.,  1904,  S.  143  ff.), 
die  für  das  Leben  und  die  Erhaltung  der  organischen  Wesen  zweckmäßigen 
Eigenschaften  streng  mechanisch,  das  heißt  ohne  Annahme  von  der  Natuv 
angestrebter  Zwecke,  ableiten.  K.s  Stellung  zu  diesen  Fragen  präzisiert 
der  zweite  Teil  der  Klritik  der  Urteilskraft:  „Kritik  der  teleologischen  Urteils- 
kraft." (Zu.  empfehlen  die  Ausgabe  von  Vorländer  in  der  Philosophischen 
BibHothek.) 

198  22  f.  Man  denke  an  Rousseau,  dessen  Lehren,  wie  sie  insbesondere  im 
Emile  ausgesprochen  sind,  auf  K.  einen  sehr  starken  Eindruck  gemacht  haben. 


214  Kant. 

199  26.  ])er  in  der  Anmerkung  zu  205  i8  erörterte  Gedanke  einer  doppelten 
Gesetzgebung,  einer  Welt  des  Seins  und  einer  Welt  des  Sollens,  liegt  hier  zu 
Grunde. 

199  36,37.  Es  ist  leicht  einzusehen,  wie  durch  diese  Bestimmung  der 
Charakter  des  guten  Willens  eine  Änderung  erfährt.  In  ihm  liegt  keineswegs 
der  Gedanke  an  „subjektive  Einschränkungen  und  Hindernisse".  Das  durch 
ihn  Ausgedrückte  trägt  nicht  den  Charakter  eines  Gebots  an  sich. 

202  10.  Diese  Bestimmungen  haben  der  Ethik  K.s  den  Vorwurf  des  Ri- 
gorismus zugezogen  und  Einwände  verursacht  wie  das  bekannte  Epigramm 
Schillers : 

Gerne  dien'  ich  den  Freunden,  doch  tu'  ich  es  leider  mit  Neigung, 

Und  so  wurmt  es  mir  oft,  daß  ich  nicht  tugendhaft  bin. 

K.  ist  zu  diesem  Standpunkt  gekommen  aus  einer  gewissen  Strenge  seiner 
Lebensanschauung  und  aus  dem  Bedürfnis  nach  reinlicher  Scheidung  von 
Vernunft  und  Sinnlichkeit  analog  dem  für  die  theoretische  Philosophie  Ge- 
leisteten. Man  setzt  sich  aber  mit  K.s  eigenen  Ausführungen  in  Widerspruch, 
wenn  man  behauptet,  er  habe  Handlungen,  die  nicht  „aus  Pflicht"  geschehen 
sind,  jeden  Wert  abstreiten  wollen;  nur  einen  moralischen  Wert  besitzen  sie 
nicht.     Für  diesen  will  K.  einen  sicheren  Maßstab  aufweisen. 

202  32.  Man  beachte  die  Abhängigkeit  der  Probleme  der  Moralphilosophie 
von  den  Ergebnissen  der  theoretischen  Philosophie  K.s.  In  Bezug  auf  die 
Begriffe  a  priori  und  a  posteriori  vergleiche  oben  zu  176  21. 

203  31.  Schöner  und  mächtiger  werden  diese  Gedanken  ausgedrückt  in  der 
berühmten  Stelle  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft:  „Pflicht!  du 
erhabener  großer  Name,  der  du  nichts  Beliebtes,  was  Einschmeichelung  bei 
sich  führt,  in  dir  fassest,  sondern  Unterwerfung  verlangst,  doch  auch  nichts 
drohest,  was  natürUche  Abneigung  im  Gemüte  erregte  und  schreckte,  um 
den  Willen  zu  bewegen,  sondern  bloß  ein  Gesetz  aufstellst,  welches  von  selbst 
im  Gemüte  Eingang  findet  und  doch  sich  selbst  wider  Willen  Verehrung 
(wenngleich  nicht  immer  Befolgung)  erwirbt,  vor  dem  alle  Neigungen  ver- 
stummen, wenn  sie  gleich  insgeheim  ihm  entgegenwirken,  welches  ist  der 
deiner  würdige  Ursprung,  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner  edlen  Ab- 
kunft, welche  alle  Verwandtschaft  mit  Neigungen  stolz  ausschlägt,  und  von 
welcher  Wurzel  abzustammen  die  unnachlaßliche  Bedingung  desjenigen  Werts 
ist,  den  sich  Menschen  allein  geben  selbst  können? 

Es  kann  nichts  Minderes  sein,  als  was  den  Menschen  über  sich  selbst  (als 
einen  Teil  der  Sinnenwelt)  erhebt,  was  ihn  an  eine  Ordnung  der  Dinge  knüpft, 
die  nur  der  Verstand  denken  kaim,  und  die  zugleich  die  ganze  Sinnenwelt, 
mit  ihr  das  empirisch -bestimmbare  Dasein  des  Menschen  in  der  Zeit  und  das 
Ganze  aller  Zwecke  (welches  allein  solchen  unbedingten  praktischen  Gesetzen, 
als  das  moralische,  angemessen  ist)  unter  sich  hat.  ICs  ist  nichts  anderes, 
als  die  Persönlichkeit,  das  ist  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit 
von  dem  Mechanismus  der  ganzen  Natur,  doch  zugleich  als  ein  Vermögen  eines 
Wesens  betrachtet,  welches  eigentümUchen,  nämUch  von  seiner  eigenen  Ver- 
nunft gegebenen  reinen  praktischen  Gesetzen,  die  Person  also,  als  zur  Sinnen- 


Erläuterungen.  215 


weit  gehörig,  ihrer  eigenen  Persönlichkeit  unterworfen  ist,  sofern  sie  zugleich 
zur  intelligiblen  Welt  gehört;  da  es  denn  nicht  zu  verM'Undern  ist,  wenn  der 
Mensch,  als  zu  beiden  Welten  gehörig,  sein  eigenes  Wesen,  in  Beziehung  auf 
seine  zweite  und  höchste  Bestimmung,  nicht  anders,  als  mit  Verehrung  und 
die  Gesetze  derselben  mit  der  höchsten  Achtung  betrachten  muß." 

205  18.  Der  Beweisführung  mangelt  noch  ihre  letzte  Stütze.  Den  Wert, 
den  eine  allgemeine  Gesetzgebung  hat,  können  wir  noch  nicht  einsehen.  Er 
muß  also  nachgewiesen  werden.  Dies  geschieht  in  folgenden  Gedankengängen: 
Das  Pflichtgebot  ist  apriorisch,  es  ist  unmöglich,  mit  völliger  Gewißheit  einen 
einzigen,  ihm  völlig  entsprechenden  Fall  in  der  Erfahrung  nachzuweisen.  So 
entsteht  die  Aufgabe  einer  Begründung  desselben  aus  der  Anlage  des  Men- 
schen, des  näheren,  wie  Avir  wissen,  seiner  Vernunftanlage.  Zu  einer  solchen 
apriorischen  Gesetzgebung  eignet  sich  unter  allen  mögUchen  Imperativen 
nur  der  kategorische,  das  heißt  der  ohne  Beziehung  auf  andere  Zwecke  ge- 
bietende Imperativ.  Wir  dürfen  ihn  nicht  ableiten  von  einer  Bestimmung, 
die  außerhalb  des  vernünftigen  Wesens  liegt,  da  eine  solche  ihm  ja  immer 
nur  empirisch  gegeben  sein  könnte.  Der  Imperativ  kann  also  nur  gelten  für 
ein  Wesen,  welches  Zweck  an  sich  selbst  ist.  Ein  solches  Wesen  ist  der  Mensch. 
So  erhalten  wir  das  Gebot:  „Handle  so,  daß  du  die  Menschheit  sowohl  in  deiner 
Person,  als  in  der  Person  eines  jeden  anderen,  jederzeit  zugleich  als  Zweck, 
niemals  bloß  als  Mittel  brauchst."  Wir  können  diese  Gesetzgebung  Selbst- 
gesetzgebung, Autonomie  nennen,  insofern  der  einzelne  Mensch  aus  seiner 
in  ihm  als  Indi\dduum  vorhandenen  vernünftigen  Natur  dieses  Gesetz  sich 
selbst  gibt,  das  zugleich,  als  ein  apriorisches,  ein  allgemeines  ist.  Es  ist  also 
die  Idee  des  Willens  jedes  vernünftigen  Wesens  als  eines  allgemein  gesetz- 
gebenden Willens.  Dies  Prinzip  hat  einen  lediglich  formalen  Charakter,  der 
am  deutlichsten  in  der  klassischen  Formel  des  kategorischen  Imperativs 
ausgedrückt  ist:  „Handle  so,  daß  die  Maxime  deines  Willens  jederzeit  zu- 
gleich als  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  gelten  könne." 

Diese  Selbstgesetzgebung  hat  einen  hohen  Wert  für  den  Menschen.  Er 
erfaßt  sich  in  dieser  von  allem  Empirischen  unabhängigen  Gesetzgebung  als 
ein  von  der  Erscheinungswelt  losgelöstes,  zu  einer  Vernunftwelt,  intelligiblen 
Welt,  gehöriges  Wesen,  er  wird  sich  seiner  Würde  bewußt  durch  die  Größe  der 
Aufgabe,  die  ihm  gestellt  ist  und  ihn  auf  seine  höhere  Bestimmung  hinweist. 
Dem  Sollen  muß  ein  Können  entsprechen,  es  wäre  sonst  sinnlos.  Durch 
das  in  uns  auftretende  Sollen  werden  wir  uns  unserer  Freiheit  bewußt.  Wir 
sind  freie  Wesen.  So  ist  neben  die  Erscheinungswelt  die  intelligible  Welt 
getreten,  der  Mensch  ist  zugleich  ein  Glied  der  einen  wie  der  anderen,  in 
jener  herrscht  strengste  Notwendigkeit,  in  dieser  Freiheit.  Im  Sollen  zeigt 
letztere  ihre  Kausalität  in  der  Erscheinungswelt.  Eine  einzelne  Handlung 
steht  also  unter  doppelter  Gesetzgebung.  Einmal  ist  sie  notwendig  in  der 
Erscheinungswelt,  anderseits  ist  sie  eine  Tat  aus  Freiheit,  sie  hätte  auch  anders 
sein  können.  So  ist  der  Mensch  verantwortlich  für  sein  Handeln.  Vergleiche 
oben  das  Zitat  zu  203  3i.  M  e  n  z  e  r. 


XVI. 

Fichte. 


Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre. 

1. 

Merke  auf  dich  selbst:  kehre  deinen  Blick  von  allem,  was  dich  um- 
gibt, ab  und  in  dein  Inneres  —  ist  die  erste  Forderung,  welche  die 
Philosophie  an  ihren  Lehrling  tut.  Es  ist  von  nichts,  das  außer  dir  ist, 
die  Rede,  sondern  lediglich  von  dir  selbst.  5 

Auch  bei  der  flüchtigsten  Selbstbeobachtung  wird  jeder  einen  merk- 
würdigen Unterschied  zwischen  den  verschiedenen  unmittelbaren  Be- 
stimmungen seines  Bewußtseins,  die  wir  auch  Vorstellungen  nennen 
können,  wahrnehmen.  Einige  nämhch  erscheinen  uns  als  völlig  ab- 
hängig von  unserer  Freiheit,  aber  es  ist  uns  unmöghch  zu  glauben,  10 
daß  ihnen  etwas  außer  uns,  ohne  unser  Zutun,  entspreche.  Unsere  Phan- 
tasie, unser  Wille  erscheint  uns  als  frei.  Andere  beziehen  wir  auf  eine 
Wahrheit,  die,  unabhängig  von  uns,  festgesetzt  sein  soll,  als  auf  ihr 
Muster;  und  unter  der  Bedingung,  daß  sie  mit  dieser  Wahrheit  über- 
einstimmen sollen,  finden  wir  uns  in  Bestimmung  dieser  Vorstellung  15 
gebunden.  In  der  Erkenntnis  halten  wir  uns,  was  ihren  Inhalt  betrifit, 
nicht  für  frei.  Wir  können  kurz  sagen:  einige  unserer  Vorstellungen 
sind  von  dem  Gefühle  der  Freiheit,  andere  von  dem  Gefühle  der  Not- 
wendigkeit begleitet. 

Es  kann  vernünftigerweise  nicht  die  Frage  entstehen:  Warum  sind  20 
die  von  der  Freiheit  abhängigen  Vorstellungen  gerade  so  bestimmt, 
und  nicht  anders?  —  denn  indem  gesetzt  wird,  sie  seien  von  der  Frei- 
heit abhängig,  wird  alle  Anwendung  des  Begriffs  vom  Grunde  abgewiesen; 
sie  sind  so,  weil  ich  sie  so  bestimmt  habe,  und  hätte  ich  sie  anders  be- 
stimmt, so  würden  sie  anders  sein.  Aber  es  ist  allerdings  eine  des  Nach-  25 
denkens  würdige  Frage:  Welches  ist  der  Grund  des  Systems  der  vom 
Gefühle  der  Notwendigkeit  begleiteten  Vorstellungen,  und  dieses  Ge- 
fühls der  Notwendigkeit  selbst?     Diese  Frage  zu  beantworten  ist  die 


Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre.  217 

Aufgabe  der  Philosophie;  und  es  ist,  meines  Bedünkens,  nichts  Philo- 
sophie als  die  Wissenschaft,  weiche  diese  Aufgabe  löst.  Das  System 
der  von  dem  Gefühle  der  Notwendigkeit  begleiteten  Vorstellungen 
nennt  man  auch  die    Erfahrung:    innere  sowohl  als  äußere.  Die 

5   Philosophie  hat  sonach  —  daß  ich  es  mit  anderen  Worten  sage  —  den 
Grund  aller  Erfahrung  anzugeben. 

Gegen  das  soeben  Behauptete  kann  nur  dreierlei  eingewendet  werden. 
Entweder  dürfte  jemand  leugnen,  daß  Vorstellungen  von  dem  Gefühle 
der  Notwendigkeit  begleitet  und,  auf  eine  ohne  unser  Zutun  bestimmt 

10  sein  sollende  W^ahrheit  bezogen,  im  Bewußtsein  vorkommen.  Ein  solcher 
leugnete  entweder  gegen  besseres  Wissen,  oder  er  wäre  anders  beschaffen 
als  andere  Menschen;  es  wäre  dann  für  ihn  auch  nichts  da,  was  er  ab- 
leugnete, und  kein  Ableugnen,  und  wir  könnten  gegen  seinen  Einspruch 
uns  ohne  weiteres  hinwegsetzen.      Oder  es  dürfte  jemand  sagen,   die 

15  aufgeworfene  Frage  sei  völlig  unbeantwortlich,  wir  seien  über  diesen 
Punkt  in  unüberwindhcher  Unwissenheit  und  müßten  in  ihr  bleiben. 
Mit  einem  solchen  auf  Gründe  und  Gegengründe  sich  einzulassen,  ist 
ganz  überflüssig.  Er  vdrä  am  besten  durch  die  wirkliche  Beantwortung 
der  Frage  widerlegt,  und  es  bleibt  ihm  nichts  übrig,  als  unseren  Versuch 

20  zu  prüfen  und  anzugeben,  wo  und  warum  er  ihm  nicht  hinlänghch  er- 
scheine. Endhch  könnte  jemand  die  Benennung  in  Anspruch  nehmen 
und  behaupten:  Philosophie  sei  überhaupt,  oder  sie  sei  außer  dem  an- 
gegebenen auch  noch  mit,  etwas  anderes.  Ihm  würde  leicht  nachzu- 
weisen sein,  daß  von  jeher  von  allen  Kennern  gerade  das  Angeführte 

25  für  Philosophie  gehalten  worden,  daß  alles,  was  er  etwa  dafür  ausgeben 
möchte,  schon  andere  Namen  habe;  daß,  wenn  dieses  Wort  etwas 
Bestimmtes  bezeichnen  solle,  es  gerade  die  bestimmte  Wissenschaft 
bezeichnen  müsse. 

Da  wir  jedoch  auf  diesen  unfruchtbaren  Wortstreit  uns  einzulassen 

30  nicht  wüUens  sind,  so  haben  war  an  unserem  Teile  diesen  Namen  schon 
längst  preisgegeben,  und  die  Wissenschaft,  welche  ganz  eigentlich  die 
angezeigte  Aufgabe  zu  lösen  hat.  Wisse  nschaftslehre  genannt. 

2. 

Nur  bei  einem  als  zufällig  Beurteilten,  das  heißt  wobei  man  voraus- 
35  setzt,  daß  es  auch  anders  sein  könne,  das  jedoch  nicht  durch  Freiheit 
bestimmt  sein  soll,  kann  man  nach  einem  Grunde  fragen;  und  gerade 
dadurch,  daß  er  nach  seinem  Grunde  fragt,  wird  es  dem  Frager  ein  Zu- 
fälUges.  Die  Aufgabe,  den  Grund  eines  Zufälligen  zu  suchen,  bedeutet: 
etwas  anderes  aufzuweisen,  aus  dessen  Bestimmtheit  sich  einsehen  lasse, 
40   warum   das   Begründete,    unter    den    mannigfaltigen   Bestimmungen, 


218  Fichte. 

die  ihm  zukommen  kömiten,  gerade  diese  habe,  welche  es  hat.  Der 
Grund  fällt,  zufolge  des  bloßen  Denkens  eines  Grundes,  außerhalb  des 
Begründeten;  beides,  das  Begründete  und  der  Grund,  werden,  inwiefern 
sie  dies  sind,  einander  entgegengesetzt,  aneinander  gehalten  und  so  das 
erstere  aus  dem  letzteren  erklärt.  5 

Nun  hat  die  Philosophie  den  Grund  aller  Erfahrung  anzugeben; 
ihr  Objekt  Hegt  sonach  notwendig  außer  aller  Erfahrung. 
Dieser  Satz  gilt  für  alle  Philosophie  und  hat  auch,  bis  auf  die  Epoche 
der  Kantianer  und  ihrer  Tatsachen  des  Bewußtseins,  und  also  der 
inneren  Erfahrung,   wirklich  allgemein  gegolten.  10 

Gegen  den  hier  aufgestellten  Satz  läßt  sich  gar  nichts  einwenden: 
denn  der  Vordersatz  unserer  Schlußfolge  ist  die  bloße  Analyse  des 
aufgestellten  Begriffs  der  Philosophie,  und  aus  ihm  wird  gefolgert. 
Wollte  etwa  jemand  erinnern,  daß  der  Begriff  des  Grundes  anders  er- 
klärt werden  müsse,  so  können  wir  demselben  allerdings  nicht  verwehren,  15 
bei  dieser  Benennung  sich  zu  denken,  was  er  will:  wir  erklären  aber 
mit  unserem  guten  Rechte,  daß  wir  in  obiger  Beschreibung  der  Phi- 
losophie nichts  anderes  als  das  Angegebene  darunter  verstanden  wissen 
wollen.  Es  müßte  sonach,  wenn  diese  Bedeutung  nicht  stattfinden 
soll,  die  Möglichkeit  der  Philosophie  überhaupt  in  der  von  uns  an-  20 
gegebenen  Bedeutung  geleugnet  werden,  und  darauf  haben  wir  schon 
oben  Rücksicht  genommen. 

3. 

Das  endliche  Vernunftwesen  hat  nichts  außer  der  Erfahrung;    diese 
ist  es,  die  den  ganzen  Stoff  seines  Denkens  enthält.    Der  Philosoph  steht   25 
notwendig  unter  den  gleichen  Bedingungen;    es  scheint  sonach  unbe- 
greiflich, wie  er  sich  über  die  Erfahrung  erheben  könne. 

Aber  er  kann  abstrahieren,  das  heißt:    das  in  der  Erfahrung  Ver- 
bundene durch  Freiheit  des  Denkens  trennen.     In  der  Erfahrung  ist 
das   Ding,     dasjenige,     welches   unabhängig   von   unserer   Freiheit   30 
bestimmt  sein  und  wonach  xmsere  Erkenntnis  sich  richten  soll,  und  die 
Intelligenz,     welche    erkennen    soll,    unzertrennlich    verbunden. 
Der  Philosoph  kann  von  einem  von  beiden  abstrahieren,  und  er  hat 
dann  von  der  Erfahrung  abstrahiert  und  über  dieselbe  sich  erhoben. 
Abstrahiert  er  von  dem  ersteren,  so  behält  er  eine  Intelligenz  a  n  s  i  c  h,    35 
das  heißt  abstrahiert  von  ihrem  Verhältnis  zur  Erfahrung;    abstrahiert 
er  von  dem  letzteren,    so  behält  er  ein  Ding    an    sich,    das  heißt 
abstrahiert  davon,    daß    es    in    der  Erfahrung  vorkommt,  —  als  Er- 
klärungsgrund der  Erfahrung  übrig.  Das  erste  Verfahren  heißt  Idealis- 
mus,   das  zweite    Dogmatismus.     Es  sind,  wovon  man  durch   40 
das  Gegenwärtige  eben  überzeugt  werden  sollte,  nur  diese  beiden  philo- 


Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre.  219 

sophischen  Systeme  möglich.  Nach  dem  ersten  Systeme  sind  die  von 
dem  Gefühle  der  Notwendigkeit  begleiteten  Vorstellungen  Produkte 
der  ihnen  in  der  Erklärung  vorauszusetzenden  Intelligenz;  nach  dem 
letzteren  Produkte  eines  ihnen  vorauszusetzenden  Dinges  an  sich. 

Wollte  jemand  diesen  Satz  leugnen,  so  hätte  er  zu  erweisen,  ent- 
weder daß  es  noch  einen  anderen  Weg  sich  über  die  Erfahrung  zu  er- 
heben als  den  der  Abstraktion  gebe,  oder  daß  in  dem  Bewußtsein  der 
Erfahrung  mehr,  als  die  beiden  genannten  Bestandteile,  vorkommen. 
Nun  wird  zwar  in  Absicht  des  ersten  tiefer  unten  erhellen,  daß  das- 
jenige, was  Intelligenz  sein  soll,  unter  einem  anderen  Prädikate  im 
Bewußtsein  wirklich  vorkomme,  also  nicht  etwas  lediglich  durch  Abstrak- 
tion Hervorgebrachtes  sei;  es  wird  sich  aber  doch  zeigen,  daß  das  Be- 
wußtsein derselben  durch  eine,  dem  Menschen  freilich  natürliche,  Ab- 
straktion bedingt  ist. 

Es  wird  gar  nicht  geleugnet,  daß  es  wohl  möghch  sei,  aus  Bruch- 
stücken dieser  ungleichartigen  Systeme  ein  Ganzes  zusammenzuschmel- 
zen, und  daß  diese  inkonsequente  Arbeit  wirklich  sehr  oft  getan  worden : 
aber  es  wird  geleugnet,  daß  bei  einem  konsequenten  Verfahren  mehrere 
als  diese  beiden  Systeme  möglich  seien. 

4. 

Zwischen  den  Objekten  —  wir  wollen  den  durch  eine  Philosophie 
aufgestellten  Erklärungsgrund  der  Erfahrung  das  Objekt  der 
Philosophie  nennen,  da  es  ja  nur  durch  und  für  dieselbe  da  zu 
sein  scheint  —  zwischen  dem  Objekt  des  Idealismus  und  dem 
des  Dogmatismus  ist,  in  Rücksicht  ihres  Verhältnisses  zum  Be- 
wußtsein überhaupt,  ein  merkwürdiger  Unterschied.  Alles,  dessen  ich 
mir  bewußt  bin,  heißt  Objekt  des  Bewußtseins.  Es  gibt  dreierlei  Ver- 
hältnisse dieses  Objekts  zum  Vorstellenden.  Entweder  erscheint  das 
Objekt  als  erst  hervorgebracht  durch  die  Vorstellung  der  InteUigenz, 
oder  als  ohne  Zutun  derselben  vorhanden:  und  im  letzteren  Falle  ent- 
weder als  bestimmt  auch  seiner  Beschaffenheit  nach ;  oder  als  vorhanden 
lediglich  seinem  Dasein  nach,  der  Beschaffenheit  nach  aber  bestimmbar 
durch  die  freie  IntelHgenz. 

Das  erste  Verhältnis  kommt  zu  einem  ledigHch  Erdichteten,  es  sei 
ohne  Zweck  oder  mit  Zweck,  das  zweite  einem  Gegenstande  der  Erfah- 
rung, das  dritte  nur  einem  einzigen  Gegenstande,  den  wir  sogleich  auf- 
weisen wollen. 

NämUch  ich  kann  mich  mit  Freiheit  bestimmen,  dieses  oder  jenes 
zu  denken,  zum  Beispiel  das  Ding  an  sich  des  Dogmatikers.  Abstrahiere 
ich  nun  von  dem  Gedachten,  und  sehe  lediglich  auf  mich,  so  werde  ich 


220  Fichte. 

mir  selbst  in  diesem  Gegenstande  das  Objekt  einer  bestimmten  Vorstel- 
lung. Daß  ich  mir  gerade  so  bestimmt  erscheine  und  nicht  anders,  ge- 
rade als  denkend,  und  unter  allen  möghchen  Gedanken  gerade  das  Ding 
an  sich  denkend,  soll  meinem  Urteil  nach  abhangen  von  meiner  Selbst- 
bestimmung: ich  habe  zu  einem  solchen  Objekte  mit  Freiheit  mich  5 
gemacht.  Mich  selbst  an  sich  aber  habe  ich  nicht  gemacht,  sondern 
ich  bin  genötigt,  mich  als  das  zu  Bestimmende  der  Selbstbestimmung 
voraus  zu  denken.  Ich  selbst  also  bin  mir  Objekt,  dessen  Beschaffenheit 
unter  gewissen  Bedingungen  lediglich  von  der  Intelhgenz  abhängt, 
dessen  Dasein  aber  immer  vorauszusetzen  ist.  lo 

Nun  ist  gerade  dieses  Ich  an  sich  das  Objekt  des  Idealismus.  Das 
Objekt  dieses  Systems  kommt  noch  als  etwas  Eeales  wirklich  im  Be- 
wußtsein vor,  nicht  als  ein  Ding  an  sich,  wodurch  der  Ideahs- 
mus  aufhören  würde  zu  sein,  was  er  ist,  und  in  Dogmatismus  sich  ver- 
wandeln würde,  aber  als  Ich  ansich,  nicht  als  Gegenstand  der  i5 
Erfahrung:  denn  es  ist  nicht  bestimmt,  sondern  es  wird  lediglich  durch 
mich  bestimmt  und  ist  ohne  diese  Bestimmung  nichts,  und  ist  über- 
haupt ohne  sie  nicht;   sondern  als  etwas  über  alle  Erfahrung  Erhabenes. 

Das  Objekt  des  Dogmatismus  im  Gegenteil  gehört  zu  den  Objekten 
der  ersten  Klasse,  die  ledigUch  durch  freies  Denken  hervorgebracht  werden ;  20 
das  Ding  an  sich  ist  eine  bloße  Erdichtung  und  hat  gar  keine  Realität. 
Es  kommt  nicht  etwa  in  der  Erfahrung  vor:  denn  das  System  der  Er- 
fahrung ist  nichts  anderes  als  das  mit  dem  Gefühle  der  Notwendigkeit 
begleitete  Denken  und  kann  selbst  von  dem  Dogmatiker,  der  es,  wie 
jeder  Philosoph,  zu  begründen  hat,  für  nichts  anderes  ausgegeben  werden.  25 
Der  Dogmatiker  will  ihm  zwar  Reahtät,  das  heißt  die  Notwendigkeit, 
als  Grund  aller  Erfahrung  gedacht  zu  werden,  zusichern  und  er  wird 
es,  wenn  er  nachweist,  daß  die  Erfahrung  dadurch  wirklich  zu  erklären 
und  ohne  dasselbe  nicht  zu  erklären  ist ;  aber  gerade  davon  ist  die 
Frage  und  es  darf  nicht  vorausgesetzt  werden,  was  zu  erweisen  ist.        so 

Also  das  Objekt  des  Idealismus  hat  vor  dem  des  Dogmatismus  den 
Vorzug,  daß  es,  nicht  als  Erklärungsgrund  der  Erfahrung,  welches 
widersprechend  wäre  und  dieses  System  selbst  in  einen  Teil  der  Erfahrung 
verwandeln  würde,  aber  doch  überhaupt,  im  Bewußtsein  nachzuweisen 
ist,  dahingegen  das  letztere  für  nichts  anderes  gelten  kann  als  für  eine  35 
bloße  Erdichtung,  die  ihre  Realisation  erst  von  dem  Gelingen  des  Systems 
erwartet.  Dies  ist  bloß  zur  Beförderung  der  deutlichen  Einsicht  in 
die  Unterschiede  beider  Systeme  angeführt,  nicht  aber,  um  daraus 
etwas  gegen  das  letztere  zu  folgern.  Daß  das  Objekt  jeder  Philosophie, 
als  Erklärungsgrund  der  Erfahrung,  außerhalb  der  Erfahrung  liegen  40 
müsse,  erfordert  schon  das  Wesen  der  Philosophie,  weit  entfernt,   daß 


Erste  Einleitung  in  die  Wissenscbaftslehre.  221 

es  einem  Systeme  zum  Nachteil  gereichen  solle.  Warum  jenes  Objekt 
überdies  auf  eine  besondere  Weise  im  Bewußtsein  vorkommen  solle, 
dafür  haben  wir  noch  keine  Gründe  gefunden. 

Sollte  jemand  von  dem  soeben  Behaupteten  sich  nicht  überzeugen 

5  können,  so  würde,  da  es  nur  eine  beiläufige  Bemerkung  ist,  seine  Über- 
zeugimg von  dem  Ganzen  dadurch  noch  nicht  unmögHch  gemacht. 
Jedoch  will  ich,  meinem  Plane  gemäß,  auch  hier  auf  möghche  Einwürfe 
Bedacht  nehmen.  Es  dürfte  jemand  das  behauptete  unmittelbare 
SelbstbewuJ^tsein  in  einer  freien  Handlung  des  Geistes  leugnen.    Einen 

10  solchen  hätten  wir  nur  nochmals  an  die  von  uns  angegebenen  Bedingungen 
desselben  zu  erinnern.  Jenes  Selbstbewußtsein  dringt  sich  nicht  auf 
und  kommt  nicht  von  selbst;  man  muß  wirklich  frei  handeln  und  dann 
vom  Objekte  abstrahieren  und  ledigHch  auf  sich  selbst  merken.  Niemand 
kann  genötigt  werden,    dieses  zu  tun,    und  wenn  er  es  auch  vorgibt, 

15  kann  man  immer  nicht  \vissen,  ob  er  richtig  und  wie  gefordert  werde 
dabei  verfahre.  Mit  einem  Worte,  dieses  Bewußtsein  kann  keinem  nach- 
gewiesen werden;  jeder  muß  es  durch  Freiheit  in  sich  selbst  hervor- 
bringen. Gegen  die  zweite  Behauptung,  daß  das  Ding  an  sich  eine  bloße 
Erdichtung   sei,    könnte   nur  darum   etwas   eingewendet   werden,   weil 

20  man  sie  mißverstände.  Wir  würden  einen  solchen  an  die  obige  Beschrei- 
bung von  der  Entstehung  dieses  Begriffs  zurückverweisen. 

5. 
Keines   dieser   beiden    Systeme   kann   das   entgegengesetzte   direkt 
widerlegen:    denn  ihr  Streit  ist  ein  Streit  über  das  erste,  nicht  weiter 

25  abzuleitende  Prinzip;  jedes  von  beiden  widerlegt,  wenn  ihm  nur  das 
seinige  zugestanden  wird,  das  des  anderen;  jedes  leugnet  dem  entgegen- 
gesetzten alles  ab  und  sie  haben  gar  keinen  Punkt  gemein,  von  welchem 
aus  sie  sich  einander  gegenseitig  verständigen  und  sich  vereinigen 
könnten.  Wenn  sie  auch  über  die  Worte   eines   Satzes   einig   zu  sein 

30  scheinen,  so  nimmt  jedes  sie  in  einem  anderen  Sinne. 

Zuvörderst  der  IdeaHsmus  kann  den  Dogmatismus  nicht  wider- 
legen. Der  erstere  zwar  hat,  wie  wir  gesehen  haben,  das  vor  dem  letz- 
teren voraus,  daß  er  seinen  Erklärungsgrund  der  Erfahrung,  die  frei- 
handelnde  Intelligenz,    im   Bewußtsein    nachzuweisen  vermag.      Das 

35  Faktum  als  solches  muß  ihm  auch  der  Dogmatiker  zugeben:  denn 
außerdem  macht  er  sich  aller  ferneren  Unterhandlung  mit  ihm  unfähig; 
aber  er  verwandelt  es  durch  eine  richtige  Folgerung  aus  seinem  Prinzip 
in  Schein  und  Täuschung,  und  macht  es  dadurch  untaughch  zum  Er- 
klärungsgrunde eines  anderen,  da  es  in  seiner  Philosophie  sich  selbst 

40  nicht  behaupten  kann.  Nach  ihm  ist  alles,  was  in  unserem  Bewußtsein 
vorkommt,  Produkt  eines  Dinges  an  sich,  sonach  auch  unsere  vermeinten 


222  Fichte. 

Bestimmungen  durch  Freiheit,  mit  der  Meinung  selbst,  daß  wir  frei 
seien.  Diese  Meinung  wird  durch  die  Einwirkung  des  Dinges  in  uns 
hervorgebracht,  und  die  Bestimmungen,  die  wir  von  unserer  Freiheit 
ableiten,  werden  gleichfalls  dadurch  hervorgebracht:  nur  wissen  wir 
das  nicht,  darum  schreiben  wir  sie  keiner  Ursache,  also  der  Freiheit  s 
zu.  Jeder  konsequente  Dogmatiker  ist  notwendig  Fatalist;  er  leugnet 
nicht  das  Faktum  des  Bewußtseins,  daß  wir  uns  für  frei  halten:  denn 
dies  wäre  vernunftwidrig;  aber  er  erweist  aus  seinem  Prinzip  die  Falsch- 
heit dieser  Aussage.  —  Er  leugnet  die  Selbständigkeit  des  Ich,  auf  welche 
der  Idealist  baut,  gänzlich  ab  und  macht  dasselbe  lediglich  zu  einem  lo 
Produkte  der  Dinge,  zu  einem  Accidens  der  Welt;  der  konsequente 
Dogmatiker  ist  notwendig  auch  Materialist.  Nur  aus  dem  Postulate 
der  Freiheit  und  Selbständigkeit  des  Ich,  könnte  er  widerlegt  werden; 
aber  gerade  das  ist  es,  was  er  leugnet. 

Ebensowenig  kann  der  Dogmatiker  den  Idealisten  widerlegen.  is 

Das  Prinzip  desselben,  das  Ding  an  sich,  ist  nichts  und  hat,  wie  der 
Verteidiger  desselben  selbst  zugeben  muß,  keine  Realität,  außer  diejenige, 
die  es  dadurch  erhalten  soll,  daß  nur  aus  ihm  die  Erfahrung  sich  er- 
klären lasse.  Diesen  Beweis  vernichtet  der  IdeaHst  dadurch,  daß  er 
die  Erfahrung  auf  andere  Weise  erklärt,  also  gerade  dasjenige,  worauf  20 
der  Dogmatismus  baut,  ableugnet.  Das  Ding  an  sich  wird  zur  völUgen 
Schimäre ;  es  zeigt  sich  gar  kein  Grund  mehr,  warum  man  eins  annehmen 
sollte;  und  mit  ihm  fällt  das  ganze  dogmatische  Gebäude  zusammen. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  zugleich  die  absolute  Unverträg- 
lichkeit beider  Systeme,  indem  das,  was  aus  dem  einen  folgt,  die  Folge-  25 
rungen  aus  dem  zweiten  aufhebt;  sonach  die  notwendige  Inkonsequenz 
ihrer  Vermischung  zu  einem.  Allenthalben,  wo  so  etwas  versucht  wird, 
passen  die  GUeder  nicht  aneinander  und  es  entsteht  irgendwo  eine  unge- 
heure Lücke.  —  Die  Möglichkeit  einer  solchen  Zusammensetzung,  die 
einen  stetigen  Übergang  von  der  Materie  zum  Geiste,  oder  umgekehrt,  30 
oder,  was  ganz  dasselbe  heißt,  einen  stetigen  Übergang  von  der  Not- 
wendigkeit zur  Freiheit  [bedeutet],  müßte  derjenige  nachweisen,  der  das 
soeben  Behauptete  in  Anspruch  nehmen  wollte. 

Da,  soviel  wir  bis  jetzt  einsehen,  in  spekulativer  Rücksicht  beide 
Systeme  von  gleichem  Werte  zu  sein  scheinen,  beide  nicht  beisammen  36 
stehen,  aber  auch  keines  von  beiden  etwas  gegen  das  andere  ausrichten 
kann,  so  ist  es  eine  interessante  Frage,  was  wohl  denjenigen,  der 
dies  einsieht  —  und  es  ist  ja  so  leicht  einzusehen  — ,  bewegen  möge, 
das  eine  dem  anderen  vorzuziehen,  und  wie  es  komme,  daß  nicht  der 
Skeptizismus,  als  gänzhche  Verzichtleistung  auf  die  Beantwortung  des  40 
aufgegebenen  Problems,  allgemein  werde. 


Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre.  223 

Der  Streit  zwischen  dem  Idealisten  und  Dogmatiker  ist  eigentlich 

der,   ob  der   Selbständigkeit  des  Ich  die   Selbständigkeit  des  Dinges, 

oder  umgekehrt,  der  Selbständigkeit  des  Dinges  die  des  Ich  aufgeopfert 

werden  solle.    Was  ist  es  denn  nun,  das  einen  vernünftigen  Menschen 

5   treibt,  sich  vorzüglich  für  das  eine  von  beiden  zu  erklären? 

Der  Philosoph  findet  auf  dem  angegebenen  Gesichtspunkte,  in 
welchen  er  sich  notwendig  stellen  muß,  wenn  er  für  einen  Philosophen 
gelten  soll,  und  in  welchen  beim  Fortgange  des  Denkens  der  Mensch 
auch  ohne   sein  wissenthches  Zutun   über   kurz    oder   lang   zu   stehen 

10  kommt,  nichts  weiter,  als  daß  er  sich  vorstellen  müsse,  er 
sei  frei  und  es  seien  außer  ihm  bestimmte  Dinge.  Bei  diesem  Gedanken 
ist  es  dem  Menschen  unmöghch  stehen  zu  bleiben;  der  Gedanke  der 
bloßen  Vorstellung  ist  nur  ein  halber  Gedanke,  ein  abgebrochenes 
Stück  eines  Gedankens;  es  muß  etwas  hinzugedacht  werden,  das  ihm 

15  unabhängig  vom  Vorstellen  entspreche.  Mit  anderen  Worten:  die  Vor- 
stellung kann  für  sich  allein  nicht  bestehen,  sie  ist  nur  mit  einem  anderen 
verbunden  etwas,  und  für  sich  nichts.  Diese  Notwendigkeit  des  Denkens 
ist  es  eben,  die  von  jenem  Gesichtspunkte  aus  zu  der  Frage  treibt: 
welches  ist  der  Grund  der  Vorstellungen,  oder,  was  ganz  dasselbe  heißt, 

20   welches  ist  das  ihnen  Entsprechende? 

Nun  kann  allerdings  die  Vorstellung  von  der  Selbständigkeit  des 
Ich  und  der  des  Dinges,  nicht  aber  die  Selbständigkeit  beider  selbst, 
beieinander  bestehen.  Nur  eines  kann  das  erste.  Anfangende,  Unab- 
hängige  sein:   das,   welches  das  zweite  ist,   wird  notwendig  dadurch, 

25  daß  es  das  zweite  ist,  abhängig  von  dem  ersten,  mit  welchem  es  verbunden 
werden  soll. 

Welches  von  beiden  soll  nun  zum  ersten  gemacht  werden?  Es  ist 
kein  Entscheidungsgrund  aus  der  Vernunft  möghch;  denn  es  ist  nicht 
von  Anknüpfung  eines  Gliedes  in  der  Reihe,  wohin  allein  Vernunftgründe 

30  reichen,  sondern  von  dem  Anfange  der  ganzen  Reihe  die  Rede,  welches, 
als  ein  absolut  erster  Akt,  ledighch  von  der  Freiheit  des  Denkens  ab- 
hängt. Er  wird  daher  durch  Willkür  und,  da  der  Entschluß  der  Will- 
kür doch  einen  Grund  haben  soll,  durch  Neigung  und  Inter- 
esse  bestimmt.    Der  letzte  Grund  der  Verschiedenheit  des  Ideahsten 

35   und  Dogmatikers  ist  sonach  die  Verschiedenheit  ihres  Interesses. 

Das  höchste  Interesse  und  der  Grund  alles  übrigen  Interesses  ist 
das  für  uns  selbst.  So  bei  dem  Philosophen.  Sein  Selbst  im 
Räsonnement  nicht  zu  verlieren,  sondern  es  zu  erhalten  und  zu  behaup- 
ten, dies  ist  das  Interesse,  welches  unsichtbar  alles  sein  Denken  leitet. 

40  Nun  gibt  es  zwei  Stufen  der  Menschheit;  und  im  Fortgange  unseres 
Geschlechts,  ehe  die  letztere  allgemein  erstiegen  ist,  zwei  Hauptgattungen 


224  Fichte. 

von  Menschen.  Einige,  die  sich  noch  nicht  zum  vollen  Gefühl  ihrer 
Freiheit  und  absoluten  Selbständigkeit  erhoben  haben,  finden  sich  selbst 
nur  im  Vorstellen  der  Dinge,  sie  haben  nur  jenes  zerstreute,  auf  den 
Objekten  haftende  und  aus  ihrer  Mannigfaltigkeit  zusammenzulesende 
Selbstbewußtsein.  Ihr  Bild  wird  ihnen  nur  durch  die  Dinge,  wie  durch  s 
einen  Spiegel  zugeworfen;  werden  ihnen  diese  entrissen,  so  geht  ihr 
Selbst  zugleich  mit  verloren;  sie  können  um  ihrer  selbst  willen  den 
Glauben  an  die  Selbständigkeit  derselben  nicht  aufgeben:  denn  sie 
selbst  bestehen  nur  mit  jenem.  Alles,  was  sie  sind,  sind  sie  wirklich  durch 
die  Außenwelt  geworden.  Wer  in  der  Tat  nur  ein  Produkt  der  Dinge  ist,  lo 
wird  sich  auch  nie  anders  erbhcken,  und  er  wird  recht  haben,  solange  er 
lediglich  von  sich  und  seinesgleichen  redet.  Das  Prinzip  der  Dogmatiker 
ist  Glaube  an  die  Dinge,  um  ihrer  selbst  willen :  also  mittelbarer  Glaube 
an  ihr  eigenes  zerstreutes  und  nur  durch  die  Objekte  getragenes  Selbst. 

Wer  aber  seiner  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit  von  allem,  i^ 
was  außer  ihm  ist,  sich  bewußt  wird  —  und  man  wird  dies  nur  dadurch, 
daß  man  sich,  unabhängig  von  allem,  durch  sich  selbst  zu  etwas  macht  — , 
der  bedarf  der  Dinge  nicht  zur  Stütze  seines  Selbst,  und  kann  sie  nicht 
brauchen,  weil  sie  jene  Selbständigkeit  aufheben  und  in  leeren  Schein 
verwandeln.  Das  Ich,  das  er  besitzt,  und  welches  ihn  interessiert,  hebt  20 
jenen  Glauben  an  die  Dinge  auf;  er  glaubt  an  seine  Selbständigkeit  aus 
Neigung,  ergreift  sie  mit  Affekt.  Sein  Glaube  an  sich  selbst  ist  unmittelbar. 

Aus  diesem  Interesse  lassen  sich  auch  die  Afiekte  erklären,  die  sich 
in  die  Verteidigung  der  philosophischen  Systeme  gewöhnlich  einmischen. 
Der  Dogmatiker   kommt   durch   den  Angriff   seines    Systems   wirklich   25 
in  Gefahr  sich  selbst  zu  verlieren;  doch  ist  er  gegen  diesen  Angriff  nicht 
gewaffnet,  weil  in  seinem  Innern  selbst  etwas  ist,  das  es  mit  dem  An- 
greifer hält;    er  verteidigt  sich  daher  mit  Hitze  und  Erbitterung.    Der 
Ideahst  im  Gegenteil  kann  sich  nicht  wohl  enthalten,  mit  einer  Nicht- 
achtung auf  den  Dogmatiker  herabzublicken,  der  ihm  nichts  sagen  kann,    so 
als  was  der  erstere  schon  längst  gewußt  und  als  irrig  abgelegt  hat,  indem 
man,  wenn  auch  nicht  durch  den  Dogmatismus  selbst,  doch  zum  wenig- 
sten durch  die  Stimmung  dazu  zu  dem  Idealismus  hindurchgeht.   Der 
Dogmatiker  ereifert  sich,  verdreht  und  würde  verfolgen,  wenn  er  die 
Macht  dazu  hätte :   der  Ideahst  ist  kalt  und  in  Gefahr,  des  Dogmatikers   35 
zu  spotten. 

Was  für  eine  Philosophie  man  wähle,  hängt  sonach  davon  ab,  was 
man  für  ein  Mensch  ist:  denn  ein  philosophisches  System  ist  nicht  ein 
toter  Hausrat,  den  man  ablegen  oder  annehmen  könnte,  wie  es  uns  be- 
liebte, sondern  es  ist  beseelt  durch  die  Seele  des  Menschen,  der  es  hat.    40 
Ein   von    Natur   schlaffer    oder   durch    Geistesknechtschaft,    gelehrten 


Erläuterungen.  225 


Luxus  und  Eitelkait  erschlaffter  und  gekrümmter  Charakter  wird  sich 
nie  zum  Idealismus  erheben. 

Man  kann  dem  Dogmatiker  die  UnzulängUchkeit  und  Inkonsequenz 
seines  Systems  zeigen,  man  kann  ihn  verwirren  und  ängstigen  von  allen 

5  Seiten;  aber  man  kann  ihn  nicht  überzeugen,  weil  er  nicht  ruhig  und 
kalt  zu  hören  und  zu  prüfen  vermag,  was  er  schlechthin  nicht  ertragen 
kann.  Zum  Philosophen  —  vrenn  der  Ideahsmus  sich  als  die  einzig 
wahre  Philosophie  bewähren  sollte  —  zum  Philosophen  muß  man  ge- 
boren sein,  dazu  erzogen  werden,  und  sich  selbst  dazu  erziehen:    aber 

10  man  kann  durch  keine  menschliche  Kunst  dazu  gemacht  werden.  Darum 
verspricht  auch  diese  Wissenschaft  sich  unter  den  schon  gemach- 
ten Männern  wenige  Proselyten ;  darf  sie  überhaupt  hoffen,  so  hofft 
sie  mehr  von  der  jungen  Welt,  deren  angeborene  Kraft  noch  nicht  in 
der  Schlaffheit  des  Zeitalters  zu  Grunde  gegangen  ist. 

Johann  Gottlieb  Fichte  (1762 — 1814)  geht  von  der  Kantischen  Philo- 
sophie aus,  er  fühlt  sich  als  ihr  Vollender,  sein  System  enthält  dieselbe  Ansicht, 
aber  ein  anderes  Verfahren ,  diese  darzustellen.  F.  will ,  wie  vor  ihm 
Reinhold,  das  Kantische  System  an  zwei  Punkten  ergänzen:  einmal  sucht 
er  ein  höheres  Prinzip  zu  finden  für  die  bei  K.  getrennt  und  unabgeleitet  neben- 
einander auftretenden  Erkenntnisvermögen  (vergleiche  Anmerkung  zu  218  9), 
anderseits  behauptet  er  die  Unmöglichkeit  der  Lehre  vom  Ding  an  sich  (ver- 
gleiche 220  21 ).  Das  Ding  an  sich  ist  nur  ein  Gedanke  im  Ich.  Durch  diese 
Wendung  muß  natürlich  das  „Ich"  eine  andere  Bedeutung  erhalten.  Es  kann 
damit  nicht  das  Individuum  gemeint  sein,  da  sonst  die  widersinnige  Meinung 
entsteht,  der  einzelne  Mensch  produziere  die  ganze  Wirklichkeit,  die  dann 
mit  ihm  entstehen  und  vergehen  müßte.  Deshalb  unterscheidet  F.  Ichheit, 
Geistigkeit  von  Individuum,  Person.  Jenes  Ich  haben  wir  uns  als  den  ver- 
nünftigen Urgrund  alles  Seins  zu  denken,  der  in  den  einzelnen  Individuen 
in  die  Erscheinung  tritt.  Man  begreift  das  Fichtesche  System  als  eine  Ver- 
bindung  von  Kants   Transzendentalphilosophie   und   Spinozas   Pantheismus. 

Das  Hauptwerk  F.s,  die  „Grundlage  der  gesamten  Wissenschaftslehre" 
erschien  im  Jahre  179-1.  Unter  dem  Titel  „Erste  Einleitung  in  die  Wissen- 
schaftslehre'' 1797  und  „Zweite  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre"  1797 
schrieb  F.  Erläuterungsschriften,  welche  die  AngTiffe  der  Gegner  widerlegen 
und  die  Grundgedanken  seines  Systems  klar  darstellen  sollten.  Das  Stück, 
welches  wir  mitteilen,  ist  der  ersten  Einleitung  entnommen  und  darf  als  ein 
Meisterwerk  von  Klarheit  und  Schärfe  des  Denkens  gelten.  Es  zeigt  ferner, 
wie  alle  Philosophie  schließlich  wurzelt  in  der  Persönlichkeit  ihres  Urhebers. 
Dieser  tritt  uns  hier  als  eine  willensstarke,  im  Handeln,  in  Tätigkeit  sich 
auslebende  Natur  entgegen.  Neben  der  theoretischen  Vollendung  der  Kanti- 
schen Philosophie  ist  F.  auch  Vollender  der  Lehre  Kants  von  der  Freiheit. 
Der  Ideahsmus  entwickelt  in  ihm  in  viel  stärkerem  Grade  als  bei  Kant  seine 
Gefühlswerte  und  setzt  sich  in  Tat  um,  die  das  Leben  beeinflussen  will.     So 

Dessoir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  15 


226  Fichte. 

ist  denn  F.  in  das  praktische  Leben  eingetreten  und  hat  besonders  in  seinen 
„Reden  an  die  deutsche  Nation"  1808  vorbildlich  in  nationalem  Sinne  gewirkt. 

F.s  sämtliche  Werke  sind  in  den  Jahren  1845 — 1846  in  acht  Bänden,  seine 
nachgelassenen  Schriften  1834 — 1835  in  drei  Bänden  erschienen.  Zur  Ein- 
führung in  seine  Philosophie  sei  auf  die  oben  erwähnten  „Einleitungen"  hin- 
gewiesen. Seine  Persönlichkeit  lernt  der  Leser  am  besten  aus  den  „Reden" 
und  der  Schrift:  „Über  das  Wesen  des  Gelehrten"  1806  kennen.  Beide  Werke 
sind  in  der  Universalbibliothek  von  Reclam  erschienen.  Darstellungen  der 
Philosophie  Fichtes  findet  der  Leser  in  den  mehrfach  zitierten  Geschichten 
der  Philosophie.     Vergleiche  auch  Anmerkung  zu   218  9. 

217  6.  Die  Verwandtschaft  dieser  Fragestellung  mit  der  Kantischen  ist 
deutlich. 

21723/24.  Dieser  Nachweis  wäre  wohl  nicht  so  leicht  zu  führen,  wie  der  Leser 
aus  der  Vergleichung  der  verschiedenen  Lesestücke  selbst  ersehen  kann. 

217  32.  Mit  dem  Worte  „ Wissen schaftslehre"  soll  der  Gedanke  ausge- 
drückt werden,  daß  es  eine  Lehre  gibt,  welche  sich  mit  dem,  was  allen  einzelnen 
Wissenschaften  gemeinsam  ist,  beschäftigt.  Dies  Gemeinsame  können  wir 
finden  in  der  Tatsache,  daß  ihnen  allen  das  Erkennen  zu  Grunde  liegt.  Es 
würde  nun  die  Aufgabe  sein  zu  bestimmen:  Gegenstand,  Mittel,  Umfang 
und  Grenzen  des  Erkennens.  Diese  Lehre  wird  jetzt  gewöhnlich  Erkenntnis- 
theorie genannt. 

218  9.  F.  wendet  sich  hier  gegen  K.  L.  Reinhold  und  die  von  ihm  beein- 
flußten Lehren  von  S.  Maimon  und  Sigismund  Beck.  Reinhold  nimmt  als 
Grundlage  für  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  die  Tatsache  des  Bewußtseins. 
Er  geht  über  Kant  hinaus  in  dem  Sinne,  daß  er  für  die  drei  Erkenntnisver- 
mögen (Verstand,  Urteilskraft,  Vernunft)  ein  höheres  Prinzip  sucht,  aus  welchem 
sie  abgeleitet  werden  können.  Dies  findet  er  in  der  Tatsache  des  Bewußtseins, 
welche  er  in  dem  Satz  ausdrückt:  „Die  Vorstellung  wird  im  Bewußtsein  vom. 
Vorgestellten  und  Vorstellenden  unterschieden  und  auf  beide  bezogen."  Den 
Ton  müssen  wir  auf  die  Worte  „auf  beide"  legen.  Damit  ist  gesagt,  daß  die 
Philosophie  nicht  von  einem  letzten  Einfachen  (Subjekt  oder  Objekt)  aus- 
gehen kann,  sondern  bei  einer  unzertrennlichen  Verbindung  beider  (Subjekt 
und  Objekt)  halt  machen  muß.  F.  stimmt  dieser  Ansicht  zu,  jedoch  nur  für 
die  Erfahrung  (vergleiche  218  32);  die  Philosophie  vermag  aber  noch  den  Grund 
derselben  anzugeben.  Dieser  kann  indessen  keine  Tatsache  sein,  deim  eine 
solche  wäre  immer  gegeben,  das  heißt,  Tatsache  für  ein  Bewußtsein, 
sondern  er  ist  eine  Tat  handlung,  welche  diese  Beziehung  in  sich  ent- 
hält. Deshalb  heißt  der  absolut  erste,  schlechthin  unbedingte  Grundsatz  alles 
menschlichen  Wissens:  „Das  Ich  setzt  ursprünglich  schlechthin  sein  eigenes 
Sein."  Er  enthält  in  sich  den  anderen:  „Dem  Ich  wird  schlechthin  entgegen- 
gesetzt ein  Nichtich."  So  ist  die  verlangte  Beziehung  erklärt.  Vergleiche 
Kuno  Fischer,  Fichtes  Leben  und  Lehre,  Gesch.  d.  n.  Phil.,  Jubiläumsaus- 
gabe 1900,  Bd.  VI,  und  W.  Kabitz,  Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  der 
Fichteschen  Wissenschaftslehre,  Berlin  1902. 

218  28.    Man  beachte,  wie  hier  F.   das  Abstraktionsverfahren  bestimmt. 


Erläuterungen.  227 


Es  wird  häufig  als  ein  einfaches  Fortlassen  der  besonderen  Merkmale  und  ein 
Zurückbehalten  der  allgemeinen  bezeichnet.  Ein  solches  Fortlassen  genügt 
aber  nicht,  es  muß  ein  Prinzip  hinzutreten,  nach  welchem  es  geschieht.  Wir 
haben  zum  Beispiel  einzelne  Körper  mit  vielen  Eigenschaften  und  abstrahieren 
nach  dem  Merkmal  Farbe. 

218  40.  F.  versteht  also  unter  Dogmatismus  etwas  anderes  als  Kant  (ver- 
gleiche Anmerkung  zu  182  28).  Wir  würden  den  Gegensatz  heute  so  fassen: 
Idealismus  —  Realismus  (Materialismus). 

219 10/12.  Man  beachte  den  Gegensatz:  „durch  Abstraktion  Hervorgebrachtes" 

—  „im  Bewußtsein  wirklich  vorkommen".  Die  Verwandtschaft  mit  Berke- 
leys Fragestellung  ist  wohl  deutlich. 

219  38  ff.  Wir  drücken  diese  Überlegung  einfacher  aus,  wenn  wir  sagen, 
daß  unser  Ich  für  uns  das  letzte  ist,  wozu  wir  gelangen,  wenn  wir  alle  Inhalte 
des  Bewußtseins,  über  welche  ^^'ir  verfügen  können,  uns  fortdenken.  Das 
Ich  selbst  können  wir  aber  nicht  fortdenken.  Hier  endigt  unsere  Freiheit, 
das  Ich  ist  mit  unserer  Existenz  unlösbar  verknüpft,  diese  ist  ohne  das  Ich 
undenkbar.  Man  beachte  vor  allem  den  Gegensatz:  Dasein  —  Beschaffen- 
heit des  Ich. 

220  22.  F.  beruft  sich  hier  auf  die  unbezweifelte  Tatsache,  daß  wir  von 
der  Außenwelt  nur  insofern  etwas  erfahren,  als  wir  Empfindungen  u.  s.  w. 
haben,  die  wir  auf  etwas  außer  uns  Befindliches  beziehen.  Die  ReaUtät  der 
Außenwelt  ist  uns  also  niemals  unmittelbar,  sondern  immer  nur  vermittelt 
durch  die  Tatsachen  des  Bewußtseins  gegeben.  Wir  können  von  der  Realität 
der  letzteren,  aber  nur  von  dem  Glauben  an  die  Realität  der  Außenwelt  sprechen. 
Vergleiche  W.  Dilthey,  Beiträge  zur  Lösung  der  Frage  vom  Ursprung  unseres 
Glaubens  an  die  Realität  der  Außenwelt  und  seinem  Recht.  Sitzungsberichte 
der  Königl.  Preuß.  Ak.  d.  Wiss.   1890. 

222  24.  Zu  dieser  Folgerung  kommt  F.  entsprechend  der  oben  218  40  f. 
ausgesprochenen  Behauptung,  daß  z\^ischen  Idealismus  und  Dogmatismus 
kein  System,  das  auf  Konsequenz  Anspruch  macht,  möglich  sei.     Ein  solcher 

—  nach  F.  inkonsequenter  —  Vermittlungsversuch  ist  die  Philosophie  Kants, 
insbesondere  seine  Lehre  von  der  Freiheit  mit  der  Unterscheidung,  daß  der 
Mensch  als  zur  Erscheinungswelt  gehörig  in  seinem  Handeln  bedingt,  als 
GHed  der  intelligiblen  Welt  aber  frei  sei  (vergleiche  Anmerkung  zu  205  is). 

222  34.    „in  spekulativer  Rücksicht''  vergleiche  223  28. 

M  e  n  z  e  r. 


XVII. 

Hegel. 

Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie. 

a)Die    Geschichte    der    Philosophie    als    Vorrat 
von   Meinungen. 

Geschichte  schließt  [nämlich]  beim  ersten  Anschein  sogleich  dies 
ein,  daß  sie  zufälhge  Ereignisse  der  Zeiten,  der  Völker  und  Individuen 
zu  erzählen  habe  —  zufällig  teils  ihrer  Zeitfolge  nach,  teils  aber  ihrem  5 
Inhalte  nach.  Von  der  Zufälligkeit  in  Ansehung  der  Zeitfolge  ist  nach- 
her zu  sprechen.  Den  Begriff,  mit  dem  wir  es  zuerst  zu  tun  haben 
wollen,  geht  die  Zufälhgkeit  des  Inhalts  an  —  zufällige  Handlungen. 
Der  Inhalt  aber,  den  die  Philosophie  hat,  sind  nicht  Handlungen  und 
äußerhche  Begebenheiten  der  Leidenschaften  und  des  Glücks  —  sondern  lo 
es  sind  Gedanken.  Zufällige  Gedanken  aber  sind  nichts  anderes  als 
Meinungen,  und  philosophische  Meinungen  heißen  Meinungen  über  den 
näher  bestimmten  Inhalt  und  die  eigentümhcheren  Gegenstände  der 
Philosophie  —  über  Gott,  die  Natur,  den  Geist. 

Somit  stoßen  wir  denn  sogleich  auf  die  sehr  gewöhnliche  Ansicht   15 
von  der  Geschichte  der  Philosophie,  daß  sie  nämlich  den  Vorrat  von 
philosophischen  Meinungen  herzuerzählen  habe,  wie  sie  sich  in  der  Zeit 
ergeben  und  dargestellt  haben.     Wenn  glimpflich  gesprochen  wird,  so 
heißt  man  diesen  Stoff  Meinungen;  die  es  mit  gründlicherem  Urteile 
ausdrücken  zu  können  glauben,  nennen  diese  Geschichte  eine  Galerie   20 
der  Narrheiten  sogar,   oder  wenigstens  der  Verirrungen  des  sich  ins 
Denken  und  in  die  bloßen  Begriffe  vertiefenden  Menschen.     Man  kann 
solche  Ansicht  nicht  nur  von  solchen  hören,  die  ihre  Unwissenheit  in 
Philosophie  bekennen  (sie  bekennen  sie,  denn  diese  Unwissenheit  soll 
nach  der  gemeinen  Vorstellung  nicht  hinderlich  sein,  ein  Urteil  darüber   25 
zu  fällen,  was  an  der  Philosophie  sei;  im  Gegenteil  hält  sich  jeder  für 
sicher,  über  ihren  Wert  und  Wesen  doch  urteilen  zu  können,  ohne  etwas 
von  ihr  zu  verstehen);  sondern  auch  von  solchen,  welche  selbst  Ge- 
schichte   der    Philosophie    schreiben    und    geschrieben    haben.      Diese 


Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie.  229 

Geschichte,  so  als  eine  Hererzählung  von  vielerlei  Meinungen,  wird  auf 
diese  Weise  eine  Sache  einer  müßigen  Neugierde,  oder,  wenn  man  will, 
ein  Interesse  der  Gelehrsamkeit.  Denn  die  Gelehrsamkeit  besteht 
vorzüghch  darin,  eine  Menge  unnützer  Sachen  zu  wissen,  das  heißt  solche, 
5  die  sonst  keinen  Gehalt  und  kein  Interesse  in  ihnen  selbst  haben  als  dies, 
daß  man  eben  die  Kenntnis  derselben  habe. 

Jedoch  meint  man  zugleich  einen  Nutzen  davon  zu  haben,  auch 
verschiedene  Meinungen  und  Gedanken  anderer  kennen  zu  lernen:  es 
bewege  die  Denkkraft,  führe  auch  auf  manchen  guten  Gedanken,  das 

10  ist  es  veranlasse  etwa  auch  wieder ,  eine  Meinung  zu  haben ,  und  die 
Wissenschaft  bestehe  darin,  daß  sich  so  Meinungen  aus  Meinungen 
fortspinnen. 

Wenn  die  Geschichte  der  Philosophie  nur  eine  Galerie  von  Meinungen 
—  obzwar  über  Gott,  über  das  Wesen  der  natürlichen  und  geistigen 

15  Dinge  —  aufstellte:  so  würde  sie  eine  sehr  überflüssige  und  langweilige 
Wissenschaft  sein,  man  möchte  auch  noch  so  viele  Nutzen,  die  man  von 
solcher  Gedankenbewegung  und  Gelehrsamkeit  ziehen  solle,  herbei- 
bringen. Was  kann  unnützer  sein  als  eine  Keihe  bloßer  Meinungen 
kennen  zu  lernen?  was  gleichgültiger?    Schriftstellerische  Werke,  welche 

20  Geschichten  der  Philosophie  in  dem  Sinne  sind,  daß  sie  die  Ideen  der 
Philosophie  in  der  Weise  von  Meinungen  aufführen  und  behandeln, 
braucht  man  nur  leicht  anzusehen,  um  zu  finden,  wie  dürr  und  ohne 
Interesse  das  alles  ist. 

Eine  Meinung  ist  eine   subjektive  Vorstellung,   ein  beliebiger   Ge- 

26  danke,  eine  Einbildung,  die  ich  so  oder  so,  und  ein  anderer  anders  haben 
kann :  eine  Meinung  ist  m  e  i  n  ,  sie  ist  nicht  ein  in  sich  allgemeiner,  an 
und  für  sich  seiender  Gedanke.  Die  Philosophie  aber  enthält  keine 
Meinungen;  denn  es  gibt  keine  philosophischen  Meinungen.  Man  hört 
einem  Menschen,    und  wenn  es  auch  selbst   ein  Geschichtschreiber  der 

30   Philosophie  wäre,  sogleich  den  Mangel  der  ersten  Bildung  an,  wenn  er  von 
philosophischen    Meinungen    spricht.      Die    Philosophie    ist    objektive 
Wissenschaft    der    Wahrheit,    Wissenschaft    ihrer    Notwendigkeit,    be- 
greifendes Erkennen,  kein  Meinen  und  kein  Ausspinnen  von  Meinungeil. 
Die  weitere  eigenthche  Bedeutung  von  solcher  Vorstellung  ist  dann. 

So  daß  es  nur  Meinungen  sind,  von  denen  wir  Kenntnis  erhalten ;  wobei 
auf  Meinung  der  Akzent  gelegt  wird.  Das,  was  der  Meinung  gegen- 
übersteht, ist  nun  die  Wahrheit;  Wahrheit  ist  es,  vor  der  die  Meinung 
erbleicht.  Wahrheit  aber  ist  auch  das  Wort,  bei  dem  die  den  Kopf 
abwenden,   welche  nur  Meinungen  in  der   Geschichte  der  Philosophie 

40  suchen,  oder  überhaupt  meinen,  es  seien  nur  solche  in  ihr  zu  finden. 
Es  ist  ein  Antagonismus  von  zweierlei  Seiten,  welchen  die  Philosophie 


10 


230  Hegel. 

hier  erfährt.  Einerseits  erklärte  die  Frömmigkeit  bekanntlich  die  Ver- 
nunft oder  das  Denken  für  unfähig,  das  Wahre  zu  erkennen :  im  Gegenteil 
führe  die  Vernunft  nur  auf  den  Abgrund  des  Zweifels,  und  auf  Selbst- 
denken müsse  Verzicht  getan  und  die  Vernunft  unter  den  blinden  Autori- 
tätsglauben gefangen  genommen  werden,  um  zur  Wahrheit  zu  gelangen. 
Vom  Verhältnis  der  Eeligion  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte 
werden  wir  nachher  reden.  Dagegen  ist  es  anderseits  ebenso  bekannt, 
daß  die  sogenannte  Vernunft  sich  geltend  gemacht,  den  Glauben  aus 
Autorität  verworfen  hat  und  das  Christentum  vernünftig  machen  wollte : 
so  daß  durchaus  nur  die  eigene  Einsicht,  die  eigene  Überzeugung  ver- 
pflichtend für  mich  sei,  etwas  anzuerkennen.  Aber  wunderbarerweise 
ist  auch  diese  Behauptung  des  Rechts  der  Vernunft  dahin  umgeschlagen, 
dies  zum  Resultat  zu  haben,  daß  die  Vernunft  nichts  Wahres  erkennen 
könne.  Diese  sogenannte  Vernunft  bekämpfte  einerseits  den  religiösen 
Glauben  im  Namen  und  kraft  der  denkenden  Vernunft,  und  zugleich  i5 
ist  sie  ebenso  gegen  die  Vernunft  gekehrt  und  Feindin  der  wahren  Ver- 
nunft; sie  behauptet  gegen  diese  die  innere  Ahnung,  das  Gefühl,  und 
macht  so  das  Subjektive  zum  Maßstabe  des  Geltenden,  nämlich  eine 
eigene  Überzeugung,  wie  jeder  sie  sich  in  seiner  Subjektivität  aus  und  in 
sich  selber  mache.  Solche  eigene  Überzeugung  ist  nichts  anderes  als  die  20 
Meinung,  welche  dadurch  zum  letzten  für  die  Menschen  geworden  ist. 

Eigene  Überzeugung  ist  allerdings  das  letzte  und  absolut  Wesentliche, 
was  die  Vernunft  und  ihre  Philosophie,  nach  der  Seite  der  Subjektivität, 
zur  Erkenntnis  fordert.  Aber  es  ist  ein  Unterschied,  ob  die  Überzeugung 
auf  Gefühlen,  Ahnungen,  Anschauungen  u.  s.  w.,  auf  subjektiven  Gründen,  25 
überhaupt  auf  der  Besonderheit  des  Subjekts  beruht  —  oder  ob  auf  dem 
Gedanken,  und  sie  aus  der  Einsicht  in  den  Begriff  und  die  Natur  der 
Sache  hervorgeht.  Auf  jene  erstere  Weise  ist  die  Überzeugung  nun 
die  Meinung. 

Den  Gegensatz  zwischen  Meinung  und  Wahrheit,  der  sich  jetzt  30 
scharf  herausstellt,  erbhcken  wir  auch  schon  in  der  Bildung  der  So- 
kratisch-Platonischen  Zeit,  einer  Zeit  des  Verderbens  des  griechischen 
Lebens,  als  den  Platonischen  Gegensatz  von  Meinung  (oö^a)  und  Wissen- 
schaft (sTüLO'CYJjj.Yj).  Es  ist  derselbe  Gegensatz,  den  wir  in  der  Zeit  des 
Untergangs  des  römischen  öffentlichen  und  pohtischen  Lebens  unter  35 
Augustus  und  in  der  Folge  sehen,  wo  Epikureismus  und  Gleichgültigkeit 
gegen  die  Philosophie  sich  breit  machten;  in  welchem  Sinne  Pilatus, 
als  Christus  sagte:  „Ich  bin  gekommen  in  die  Welt,  die  Wahrheit  zu 
verkünden",  erwiderte:  „Was  ist  Wahrheit?"  Das  ist  vornehm  ge- 
sprochen und  heißt  so  viel:  „Diese  Bestimmung  Wahrheit  ist  ein  Ab-   40 


Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie.  231 

gemachtes,  mit  dem  wir  fertig  sind ;  wir  sind  weiter,  wir  wissen :  Wahrheit 
zu  erkennen  —  davon  kann  nicht  mehr  die  Rede  sein;  wir  sind  darüber 
hinaus."  Wer  dies  aufstellt,  ist  in  der  Tat  darüber  hinaus.  Wenn 
man  bei  der  Geschichte  der  Philosophie  von  diesem  Standpunkt  aus- 
5  geht,  so  wäre  dies  ihre  ganze  Bedeutung,  nur  Partikularitäten  anderer, 
deren  jeder  eine  andere  hat,  kennen  zu  lernen:  Eigentümlichkeiten,  die 
mir  also  ein  Fremdes  sind,  und  wobei  meine  denkende  Vernunft  nicht 
frei,  nicht  dabei  ist,  die  mir  nur  ein  äußerer,  toter,  historischer  Stoff  sind, 
eine  Masse  in  sich  selbst  eitlen  Inhalts;  und  sich  so  in  Eitlem  befriedigen, 
10   ist  selbst  nur  subjektive  Eitelkeit. 

Dem  unbefangenen  Menschen  wird  die  Wahrheit  immer  ein  großes 

Wort  bleiben  und  das  Herz  schlagen  lassen.  Was  nun  die  Behauptung 

betrifft,  daß  man  die  Wahrheit  nicht  erkennen  könne,  so  kommt  sie  in 

der  Geschichte  der  Philosophie  selbst  vor,  wo  wir  sie  denn  auch  näher 

15   betrachten  werden.     Hier  ist  nur  zu  erwähnen,  daß,  wenn  man  diese 

Voraussetzung  gelten  läßt,  Tvde  zum  Beispiel  Tennemann,  es  nicht  zu 

begreifen  ist,  warum  man  sich  um  die  Philosophie  noch  bekümmert; 

denn  jede  Meinung  behauptet  dann  fälschlich,  die  Wahrheit  zu  haben. 

Ich  berufe  mich  hierbei  vorläufig  auf  das  alte  Vorurteil,  daß  im  Wissen 

20   Wahrheit  sei,  daß  man  aber  vom  Wahren  nur  insofern  wisse  als  man 

nachdenke,  nicht  so  wie  man  gehe  und  stehe:  daß  die  Wahrheit  nicht 

erkannt  werde  im  unmittelbaren  Wahrnehmen  und  Anschauen,  weder 

in   der   äußerlich   sinnlichen   noch   in   der  intellektuellen   Anschauung 

(denn  jede  Anschauung  ist  als  Anschauung  sinnlich),  sondern  nur  durch 

25   die  Mühle  des  Denkens. 

b)  Erweis  der  Nichtigkeit  der  philosophischen 
Erkenntnis  durch  die  Geschichte  der  Philosophie 
selbst. 

Nach  einer  anderen  Seite  hin  hängt  aber  mit  jener  Vorstellung  von 
30   der  Geschichte  der  Philosophie  eine  andere  Folge  zusammen,  die  man, 
wie  man  will,  für  einen  Schaden  oder  Nutzen  ansehen  kann.     Nämlich 
beim  AnbHck  von  so  mannigfaltigen  Meinungen,  von  so  vielerlei  philo- 
sophischen Systemen  gerät  man  in  das  Gedränge,  zu  welchem  man  sich 
halten  solle.     Man  sieht,  über  die  großen  Materien,  zu  denen  sich  der 
35   Mensch  hingezogen  fühlt,  und  deren  Erkenntnis  die  Philosophie  gewähren 
wolle,  haben  sich  die  größten  Geister  geirrt,  weil  sie  von  anderen  wider- 
legt worden  sind.     „Da  dieses  so  großen  Geistern  widerfahren  ist,  wie 
kann  ego  homuncio  da  entscheiden  wollen? "    Diese  Folge,   die  aus  der 
Verschiedenheit  der  philosophischen  Systeme  gezogen  wird,  ist,  wie  man 
40   meint,  der  Schaden  in  der  Sache,  zugleich  aber  ist  sie  auch  ein  subjek- 
tiver Nutzen.    Denn  diese  Verschiedenheit  ist  die  gewöhnliche  Ausrede 


232 Hegel. 

—  für  die,  welche  mit  Kennermiene  sich  das  Ansehen  geben  wollen,  sie 
interessieren  sich  für  die  Philosophie  —  dafür,  daß  sie  bei  diesem  angeb- 
lichen guten  Willen,  ja  bei  zugegebener  Notwendigkeit  der  Bemühung 
um  diese  Wissenschaft,  doch  in  der  Tat  sie  gänzUch  vernachlässigen. 
Aber  diese  Verschiedenheit  der  philosophischen  Systeme  ist  weit  ent-  & 
fernt,  sich  für  eine  bloße  Ausrede  zu  nehmen.  Sie  gilt  vielmehr  für  einen 
ernsthaften,  wahrhaften  Grund  gegen  den  Ernst,  den  das  Philosophieren 
aus  seiner  Beschäftigung  macht,  als  eine  Rechtfertigung,  sich  nicht  mit 
ihr  zu  befassen,  und  als  eine  selbst  unwiderlegbare  Instanz  über  die 
Vergeblichkeit  des  Versuchs,  die  philosophische  Erkenntnis  der  Wahrheit  lo 
erreichen  zu  wollen.  Wenn  aber  auch  zugegeben  wird,  .,die  Philosophie 
solle  eine  wirkliche  Wissenschaft  sein,  und  eine  Philosophie  werde  wohl 
die  wahre  sein:  so  entstehe  die  Frage,  aber  welche?  Woran  soll  man  sie 
erkennen?  Jede  versichere,  sie  sei  die  wahre:  jede  selbst  gebe  andere 
Zeichen  und  Kriterien  an,  woran  man  die  Wahrheit  erkennen  solle;  ein  i5 
nüchternes,  besonnenes  Denken  müsse  daher  Anstand  nehmen  sich  zu 
entscheiden  ". 

Dies  ist  das  weitere  Interesse,  welches  die  Geschichte  der  Philosophie 
leisten  soll.  Cicero  (De  natura  deorum,  I,  8  fi.)  gibt  eine  in  solcher  Ab- 
sicht verfaßte,  höchst  schludrige  Geschichte  der  philosophischen  Gedanken  20 
über  Gott.  Er  legt  sie  einem  Epikureer  in  den  Mund,  wußte  aber  nichts 
besseres  darauf  zu  sagen;  es  ist  also  seine  Ansicht.  Der  Epikureer  sagt, 
man  sei  zu  keinem  bestimmten  Begriff  gekommen.  Der  Erweis,  daß  das 
Bestreben  der  Philosophie  nichtig  sei,  wird  sogleich  aus  der  allgemeinen 
oberflächhchen  Ansicht  der  Geschichte  der  Philosophie  geführt:  der  Er-  25 
folg  der  Geschichte  zeige  sich  als  eine  Entstehung  der  mannigfaltigsten 
Gedanken  der  vielfachen  Philosophien,  die  einander  entgegengesetzt 
sind,  sich  widersprechen  und  widerlegen.  Dies  Faktum,  welches  nicht 
zu  leugnen  ist,  scheint  die  Berechtigung,  ja  die  Aufforderung  zu  enthalten, 
die  Worte  Christi  auch  auf  die  Philosophien  anzuwenden  und  zu  sagen:  30 
„  Laßt  die  Toten  ihre  Toten  begraben,  und  folge  mir  nach. "  Das  Ganze 
der  Geschichte  der  Philosophie  wäre  hienach  ein  Schlachtfeld,  nur  be- 
deckt mit  den  Gebeinen  der  Toten  —  ein  Reich  nicht  nur  verstorbener, 
leiblich  vergangener  Individuen,  sondern  widerlegter,  geistig  vergangener 
Systeme,  deren  jedes  das  andere  tot  gemacht,  begraben  hat.  Statt  35 
„Folge  mir  nach"  müßte  es  freilich  in  diesem  Sinne  vielmehr  heißen: 
„Folge  dir  selbst  nach",  das  heißt  halte  dich  an  deine  eigene  Über- 
zeugung, bleibe  bei  deiner  eigenen  Meinung  stehen.  Warum  bei  einer 
fremden? 

Es  geschieht  freilich,  daß  eine  neue  Philosophie  auftritt,  welche  be-   40 
hauptet,  daß  die  anderen  nichts  gelten;  und  zwar  tritt  jede  Philosophie 


Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie.  233 

mit  der  Prätention  auf,  daß  durch  sie  die  vorhergehenden  Philosophien 
nicht  nur  \\iderlegt,  sondern  ihrem  Mangel  abgeholfen  und  das  Eechte 
gefunden  sei.  Aber  der  früheren  Erfahrung  gemäß  zeigt  sich  vielmehr, 
daß  auf  solche  Philosophie  gleichfalls  andere  Worte  der  Schrift  anwendbar 
5  sind,  die  der  Apostel  Petrus  zu  Ananias  spricht:  ,, Siehe,  die  Füße  derer, 
die  dich  hinaustragen  werden,  stehen  schon  vor  der  Tür."  Siehe,  die 
Philosophie,  wodurch  die  deinige  widerlegt  und  verdrängt  werden  w4rd, 
wird  nicht  lange  ausbleiben,  so  wenig  als  sie  bei  jeder  anderen  ausge- 
bheben ist. 

10  c)  Erklärungen  über  die  Verschiedenheit  der 
Philosophien. 

Es  ist  allerdings  eine  genug  gegründete  Tatsache,  daß  es  verschiedene 
Philosophien  gibt  und  gegeben  hat ;  die  Wahrheit  aber  ist  e  i  n  e  ,  dieses 
unüberwindliche  Gefühl  oder  Glauben  hat  der  Instinkt  der  Vernunft. 

15  „Also  kann  auch  nur  eine  Philosophie  die  wahre  sein,  und  weil  sie  so 
verschieden  sind ,  so  müssen "  —  schheßt  man  —  ,,  die  übrigen  nur 
Irrtümer  sein;  aber  jene  Eine  zu  sein,  versichert,  begründet,  beweist 
eine  jede  von  sich."  Dies  ist  ein  gewöhnliches  Räsonement  und  eine 
richtig  scheinende  Einsicht    des    nüchternen  Denkens.     Was  nun  die 

20  Nüchternheit  des  Denkens,  dieses  Schlagwort,  betrifft :  so  wissen  wir  von 
der  Nüchternheit  aus  der  täglichen  Erfahrung,  daß,  wenn  wir  nüchtern 
sind,  wir  uns  zugleich  damit  oder  gleich  darauf  hungrig  fühlen.  Jenes 
nüchterne  Denken  aber  hat  das  Talent  und  Geschick,  aus  seiner  Nüchtern- 
heit nicht  zum  Hunger,  zum  Verlangen  überzugehen,  sondern  in  sich 

25  satt  zu  sein  und  zu  bleiben.  Damit  verrät  sich  dieses  Denken,  das  jene 
tote  Sprache  spricht,  daß  es  toter  Verstand  ist;  denn  nur  das  Tote  ist 
nüchtern  und  ist  und  bleibt  dabei  zugleich  satt.  Die  physische  Lebendig- 
keit aber,  wie  die  Lebendigkeit  des  Geistes,  bleibt  in  der  Nüchternheit 
nicht  befriedigt,  sondern  ist  Trieb,  geht  über  in  den  Hunger  und  Durst 

30  nach  Wahrheit,  nach  Erkenntnis  derselben,  dringt  nach  Befriedigung 
dieses  Triebes  und  läßt  sich  nicht  mit  solchen  Reflexionen,  wie  jene  ist, 
abspeisen  und  ersättigen. 

Was  aber  näheres  über  diese  Reflexion  zu  sagen  ist,  wäre  zunächst 
schon  dies,  daß  so  verschieden  die  Philosophien  wären,  sie  doch  dies 

35  Gemeinschaftliche  hätten,  Philosophie  zu  sein.  Wer  also  irgend  eine 
Philosophie  studierte  oder  inne  hätte,  wenn  es  anders  eine  Philosophie 
ist,  hätte  damit  doch  Philosophie  inne.  Jenes  Ausreden  und  Räsonement, 
das  sich  an  die  bloße  Verschiedenheit  festhält,  und  aus  Ekel  oder  Bangig- 
keit vor  der  Besonderheit,  in  der  ein  Allgemeines  wirklich  ist,  nicht  diese 

40  Allgemeinheit  ergreifen  oder  anerkennen  will,  habe  ich  anderswo  mit 
einem  Kranken  verglichen,  dem  der  Arzt  Obst  zu  essen  anrät  und  dem 


234 Hegel. 

man  Kirschen  oder  Pflaumen  oder  Trauben  vorsetzt,  der  aber  in  einer 
Pedanterie  des  Verstandes  nicht  zugreift,  weil  keine  dieser  Früchte 
Obst  sei,  sondern  die  eine  Kirschen,  die  andere  Pflaumen  oder  Trauben. 

Aber  es  kommt  wesentlich  darauf  an,  noch  eine  tiefere  Einsicht 
darein  zu  haben,  was  es  mit  dieser  Verschiedenheit  der  philosophischen  5 
Systeme  für  eine  Bewandtnis  habe.  Die  philosophische  Erkenntnis 
dessen,  was  Wahrheit  und  Philosophie  ist,  läßt  diese  Verschiedenheit 
selbst  als  solche  noch  in  einem  ganz  anderen  Sinne  erkennen  als  nach  dem 
abstrakten  Gegensatz  von  Wahrheit  und  Irrtum.  Die  Erläuterung 
hierüber  wird  uns  die  Bedeutung  der  ganzen  Geschichte  der  Philosophie  lo 
aufschheßen.  Wir  müssen  dies  begreifhch  machen,  daß  diese  Mannig- 
faltigkeit der  vielen  Philosophien  nicht  nur  der  Philosophie  selbst  — 
der  Möglichkeit  der  Philosophie  —  keinen  Eintrag  tut :  sondern  daß  solche 
Mannigfaltigkeit  zur  Existenz  der  Wissenschaft  der  Philosophie  schlechter- 
dings notwendig  ist  und  gewesen  ist,  daß  sie  ihr  wesentlich  ist.  i5 

Bei  dieser  Betrachtung  gehen  wir  freiHch  davon  aus,  daß  die  Philo- 
sophie das  Ziel  habe,  die  Wahrheit  denkend,  begreifend  zu  erfassen,  nicht, 
dies  zu  erkennen,  daß  nichts  zu  erkennen  sei,  sondern  nur  eine  zeit- 
liche, endliche  Wahrheit  (das  heißt  eine  Wahrheit,  die  zugleich  auch  ein 
Nichtwahres  ist):  ferner,  daß  wir  es  in  der  Geschichte  der  Philosophie  20 
mit  der  Philosophie  selbst  zu  tun  haben.  Die  Taten  der  Geschichte 
der  Philosophie  sind  keine  Abenteuer,  so  wenig  als  die  Weltgeschichte 
nur  romantisch  ist;  sie  sind  nicht  nur  eine  Sammlung  von  zufälligen 
Begebenheiten,  Fahrten  irrender  Kitter,  die  sich  für  sich  herumschlagen, 
absichtslos  abmühen,  und  deren  Wirksamkeit  spurlos  verschwunden  25 
ist.  Ebensowenig  hat  sich  hier  einer  etwas  ausgeklügelt,  dort  ein  anderer 
nach  Willkür;  sondern  in  der  Bewegung  des  denkenden  Geistes  ist 
wesenthch  Zusammenhang,  und  es  geht  darin  vernünftig  zu.  Mit  diesem 
Glauben  an  den  Weltgeist  müssen  wir  an  die  Geschichte  und  insbesondere 
an  die  Geschichte  der  Philosophie  gehen.  so 


Was  vernünftig  ist,    das  ist  wirklich;    und  was  wirklich   ist,    das 

ist  vernünftig. 

In  dieser  Überzeugung  steht  jedes  unbefangene  Bewußtsein,  wie 
die  Philosophie,  und  hiervon  geht  diese  ebenso  in  Betrachtung  des 
geistigen  Universums  aus  als  des  natürlichen.  Wenn  die 
Reflexion,  das  Gefühl  oder  welche  Gestalt  das  subjektive  Bewußtsein 
habe,  die  G  e  g  e  n  w  a  r  t    für  ein  E  i  1 1  e  s    ansieht,  über  sie  hinaus   35 


Vom  Begriff  der  Geschichte  der  Philosophie.  235 


ist  und  es  besser  weiß,  so  befindet  es  sich  im  Eitlen,  und  weil  es  Wirk- 
lichkeit nur  in  der  Gegenwart  hat,  ist  es  so  selbst  nur  Eitelkeit.  Wenn 
umgekehrt  die  Idee  für  das  gilt,  was  nur  so  eine  Idee,  eine  Vorstellung 
in  einem  Meinen  ist,  so  gewährt  hingegen  die  Philosophie  die  Einsicht, 
ö  daß  nichts  wirklich  ist  als  die  Idee.  Darauf  kommt  es  dann  an,  in  dem 
Scheine  des  Zeithchen  und  Vorübergehenden  die  Substanz,  die  immanent, 
und  das  Ewige,  das  gegenwärtig  ist,  zu  erkennen.  Denn  das  Vernünftige, 
was  synonym  ist  mit  der  Idee,  indem  es  in  seiner  Wirklichkeit  zugleich 
in  die  äußere  Existenz  tritt,  tritt  in  einem  unendlichen  Reichtum  von 

10  Formen,  Erscheinungen  und  Gestaltungen  hervor,  und  umzieht  seinen 
Kern  mit  der  bunten  Rinde,  in  welcher  das  Bewußtsein  zunächst  haust, 
welche  der  Begriff  erst  durchdringt,  um  den  inneren  Puls  zu  finden  und 
ihn  ebenso  in  den  äußeren  Gestaltungen  noch  schlagend  zu  fühlen. 
Die  unendlich  mannigfaltigen  Verhältnisse  aber,  die  sich  in  dieser  Äußer- 

15  lichkeit,  durch  das  Scheinen  des  W^esens  in  sie,  bilden,  dieses  unendHche 
Material  und  seine  Regulierung,  ist  nicht  Gegenstand  der  Philosophie. 
Sie  mischte  sich  damit  in  Dinge,  die  sie  nicht  angehen ;  guten  Rat  darüber 
zu  erteilen  kann  sie  sich  ersparen;  Plato  konnte  es  unterlassen,  den 
Ammen  anzuempfehlen,  mit  den  Kindern  nie  stillezustehen,  sie  immer 

20  auf  den  Armen  zu  schaukeln,  ebenso  Fichte  die  Vervollkommnung  der 
PaßpoHzei  bis  dahin,  wie  man  es  nannte,  zu  konstruieren,  daß 
von  den  Verdächtigen  nicht  nur  das  Signalement  in  den  Paß  gesetzt, 
sondern  das  Porträt  darin  gemalt  werden  solle.  In  dergleichen  Aus- 
führungen ist  von  Philosophie  keine  Spur  mehr  zu  sehen,  und  sie  kann 

25  dergleichen  Ultra  Weisheit  umsomehr  lassen,  als  sie  über  diese  unendHche 
Menge  von  Gegenständen  gerade  am  liberalsten  sich  zeigen  soll.  Damit 
wird  die  Wissenschaft  auch  von  dem  Hasse,  den  die  Eitelkeit  des  Besser- 
wissens auf  eine  Menge  von  Umständen  und  Institutionen  wirft  —  ein 
Haß ,   in  welchem  sich   die  Kleinlichkeit   am  meisten  gefällt ,    weil  sie 

30  nur  dadurch  zu  einem  Selbstgefühl  kommt  — ,  sich  am  entferntesten 
zeigen. 

So  soll  denn  diese  Abhandlung,  insofern  sie  die  Staatswissenschaft 
enthält,  nichts  anderes  sein  als  der  Versuch,  den  Staat  als  ein 
in    sich    Vernünftiges    zu    begreifen    und    darzustellen. 

35  Als  philosophische  Schrift  muß  sie  am  entferntesten  davon  sein,  einen 
Staat  wie  er  sein  soll  konstruieren  zu  sollen;  die  Belehrung, 
die  in  ihr  liegen  kann,  kann  nicht  darauf  gehen,  den  Staat  zu  be- 
lehren wie  er  sein  soll,  sondern  vielmehr  wie  er,  das  sittliche  Universum, 
erkannt  werden  soll. 

40  'ISoo  Tö5o^,  t§o'j  y.al  tö  rrjOYj»i,a. 

Hie  Bhodus,  hie  saltus. 


10 


236 Hegel. 

Das,  was  ist,  zu  begreifen  ist  die  Aufgabe  der  Pliilosopliie,  denn 
das,  was  ist,  ist  die  Vernunft.  Was  das  Individuum  betrifft,  so  ist 
ohnehin  jedes  ein  Sohn  seiner  Z  e  i  t;  so  ist  auch  die  Philo- 
sophie ihre  Zeit  in  Gedanken  erfaßt.  Es  ist  ebenso  töricht 
zu  wähnen,  irgend  eine  Philosophie  gehe  über  ihre  gegenwärtige  Welt 
hinaus  als:  ein  Individuum  überspringe  seine  Zeit,  springe  über  Rhodus 
hinaus.  Geht  seine  Theorie  in  der  Tat  darüber  hinaus,  baut  er  sich  eine 
Welt  wie  sie  sein  soll,  so  existiert  sie  wohl,  aber  nur  in  seinem 
Meinen  —  einem  weichen  Elemente,  dem  sich  alles  Beliebige  einbilden 
läßt. 

Mit  weniger  Veränderung  würde  jene  Redensart  lauten: 

Hier  ist  die   Rose,   hier  tanze. 

Was  zwischen  der  Vernunft  als  selbstbewußtem  Geiste  und  der  Ver- 
nunft als  vorhandener  Wirklichkeit  liegt,  was  jene  Vernunft  von  dieser 
scheidet  und  in  ihr  nicht  die  Befriedigung  finden  läßt,  ist  die  Fessel  15 
irgend  eines  Abstraktums,  das  nicht  zum  Begriffe  befreit  ist.  Die  Ver- 
nunft als  die  Rose  im  Kreuze  der  Gegenwart  zu  erkennen  und  damit 
dieser  sich  zu  erfreuen,  diese  vernünftige  Einsicht  ist  die  Versöhnung 
mit  der  Wirklichkeit,  v/elche  die  Philosophie  denen  gewährt,  an  die  ein- 
mal die  innere  Anforderung  ergangen  ist,  zu  begreifen,  und  in  dem,  20 
was  substantiell  ist,  ebenso  die  subjektive  Freiheit  zu  erhalten,  sowie 
mit  der  subjektiven  Freiheit  nicht  in  einem  Besonderen  und  Zufälligen, 
sondern  in  dem,  was  an  und  für  sich  ist,  zu  stehen. 

Dies  ist  es  auch,  was  den  konkreten  Sinn  dessen  ausmacht,  was  oben 
abstrakter  als  Einheit  der  Form  und  des  Inhalts  be-  25 
zeichnet  worden  ist,  denn  die  Form  in  ihrer  konkretesten  Bedeutung 
ist  die  Vernunft  als  begreifendes  Erkennen,  und  der  Inhalt  die  Ver- 
nunft als  das  substantielle  Wesen  der  sittlichen  wie  der  natürlichen 
WirkHchkeit;  die  bewußte  Identität  von  beidem  ist  die  philosophische 
Idee.  —  Es  ist  ein  großer  Eigensinn,  der  Eigensinn,  der  dem  Menschen  30 
Ehre  macht,  nichts  in  der  Gesinnung  anerkennen  zu  wollen,  was  nicht 
durch  den  Gedanken  gerechtfertigt  ist,  —  und  dieser  Eigensinn  ist  das 
Charakteristische  der  neueren  Zeit,  ohnehin  das  eigentümliche  Prinzip 
des  Protestantismus.  Was  Luther  als  Glauben  im  Gefühl  und  im  Zeugnis 
des  Geistes  begonnen,  es  ist  dasselbe,  was  der  weiterhin  gereifte  Geist  35 
im  Begriffe  zu  fassen  und  so  in  der  Gegenwart  sich  zu  befreien  und  da- 
durch in  ihr  sich  zu  finden  bestrebt  ist.  Wie  es  ein  berühmtes  Wort 
geworden  ist,  daß  eine  halbe  Philosophie  von  Gott  abführe  —  und  es 
ist  dieselbe  Halbheit,  die  das  Erkennen  in  eine  Annäherung  zur 
Wahrheit  setzt  — ,  die  wahre  Philosophie  aber  zu  Gott  führe,  so  ist  es  40 


Erläuterungen.  237 


dasselbe  mit  dem  Staate.  So  wie  die  Vernunft  sich  nicht  mit  der  An- 
näherung, als  welche  weder  kalt  noch  warm  ist  und  darum  ausgespieen 
wird,  begnügt,  ebensowenig  begnügt  sie  sich  mit  der  kalten  Verzweiflung, 
die  zugibt,  daß  es  in  dieser  Zeitlichkeit  wohl  schlecht  oder  höchstens 

5  mittelmäßig  zugehe,  aber  eben  in  ihr  nichts  Besseres  zu  haben  und  nur 
darum  Frieden  mit  der  Wirkhchkeit  zu  halten  sei;  es  ist  ein  wärmerer 
Friede  mit  ihr,  den  die  Erkenntnis  verschafft. 

Um  noch  über  das  Belehren,  wie  die  Welt  sein  soll,  ein  Wort 
zu  sagen,  so  kommt  dazu  ohnehin  die  Philosophie  immer  zu  spät.    Als 

10  der  Gedanke  der  Welt  erscheint  sie  erst  in  der  Zeit,  nachdem  die 
Wirklichkeit  ihren  Bildungsprozeß  vollendet  und  sich  fertig  gemacht 
hat.  Dies,  was  der  Begriff  lehrt,  zeigt  notwendig  ebenso  die  Geschichte, 
daß  erst  in  der  Reife  der  Wirklichkeit  das  Ideale  dem  Realen  gegenüber 
erscheint  und  jenes  sich  dieselbe  Welt,    in  ihrer  Substanz  erfaßt,  in 

15  Gestalt  eines  intellektuellen  Reichs  erbaut.  Wenn  die  Pliilosophie 
ihr  Grau  in  Grau  malt,  dann  ist  eine  Gestalt  des  Lebens  alt  geworden, 
und  mit  Grau  in  Grau  läßt  sie  sich  nicht  verjüngen,  sondern  nur  erkennen; 
die  Eule  der  Minerva  beginnt  erst  mit  der  einbrechenden  Dämmerung 
ihren  Flug. 

Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegels  (1770 — 1S31)  gewaltiges  System  hat 
in  den  Teilen,  die  den  Geisteswissenschaften  ge^^idmet  sind,  iinvergängUche 
Wirkungen  geübt.  Namentlich  auch  auf  die  Fortbildung  der  Philosophie- 
geschichte und  der  Rechtswissenschaft  hat  H.  großen  Einfluß  gehabt.  Wir 
geben  daher  eine  Stelle  aus  dem  Anfang  der  „Vorlesungen  über  die  Geschichte 
der  Philosophie"  (Sämtliche  Werke,  Bd.  XIII,  2,  Auflage  1840)  und  eine 
andere  Stelle  aus  der  Vorrede  zu  den  „Grundlinien  der  Philosophie  des  Rechts" 
(S,  W.  VIII).  Nur  das  zweite  Stück  ist  von  H.  selbst  (und  zwar  im  Jalu-e  1820) 
geschrieben,  das  erste  ist  nach  mehreren  Heften  von  einem  Anhänger  H.s 
redigiert,  zweifellos  aber  bis  in  den  wörtlichen  Ausdruck  hinein  zuverlässig.  — 
Wer  sich  in  Hegels  Philosophie  hineinlesen  will,  greift  immer  noch  mit  Nutzen 
zu  den  Auszügen,  die  Frantz  und  Hillert  (H.s  Philosophie,  1843)  und  Schasler 
(H.,  1870,  2.  Auflage  1873)  aus  den  Werken  veranstaltet  haben.  Eine  Ver- 
deutlichung, die  bis  ins  einzelne  H.s  eigener  Darstellung  folgt,  bietet  Kuno 
Fischers  Geschichte  der  neueren  Philosophie  im  achten  Bande;  die  großen 
Züge  sind  klar  herausgestellt  in  Windel bands  Geschichte  der  neueren  Philo- 
sophie. 

230 16  f.  Während  H.  bei  dem  ersten  Standpunkt  (230 1  ff.)  wohl  an  ältere 
Theologen  und  Philosophen  denkt,  hat  er  hier  sicher  die  von  ihm  mehrfach 
bekämpften  Philosophen  Friedr.  Heinr.  Jacobi  und  Fries  vor  Augen.  Über 
diese  unterrichtet  jedes  Lehrbuch  der  Philosophiegeschichte  den  Leser. 

231  14.  Der  Skeptizismus  ist  gemeint,  der  seit  dem  Altertum  alle  Phasen  der 
geschichtlichen  Entwicklung  begleitet  hat. 


238  Hegel. 

231  IC.  W.  G.  Tennemann,  Geschichte  der  Philosophie ,  II  Bde.,  1798 
bis  1819. 

231  23.  Intellektuelle  Anschauung  ist  nach  Fichte  eine  Fähigkeit,  die  jeder 
in  sich  zu  finden  vermag,  die  ihm  aber  nicht  begrifflich  erklärt  oder  bewiesen 
werden  kann.  Sie  besteht  in  dem  unmittelbaren  Bewußtsein,  daß  ich  handle, 
und  dessen,  was  ich  handle.  Die  „Zweite  Einleitung  in  die  Wissenschafts- 
lehre" sagt  darüber:  ,.Ich  kann  keinen  Schritt  tun,  weder  Hand  noch  Fuß 
bewegen,  ohne  die  intellektuelle  Anschauung  meines  Selbstbewußtseins  in 
diesen  Handlungen;  nur  durch  diese  Anschauung  weiß  ich,  daß  ich  es  tue, 
nur  durch  diese  unterscheide  ich  mein  Handeln  und  in  demselben  mich  von 
dem  vorgefundenen  Objekte  des  Handelns."  Darüber  hinaus  bedeutet  aber 
intellektuelles  Anschauen  noch  etwas  anderes,  nämhch  die  philosophische 
Tätigkeit,  das  Ich  zum  Gegenstand  des  Denkens  zu  machen.  Dadurch  er- 
kenne ich  mich  als  den  selbsttätigen  Urheber  meiner  Vorstellungen,  als  eine 
(von  Hume  geleugnete)  Krafttätigkeit,  als  schöpferisches  Subjekt;  dadurch 
„entsteht  mir  das  ganz  fremdartige  Ingrediens  der  reellen  Wirksamkeit  meines 
Selbst  in  einem  Bewußtsein,  das  außerdem  nur  das  Bewußtsein  einer  Folge 
meiner  Vorstellungen  sein  würde". 

232  31.  Ungenau  zitiert  aus  Ev.  Luc.  9,  59.  Auch  das  233  5  gegebene 
Zitat  aus  der  Apostelgeschichte  5,  ;>  ist  ungenau. 

233  40.    Enzyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften,  Einleitung  §  13. 
Verbindende   Erörterung. 

Was  am  Schluß  des  ersten  der  beiden  Lesestücke  nur  angedeutet  ist  und 
von  H.  im  weiteren  Verlauf  seiner  Vorlesungen  ausgeführt  wird,  muß  hier 
mitgeteilt  werden,  um  das  Verständnis  des  zweiten  Stücks  zu  erleichtern.  — 
Die  so  lebendig  geschilderte  Verschiedenheit  der  Systeme  erklärt 
H.  daraus,  daß  jedes  von  ihnen  ein  Spiegelbild  des  jeweihgen  Kulturzustandes 
ist:  eine  Auffassung,  die  seitdem  wissenschaftUches  Gemeingut  geworden  ist 
(vergleiche  236  4).  Die  Gemeinsamkeit  der  Systeme  liegt  darin, 
daß  sie  alle  Philosophie  sind.  Keins  von  ihnen  ist  völlig  unwahr,  denn  es 
enthält  ein  Moment  der  weltgeschichtlich  sich  entwickelnden  Wahrheit,  wenn 
auch  auf  untergeordneter  Stufe.  Der  Fehler  liegt  ledighch  darin,  diese  relative 
Wahrheit  für  die  absolute  zu  halten,  den  Teil  für  das  Ganze  zu  erklären.  Ein 
abschließendes  System  kann  nur  dasjenige  sein,  das  die  sämtlichen  vorher- 
gehenden Richtungen  zu  einer  höheren  Einheit  zusammengefaßt  in  sich  ent- 
hält. H.  glaubt,  daß  seine  Philosophie  die  zu  jener  Zeit  möghche  Vollendung 
bedeute,  weil  sie  die  gesonderten  und  sich  widersprechenden  Anschauungen 
der  Vergangenheit  als  Glieder  einer  Entwicklung  in  sich  aufgenommen  hat, 
etwa  so  wie  der  reife  Mann  die  getrennten  und  oft  gegeneinander  gerichteten 
Wesensbestimmungen  seiner  Kinder-  und  Jünglings  jähre  in  sich  bewahrt 
(als  „aufgehobene  Momente").  Erst  durch  diesen  Gedanken  der  Entwicklung 
gelangt  die  Philosophie  über  den  „abstrakten  Gegensatz  von  Wahrheit  und 
Irrtum"  (234  9)  hinaus  zur  „Lebendigkeit  des  Geistes"  (233  28).  Die  vielen 
geschichtlichen  Philosophien  sind  Entwicklungsstufen  in  der  Entfaltung  der 
Wahrheit:  jede  hat  an  ihrem  Platze  —  aber  nur  dort  —  ihr  gutes  Recht.    Es 


Erläuterungen.  239 


bleibt  im  Grunde  bei  dem,  was  schon  Kant  gelehrt  hat:  „Die  Systeme  scheinen 
.  .  .  aus  dem  bloßen  Zusammenfluß  von  aufgesammelten  Begriffen,  anfangs 
verstümmelt,  mit  der  Zeit  vollständig  gebildet  worden  zu  sein,  ob  sie  gleich  alle 
insgesamt  ihr  Schema,  als  den  ursprünglichen  Keim,  in  der  sich  bloß  auswickeln- 
den Vernunft  hatten,  und  darum  nicht  allein  ein  jedes  für  sich  nach  einer 
Idee  gegliedert,  sondern  noch  dazu  alle  untereinander  in  einem 
System  menschlicher  Erkenntnis  wiederum  als  Glie- 
der eines  Ganzen  zweckmäßig  vereinigt  sind  und  eine 
Architektonik  alles  menschlichen  Wissens  erlauben  ..."  (Kritik  der  reinen 
Vernunft,  Architektonik,  in  der  Ausgabe  der  Reclamschen  Universalbibliothek 
S.  630.) 

Die  ganze  geschichtliche  Entwicklung  der  Philosophie  ist  demnach  als  ver- 
nünftig und  zweckvoll  zu  begreifen.  Aus  ihrer  Betrachtung  ergibt  sich, 
daß  ein  vernünftiger  und  notwendiger  Gang  vorUegt,  sofern  man  nur  die  Vor- 
aussetzung mitbringt,  daß  in  der  geistig-geschichtlichen  Welt  die  Vernunft 
herrsche.  Es  handelt  sich,  meint  H.,  nicht  um  apriorisches  Konstruieren, 
sondern  es  ist  das  Ergebnis  der  Forschung,  „daß  das  von  der  ewigen  Weisheit 
Bezweckte  wie  auf  dem  Boden  der  Natur,  so  auf  dem  Boden  des  in  der  Welt 
wirkhchen  und  tätigen  Geistes  herausgekommen  ist"  (S.  W.  IX,  18).  „Bei 
allem  insbesondere,  was  wissenschaftlich  sein  soll,  darf  die  Vernunft  nicht 
schlafen  und  muß  Nachdenken  angewandt  werden;  wer  die  Welt  vernünftig 
ansieht,  den  sieht  sie  auch  vernünftig  an:  beides  ist  in  Wechselbestimmung" 
(IX,  14).  „Um  in  der  empirischen  Gestalt  und  Erscheinung,  in  der  die  Philo- 
sophie geschichthch  auftritt,  ihren  Fortgang  als  Entwicklung  der  Idee  zu 
erkennen,  muß  man  freihch  die  Erkenntnis  der  Idee  schon  mitbringen:  so  gut 
als  man  zur  Beurteilung  der  menschlichen  Handlungen  die  Begriffe  von  dem, 
was  recht  und  gehörig  ist,  mitbringen  muß.  Sonst,  wie  vdr  dies  in  so  vielen 
Geschichten  der  Philosophie  sehen,  bietet  sich  dem  ideenlosen  Auge  freilich 
nur  ein  unordentUcher  Haufe  von  Meinungen  dar"  (XIII,  44).  Schließlich 
gelangt  H.  daliin,  den  Fortgang  der  geschichtlich  gewordenen  Systeme  als 
wesenhaft  identisch  mit  der  systematischen  Folge  der  logischen  Kategorien, 
wie  er  sie  aufgestellt  hat,  zu  erklären.  Daß  die  Systeme  von  bleibender 
Geltung  übereinstimmen  sollen  mit  den  notwendigen  Entwicklungsstufen  des 
reinen  Denkens,  ist  augenscheinliche  Übertreibung  eines  an  sich  berechtigten 
Gedankens;  dagegen  kann  man  H.  einräumen,  daß  die  Systeme  in  vielen 
Beziehungen  nicht  nur  aufeinander,  sondern  auseinander  folgen.  Der  Fort- 
gang zum  Höheren  ist  ebenso  sicher  wie  die  Beschränkung  durch  ein  Kräfte- 
spiel von  Handlung  und  Gegenhandlung.  Ferner  sprechen  mit  (als  wichtige 
Bedingungen  für  die  Gestaltung  des  Einzelnen)  die  persönlichen  Eigenschaften 
der  Urheber,  und  anderseits  treten  auch  niancherlei  Irrtümer  auf  als  nicht 
einmal  relativ  berechtigte  Elemente.  Dies  wäre  zur  Ergänzung  und  Berichti- 
gung hinzuzufügen. 

Aus  den  soeben  gegebenen  Zitaten  läßt  sich  der  Satz,  der  an  der  Spitze 
des  zweiten  Stückes  steht,  schon  einigermaßen  verstehen.  H.s  Ab- 
sicht geht  überall  dahin,  die  zunächst  irrationale  und  bunte  Mannigfaltigkeit 


240  Hegel. 

unserer  menschlichen  Erfahrungen  begreiflich  zu  machen,  das  heißt  in  Begriff 
zu  verwandeln  oder  in  Vernunft  umzusetzen.  Das  Denken  muß  dazu  im  stände 
sein;  es  ist  —  der  ihm  richtig  gestellten  Aufgabe  gegenüber  —  unbeschränkt. 
Anderseits  muß  das  Seiende  dafür  angelegt  sein:  es  ist  —  seinem  Wesen  nach  — 
gleichfalls  Vernunft,  denn  etwas  durchaus  anderes  als  Geist  wäre  für  den  mensch- 
lichen Geist  nicht  vorhanden.  Der  Philosoph  vermag  aus  seiner  eigenen  Ver- 
nunft heraus  das  Wesen  der  Dinge  ebensogut  zu  erkennen,  wie  etwa  der  Che- 
miker aus  wenigen  Wassertropfen  die  innere  Beschaffenheit  alles  Wassers 
der  Welt  erkennen  kann.  Und  hat  der  erkennende  Geist  seine  Aufgabe  gelöst, 
dann  hängen  alle  Gegenstände  und  Vorgänge  in  ihm  zusammen  als  Glieder 
«ines  Denkprozesses,  ähnlich  so  wie  alle  vorhandenen  Kegel,  Halbkugeln  und 
Zylinder  als  Glieder  eines  mathematischen  Verhältnisses  verknüpft  waren 
im  Geist  des  Archimedes.  —  Man  darf  nun  aber  die  Behauptung  jenes  be- 
rühmten Satzes  nicht  überspannen.  Ebensowenig  wie  alles  Gedachte  wahr- 
haft vernünftig  ist,  ist  alles  Bestehende  w'ahrhaft  wirklich.  H.  will  nicht 
etwa  die  Druckfehler  rechtfertigen.  Er  nennt  vielmehr  als  Beispiele  objektiver 
Vernunft:  die  astronomischen  Gesetze  und  den  Staat.  Was  so  wahrhaft 
vernünftig  ist  wie  der  Staat,  das  muß  zur  Wirklichkeit  werden,  und  was  so 
wahrhaft  wirklich  ist  wie  der  Staat,  das  beweist  eine  ihm  innewohnende  Ver- 
nünftigkeit. 

23433.  „Von  der  Natur  gibt  man  zu,  daß  die  Philosophie  sie  zu  erkennen 
habe  wie  sie  ist,  daß  der  Stein  der  Weisen  irgendwo,  aber  in  der  Natur  selbst 
verborgen  liege,  daß  sie  in  sich  vernünftig  sei  und  das  Wissen  diese  in  ihr 
gegenwärtige,  wirkliche  Vernunft,  nicht  die  auf  der  Oberfläche  sich  zeigenden 
Gestaltungen  und  Zufälligkeiten,  sondern  ihre  ewige  Harmonie,  aber  als  ihr 
immanentes  Gesetz  und  Wesen  zu  erforschen  und  begreifend  zu  fassen  habe. 
Die  sittliche  Welt  dagegen,  der  Staat,  sie,  die  Vernunft,  wie  sie  sich  im  Elemente 
des  Selbstbewußtseins  verwirklicht,  soll  nicht  des  Glücks  genießen,  daß  es 
die  Vernunft  ist,  welche  in  der  Tat  in  diesem  Elemente  sich  zur  Kraft  und 
Gewalt  gebracht  habe,  darin  behaupte  und  innewohne."  (Rechtsphil.  Vorr. 
S.  7.) 

235  5.    Idee  =  Weltvernunft.     Genaueres  236  29. 

235  3G.  H.  zielt  auf  Piatos  Staat,  bemerkt  jedoch  späterhin,  daß  auch 
dieses  Idealgebilde  „wesentlich  nichts  aufgefaßt  hat  als  die  Natur  der  griechi- 
schen Sittlichkeit". 

235  40.  Aus  einer  Fabel  Äsops.  Meist  wird  übersetzt:  Hie  Ehodus,  hie 
ßalia.  Die  nachher  von  H.  vorgenommene  Veränderung  besteht  darin,  daß 
statt  ''f\  'P6oo(;  xh  ^öoov  (die  Rose)  gesetzt  Avird.  Weiterhin  spielt  H.  vielleicht 
auf  die  Rosenkreuzer  an,  deren  Zeichen  eine  Rose  (Symbol  der  Wissenschaft) 
am  unteren  Ende  eines  Kreuzes  (Symbol  des  Christentums)  war.  Möglicher- 
weise dachte  er  an  Goethes  „Geheimnisse".  Gemeint  ist  jedenfalls  mit 
dem  Gleichnis  die  oben  erläuterte  Beziehung  zwischen  Wirklichkeit  und  Ver- 
nunft. 

236  lü.  Das  Abstrakte  ist  etwas  Niederes  im  Verhältnis  zum  Konkreten. 
Die  Entwicklung  im  logischen  wie  im  philosophiegeschichtlichen  Fortschritt 


Erläuterungen.  241 


erfolgt  dadurch,  daß  von  den  abstraktesten,  leersten,  ärmsten  Bestimmungen 
zu  immer  konkreteren  Begriffen  vorgedrungen  wird.  Das  Konkrete  ist  ein- 
fach und  doch  unterschieden,  das  heißt  in  ihm  ist  Verschiedenes  innig  zu- 
sammen (vergleiche  Leibnizens  Monadenbegriff:  S.  160  die  Anmerkung  zu 
154  35).  Auch  der  Geist  ist  konkret  und  seine  Bestimmungen  sind  Freiheit 
und    Notwendigkeit.     Vergleiche  236  21. 

236  37.  Das  Wort  stammt  von  Francis  Bacon:  Leves  gustus  in  philosophia 
movere  fortasse  ad  atheismum,  sed  pleniores  haustus  ad  religionem  reducere  {De 
augm.  scient.  I,  5). 

237  10.  Wie  in  der  verbindenden  Erörterung  gezeigt  wurde,  ist  jedes  philo- 
sophische System  Erzeugnis  und  Ausdruck  seiner  Zeit.  Daher  kann  es  erst 
dann  auftreten,  wann  diese  Zeit  vollendet  ist.  D  e  s  s  o  i  r. 


Dessoir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.   2.  Aufl.  16 


XVIII. 

Herbart. 


Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trilemma. 

§  125.  Der  Begriff  der  Veränderung  liegt  so  selir  in  der  Mitte 
unseres  gesamten  Vorstellungskreises,  und  es  haben  sicli  von  den 
ältesten  Zeiten  her  an  denselben  so  mancherlei  philosophische  Versuche 
angeknüpft,  daß  es  notwendig  wird,  ihn  unter  den  übrigen  metaphysischen 
Problemen  besonders  hervorzuziehen  und  von  ihm  aus  einen  längeren  5 
Faden  von  Untersuchungen  fortlaufen  zu  lassen.  Gleich  bei  der  Exposition 
dieses  Begriffs  ist  bemerkt  worden,  daß  schon  im  gemeinen  Denken 
sich  ein  Bedürfnis  fühlbar  mache,  zu  den  Veränderungen,  als  Wirkungen, 
Ursachen  zu  suchen;  ein  Bedürfnis,  dessen  Grund  nachzuweisen  gleich 
hier  möglich  wäre,  doch  wird  sich  dazu  am  Ende  dieses  Kapitels  die  10 
bequemere  Stelle  finden.  Für  jetzt  nehmen  wir  die  Meinung,  daß  alle 
Veränderungen  eine  Ursache  und  zwar  eine  äußere  Ursache  haben, 
zuerst  vor  uns,  eben  darum,  weil  dies  die  am  meisten  populäre,  die  ge- 
wohnte Ansicht  ist,  mit  der  jeder  zur  Philosophie  zu  kommen  pflegt. 

Weiterhin  aber  müssen  wir  noch  zwei  andere  Vorstellungsarten  is 
beleuchten;  eine  von  der  Selbstbestimmung  oder  der  sogenannten 
transzendentalen  Freiheit;  die  andere  vom  absoluten  Werden.  Zur 
vorläufigen  Erklärung  dient  folgendes:  Jede  Veränderung  hat  entweder 
eine  Ursache,  oder  sie  hat  keine;  im  ersten  Falle  hat  sie  entweder  eine 
äußere  oder  innere  Ursache.  Veränderung  ohne  Ursache  gibt  absolutes  20 
Werden;  Veränderung  aus  einer  inneren  Ursache  ergibt  Selbstbestim- 
mung; endlich  Veränderung  aus  äußeren  Ursachen  könnte  man  Me- 
chanismus nennen,  im  weitesten  Sinne  des  Worts.  Da  die  Disjunktion 
dieser  drei  Glieder  vollständig  ist;  so  wird  ein  Trilemma  entstehen, 
wenn  man  beweisen  kann,  daß  die  Veränderung  in  keinem  der  drei  25 
Fälle  sich  denken  lasse;  daß  es  also  überhaupt  keine  Veränderung  geben 
könne.  Dieses  Satzes,  über  welchen  zwar  erst  die  Metaphysik  den  wahren 
Aufschluß  leistet,  werden  wir  uns  hier  bedienen,  um  den  Weg  zum  strengen 
und  eigenthchen  Begriff  des  Sein  zu  finden,  welches  über  allem  Werden 
erhaben  ist.  30 


Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trüemma.  243 

§  126.  Um  die  Untersucliung  vorzubereiten,  können  wir  einen 
Blick  auf  die  Frage  werfen,  welche  wir  am  Eingange  der  Gescliiclite 
der  Philosophie  aufgestellt  finden:  Woraus  ist  alles  geworden?  Aus  dem 
Wasser,  antwortete  Thaies;    und  gab  dadurch  zu  erkennen,  daß  er 

5  einen  bestimmten  und  bekannten  Stoö  glaubte  angeben  zu  können, 
als  denjenigen,  aus  dessen  Verwandlung  die  übrigen  Dinge  hervorge- 
gangen seien. 

Nun  liegt  es  allerdings  im  Begriff  der  Veränderung,  daß  eins  aus 
dem  anderen  werde;  und  es  scheint  daraus  zu  folgen,  das  Gewordene, 

.0  welchem  keine  neue  Reahtät,  sondern  nur  eine  neue  Beschaffenheit  zu- 
komme, sei  eigenthch  noch  das  Alte,  nur  in  neuer  Verkleidung.  Allein 
es  ist  ebensowenig  das  Alte  wie  das  Neue.  Denn  wenn  es  seine  frühere 
Beschaffenheit  ebensowohl  ablegen,  als  ohne  die  nachmahge  Beschaffen- 
heit zuvor  bestehen  konnte:    so  sind  beide,  sowohl  die  frühere  als  die 

.5  nachmahge,  ihm  gleich  zufällig,  und  weder  durch  die  eine  noch  durch 
die  andere  kann  beantwortet  werden,  was  es  eigenthch  sei.  Da  wir  es 
nun  nicht  anders  als  durch  die  wechselnden  Gestalten  kennen :  so  bleibt 
es  unbekannt  und  unbestimmt ;  es  ist  Stoff  in  der  eigenthchen 
Bedeutung  des  Worts,  welches  den  Begriff  von  einem  Etwas  bezeichnet, 

>o  das  noch  darauf  warte,  was  aus  ihm  werden  solle.  Vielleicht  war  dies 
der  Sinn,  welchen  Anaxim  ander  mit  dem  aTTStpov  verband :  ein 
Ausdruck,  der  nicht  bloß  das  Unendhche,  der  Größe  nach,  bedeuten 
kann,  sondern  der  auch  das  Unbestimmte,  der  Quahtät  nach, 
bezeichnet. 

)5  §  127.    Dem   Begriff  des   Stoffes   steht  gegenüber  der   Begriff  der 

Kraft.  Wie  weit  die  Vorstellungsart  herrschen  mag,  daß  den  Dingen 
eine  tote  Masse  zum  Grunde  hege,  aus  der  sie  geformt  seien,  ebenso  weit 
verbreitet  muß  auch  die  von  einem  hinzukommenden  Prinzip  sein, 
welches  aufrege,  belebe  und  bilde.    Denn  auf  dieses  Prinzip  hat  der  Stoff 

30  gewartet,  da  er  selbst,  in  seiner  Trägheit,  sich  keine  Gestalt  geben, 
vollends  in  keinen  Wechsel  der  Gestalten  sich  hineinwerfen  konnte. 

Wir  finden  uns  also  hier  bei  dem  Begriffe  der  Kausahtät  und  zwar' 
auf  eine  Weise,  welche  scheint  über  den  Ansichten  des  gemeinen  Lebens 
erhaben  zu  sein.     Denn  es  war  von  einem  wirkenden    Prinzip    die 

35  Rede !  Wo  wir  aber  im  täghchen  Erfahrungskreise  von  Ursachen  reden, 
da  pflegen  dieselben  nicht  Prinzipien,  das  heißt  Anfangspunkte  des 
Wirkens  zu  sein,  sondern  sie  selbst,  diese  Ursachen  sind  zu  ihrer  Wirk- 
samkeit durch  andere  Ursachen  angetrieben  worden.  Es  war  eine  Ver- 
änderung in  ihrem  eigenen  Zustande,  daß  sie  wirkten;   wie  nun  zu  aller 

40  Veränderung  eine  Ursache  hinzugedacht  wird,  so  auch  zu  dieser;  und 
wie  zu  der  Veränderung  des  Zustandes  der  nächsten  Ursache,  so  auch 


244  Herbart. 

bei  der  entfernteren  Ursache;  und  so  rückwärts  fort  ins  Unendliche. 
Allein  hier  entsteht  eine  Ungereimtheit.  Keine  der  Ursachen  wird  ge- 
dacht als  eine  solche,  die  von  selbst  wirke,  jede  nur  als  eine  solche,  die 
da  wirken  würde,  wenn  sie  einen  Anstoß  bekäme.  Die  ganze, 
wenngleich  unendHche  Reihe  ist  daher  in  Ruhe,  es  geht  aus  ihr  keine  s 
Wirkung  hervor  und  kann  aus  ihr  keine  erklärt  werden.  Und  dennoch 
hatte  man  zum  Behuf e  solcher  Erklärung  die  ganze  Reihe  angenommen. 

Gibt  es  dagegen  ein  wirkendes  Prinzip:  so  fällt  die  obige  Schwierig- 
keit weg.  Bei  diesem  gehört  das  Wirken  zu  seiner  Natur,  und  ist  keines- 
wegs eine  Veränderung  in  ihm,  die  einer  äußeren  Ursache  bedürfte,    lo 

Allein  der  Gewinn  ist  nur  scheinbar.  Bei  dem  wirkenden  Prinzip 
so  gut  als  bei  der  unendHchen  Reihe  muß  ein  Eingreifen  des  Tätigen 
ins  Leidende  gedacht  werden:  dieses  Eingreifen  ist  widersinnig.  Das 
Tätige  geht  dabei  aus  sich  heraus;  das  Leidende  nimmt  etwas  Fremd- 
artiges in  sich  auf;  dabei  geraten  beide  in  Widerspruch  mit  sich  selbst,  is 
—  Das  Tätige  wird  zuvörderst  an  und  für  sich  selbst  irgend  etwas  sein ; 
man  wird  eine  bestimmte  Qualität  als  die  seinige,  als  das,  was  es  ist, 
ansehen  müssen.  Nun  soll  es  aus  sich  herausgehen;  es  soll  eine  Wirkung 
vollziehen  in  einem  anderen  und  Fremden.  Bei  diesem  Wirken  wird 
das  Fremde  vorausgesetzt;  es  ist  ein  Begriff,  der  sich  durch  die  eigene  20 
Quahtät  des  Tätigen  allein  nicht  denken  läßt.  Gleichwohl  soll  auf  die 
Frage,  was  das  Tätige  sei,  geantwortet  werden,  es  sei  ein  Wirkendes; 
denn  ihm  wird  das  Wirken  zugeschrieben.  Hier  entsteht  der  Wider- 
spruch, daß  der  Qualität  des  Wirkenden  das  näm- 
liche beigelegt  und  auch  abgesprochen  wird.  Das  25 
Tätige  erscheint  als  ein  solches,  welches,  um  das  zu  sein,  was  es  ist,  sich 
selbst  nicht  genügt,  welches  eine  fremde,  das  heißt  ihm  nicht  eigene 
Bedingung  als  Eigenschaft  seiner  Natur  in  sich  einschließt; 
und  gerade  von  eben  demselben  Fremden  scheint  es  bedingt,  was  von 
ihm  leiden,  seinem  Einflüsse  unterworfen  sein  soll.  3o 

Nicht  besser  geht  es  dem  Leidenden.  Auch  dieses  soll,  unabhängig 
von  dem  Leiden,  und  selbst  im  Gegensatze  gegen  die  Veränderung, 
die  es  erfährt,  für  sich  selbst  etwas  sein.  Aber  durch  die  Veränderung 
soll  etwas  Neues,  vielleicht  selbst  dem  vorigen  Widerstreitendes,  in  ihm 
werden.  Beide  verschiedenen  Bestimmungen  sollen  dem  Leidenden,  36 
und  zwar  eben  insofern  es  leidet,  was  wider  seine  Natur 
ist,  zusammengenommen  beigelegt  werden.  Auf  die  Frage,  was  es 
sei,  erfolgt  also  eine  vollkommen  widersprechende  Antwort.  Es  ist 
im  Leiden  dasselbe  und  auch  nicht  dasselbe  was 
es    ist.  ^^ 


Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trilemma.  245 

Schon  an  diesem  Orte  nun  ist  es  Zeit,  eine  Erinnerung  beizufügen, 
welche  eigentlich  bei  allem  Nachfolgenden  erneuert  werden  müßte. 
Es  gibt  nämlich  Personen,  welche  in  dem  Augenblick,  wo  sie  das  Un- 
gereimte eines  metaphysischen  Begriffs  erbhcken,  ins  Staunen  geraten 

5  und  sich  dadurch  für  die  wahre  Metaphysik  ganz  und  gar  abstumpfen. 
Sie  glauben  eben  in  der  Ungereimtheit  die  wahre,  hocherhabene  Weis- 
heit zu  erblicken,  und  freuen  sich  ihrer  fortgeschrittenen  Einsicht  umso 
mehr,  je  weiter  aller  Sinn  und  Verstand  von  ihnen  weicht.  Wer  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  noch  nicht  kennt,  wird  sich  nimmermehr  vor- 

10  stellen,  wie  viele  hochberühmte  Denker  der  verschiedensten  Zeiten  von 
solchem  verkehrten  Erstaunen,  bald  über  diesen,  bald  über  jenen  Begriff, 
sind  gefaßt  und  gleichsam  starr  und  blind  gemacht  worden,  so  daß  sie 
über  einen  gelassen  Punkt  nicht  mehr  hinwegkommen  konnten.  —  Einmal 
ergriffen,  wollten  die  meisten  nicht  mehr  geheilt  sein.    Die  aber  deshalb 

15  Philosophie  studieren,  um  einen  so  hartnäckigen  und,  wie  sie  meinen, 
angenehmen  Eausch  sich  zuzuziehen,  —  diese  werden  zwischen  mancherlei 
philosophischen  Systemen  die  Wahl  haben,  denn  es  gibt  auf  dem  Wege 
zur  Metaphysik  der  Ungereimtheiten,  welche  das  Gemüt  verfinstern 
können,  mehrere  und  verschiedene. 

20  Das  Staunen  beiseite  gesetzt,  wird  man  einsehen,  daß  die  Begriffe 
des  Tätigen  und  Leidenden  nicht  denkbar  sind,  daß  sie  also  aus  unserem 
fernen  Nachdenken  weichen  müssen,  falls  sie  nicht  einer  Verbesserung 
fähig  sind,  —  die  noch  nicht  genug  vorbereitet  ist. 

§  128.    Das   erste    Glied   des    aufzustellenden   Trilemma   ist   nach- 

25  gewiesen,  es  folgt  das  zweite,  nämlich  der  Versuch,  die  Veränderung 
auf  Selbstbestimmung  zurückzuführen,  also  eine  innere  Ursache  statt 
der  äußeren  anzunehmen. 

Sogleich  kommt  uns  hier  eine  unendHche  Keihe  entgegen,  ähn- 
Hch  der  im  vorigen  Paragraphen  verworfenen:    Das  Veränderte   soll 

30  sich  selbst  zu  dieser  Veränderung  bestimmen;  es  ist  demnach  zu  betrach- 
ten als  das  Bestimmte  und  auch  als  das  Bestimmend^. 
Jenes  findet  die  Ursache  seiner  Bestimmtheit  in  diesem.  Aber  das  Be- 
stimmende, insofern  es  eine  Tätigkeit  anwenden  mußte,  weil  sonst  die 
Bestimmung  nicht  zu  stände  gekommen,  vielmehr  ein  anderer  Zustand 

35  vorhanden  gewesen  und  geblieben  wäre  —  würde  selbst,  falls  es 
sich  untätig  verhalten  hätte,  in  einem  änderen  Zustande,  als  dem  der 
Tätigkeit,  sich  befunden  haben;  seine  Tätigkeit  ist  daher  schon  eine 
Veränderung  in  ihm,  auch  abgesehen  von  jener  Veränderung,  die 
als  Wirkung    aus  der  Tätigkeit  hervorgeht.     Was  mag  die  Ur- 

40   Sache  sein  von  der  eben  bemerkten  Veränderung,  die  schon  bloß  in  dem 


246  Herbart. 

Tätigsein  liegt?  —  Wir  haben  keine  Wahl  mehr  zwischen  inneren  und 
äußeren  Ursachen;  diese  letzteren  sind  verworfen,  jene  bleiben  allein 
übrig.  Also  der  Aktus  des  Sichselbstbestimmens  hat  selbst  eine  tiefer- 
liegende, innere  Ursache;  die  Selbstbestimmung  ist  selbst  Wirkung 
einer  Selbstbestimmung.  —  Nun  erneuert  sich  die  Frage.  Diese  tiefer-  5 
Hegende  Selbstbestimmung  ist  ebenfalls  ein  Heraustreten  aus  einem 
anderen  Zustande,  der,  ohne  sie,  würde  gewesen  sein,  und 
vor  ihrem  Beginnen  (wenn  wir  anders  die  unnötige  Vorstellung  der 
Zeit  einmengen  wollen)  wirklich  mag  stattgefunden  haben.  Dieses  Heraus- 
treten, wodurch  ist  es  bewirkt  worden?  —  Befänden  wir  uns  schon  bei  lo 
dem  Begriff  des  absoluten  Werden,  so  stünde  hier  (und  schon  bei  der 
vorigen  Frage)  allenfalls  frei  zu  antworten:  Das  Heraustreten  in  dem 
aktiven  Selbstbestimmen  geschieht  absolut.  Allein  wir  suchen 
das  absolute  Werden  möglichst  lange  zu  vermeiden ;  dagegen  den  Begriff 
der  Ursachen  möglichst  lange  festzuhalten.  Wir  antworten  also  noch  is 
einmal:  Die  Ursache  der  Selbstbestimmung  ist  wiederum  eine  Selbst- 
bestimmung. Nun  ist  es  aber  offenbar,  daß  die  nämliche  Frage  uns 
immer  weiter  verfolgen  wird;  daß  die  Eeihe  der  Selbstbestimmungen 
eine  innerliche  Unendlichkeit,  i  n  dem  Sichselbstbestimmenden,  erlangen 
wird;  endlich,  daß  selbst  die  unendliche  Reihe  ganz  untauglich  ist,  20 
indem  sie  aus  lauter  bedingten  GHedern  besteht.  Jede  Selbstbestimmung 
würde  vorgehen,  wenn  eine  andere  vorangegangen  wäre !  Damit 
kommt  keine  einzige  zu  stände   und  wird  keine  Veränderung  erklärt. 

Jene  unbrauchbare  Vorstellungsart  ist  aber  auch  darum  völlig  wider- 
sinnig, weil  sie  ein  und  dasselbe,  das  Sichbestimmende,  eben  in  dem  25 
Aktus  der  Selbstbestimmung,  mit  sich  selbst  entzweit,  durch  den  Gegen- 
satz der  Aktivität  und  Passivität.  —  Dürfte  man  sich  in  irgend  einem 
Sinne  gestatten,  diese  Zweiheit  in  einem  gelten  zu  lassen,  so  würde 
in  dem  nämHchen  Sinne  die  Ungereimtheit  des  vorigen  Paragraphen 
wiederkehren,  indem  nun  das  Bestimmende  aus  sich  heraus-,  in  das  30 
von  ihm  unterschiedene  Bestimmte  hineinginge,  das  Bestimmte  aber 
dieses  Eingreifen  erduldete.  —  Allein  jene  Spaltung  in  zwei  Entgegen- 
gesetzte ist  so  wenig  zulässig,  daß  schon  die  bloße  Zweiheit,  wären 
auch  die  Zwei  nicht  entgegengesetzt,  den  Widerspruch 
des  §  122  herbeibringen  würde.  35 

Es  ist  nicht  überflüssig  zu  bemerken  ,  daß  die  Masse  dieser  Un- 
gereimtheiten noch  wächst,  wenn  die  Selbstbestimmung  in  dem  hier 
erörterten  Sinne,  oder  die  transzendentale  Freiheit,  dem  Willen  endlicher 
Vernunftwesen  beigelegt  wird ;  wie  sehr  gewöhnlich  geschieht ,  weil 
teils  die  absoluten  ästhetischen  Urteile  mit  Selbstbestimmungen  ver-    4o 


Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trilemma.  247 

wechselt  werden,  teils  der  Begrifi  der  Zurechnung  in  einer  Gefahr  ge- 
glaubt Tvdrd,  die  für  ihn  nicht  vorhanden  ist.  —  Es  soll  nämlich  dem 
Willen  die  freie  Wahl  zustehen  zwischen  dem  Guten  und  Bösen;  welches 
insofern  vollkommen  wahr  ist,  als  das  Gute  und  Böse  auf  keine  andere 
5  Weise  an  den  Menschen  kommen  kann,  außer  nur  durch  seinen  eigenen 
Willen,  in  welchem  dasselbe  einzig  und  allein  seinen  Sitz  hat ;  so,  daß 
auch  gerade  so  weit  die  Handlungen  des  Menschen  ihm  zugerechnet 
werden,  als  sie  die  gute  oder  böse  Beschaffenheit  seines  Willens 
ausdrücken.    Nun  aber  sieht  man  den  Willen  an  als  eine  Selbstbestim- 

10  mung  mit  Bewußtsein,  —  woraus,  wenn  nicht  dieser  Selbstbestimmung 
ein  absolutes  Werden  zum  Grunde  gelegt  werden  soll,  sogleich  folgen 
wird  (laut  obiger  Entwicklung),  daß  zu  jedem  Wollen  eine  unendliche 
Eeihe  innerer  Selbstbestimmungen  gehöre,  wovon  das  Selbstbewußt- 
sein ebensowenig  etwas  weiß,  als  diese  Erklärung  des  WoUens  an  sich 

15  brauchbar  sein  würde.  —  Ferner  soll  es  dem  Willen  möglich  sein,  die 
entgegengesetzte  Wahl  von  derjenigen  vorzunehmen,  die  er  wirklich 
vollzieht.  Dies  füllt  das  Maß  der  Widersprüche.  Fragen  wir  jetzt, 
was  das  Wollen  sei?  so  enthält  die  Antwort  nicht  bloß  den  Gegensatz 
des  Bestimmens  und  Bestimmtwerdens,  sondern  auch  noch  die  anderen 

20  Gegensätze  des  wirklichen  Bestimmens  und  des  möglichen  Bestimmens, 
des  wirkhchen  Bestimmtwerdens  und  des  möglichen  Bestimmtwerdens; 
ja  es  wird  das  wirkliche  Wählen  aus  einer  Wirkhchkeit  und  einer  ent- 
gegengesetzten Möglichkeit  zusammengesetzt,  wobei  nicht  bloß  die 
Ungereimtheit  der  Summe,  Wirkliches  plus  Möghchem,  sondern  noch 

25  das,  auch  sonst  häufige,  Unternehmen  zu  bemerken  ist,  eine  Mög- 
üchkeit,  die  als  solche  nicht  real  ist,  unter  die  Prädikate  eines  Realen 
zu  mengen.  —  Eine  solche  Masse  des  Widersinnigen,  wie  dieser  Begriff* 
der  vorgebhchen  Willensfreiheit  sie  in  sich  schließt,  vermag  schon  allein, 
denjenigen,  der  sie  unentwickelt  annimmt,  um  alle  zum  Philosophieren 

30   nötige  Besonnenheit  zu  bringen;  ihm  das  Bewußtsein  dessen,   was  er 

eigenthch  denkt,  völhg  zu  verdunkeln.    —   —   —   — 

§  129.  Das  absolute  Werden  ist  noch  übrig;  eine  zwar  nicht  sehr 
populäre,  aber  desto  mehr  unter  den  Philosophen  aller  Zeiten  verbreitete 
Vorstellungsart,  welche  in  den  Systemen  vielerlei  Formen  und  Aus- 

35  schmückungen  erhalten  hat.  Sie  war  darum  willkommen,  weil  sie  die 
Widersprüche  der  äußeren  und  inneren  Ursachen  vermeidet;  und  sie 
besitzt  wenigstens  den  Vorzug,  einfacher  zu  sein,  und  eben  darum, 
wenn  sie  nur  von  fremdartigen  Zusätzen  reingehalten  wird,  auch  klarer 
als  die  vorhergehenden.  —    —    —    —    —    —    —    —    —    —    —    — 

40  Hier  muß  zuerst  der  Zufall  beseitigt  werden.  Diesen  würde 
das  absolute  Werden  darstellen,  wenn  eine  Veränderung  wie  ohne  Grund, 


248  Herbart. 

so  auch  ohne  Regel  sich  ereignete.  Aber  dann  würde  der  Widerspruch 
zugleich  zu  Tage  liegen.  Was  eine  Zeitlang  sich  ruhig  verhielte,  dann 
sprungweise  die  vorige  Beschaffenheit  mit  einer  neuen  verwechselte, 
das  wäre  offenbar  nicht  mehr  dasselbe  wie  zuvor.  Schon  die  Ruhe  und 
der  Wechsel  würden  in  der  Bestimmung  seiner  Qualität  einander  wider-  5 
streiten.  Nicht  anders,  wenn  es  in  einem  verschiedenartigen  Wechsel 
bald  ein  solches,  bald  ein  anderes  würde.  —  Man  kann  auch  die  Zeit- 
bestimmung weglassen.  Was  ohne  alle  Regel  ein  solches  ist,  während 
es  in  anderem  Zustande  sein  könnte :  auch  dies  stellt  in  seiner  Beschaffen- 
heit den  Zufall  dar.  lo 

Vielmehr  in  einem  festen  und  sich  selbst  gleichen  Begriffe  muß  das 
absolute  Werden  sich  auffassen  lassen,  damit  man  versuchen  könne, 
den  Wechsel  selbst  als  die  Qualität  dessen  anzu- 
sehen, was  ihm  unterworfen  ist.  —  Dazu  gehört  zu- 
vörderst, daß  es  nicht  einmal  sich  ändere,  ein  andermal  beharre;  sondern  iß 
daß  der  Wechsel  beständig  fortgehe,  aus  aller  Vergangenheit 
in  alle  Zukunft,  ohne  Anfang,  ohne  Absatz,  ohne  Ende.  Ferner 
daß  er  mit  gleicher  Geschwindigkeit  kontinuier- 
lich anhalte ;  also  daß  in  gleichen  Zeiten  allemal  ein  gleiches  Quantum 
der  Umwandlung  vollbracht  werde.  EndHch  daß  die  Richtung  der  20 
Veränderung  stets  die  gleiche  sei  und  bleibe;  wodurch  das  Rückwärts- 
und  wieder  Vorwärtsgehen,  das  Wiederholen  früherer  Zustände  gänz- 
lich ausgeschlossen  ist.  — 

Die  erste   Schwierigkeit,  welche  sich  zeigt,  ist  nun  zugleich  diese, 
daß  eine  solche  strenge  Gleichförmigkeit  des  Wechsels  in  der  Natur  der   25 
Dinge   nicht   angetroffen   wird.      Wohl   bezeugt   die   Erfahrung   einen 
Kreislauf  der  Dinge;  aber  auch  diesen  nur  ungefähr  und  nicht  mit  der 
Genauigkeit,   welche   der  obige   Begriff  schlechterdings  fordert. 


30 


In  der  Tat  kann  man  die  Ungleichförmigkeit  des  Wechsels  nur  mit 
Ausflüchten  entschuldigen.  Man  kann  annehmen,  daß  Verschiedenes 
auf  verschiedene  Art  wechsele,  in  verschiedener  Richtung,  Geschwindig- 
keit und  Zeit.  Man  muß  alsdann  hinzusetzen,  es  möge  dieses  Ver- 
schiedene einen  Einfluß,  wenigstens  scheinbar,  aufeinander  ausüben, 
sich  gegenseitig  stören  und  hemmen :  —  wobei  man  aber  schon  auf  irgend 
eine  Weise  in  den  oben  verworfenen  Kausalbegriff  verfällt.  Man  kann  35 
noch  die  Bemerkung  geltend  machen,  der  Wechsel  sei  ohne  Zweifel 
auch  in  unserem  Gemüte  (welches  ja  als  veränderhch  in  seinen  Zuständen 
sich  unmittelbar  im  Bewußtsein  ankündigt);  dadurch  werde  uns,  den 
in  eigener  Umwandlung  Fortgerissenen,  die  klare  Auffassung  des  von  uns 
unabhängig  Wechselnden  getrübt  und  die  Gleichförmigkeit  des  Werdens 


40 


Veränderung  als  Gegenstand  eines  Trilemma.  249 

entziehe  sich,  wennschon  wirklich  vorhanden,  unserer  Kenntnis :  —  Wobei 
nur  der  Fehler  wird  begangen  werden,  daß  von  einer  trüben  Auf- 
fassung die  Kede  ist,  wo  gar  keine  stattfindet,  wenn  durch  kein 
Kausalverhältnis  zwischen  uns  und  dem  Äußeren  Vorstellungen  in  uns 

ö    erzeugt  werden. 

Die  erwähnten  Ausflüchte  treffen  ungefähr  zusammen  mit  den 
Vorstellungsarten  des  H  e  r  a  k  1  i  t  und  Protagoras,  von  denen 
jener,  vielleicht  der  älteste  entschiedene  Verkündiger  des  beständigen 
Flusses  aller  Dinge,  die  Freundschaft  und  Feindschaft  bei  der  Welt- 

10   erklärung  zu  Hilfe  rief;  dieser  den  Menschen  für  das  Maß  aller  Dinge 
erklärte.  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  — 

Im  Vorbeigehen  sei  hier  erwähnt,  daß  der  Begriff  des  absoluten 
Werden  genau  mit  dem  echten  Begriffe  des  Schicksals  (cl^apfisvT])  zu- 
sammentrifft.    Von  allen   Gottheiten  ist  das   Schicksal  scharf  unter- 

15  schieden  und  über  sie  hinausgestellt,  wie  das  absolute  Werden  über 
aller  Kausalität  und  Freiheit  hervorragt,  denen  es,  wenn  man  sie  übrigens 
zulassen  will,  wenigstens  ihre  Reihen  anfangen  muß, 
damit  der  Anfang  nicht  selbst  im  Unendhchen  vergebHch  gesucht 
werde.    Von  einem   gütigen  und  grausamen  Schicksal  kann  deshalb 

20  nicht  die  Eede  sein,  nicht  einmal  von  einem  Zwange,  den  es  ausübe; 
welches  Kausalität  wäre ;  sondern  nur  von  der  vorbestimmten 
Gewißheit  der  Erfolge,  die  keine  Klugheit  noch  Gewalt  abwenden 
könne. 

Abgesehen  nun  von    allen  möglichen  Nebenbestimmungen,    durch 

25  welche  man  versuchen  kann,  diesen  Gedanken  der  Erfahrung  anzupassen, 
ist  der  Begriff  des  absoluten  Werden  in  sich  selbst  widersprechend;  so 
daß  er  in  allen  Gestalten,  worin  bisherige  oder  künftige  Systeme  ihn  er- 
scheinen lassen,  muß  verworfen  werden.  Denn  was  ist  das  Werdende? 
Seine  QuaHtät  soll  im  Werden  selbst  bestehen;  aber  dieser  Begriff  läßt 

30  sich  nicht  anders  denken  als  durch  die  wechselnden  Beschaffenheiten, 
welche  in  der  Umwandlung  durchlaufen  werden.  Man  muß  also  diese 
untereinander  entgegengesetzten  Beschaffenheiten,  welche  in  der  unend* 
liehen  Reihe  des  Wechsels  vorkommen  sollen,  zusammenfassen  und 
sowohl  durch  die  verschwundenen,  welche  als  Vorläufer  zu  der  jetzigen 

35  gehören,  als  durch  die  zukünftigen,  welche  in  der  jetzigen  prädestiniert 
liegen,  die  Qualität  des  Werdenden  bestimmen.  Hierbei  werden  alle 
in  eine  Einheit  konzentriert,  worin  sie  sich  aufheben;  denn  sie  werden 
eigentlich  alle  zugleich  dem  Werdenden  beigelegt.  Will  man  dagegen 
sich  auf  die  Sukzession  berufen,  wodurch  der  Widerspruch  vermieden 

40  w^erde,  indem  jedesmal  von  zweien  entgegengesetzten  die  vorige  weiche, 
ehe  die  folgende  eintrete,  folghch  das  Werdende  in  jedem  Zeitpunkte 


250  Herbart. 

nur  eine  einzige  Qualität  wirklich  besitze:  so  hat  man  sich  den  Begriff 
verdorben,   und   dabei   gar   nichts   gewonnen.     Der  Begriff   erfordert, 
daß  nicht  irgend  eine   unter   den  einzelnen  Beschaffenheiten,  sondern 
das   gesamte   Werden,    welches   sie    alle   durchläuft,  als    Qualität  des 
Werdenden  gelte;   und  dabei  wird  nur  der  Fehler  begangen,  daß  man   5 
an  dem    abstrakten    Gedanken   des   Werdens    sich  fest- 
hält, der  freilich  keinen  Widerspruch  in  sich  enthalten  würde,    wenn 
er    nur    ohne    die    Beziehung  auf    die    mannigfalti- 
s:en,  wechselnden  Beschaffenheiten  überall  Sinn 
und   Bedeutung  hätte.    Wer  nun  lieber  von  der  Höhe  des  ab-    lo 
strakten   Gedankens  herabsteigen,   das  Werdende  in  seinen  einzelnen 
Zuständen  näher  betrachten  und  zusehen  will,  wie  die  nächstfolgende 
Beschaffenheit  aus  der  nächstvorhergehepden  hervortritt;    der  hat  gar 
nichts  mehr,  woran  auch  nur  eine  Täuschung  sich  anlehnen  ließe.    Denn 
nun  soll  die  vorhergehende   sich   selbst   aufheben,    und  über-   is 
dies    ihr    eigenes    Gegenteil    erzeugen.     Das  Werdende  war 
etwas  Bestimmtes;  eben  darum  weil  es  dieses  war,  soll  es  dasselbe  nicht 
mehr  sein,  sondern  das  Gegenteil  werden.    Das  heißt,  A,  weil  es  A  ist, 
soll  nicht  A  sein,  sondern  ein  Gegenteil  von  A  werden!    Ferner  in  dem 
Augenbhcke  des  Überganges  soll  die  eine  Beschaffenheit  aufhören,  die   20 
andere  eintreten.     Läßt  man  jene    ganz    aufhören,  bevor  diese  ein- 
tritt, so  zerreißt  die  Kontinuität  des  Werdens;  ein  Ding  verschwindet, 
ein  völHg  anderes.  Fremdes,  mit  dem  vorigen  nicht  Zusammenhängendes 
entsteht  in  dem  nächsten  Augenbhcke.     Läßt  man,  damit  eins  aus 
dem  anderen  werde,  die  vorige  Beschaffenheit    noch    nicht    ganz   25 
aufhören,  indem  die  andere,  entgegengesetzte  schon  eintritt:  so  faßt 
e  i  n    Zeitpunkt  die  widersprechenden  zusammen ;  er  enthält  Aufhören 
und  Anfangen,  wovon  jenes.   Sein  und  doch  nicht  mehr  Sein,  dieses 
Sein  und  doch  noch  nicht  Sein  bedeutet. 

Diese  letztere,  offenbar  ungereimte  Vorstellungsart  wird  bei  geübten   3o 
Denkern  sich  höchstens  als  Übereilung  einschleichen;    die  erste  tritt 
umso  dreister  auf;  besonders  wenn  noch  hinzugesetzt  wird,  der  gesamte 
Wechsel    sei   nur   Erscheinung   eines   nicht   wechselnden ,    aber 
insofern  auch  nicht  erscheinenden,  Grundes.    Doch  dies  ist  kaum  Ver- 
hüllung, es  ist  Verschhmmerung  des  Widerspruchs.    Besäße  der  Grund,   35 
das  wahrhaft  Seiende  hinter  dem  Werden,  eine  einfache  QuaHtät:  so 
würde  aus  dem  einfachen  Grunde  gar  nichts  weiteres  werden,  er  würde 
sich  selbst  gleich  sein  und  bleiben;  —  am  wenigsten  würde  e  r  e  r- 
scheinen,     welches   eine   Relation   zu   der   Auffassung   dieses   Er- 
scheinens in  sich  schUeßt.     Diese  Auffassung  mag  nun  was  immer  für  40 
einem  auffassenden  Subjekte  zugeschrieben  werden:  so  ist  damit  allein 


Erläuterungen.  251 


schon  ein  doppelter  Widerspruch  zugelassen.  Erstlich  daß  zu  dem- 
jenigen, was  das  Erscheinende  (welches  nicht  bloße  Erscheinung, 
das  heißt  ein  nichtiges  Bild  sein  kann)  selber  ist,  noch  das  Erscheinen 
hinzukommt,  dies  bringt  zweierlei  in  die  Quahtät  desselben  hinein; 
5  womit  der  Widerspruch  des  §  122  herbeigeführt  wird.  Zweitens  daß 
dasselbe  Erscheinende  für  ein  auffassendes  Subjekt  vorhanden  sein  soll, 
welches  Subjekt  wenigstens  insofern  von  jenem  unterschieden  und 
ihm  entgegengesetzt  werden  muß  —  dieser  Umstand  fordert  zu  ähnlichen 
Betrachtungen  auf,  wie  oben  §  127  über  das  Tätige  angestellt  wurden. 

10  Es  wird  nämlich  auch  hier  ein  solches  gedacht,  welches,  um  das  zu  sein, 
was  es  ist,  sich  selbst  nicht  genügt,  sondern  die  Voraussetzung  eines 
ihm  entgegengesetzten  in  die  Bestimmung  seiner  eigenen  Qualität  auf- 
nimmt. —  —  In  diese  Ungereimtheiten  nun  sich  zu  verstricken  ist 
völlig  unnütz  für  den  Begriff  des  absoluten  Werden;  es  mildert  dessen 

15  Widersprechendes  nicht  im  mindesten.  Denn  immer  bleibt  die  Menge,  es 
bleiben  die  Gegensätze  der  wechselnden  Beschaffenheiten;  wenn  schon  die- 
selben nur  Erscheinungen  sein  sollen.  Indem  sie  alle  aus  einem  und  dem- 
selben Grunde  erwartet  werden,  tritt  es  nur  deutlicher  hervor, 
daß    in   diesem,    nicht   wechselnden,    Grunde  alle   Man- 

20  nigfaltigkeit  und  aller  Widerspruch  k  o  n  zentriert 
sei,  woraus  das  Viele  und  Entgegengesetzte  der 
Erscheinung  sich  entfalten  soll.  Der  Grund  würde  nicht 
Grund  sein,  wenn  man  i  n  i  h  m  nicht  alles  das  unentwickelt,  also 
zusammengedrängt,  voraussetzen  sollte,  was  aus  ihm  hervorgehen  wird. 

25  Es  käme  alsdann  nicht  aus  ihm,  sondern  zu  ihm ;  es  würde  nicht  von 
ihm  getragen,  sondern  es  flöge  ihm  an;  und  selbst  wenn  man  dies,  im 
höchsten  Grade  widersinnige,  zufällige  Ankleben  des  Wech- 
selnden an  das  Beharrliche,  ernstlich  annehmen  wollte, 
würde  nicht  einmal  in  dem  Ankleben,  nicht  einmal  in  der  Berührung 

30   zweier  so  völHg  Heterogenen,  ein  Sinn  angetroffen  werden. 

§  130.   Die  Aufstellung  des  Trilemma,  wodurch  die  Veränderung  als 
etwas  ganz  Undenkbares  erkannt  wird,  ist  vollendet. 


Johann  Friedrich  Herbart  (1776—1841)  reicht  in  die  Gegenwart  hinein 
weniger  durch  seine  philosophischen  als  durch  seine  pädagogischen  Schriften, 
auch  ist  sein  Versuch,  die  Mathematik  auf  die  Seelenlehre  anzuwenden,  bei 
dem  heutigen  Zustande  dieser  Wissenschaft  von  einem  gewissen  Interesse. 
Das  aus  seinem  „Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie"  mitgeteilte 
Stück  zeigt  uns  Herbart  als  einen  überaus  scharfen  und  klaren  Denker.  Er 
stellt  der  Philosophie  die  Aufgabe,  die  Begriffe  zu  bearbeiten.  Bei  dieser 
Tätigkeit  findet  er  nun  die  unsere  Erfahrung  begründenden  Kategorien  voll 


252  Herbart. 

von  Widersprüchen.  Um  diesen  zu  entgehen,  ist  eine  Neubegründung  unserer 
Erkenntnis  notwendig,  welche  H.  in  seiner  Metaphysik  zu  geben  versucht. 
Seine  Kritik  der  vorhandenen  Grundbegriffe  weist  hauptsächlich  auf  das  un- 
lösbare Problem  hin,  in  einer  Einheit  eine  Vielheit  zu  denken,  zum  Beispiel 
ein  Ding  und  seine  Eigenschaften  (vergleiche  Erläuterung  zu  246  35),  oder: 
die  Veränderung  eines  Dinges.  Diesen  Schwierigkeiten  glaubt  H.  zu  entgehen 
durch  die  Annahme  von  Substanzen  (Realen),  die  ihrem  Wesen  nach  ein- 
fach und  unveränderlich  und  keinem  Wechsel  unterworfen  sind,  doch  ver- 
mag er  nur  sehr  gezwungen  eine  Antwort  auf  die  Frage  zu  geben,  wie  eine 
Beziehung ,  eine  Beeinflussung  dieser  Realen  aufeinander,  wie  sie  uns  die 
Erfahrung   gibt,   möglich   und  zu  erklären  ist. 

Zur  Einführung  in  H.s  Philosophie  ist  das  genannte  Lehrbuch  an  erster 
Stelle  zu  empfehlen,  wie  es  überhaupt  als  Einführung  in  die  Philosophie  auch 
heute  noch  gelten  darf.  Seine  Werke  sind  von  Hartenstein  1850 — 52  in  zwölf 
Bänden  herausgegeben  worden,  der  erste  Band  ist  unser  Lehrbuch.  Harten- 
stein hat  auch  in  seinen  „Problemen  und  Grundlehren  der  allgemeinen  Meta- 
physik" 1836  und  in  den  „Grundbegriffen  der  ethischen  Wissenschaften"  1844 
Herbarts  System  dargestellt.  Eine  gute  Übersicht  enthält  Falckenbergs  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie,  5.  Auflage  1905,  S.  445 — 462. 

242 1.  Das  Trilemma  wird  von  der  Logik  zu  den  „vermischten"  Schlüssen 
gezählt,  welche  im  Gegensatz  zu  den  „einfachen",  aus  kategorischen  Urteilen 
zusammengesetzten,  Schlüssen  aus  kategorischen  und  disjunktiven,  hypotheti- 
schen und  disjunktiven  u.  s.  w.  bestehen.  Da  die  Terminologie  in  Bezug  auf 
das  Trilemma  schwankt  (vergleiche  darüber  Überweg,  System  der  Logik, 
§  123),  sei  hier  angegeben,  was  Herbart  in  seinem  Lehrbuch  §  68  sagt:  „Die 
zweite  (Schluß-)  Figur,  wenn  statt  des  Mittelbegriffs  eine  vollständige  Reihe 
vorkommt,  ergibt  Dilemmata,  Trilemmata  u.  s.  w.  nach  folgender  Formel: 

P  ist  entweder  a,  oder  b,  oder  c  u.  s.  w. 

S  ist  nicht  a,  noch  b,  noch  c  u.  s.  w. 

Also  S  ist  nicht  P." 
Bringen  wir  den  Inhalt  des  ganzen  Abschnittes  in  diese  Form,   so  er- 
gibt sich: 

Veränderung  ist  entweder  aus  einer  äußeren  Ursache,  oder  aus  Selbst- 
bestimmung, oder  als  absolutes  Werden  zu  erklären. 

Denkbar  ist  weder  die  Erklärung  aus  einer  äußeren  Ursache,  noch 
aus  Selbstbestimmung,  noch  aus  absolutem  Werden. 

Also  ist  nicht  denkbar  die  Veränderung. 
242  4.    Es  ist  an  die  Eleaten  (vergleiche  die  Vorbemerkung  zu  Plato)  und 
Aristoteles   (vergleiche  einen  der  zum   Lesestück  I  angegebenen   Grundrisse 
der  griechischen  Philosophie)    zu  denken. 
242  6.    Vergleiche  die  Vorbemerkung. 

242  10.  Ein  solcher  direkter  Nachweis  fehlt,  doch  H.  zeigt,  daß  zur  Er- 
klärung der  Vorgänge  der  Natur  und  des  menschlichen  Handelns  nach  Ur- 
sachen im  gemeinen  Denken  wie  im  Denken  des  Naturforschers,  Historikers 
und  Philosophen  geforscht  wird. 


Erläuterungen.  253 


242  17.  In  Bezug  auf  die  transzendentale  Freiheit  vergleiche  Anmerkung 
zu  203  31  und  zu  205  is. 

242  27.    Vergleiche  die  Vorbemerkung. 

2434.  Vergleiche  einen  der  zum  Lesestück  I  angegebenen  Grundrisse  der 
griechischen  Philosophie. 

243  18.    Vergleiche  Anmerkung  zu   155  35. 

243  21.  Die  Deutung,  welche  hier  dem  aTcsipov,  das  ist  das  Unbegrenzte, 
gegeben  wird,  dürfte  das  richtige  treffen.  Vergleiche  E.  Zeller,  Die  Philosophie 
der  Griechen,  5.  Auflage,   1892,  I,  1,  S.  212  fip. 

246  35.  In  §  122  hat  Herbart  den  Widerspruch  entwickelt,  der  im  Begriff 
des  Dinges  mit  vielen  Eigenschaften  liegt.  Es  heißt  dort:  „Aus  der  Forderung, 
das  Ding  soUe  die  vielen  ^Merkmale  besitzen,  entwickelt  sich  gar  ein 
Widerspruch.  Das  Besitzen  oder  Haben  der  Merkmale  muß  auf  was 
immer  für  eine  Weise  doch  am  Ende  dem  Dinge  als  etwas  seiner 
Natur  Eigentümliches,  als  eine  Bestimmung  seines 
Was,  zugeschrieben  werden:  denn  von  ihm  selbst  wird 
gesagt,  daß  es  jene  vielen  habe  und  besitze.  Dieses  Besitzen  ist  ein  ebenso 
vielfaches  und  ebenso  verschiedenes  als  die  Eigenschaften,  welche  besessen 
werden.  Es  ist  folghch  ebensowenig  als  sie  fähig,  zur  Antwort  zu  dienen  auf 
die  einfache  Frage:  was  ist  dies  Ding?  Diese  Frage  erfordert  eine 
einfache  Antwort;  sie  stößt  jede  Vielheit  aus,  nüt  der  man  sie  würde  beseitigen 
wollen;  jeder  Umschweif  ist  hier  entweder  eine  Unwahrheit,  oder  doch  eine 
Verzögerung  der  rechten  Auskunft  über  dasjenige,  von  dem  eigentHch 
gesagt  wird,  daß  es  sei  und  Eigenschaften  habe,  die  es  in  sich  ver- 
einige." Da  Zweiheit  schon  eine  Vielheit  ist,  so  tritt  der  in  §  122  aufge- 
zeigte Widerspruch  ein. 

246  39.  Dies  ist  eine  Anspielung  auf  Kants  Lehre  von  der  Autonomie  des 
Sittengesetzes  (vergleiche  Anmerkung  zu  205  is).  Die  Bezeichnung  „ästhe- 
tischen Urteile"  ist  daraus  zu  erklären,  daß  H.  die  Ethik  als  einen  Teil  der 
Ästhetik  behandelt.  Ästhetik  und  Ethik  haben  das  Gemeinsame,  daß  sie  auf 
unveränderUchen  Wertbestimmungen  durch  Lob  und  Tadel  beruhen.  Ver- 
gleiche den  dritten  Abschnitt  des  Lehrbuchs:  „Einleitung  in  die  Ästhetik; 
besonders  in  ihren  wichtigsten  Teil,  die  praktische  Philosophie." 

247  34.  Es  sei  hier  vor  allem  auf  Herakht  hingewiesen.  Vergleiche  S.  249  7 
und  die  Vorbemerkung  zu  Lesestück  I. 

249  7.    Zu  Protagoras  vergleiche  die  Anmerkung  zu  92  22. 
2519.    Vergleiche  Anmerkung  zu  246  35. 

251  11,12.  Man  vergleiche  diese  Kritik  H.s  mit  dem  in  Anmerkung  zu  2  40  ff. 
Gesagten.  M  e  n  z  e  r. 


XIX. 

Schopenhauer. 


Alles  Leben  ist  Leiden. 

§  57.  Auf  jeder  Stufe,  welche  die  Erlcenntnis  beleuchtet,  erscheint 
sich  der  Wille  als  Individuum.  Im  unendlichen  Raum  und  unendlicher 
Zeit  findet  das  menschHche  Individuum  sich  als  endhche,  folglich  als 
eine  gegen  jene  verschwindende  Größe,  in  sie  hineingeworfen  und  hat, 
wegen  ihrer  Unbegrenztheit,  immer  nur  ein  relatives,  nie  ein  absolutes  5 
Wann  und  W  0  seines  Daseins :  denn  sein  Ort  und  seine  Dauer  sind 
endhche  Teile  eines  Unendlichen  und  Grenzenlosen.  —  Sein  eigent- 
Hches  Dasein  ist  nur  in  der  Gegenwart,  deren  ungehemmte  Flucht  in 
die  Vergangenheit  ein  steter  Übergang  in  den  Tod,  ein  stetes  Sterben  ist, 
da  sein  vergangenes  Leben,  abgesehen  von  dessen  etwaigen  Folgen  für  10 
die  Gegenwart,  wie  auch  von  dem  Zeugnis  über  seinen  Willen,  das  darin 
abgedrückt  ist,  schon  völHg  abgetan,  gestorben  und  nichts  mehr 
ist:  daher  es  auch  ihm  vernünftigerweise  gleichgültig  sein  muß,  ob 
der  Inhalt  jener  Vergangenheiten  Qualen  oder  Genüsse  waren.  Die 
Gegenwart  aber  wird  beständig  unter  seinen  Händen  zur  Vergangenheit :  15 
die  Zukunft  ist  ganz  ungewiß  und  immer  kurz.  So  ist  sein  Dasein 
schon  von  der  formellen  Seite  betrachtet,  ein  stetes  Hinstürzen  der 
Gegenwart  in  die  tote  Vergangenheit,  ein  stetes  Sterben.  Sehen  wir 
es  nun  aber  auch  von  der  physischen  Seite  an,  so  ist  offenbar,  daß  ,  wie 
bekannthch  unser  Gehen  nur  ein  stets  gehemmtes  Fallen  ist,  das  Leben  20 
unseres  Leibes  nur  ein  fortdauernd  gehemmtes  Sterben,  ein  immer  auf- 
geschobener Tod  ist:  endlich  ist  ebenso  die  Regsamkeit  unseres  Geistes 
eine  fortdauernd  zurückgeschobene  Langweile.  Jeder  Atemzug  wehrt 
den  beständig  eindringenden  Tod  ab,  mit  welchem  wir  auf  diese  Weise 
in  jeder  Sekunde  kämpfen,  und  dann  wieder,  in  größeren  Zwischen-  25 
räumen,  durch  jede  Mahlzeit,  jeden  Schlaf,  jede  Erwärmung  u.  s.  w. 
Zuletzt  muß  er  siegen:  denn  ihm  sind  wir  durch  die  Geburt  anheimge- 
fallen, und  er  spielt  nur  eine  Weile  mit  seiner  Beute,  bevor  er  sie  ver- 


Alles  Leben  ist  Leiden.  255 


schlingt.  Wir  setzen  indessen  unser  Leben  mit  großem  Anteil  und  vieler 
Sorgfalt  fort,  so  lange  als  möglich,  wie  man  eine  Seifenblase  so  lange 
und  so  groß  als  mögUch  aufbläst,  wiewohl  mit  der  festen  Gewißheit, 
daß  sie  platzen  wird. 

5  Sahen  wir  schon  in  der  erkenntnislosen  Natur  das  innere  Wesen 

derselben  als  ein  beständiges  Streben,  ohne  Ziel  und  ohne  Käst,  so 
tritt  uns  bei  der  Betrachtung  des  Tieres  und  des  Menschen  dieses  noch 
viel  deutlicher  entgegen.  Wollen  und  Streben  ist  sein  ganzes  Wesen, 
einem   unlöschbaren  Durst   gänzlich   zu   vergleichen.     Die   Basis   alles 

0  WoUens  aber  ist  Bedürftigkeit,  Mangel,  also  Schmerz,  dem  er  folghch 
schon  ursprünglich  und  durch  sein  Wesen  anheimfällt.  Fehlt  es  ihm 
hingegen  an  Objekten  des  Wollens,  indem  die  zu  leichte  Befriedigung 
sie  ihm  sogleich  wieder  wegnimmt,  so  befällt  ihn  furchtbare  Leere  und 
Langweile:  das  heißt,  sein  Wesen  und  sein  Dasein  selbst  wird  ihm  zur 

5  unerträgHchen  Last.  Sein  Leben  schwingt  also,  gleich  einem  Pendel, 
hin  und  her,  zwischen  dem  Schmerz  und  der  Langweile,  welche  beide 
in  der  Tat  dessen  letzte  Bestandteile  sind.  Dieses  hat  sich  sehr  selt- 
sam auch  dadurch  aussprechen  müssen,  daß,  nachdem  der  Mensch  alle 
Leiden  und  Qualen  in  die  Hölle  versetzt,  für  den  Himmel  nun  nichts 

0   übrig   blieb,  als  eben  Langweile. 

Das  stete  Streben  aber,  welches  das  Wesen  jeder  Erscheinung  des 
Willens  ausmacht,  erhält  auf  den  höheren  Stufen  der  Objelrtivation 
seine  erste  und  allgemeinste  Grundlage  dadurch,  daß  hier  der  Wille 
sich  erscheint  als  ein  lebendiger  Leib,  mit  dem  eisernen  Gebot,  ihn    zu 

5  nähren:  und  was  diesem  Gebote  die  Kraft  gibt,  ist  eben,  daß  dieser 
Leib  nichts  anderes  als  der  objektivierte  Wille  zum  Leben  selbst  ist. 
Der  Mensch,  als  die  vollkommenste  Objektivation  jenes  Willens,  ist 
demgemäß  auch  das  bedürftigste  unter  allen  Wesen:  er  ist  kon- 
kretes Wollen  und  Bedürfen  durch  und  durch;  ist  ein  Konkrement  von 

io   tausend  Bedürfnissen.     Mit  diesen  steht  er  auf  der  Erde,   sich  selber 
überlassen,  über  alles  in  Ungewißheit,  nur  nicht  über  seine  Bedürftig- 
keit und  seine  Not:  demgemäß  füllt  die  Sorge  für  die  Erhaltung  jenes, 
Daseins,  unter  so  schweren,  sich  jeden  Tag  von  neuem  meldenden  For- 
derungen, in  der  Regel  das  ganze  Menschenleben  aus.  An  sie  knüpft 

t5  sich  sodann  unmittelbar  die  zweite  Anforderung,  die  der  Fortpflanzung 
des  Geschlechts.  Zugleich  bedrohen  ihn  von  allen  Seiten  die  verschieden- 
artigsten Gefahren,  denen  zu  entgehen  es  beständiger  Wachsamkeit 
bedarf.  Mit  behutsamem  Schritt  und  ängsthchem  Umherspähen  ver- 
folgt er  seinen  Weg,  denn  tausend  Zufälle  und  tausend  Feinde  lauern  ihm 

10  auf.  So  ging  er  in  der  Wildnis,  und  so  geht  er  im  zivihsierten  Leben; 
es  gibt  für  ihn  keine  Sicherheit. 


256  Schopenhauer. 


^In  welch'  dunkeler  Nacht,  umringt  von  den  größten  Gefahren, 
Leben  die  Kinder  der  Zeit  dahin."  Lucr.  II,  15, 

Das  Leben  der  allermeisten  ist  auch  nur  ein  steter  Kampf  um  die 
Existenz  selbst,  mit  der  Gewißheit  ihn  zuletzt  zu  verlieren.  Was  sie 
aber  in  diesem  so  mühseligen  Kampfe  ausdauern  läßt,  ist  nicht  sowohl  5 
die  Liebe  zum  Leben  als  die  Furcht  vor  dem  Tode,  der  jedoch  als  un- 
ausweichbar  im  Hintergrunde  steht  und  jeden  AugenbHck  herantreten 
kann.  —  Das  Leben  selbst  ist  ein  Meer  voller  Klippen  und  Strudel, 
die  der  Mensch  mit  der  größten  Behutsamkeit  und  Sorgfalt  vermeidet, 
obwohl  er  weiß,  daß,  wenn  es  ihm  auch  gelingt,  mit  aller  Anstrengung  lo 
und  Kunst  sich  durchzuwinden,  er  eben  dadurch  mit  jedem  Schritt 
dem  größten,  dem  totalen,  dem  unvermeidlichen  und  unheilbaren 
Schiffbruch  näher  kommt,  ja  gerade  auf  ihn  zusteuert,  dem  Tode:  dieser 
ist  das  endhche  Ziel  der  mühseligen  Fahrt  und  für  ihn  schlimmer  als 
alle  Klippen,  denen  er  auswich.  is 

Nun  ist  es  aber  sogleich  sehr  bemerkenswert,  daß  einerseits  die  Leiden 
und  Qualen  des  Lebens  leicht  so  anwachsen  können,  daß  selbst  der  Tod, 
in  der  Flucht  vor  welchem  das  ganze  Leben  besteht,  wünschenswert 
wird  und  man  freiwilUg  zu  ihm  eilt;  und  anderseits  wieder,  daß,  sobald 
Not  und  Leiden  dem  Menschen  eine  Rast  vergönnen,  die  Langweile  20 
gleich  so  nahe  ist,  daß  er  des  Zeitvertreibes  notwendig  bedarf.  Was 
alle  Lebenden  beschäftigt  und  in  Bewegung  erhält,  ist  das  Streben  nach 
Dasein.  Mit  dem  Dasein  aber,  wenn  es  ihnen  gesichert  ist,  wissen  sie 
nichts  anzufangen:  daher  ist  das  zweite,  was  sie  in  Bewegung  setzt, 
das  Streben,  die  Last  des  Daseins  los  zu  werden,  es  unfühlbar  zu  machen,  25 
„die  Zeit  zu  töten",  das  heißt  der  Langweile  zu  entgehen.  Demgemäß 
sehen  wir,  daß  alle  vor  Not  und  Sorgen  geborgenen  Menschen,  nachdem 
sie  nun  endlich  alle  anderen  Lasten  abgewälzt  haben,  jetzt  sich  selbst 
zur  Last  sind  und  nun  jede  durchgebrachte  Stunde  für  Gewinn  achten, 
also  jeden  Abzug  von  eben  jenem  Leben,  zu  dessen  möghchst  langer  3o 
Erhaltung  sie  bis  dahin  alle  Kräfte  aufboten.  Die  Langweile  aber  ist 
nichts  weniger  als  ein  gering  zu  achtendes  Übel:  sie  malt  zuletzt  wahre 
Verzweiflung  auf  das  Gesicht.  Sie  macht,  daß  Wesen,  welche  einander 
so  wenig  lieben  wie  die  Menschen,  doch  so  sehr  einander  suchen,  und 
wird  dadurch  die  Quelle  der  Geselhgkeit.  Auch  werden  überall  gegen  35 
sie,  wie  gegen  andere  allgemeine  Kalamitäten,  öffentliche  Vorkehrungen 
getroffen,  schon  aus  Staatsklugheit;  weil  dieses  Übel,  so  gut  als  sein 
entgegengesetztes  Extrem,  die  Hungersnot,  die  Menschen  zu  den  größten 
Zügellosigkeiten  treiben  kann:  fanem  et  Circenses  braucht  das  Volk. 
Das  strenge  Philadelphische  Pönitenziarsystem  macht  mittels  Einsam-  40 
keit  und  Untätigkeit  bloß  die  Langweile  zum  Straf  Werkzeug :    und  es 


Alles  Leben  ist  Leiden.  257 


ist  ein  so  fürchterliches,  daß  es  schon  die  ZüchtHnge  zum  Selbstmord 
geführt  hat.  Wie  die  Not  die  beständige  Geißel  des  Volkes  ist,  so 
die  Langweile  die  der  vornehmen  Welt.  Im  bürgerlichen  Leben  ist  sie 
durch  den  Sonntag,    wie  die  Not   durch  die  sechs  Wochentage  reprä- 

5   sentiert. 

Zwischen  Wollen  und  Erreichen  fließt  nun  durchaus  jedes  Menschen- 
leben fort.  Der  Wunsch  ist,  seiner  Natur  nach,  Schmerz :  die  Erreichung 
gebiert  schnell  Sättigung:  das  Ziel  war  nur  scheinbar:  der  Besitz 
nimmt  den  Reiz  weg:   unter  einer  neuen  Gestalt  stellt  sich  der  Wunsch, 

10  das  Bedürfnis  wieder  ein:  wo  nicht,  so  folgt  Öde,  Leere,  Langweile, 
gegen  welche  der  Kampf  ebenso  quälend  ist  wie  gegen  die  Not.  —  Daß 
Wunsch  und  Befriedigung  sich  ohne  zu  kurze  und  ohne  zu  lange  Zwischen- 
räume folgen,  verkleinert  das  Leiden,  welches  beide  geben,  zum  geringsten 
Maße  und  macht  den  glückUchsten  Lebenslauf  aus.    Denn  das,  was  man 

15  sonst  den  schönsten  Teil,  die  reinsten  Freuden  des  Lebens  nennen  möchte, 
eben  auch  nur,  weil  es  uns  aus  dem  realen  Dasein  heraushebt  und  uns  in 
anteillose  Zuschauer  desselben  verwandelt,  also  das  reine  Erkennen, 
dem  alles  Wollen  fremd  bleibt,  der  Genuß  des  Schönen,  die  echte  Freude 
an  der  Kunst,  dies  ist,  weil  es  schon  seltene  Anlagen  erfordert,  nur  höchst 

20  wenigen  und  auch  diesen  nur  als  ein  vorübergehender  Traum  vergönnt: 
und  dann  macht  eben  diese  wenigen  die  höhere  intellektuelle  Kraft 
für  viel  größere  Leiden  empfänghch,  als  die  Stumpferen  je  empfinden 
können,  und  stellt  sie  überdies  einsam  unter  merkUch  von  ihnen  ver- 
schiedene Wesen:   wodurch    sich  denn  auch  dieses  ausgleicht.      Dem 

25  bei  weitem  größten  Teile  der  Menschen  aber  sind  die  rein  intellektuellen 
Genüsse  nicht  zugänglich;  der  Freude,  die  im  reinen  Erkennen  hegt, 
sind  sie  fast  ganz  unfähig:  sie  sind  gänzhch  auf  das  Wollen  verwiesen. 
W^enn  daher  irgend  etwas  ihnen  Anteil  abgewinnen,  ihnen  interes- 
sant sein  soll,  so  muß  es  (dies  Hegt  auch  schon  in  der  Wortbedeutung) 

30  irgendwie  ihren  Willen  anregen,  sei  es  auch  nur  durch  eine  ferne 
und  nur  in  der  MögUchkeit  hegende  Beziehung  auf  ihn;  er  darf  aber 
nie  ganz  aus  dem  Spiele  bleiben,  weil  ihr  Dasein  bei  weitem  mehr  im 
Wollen  als  im  Erkennen  hegt:  Aktion  und  Reaktion  ist  ihr  einziges 
Element.    Die  naiven  Äußerungen  dieser  Beschaffenheit  kann  man  aus 

35  Kleinigkeiten  und  alltäghchen  Erscheinungen  abnehmen:  so  zum  Bei- 
spiel schreiben  sie  an  sehenswerten  Orten,  die  sie  besuchen,  ihren  Namen 
hin,  um  so  zu  reagieren,  um  auf  den  Ort  zu  wirken,  da  er  nicht  auf  sie 
wirkte;  ferner  können  sie  nicht  leicht  ein  fremdes,  seltenes  Tier  bloß 
betrachten,  sondern  müssen  es  reizen,  necken,  mit  ihm  spielen,  um  nur 

40   Aktion  und  Reaktion  zu  empfinden;    ganz  besonders  aber  zeigt  jenes 
Bedürfnis  der  Willensanregung  sich  an  der  Erfindung  und  Erhaltung 
D es s oir-Menzer,  Pliilosopliisches  Lesebuch.    2.  Auti.  17 


258  Schopenhauer. 


des  Kartenspieles,   welches  recht  eigentUch  der  Ausdruck  der  kläglichen 
Seite  der  Menschheit  ist. 

Aber  was  auch  Natur,  was  auch  das  Glück  getan  haben  mag,  wer 
man  auch  sei,  und  was  man  auch  besitze;  der  dem  Leben  wesentHche 
Schmerz  läßt  sich  nicht  abwälzen:  b 

Peleus  Sohn  wehklagte,  den  Blick  gen  Himmel  erhebend. 

Und  wieder: 

Zwar  Zeus  Sohn  des  Kroniden  war  ich  und  duldete  dennoch 
Unaussprechlichen  Gram. 

Die  unaufhörhchen  Bemühungen,  das  Leiden  zu  verbannen,  leisten  lo 
nichts  weiter,  als  daß  es  seine  Gestalt  verändert.  Diese  ist  ursprünghch 
Mangel,  Not,  Sorge  um  die  Erhaltung  des  Lebens.  Ist  es,  was  sehr  schwer 
hält,  geglückt,  den  Schmerz  in  dieser  Gestalt  zu  verdrängen,  so  stellt 
er  sogleich  sich  in  tausend  anderen  ein,  abwechselnd  nach  Alter  und 
Umständen,  als  Geschlechtstrieb,  leidenschaftliche  Liebe,  Eifersucht,  i6 
Neid,  Haß,  Angst,  Ehrgeiz,  Geldgeiz,  Krankheit  u.  s.  w.  Kann  er  endUch 
in  keiner  anderen  Gestalt  Eingang  finden,  so  kommt  er  im  traurigen, 
grauen  Gewand  des  Überdrusses  und  der  Langweile,  gegen  welche  dann 
mancherlei  versucht  wird.  Gelingt  es  endlich,  diese  zu  verscheuchen, 
so  wird  es  schwerlich  geschehen,  ohne  dabei  den  Schmerz  in  einer  der  20 
vorigen  Gestalten  wieder  einzulassen  und  so  den  Tanz  von  vorne  zu 
beginnen;  denn  zwischen  Schmerz  und  Langweile  wird  jedes  Menschen- 
leben hin  und  her  geworfen.  So  niederschlagend  diese  Betrachtung 
ist,  so  will  ich  doch  nebenher  auf  eine  Seite  derselben  aufmerksam 
machen,  aus  der  sich  ein  Trost  schöpfen,  ja  vielleicht  gar  eine  stoische  25 
Gleichgültigkeit  gegen  das  vorhandene  eigene  Übel  erlangen  läßt.  Denn 
unsere  Ungeduld  über  dieses  entsteht  großenteils  daraus,  daß  wir  es 
als  zufällig  erkennen,  als  herbeigeführt  durch  eine  Ketbe  von  Ursachen, 
die  leicht  anders  sein  könnte.  Denn  über  die  unmittelbar  notwendigen 
und  ganz  allgemeinen  Übel,  zum  Beispiel  Notwendigkeit  des  Alters  so 
und  des  Todes  und  vieler  täghchen  Unbequemlichkeiten,  pflegen  wir 
uns  rücht  zu  betrüben.  Es  ist  vielmehr  die  Betrachtung  der  ZufälHg- 
keit  der  Umstände,  die  gerade  auf  uns  ein  Leiden  brachten,  was  diesem 
den  Stachel  gibt.  Wenn  wir  nun  aber  erkannt  haben,  daß  der  Schmerz 
als  solcher  dem  Leben  wesenthch  und  unausweichbar  ist,  und  nichts  35 
weiter  als  seine  bloße  Gestalt,  die  Form,  unter  der  er  sich  darstellt,  vom 
Zufall  abhängt,  daß  also  unser  gegenwärtiges  Leiden  eine  Stelle  aus- 
füllt, in  welche,  ohne  dasselbe,  sogleich  ein  anderes  träte,  das  jetzt  von 
jenem  ausgeschlossen  wird,  daß  demnach,  im  wesenthchen,  das  Schick- 
sal uns  wenig  anhaben  kann;   so  könnte  eine  solche  Reflexion,  wenn  sie   40 


Alles  Leben  ist  Leiden.  259 


zur  lebendigen  Überzeugung  würde,  einen  bedeutenden  Grad  stoischen 
Gleichmuts  herbeiführen  und  die  ängsthche  Besorgnis  um  das  eigene 
Wohl  sehr  vermindern.  In  der  Tat  aber  mag  eine  so  viel  vermögende 
Herrschaft  der  Vernunft  über  das  unmittelbar  gefühlte  Leiden  selten 

5    oder  nie  sich  finden. 

Übrigens  könnte  man  durch  jene  Betrachtung  über  die  Unvermeid- 
lichkeit des  Schmerzes  und  über  das  Verdrängen  des  einen  durch  den 
anderen  und  das  Herbeiziehen  des  neuen  durch  den  Austritt  des  vorigen 
sogar  auf  die  paradoxe,  aber  nicht  ungereimte  Hypothese  geleitet  werden, 

0  daß  in  jedem  Individuum  das  Maß  des  ihm  wesentlichen  Schmerzes 
durch  seine  Natur  ein  für  allemal  bestimmt  wäre,  welches  Maß  weder 
leer  bleiben,  noch  überfüllt  werden  könnte,  wie  sehr  auch  die  Form  des 
Leidens  wechseln  mag.  Sein  Leiden  und  Wohlsein  wäre  demnach  gar 
nicht  von  außen,  sondern  eben  nur  durch  jenes  Maß,  jene  Anlage,  be- 

5  stimmt ,  welche  zwar  durch  das  physische  Befinden  einige  Ab-  und 
Zunahme  zu  verschiedenen  Zeiten  erfahren  möchte,  im  ganzen  aber  doch 
dieselbe  bliebe  und  nichts  anderes  wäre,  als  was  man  sein  Temperament 
nennt,  oder  genauer  der  Grad,  in  welchem  er,  wie  Piaton  es  im  ersten 
Buch  der  Republik  ausdrückt,  eoy.oXo?  oder  S6aytoXo<;,  das  ist  leichten 

0  oder  schweren  Sinnes  wäre.  —  Für  diese  Hypothese  spricht  nicht  nur 
die  bekannte  Erfahrung,  daß  große  Leiden  alle  kleineren  gänzlich  un- 
fühlbar machen,  und  umgekehrt,  bei  Abwesenheit  großer  Leiden  selbst 
die  kleinsten  Unannehmlichkeiten  uns  quälen  und  verstimmen;  sondern 
die  Erfahrung  lehrt  auch,  daß,  wenn  ein  großes  Unglück,  bei  dessen 

5  bloßen  Gedanken  ^är  schauderten,  nun  wirklich  eingetreten  ist,  dennoch 
unsere  Stimmung,  sobald  wir  den  ersten  Schmerz  überstanden  haben, 
im  ganzen  ziemhch  unverändert  dasteht;  und  auch  umgekehrt,  daß 
nach  dem  Eintritt  eines  lang  ersehnten  Glückes  wir  uns  im  ganzen 
und  anhaltend  nicht  merklich  wohler  und  behaghcher  fühlen  als  vorher. 

0  Bloß  der  Augenbhck  des  Eintritts  jener  Veränderungen  bewegt  uns 
ungewöhnlich  stark  als  tiefer  Jammer  oder  lauter  Jubel;  aber  beide 
verschwinden  bald,  weil  sie  auf  Täuschung  beruhten.  Denn  sie  entstehen 
nicht  über  den  unmittelbar  gegenwärtigen  Genuß  oder  Schmerz,  sondern 
nur  über  die  Eröffnung  einer  neuen  Zukunft,  die  darin  antizipiert  wird. 

ö  Nur  dadurch,  daß  Schmerz  oder  Freude  von  der  Zukunft  borgten,  konnten 
sie  so  abnorm  erhöht  werden,  folglich  nicht  auf  die  Dauer.  —  Für  die 
aufgestellte  Hypothese,  der  zufolge,  wie  im  Erkennen,  so  auch  im  Ge- 
fühl des  Leidens  oder  Wohlseins  ein  sehr  großer  Teil  subjektiv  und 
a  friori  bestimmt  wäre,  können  noch  als  Belege  die  Bemerkungen  an- 

0  geführt  werden,  daß  der  menschliche  Frohsinn  oder  Trübsinn,  augen- 
scheinlich nicht  durch  äußere  Umstände,  durch  Reichtum  oder  Stand, 


260  Schopenhauer. 


bestimmt  wird;    da  wir  wenigstens  ebenso  viele  frohe  Gesichter  unter 
den  Armen  als  unter  den  Reichen  antreffen:    ferner,  daß  die  Motive, 
auf  welche  der  Selbstmord  erfolgt,  so  höchst  verschieden  sind;    indem 
wir  kein  Unglück  angeben  können,  das  groß  genug  wäre,  um  ihn  nur 
mit   vieler   Wahrscheinlichkeit,    bei   jedem    Charakter   herbeizuführen,     5 
und  wenige,  die  so  klein  wären,  daß  nicht  ihnen  gleichwiegende  ihn  schon 
veranlaßt  hätten.     Wenn  nun  gleich  der  Grad  unserer  Heiterkeit  oder 
Traurigkeit  nicht  zu  allen  Zeiten  derselbe  ist,   so  werden  wir,  dieser 
Ansicht  zufolge,  es  nicht  dem  Wechsel  äußerer .  Umstände,  sondern  dem 
des  inneren  Zustandes,  des  physischen  Befindens,    zuschreiben.  Denn,    10 
wann  eine  wirkliche,  wiewohl  immer  nur  temporäre,  Steigerung  unserer 
Heiterkeit,  selbst  bis  zur  Freudigkeit,  eintritt,  so  pflegt  sie  ohne  allen 
äußeren  Anlaß  sich  einzufinden.     Zwar  sehen  wir  oft  unseren  Schmerz 
nur  aus  einem  bestimmten  äußeren  Verhältnis  hervorgehen  und  sind 
sichtbarlich  nur  durch  dieses  gedrückt  und  betrübt:   wir  glauben  dann,    15 
daß,  wenn  nur  dieses  gehoben  wäre,  die  größte  Zufriedenheit  eintreten 
müßte.     Allein  dies  ist  Täuschung.     Das  Maß  unseres  Schmerzes  und 
Wohlseins  im  ganzen  ist,  nach  unserer  Hypothese,  für  jeden  Zeitpunkt 
subjektiv  bestimmt,   und  in  Beziehung  auf  dasselbe  ist  jenes  äußere 
Motiv  zur  Betrübnis  nur  was  für  den  Leib  ein  Vesikatorium,  zu  dem   20 
sich  alle,  sonst  verteilten  bösen  Säfte  hinziehen.    Der  in  unserem  Wesen, 
für  diese   Zeitperiode,   begründete   und   daher   unabwälzbare    Schmerz 
wäre,  ohne  jene  bestimmte  äußere  Ursache  des  Leidens,  an  hundert 
Punkten  verteilt  und  erschiene  in  Gestalt  von  hundert  kleinen  Verdrieß- 
lichkeiten und  Grillen  über  Dinge,  die  wir  jetzt  ganz  übersehen,  weil   25 
unsere  Kapazität  für  den  Schmerz  schon  durch  jenes  Hauptübel  aus- 
gefüllt ist,  welches  alles  sonst  zerstreute  Leiden  auf  einen  Punkt  kon- 
zentriert hat.    Diesem  entspricht  auch  die  Beobachtung,  daß,  wenn  eine 
große,  uns  beklemmende  Besorgnis  endlich,  durch  den  glücklichen  Aus- 
gang, uns  von  der  Brust  gehoben  wird,  alsbald  an  ihre  Stelle  eine  andere   30] 
tritt,  deren  ganzer  Stoff  schon  vorher  da  war,  jedoch  nicht  als  Sorge  ins 
Bewußtsein  kommen  konnte,  weil  dieses  keine  Kapazität  dafür  übrig 
hatte,   weshalb  dieser   Sorgestoff  bloß  als  dunkle  unbemerkte  Nebel- 
gestalt an  dessen  Horizonts  äußerstem  Ende  stehen  blieb.  Jetzt  aber,  da     | 
Platz  geworden,  tritt  sogleich  dieser  fertige  Stoff  heran  und  nimmt  den   35 
Thron  der  herrschenden  (TUpUTavsDOOoa)  Besorgnis  des  Tages  ein,  wenn 
er  nun  auch,  der  Materie  nach,  sehr  viel  leichter  ist  als  der  Stoff  jener 
verschwundenen  Besorgnis,  so  weiß  er  sich  doch  so  aufzublähen,  daß 
er  ihr  an  scheinbarer  Größe  gleichkommt  und  so  als  Hauptbesorgnis 
des  Tages  den  Thron  vollkommen  ausfüllt.  « 

Unmäßige   Freude   und   sehr  heftiger   Schmerz   finden  sich  immer 

i 


Alles  Leben  ist  Leiden.  261 


nur  in  derselben  Person  ein:  denn  beide  bedingen  sich  wechselseitig 
und  sind  auch  gemeinschafthch  durch  große  Lebhaftigkeit  des  Geistes 
bedingt.  Beide  werden,  wie  wir  soeben  fanden,  nicht  durch  das  rein 
Gegenwärtige,  sondern  durch  Antizipation  der  Zukunft  hervorgebracht. 
5  Da  aber  der  Schmerz  dem  Leben  wesenthch  ist  und  auch  seinem  Grade 
nach  durch  die  Natur  des  Subjekts  bestimmt  ist,  daher  plötzliche  Ver- 
änderungen, weil  sie  immer  äußere  sind,  seinen  Grad  eigenthch  nicht 
ändern  können;  so  liegt  dem  übermäßigen  Jubel  oder  Schmerz  immer 
ein  Irrtum  und  Wahn  zum  Grunde:    folglich  ließen  jene  beiden  Über- 

10  Spannungen  des  Gemüts  sich  durch  Einsicht  vermeiden.  Jeder  un- 
mäßige Jubel  (exultatio,  insolens  laetitia)  beruht  immer  auf  dem  Wahn, 
etwas  im  Leben  gefunden  zu  haben,  was  gar  nicht  darin  anzutreffen 
ist,  nämhch  dauernde  Befriedigung  der  quälenden,  sich  stets  neu  ge- 
bärenden Wünsche  oder   Sorgen.     Von  jedem  einzelnen  Wahn  dieser 

15  Art  muß  man  später  unausbleiblich  zurückgebracht  werden  und  ihn 
dann,  wann  er  verschwindet,  mit  ebenso  bitteren  Schmerzen  bezahlen, 
als  sein  Eintritt  Freude  verursachte.  Er  gleicht  insofern  durchaus  einer 
Höhe,  von  der  man  nur  durch  Fall  wieder  herab  kann;  daher  man  sie 
vermeiden  sollte:    und  jeder  plötzliche,  übermäßige  Schmerz  ist  eben 

20  nur  der  Fall  von  so  einer  Höhe,  das  Verschwinden  eines  solchen  Wahnes 
und  daher  durch  ihn  bedingt.  Man  könnte  folglich  beide  vermeiden, 
wenn  man  es  über  sich  vermöchte,  die  Dinge  stets  im  ganzen  und  in 
ihrem  Zusammenhang  völlig  klar  zu  übersehen  und  sich  standhaft  zu 
hüten,  ihnen  die  Farbe  wirklich  zu  leihen,  die  man  wünschte,  daß  sie 

25  hätten.  Die  stoische  Ethik  ging  hauptsächlich  darauf  aus,  das  Gemüt 
von  allem  solchen  Wahn  und  dessen  Folgen  zu  befreien,  und  ihm  statt 
dessen  unerschütterlichen  Gleichmut  zu  geben.  Von  dieser  Einsicht 
ist  Horatius  erfüllt  in  der  bekannten  Ode: 

Mit  ruh'gem  Gleichmut  wappne  die  Seele  dir 
30  Am  Tag  des  Unheils,  aber  am  glücklichen 

Den  ausgelass'nen  Rausch  der  Lust  auch 
Mäßige. 

Meistens  aber  verschließen  wir  uns  der,  einer  bitteren  Arzenei  zu  ver- 
gleichenden Erkenntnis,  daß  das  Leiden  dem  Leben  wesenthch  ist  und 

35  daher  nicht  von  außen  auf  uns  einströmt,  sondern  jeder  die  unversieg- 
bare Quelle  desselben  in  seinem  eigenen  Inneren  herumträgt.  Wir  suchen 
vielmehr  zu  dem  nie  von  uns  weichenden  Schmerz  stets  eine  äußere 
einzelne  Ursache,  gleichsam  einen  Vorwand;  wie  der  Freie  sich  einen 
Götzen  bildet,  um  einen  Herrn  zu  haben.     Denn  unermüdlich  streben 

40    wir  von  Wunsch  zu  Wunsch,  und  wenngleich  jede  erlangte  Befriedigung, 


262  Schopenhauer. 


soviel  sie  auch  verhieß,  uns  doch  nicht  befriedigt,  sondern  meistens 
bald  als  beschämender  Irrtum  dasteht,  sehen  wir  doch  nicht  ein,  daß 
wir  mit  dem  Faß  der  Danaiden  schöpfen,  sondern  eilen  zu  immer  neuen 
Wünschen : 

Sondern,  so  lang  uns  fehlt,  wonach  uns  lüstet,  bedünkt  uns  5 

Dieses  das  Beste;  doch  ist  es  errungen,  so  lüstet  uns  wieder. 
So  auch  läßt  fortwährend  der  Durst  nach  Leben  uns  lechzen. 

Lucr.  III,  1095. 

So  geht  es  denn  entweder  ins  Unendliche,    oder,    was    seltener  ist 
und  schon  eine  gewisse  Kraft  des  Charakters  voraussetzt,    bis  wir  auf   lo 
einen  Wunsch  treffen,  der  nicht  erfüllt  und  doch  nicht  aufgegeben  werden 
kann:    dann  haben  wir  gleichsam  was  wir  suchten,  nämhch  etwas,  das 
wir  jeden  Augenblick,  statt  unseres  eigenen  Wesens,  als  die  Quelle  unserer 
Leiden  anklagen  können,  und  wodurch  wir  nun  mit  unserem  Schicksal 
entzweit,  dafür  aber  mit  unserer  Existenz  versöhnt  werden,  indem  die   is 
Erkenntnis  sich  wieder  entfernt,  daß  dieser  Existenz  selbst  das  Leiden 
wesenthch  und  wahre  Befriedigung  unmöglich  sei.     Die  Folge  dieser 
letzten  Entwicklungsart  ist  eine  etwas  melanchoHsche  Stimmung,  das 
beständige  Tragen  eines  einzigen,  großen  Schmerzes  und  daraus  ent- 
stehende Geringschätzung  aller  kleineren  Leiden  oder  Freuden;    folg-   20 
lieh  eine  schon  würdigere  Erscheinung  als  das  stete  Haschen  nach  immer 
anderen  Truggestalten,  welches  viel  gewöhnlicher  ist. 

§  58.  Alle  Befriedigung,  oder  was  man  gemeinhin  Glück  nennt, 
ist  eigentlich  und  wesentlich  immer  nur  negativ  und  durchaus 
nie  positiv.  Es  ist  nicht  eine  ursprünglich  und  von  selbst  auf  uns  kom-  25 
mende  Beglückung,  sondern  muß  immer  die  Befriedigung  eines  Wunsches 
sein.  Denn  Wunsch,  das  heißt  Mangel,  ist  die  vorhergehende  Bedingung 
jedes  Genusses.  Mit  der  Befriedigung  hört  aber  der  Wunsch  und  folg- 
lich der  Genuß  auf.  Daher  kann  die  Befriedigung  oder  Beglückung  nie 
mehr  sein  als  die  Befreiung  von  einem  Schmerz,  von  einer  Not:  denn  30 
dahin  gehört  nicht  nur  jedes  wirkliche,  offenbare  Leiden,  sondern  auch 
jeder  Wunsch,  dessen  Importunität  unsere  Ruhe  stört,  ja  sogar  auch 
die  ertötende  Langweile,  die  uns  das  Dasein  zur  Last  macht.  —  Nun 
aber  ist  es  so  schwer,  irgend  etwas  zu  erreichen  und  durchzusetzen:  jedem 
Vorhaben  stehen  Schwierigkeiten  und  Bemühungen  ohne  Ende  entgegen,  35 
und  bei  jedem  Schritt  häufen  sich  die  Hindernisse.  Wenn  aber  endlich 
alles  überwunden  und  erlangt  ist,  so  kann  doch  nie  etwas  anderes  ge- 
wonnen sein,  als  daß  man  von  irgend  einem  Leiden  oder  einem  Wunsche 
befreit  ist,  folglich  nur  sich  so  befindet,  wie  vor  dessen  Eintritt.  —  Un- 
mittelbar gegeben  ist  uns  immer  nur  der  Mangel,  das  heißt  der  Schmerz.   40 


Alles  Leben  ist  Leiden.  263 


Die  Befriedigung  aber  und  den  Genuß  können  wir  nur  mittelbar  er- 
kennen, durch  Erinnerung  an  das  vorhergegangene  Leiden  und  Ent- 
behren, welches  bei  seinem  Eintritt  aufhörte.  Daher  kommt  es,  daß  wir 
der  Güter  und  Vorteile,  die  wir  wirklich  besitzen,  gar  nicht  innewerden, 

5  noch  sie  schätzen,  sondern  nicht  anders  meinen,  als  eben  es  müsse  so 
sein,  denn  sie  beglücken  immer  nur  negativ,  Leiden  abhaltend.  Erst 
nachdem  wir  sie  verloren  haben,  wird  uns  ihr  Wert  fühlbar;  denn  der 
Mangel,  das  Entbehren,  das  Leiden  ist  das  Positive,  sich  unmittelbar 
Ankündigende.     Daher  auch  freut  uns  die  Erinnerung  überstandener 

10  Not,  Krankheit,  Mangel  und  dergleichen,  weil  solche  das  einzige  Mittel 
die  gegenwärtigen  Güter  zu  genießen  ist.  Auch  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  in  dieser  Hinsicht  und  auf  diesem  Standpunkt  des  Egoismus,  der 
die  Form  des  Lebenwollens  ist,  der  Anblick  oder  die  Schilderung  fremder 
Leiden  uns  auf  eben  jenem  Wege  Befriedigung  und  Genuß  gibt,  wie 

15  es  Lukretius  schön  und  ofienherzig  ausspricht,  im  Anfang  des  zweiten 
Buches : 

Süß  ist's  über  das  Meer,  wenn  Sturm  aufpeitschet  die  Wogen, 
Not  und  Mühe  der  Schiffer  zu  schaun  vom  sicheren  Lande, 
Nicht  weil  Anderer  Leid  dir  Lust  im  Herzen  erwecket, 
20  Nein,  weil  süß  es  erscheint  von  Trübsal  frei  sich  zu  wissen. 

Jedoch  wird  sich  uns  weiterhin  zeigen,  daß  diese  Art  der  Freude, 
durch  so  vermittelte  Erkenntnis  seines  Wohlseins,  der  Quelle  der  eigent- 
lichen positiven  Bosheit  sehr  nahe  liegt. 

Daß  alles  Glück  nur  negativer,  nicht  positiver  Natur  ist,  daß  es 

25  eben  deshalb  nicht  dauernde  Befriedigung  und  Beglückung  sein  kann, 
sondern  immer  nur  von  einem  Schmerz  oder  Mangel  erlöst,  auf  welchen 
entweder  ein  neuer  Schmerz,  oder  auch  languor,  leeres  Sehnen  und 
Langweile  folgen  muß;  dies  findet  einen  Beleg  auch  in  jenem  treuen 
Spiegel  des  Wesens  der  Welt  und  des  Lebens,  in  der  Kunst,  besonders 

30  in  der  Poesie.  Jede  epische  oder  dramatische  Dichtung  nämlich  kann 
immer  nur  ein  Eingen,  Streben  und  Kämpfen  um  Glück,  nie  aber  das 
bleibende  und  vollendete  Glück  selbst  darstellen.  Sie  führt  ihren  Helden 
durch  tausend  Schwierigkeiten  und  Gefahren  bis  zum  Ziel:  sobald  es 
erreicht  ist,  läßt  sie  schnell  den  Vorhang  fallen.    Denn  es  bliebe  ihr  jetzt 

35  nichts  übrig,  als  zu  zeigen,  daß  das  glänzende  Ziel,  in  welchem  der  Held 
das  Glück  zu  finden  wähnte,  auch  ihn  nur  geneckt  hatte,  und  er  nach 
dessen  Erreichung  nicht  besser  daran  war  als  zuvor.  Weil  ein  echtes, 
bleibendes  Glück  nicht  möglich  ist,  kann  es  kein  Gegenstand  der  Kunst 
sein.     Zwar  ist  der  Zweck  des  Idylls  wohl  eigenthch  die  Schilderung 

40   eines  solchen:   allein  man  sieht  auch,  daß  das  Idyll  als  solches  sich  nicht 


264  Schopenhauer. 


halten  kann.  Immer  wird  es  dem  Dichter  unter  den  Händen  ent- 
weder episch  und  ist  dann  nur  ein  sehr  unbedeutendes  Epos,  aus  kleinen 
Leiden,  kleinen  Freuden  und  kleinen  Bestrebungen  zusammengesetzt: 
dies  ist  der  häufigste  Fall;  oder  aber  es  wird  zur  bloß  beschreibenden 
Poesie,  schildert  die  Schönheit  der  Natur,  das  heißt  eigentlich  das  reine  5 
willensfreie  Erkennen,  welches  freilich  auch  in  der  Tat  das  einzige  reine 
Glück  ist,  dem  weder  Leiden  noch  Bedürfnis  vorhergeht,  noch  auch 
Reue,  Leiden,  Leere,  Überdruß  notwendig  folgt:  nur  kann  dieses  Glück 
nicht  das  ganze  Leben  füllen,  sondern  bloß  Augenblicke  desselben.  — 
Was  wir  in  der  Poesie  sehen,  finden  wir  in  der  Musik  wieder,  in  deren  lo 
Melodie  wir  ja  die  allgemein  ausgedrückte  innerste  Geschichte  des  sich 
selbst  bewußten  Willens,  das  geheimste  Leben,  Sehnen,  Leiden  und 
Freuen,  das  Ebben  und  Fluten  des  menschlichen  Herzens  wiedererkannt 
haben.  Die  Melodie  ist  immer  ein  Abweichen  vom  Grundton  durch 
tausend  wunderliche  Irrgänge  bis  zur  schmerzlichsten  Dissonanz,  darauf  i5 
sie  endlich  den  Grundton  wiederfindet,  der  die  Befriedigung  und  Be- 
ruhigung des  Willens  ausdrückt,  mit  welchem  aber  nachher  weiter  nichts 
mehr  zu  machen  ist  und  dessen  längeres  Anhalten  nur  lästige  und  nichts- 
sagende Monotonie  wäre,  der  Langweile  entsprechend. 

Alles  was  diese  Betrachtungen  deutlich  machen  sollten,  die  Unerreich-   20 
barkeit  dauernder  Befriedigung  und  die  Negativität  alles  Glückes  findet 
seine  Erklärung  in  dem,  was  am  Schlüsse  des  zweiten  Buches  gezeigt 
ist:    daß  nämlich  der  Wille,  dessen  Objektivation  das  Menschenleben 
wie  jede  Erscheinung  ist,  ein  Streben  ohne  Ziel  und  ohne  Ende  ist. 
Das  Gepräge  dieser  Endlosigkeit  finden  wir  auch  allen  Teilen  seiner  ge-   25 
samten  Erscheinung  aufgedrückt,  von  der  allgemeinsten  Form  dieser, 
der  Zeit  und  dem  Raum  ohne  Ende  an,  bis  zur  vollendetsten  aller  Er- 
scheinungen, dem  Leben  und  Streben  des  Menschen.  —  Man  kann  drei 
Extreme  des  Menschenlebens  theoretisch  annehmen  und  sie  als  Elemente 
des  wirklichen  Menschenlebens  betrachten.  ErstHch  das  gewaltige  Wollen,   30 
die  großen  Leidenschaften  (Radscha  Guna).  Es  tritt  hervor  in  den  großen 
historischen  Charakteren;    es  ist  geschildert  im  Epos  und  Drama:    es 
kann  sich  aber  auch  in  der  kleinen  Sphäre  zeigen,  denn  die  Größe  der 
Objekte  mißt  sich  hier  nur  nach  dem  Grade,  in  welchem  sie  den  Willen 
bewegen,  nicht  nach  ihren  äußeren  Verhältnissen.    Sodann  zweitens  das   35 
reine  Erkennen,  das  Auffassen  der  Ideen,  bedingt  durch  Befreiung  der 
Erkenntnis  vom  Dienste  des  Willens:    das  Leben  des  Genius  (Satwa 
Guna).    Endlich  drittens  die  größte  Lethargie  des  Willens  und  damit  der 
an  ihn  gebundenen  Erkenntnis,  leeres  Sehnen,  lebenerstarrende  Lang- 
weile (Tama  Guna).   Das  Leben  des  Individuums,  weit  entfernt  in  einem   40 
dieser  Extreme  zu  verharren,  berührt  sie  nur  selten  und  ist  meistens 


Alles  Leben  ist  Leiden.  265 


nur  ein  schwaclies  und  schwankendes  Annähern  zu  dieser  oder  jener 
Seite,  ein  dürftiges  Wollen  kleinlicher  Objekte,  stets  wiederkehrend  und 
so  der  Langweile  entrinnend.  —  Es  ist  wirklich  unglaublich,  wie  nichts- 
sagend und  bedeutungsleer,  von  außen  gesehen,  und  wie  dumpf  und  be- 
0  sinnungslos,  von  innen  empfunden,  das  Leben  der  allermeisten  Menschen 
dahinfließt.  Es  ist  ein  mattes  Sehnen  und  Quälen,  ein  träumerisches 
Taumeln  durch  die  vier  Lebensalter  hindurch  zum  Tode,  unter  Be- 
gleitung einer  Reihe  trivialer  Gedanken.  Sie  gleichen  Uhrwerken,  welche 
aufgezogen  werden  und  gehen,  ohne  zu  wessen  warum;    und  jedesmal, 

10  daß  ein  Mensch  gezeugt  und  geboren  worden,  ist  die  Uhr  des  Menschen- 
lebens aufs  neue  aufgezogen,  um  jetzt  ihr  schon  zahllose  Male  abgespieltes 
Leierstück  abermals  zu  wiederholen,  Satz  vor  Satz  und  Takt  vor  Takt, 
mit  unbedeutenden  Variationen.  —  Jedes  Individuum,  jedes  Menschen- 
gesicht und  dessen  Lebenslauf  ist  nur  ein  kurzer  Traum  mehr  des  un- 

15  endhchen  Naturgeistes,  des  beharrhchen  Willens  zum  Leben,  ist  nur 
ein  flüchtiges  Gebilde  mehr,  das  er  spielend  hinzeichnet  auf  sein  unend- 
Hches  Blatt,  Raum  und  Zeit,  und  eine  gegen  diese  verschwindend  kleine 
Weile  bestehen  läßt,  dann  auslöscht,  neuen  Platz  zu  machen.  Dennoch, 
und  hier  liegt  die  bedenkhche  Seite  des  Lebens,  muß  jedes  dieser  flüch- 

20  tigen  Gebilde,  dieser  schalen  Einfälle,  vom  ganzen  Willen  zum  Leben, 
in  aller  seiner  Heftigkeit,  mit  vielen  und  tiefen  Schmerzen  und  zuletzt 
mit  einem  lange  gefürchteten,  endlich  eintretenden  bitteren  Tode  be- 
zahlt werden.  Darum  macht  uns  der  AnbHck  eines  Leichnams  so  plötz- 
lich ernst. 

25  Das  Leben  jedes  einzelnen  ist,  wenn  man  es  im  ganzen  und  allge- 
meinen übersieht  und  nur  die  bedeutsamsten  Züge  heraushebt,  eigent- 
lich immer  ein  Trauerspiel;  aber  im  einzelnen  durchgegangen  hat  es 
den  Charakter  des  Lustspiels.  Denn  das  Treiben  und  die  Plage  des  Tages, 
die  rastlose  Neckerei  des  Augenblicks,  das  Wünschen   und  Fürchten  der 

30  Woche,  die  Unfälle  jeder  Stunde,  mittels  des  stets  auf  Schabernack  be- 
dachten Zufalls,  sind  lauter  Komödienszenen.  Aber  die  nie  erfüllten 
Wünsche,  das  vereitelte  Streben,  die  vom  Schicksal  unbarmherzig  zer- 
tretenen Hoffnungen,  die  unzähhgen  Irrtümer  des  ganzen  Lebens,  mit 
dem  steigenden  Leiden  und  Tode  am  Schlüsse,  geben  immer  ein  Trauer- 

35  spiel.  So  muß,  als  ob  das  Schicksal  zum  Jammer  unseres  Daseins  noch 
den  Spott  fügen  gewollt,  unser  Leben  alle  Wehen  des  Trauerspiels 
enthalten  und  wir  dabei  doch  nicht  einmal  die  Würde  tragischer  Per- 
sonen behaupten  können,  sondern,  im  breiten  Detail  des  Lebens,  un- 
umgängHch  läppische  Lustspielcharaktere  sind. 

40  So  sehr  nun  aber  auch  große  und  kleine  Plagen  jedes  Menschen- 
leben füllen  und  in  steter  Unruhe  und  Bewegung  erhalten,  so  vermögen 


266  Schopenhauer. 


sie  doch  nicht  die  UnzulängUchkeit  des  Lebens  zur  Erfüllung  des  Geistes, 
das  Leere  und  Schale  des  Daseins  zu  verdecken,  oder  die  Langweile  aus- 
zuschließen, die  immer  bereit  ist,  jede  Pause  zu  füllen,  welche  die  Sorge 
läßt.  Daraus  ist  es  entstanden,  daß  der  menschliche  Geist,  noch  nicht 
zufrieden  mit  den  Sorgen,  Bekümmernissen  und  Beschäftigungen,  die  5 
ihm  die  wirkHche  Welt  auflegt,  sich  in  der  Gestalt  von  tausend  ver- 
schiedenen Superstitionen  noch  eine  imaginäre  Welt  schafft,  mit  dieser 
sich  dann  auf  alle  Weise  zu  tun  macht  und  Zeit  und  Kräfte  an  ihr  ver- 
schwendet, sobald  die  wirkliche  ihm  die  Ruhe  gönnen  will,  für  die  er 
gar  nicht  empf änghch  ist.  Dieses  ist  daher  auch  ursprünghch  am  meisten  lo 
der  Fall  bei  den  Völkern,  welchen  die  Milde  des  Himmelsstriches  und 
Bodens  das  Leben  leicht  macht,  vor  allen  bei  den  Hindus,  dann  bei  den 
Griechen,  Eömern  und  später  bei  den  ItaHenern,  Spaniern  u.  s.  w.  — 
Dämonen,  Götter  und  Heihge  schafft  sich  der  Mensch  nach  seinem 
eigenen  Bilde;  diesen  müssen  dann  unablässig  Opfer,  Gebete,  Tempel-  i5 
Verzierungen,  Gelübde  und  deren  Lösung,  Wallfahrten,  Begrüßungen, 
Schmückung  der  Bilder  u.  s.  w.  dargebracht  werden.  Ihr  Dienst  ver- 
webt sich  überall  mit  der  Wirklichkeit,  ja  verdunkelt  diese:  jedes  Er- 
eignis des  Lebens  wird  dann  als  Gegenwirkung  jener  Wesen  aufge- 
nommen: der  Umgang  mit  ihnen  füllt  die  halbe  Zeit  des  Lebens  aus,  20 
unterhält  beständig  die  Hoffnung  und  wird,  durch  den  Reiz  der  Täu- 
schung, interessanter,  als  der  mit  wirklichen  Wesen.  Es  ist  der  Ausdruck 
und  das  Symptom  der  doppelten  Bedürftigkeit  des  Menschen,  teils 
nach  Hilfe  und  Beistand  und  teils  nach  Beschäftigung  und  Kurzweil: 
und  wenn  er  auch  dem  ersteren  Bedürfnis  oft  gerade  entgegenarbeitet,  25 
indem  bei  vorkommenden  Unfällen  und  Gefahren  kostbare  Zeit  und 
Kräfte,  statt  auf  deren  Abwendung,  auf  Gebete  und  Opfer  unnütz 
verwendet  werden,  so  dient  er  dem  zweiten  Bedürfnis  dafür  desto  besser, 
durch  jene  phantastische  Unterhaltung  mit  einer  erträumten  Geister- 
welt: und  dies  ist  der  gar  nicht  zu  verachtende  Gewinn  aller  Super-  3o 
stitionen. 

Arthur  Schopenhauer  (1788 — 1860)  lehrt,  als  Jünger  Kants,  daß  die  Welt 
unsere  Vorstellung  sei,  und  schHeßt  von  der  Erscheinungswelt  aus  auf  etwas, 
das  ihr  zu  Grunde  liegt.  Kant  hatte  dies  zu  Grunde  Liegende,  das  Ding  an 
sich,  als  unerkennbar  bezeichnet,  S.  begreift  es  als  Will  e.  Es  war  ein  Aus- 
druck seiner  eigenen  inneren  Erlebnisse,  wenn  er  die  Triebe  und  Leiden- 
schaften als  die  eigentlichen  Bewegerinnen  des  menschlichen  Lebens  und 
Handelns  ansah  und  dies  dunkle  Streben  und  Drängen  überall  in  der  Erschei- 
nungswelt wiederfand  und  als  Urgrund  alles  Seins  bezeichnete.  Gehen  wir 
von  diesem  Urgrund  aus,  so  können  wir  sagen,  daß  der  Wille  in  der  Welt  in 
die  Erscheinung  (für  ein  auffassendes  Bewußtsein)  tritt,  sich  objektiviert. 


Erläuterungen.  267 


Doch  wir  können  Stufen  dieser  Objektivation  unterscheiden:  „Wir  sehen  auf 
der  untersten  Stufe  den  Willen  sich  darstellen  als  einen  blinden  Drang,  ein 
finsteres,  dumpfes  Treiben,  fern  von  aller  unmittelbaren  Erkennbarkeit.  Es 
ist  die  einfachste  und  schwächste  Art  seiner  Objektivation.  Als  solcher  blinder 
Drang  und  erkenntnisloses  Streben  erscheint  er  aber  noch  in 
der  ganzen  unorganischen  Natur,  in  allen  den  ursprünglichen  Kräften,  welche 
aufzusuchen  und  ihre  Gesetze  kennen  zu  lernen  Physik  und  Chemie  beschäf- 
tigt sind,  und  jede  von  welchen  sich  uns  in  ^lillionen  ganz  gleichartiger, 
keine  Spur  von  individuellem  Charakter  ankündigender 
Erscheinungen  darstellt .  .  .  Von  Stufe  zu  Stufe  sich  deutlicher  objektivierend, 
wirkt  dennoch  auch  im  Pflanzenreich,  wo  nicht  mehr  eigentliche  Ursachen, 
sondern  Reize  das  Band  seiner  Erscheinungen  sind,  der  Wille  doch  noch 
völlig  erkenntnislos,  als  finstere  treibende  KJraft  und  so  endlich  auch  noch 
im  vegetativen  Teil  der  tierischen  Erscheinung  .  .  .,  wo  immer  nur  noch  bloße 
Reize  seine  Erscheinung  notwendig  bestimmen.  Die  immer  höher  stehenden 
Stufen  der  Objektivität  des  Willens  führen  endlich  zu  dem  Punkt,  wo  das 
Individuum,  welches  die  Idee  (im  Sinne  Piatos)  darstellt,  nicht  mehr 
durch  bloße  Bewegung  auf  Reize  seine  zu  assimilierende  Nahrung  erhalten 
konnte,  weil  solcher  Reiz  abgewartet  werden  muß,  hier  aber  die  Nahrung  eine 
spezieller  bestimmte  ist,  und  bei  der  immer  mehr  angewachsenen  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  das  Gedränge  und  Gewirre  so  groß  geworden 
ist,  daß  sie  einander  stören  und  der  Zufall,  von  dem  das  durch  bloße  Reize 
bewegte  Individuum  seine  Nahrung  erwarten  muß,  zu  ungünstig  sein  würde. 
Die  Nahrung  muß  daher  aufgesucht  werden  .  .  .  Dadurch  wird  hier  die  Be- 
wegung auf  Motive  und  wegen  dieser  die  Erkenntnis  notwendig, 
welche  also  eintritt  als  ein  auf  dieser  Stufe  der  Objektivation  des  Willens 
erfordertes  Hilfsmittel  zur  Erhaltung  des  Individuums  und  Fortpflanzung  des 
Geschlechts.  Sie  tritt  hervor,  repräsentiert  durch  das  Gehirn  oder  ein  größeres 
Ganglion,  eben  wie  jede  andere  Bestrebung  oder  Bestimmung  des  sich  ob- 
jektivierenden Willens  durch  ein  Organ  repräsentiert  ist,  das  heißt  für  die  Vor- 
stellung sich  als  Oi'gan  darstellt.  —  Allein  mit  diesem  Hilfsmittel  steht  nun 
mit  einem  Schlage  die  Welt  als  Vorstellung  da,  mit  allen  ihren 
Formen,  Objekt  und  Subjekt,  Zeit,  Raum,  Vielheit  und  Kausalität.  Die  Welt 
zeigt  jetzt  die  zweite  Seite.  Bisher  bloß  Wille,  ist  sie  nun  zugleich  Vor- 
stellung, Objekt  des  erkennenden  Subjekts  .  .  .  Endlich  nun  da,  wo 
der  Wille  zum  höchsten  Grad  seiner  Objektivation  gelangt  ist,  reicht  die  den 
Tieren  aufgegangene  Erkenntnis  des  Verstandes,  dem  die  Sinne 
die  Data  Uefern,  woraus  bloße  Anschauung,  die  an  die  Gegenwart  gebunden 
ist,  hervorgeht,  nicht  mehr  zu:  das  komplizierte,  vielseitige,  bildsame,  höchst 
bedürftige  und  unzähHgen  Verletzungen  ausgesetzte  Wesen,  der  Mensch, 
mußte,  um  bestehen  zu  können,  durch  eine,  doppelte  Erkenntnis  erleuchtet 
werden,  gleichsam  eine  höhere  Potenz  der  anschaulichen  Erkenntnis  mußte 
zu  dieser  hinzutreten,  eine  Reflexion  jener:  die  Vernunft  als  das  Ver- 
mögen abstrakter  Begriffe."  Das  Zitat  enthält  die  für  das  Verständnis  unseres 
Lesestückes  nötigen  Grundlehren  S.s.     Das  letztere  ist  genommen  aus  dem 


268  Schopenhauer. 


vierten  Buch  von  S.s  Hauptwerk  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  und  gibt 
in  schöner  und  machtvoller  Darstellung  die  Motive  und  die  Begründung  der 
pessimistischen  Weltanschauung  unseres  Philosophen. 

Die  beste  und  am  leichtesten  erreichbare  Ausgabe  der  Werke  S.s  ist  die 
bei  Reclam  in  sechs  Bänden  erschienene  (Herausgeber  E.  Grisebach).  Von 
den  Werken  über  S.  seien  erwähnt:  Rudolf  Lehmann,  Schopenhauer,  1894, 
Johannes  Volkelt,  Arthur  Schopenhauer,  1900,  Kuno  Fischer,  Gesch.  d.  neueren 
Philos.,  Bd.  IX,  2.  Auflage  1898.  Die  Tatsachen  seines  Lebens  gibt  knapp 
und  übersichtlich  E.  Grisebach,  Schopenhauer,  Geschichte  seines  Lebens, 
1897.  Außerdem  enthalten  die  Gesamtdarstellungen  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie kurze  Übersichten  über  S.s  Philosophie  und  weitere  Literaturangaben. 
Zur  ersten  Lektüre  sind  zu  empfehlen  S.s  „Parerga  und  Paralipomena"  (in 
Reclams  Ausgabe  Band  IV  und  V). 

254  16  f.  Der  Ausdruck  „formelle  Seite"  wird  deutlich,  wenn  wir  an  die 
Kantische  Lehre  denken,  daß  Raum  und  Zeit  Formen  des  Erkennens  sind. 

2555.  Vergleiche  die  Vorbemerkung  und  zu  näherer  Kenntnis  S.s  Schrift: 
„Über  den  Willen  in  der  Natur". 

256 1.  Die  Zitate  sind  aus  Lucrez,  De  natura  rerum  entnommen.  Ver- 
gleiche 262  5  f.  und  263  17  f. 

256  40  f.  Das  Philadelphische  Pönitenziarsystem  war  ein  sogenanntes  Ver- 
einzelungssystem und  wurde  im  Jahre  1786  eingeführt.  Darüber  heißt  es 
in  HoltzendorfTs  Strafrecht,  1871:  „Das  Isolierungs-  oder  pennsylvanische 
Zellensystem  ging  von  dem  Grundgedanken  aus,  daß  das  Zusammenleben 
von  Sträflingen  an  Leib  und  Seele  verdirbt,  was  noch  zu  verheeren  ist,  und 
daß  ohne  bessernde  Gefängniszucht  die  Strafe  fruchtlos  bleibt.  Die  ursprüng- 
liche, rohe,  durch  quäkerische  Askesis  verfälschte  Form  der  Isolierung  der 
SträfHnge  durch  die  Einrichtung  einer  arbeitslosen,  lebensfremden  Verein- 
samung, der  mosf  rigid  and  unremitted  solitude,  mußte  im  Namen  der  Mensch- 
lichkeit bald  aufgegeben  werden." 

257  17  f.  Den  durch  das  reine  Erkennen  gewonnenen  Zustand  schildert 
S.  einmal  so:  „Wenn  äußerer  Anlaß  oder  innere  Stimmung  uns  plötzlich 
aus  dem  endlosen  Strome  des  Wollens  heraushebt,  die  Erkenntnis  dem  Sklaven- 
dienste des  Willens  entreißt,  die  Aufmerksamkeit  nun  nicht  mehr  auf  die 
Motive  des  Willens  gerichtet  wird,  sondern  die  Dinge  frei  von  ihrer  Beziehung 
auf  den  Willen  auffaßt,  also  ohne  Interesse,  ohne  Subjektivität,  rein  objektiv 
sie  betrachtet,  ihnen  ganz  hingegeben,  sofern  sie  bloß  Vorstellungen,  nicht 
sofern  sie  Motive  sind:  dann  ist  die  auf  jenem  ersten  Wege  des  Wollens  immer 
gesuchte,  aber  immer  entfliehende  Ruhe  auf  einmal  eingetreten,  und  uns  ist 
völlig  wohl.  Es  ist  der  schmerzenslose  Zustand,  den  Epikuros  als  das  höchste 
Gut  und  als  den  Zustand  der  Götter  pries:  denn  wir  sind  für  jenen  Augenblick 
des  schnöden  Willensdranges  entledigt,  wir  feiern  den  Sabbath  der  Zucht- 
hausarbeit des  Willens,  das  Rad  des  Ixion  steht  still. "  —  Der  Genuß  des  Schönen 
ist  nach  S.,  der  sich  hier  an  Kant  anschließt,  ein  „interesseloses  Anschauen". 
Wir  verlieren  uns  gänzlich  in  dem  Gegenstande  und  werden  zum  reinen,  willen- 
losen, schmerzlosen,   zeitlosen  Subjekt  der  Erkenntnis. 


Erläuterungen.  269 


258  6  ff.  Die  Zitate  sind  aus  Homers  Ilias  und  Odyssee  entnommen. 
Der  Sohn  des  Zeus  ist  Herakles. 

258  13  f.  Hier  drängt  sich  uns  wohl  die  Erinnerung  an  die  Klage  des 
Goethischen  Faust  auf: 

Dem  Herrlichsten,  was  auch  der  Geist  empfangen, 
Drängt  immer  fremd  und  fremder  Stoff  sich  an; 
Wenn  wir  zum  Guten  dieser  Welt  gelangen, 
'  Dann  heißt  das  Bess're  Trug  und  Wahn. 
Die  uns  das  Leben  gaben,  herrliche  Gefühle, 
Erstarren  in  dem  irdischen  Gewühle. 
Wenn  Phantasie  sich  sonst  mit  kühnem  Flug 
Und  hoffnungsvoll  zum  E^\dgen  erweitert, 
So  ist  ein  kleiner  Raum  ihr  nun  genug. 
Wenn  Glück  auf  Glück  im  Zeitenstrudel  scheitert. 
Die  Sorge  nistet  gleich  im  tiefen  Herzen, 
Dort  wirket  sie  geheime  Schmerzen, 
Unruhig  wiegt  sie  sich  und  störet  Lust  und  Ruh; 
Sie  deckt  sich  stets  mit  neuen  Masken  zu, 
Sie  mag  als  Haus  und  Hof,  als  Weib  und  Kind  erscheinen, 
Als  Feuer,  Wasser,  Dolch  und  Gift; 
Du  bebst  vor  allem,  was  nicht  trifft. 
Und  was  du  nie  verlierst,  das  mußt  du  stets  beweinen. 

258  23.    Vergleiche  Lesestück  IV. 

259  19.  S.  denkt  wohl  an  das  einleitende  Gespräch  in  Piatos  Staat  (I.  c.  1 — 4). 
Nicht  das  Alter,  so  heißt  es  dort,  ist  an  und  für  sich  beschwerUch,  sondern 
die  Sinnesart  des  Menschen  entscheidet  über  seine  Lebensstimmung.  Ist 
jene  heiter,  so  vermag  das  Alter  sie  nicht  zu  trüben,  ist  sie  trübe,  so  kann  die 
Jugend  sie  nicht  aufheitern. 

261  28  ff.    Es  ist  die  dritte  Ode  aus  Buch  IL 

264  22  f.  Es  heißt  an  der  bezeichneten  Stelle:  „Abwesenheit  alles  Zieles, 
aller  Grenzen  gehört  zum  Wesen  des  Willens  an  sich,  der  ein  endloses  Streben 
ist."  Und  etwas  später:  „Jedes  erreichte  Ziel  ist  wieder  Anfang  einer  neuen 
Laufbahn  und  so  ins  Unendliche.  Die  Pflanze  erhöht  ihre  Erscheinung  vom 
Keim  durch  Stamm  und  Blatt  zur  Blüte  und  Frucht,  welche  wieder  nur  Anfang 
eines  neuen  Keimes  ist,  eines  neuen  Individuums,  das  abermals  die  alte  Bahn 
durchläuft,  und  so  dmxh  unendliche  Zeit.  Ebenso  ist  der  Lebenslauf  des 
Tieres :  die  Zeugung  ist  der  Gipfel  desselben,  nach  dessen  Erreichung  das  Leben 
des  ersten  Individuums  schnell  oder  langsam  sinkt,  während  ein  neues  der 
Natur  die  Erhaltung  der  Spezies  verbürgt  und  dieselbe  Erscheinung  wieder- 
holt .  .  .  E-\vige3  Werden,  endloser  Fluß,  gehört  zur  Offenbarung  des  Wesens 
des  Willens." 

264  28,29.  Diese  Einteilung  hat  S.  entnommen  aus  Manus  Gesetzbuch.  Nach 
einer  von  W.  Siegling  für  uns  freundlichst  angefertigten  Übersetzung  heißt 
es  dort  in  Kap.  XII: 


270  Schopenhauer. 


Vers  24.  Sattva,  Rajas  und  Tamas  soll  man  erkennen  als  die  drei 
Grundeigenschaften  (gunas)  des  Selbst,  mit  welchen  der  erhabene  Große 
(das  große  Prinzip)  alle  diese  (Wesen)  vollständig  erfüllt  hat. 

25.  Wenn  eine  dieser  Eigenschaften  besonders  im  Körper  vorwaltet, 
dann  gestaltet  sie  diese  Seele  so,  daß  diese  Eigenschaft  den  Hauptbestand- 
teil bildet. 

26.  Sattva  ist  Wissen,  Tamas  Unwissenheit,  Rajas  Liebe  und  Haß, 
so  lautet  die  Überlieferung;  dies  ist  ihr  allumfassender,  an  allen  Wesen 
haftender  Charakter. 

27.  Wenn  man  im  Innern  etwas  Freudiges  fühlt,  gleichsam  Ruhe,  ein 
reines  Licht,  so  soll  man  das  als  Sattva  erkennen. 

28.  Was  aber  von  Schmerz  begleitet  ist  und  dem  Innern  Unfreude 
bringt,  das  soll  man  als  Rajas  erkennen,  das  unwiderstehlich  und  beständig 
die  Seelen  abzieht  (von  der  wahren  Erkenntnis). 

29.  Was  aber  von  Verblendung  begleitet  ist,  das  unbegreifliche  Ding, 
das  man  sich  nicht  vorstellen,  nicht  erkennen  kann,  das  soU  man  Tamas 
nennen. 

Über  die  Folgen  dieser  verschiedenen  gunas  heißt  es  dann: 

31.  Vedastudium,  Askese,  Wissen,  Reinheit,  Bezähmung  der  Sinne, 
gesetzmäßiges  Handeln  und  Meditation  sind  die  Wirkungen  des  Sattva- 
guna. 

32.  Unternehmungslust,  Wankelmut,  das  Ergreifen  unerlaubter 
Beschäftigungen  und  beständiges  Frönen  der  Sinnlichkeit  sind  die  Wir- 
kungen des   Rajas-guna. 

33.  Begierde,  Schläfrigkeit,  Unruhe,  Grausamkeit,  Aufgeben  des 
guten  Lebenswandels,  Bettelei  und  Nachlässigkeit  sind  die  Wirkungen 
des  Tamas-guna. 

40.  Die  das  Sattva  besitzen,  werden  Götter;  die  das  Rajas  besitzen, 
werden  Menschen;  zur  tierischen  Natur  gelangen  beständig  die,  welche 
das  Tamus  besitzen ;  das  ist  der  dreifache  Weg  (des  Kreislaufs  der  Geburten). 
Vgl.  hierzu  R.  Garbe,  Die  Sämkhya-Philosophie,  1894. 

265  12.  S.  leugnet  hier  also  jede  Entwicklung.  Dies  entspricht  seinem 
Mangel  an  historischem  Sinn. 

266  31.  Eine  Erlösung  von  diesem  Leiden  ist  nur  möglich  durch  die  Er- 
kenntnis, daß  derselbe  Wille  in  allem  sei  und  daß  ihm  nur  zu  entrinnen  ist  durch 
die  Verneinung  des  Willens  zum  Leben,  S.  erläutert  diesen  Gedanken  an  dem 
Leben  der  Heiligen,  welche  die  Welt  überwanden  und  dauernde  Heiterkeit 
der  Seele  gewannen.  Diese  Erlösung  nennt  er  eine  Gnadenwirkung  und  schmerz- 
voll drückt  er  die  Sehnsucht  nach  einer  solchen  aus:  „Wenden  wir  den  Blick 
von  unserer  eigenen  Dürftigkeit  und  Befangenheit  auf  diejenigen,  welche  die 
Welt  überwanden,  in  denen  der  Wille,  zur  vollen  Selbsterkenntnis  gelangt,  sich 
in  allem  wiederfand  und  dann  sich  selbst  frei  verneinte,  und  welche  dann  nur 
noch  seine  letzte  Spur  mit  dem  Leibe,  den  sie  belebt,  verschwinden  zu  sehen 
abwarten,  so  zeigt  sich  uns,  statt  des  rastlosen  Dranges  und  Treibens,  statt  des 
steten  Überganges  von  Wunsch  zu  Furcht  und  von  Freude  zu  Leid,  statt  der  nie 


Erläuteningen.  271 


zu  befriedigenden  und  nie  ersterbenden  Hoffnung,  daraus  der  Lebenstraum, 
des  wollenden  Menschen  besteht,  jener  Friede,  der  höher  ist  als  alle  Vernunft, 
jene  gänzHche  Meeresstille  des  Gemüts,  jene  tiefe  Ruhe,  unerschütterHche 
Zuversicht  und  Heiterkeit,  deren  bloßer  Abglanz  im  Antlitz  .  .  .  ein  ganzes 
und  sicheres  Evangehum  ist:  nur  die  Erkenntnis  ist  geblieben,  der  WiUe  ist 
verschwunden.  Wir  aber  blicken  dann  mit  tiefer  und  schmerzHcher  Sehnsucht 
auf  diesen  Zustand,  neben  welchem  das  Jammervolle  und  Heillose  unseres 
Lebens  durch  den  Kontrast  in  vollem  Lichte  erscheint."  —  Vor  uns  bleibt 
allerdings  nur  das  Nichts.  —  „Wir  bekennen  es  frei:  was  nach  gänzlicher 
Aufhebung  des  Willens  übrig  bleibt,  ist  für  alle  die,  welche  noch  des  Willens 
voU  sind,  allerdings  nichts.  Aber  auch  umgekehrt  ist  denen,  in  welchen  der 
Wüle  sich  gewendet  und  verneint  hat,  diese  unsere  so  sehr  reale  Welt  mit  allen 
ihren  Sonnen  und  ^Milchstraßen  —  nichts." 

M  e  n  z  e  r. 


XX. 

Comte. 


über  Wesen  und  Bedeutung  der  positiven  Philosophie. 

Bei  Betrachtung  der  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  in  all 
seinen  verschiedenen  Wirkungssphären  seit  seinem  ersten,  unschein- 
baren Aufkeimen  bis  zur  Gegenwart  glaube  ich  ein  großes  allgemeines 
Gesetz  gefunden  zu  haben,  dem  er  mit  unabwendbarer  Notwendigkeit 
imterworfen  ist.  Es  kann,  wie  ich  meine,  fest  und  sicher  begründet  s 
werden  durch  die  wissenschafthchen  Theorien  über  unsere  Organisation 
und  die  Bestätigungen,  welche  eine  genaue  geschichtliche  Erforschung 
der  Vergangenheit  gegeben  hat.  Dies  Gesetz  sagt,  daß  all  unsere  letzten 
Gedanken  und  einzelnen  Kenntnisse  nacheinander  drei  verschiedene 
Stadien  des  Erkennens  durchlaufen:  das  theologische  oder  fiktive,  das  lo 
metaphysische  oder  abstrakte,  das  wissenschaftliche  oder  positive.  Mit 
anderen  Worten:  der  menschliche  Geist  wendet  nach  einem  Gesetze 
seiner  Natur  nacheinander  bei  jeder  seiner  Untersuchimgen  drei 
Methoden  des  Philosophierens  an,  welche  ihrem  Wesen  nach  ver- 
schieden und  selbst  einander  absolut  entgegengesetzt  sind:  zuerst  die  is 
theologische  Methode,  dann  die  metaphysische  und  endlich  die  positive. 
Daraus  entstehen  drei  Arten  der  Philosophie  oder  allgemeine  Systeme 
von  Gedanken  über  den  Zusammenhang  der  Dinge,  welche  sich  gegen- 
seitig ausschheßen:  die  erste  ist  der  notwendige  Ausgangspunkt  des 
menschUchen  Denkens,  die  dritte  sein  End-  und  Ruhepunkt,  die  zweite  20 
dient  nur  als  Übergang  von  dem  einen  zum  anderen. 

Im  theologischen  Stadium  richtet  der  menschhche  Geist  seine  4 
Untersuchungen  im  wesentlichen  auf  die  innere  Natur  der  Dinge  und 
die  ersten  Ursachen  und  letzten  Ziele  alles  Geschehens,  mit  einem  Wort : 
auf  eine  absolute  Erkenntnis.  Er  sieht  in  allen  Vorgängen  das  unmittel-  25 
bare,  ununterbrochene  Wirken  von  mehr  oder  minder  zahlreichen 
übernatürlichen  Wesen,  deren  vermeintliches  Eingreifen  alle  Unregel- 
mäßigkeit im  Weltall  erklären  soll,  die  ihm  in  die  Augen  fällt.  .- 


über  Wesen  und  Bedeutung  der  positiven  Philosophie.  273 

Im  metaphysischen  Stadium,  das  im  Grunde  nur  eine  einfache 
Abänderung  des  ersten  ist,  werden  die  übernatürlichen  Wesen  ersetzt 
durch  abstrakte  Kräfte,  als  wirklich  gedachte  Wesenheiten  (personi- 
fizierte Abstraktionen),  welche  den  verschiedenen  Dingen  der  Welt 
5  innewohnen  sollen.  Ihnen  schreibt  man  die  Fähigkeit  zu,  alle  be- 
obachteten Erscheinungen  zu  verursachen,  deren  jede  dann  durch  Ab- 
leitung aus  einer  entsprechenden  Wesenheit  erklärt  wird. 

Im  positiven  Stadium  erkennt  man  endlich  die  Unmöglichkeit, 
absolute  Erkenntnis  zu  gewinnen;    man  verzichtet  darauf,  Ursprung 

10  und  Bestimmung  des  Weltalls  zu  ergründen  und  die  inneren  Ursachen 
der  Erscheinungen  zu  begreifen.  Man  strebt  einzig  und  allein  danach, 
durch  wohlüberlegte  Vereinigung  von  Theorie  und  Beobachtung  ihre 
wirkenden  Gesetze,  das  heißt  ihre  unveränderlichen  Beziehungen  nach 
Zeitfolge  und  Ähnlichkeit  zu  entdecken.    Die  Erklärung  der  Vorgänge, 

15  so  erst  auf  ihr  wahres  Gebiet  beschränkt,  besteht  jetzt  nur  noch  in 
der  Vereinigung  der  verschiedenen  Einzelerscheinungen  mit  einigen 
allgemeinen  Tatsachen,  deren  Zahl  die  fortschreitende  Wissenschaft 
immer  mehr  zu  vermindern  strebt. 

Das  theologische  System  erreichte  seine  höchstmögliche  Vollkommen- 

20  heit,  als  es  das  voraussehende  Handeln  eines  einzigen  Wesens  an  die 
Stelle  des  wahllosen  Eingreifens  zahlreicher,  unabhängiger  Gottheiten 
setzte,  die  eine  primitive  Einbildungskraft  erdacht  hatte.  Ebenso 
liegt  die  letzte  Vollendung  des  metaphysischen  Systems  in  dem  Gedanken 
einer  einzigen  großen  allgemeinen  Wesenheit  an  Stelle  verschiedener 

25  einzelner :  der  Natur,  betrachtet  als  die  einzige  Quelle  aller  Er- 
scheinungen. Ebenso  würde  die  Vollkommenheit  der  positiven  Philo- 
sophie, welcher  sie  sich  immer  mehr  zu  nähern  strebt,  ohne  sie  wohl 
jemals  zu  erreichen,  darin  bestehen,  daß  es  gelingt,  sich  die  getrennt 
gegebenen  Erscheinungen    als   besondere  Fälle    einer    einzigen   letzten 

30  Tatsache  zu  denken,  wie  zum  Beispiel  der  Tatsache  der  Schwerkraft. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  dies  allgemeine  Gesetz  der  geistigen  Ent- 
wicklung der  Menschheit  im  einzelnen  zu  erweisen,  es  scheint  mir  genug, 
daß  ein  solches  Gesetz  ausgesprochen  wird,  um  unmittelbare  Anerken- 
nung bei  allen  zu  finden,  welche  eine  eindringende  Kenntnis  der  ali- 
as gemeinen  Geschichte  der  Wissenschaften  besitzen.  Letztere  sind  heute 
alle  in  das  positive  Stadium  gelangt,  waren  aber  früher  im  wesentlichen 
aus  metaphysischen  Abstraktionen  zusammengesetzt,  nachdem  sie  an- 
fangs von  theologischen  Begriffen  beherrscht  wurden. 

Diese  allgemeine  Umwälzung  des  menschlichen  Geistes  findet  heute 

40   außerdem    eine    sehr   einleuchtende  ,    obgleich   indirekte    Bestätigung, 
wenn    wir    die    geistige    Entwicklung    eines    Individuums    betrachten. 
Dessoir-Menzer,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  18 


274  Comte. 

Der  Ausgangspunkt  ist  bei  dem  Bildungsgange  des  Einzelnen  derselbe 
wie  bei  dem  der  Gattung,  und  die  versckiedenen  Phasen  des  ersteren 
müssen  die  allgemeinen  Epochen  des  letzteren  darstellen.  Wer  er- 
innert sich  nicht  in  Bezug  auf  seine  wichtigsten  Erkenntnisse  nach- 
einander ein  Gläubiger  als  Kind,  ein  Metaphysiker  als  JüngHng,  ein  5 
naturwissenschaftlich  Forschender  als  Mann  gewesen  zu  sein? 

Doch  ich  möchte  vor  allem  die  theoretischen  Gründe  betrachten, 
welche  die  Notwendigkeit  dieses  Gesetzes  erkennen  lassen.  Der  wich- 
tigste von  ihnen  hegt  in  der  Natur  der  Sache,  er  besteht  in  dem  Be- 
dürfnis jedes  Zeitalters  nach  einer  die  einzelnen  Tatsachen  verbindenden  lo 
Theorie,  obgleich  es  doch  offenbar  unmöghch  für  den  jugendlichen 
menschhchen  G^ist  ist,  Theorien  nach  Beobachtungen  zu  bilden. 

Seit  Bacon  wiederholen  alle  guten  Köpfe,   daß  wahre  Erkenntnis 
nur   aus   der   Beobachtung   von   Tatsachen   gewonnen   werden    kann. 
Dieser  Grundsatz  gilt,  wenn  man  ihn  richtig  anwendet,  zweifellos  für   is 
das  Mannesalter  unseres  Denkens.    Ebenso  gewiß  ist  aber,  daß  bei  der 
ersten   Bildung  von   Erkenntnissen   der   menschhche    Geist  in  seinem 
primitiven  Zustande  so  nicht  denken  konnte  und  auch  nicht  durfte, 
denn  wenn  auch  jede  Theorie  notwendig  auf  Beobachtungen  geführt 
sein  muß,   so  ist  doch  anderseits  klar,  daß  wir  zur  Beobachtung  irgend   20 
einer  Theorie  bedürfen.    Wenn  wir  die  Beobachtung  der  Erscheinungen 
mcht  sogleich  nach  bestimmten  Grundsätzen  einrichten  würden,  wäre  es 
uns  nicht  allein  unmöghch,  diese  vereinzelten  Beobachtungen  zu  ver- 
einigen und  dann  daraus  irgend  ein  Ergebnis  zu  ziehen,  wir  wären  sogar 
gänzHch  unfähig,   sie  festzuhalten ;  wir  würden  bhnd  sein  mit  offenen   25 
Augen. 

So  befand  sich  das  menschhche  Denken  an  seinem  Beginn  einge- 
schlossen in  einen  Kreis,  aus  dem  es  nie  herausgekommen  wäre,  wenn 
sich  nicht  ein  glückhcher  Ausweg  geöffnet  hätte  durch  die  natürhche 
Entwicklung  der  theologischen  Ideen.     Sie  gaben  den  Anstrengungen   so 
des  Denkens  ein  gemeinsames  Ziel  und  Stoff  seinem  Tatendrang. 

Daß  es  so  kommen  mußte,  wird  noch  deuthcher,  wenn  wir  betrachten, 
wie  vollkommen  die  theologische  Philosophie  mit  der  Eigenart  der 
Probleme  übereinstimmt,  an  deren  Überwindung  der  jugendliche  mensch- 
hche Geist  seine  ganze  Kraft  einsetzt.  Es  ist  merkwürdig,  daß  sich  unser  35 
Denken  in  diesem  primitiven  Zustande  gerade  die  für  uns  immer  un- 
lösbaren Fragen  stellt:  nach  dem  Wesen  der  Dinge,  Anfang  und  Ende 
der  Welt.  Alle  wirkhch  lösbaren  Probleme  werden  kaum  ins  Auge 
gefaßt,  als  wären  sie  unwert  eines  ernsteren  Nachdenkens.  Man  sieht 
leicht  den  Grund :  die  Erfahrung  allein  hat  uns  das  Maß  unserer  Kräfte  40 
zeigen   können.      Hätte   der   Mensch   nicht   mit     einer   übertriebenen 


über  Wesen  imd  Bedeutung  der  positiven  Philosophie.  275 

Schätzung  seines  Könnens  begonnen,  er  hätte  niemals  entwickeln  können, 
was  in  ihm  lag.     So  fordert  es  unsere  Organisation. 

Sehen  wir  auf  die  praktische  Bedeutung  dieses  Philosophierens  für 
den  primitiven  Menschen,  so  hatte  es  für  ihn  den  Eeiz,  daß  er  sich  als 
ö  unumschränkten  Herrscher  fühlte  über  die  ihn  umgebende  Welt,  welche 
ganz  für  seinen  Nutzen  eingerichtet  zu  sein  schien.  Diese  chimärischen 
Hoffnungen,  diese  übertriebenen  Anschauungen  von  der  Bedeutung 
des  Menschen  innerhalb  des  W^eltalls  entstehen  aus  der  theologischen 
Philosophie,   werden  aber  für  immer  beim  ersten  Einfluß  der  positiven 

10  Philosophie  zerstört.  Indessen,  sie  sind  die  unentbehrliche  Triebfeder, 
ohne  welche  der  Entschluß  des  primitiven  Menschens  zu  so  mühsamen 
Arbeiten  unerklärt  bleibt.  Wir  sind  erst  jetzt  reif  genug,  um  schwierige 
wissenschaftliche  Untersuchungen  zu  unternehmen,  ohne  daß  ein  außer- 
ordentliches Ziel  unsere  Phantasie  entflammt,  wie  es  bei  der  Astrologie 

15   und  Alchymie  der  Fall  war. 

Es  ist  jetzt  sehr  leicht  einzusehen,  daß  der  menschliche  Geist,  um 
von  dieser  vorläufigen  Philosophie  zur  endgültigen  überzugehen,  natürhch 
als  Übergangsphilosophie  die  metaphysischen  Methoden  und  Lehren 
annehmen  mußte.    Die  Theologie  und  die  Physik  sind  so  durchaus  un- 

20  vereinbar,  ihre  Art  zu  denken  ist  so  ganz  und  gar  entgegengesetzt,  daß 
der  menschliche  Geist,  ehe  er  auf  die  eine  verzichtete,  um  ausschheßhch 
die  andere  anzuwenden,  sich  vermittelnder  Begriffe  bedienen  mußte, 
welche  durch  ihren  zwiespältigen  Charakter  den  Übergang  erleichtern 
konnten.    Dies  ist  die  natürliche  Bestimmung  der  metaphysischen  Be- 

25  griffe :  sie  haben  sonst  keinen  wirklichen  Nutzen.  Wenn  nun  der  Mensch 
bei  der  Erforschung  der  Erscheinungen  an  die  Stelle  einer  übernatürlichen 
Leitung  eine  den  Dingen  entsprechende  und  von  ihnen  unabtrennbare 
Wesenheit  zur  Erklärung  einsetzte,  so  wurde  diese  zwar  zuerst  begriffen 
wie  eine  Ausstrahlung  aus  jener,  aber  allmähhch  gewöhnte  man  sich 

30  daran,  nur  die  gegebenen  Tatsachen  zu  betrachten.  Auch  w^urden  die 
Begriffe  dieser  metaphysischen  Anschauungen  allmähhch  so  verfeinert, 
daß  sie  für  ein  klares  Denken  nur  noch  abstrakte  Namen  der  Vorgänge 
waren. 

Es  wird  mir  nun  leicht  sein,  das  Wesen  der  positiven  Philosophie 

35  scharf  zu  bestimmen.  Für  sie  sind  alle  Vorgänge  unveränderlichen, 
natürlichen  Gesetzen  unterworfen,  deren  genaue  Entdeckung  und  Zu- 
rückführung  auf  eine  möglichst  geringe  Anzahl  das  Ziel  all  ihrer  Be- 
strebungen ist.  Für  sie  ist  es  ein  völlig  aussichtsloses  und  sinnloses 
Unternehmen,  nach  ersten  Ursachen  und  letzten  Zwecken  zu  forschen. 

*o  Selbst  in  den  vollendeten,  völHg  gelungenen  positiven  Erklärungen  haben 
wir  nicht  die  Anmaßung,  die   erzeugenden  (schaffenden)  Ursachen 


276  Comte. 

der  Vorgänge  darzustellen,  da  wir  so  nur  die  Schwierigkeit  hinausschieben 
würden.  Wir  wollen  nichts  als  die  Bedingungen  ihres  Auftretens  exakt 
zergHedern  und  sie  untereinander  durch  die  gewöhnlichen  Beziehungen 
von  Zeitfolge  und  Ähnlichkeit  verknüpfen. 

Um  das  bewundernswürdigste  Beispiel  zu  nennen :  wir  sagen,  daß  die   5 
allgemeinen  Vorgänge  im  Weltall  erklärt  sind,    soweit  dies  möglich 
ist,  durch  Newtons  Gesetz  der  Gravitation.    Denn  diese  schöne  Theorie 
zeigt  einerseits,  daß  die  grenzenlose  Mannigfaltigkeit  der  astronomischen 
Erscheinungen  ein  und  derselbe  Vorgang  ist,   nur  von  verschiedenen 
Gesichtspunkten   aus  angesehen;    anderseits  wird   uns   dies  allgemeine    lo 
Geschehen   dargestellt   auf    Grund   einer   einfachen   Verallgemeinerung 
eines  uns  ganz  vertrauten  Vorgangs,  der  Schwere  der  Körper  auf  der 
Erdoberfläche,  und  deshalb  betrachten  wir  es  als  völHg  erkannt.     Die 
Frage,  was  Anziehung  und  Schwere  selbst  und  welches  ihre  Ursachen 
seien,  gehört  zu  den  unlösbaren  und  nicht  in  das  Gebiet  der  positiven   is 
Philosophie,   und   wir  überlassen  sie   mit   Eecht  der  Einbüdungskraft 
der  Theologen  oder  der  Spitzfindigkeit  der  Metaphysiker.    Der  offenbare 
Beweis  für  die  Unmöglichkeit,  auf  solche  Fragen  Antwort  zu  erhalten. 
Hegt  in  der  Tatsache,  daß  bei  allen  Versuchen,  etwas  wirklich  Wissen- 
schafthches  hierüber  auszusagen,  die  größten  Geister  immer  nur  das  eine   20 
Prinzip  durch  das  andere  bestimmen  konnten ;  entweder  sagten  sie,  daß 
die  Anziehung  nur  eine  allgemeine  Schwere,  oder  daß  die  Schwere  nur 
eine  Anziehung  der  Erde  sei. 

Ich  habe  nun  zu  untersuchen,  zu  welcher  Phase  ihrer  Ausbildung 
die  positive  Philosophie  heute  gekommen  ist  und  was  noch  übrig  bleibt,    25 
um   alle   Erscheinungen  ihr  unterzuordnen. 

Ich  erinnere  zunächst  daran,  daß  die  verschiedenen  Zweige  unserer 
Kenntnisse  die  drei  großen  Phasen  ihrer  Entwicklung  nicht  gleichmäßig 
schnell  durchlaufen  konnten.  Es  besteht  hier  ein  unveränderliches 
und  notwendiges  Gesetz.  Es  entspricht  der  verschiedenen  Natur  der  30 
Erscheinungen  und  wird  bestimmt  durch  den  verschiedenen  Grad  ihrer 
Allgemeinheit,  Einfachheit  und  gegenseitigen  Abhängigkeit.  So  sind 
zuerst  die  astronomischen  Vorgänge  durch  positive  Theorien  begriffen 
worden,  dann  die  physikaHschen  im  eigentlichen  Sinne,  dann  die  che- 
mischen und  schHeßlich  die  physiologischen.  35 

Umfaßt  nun  die  positive  Philosophie  heute  alle  Arten  der  Erschei- 
nungen? Offenbar  ist  dies  nicht  der  Fall.  Es  ist  noch  viel  wissenschaft- 
hche  Arbeit  zu  tun,  um  der  positiven  Philosophie  den  Charakter  der 
Universahtät  zu  geben,  welcher  zu  ihrer  endgültigen  Herrschaft  unent- 
behrhch  ist.  ^^ 

TatsächHch  ist  innerhalb  der  vier  soeben  genannten  Hauptkategorien 


über  Wesen  und  Bedeutung  der  positiven  Philosophie.  277 

der  natürliclien  Erscheinungen  eine  Lücke.  Die  sozialen  Vorgänge 
verdienen,  obgleich  sie  mitbegriffen  werden  unter  den  physiologischen 
Vorgängen,  wegen  ihrer  Bedeutsamkeit  und  eigentümlichen  Schwierig- 
keiten für  die  Forschung,  eine  besondere  Kategorie  zu  bilden.  Diese  letzte 
5  Begriffsreihe,  welche  sich  auf  die  eigenartigsten,  zusammengesetztesten 
und  am  meisten  von  den  anderen  beeinflußten  Erscheinungen  bezieht, 
mußte  sich  schon  deshalb  langsamer  vollenden  als  die  vorigen.  Es 
ist  einleuchtend,  daß  sie  in  den  Bereich  der  positiven  Philosophie 
noch    nicht  eingetreten  ist.      Die    theologischen    imd   metaphysischen 

10  Methoden  sind  hier  noch  allein  im  Gebrauch,  obgleich  alle  guten  Köpfe 
schon  völlig  davon  überzeugt  sind,  daß  sie  für  diesen  Zweck  nicht  aus- 
reichen. 

Das  ist  die  große,  aber  offenbar  einzige  Lücke,  welche  ausgefüllt 
werden  muß,  um  die  Herrschaft  der  positiven  Philosophie  ganz  zu  be- 

15  gründen.  Jetzt,  wo  der  menschliche  Geist  eine  Physik  des  Himmels, 
der  Erde,  der  organischen  Wesen  begründet  hat,  bleibt  ihm  übrig,  das 
System  der  Erfahrungswissenschaften  zu  schließen  durch  Begründung 
einer  sozialen  Physik.  Dies  ist  heute  das  größte  und  dring- 
hchste  Bedürfnis  unseres  Denkens:  es  ist  der  erste,  der  besondere  Zweck 

20   dieses  Werks. 

Meine  Auffassung  der  sozialen  Vorgänge  will  dieser  Wissenschaft 
nicht  die  gleiche  Vollkommenheit  wie  den  vorerwähnten  verschaffen, 
aber  sie  soll  dieser  letzten  Klasse  unserer  Erkenntnis  den  positiven 
Charakter  aufprägen,  welchen  alle  anderen  schon  haben.     Wenn  diese 

25  Forderung  einmal  wirkHch  erfüllt  ist,  so  wird  das  philosophische  System 
der  Gegenwart  als  Ganzes  begründet  sein;  denn  jedes  beobachtete 
Phänomen  muß  offenbar  sich  unterordnen  lassen  unter  eine  der  fünf 
großen  Kategorien,  der  astronomischen,  physikalischen,  chemischen, 
physiologischen  und  sozialen  Vorgänge.    Sind  dann  also  unsere  Grund- 

30  begriffe  einartig,  so  "v\drd  die  Philosophie  endgültig  den  positiven  Zustand 
erreicht  haben,  ohne  jemals  ihren  Charakter  ändern  zu  können.  Sie 
kann  sich  nur  unbegrenzt  weiter  entwickeln  durch  die  immer  wachsenden 
Neuerwerbungen,  welche  notwendig  aus  neuen  Beobachtungen  odqr 
tieferen  Überlegungen  sich  ergeben  werden.     Hat  sie  so  den  ihr  jetzt 

35  noch  fehlenden  Charakter  der  Universalität  erworben,  so  wird  sie  fähig 
sein,  vermöge  ihrer  natürhchen  Überlegenheit  die  theologische  und 
metaphysische  Philosophie  zu  verdrängen,  deren  einziger  besonderer 
W^ert  diese  Universahtät  ist.  Ist  ihnen  diese  werbende  Kraft  ge- 
nommen, so  werden  sie  für  unsere  Nachkommen  nur  noch  eine  histo- 

40   rische  Bedeutung  haben. 


278  Comte. 

Auguste  Comte  (1798 — 1857)  ist  der  Begründer  des  modernen  Positivis- 
mus. Sein  Hauptwerk  „Cours  de  Philosophie  positive"  erschien  in  6  Bänden 
vom  Jahre  1830 — 1842.  Ein  Auszug  aus  diesem  wurde  unter  dem  Pseudonym 
Jules  Rig  1880/81  in  2  Bänden  veröffentHcht  imd  von  J.  v.  Kirchmann  in  das 
Deutsche  übersetzt  (Heidelberg  1883).  Unser  Lesestück  ist  mit  Benützung 
jener  Auswahl  und  Übersetzung  hergestellt,  doch  wurde  das  Original  über- 
all verglichen  und  einige  besonders  charakteristische  Sätze  wurden  aus  ihm 
hinzugefügt.  Die  Grundlehren  der  positiven  Philosophie  können  nicht  präg- 
nanter und  schärfer,  als  es  hier  geschieht,  formuliert  werden.  C.  versucht  dem 
Gedanken  der  strengen,  unabänderlichen  Gesetzmäßigkeit  alles  Geschehens 
die  Befriedigung  abzugewinnen,  welche  aus  der  sicheren  Erkenntnis  gegenüber 
dem  bloßen  Vermuten  und  unsicheren  Hoffen  erfolgt.  So  sagt  er  mit  besonderer 
Beziehung  auf  die  sozialen  Probleme  der  neueren  Zeit:  „Die  tiefe  Empfindung 
für  die  Gesetze,  welche  die  verschiedenen  Arten  der  Vorgänge  leiten,  kann 
allein  zur  wahren  Resignation  führen,  welche  standhaft  und  ohne  Hoffnung 
auf  Ausgleichung  die  unvermeidlichen  Übel  erträgt.  Wenn  es  politische  Übel 
gibt,  welche  die  Wissenschaft  nicht  beseitigen  kann,  und  dies  ist  wohl  zu 
bezweifeln,  so  kann  sie  wenigstens  immer  deren  Unvermeidlichkeit  darlegen 
und  so  die  durch  jene  herbeigeführten  Schmerzen  lindern,  sowie  die  Naturgesetze 
aufzeigen,  welche  sie  unübersteiglich  machen."  Das  Denken  C.s  nahm  später 
eine  Wendung  zur  Religion,  welche  er  als  Kultus  der  Menschheit  begriff. 

Über  C.s  Lehre  und  Leben  geben  die  mehrfach  genannten  Lehrbücher 
der  Geschichte  der  Philosophie  Aufschluß.  Vergleiche  außerdem  J.  St.  Mill, 
Comte  and  Positivism,  2.  Aufl.,  1866,  ins  Deutsche  übersetzt  1874.  Als  An- 
hänger des  Positivismus  sind  in  England  J.  St.  Mill,  in  Frankreich  H.  Taine, 
in  Deutschland  A.  Riehl,  E.  Mach  und  R.  Avenarius  zu  nennen. 

274  13.    Vgl.  Lesestück  VIII  und  XIV,  sowie  die  Einleitung  zu  Nr.  XXL 

275  29.    Vgl.   Lesestück  III  und  die  Erläuterung  dazu. 

277  2.  C.  betrachtete  die  Psychologie  nur  als  Teil  der  Physiologie.  Die 
geistigen  Vorgänge  werden  den  „das  Gehirn  betreffenden  Verrichtungen" 
gleichgesetzt. 

277  18.  Diese  soziale  Physik  (Soziologie)  zerfällt  in  zwei  Teile:  die  soziale 
Statik  und  soziale  Dynamik.  Erstere  handelt  von  den  Bedingungen  des  ge- 
sellschaftlichen Lebens,  letztere  von  seiner  Entwicklung.  Die  Soziologie  ist 
bisher  noch  nicht  zu  einer  sicheren  Abgrenzung  ihres  Arbeitsgebietes  und  der 
von  ihr  anzuwendenden  Methode  gelangt.  Vgl.  Wundt,  Logik,  2.  Aufl.  1895, 
II,  2,  S.  436  ff.  u.  589  ff.  und  P.  Barth,  Die  Philosophie  der  Geschichte  als 
Soziologie,   1.   Teil.   Leipzig   1897. 

277  29.  Die  Aufzählung  der  Wissenschaften  wird  vollständig,  wenn  wir  die 
Mathematik  hinzunehmen.  Sie  steht  an  erster  Stelle  und  gibt  den  anderen 
die  Grundlage,  da  „jede  Frage  auf  eine  reine  Zahlenfrage  zurückgeführt  werden 
kann".  M  e  n  z  e  r. 


XXI. 

John  Stuart  Mill. 


Über  die  letzte  Rechtfertigung  des  Nützliehkeitsprinzips. 

Es  ist  oft  und  mit  Eecht  in  Bezug  auf  einen  Geltung  beanspruchenden 
morahschen  Satz  gefragt  worden:  Wie  kann  er  begründet  werden? 
Weshalb  soll  man  ihm  gehorchen?  — oder  richtiger:  Welches  ist  die  Quelle 
seiner  Verbindhchkeit  ?  Wo  leitet  er  seine  verpflichtende  Kraft  her  ?  Die 
Moralphilosophie  muß  notwendigerweise  eine  Antwort  auf  diese  Frage 
geben  können.  Sie  erhebt  sich  gegenüber  allen  ethischen  Grundsätzen, 
wenn  sie  auch  oft  nur  die  Form  eines  gegen  die  NützHchkeitsmoral 
gerichteten  Einwurfs  annimmt,  als  gälte  sie  von  dieser  ganz  besonders. 
Diese  Frage  entsteht  wirkhch,  so  oft  ein  Mensch  aufgefordert  wird,  einen 
ethischen  Grundsatz  anzunehmen  oder  die  Moral  auf  einer  anderen 
Grundlage  aufzubauen  als  die,  auf  welche  er  sich  bisher  verHeß.  Denn 
die  herkömmliche  Moral,  d.  h.  diejenige,  welche  Erziehung  und  all- 
gemeine Ansicht  geheihgt  haben,  ist  die  einzige,  welche  von  dem  Gefühl 
begleitet  auftritt,  daß  sie  ihre  Verbindlichkeit  in  sich  selbst  trage.  Und 
wenn  man  jemand  überzeugen  will,  daß  diese  Moral  ihre  Verbindlichkeit 
von  einem  allgemeinen  Grundsatz  ableitet,  welchen  die  Gewohnheit 
nicht  mit  einem  solchen  Heihgenschein  umgeben  hat,  so  erscheint  ihm 
diese  Zumutung  widersinnig.  Die  angenommenen  Folgesätze  scheinen 
ihm  eine  stärker  verbindende  Kraft  zu  besitzen,  als  der  erste  Grundsatz. 
Der  Oberbau  scheint  ihm  besser  ohne  Fundament  als  mit  einem  solchen 
bestehen  zu  können.  Er  sagt  zu  sich  selbst:  „Ich  fühle,  daß  ich  ver- 
pflichtet bin,  nicht  zu  stehlen  oder  zu  morden,  nicht  zu  betrügen  oder  zu 
täuschen.  Warum  bin  ich  verpflichtet,  die  allgemeine  Glücksehgkeit 
zu  fördern?  Wenn  meine  eigene  Glückseligkeit  in  etwas  anderem  liegt, 
warum  soll  ich  dies  nicht  vorziehen?" 

Wenn  die  Ansicht,  welche  die  Nützlichkeitsbetrachtung  von  der 
Natur  des  morahschen  Gefühls  hat,  richtig  ist,  so  wird  sich  diese  Schwierig- 
keit nur  so  lange  wiederholen,  bis  die  Einflüsse,  welche  den  morahschen 


i 
280  J.St.  Mill. 


Charakter  bilden,  sich  des  obersten  Grundsatzes  in  demselben  Grade 
bemächtigt  haben,  wie  es  bisher  nur  mit  einigen  der  Folgerungen  daraus 
geschehen  ist,  bis  unter  dem  Einfluß  einer  verbesserten  Erziehung  das 
Gefühl  von  der  Einheit  mit  unseren  Mitmenschen  (zweifellos  hat  Christus 
dies  beabsichtigt)  in  unserem  Charakter  so  tiefe  Wurzel  geschlagen  hat  5 
und  für  uns  so  zum  natürlichen  Empfinden  geworden  ist,  wie  es  die 
Scheu. vor  dem  Verbrechen  bei  einem  gut  erzogenen  jungen  Menschen 
ist.  Bis  dahin  besteht  für  das  Nützlichkeitsprinzip  keine  besondere 
Schwierigkeit,  sondern  sie  gilt  für  jeden  Versuch,  die  Moral  zu  zergHedern 
und  auf  Prinzipien  zurückzuführen.  Ist  aber  das  Prinzip  für  das  Be-  lo 
wußtsein  der  Menschen  noch  nicht  mit  so  viel  Heiligkeit  umkleidet 
als  eine  seiner  Anwendungen,  so  scheint  die  Ableitung  der  letzteren 
ihre  Heihgkeit  zum  Teil  zu  zerstören. 

Das  NützHchkeitsprinzip  hat  entweder  alle  die    Gründe  für  sich, 
welche  irgend  ein  anderes  Moralsystem  besitzt,  oder  es  Hegt  mindestens   i5 
nichts  vor,  warum  es  sie  nicht  erhalten  könnte.     Diese   Gründe  sind 
entweder  äußerer  oder  innerer  Natur.     Von  den  ersteren  brauchen  wir 
nicht  ausführlich  zu  handeln.    Es  sind :  die  Hoffnung  auf  die  Gunst  und 
die  Furcht  vor  dem  Mißfallen  unserer  Mitmenschen  oder  des  Herrschers 
der  Welt,  verbunden,   soweit  wir  dessen  fähig  sind,  mit  dem  Mitgefühl  20 
und  der  Neigung  für  jene  und  ferner  mit  der  Liebe  und  Ehrfurcht  gegen 
Gott,  welche  uns  antreiben,  seinen  Willen  ohne  Eücksicht  auf  unsere 
selbstsüchtigen   Interessen   zu   tun.     Offenbar  liegt   kein    Grund   vor, 
weshalb  diese  Motive  des  Gehorsams  sich  nicht  mit  der  Nützhchkeits- 
moral  ebenso  vollkommen  und  wirkungsvoll  verbinden  sollten  als  mit   25 
irgend  einer  anderen.     Dies  gilt  sicherHch  von  denen,  welche  sich  auf 
unsere  Mitmenschen  beziehen,  und  umsomehr,    je  mehr  die  allgemeine 
Bildung  wächst.    Denn  mag  es  irgend  einen  anderen  Grund  der  mora« 
Hschen  Verbindlichkeit  als  die  allgemeine  Glückseligkeit  geben  oder  nicht : 
die  Menschen  erstreben  Glückseligkeit;  und  so  unvollkommen  sie  auch   30 
dies  Ziel  selbst  erreichen,  so  wünschen  und  empfehlen  sie  doch  stets  das 
Handeln  anderer,  wodurch  sie  eine  Beförderung  ihrer  eigenen    Glück- 
sehgkeit  erwarten.    Was  die  rehgiösen  Beweggründe  anbetrifft,  so  müssen 
(vorausgesetzt,  daß  die  Menschen  an  die  Güte  Gottes  glauben,  wie  sie 
ja  meist  es  behaupten)  alle  die,  welche  in  der  allgemeinen  Glückseligkeit   35 
das  Wesen  oder  auch  nur  den    Maßstab  des  Guten  sehen,  notwendig 
auch  glauben,  daß  Gott  sie  gewollt  hat.    Die  gesamte  Wirkung  äußerer 
Belohnung  und  Strafe,  ob  sie  nun  physisch  oder  morahsch  ist,  ob  sie  von 
Gott  oder  den    Mitmenschen  kommt,  verbunden  mit  all  der  uneigen- 
nützigen Hingebung,  deren  die  menschhche   Natur  überhaupt  fähig  ist,    4o 
wird  in  dem  Maße  die  Geltung  der  Nützhchkeitsmoral  verstärken,  als  sie 


über  die  letzte  Rechtfertigung  des  Nützlichkeitsprinzips.  281 

Anerkennung  findet,  und  dies  wird  desto  mehr  der  Fall  sein,  je  mehr 
E^äfiliiin^jind^  allgemeine  Kultur  auch  auf  dies  Ziel  hinarbeiten. 

So  viel  über  die  äußeren  Beweggründe.  Die  innerliche  Pflichtbe- 
gründung ist  bei  allen  Pflichtgeboten  eine  und  dieselbe:  ein  Gefühl  in 
5  unserem  eigenen  Innern,  eine  stärkere  oder  schwächere  Beunruhigung  7 
bei  Verletzung  der  Pflicht,  welche  bei  richtig  ausgebildeten  moralischen 
Naturen  in  ernsteren  Fällen  sich  steigert  bis  zum  Zurückschaudern 
wie  vor  einem  Unmöglichen.  In  diesem  Gefühl,  wenn  es  uneigennützig 
ist  und  sich  mit  der  reinen  Idee  der  Pflicht,  nicht  aber  mit  einer  ihrer 

10  besonderen  Formen  oder  einem  der  zufälHg  begleitenden  Umstände 
verbindet,  besteht  das  Wesen  des  Gewissens.  Freilich  ist  in  dieser 
zusammengesetzten  Erscheinung,  wie  sie  jetzt  existiert,  die  einfache 
Tatsache  meist  ganz  verborgen  unter  begleitenden  Assoziationen, 
welche  sich  herleiten  von  dem  Mitgefühl,  der  Liebe  und  mehr  noch  der 

15  Furcht,  vom  religiösen  Gefühl  in  allen  seinen  Formen,  von  den  Er- 
innerungen aus  der  Kindheit  und  unserer  ganzen  Vergangenheit,  von  der 
Selbstachtung,  dem  Bedürfnis  nach  der  Achtung  anderer  und  zuweilen 
sogar  von  der  Selbsterniedrigung.  Diese  äußerordentliche  Kompliziertheit 
ist,   glaube  ich,   der  ausreichende  Grund  des  eigentümlich  mystischen 

20  Charakters,  welcher  nach  einer  auch  sonst  zu  bemerkenden  Richtung 
des  menschlichen  Geistes  dem  Gedanken  der  morahschen  Verbindlichkeit 
beigelegt  wird  und  die  Menschen  zu  dem  Glauben  bringt,  daß  diese 
Vorstellung  sich  nur  mit  den  Gegenständen  verbinden  kann,  welche 
durch  ein  vermeintliches  geheimnisvolles  Gesetz  sie  nach  unserer  Er- 

25    fahrung  hervorrufen.    Seine  bindende  Kraft  besteht  jedenfalls  in  dem 
Vorhandensein  einer   Gefühlsmasse,  welche  erst  durchbrochen  werden       > 
muß,  ehe  wir  etwas  tun  können,  das  unsere  Vorstellung  vom  Recht        ^ 
verletzt,  und  welche  sich,  falls  wir  trotzdem  das~Keeht  verletzen,  wahr- 
scheinHch  in  Gewissensbissen  wieder  zur  Geltung  bringt.    Hierin  besteht 

30  das  Wesen  des  Gewissens,  welche  Theorie  über  den  Ursprung  des  Ge- 
wissens wir  auch  haben  mögen. 

Da  also  die  letzte  Begründung  aller  MoraHtät,  abgesehen  von  den 
äußeren  Motiven,  in  einem  subjektiven  Gefühl  unserer  Seele  ruht,  so 
sehe  ich  nicht,  inwiefern  die  Anhänger  des  Nützlichkeitsprinzips  in  Ver- 
as legenheit  gesetzt  werden  können  durch  die  Frage ,  wie  ihr  besonderer 
Standpunkt  begründet  werden  könne.  Wir  können  antworten :  dieselbe 
wie  die  aller  anderen  Moralprinzipien  —  die  Gewissensgefühle  der 
Menschen.  Zweifellos  gilt  diese  Begründung  nicht  für  diejenigen,  welche 
die  Gefühle  nicht  besitzen,  auf  die  sie  sich  stützt,  aber  solche  Menschen    j 

40   werden  einem  anderen  Moralprinzip    ebensowenig    gehorchen  wie  der    j 
Nützhchkeitsmoral.     Auf  solche   wirkt  jedes   Moralprinzip  nur  durch 


282  J-  St.  Mill. 

äußere    Gründe.     Einstweilen  ist  es,  eine   Tatsache   der  menschlichen      ^ 
Natur,  daß  diese  Gefühle  bestehen,  die  Erfahrung  erweist  ihre  Wirkhch-      / 
keit  und  große  Macht  auf  diejenigen,  in  denen  sie  gebührend  gepflegt       / 
wurden.    Kein  Grund  ist  bisher  vorgebracht  worden,  weshalb  sie  in  Ver- 
bindung mit  dem  Nützhchkeitsprinzip  nicht  zu  ebenso  großer  Stärke   6 
ausgebildet  werden  könnten  wie  im  Zusammenhang  mit  anderen  Moral- 
gesetzen. 

Es  besteht,  wie  ich  weiß,  eine  Neigung  zu  dem  Glauben,  daß  ein 
Mensch,   welcher  in  der  moralischen  Verbindlichkeit  eine  transzendente 
Tatsache,  eine  in  das  Reich  der  Dinge  an  sich  gehörige  objektive  Wirk-    lo 
Hchkeit  sieht,  wahrscheinhch  ihr  mehr  gehorsam  ist  als  einer,  welcher 
sie  für  ganz  subjektiv  und  für  nur  im  menschlichen  Bewußtsein  wirkhch 
hält.    Aber  wie  man  auch  über  diese  Frage  der  Ontologie  denken  möge, 
die   den  Menschen  beeinflussende   Macht  ist   sein   subjektives    Gefühl 
und  stimmt  genau  mit  der  Stärke  desselben  überein.    Der  Glaube,  daß   is 
Pflicht  etwas  Wirkliches  sei,  ist  niemals  größer  als  der  an  das  Dasein 
Gottes,  trotzdem  wirkt  der  Glaube  an  Gott,  unabhängig  von  der  Er- 
wartung wirklicher  Belohnung  oder  Strafe,   auf  das  Verhalten  einzig 
und  allein  durch  das  subjektive  religiöse  Gefühl  und  entsprechend  seiner 
Stärke,    Die  Sanktion,  soweit  sie  nicht  aus  Eigennutz  geschieht,  findet   20 
immer  nur  in  der  Seele   statt,   und  die  Vertreter  einer  transzendent 
begründeten  Moral  müssen  der  Ansicht  sein,  daß  diese  letzte  Sicherung 
nicht   i  n   der  Seele  existieren  würde   ohne  den  Glauben ,  daß  sie  ihre 
Wurzel  außerhalb  des   Geistes  habe.     Sie  fürchten,   daß    ein  Mensch, 
der  zu  sich  sagen  kann:  „das  was  mich  zurückhält  und  mein  Gewissen   25 
genannt  wird,  ist  nur  ein  Gefühl  in  mir",  wohl  auch  den  Schluß  ziehen 
könnte,  daß,  wenn  das  Gefühl  aufhört,  auch  die  VerbindHchkeit  aufhört, 
und  daß,  v/enn  das  Gefühl  ihm  lästig  wird,  er  es  mißachten  und  seiner 
ledig  zu  werden  versuchen  kann.     Aber  besteht  diese  Gefahr  allein  für 
die  Nützhchkeitsmoral?     Vermag  der  Glaube,  daß  die  morahsche  Ver-   3o 
bindhchkeit  jenseits  der  Seele  ihren  Sitz  habe,  das  Gefühl  so  stark  zu 
machen,  daß  man  sich  ihrer  nicht  entledigen  kann?     In  Wirklichkeit 
steht  die  Sache  so  völHg  anders,  daß  alle  Morahsten  eingestehen  und  be- 
klagen, wie  leicht  bei  der  Mehrzahl  der  Menschen  das  Gewissen  zum 
Schweigen  gebracht  oder  erstickt  werden  kann.     Die  Frage:  muß  ich   35 
meinem   Gewissen  gehorchen?   richten  Menschen,   welche  noch  nichts 
von  dem  Nützhchkeitsprinzip  gehört  haben,  ebenso  oft  an  sich  selbst 
wie   an  seine  Anhänger.     Und  wenn  die  Menschen,    deren  schwaches 
Gewissen  eine  solche  Frage  zuläßt,  sie  bejahen,  so  tun  sie  es  nicht  um 
ihres  Glaubens  an  eine  transzendente  Theorie,  sondern  um  der  äußeren   ^o 
^»^  Beweggründe  willen.-|^  r\  ^^vv^    ^^    J  ^  q,JJ,    .    l'^r^    ^W^ 


/ 

über  die  letzte  Rechtfertigung  des  Nützlichkeitsprinzips.  283 

Es  ist  für  den  vorliegenden  Zweck  nicht  nötig  zu  entscheiden,  ob  das 
Pflichtgefühl  angeboren  oder  anerzogen  sei.  Nimmt  man  das  erstere 
an,  so  ist  es  eine  offene  Frage,  an  welche  Gegenstände  es  sich  von  Natur 
anheftet,  denn  die  philosophischen  Vertreter  dieser  Lehre  stimmen  jetzt 
5  darin  überein,  daß  es  eine  intuitive  Erkenntnis  der  Prinzipien  der 
Moral,  nicht  aber  einzelner  untergeordneter  Sätze  gibt.  Gibt  es  wirkUch 
solch  ein  Angeborenes,  so  sehe  ich  keinen  Grund,  warum  das  angeborene 
Gefühl  sich  nicht  gerade  auf  Glück  und  Leiden  der  anderen  Menschen 
richten    solle.      Gibt    es    ein   unmittelbar   verpflichtendes   Prinzip    der 

10  Moral,  so  würde  es  nach  meiner  Ansicht  gerade  dies  sein.  Dann  würde 
die  intuitive  Ethik  mit  der  Nützhchkeitsmoral  zusammenfallen  und 
es  gäbe  keinen  Streit  mehr  zwischen  ihnen.  Selbst  jetzt  schon  glauben 
die  intuitiven  Morahsten,  obgleich  sie  andere  unmittelbare  moralische 
Verpflichtungen  anerkennen,  daß  auch  unser  Prinzip  eine  solche  sei, 

15  denn  sie  sind  einstimmig  der  Ansicht,  daß  ein  großer  Teil  der  Moralität 
sich  mit  der  Rücksicht  beschäftigt,  welche  wir  den  Interessen  unserer 
Mitmenschen  schulden.  Wenn  daher  der  Glaube  an  einen  transzendenten 
Ursprung  der  sitthchen  Verpflichtung  ihrer  inneren  Begründung 
neue  Kräfte  hinzufügt,   so  scheint  mir,   daß  das  Nützlichkeitsprinzip 

20    daraus  den  meisten  Vorteil  zieht. 

Sind  aber,  wie  ich  meine,  die  moralischen  Gefühle  nicht  angeboren, 
sondern  erworben,  so  sind  sie  deshalb  nicht  weniger  natürlich.  Es  ist 
dem  Menschen  natürhch  zu  sprechen,  zu  denken,  Städte  zu  bauen,  den 
Boden  zu  bearbeiten,  obgleich  dies  erworbene  Fähigkeiten  sind.     Die 

25  moralischen  Gefühle  sind  in  der  Tat  nicht  in  dem  Sinne  ein  Teil  unseres 
Wesens,  daß  sie  in  einem  merklichen  Grade  in  jedem  von  uns  vorhanden 
wären;  dies  ist  wieder  eine  Tatsache,  die  auch  von  denen  nicht  geleugnet 
wird,  welche  am  stärksten  an  ihren  transzendenten  Ursprung  glauben. 
Gleich  den  anderen  obenerwähnten  Fähigkeiten  ist  die  moralische  nicht 

30  ein  Teil  unseres  Wesens,  sondern  hat  sich  natürhch  aus  ihm  entwickelt, 
gleich  jenen  in  einem  gewissen  geringen  Grade  fähig,  spontan  hervor- 
zutreten und  durch  weitere  Ausbildung  zu  einer  hohen  Stufe  der  Ent- 
wicklung zu  gelangen.  Leider  kann  sie  auch  durch  ausreichende  An- 
wendung äußerer  Beweggründe  und  die  Kraft  früh  empfangener  Ein- 

35  drücke  in  jeder  beliebigen  Richtung  ausgebildet  werden:  so  daß  es  kaum 
etwas  so  Widersinniges  und  so  Schädliches  gibt,  was  nicht  durch  diese 
Einflüsse  die  Macht  erhalten  könnte,  mit  der  ganzen  Autorität  des 
Gewissens  auf  die  menschliche  Seele  zu  wirken.  Ein  Zweifel,  daß  die- 
selbe Kraft  durch  dieselben  Mittel  dem  Nützhchkeitsprinzip  gegeben 

40  werden  könnte,  selbst  wenn  es  nicht  im  Wesen  des  Menschen  begründet 
ist,  würde  aller  Erfahrung  ins  Gesicht  schlagen. 


284  J.  St.  Mill. 

Doch  moralische  Assoziationen,  welche  ganz  und  gar  künstlich 
geschaffen  sind,  weichen  bei  fortschreitender  geistiger  Bildung  vor  der 
zersetzenden  Kraft  der  Analyse;  und  wenn  die  Assoziation  zwischen 
Pflichtgefühl  und  Nützlichkeitsprinzip  ebenso  willkürlich  erscheinen 
sollte,  wenn  es  in  unserer  Natur  nicht  eine  vorherrschende  Eichtung,  5 
nicht  eine  mächtige  Klasse  von  Gefühlen  gäbe,  mit  welchen  diese  Asso- 
ziation übereinstimmt,  welche  sie  als  uns  wesensverwandt  empfinden 
lassen  und  uns  veranlassen  sie  nicht  nur  in  anderen  zu  fördern  (denn 
hierzu  haben  wir  überaus  zahlreiche  eigensüchtige  Beweggründe),  sondern 
auch  in  uns  selbst  zu  pflegen  —  kurz,  wenn  es  in  uns  nicht  eine  natürliche  lo 
Grundlage  für  die  Nützhchkeitsmoral  gäbe,  so  könnte  es  wohl  geschehen, 
daß  auch  diese  Assoziation,  selbst  wenn  sie  durch  Erziehung  einge- 
pflanzt wäre,  fortanalysiert  würde. 

Aber   diese    Grundlage    eines    mächtigen   natürlichen    Gefühls   i  s  t 
vorhanden,  und  sie  ist  es,  welche  die  Stärke  der  utihtaristischen  Moral   is 
ausmachen  wird,  wenn  die  allgemeine  Glücksehgkeit  einmal  als  ethischer 
Maßstab    anerkannt    sein  wird.     Diese    sichere   Grundlage  bilden  die 
sozialen  Gefühle  der  Menschen,  der  Wunsch  nach  Einheit  mit  unseren 
Mitmenschen,    welcher   bereits    jetzt    ein    machtvolles  Prinzip    in    der 
menschlichen  Natur  ist  und  glückhcherweise  eines  von  denen,  welche   20 
auch    ohne    besondere    Einschärfung   mit    fortschreitender    Kultur   an 
Wirksamkeit  zuzunehmen  streben.  Der  soziale  Verband  ist  einmal  dem 
Menschen  so  natürlich,  so  notwendig  und  so  eigentümhch,  daß  er  nur 
unter  außergewöhnHchen  Umständen  oder  durch  die  Mühe  willkürhcher 
Abstraktion  sich  anders  als  ein   Glied  eines  sozialen  Körpers  denken   25 
kann.     Und  diese  Assoziation  wird  in  dem  Maße  fester  und  fester,  als 
Menschen  sich  weiter  von  dem  Zustand  wilder  Unabhängigkeit  ent- 
fernen.    Jede  für  das  Bestehen  eines  sozialen  Verbandes  wesentHche 
Bedingung  wird  deshalb  mehr  und  mehr  ein  unabtrennbarer  Teil  der 
Vorstellung  eines  jeden  Menschen  vom  Zustand  der  Dinge,  in  welchen   so 
er  hineingeboren  ist  und    der  die  Bestimmung  des  Menschen  ist.     Ge- 
sellschaft zwischen  Menschen,  das  Verhältnis  von  Herr  und  Sklave  aus- 
genommen, ist  aber  offenbar  nur  möglich  unter  der  Bedingung,  daß 
dabei  die  Interessen  aller  berücksichtigt  sind.      Gesellschaft  zwischen 
Gleichen  kann  nur  in  der  Weise  existieren,  daß  die  Interessen  aller  in   35 
gleicher  Weise  beachtet  werden.     Da  nun  in  allen  zivilisierten  Staaten 
ein  jeder  außer  dem  absoluten  Monarchen  mit  seinesgleichen  lebt,  so 
ist  er  auch  verpflichtet,  mit  allen  auf  diesem  Fuße  zu  leben,  und  in 
jedem  Zeitalter   werden  einige  Fortschritte  gemacht  nach  einem  Zu- 
stande, in  welchem  es  unmöghch  sein  wird,    dauernd  mit  irgend  einem   4o 
anders  zu  leben.    So  wachsen  die  Menschen  auf,  unfähig,  einen  Zustand 


über  die  letzte  Rechtfertigung  des  Nützlichkeitsprinzips.  285 

völliger  Mißachtung  der  Interessen  anderer  für  sich  als  möglich  zu 
denken.  Sie  empfinden  es  als  eine  Notwendigkeit,  sich  wenigstens  der 
gröbsten  Vergehungen  zu  enthalten  und  (wenn  auch  nur  im  Interesse 
der  eigenen  Sicherheit)  in  beständigem  Protest  gegen  sie  zu  leben.  Auch 
5  sind  sie  wirkhch  damit  vertraut,  gemeinsam  mit  anderen  zu  wirken 
und  sich  ein  Gesamt-,  nicht  ein  Einzelinteresse  als  den  Zweck  ihrer 
Handlungen  vorzustellen.  Solange  sie  mit  anderen  zusammenwirken, 
denken  sie  ihre  Interessen  als  identisch  mit  denen  anderer,  wenigstens 
zeitweilig  besteht  das  Gefühl,  daß  die  Interessen  anderer  ihre  eigenen 

10  sind.  Nicht  nur  gibt  jede  Kräftigung  der  sozialen  Bande  und  jedes  ge- 
sunde Wachstum  der  Gesellschaft  dem  Einzelnen  ein  größeres  pei- 
sönHches  Interesse  daran,  daß  er  bei  seinen  Handlungen  die  Wohlfahrt 
anderer  berücksichtigt,  er  A^drd  auch  dazu  geführt,  seine  Gefühle 
mehr  und  mehr  mit  ihrem  Wohl  oder  wenigstens  mit  einem  höheren 

15  Grad  der  Rücksichtnahme  auf  andere  in  Einklang  zu  bringen.  Er 
kommt  wie  instinktmäßig  zu  dem  Bewußtsein,  daß  er  ein  Wesen  ist, 
welches  selbstverständlich  auf  andere  Rücksicht  zu  nehmen 
hat.  Das  Wohl  anderer  wird  für  ihn  ein  Gegenstand,  dem  er  natür- 
licher-   imd   notwendigerweise    seine    Aufmerksamkeit    schenken   muß, 

20  so  gut  wie  irgend  einer  der  physischen  Bedingungen  unseres  Daseins. 
In  welchem  Grade  auch  ein  Mensch  dies  Gefühl  besitzen  mag,  er  ist 
durch  die  stärksten  Beweggründe  des  Interesses  und  des  Mitgefühls 
zugleich  gedrängt,  es  an  den  Tag  zu  legen  und  nach  allen  seinen  Kräften 
in  anderen  zu  verstärken;    und  wenn  er  selbst  nichts  davon  empfindet, 

25  so  ist  er  so  stark  wie  sonst  jemand  daran  interessiert,  daß  andere  es 
haben  sollen.  Deshalb  werden  die  geringsten  Keime  dieses  Gefühls 
ergriffen  und  ernährt  durch  die  Ausbreitung  des  Mitgefühls  und  die 
Einflüsse  der  Erziehung,  und  es  wird  durch  die  mächtige  Wirksamkeit 
äußerer   Sanktionen   von   einem   ganzen    Gewebe   verstärkender   Asso- 

30  ziationen  umgeben.  Diese  Art  uns  selbst  und  das  menschhche  Leben 
aufzufassen,  ^^^rd  mit  fortschreitender  ZiviHsation  mehr  und  mehr 
als  natürhch  empfunden  werden.  Dahin  wirkt  jeder  Fortschritt  in 
der  Besserung  der  poHtischen  Zustände ,  indem  er  die  Quellen  der 
Interessenkämpfe  beseitigt  und  die  aus  gesetzHchen  Vorrechten  ent- 

35  springenden  Ungleichheiten  zwischen  Individuen  oder  Klassen  ausgleicht, 
in  denen  der  Grund  liegt,  daß  die  GlückseHgkeit  eines  großen  Teiles 
der  Menschheit  noch  mißachtet  werden  darf.  I\Iit  zunehmender  Ent- 
wicklung des  menschhchen  Geistes  wachsen  beständig  die  Einflüsse, 
welche  schheßlich  dahin  zielen,  in  jedem  Individuum  ein  Gefühl  der 

40  Einheit  mit  allen  übrigen  zu  erzeugen  —  ein  Gefühl,  das  in  seiner 
höchsten  Vollendung  den  Einzelnen  nie  für  sich  einen  Vorteil  denken 


286  J.  St.  Mill. 

oder  wünsclien  läßt,  welcher  nicht  auch  den  anderen  zu  teil  wird.  Stellen 
wir  uns  nun  vor,  daß  dies  Gefühl  der  Einheit  aller  Menschen  wie  eine 
Religion  gelehrt  werde,  daß  die  ganze  Macht  der  Erziehung,  der  Ein- 
richtungen und  öffentlichen  Meinung,  so  wie  früher  für  die  Religion, 
jetzt  darauf  gerichtet  sei,  jeden  Menschen  von  Kindheit  an  aufwachsen  5 
zu  lassen  unter  dem  allseitigen  Einfluß  dieses  Glaubensbekenntnisses 
und  seiner  praktischen  Erfüllung,  so  wird  niemand,  denke  ich,  der 
dieses  Ideal  begreifen  kann,  die  geringste  Besorgnis  empfinden,  daß  die 
letzte  Sanktion  des  Nützlichkeitsprinzips  nicht  ausreichend  sei.  .  .  . 

Es  ist  aber  für  die  Menschen,  welche  schon  das  Gefühl  von  der  bin-    10 
denden   Kraft   der   utilitaristischen   Moral   besitzen,    nicht   notwendig, 
auf  jene  sozialen  Einflüsse  zu  warten,  welche  es  zu  einem  für  alle  Men- 
schen verbindhchen  machen  werden.  Auf  der  verhältnismäßig  niedrigen 
Stufe  der  Menschheitsentwicklung,  auf  welcher  wir  jetzt  stehen,  ver- 
mag niemand,  jene  volle  Sympathie  mit  allen  anderen  zu  empfinden,    15 
welche  jeden  wirkhchen  Zwist  bei  gemeinsamer  Einrichtung  des  Lebens 
unmöghch  machen  würde;    aber  schon  für  den,  in  welchem  das  soziale 
Gefühl  überhaupt  nur  entfaltet  ist,  ist  es  unmöglich,  sich  seine  Mit- 
menschen als  Gegner  im  Kampf  um  die  Mittel  der  Glückseligkeit  zu 
denken,  so  daß  er  ihnen  Mißerfolg  um  seines  Vorteils  willen  wünschen   20 
müßte.      Die  tief  wurzelnde  Anschauung,   nach  der  jedes  Individuum 
sich  selbst  als  ein  geselHges  Wesen  denkt,  läßt  es  zugleich  als  eines 
seiner   natürhchen   Bedürfnisse   empfinden,    daß   zwischen   seinen    Ge- 
fühlen  und   Zwecken   und   denen   seiner   Mitmenschen   Harmonie   be- 
stehen solle.     Wenn  Verschiedenheiten  des  Denkens  und  der  geistigen   25 
Kultur  es  ihm  unmöghch  machen,  viele  ihrer  jetzigen  Gefühle  zu  teilen 
(ihn  vielleicht  veranlassen,  diese  Gefühle  anzuklagen  und  zu  tadeln), 
so  muß  er  sich  doch  bewußt  sein,  daß  sein  wirkhcher  Zweck  und  die 
ihrigen  sich  nicht  widerstreiten,  daß  er  dem  sich  nicht  widersetzt,  was 
sie  tatsächlich  wünschen,  nämlich  ihr  eigenes  Wohl,    daß  er  im  Gegen-   30 
teil  es  befördert.  Dies  Gefühl  ist  in  den  meisten  Individuen  viel  schwächer 
als  die  selbstsüchtigen  Gefühle,  und  es  fehlt  ihnen  oft  ganz,  aber  für 
diejenigen,  welche  es  besitzen,  hat  es  alle  Eigenschaften  eines  natür- 
hchen Gefühls.   Es  stellt  sich  ihrem  Empfinden  nicht  als  ein  anerzogener 
Aberglaube  oder  als  ein  durch  die  Gewalt  der  Gesellschaft  despotisch   35 
auferzwungenes  Gesetz  dar,  sondern  als  etwas,  ohne  das  sie  nicht  leben 
können.    Diese  Überzeugung    ist  die  letzte  Sanktion  des  Moralprinzips 
der  größtmöghchen   Glücksehgkeit.     Sie  ist  es,  welche  Menschen  von 
wohlentwickelten  Gefühlen  mit  und  nicht  entgegengesetzt  den  äußeren 
Beweggründen  der  Fürsorge  für  andere  handeln  läßt,    welche  durch   40 
die  von  mir  sogenannten  äußeren  Sanktionen  hervorgerufen  werden. 


I 


Erläuterungen.  287 


Und  wenn  solche  fehlen  oder  in  einem  entgegengesetzten  Sinne  wirken, 
so  trägt  jene  Überzeugung  doch  in  sich  eine  machtvolle ,  innerhch 
bindende  Kraft,  welche  der  Empfindungsfähigkeit  und  der  geistigen 
Höhe  eines  Menschen  entspricht ;  denn  außer  denen,  welchen  morahsches 
Empfinden  ganz  fehlt,  wird  es  kaum  jemand  über  sich  gewinnen,  seinen 
Lebensplan  auf  den  Grundsatz  zu  bauen,  daß  auf  andere  nur  insofern 
Rücksicht  zu  nehmen  sei,  als  das  eigene  Interesse  dazu  nötigt. 

Die  Philosophie  John  Stuart  iVIills  (1806-1873)  trägt  den  typischen  Charakter 
des  enghschen  Denkens  an  sich,  wie  es  durch  die  Lesestücke  aus  Bacon,  Locke, 
Berkeley,  Hume  bereits  vertreten  ist.  Die  Grundlage  aller  Erkenntnis  ist 
für  M.  wie  für  seine  Vorgänger  die  Erfahrung.  In  seiner  Logik  (1843)  hat 
er  sich  besonders  um  die  Lehre  von  der  Induktion  verdient  gemacht,  er  ver- 
sucht den  Weg  aufzuzeigen,  auf  dem  wir  durch  planmäßige  Beobachtung 
und  Sammlung  einzelner  Tatsachen  (Induktion)  zu  immer  höheren  Verall- 
gemeinerungen, d.  h.  zum  wissenschaftlichen  Erkennen  emporsteigen.  Der 
Satz  von  der  Gleichförmigkeit  des  Naturlaufs  ergibt  sich  ihm  dabei  als  höchst 
erreichbare  Verallgemeinerung  und  damit  zugleich  als  die  Grenze  unseres 
Erkennens.  Hier  tritt  die  Verwandtschaft  der  M.schen  Lehre  mit  dem  Posi- 
tivismus Comtes  hervor,  welcher  ihn  auch  beeinflußte. 

Entsprechend  diesen  theoretischen  Ansichten  verzichtet  M.  in  seiner 
Ethik  auf  die  transzendente  Begründung  und  Zielsetzung  des  Sittengesetzes: 
die  psychologische  Analyse  des  morahschen  Bewußtseins  (vgl.  284 1  ff.)  endigt 
bei  einem  nicht  mehr  zu  zerlegenden,  als  Tatsache  gegebenen  Gefühl,  und 
die  Norm  für  das  menschliche  Handeln  wird  gesucht  in  der  Richtung  auf 
ein  diesseitiges,  allgemeinmenschliches  Kulturideal.  Natürlich  gegeben  ist 
nun  für  den  Menschen  das  Bedürfnis,  Lust  zu  suchen  und  Unlust  zu  vermeiden, 
das  Ziel  seines  Handelns  ist  deshalb  Erreichung  der  Lust,  d.  h.  Glückseligkeit. 
Doch  wenn  Epikur,  von  derselben  Grundlage  ausgehend,  in  der  Gewinnung 
individueller  Glücksehgkeit  die  Aufgabe  sah,  erblickt  sie  M.,  im  Anschluß 
an  Bentham  (1748 — 1832)  und  unter  noch  stärkerer  Betonung  der  sozialen 
Verpflichtung  des  Individuums  als  dieser,  in  der  größtmöglichen  Glücksehgkeit 
aller  Menschen.  „Die  Lehre,  welche  als  die  Grundlage  der  Moral  das  Prinzip 
der  Nützhchkeit  (Utilitarismus)  oder  der  größten  Glückseligkeit  annimmt, 
hält  dafür,  dass  Handlungen  in  dem  Grade  recht  sind,  als  sie  auf  Förderung 
(iex  Glücksehgkeit  abzielen,  und  unrecht,  insofern  sie  das  Gegenteil  der  Glück- 
sehgkeit bezwecken."  Bei  der  Abschätzung  der  von  unseren  Handlungen 
zu  erwartenden  Lust  ist  der  Unterschied  der  niederen  und  der  höheren  Gefühle 
zu  beachten,  die  Erfahrung  der  edleren  Genüsse  wird  den  Menschen  stets 
wieder  zu  ihnen  führen.  So  ergibt  sich  als  Ideal  ein  „  Dasein  soweit  als  möglich 
frei  von  Leid  und  so  reich  als  möglich  an  Genüssen  nach  Quantität  und  Qualität 
zugleich".  Die  Richtschnur  der  Moral  ist  demnach  „der  Inbegriff  der  Regeln 
und  Vorschriften  für  menschliches  Verhalten,  durch  deren  Befolgung  eine 
Existenz,    wie    sie    beschrieben   wurde,    in   der   größtmöglichen   Ausdehnung 


288  MilL 

allen  Menschen  gesichert  wird,  und  nicht  nur  diesen  allein,  sondern,  soweit  die 
Natur  der  Dinge  es  zuläßt,  auch  für  die  Gesamtheit  der  empfindenden  Wesen". 

M.s  gesammelte  Schriften  erschienen  im  Jahre  1873,  eine  deutsche  Über- 
setzung gab  Th.  Gomperz  1869  ff.  heraus,  unser  Lesestück  ist  entnommen 
der  Schrift  „Utilitarism",  welche  zuerst  1861  in  „Fräsers  Magazin",  als  Buch 
1863  erschien.  Die  Übersetzung  in  den  „  Gesammelten  Werken"  Bd.  I  rührt  von 
A.  Wahrmund  her,  an  sie  schließt  sich  unser  Text,  von  mannigfachen  Ände- 
rungen abgesehen,  an.  Zu  weiterer  Orientierung  können  die  mehrfach  genannten 
Lehrbücher  der  Geschichte  der  Philosophie  dienen  und  außerdem:  S.  Saenger, 
„John  Stuart  Mill.  Sein  Leben  und  Lebenswerk".  Stuttgart  1901  (Frommanns 
KLlassiker  der  Philosophie,  Bd.  XIV).  Als  anregende  Lektüre  sei  empfohlen 
M.s  Schrift  über  die  Freiheit  (Übersetzung  in  Reclams  üniversalbibliothek). 

281 13.  Assoziationen  sind  Verbindungen,  welche  zwischen  den  Inhalten 
von  im  Bewußtsein  zusammen  auftretenden  seelischen  Vorgängen  unwillkürlich 
oder  willkihiich  hergestellt  werden.  So  verbindet  sich  z.  B.  das  Erlebnis 
eines  besonders  schweren  Gewitters  mit  der  Vorstellung  des  Ortes,  wo  es 
stattfand.  Die  Elemente  einer  solchen  Verknüpfung  haben  die  Tendenz 
einander  gegenseitig  hervorzurufen;  sehe  ich  den  betreffenden  Ort  wieder, 
so  erinnere  ich  mich  an  das  Gewitter,  erlebe  ich  ein  ähnlich  schweres  Gewitter, 
so  stellt  sich  die  Erinnerung  an  jenen  Ort  wieder  ein.  Diese  Funktion  unseres 
Bewußtseins  spielt  bei  allem  Lernen  eine  große  Rolle  und  wird  benützt,  um 
das  Kind  sprechen  zu  lehren,  indem  z.  B.  eine  Verbindung  zwischen  dem  Ge- 
sichts- und  dem  Gehörseindruck  „Hund"  hergestellt  wird.  Eine  strenge  Gesetz- 
mäßigkeit wird  durch  solche  Verknüpfungen  nicht  hergestellt,  wie  das  Ver- 
gessen zeigt.  Die  Innigkeit  der  Assoziation  wächst  mit  der  Häufigkeit  der 
Wiederholung  derselben  Vorstellungsverknüpfungen  und  dem  Interesse,  das 
sich  an  sie  heftet.  Außerordentlich  fest  sind  deshalb  die  Assoziationen,  welche 
uns  von  Blindheit  an  übermittelt  werden,  z.  B.  Achtung  vor  Eltern,  nationales, 
religiöses  Gefühl  etc.  Dadurch,  daß  in  Jahrtausende  währender  Überlieferung 
jeder  Generation  von  der  vorhergehenden  bestimmte  Vorstellungen  mit  be- 
stimmten Gefühlen  verbunden  übermittelt  werden,  wird  diese  Vereinigung 
schließlich  eine  unlösliche,  ihr  besonderer  Anlaß  und  ihre  Elemente  sind  nicht 
mehr  zu  erkennen ;  ein  Sittengebot,  das  aus  den  Bedingungen,  unter  denen 
eine  bestimmte  Gesellschaft  lebte,  sich  als  zweckmäßig  ergab  und  deshalb  von 
ihren  Gliedern  freiwillig  oder  gezwungen  befolgt  wurde,  erscheint  als  unbedingt 
wertvoll,  nachdem  jene  Zwecke  längst  vergessen  sind.  Der  späteren  Analyse 
des  moralischen  Empfindens  sind  so  große  Schwierigkeiten  gesetzt,  es  ist  un- 
möglich, das  natürliche  Gefühl  des  Menschen  von  den  Einflüssen  der  Kultur 
losgelöst  aufzuzeigen.  Diese  Betrachtung  führt  zu  der  Einsicht  in  die  je- 
weilige Bedingtheit,  die  Relativität  aller  menschlichen  Wertbestimmungen. 
Vgl.  dagegen  das  zweite  Lesestück  aus  Kant  (S.  196—207).  —  Das  Assozia- 
tionsprinzip ist  besonders  von  G.  Th.  Fechner  für  die  Ästhetik  fruchtbar 
gemacht  worden  in  seiner  Vorschule  der  Ästhetik  2.  Aufl.  1897,  es  spielt  in  der 
modernen  Psychologie  überhaupt  eine  große  Rolle.  Vgl.  Th.  Ziehen,  Leit- 
faden der  physiologischen  Psychologie,  6.  Aufl.,   1902. 


Erläuterungen.  289 


281  30.  Es  stehen  sich  hauptsächlich  die  empiristische  und  die  aprioristische 
(transzendente)  Theorie  gegenüber.  In  Bezug  auf  die  erstere  vgl.  das  zu  281  i3 
Gesagte.  Besonders  charakteristisch  Tvird  sie  vertreten  von  Paul  Ree  in 
seinem  Buche  „Die  Entstehung  des  Gewissens",  Berlin  1885.  Dort  heißt  es 
z.  B.  auf  S.  181:  „jede  Kulturstufe  stempelt  zu  Tugenden  die  Eigenschaften, 
zu  Pflichten  die  Handlungen,  deren  sie  bedarf".  Die  aprioristische  Theorie 
kann  der  Leser  aus  der  zu  203  31  zitierten  Kantstelle  kennen  lernen  und  aus 
Rousseaus  Emile  (Profession  de  foi  du  vicaire  savoyard) :  ^Consciencef 
conscience!  instinct  divin,  immortelle  et  Celeste  voix;  guide  assure  dhm  etre 
Ignorant  et  hörne,  mais  intelligent  et  lihre;  juge  infaiUible  die  hien  et  du  mal, 
qui  rends  Vhomme  semhlahle  ä  Dien!  c'est  toi  qiii  fais  Vexcellence  de  sa  nature 
et  la  moralite  de  ses  actions,  sans  toi  je  ne  sens  rien  en  moi  qui  tn'eleve  ati-dessus 
des  hetes,  que  le  triste  priviUge  de  m'egarer  d'erreurs  en  erreurs,  ä  Vaide  d'un 
entendement  sans  regle  et  d''une  raison  sans  ijrincipe.'^ 

282  9.  Transzendent  =  über  die  Grenze  möglicher  Erfahrung  hinausgehend. 
284  26.    Vgl.  S.  36 11  ff. 

287  7 .  Diesen  Standpunkt  eines  rücksichtslosen  Egoismus  vertritt  in  Piatos 
Dialog  Gorgias  (Kap.  46)  der  Sophist  Kallikles.  Es  heißt  dort:  „Wie  sollte 
ein  Mensch  glückselig  sein  können,  der  eines  anderen  Diener  ist?  Um  es  frei 
herauszusagen:  Für  den,  der  richtig  leben  will,  ist  es  von  Natur  schön  und 
recht,  seine  Begierden  sich  möglichst  steigern  zu  lassen.  Nicht  soll  er  sie 
zurückhalten,  sondern  kühn  und  klug  genug  sein,  um  ihnen,  so  groß  sie  auch  sind, 
sich  hingeben  und  Sättigung  seiner  Gelüste  erlangen  zu  können.  Doch  dessen, 
glaube  ich,  sind  die  meisten  nicht  fähig,  und  sie  tadeln  solche  Menschen,  weil 
sie  sich  ihrer  eigenen  Schwäche  schämen  und  sie  zu  verbergen  suchen.  Ein 
schrankenloses  Wollen  nennen  sie  Schwäche,  um  die  von  Natur  Edleren  ein- 
zuzwängen, und  weil  sie  selbst  ihren  Lüsten  keine  Befriedigung  verschaffen 
können,  so  preisen  sie  aus  Unmännlichkeit  die  Besonnenheit  und  die  Gerechtig- 
keit. Was  wäre  wohl  für  die,  welche  als  Söhne  von  Königen  geboren  wurden 
oder  aus  ursprünglicher  eigener  Kraft  Macht  und  Herrschaft  sich  gründeten,  i 
unschöner  und  häßlicher  als  Besonnenheit?  Während  sie  alle  Güter  der  Welt  ' 
frei  genießen  könnten,  setzten  sie  sich  selbst  des  großen  Haufens  Gesetz, 
Regel  und  Tadel  als  Herrn.  Sind  sie  nicht  durch  diese  schöne  Gerechtigkeit 
und  Besonnenheit  machtlos  geworden,  so  daß  sie  ihren  Freunden  nicht  mehr 
zuwenden  können  als  ihren  Feinden,  obgleich  sie  Herrscher  im  eigenen  Staate 
sind?  So  lautet  die  Wahrheit:  Lebensgenuß  und  schrankenloses  freies  Wollen,  j 
wenn  sie  aus  wirklicher  Kraft  entspringen,  sind  Tugend  und  Glückseligkeit,  / 
jenes  andere  ist  Ziererei,  widernatürliche  Satzung,  leeres  Geschwätz  und 
nichtsnutziges  Zeug."  In  neuerer  Zeit  hat  Max  Stirner  (1806 — 1856)  dieser 
Lehre  in  seinem  Buch  „Der  Einzige  und  sein  Eigentum"  (1845)  folgenden 
Ausdruck  gegeben:  „Ich  bin  zu  allem  berechtigt,  dessen  ich  mächtig  bin,  nur 
zu  dem  nicht,  was  ich  mfili,t,jnit  freiem  ^lute  tue,"  Auch  an  Nietzsches 
„Herrenmoral"  sei  erinnert.  g  ^',  Menzer. 

D es 3 oir-Menz er,  Philosophisches  Lesebuch.    2.  Aufl.  19 


Namenverzeichnis. 


A. 

Abälard  87. 

Abert  77. 

Adeimantos  15. 

Adickes  209. 

Almairich  von  Bena  81. 

Anacharsis  31.  45. 

Anaximander  243. 

Änesidemus  53. 

Archimedes  101.  240. 

Aristipp  18.  52.  54. 

Aristoteles  37  fF.  52.  70.  71.  73.  76  ff. 

94.   95.    108.   110.    123.   160.    161. 

162.  252.     Aristotelismus  76. 
Äsop  240. 

Ato misten,  griechische  212. 
Auerbach  120. 
Augustinus  76.  108. 
Avenarius  174.  278. 
Avicenna  80. 

B. 

Bacon  42.  93  ff.  109.  172.  241.  274. 

287. 
Baensch  120. 
Barth  62.  278. 
Barthelemy  St.  Hilaire  41. 
Bayle  155.  161. 
Beck  226. 
Bentham  287. 
Bergmann  107.  172.  174. 
Berkeley  110.  149  ff.  212.  227.  287. 
Bernays  46. 
Boetius  77. 
Bonitz  40. 
Boutroux  158. 
Bruno  159. 
Buchenau  107. 
Busse  122. 
Büttner  86. 


C. 

Cajetanus  (Thomas  de  Vio)  77. 
Capreolua,  Johannes  77. 


80. 


Cartesianer  123. 154.  Vergl.Descartes. 

Cassirer  159. 

Charondas  35.  47. 

Christus  280. 

Chrysippos  62. 

Cicero  138.  232. 

Commer  77.  80.  82. 

Comte  278.  287. 

D. 

Dante  45. 

Darwin  213. 

Dehnhardt  140. 

Denifle  77. 

Descartes   41.   107  ff.   121.  138.  151. 

212. 
Dessoir  109.  161. 
Deussen  87. 

Dilthey  76.  173.  209.  227. 
Diogenes  51. 
Diogenes  Laertius  62. 


E. 


Eckhart  45.  86  ff. 

Eleaten  42.  152.  252. 

Epimenides  35.  47. 

Epikur  50.  52.  60.  63.  268.  287.  Epi- 
kureer 50.  60.  63.  232.  Epikureis- 
mus  64.  230. 

Erdmann,  B.  38.  95.  209.  210. 

Erdmann,  J.  E.  14.  158.  159.  208. 

Eucken  69.  76.  77.  93. 

Euklid  180. 

Euripides  47. 


F. 


Falckenberg   16.   107.  138.  140.  150. 

209.  252. 
Fechner  288. 

Fichte  16.  208.  225  ff.  235. 
Fischer,  Kuno  107.  209.  226.  237.  268. 
Fischer,  Ludwig  107. 


Namenverzeichnis. 


291 


Frantz  237. 
Fräser  138.  150.  288. 
Freudenthal  120.  123. 
Fries  237. 

e. 

Galilei  123.  160. 
Gallio  62. 
Garbe  270. 
Gerhardt  158. 
Glaukon  1.  2.  11.  15. 
Goethe  18.  240.  269. 
Goldschmidt  210. 
Gomperz  14.  18.  152.  288. 
Gorgias  41.  289. 
Grimm  139.  172. 
Grisebach  268. 
Güttier  107. 

H. 

Hartenstein  138.  209.  252. 

Hartmann,  E.  v.  70.  160. 

Heereboord  123. 

Hegel  237  ff. 

Helmholtz  210. 

HerakHt  14.  92.  95.  249.  253. 

Herbart  251  ff. 

Herbert  v.  Cherbury  138. 

Hesiod  35.  47. 

Heussler  93. 

HiJlert  237. 

Holtzendorff  268. 

Homer  35.  36.  47. 

Horaz  184.  261. 

Humanismus  37. 

Hume    139.    172   ff.    184.    207.    213. 

2.38.  287. 
Hutcheson  213. 


I. 

Jacobi  237. 

Imelmann  95. 

Joannes  a.  S.  Thoma  (Poinsot)  78. 

John  138. 

K. 

Kabitz  226. 

Kallias  22.  23. 

Kallikles  289. 

Kant  15.  16.  87.  108.   110.  123.  140. 

160.  173.  175.  207  ff.   225  ff.  239. 

254.  266  f.  288.  289.  Kantianer  218. 
Kepler  123.  160. 


Kirchmann,   v.  15.  40.  93.  120.  138. 

209.  278. 
Kleanthes  64. 
König  174. 
Köttgen  172. 
Külpe  110. 
Kyniker  47. 
Kyrenaische  Schule  18. 

L. 

Land  120. 

Lange,  Fr.  A.  209. 

Lasson  41.  70.  86.  87. 

Lehmann,  Rudolf  150.  268. 

Leibniz  41.  95.  138.  139.  158  ff.  211. 

213.  241. 
Lessing  108. 
Liard  95. 

Lipps  139.  150.  172. 
Locke    110.    138   ff.    150.    151.    174. 

193.  207.  211.  212.  287. 
Lotze  16. 

Lukrez  256.  262.  263.  268. 
Luther  124.  236. 


Mach  174.  278. 

Maier  37. 

Maimon  226. 

Manu  269. 

Marc  Aurel  62. 

Mausbach  76. 

Meinong  172. 

Mill,  J.  St.  87.  95.  278.  287  ff. 

Milo  27.  43. 

Mörbeke,  W.  v.  82. 

Müller,  H.  F.  70. 

Münsterberg  41. 


N. 


Nathanson  172. 
Natorp  14.  18. 
Nero  62. 
Kewman  46. 
Nietzsche  289. 


P. 


Pappenheim  52.  53. 
Parmenides  14.  162. 
Paulsen  110.  209. 
Petrus  V.  Bergomo  77. 
Petrus  Lombardus  77.  78. 
Pfeiffer  86. 


292 


Namenverzeichnis. 


Philippus  a  SS.  Trinitate  (Esprit  Ju- 
lien) 78. 

Philo  87. 

Plato  13  ff.  41.  44.  46.  50.  52.  70. 
71.  91.  95.  108.  150.  152.  173.  280. 
235.  240.  252.  259.  267.  269.  289. 
Platoniker  50.  73.  81.  Platonis- 
mus  76. 

Plotin  43.  69  ff.  86. 

Polus  22.  41. 

Protagoras  14.  95.  249.  253. 

Pyrrho  52. 

Pythagoreer  27.  44. 

B. 

Rajas-guna  264.  270. 
Ree  289.' 
Reginaldus  76. 
Rehmke  159. 
Reinhold  225.  226. 
Richter,  K.  140. 
Richter,  R.  52.  150. 
Rickert  41. 
Riehl  209.  278. 
Rig  278. 
Rolf  es  41. 
Rorarius  155. 
Rosenkreuzer  240. 
Rousseau  140.  213.  289. 
de  Rubels  77. 

S. 

Saenger  288. 

Samkhya-Philosophie  270. 

Sattva-guna  264.  270. 

Schasler  287. 

Schelling  109. 

Schiller  214. 

Schleiermacher  15.  209. 

Schneider  77. 

Scholastik  76.  123.    Scholastiker  76. 

79.  158.  160. 
Schopenhauer  162.  266  ff. 
Schulte-Tigges  213. 
Schuppe  175. 
Schütz  77. 
Schwegler  40. 
Seneca  61  ff.  87. 
Sextus  Empiricus  52. 
Shaftesbury  213. 
Siebeck  41. 
Siegling  269. 
Signoriello  77. 


Sigwart  93.  95. 

Skeptiker  48  ff. 

Sokrates  14.  15.  18.  19.  205.  230. 

Sommer  41. 

Sophisten  14.  17.  41.  47.  289. 

Spartaner  51. 

Spinoza  70.  95.  120  ff.  159.  161.  162. 

225. 
Stirner  289. 
Stoiker  50.   53.   61  ff.   71.    138.   218. 

258.  259.  261. 
Susemihl  46. 
Sylvester  Ferrariensis  77. 

T. 

Taine  278. 

Tamas-guna  264.  270. 

Tennepiann  231.  288. 

Teuffei  15. 

Thaies  243. 

Thomas  v.  Aquino  76  ff.  160. 

Timon  52. 

U. 

Überweg  150.  252. 

Überweg-Heinze  14.   18.  76.  86.  107. 

120.  208. 
Upanishads  87. 

V. 

Vloten  120. 
Volkelt  268. 

Vorländer  14.  18.  138.  150.  208.  209. 
213. 

W. 

Wahrmund  288. 

Wiegand  15. 

Wilamowitz,  U.  v.  45.  46. 

Willmann  77. 

Windelband    14.    18.    70.    110.    120. 

172.  209.  237. 
Wolff  213. 
Wulf  77.  80. 
Wundt  95.  151.  174. 


Z. 


278. 


Zeller  14.  18.  37.  70.  173.  253. 
Zenon  62. 
Ziegler  45. 
Ziehen  288. 
Zigliara  77. 


Sachregister. 


Die  Zahlen  iu  kleinem  Druck  verweisen  auf  die  Erläuterungen. 


A. 


Abstrakt  150,  236,  267;  a.e  Ideen 
141  ff.  Abstraktion  72,  73,  79,  150, 
218,  226,  240.     Vergl.  Begriff. 

Adäquate  Erkenntnis  durch  den 
Verstand  124. 

Affekt  25  f..  118;  Affektenlehre  Spi- 
nozas 122  ff.  Yergl.  Leidenschaften. 

Affi ziert  -werden  188,  209. 

Aktivität  (Tätigsein)  244  ff. 

Akzidens  78,  160. 

Allgemeiner  Begriff  21, 148;  Schluß- 
satz 21 ;  Gesichtspunkt  des  Allge- 
meinen 22. 

Analogie,    Schluß   nach    der  A.  94. 

Analyse  der  Mathematiker  158. 

Analytisch  179,  209f. ;  a.e  Sätze  I6i. 
Vergl.  Methode,  Urteil. 

Anschauung  179,  187  f.,  209;  reine 
A.  187;  intellektuelle  A.  231,  238; 
A.  ist  intuitiv  187 ;  notwendig  zur 
Erkenntnis  192. 

Anthropomorphismen  95. 

Apatheia,  Seelenruhe  des  Weisen 
59,  63. 

«Tisipov  243,  253. 

Apodiktisch  186;  a.e  Gewißheit  178, 
180,  183,  190;  =  absolute  Not- 
wendigkeit 186.  a.es  Urteil  210. 

A  posteriori  178,  183,  187,  202,  209, 
211,  214.  Vergl.  Empirisch,  Erfah- 
rung. 

App er zeption  =  Bewußtsein  154  f.; 
reine  A.  ins. 

A  priori  uo,  178  ff.,  202,  213  ff.;  A. 
=  schlechterdings  von  aller  Erfah- 
rung unabhängig  209;  allgemein- 
gültig und  notwendig  209,  211,  213; 
A.  als  Anlage  im  Bewußtsein  211; 
Apriorismus  208,  289. 

Art  73,  78;  artbildender  Unterschied 
73,  78. 


Assoziation   288;   moralische   A.en 

284. 
Ästhetik  246,  253,  288. 
Ataraxie,  Gleichgewicht  der  Seele  63, 
Atombegriff,  WiderspruchimA.  152. 
Atomistik  64. 
.Attribut   75,    212;   A.   bei   Spinoza 

110,   121;   Attribute:  Denken  und 

Ausdehnung  123. 
Aufklärung,  englische  A.  172. 
Ausdehnung    als    Eigenschaft    des 

Körpers  89. 
Außenwelt  224;  Realität  der  A.  227. 
Automat  155,  I6I. 
A  u  1 0  n  0  m  i  e(Selbstgesetzgebung)  215 ; 

A.  des  Sittengesetzes  253. 
Axiome  90,  121,  127,  158.     Vergl. 

Grundsätze. 


B. 


Begehren   der  Monaden  155  f.,  I6I. 

Begriff  etwas  Gedankliches  16;  Bil- 
dung des  B.es  150;  B.  enthält  ein 
Allgemeines  208;  Sammelbegriffe 
78  f.;  Gemeinnaraen  148;  Allge- 
meinbegriffe 78;  133;  Beziehungs- 
begriffe 16,  Umfang  des  B.es  20, 
38  f. ;  Gattungs-  und  Artbegriffe 
71,  78  f. ;  Mittelbegriff  20,  38 ;  äus- 
sere B.e  20,  38;  Erkenntnis  durch 
B.e  14;  objektives  Begriffssystem 
der  Wirklichkeit  41 ;  begriffliche 
Konstruktion  der  Wirklichkeit  I5i; 
Grundbegriffe  nicht  angeboren 
126  ff.     Vergl.  Abstrakt. 

Bewußtsein,    Tatsachen    des    B.s 

218,    226. 

C. 

Consensiis  omniiim  54. 


294 


Sachregister. 


D. 


Deduktion,  transzendentale  D.  190, 

212. 

Deduktives  Schlußverfahren  124. 
Vergl.  Schluß,  Syllogismus. 

Definitionen  als  Grundlage  des 
Systems  bei  Spinoza  121,  der  Mathe- 
matik 158. 

Denken,  reines  D.  24;  Denken  des 
D.s  24  f. ;  Freiheit  des  D.s  223. 

Dialektik  bei  Plato  13,  19;  D. 
Aufsuchen  höchster  Erklärungs- 
prinzipien 89,  92,  94;  dialektische 
Methode  Hegels  238/9 ;  D.  der  prak- 
tischen gemeinen  Vernunft  207. 

Differential  159. 

Dilemma  252. 

Ding  mit  vielen  Eigenschaften  253; 
Wesen  und  Dasein  derD.e  113, 122; 
Wahrheit  und  Falschheit  der  D.e 
122;  D.  an  sich  188  f.,  192,  211; 
D.  a.  s.  eine  notwendige  Folgerung 
bei  Kant  212;  D.  a.  s.  bei  Fichte 
218  ff.,  225.    Vergl.  Eine,  das. 

Diskursive  Erkenntnis  durch  Be- 
griffe 187,  211 ;  d.  =  allgemein  211. 

Dogmatiker  222ff. 

Dogmatismus  nach  Kant  182,  210 ; 
nach  Fichte  218,  227. 

Dualismus  (Seele  und  Körper)  49, 
84. 


E. 


Egoismus  263,  286;  rücksichtsloser 

E.    289. 

Eigenschaft  141;  sinnliche  Eigen- 
schaften (species  sensihües)  153, 
160  f. ;  species  intelligihiles  160  f. ; 
primäre  E.en  110,  193,  212;  sekun- 
däre E.en  212;  logische  E.  78. 

Einbildung    98.      Vergl.   Meinen. 

Einbildungskraft  103  ff.,  ihre 
Fähigkeit  begrenzt  163,  worin  E. 
nur  besteht  164;  Phantasievorstel- 
lungen 173,  Phantasiebilder  72, 
künstlerische  Phantasie  173. 

Eindrücke  =  angeborene  Schrift- 
züge 126  f.,  110;  Eindruck  =  leben- 
dige Vorstellung  (Empfindung  oder 
Gemütsbewegung)  163 ff.,  173;  E. 
als  Kriterium  philosophischer  Be- 
griffsbildung 166.  E.  verschieden 
nach  der  Beschaffenheit  der  Sinnes- 
organe 53. 


Eine,  das  E.  im  Verhältnis  zur  Viel- 
heit 68,  71.    Vergl.  Ding. 

Emanationslehre  71. 

Empfindung  als  Materie  der  Er- 
scheinung 189,  209,  211;  Subjekti- 
vität der  Sinnesempfindungen  14. 

Empiriker  unter  den  Ärzten  157. 
Vergl.  Erfahrung. 

Empirisch  176,  209;   e.  gewiß  187. 

Empirismus  I6I,  207,  274,  289; 
psychologischer  E.  173. 

Energie  als  Band  zwischen  Körper 
und  Geist  169,  173. 

Entelechie  155  f.,  16I. 

Entwicklung,  Weltprozeß  als  E. 
19;  Begriff  der  E.  bei  Hegel  239; 
Entwicklungstheorie  Darwins  213. 

Erfahrung  aus  vielfacher  Erinne- 
rung 22,  Kenntnis  des  Einzelnen 
22;  E.  =  Empfindungen  176,  210/1; 
Mannigfaltigkeit  der  E.en  240;  E. 
kontinuierliche  Zusammenfügung 
von  Wahrnehmungen  183;  Erfah- 
rungsurteile 178,  183;  E.  Inbegriff 
aller  Erkenntnis  208,  211 ;  E.  Sy- 
stem der  von  dem  Gefühl  der 
Notwendigkeit  begleiteten  Vor- 
stellungen 217  f.;  Analogie  der  E. 
175;  Grund  der  E.  226.  Vergl.  Em- 
pirisch, A  posteriori. 

Erkennen  (Erkenntnis),  Drang  nach 
E.  21;  Stoff  der  E.  212;  E.  gerich- 
tet auf  das  Seiende  4  f. ;  reines  E. 
24;  reine  E.,  der  nichts  Empiri- 
sches beigemischt  ist  209 ;  reines 
willensfreies  E.  257,  264,  268;  in- 
tuitive E.  120 ;  höchste  E.  7  ;  E.  nur 
aus  Beobachtung  der  Tatsachen 
274,  287;  Grenzen  des  E.s  174. 

Erkenntnistheorie  226;  Probleme 
der  E.  138.  Vergl.  Psychologie  des 
Erkennens. 

Erkenntnisvermögen  (Anschau- 
ung, Verstand,  Vernunft)  208, 225, 226. 

Eros  Streben,  sich  zum  Unsterblichen 
zu  erheben  15, 

Yirx&g\xng(aftection)  156, 161.  Vergl. 
Passivität. 

Erscheinung  189ff.,  250,255;  E. 
nicht  Schein  194 f.;  Erscheinungs- 
welt 16,  227. 

Ethik  213,  214;  E.  als  Teil  der  Ästhe- 
tik 253;  stoische  E.  261.  Vergl. 
Moral,  Philosophie. 

Eudämonismus  vergl.  Glückselig- 
keit, Utilitarismus. 


Sachregister. 


295 


Evidenz  =  Vonselbsteinleuchten  135; 
E.  beruht  auf  intuitivem  Wissen  uo. 


F. 

Fatalist  222. 

Forderung  (Postulat)  158;  Postulat 

der  Freiheit  und   Selbständigkeit 

des  Ich  222. 
Form,  substantiale  F.en  (Ideen)  4i; 

F.  realisiert  sich  in  der  Materie 
161,  Wesensform  74,  8i;  F.  als  wir- 
kendes Prinzip  68;  F.  der  Sinn- 
lichkeit 188:  F.en  der  Welt  als 
Vorstellung  267;  Einheit  von  F. 
und  Inhalt  236 ;  F.en  =  ursprüng- 
liche Anlagen  208,  211;  formelles 
Prinzip  des  Wollens  202.  Vergl. 
Stoff. 

Freiheit  115, 124, 216, 241;  Kants  Lehre 
von  der  Freiheit  214,  227 ;  transzen- 
dentale F.  242,  246  ff. 

G. 

Gattung  74,  78. 

Gedächtnis  I5i;  G.  der  Monaden 
157;  Erinnerungsvorstellungen  173. 

Gefühl,  moralisches  G.  213,  279 f. 

Geist  54,  150,  absoluter  G.  65,  als 
Erstes  prädikatlos  71;  Weltgeist 
234 ;     geistiges    Universum    234 ; 

G.  Sohn  des  Einen  69,  71;  G.er 
155,  161;  menschlicher  G.  (Seele) 
im  Gegensatz  zum  Leib  und  Fleisch 
84,  veränderlich  92,  leichter  er- 
kennbar als  der  Körper  100,  besitzt 
Fähigkeit  des  Urteils  106;  Tätig- 
keiten der  Seele  72,  102,  110 ;  Ver- 
mögen der  S.  25  f.,  43;  Beschaffen- 
heiten der  S.  25  f.,  44;  Entwick- 
lung des  menschlichen  G.es  272, 
im  Verhältnis  zu  der  des  Indivi- 
duums 273 f.;  G.  alles,  was  Per- 
zeptionen  und  Begierde  hat  155. 
Vergl.  Intellekt,  Psyche. 

Geisteswissenschaften  213. 

Gemeinschaft  33  f. 

Gemeinsinn  106. 

Genius,  Leben  des  G.  264. 

Gerechtigkeit  an  den  Staat  ge- 
bunden 37. 

Gesetz,  praktisches  G.  203, 214.  Vergl. 
Naturgesetz. 

Gewissen,  Wesen  des  G.s  281; 
Theorien  des  G.s  281,  289. 


Glaube  13. 

Gleichgültigkeit,  stoische  G.  258. 

Glück  nur  negativ  262,  264. 

Glückseligkeit  196  ff.,  213;  G. 
unterschieden  von  Lust  45 ;  Wesen 
der  G.  29 f.,  287;  G.  Endzweck 
alles  menschlichen  Tuns  29  f. ; 
glücklich  leben  =  naturgemäß 
leben  56  f.,  62  ;  allgemeine,  größt- 
mögliche G.  279 f.,  284.  Vergl.  Utili- 
tarismus. 

Gott  und  die  Idee  des  Guten  19;  G. 
absolutes  Wesen  24,  das  Eine  70, 
der  Allgütige  99,  Quelle  der  Wahr- 
heit 100 ;  Wesen  G.es  bei  Spinoza 
121,  Ursache  aller  Dinge  111  f., 
allein  freie  Ursache  112,  Vollkom- 
menheit G.es  117, 119;  G.es  Tätig- 
keit Denken  25,  42;  G.  denkt  sich 
selbst  25 ;  G.es  Verstand  und  Wille 
113f.;göttlicheLiebell8f.;G.liebt 
sich  selbst  mit  unendlicher  geisti- 
ger Liebe  119,  125;  Gehorsam  dem 
G.  61. 

Gravitation  276. 

Grund  außerhalb  des  Begründeten 
218 ;  Satz  vom  zureichenden  G. 
157 ;  metaphysische  und  logische 
Fassung  d,  S.  v.  z.  G.  I62;  vier- 
fache Wurzel  d.  S.  v.  z.  G.  162; 
ein  synthetischer  Satz  180. 

Grundsätze,  theoretische  G.  127; 
praktische  G.  127 ;  G.  der  Hand- 
lung 202.     Vergl.  Axiome. 

Gut,  das  höchste  59. 


H. 


Humanität    nur    im    Staate   mög- 
lich 47. 


I. 


Ich  als  Geist  106,  als  Substanz  110; 
Spontaneität  des  I.  208 ;  Freiheit 
und  Selbständigkeit  des  I.  222;  I. 
aktiv  oder  passiv  207  f. ;  Schöpfer- 
kraft des  I.  geleugnet  173;  Ich- 
heit  225. 

Ideal,  I.  und  Leben  19. 

Idealismus  Berkeleys  150,  192,  212; 
I.  im  Gegensatz  zum  Dogmatismus 

218  ff.,   227. 

Idealität  von  Raum  und  Zeit  194. 

Idee,  Platonische  I.  3,  9  ff.,  13,267; 

I.nlehre  13  f.,  70;  I.n  Urgrund  des 


296 


Sachregister. 


Seins  15/6  ;  Ordnung  der  I.n  17; 
I.  des  Guten  7,  11  f.,  I8;  Immanenz 
der  I.n  41;  I.  =  Weltvernunft  235, 
236,  240;  Entwicklung  der  I.  238; 
I.  =  Bewußtseinsinhalt  126  f.,  139, 
141  f.,  150;  I.  als  von  Gott  aufge- 
prägtes Zeichen  90;  angeborene 
I.n  126  ff. ;  einfache  I.n  158;  zu- 
sammengesetzte I.n  142;  I.  = 
schwächere  Vorstellung  eines  Ein- 
drucks 163  ff.,  167,  172. 

Identität  von  Form  und  Inhalt 
236;  Satz  derl.  127,  139,  162;  iden- 
tische Aussagen  158. 

Idole  (Trugbilder)  =  leere  Meinungen 
92,  109;  Einteilung  der  I.  92. 

Immateriell  73. 

Imperativ,  kategorischer  L,  215,  ein 
formales  Prinzip  215. 

Individuum  63,  225 ;  individuali- 
sierende Prinzipien  73  f. ;  I.  als 
Objektivation   des  Willens  254  ff. 

Induktion  89  f.,  210,  287;  I.  nicht 
einfache  Aufzählung  91 ,  dialek- 
tische 94.  . 

Instanzen  (Fälle),  positive  I.  91, 
94;  negative  I.  91,  94. 

Instinkt  4i.  96,  198. 

Intellekt,  geistiges  Denk-  oder  Er- 
kenntnisvermögen =  Vernunft  und 
Verstand  72/3, 79;  Macht  des  I.s  124; 
intellektuelles  Reich  237.  Vergl. 
Geist. 

Intelligenz  an  sich  218;  freie  I.  219. 

Intelligible  Welt  215,  227;  species 
inteUigihiles  leo. 

Interesse,  höchstes  I.  für  uns  selbst 
223;  den  Willen  anregend  257. 

Intuitives  Wissen  124,  uo;  Anschau- 
ung ist  intuitiv  187,  211. 

Irren  eine  Unvollkommenheit  99. 


K. 

Kategorien  239,  251;  fünf  Kate- 
gorien von  Vorgängen  277. 

Kausalität  vergl.  Ursache. 

Konkret  in  grammatikalischer  Be- 
deutung 150;  k.  im  Gegensatz  zu 
abstrakt  241 ;  in  concreto  185, 188. 

Kontradiktorisch  entgegengesetzt 
157.     Vergl.  Widerspruch. 

Körper,  Wesen  d.  K.s  nach  Descar- 
tes  98,  102,  nach  Berkeley  143. 

Kosmogonie  I8. 

Kraft  den  Stoff  belebend  243. 


Kritik  186;  K.  unserer  Vernunft  207 ; 
kritische  Frage  182 ;  k.  Philosophie 
207;  Kritizismus  210. 

Kulturideal,  allgemeinmensch- 
liches 287. 


L. 


Langweile  255 ff. 

Leben  ein  Denken  65;  L.  ein  Leiden 
254  ff.,  258,  261. 

Leidenschaften  264.  Vergl.  Affekt. 

Liebe,  Gottes  L.  84;  göttliche  Liebe 
118  f.;  geistige  (intellektuelle)  L. 
119,  124;  praktische,  pathologische 
L.  202. 

Logik  63,  150;  logische  Elementar- 
lehre von  Aristoteles  begründet 
37  f. ;  L.  beschäftigt  sich  mit  ab- 
strakten Ideen  141 ;  scholastisch- 
logische Begriffsbestimmungen  110 ; 
Anwendung  von  Symbolen  in  der 
L.  95. 

Lust  das  Gute  8,  54,  57 ;  das  höchste 
Gut  59. 


M. 


Mangel  als  Triebfeder  des  Willens 
262  f. 

Materie  vergl.  Stoff. 

Materialismus  227;  Materialist  222. 

Mathematik  (Geometrie  und  Arith- 
metik) geht  von  Voraussetzungen 
aus  12/3;  beruht  auf  Verstandes- 
gewißheit 13;  enthält  zweifellose 
Gewißheit  98;  gibt  Richtmaß  der 
Wahrheit  116;  Grundlage  aller 
Wissenschaften  278 ;  reine  M.  179  ff. ; 
Möglichkeit  der  reinen  M.  186  ff.; 
M.  angewandt  auf  Seelenlehre  251. 

Maxime  200  ff.;  M.  der  Klugheit  204. 

Mechanik  des  Seelenlebens  122;  me- 
chanische Naturerklärung  123 ;  Me- 
chanismus der  Natur  214.  Vergl. 
Natur,  Naturwissenschaft. 

Meinen  (Vorstellen)  3  ff.,  109,  229  f.; 
M.  in  der  Mitte  zwischen  Wissen 
und  Nichtwissen  5 ;  Meinung  (Ein- 
bildung) 124. 

Mensch,  Hauptgattungen  von  M.en 
223/4;  Unterschied  der  M.en  49; 
Extreme  des  Menschenlebens  264; 
M.  auf  Gesellschaft  angewiesen 
36,  284  f. ;  Gefühl  der  Einheit  mit 
allen  M.en  285;  Menschheitsent- 
wicklung 286. 


Sachregister. 


297 


Merkmal  in  der  Logik  150,  211,  227; 
individuelle  M.e  74,  79;  Summe  der 
M.e  79. 

Metaphysik,  Erklärung  des  Wortes 
40;  M.  höchste  Wissenschaft,  geht 
auf  die  allgemeinsten  Gründe  4.2; 
sucht  die  einfachsten  Wahrheiten 
auf  121;  beschäftigt  sich  mit  ab- 
strakten Ideen  141 ;  enthält  dunkle 
und  unbestimmte  Ideen  166,  245 ; 
Eigentümliches  aller  metaphysi- 
schen Erkenntnis  176  ff.;  ob  M, 
möglich  ist  180  ff. ;  ob  M.  als 
Wissenschaft  möglich  ist  186; 
Nutzen  der  metaphysischen  Be- 
griffe 275  ;  Veränderung  ein  meta- 
physisches Problem  242 ;  das 
Ungereimte  eines  metaphysischen 
Begriffs  245. 

Methode,  analytische  M.  183,  185, 
210,  vergl.  analytisch ;  theologische, 
metaphysische,  positive  M.  272; 
Methodenlehre  4i. 

Modus  212;    Definition  Spinozas  121. 

Monade  41,  i40,  153  ff.,  159  ff.,  2ii; 
M.  ein  ausdehnungsloses  Kraft- 
wesen 159. 

Monismus.     Vgl.  Pantheismus. 

Moral,  herkömmliche  279;  Begrün- 
dung der  M.  282  f.;  Richtschnur 
der  M.  287;  Herrenmoral  289.  Vergl. 
Pflicht,  Gewissen,  Ethik. 

Monotheismus,   Begriff  des  M.  43. 

Mystizismus  120. 


K. 


Natur  schafft  nichts  zwecklos  35,  86; 
N.  eines  Dinges  36 ;  N.  ohne  Zweck 
114  ff. ;  N.  einzige  Quelle  der  Er- 
scheinungen 273 ;  erkenntnislose 
N.  255 ;  Gleichförmigkeit  des  Na- 
turlaufs 95,  287;  natürliches  Uni- 
versum 234.  Vergl.  Mechanik. 
Naturen   74.    Vergl.  Universale. 

Natur  anläge  eines  organisierten 
Wesens  197. 

Naturgesetz  ig. 

Naturwissenschaft,  exakte  123, 
vergl.  Mechanik;  reine  N.  183. 

Negation  ein  Mangel  122. 

Neigung  223:  N.  im  Gegensatz  zur 
Pflicht  201  f. 

Nominalismus  ig. 

Notwendigkeit,  subjektive, objek- 
tive N.   150. 


Nützlichkeitsmoral  vergl.  Uti- 
litarismus. 

0. 

0  b  j  ekt  im  Verhältnis  zum  Subjekt  207. 
Objektivation     des    Willens    255, 

264;  Stufen  der  0.  2G7  f. 
Ontologie  282. 
Orientalische  Geistesweise  70. 

P. 

Pantheismus  des  Altertums  7i; 
der  Stoiker  63;  P.  Spinozas  121, 
225;  dynamischer  P.  Plotins  71. 

Partikular  21,  38,  148. 

Passivität  244, 246.  Vergl.  Erregung. 

Perzepiton  (perzipieren)  i5o,  154  ff", 
159,  161 ;  kleine  P.en  156,  I61. 

Person  197;  Persönlichkeit  214. 

Pessimismus  268. 

Pflicht  199  ff..  202;  pflichtwidrig, 
•mäßig,  aus  Pflicht  199  f. ;  Pflicht- 
gebot apriorisch  215 ;  P.  ein  Ge- 
fühl 281  ff.;  Streit,  ob  angeboren 
oder  anerzogen  283.  Vergl.  Moral, 
Tugend. 

Phantasie   vergl.  Einbildungskraft. 

Philosoph,  Charakter  d.  P.enief. ; 
Freund  der  Weisheit  2;  geht  mit 
Göttlichem  und  Geregelten  um  17; 
zum  P.en  muß  man  geboren  sein 
225 ;  P.en  müssen  im  Staat  regie- 
ren  15. 

Philosophie,  Forderung  der  P.  216; 
Aufgabe  der  P.  108,  216,  218,  233; 
Gegenstände  der  P.  219,  228; 
Wert  der  P.  17 ;  P.  objektive  Wis- 
senschaft der  Wahrheit  229  ;  theo- 
retische P.  213;  praktische  P. 
(Ethik)  213,  253;  Begriff  der  Ge- 
schichte der  P.  228  ff". 

Physischer  Einfluß  (iiifluxus phy- 

SiCUSj   160. 

Pönitenziarsy stem,    philadelphi- 

sches  256,  268. 
Positivismus  ig,  53,  172,  272 ff.,  278; 

Wesen  des  P.  275;  Anhänger  des 

P.    278. 

Principium   indiscernihiliiim    154, 

160. 

Problematischer  Begriff  182. 
Protestantismus,     eigentümliches 

Prinzip  des  P.  236. 
Psyche,  Erklärung  des  Wortes  110; 

psychisch  is9;  psychische  Vorgänge 


298 


Sacliregister. 


besondere  Klasse  neben  den  phy- 
sischen 139 ;  unbewußt  Psychisches 
139.  Vergl.  Geist. 
Psychologie  des  Erkennens  138, 174; 
P.  Teil  der  Physiologie  278;  P. 
der  Tiere  I5i.  Vergl.  Erkenntnis- 
theorie. 

^. 

Qualität  179,  243;  Qu.en  der  Sinne 

53  f. 
Quantität  98. 
Quietismus  88. 


K. 


Rationalismus  i6i,  173,  2ii. 

Raum  86;  R.  kein  empirischer  Be- 
griff 211  ;  R.  reine  Anschauung  189  f.; 
R.  Form  unserer  Sinnlichkeit  189, 
192;  Raumtheorie  Kants  210. 

Reale  252.     Vergl.  Substanz. 

Realismus  150;  R.  der  Platoniker  8I. 

Realität,  absolute  R.  =  abs.  Voll- 
kommenheit 122. 

Recht  37. 

Reflexion  100. 

Relativismus  I6,  108 ;  Relativität 
aller  menschlichen  Wertbestim- 
mungen 288;  der  sittlichen  Vor- 
schriften 51. 

Religiöse  Beweggründe  der  mora- 
lischen Verbindlichkeit  280. 

Repräsentieren,  die  Monade  re- 
präsentiert die  Gesamtheit  der 
anderen  159 ;  R.  =  Vorstellen  159 ; 
eine  Idee  repräsentiert  andere  der- 
selben Art  146,  151. 

Rezeptivität  209. 

Rigorismus  214. 


S. 

Schicksal  249. 

Schluß,  Definition  des  S.es;  Schluß- 
figuren 20  f. ,  41 ;  vollkommener 
S.  21;  vermischte  Schlüsse  252; 
deduktives  Schlußverfahren  124 ; 
S.  nach  der  Analogie  94;  Trug- 
schlüsse  95.     Vergl.    Syllogismus. 

Seele  vergl.  Psyche,  Geist. 

Sein,  ein  ewiges  unveränderliches 
S.  14;  absolutes  S.  identisch  mit 
dem  Geistigen  42;  das,  was  ist, 
ist  vernünftig  234  f. ;  Begriff  des 
S.s  über  dem  Werden  erhaben  242 ; 


Welt  des  S.s  214;  materielles  und 
immaterielles  S.  73. 

Selbstbeobachtung  216. 

Selbstbestimmung  242,  245  f. 

Seibätgenügsamkeit  32. 

Seligkeit  oder  Freiheit  119  f. 

Sensor iu7n  commune  leo. 

Sensualismus  211. 

Singulare  72,  75,  78. 

Sinne  Erkenntnis  vermittelnd  97; 
Sinnestäuschung  loo ;  Verschieden- 
heit der  Erscheinungsbilder  der 
S.  48. 

Sinnlichkeit  verworrene  Vorstel- 
lungsart 194;  S.  ist  rezeptiv  209; 
liefert  Anschauungen  209. 

Skepsis  108;  S.  der  Griechen  52 ff. 

Skeptizismus    181,    182,    208,   210, 

222,    237. 

Skotismus  76.     Vergl.  Realismus. 

Sollen  18,  215;  Welt  des  S.s  214. 

Soziologie  278;  soziale  Physik  277. 

Spekulativ  222,  227. 

Staat  ein  in  sich  Vernünftiges  235  f. ; 
Staatslehre  Piatos  15;  Aristoteles' 
33  ff.,  46;  S.  früher  als  Indivi- 
duum 37. 

Stoff  (Materie)  68,  86;  S.  durch  die 
Form  gestaltet  I6I,  243;  indivi- 
dueller S.  73 ;  Materie  der  Erschei- 
nung 189,  211;  S.  der  Erkenntnis 
212.     Vergl.  Form. 

Subjekt  im  Verhältnis  zum  Objekt 
207;  subjektive  Notwendigkeit  185. 

Substanz,  Definition  Spinozas  121; 
Begriff  der  S.  iio,  181.  Vergl.  Ding, 
Reale. 

S  ukzession  249. 

Syllogismus  37,  91.  94,  122;  Syllo- 
gistik  37,  Vorschule  der  Wissen- 
schaft 41;  syll.  Beweisführung  90, 
94.     Vergl.  Schluß. 

Synthesis  der  Wahrnehmungen  183. 

Synthetisch  177  f.,  vergl.  Urteil; 
metaphysische  Urteile  sind  s.  181 ; 
s.e  Sätze  a  priori  182,  183  f. ;  s.e 
Lehrart  210. 

T. 

Teleologie  95;  teleologische  Be- 
trachtungsweise 123.  Vergl.  Zweck. 

Temperament  259. 

T  h  e  o  r  i  e  22  f . :  Th.  in  höherem  Grade 
Wissenschaft  23,  157;  Th.  Kennt- 
nis  des   Allgemeinen  4i;   Th.  Er- 


I 


Sachregister. 


299 


kenntnis  des  ursächlichen  Zusam- 
menhanges 24. 

Tiere  bloße  Maschinen  144;  Tier- 
seelen 151,  155. 

Transzendent  282,  287,  288.  - 

Transzendentale  Erkenntnis  212; 
T. Philosophie  185,  225;  t.  Deduk- 
tion 190,  212. 

Traum  97,  109;  T.biider  72. 

Trilemma  242,  245,  251,  252. 

Tropen  48  ff-,  53. 

Tugend,  Wesen  der  T.  25  £F.,  28.; 
dianoetische,ethi6cheT.en  43 ;  T.  von 
Lust  zu  trennen  58.  Vergl.  Pflicht. 

U. 

Unbewußtes  unmöglich  128  ff.  Vergl. 
Psyche,  Vorstellung. 

Unendlich,  absoluter  Geist  u.  65; 
u.e  Reihe  244,  245. 

Universale  72  ff.,  78,  iso;  U.  als  all- 
gemeine Natur  73 ;  U.  als  gedank- 
liche Beziehung  73. 

Universum  der  Stoiker  63. 

Ursache  und  Wirkung  (Kausalität) 
24,  158, 160  f.,  243 ;  Frage  nach  den 
ersten  U.en  275;  ein  Beziehungs- 
begriff 16;  K.  =  Idee  der  notwendi- 
gen Verknüpfung  166  ff.,  174  f.; 
äußere  242  f.,  innere  U.  245  ff.; 
Kausalgesetz  174. 

Urteil,  Fähigkeit  des  U.s  106;  Ein- 
teilung der  U.e  in  analytische  und 
synthetische  177  ff.,  209;  apodikti- 
sches 210;  partikulares  U.  38; 
wahres  U.  muß  hinreichend  be- 
gründet sein  162;  Zurückhaltung 
im  U.  48,  52. 

Utilitarismus  279  ff.,  287.  Vergl. 
Glückseligkeit. 


V. 


Veränderung  aus  äußerer  Ur- 
sache, aus  Selbstbestimmung,  als 
absolutes  Werden  242  ff. 

Verbindlichkeit,  Quelle  der  V. 
279;  äußereGründe280, innere 281. 

Vernunft  erkennt  die  Wahrheit 
und  das  Seiende  10  ff. ;  dialekti- 
sches Vermögen  der  V.  13;  V. 
Vermögen  abstrakter  Begriffe  267; 
reine  V.  178  f.;  Prinzipien  der 
reinen  V.  180;  praktischer  Ge- 
brauch der  V.  198;   V.  als  prak- 


tisches Vermögen  199 ;  dasGöttliche 
ist  denkende  V.  24 ;  das  Seiende  ist 
V.  236,  240. 

Verstand  12/3,  267;  perzipiert  Ideen 
150;  V.  reflektiert  192;  V.  Vermö- 
gen der  Begriffe  211;  V.  begreift 
das  den  Dingen  Gemeinsame  124; 
gesunder  V.  199 ;  V.esgewißheit 
liegt  zwischen  Vernunfterkenntnis 
und  bloßer  Vorstellung  13;  Ein- 
sicht des  V.es  105. 

Vielheit,  Prinzip  der  V,  67;  V,  in 
der  Einheit  154,  160,  253. 

Vorstellen  5  f.,  vergl.  Meinen;  V. 
gibt  nicht  Erkenntnis  105 ;  V.  Zu- 
sammenfassen des  Vielfachen  zur 
Einheit  159.     Vergl.  Perzeption. 

Vorstellung,  ursprüngliche  V.en 
126  ff.,  138,  140;  dunkle  und  klare 
V.en  41,  194;  V.en  unterschieden 
nach  Stärke  und  Lebhaftigkeit  163. 

Voraussetzungen  in  der  Mathe- 
matik 12/3;  Vernunft  gibt  wahr- 
haft letzte  V.en  13. 

Vorurteil  99. 

Wahrheit  im  Gegensatz  zur  Mei- 
nung 229;  zwei  Wege  ihrer  Er- 
forschung 89;  W.  ist  nur  eine 
233;  relative  und  absolute  W.  238; 
einfache  W.en  (simplicia)  121; 
ewige  W.  =  Wesen  eines  Dinges 
113,  122;  notwendige  und  ewige 
157,  159,  itii;  begründete,  tatsäch- 
liche W.en  158.    Vergl.  Erkennen. 

V/ahrnehmung,  sinnliche  W.  noch 
nicht  Wissenschaft  23  f.;  Unter- 
schied der  W.en  50;  Wahrneh- 
mungsvermögen 22. 

Wahrscheinlichkeit  13. 

Wanderbildchen  I60. 

Wechsel  aller  Dinge  it,  248.     ^ 

Weise,  Ideal  des  W.n  59,  63. 

Welt  als  Vorstellung  266  ff. 

Werden,  absolutes  W.  242,  246, 
247  f.;  ewiges  W.  als  Wesen  des 
Willens  269,    Vergl.  Entwicklung. 

Wesen  vergl.  Form,  Ding. 

Wesenheiten  273. 

Widerspruch,  Satz  des  W.s  122,127, 
139,  157,  162,  210;  S.  d.  W.s  Prinzip 
aller  analytischen  Urteile  177, 183  f. 

Wille,  der  gute  W.  85,  87,  196  ff., 
213;  W,  als  Wesen  des  Seins  254  ff., 


300 


Sachregister. 


266  f. ;  W.  ein  beständiges  Streben 
255,  ohne  Ziel  269;  W.  zum  Leben 
255,  265 ;  Verneinung  des  W.s  zum 
Leben  270. 
Wirklichkeit,    Konstruktion    der 

W.    151. 

Wirkung  vergl.  Ursache. 

Wissen  entspringt  aus  der  Einwir- 
kung der  Gegenstände  auf  das  Ich 
172.     Vergl.  Erkennen. 

Wissenschaft  176;  wirkliche  W. 
geht  auf  die  letzten  Gründe  und 
Prinzipien  24;  sinnliche  Wahrneh- 
mungen noch  nicht  W.  23  f.,  vergl. 
Theorie;  Ziel  der  W.  i5i;  wissen- 
schaftliches Verfahren  I5i;  Ein- 
teilung der  Wissenschaften  277. 

Wissenschaftslehre  217,  22G. 


Wort   ein  mangelhaftes   Mittel  des 
Ausdrucks   von  Gedanken  93,   95. 
Würde  des  Menschen  215. 


Z. 

Zeit  8G,  98;  Z.  eine  reine  Anschauung 
189;  Z.  Form  unserer  Sinnlichkeit 
189;  Z.  Form  des  inneren  Sinnes  212. 

Zufall  247. 

Zweck  116,  197;  sich  realisierender 
Z.  161;  Endzweck  der  Dinge  115, 
275;  Mensch  handelt  nach  Z.en 
115,  nicht  die  Natur  114  flF.  Vergl. 
Teleologie. 

Z  w  e  i  f  e  1  96  ff. ;  an  allem  Z.  möglich 
99 ;  grundsätzlicher  Z.  108.  Vergl. 
Skeptizismus. 


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