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departmen/Xof PSYCHOLOGY
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in 2010 with funding from
Univers ity of Toronto
http://www.archive.org/details/philosophischesl02dess
PHILOSOPHISCHES
LESEBUCH.
HERAUSGEGEBEN
VON
MAX DESSOIR und PAUL MENZER
ao. Professor Privatdozenten
der Philosophie an der Universität zu Berlin.
Zweite, vermehrte Auflage»
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1905.
602500
/'?■ ^. srs
Druck aer Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Vorwort zur ersten Auflage.
Der Plan eines Philosophisclien Lesebuches ist aus folgenden
Erwägungen entstanden.
Die Gegenwart scheint sich zur Philosophie wieder freundlicher
zu stellen; es ist jetzt ein stärkeres und allgemeineres Interesse
vorhanden als in den letzten Jahrzehnten. Nun beginnt freihch,
wer heutzutage auf eigenem Wege der Philosophie sich nähert, in
der Regel mit neuester Literatur. Bald aber muß er bemerken,
daß in der Philosophie geschichtliche Kenntnisse zum Wesen der
Sache gehören und daher nicht entbehrt werden können. Infolge-
dessen sieht er sich einer unübersehbaren Schriftenmasse aUer
Zeiten und Länder gegenüber. Gesetzt, er habe das ernsthafte
Streben, aus der QueUe selbst zu schöpfen, verfüge aber nur über
durchschnittliche Mußezeit. Wo soll er beginnen? Wie das Wichtigste
herausfinden? Dieser Verlegenheit wiU unser einführendes Büchlein
abhelfen, indem es ausgewählte Stellen bietet und durch sie zur
Versenkung in das Ganze und zu weiterem Fortschreiten aufmuntert.
Bei unseren Studenten verhält es sich ähnlich, obgleich sie den
Vorteil einer geordneten Unterweisung genießen. An den Univer-
sitäten — leider noch nicht an allen Technischen Hochschulen —
wird regelmäßig über Geschichte der Philosophie vorgetragen. Wie
verschieden nun auch diese Vorlesung gehandhabt werden mag —
e i n Merkmal bleibt ihr immer : sie kann ebensowenig wie die zahl-
reichen „Grundrisse der Geschichte der Philosophie" die Meister
selber sprechen lassen. So kommt der Lernende leicht dahin, daß
er seine Lektüre auf moderne Schriften einschränkt und im übrigen
sich mit umformenden Berichten begnügt. Dagegen muß angekämpft
werden. Wer sich in den Studienjahren mit Philosophie befaßt,
soll Achtung vor Wert und Ausdehnung des Geleisteten empfinden,
und dazu ist unerläßhch, daß er das UrsprüngHche in seiner ganzen
Lebendigkeit kennen lernt. Als Ergänzung zu den Vorlesungen ist
IV Vorwort.
daher dies Lesebuch gedacht: es liefert erläuterndes Anschauungs-
material, setzt die Hörer in einen unmittelbaren Verkehr mit den
großen Philosophen der Vergangenheit und ermöglicht es, im gleichen
Schritt mit dem Fortgang der Vorlesung eine ungefähre Anschauung
von der Denk- und Schreibweise zu erhalten, die diesem oder
jenem Klassiker der Philosophie eigentümhch ist.
Dem gerügten Mangel können im akademischen Unterricht die
„Übungen" abhelfen. Da sie jedoch in der Regel die genauere Kennt-
nis nur eines Autors vermitteln, so würde ihnen eine Reihe von
Büchern entsprechen müssen, deren jedes Auszüge aus den Werken
eines Philosophen enthielte. Wir haben in der Tat an ein solches
Unternehmen gedacht, das in etwa zwanzig Bändchen die Haupt-
punkte der Systeme in der ursprünglichen Fassung bieten soll. Aus
vielen Gründen ist vorläufig aber nur dies bescheidenere und leichter
verwendbare Lesebuch bearbeitet worden.
Von diesen Gründen sei einer erwähnt. Das vor hegende Buch
denken wir uns für jene Zukunft mitbestimmt, wo die philosophische
Propädeutik in den Lehrplan aller höheren Schulen aufgenommen
sein wird. Wie die Dinge sich jetzt gestaltet haben, werden Ele-
mente der Philosophie den Schülern der obersten Klasse zum Ersatz
für andere, ihnen verlorene Bildungsbestandteile dargeboten werden
müssen; im Grunde kann nur fraglich sein, ob eine historische oder
eine systematische Unterweisung vorzuziehen ist. Mit Hilfe dieses
Werkchens kann beides miteinander verbunden und das Selbstdenken
des Jünglings, das hitzig zur Weltanschauung emporstrebt, auf die
bestimmten Probleme hingeleitet werden. Selber denken lernt man
am besten an einem Stoff, der durch und durch Gedanke ist; und
dieser Stoff kann nicht anders als durch Eigentätigkeit wahrhaft
aufgenommen werden.
Wenn bisher über den Zweck des Buches gesprochen wurde, so
muß wohl auch über seine tatsächliche Gestalt einiges gesagt werden.
Es wäre eitel, zu hoffen, daß die Fachgenossen mit der Beschränkung
auf siebzehn Philosophen und mit der Auswahl der Stücke durch-
gängig einverstanden sein können. Aus inneren und äußeren Gründen
hatten wir die Grenzen aufs engste zu ziehen und damit uns selber
die Pein des Wählens zu steigern. Aber wir planen eine allmähliche
Erweiterung und vertrauen auf die freundhche Hilfe derer, die
Vorwort. V
Philosophie lehren, um bei etwa nötig werdenden späteren Auf-
lagen Lücken und Fehler ausgleichen zu können ; wir bitten alle Be-
nutzer des Buches, daß sie die aus ihrer Erfahrung entsprungenen
Verbesserungsvorschläge uns mitteilen wollen. Eine empfindliche
Schwierigkeit lag ferner darin, zwischen den geschichthch und den
sachHch wichtigsten, den schönsten und den kennzeichnendsten
Stellen zu wählen. Wie wir uns jeweilig entschieden haben, wird
der Kundige leicht erkennen; maßgebend blieb, ob die Stelle in
den Zusammenhang des Ganzen — denn es besteht ein solcher —
unmittelbar sich fügte. In Bezug auf die Schwierigkeit sind wir
nicht sehr ängstlich gewesen. Philosophie ist eine ernste Angelegen-
heit und kann die Aufbietung aller geistigen Kräfte beanspruchen.
Ein Lesebuch, das diesen Sachverhalt vertuschen und bloß der Er-
holung dienen wollte, würde Verwirrung und Schaden stiften.
Zur Hilfe sind die „Erläuterungen" da. Wir haben sie so ein-
zurichten versucht, daß zwar keine wirkliche Schwierigkeit über-
gangen ist, anderseits jedoch dem Forschen des Lesers und der
Tätigkeit eines Lehrers genug Spielraum bleibt. Nach Möghchkeit
lassen wir auch in ihnen die Philosophen selber zu Worte kommen,
fügen aber mancherlei hinzu, um das Fortspinnen des Fadens nach
verschiedenen Eichtungen zu erleichtern. Die hterarischen Hinweise
geben nur das, was bequem zu erreichen und für den heutigen
Stand der Forschung das bedeutsamste ist. Bei dem Zweck dieses
Buches — scheint uns — würde alles philologische und historische
Detail mehr stören als fördern. Damit die Aufmerksamkeit nicht
durch die Form in Anspruch genommen, sondern lediglich auf den
Inhalt gesammelt werde, bieten wir die Stücke fremder Sprache in
deutscher Übertragung. Aus gleichem Grunde sind die deutschen Texte
in der jetzt geltenden Rechtschreibung gegeben. Zur Verdeuthchung
sind in vielen Fällen Überschriften von uns hinzugefügt worden.
Die Anordnung der Lesestücke ist die zeitHche. - Inhaltlich be-
ziehen sich die meisten auf die allgemeine Richtung des Denkens
und die Grundfragen der Erkenntnistheorie; von Beiträgen zur
Psychologie, Ästhetik und Pädagogik haben wir vorläufig abgesehen.
Der wachsenden Schwierigkeit nach können die Lesestücke vielleicht
in drei Gruppen geordnet werden: 11^, V, VII, IX, X, XVII; I,
IV, VI, XII, XIV, XV^ II^ III, IV, VIII, XI, XIII, XV^ XVI.
VI Vorwort.
Der Plan des Buches ist von Max Dessoir ausgegangen; die
Ausarbeitung war gleichmäßig zwischen beiden Herausgebern ver-
teilt; die Verzeichnisse sind von Paul Menzer angefertigt. Den
Abschnitt über Thomas von Aquino hat Herr Professor Ernst
Commer (Wien) bearbeitet, dem wir und mit uns die Leser dafür
zu Dank verpflichtet sind. Daß die Erläuterungen dieses Abschnittes
ausführhcher gehalten sind, dürfte bei der im allgemeinen mangel-
haften Kenntnis der Thomistischen Philosophie gerechtfertigt und
willkommen erscheinen.
Berlin im Juni 1903.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Außer mancherlei Verbesserungen hat die neue Auflage auch
Erweiterungen erfahren. Es sind hinzugekommen Lesestücke aus
der Aristotelischen Ethik und Pohtik, aus Sextus Empiricus und
Seneca, aus Comte und Mill — alle von geringer oder mittlerer
Schwierigkeit. Die Stufenfolge nach den Schwierigkeitsgraden
dürfte die folgende sein: II^ 11^, IV, VII, IX, XI, XII, XIX,
XX; I, IP, II^ IP, III, VIII, XIV, XVI, XVII^ IP, V, VI,
X, XIII, XV, XVII^ XVIII. Wir danken für die freundliche
Beurteilung, die unserem Versuch allgemein zu teil wurde, und
werden Ratschläge für die fernere Ausgestaltung gern entgegen-
nehmen.
Berlin im April 1905.
InhaltsYerzeiclmis,
I. Plato. Seite
Die Ideenlehre 1 — 7
Die Idee des Guten und die Erkenntnislelire 7 — 13
Erläuterungen 13 — 19
IL Aristoteles.
Vom Schluß 20—21
Von der Wissenschaft 21 — 24
Vom Denken des Denkens 24 — 25
Das Wesen der Tugend 25—29
Über die Glückseligkeit 29—33
Vom Staate 83—37
Erläuterungen 37 — 47
in. Sextus Empiricus.
Die Tropen der Skeptiker 48—52
Erläuterungen 52 — 54
IV. Seneca.
Ein glückseliges Leben 55 — 61
Erläuterungen 61 — 64
V. Plotin.
Von dem Einen 65 — 69
Erläuterungen 69 — 71
VI. Thomas von Aquino.
Über die Universalien . 72 — 76
Erläuterungen 76 — 82
VIL Meister Eckhart.
Von der Liebe 83—85
Wie der Wille alle Dinge vermag 85 — 86
Erläuterungen 86 — 88
VIII. Francis Bacon.
Von der Induktion 89—91
Von den Idolen 92—93
Erläuterungen 93 — 95
IX. Descartes.
Woran man zweifeln kann 96-100
Über die Natur des menschlichen Geistes 100-107
Erläuterungen 107-110
yjU Inhaltsverzeichnis.
X. Spinoza. Seite
Gott ist die Ursache aller Dinge 111—114
Die Natur handelt nicht nach Zwecken 114—118
Die göttliche Liebe 118—120
Erläuterungen 120—125
XL Locke.
Dem Geist sind keine Grundbegriffe angeboren . . . 126—138
Erläuterungen 138—140
XIL Berkeley.
Von den abstrakten Ideen 141 — 149
Erläuterungen 149—152
XIIL Leibniz.
Die Monadologie 153 — 158
Erläuterungen 158 — 162
XIV. Hume.
Vom Ursprung der Ideen 163 — 166
Von der Idee der notwendigen Verknüpfung .... 166—172
Erläuterungen 172—175
XV. Kant.
Vom Eigentümlichen aller metaphysischen Erkenntnis 176—180
Ist überall Metaphysik möglich? 180—183
Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich? . . 183 — 186
Wie ist reme Mathematik möglich? 186 — 196
Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkennt-
nis zur philosophischen 196 — 207
Erläuterungen 207 — 215
XVL Fichte.
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre .... 216 — 225
Erläuterungen 225 — 227
XVIL Hegel.
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie .... 228—234
Was vernünftig ist, das ist wirklich 234 — 237
Erläuterungen 237 — 241
XVIIL Herbart.
Veränderung als Gegenstand eines Trilemma .... 242—251
Erläuterungen 251 253
XIX. Schopenhauer.
Alles Leben ist Leiden 254—266
Erläuterungen 266 — 271
XX. Comte.
Über Wesen und Bedeutung der positiven Philosophie 272—277
Erläuterungen 278
XXI. J. St. Mill.
Über die letzte Rechtfertigung des Nützlichkeitsprinzips 279—287
Erläuterungen 287—289
Namenverzeichnis 290 *-92
Sachregister 293—300
I.
Plato.
Die Ideenlehre.
XVIII. Es scheint mir nun notwendig zu erklären, was
ich eigenthch unter einem Philosophen verstehe, um die gew^agte Be-
hauptung zu rechtfertigen, daß gerade die Philosophen regieren müssen.
Denn wenn dies klar geworden ist, werden wir nachweisen können, daß
5 es einigen von Natur gebührt, der Philosophie sich zu widmen und
Führer im Staate zu sein, daß die anderen aber nicht dazu berufen sind
und den Führern folgen sollen. — Das zu bestimmen wäre allerdings
Zeit, sagte er. — Folge mir also, vielleicht werden wir es irgendwie
ausreichend erklären. — Nur zu, antwortete er.
10 XIX. Werde ich dich, sagte ich, erinnern müssen oder weißt du es
von selbst, daß in einem Menschen, bei dem wir wahrhaft von Liebe
sprechen können, diese Liebe niemals nur einen Teil des gehebten Gegen-
standes umfassen darf, sondern ihn in seiner Gesamtheit ergreifen will?
— Ich glaube, du mußt mich daran erinnern, antwortete er, denn ich
15 verstehe es nicht recht. — Ein anderer, versetzte ich, dürfte so sprechen
wie du, Glaukon; doch ein so in der Liebe bewanderter Mann müßte
es eigentlich wissen, daß den Freund der Knaben und der Liebe alle
jugendhchen Gestalten reizen und quälen, weil sie der Aufmerksamkeit
und Freundlichkeit ihm wert zu sein scheinen. Oder geht es euch nicht
20 so mit den schönen jungen Menschen? Den einen werdet ihr, weil er
ein Stumpfnäschen hat, allerliebst nennen und preisen, von des anderen
Habichtsnase sagt ihr, sie habe etwas Königliches, von dem dritten, der
zwischen diesen beiden die Mitte hält, er habe die schönsten Propor-
tionen, die Dunklen findet ihr männlich aussehend, die Blonden nennt ihr
25 Söhne der Götter, und daß einer honiggelbe Farbe habe — kann diesen
Ausdruck ein anderer als ein Liebhaber erfunden haben, der einen
Schmeichelnamen suchte und die Blässe sich gern gefallen Heß, wenn sie
mit Schönheit verbunden war? Kurz, ihr ergreift alle Vorwände und
erschöpft alle Ausdrücke, um keinen ungepriesen zu lassen, der in der
Dessoir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 1
2 Plato.
Blüte der Schönheit steht. — Wenn du nach mir als Muster die Art der
Liebhaber überhaupt bestimmen willst, so will ich es, um das Gespräch
nicht aufzuhalten, erlauben. — Siehst du denn auch nicht, sagte ich, daß
die Liebhaber des Weines es ebenso machen und jeden Wein unter
jedem Vorwande loben? — Allerdings. — Ebenso kannst du sehen, wie 6
die Ehrgeizigen, wenn sie nicht Generäle werden können, auch eine
geringere Rangstufe einnehmen, und wenn sie nicht von den Größeren
und Höheren geehrt werden, sich um die Achtung der Kleineren und
Geringeren bemühen, weil sie nun einmal ehrbegierig sind. — Sicherlich.
— Und nun entscheide dich zu einer Antwort: Wenn wir von einem lo
Menschen sagen, sein Streben richte sich auf ein Ziel, wollen wir damit
sagen, daß er alles, was es zu bieten vermag, anstrebt, oder nur einen
Teil davon? — Alles, erwiderte er. — - So werden wir also auch von dem
Philosophen sagen, daß er nicht einen Teil der Weisheit begehre, den
anderen aber nicht, sondern die ganze? — Allerdings. — Wenn also 15
jemand nicht lernen mag, zumal da er jung ist und noch kein Verständ-
nis dafür hat, was nützHch ist und was nicht, so werden wir ihn nicht
einen Freund des Lernens und der Weisheit nennen, wie wir auch von
dem mäkhgen Esser nicht sagen, daß er hungere oder Speise begehre
oder ein Freund der Speisen sei, sondern, daß er ein schlechter Esser 20
ist. — Richtig. — Wer aber wilhg alles Lernbare in sich aufzunehmen
strebt, und darin unersättHch ist, den werden wir mit Recht einen Freund
der Weisheit nennen, nicht wahr? — Da sagte Glaukon: Du wirst
viele und wunderliche Leute dieser Art finden; denn die Schaulustigen
alle, die sich nichts entgehen lassen wollen, scheinen mir von dieser Art 25
zu sein, und die Hörlustigen nehmen sich, unter die Philosophen ge-
rechnet, höchst wunderHch aus, da sie zu Gesprächen mit diesen und
zum Studium nur höchst ungern kommen würden, aber, als würden
sie dafür bezahlt, alle Chorgesänge zu hören, bei den Dionysosfesten
herumlaufen und weder bei den städtischen noch bei den ländlichen 3o
fehlen. Werden wir nun diese alle und andere, die sich um etwas dieser
Art und um kleine Künste eifrig bemühen, Weisheitsfreunde nennen? —
Keineswegs, sagte ich, sondern nur Weisheitsfreunden ähnhch.
XX. Welche nennst du nun die wahren Weisheitsfreunde? fragte
er. — Die, erwiderte ich, welche die Wahrheit zu schauen begehren. — 35
Das wäre recht schön, versetzte er, aber was verstehst du darunter? —
Keineswegs leicht für einen anderen war meine Antwort, du aber wirst
mir, glaube ich, folgendes zugeben. — Was denn? — Schönes und Häß-
liches sind einander entgegengesetzt, folglich sind sie zwei. — Natürlich. —
Da sie zwei sind, ist jedes von beiden eines. — Ja. — Vom Gerechten
und Ungerechten, vom Guten und Schlechten, und von allen Begriffen
40
Die Ideenlehre. 3
gilt also gleichmäßig, daß ein jeder für sich eins ist, aber dadurch, daß
er in Verbindung mit Handlungen und Körpern und anderem überall
in die Erscheinung tritt, auch jeder als \aeles erscheint. — Du hast recht,
sagte er. — Danach, sagte ich, unterscheide ich: einerseits die von dir
5 genannten Schaulustigen und Kunstliebenden und die Leute der Praxis,
und anderseits die, von denen wit handeln, die man allein mit Recht
Philosophen nennen dürfte. — Wie meinst du das? fragte er. — Die
Hörbegierigen und Schaulustigen, antwortete ich, haben doch wohl ihre
Freude an den schönen Stimmen und Farben und Gestalten und allem,
10 was durch diese geschaffen wird, ihr Sinn ist aber unfähig, das Wesen
des Schönen zu schauen und zu umfassen. — So ist es, erwiderte
er. — Die aber, welche dem Schönen selbst nahen und es für sich schauen
können, sind sie nicht selten? — Sehr selten! — Wer nun zwar schöne
Dinge anerkennt, aber nicht die Schönheit als solche, noch auch, wemi
15 ihn einer zur Erkenntnis derselben hinleitet, fähig ist zu folgen, glaubst
du, daß der ein Traumleben oder ein waches Leben führt? Bedenke
weiter: nennen mr nicht den einen Träumenden, der schlafend oder
wachend, das was einer Sache nur ähnhch ist, nicht für ein nur eben
Ähnliches, sondern für die Sache selbst hält? — Ich w^enigstens würde
20 einen solchen einen Träumenden nennen, versetzte er. — Und nun im
Gegensatz hierzu: wer das Schöne selbst für etwas hält und es selbst
und das, was an ihm teil hat, zu schauen vermag und der weder das nur
Teilhabende für das Schöne selbst, noch dieses für jenes hält, scheint
dir ein solcher ein waches Leben oder ein Traumleben zu führen? —
25 Sicherhch ein waches, sagte er. — Werden wir das Denken eines solchen
als eines Erkennenden also nicht mit Recht ein Erkennen nennen, das
des anderen aber Meinung (Vorstellung), weil er nur etwas meint? —
Allerdings. — Wenn aber nun der, dem wir nur ein Meinen, nicht ein
Erkennen zuschreiben, uns deshalb zürnt und uns bestreitet, daß wir
30 im Recht sind, können wir ihn mit irgend etwas beschwichtigen, ohne
ihn merken zu lassen, daß er verwirrt ist? — Das ist wohl nötig, sagte
er. — Überlege denn, was wir ihm sagen werden. Oder willst du, daß
wir die Frage so einrichten, wenn er etwas wisse, so mißgönnten
wir es ihm durchaus nicht, sondern wir würden gern etwas davon
35 erfahren. Ich würde ihn fragen: ^Erkennt der Erkennende etwas
oder nichts?" Antworte du mir für ihn. — Ich antworte also, ver-
setzte er: er erkennt etwas. — Seiendes oder Nichtseiendes? — Ein
Seiendes, denn wie sollte ein Nichtseiendes erkannt werden? — Steht
es uns nun, auch wenn wir es von mehreren Seiten betrachten, hinreichend
40 fest, daß das vollkommen Seiende auch vollkommen erkennbar, das
schlechterdings Nichtseiende aber schlechterdings unerkennbar ist? —
4 Plato.
Ganz fest. — Gut ; wenn nun aber etwas so beschaffen ist, daß es zugleich
ist und nicht ist, wird es dann nicht in der Mitte Hegen zwischen dem rein
Seienden und dem schlechterdings nicht Seienden? — Ja. — Da sich
nun also das Erkennen auf das Seiende, das Nichtwissen mit Notwendig-
keit aber auf das Nichtseiende bezog, muß nicht auch für das in der s
Mitte Liegende etwas gesucht werden, was zwischen Nichtwissen und
Erkennen liegt, wenn es etwas dergleichen gibt? — Gewiß. — Sagen wir
nun, daß das Meinen (Vorstellen) etwas ist? — Sicherlich. — Und daß
im Erkennen eine andere Kraft sich äußere, oder dieselbe? — Eine andere.
— Einen anderen Gegenstand hat also das Meinen, einen anderen das lo
Erkennen, entsprechend der jedem eigentümlichen Kraft? — Ja. —
Ist nun das Erkennen von Natur für das Seiende bestimmt, um zu
erkennen, daß das Seiende ist? — Doch es scheint mir notwendig, zu-
vor noch folgendes zu erörtern. — Was denn?
XXI. Ich behaupte, daß Kräfte diejenige Art des Seins sind, in is
denen sich ein Vermögen von uns ausspricht und daß man überall
da, wo ein Können seinen Ausdruck findet, von Kraft sprechen kann.
Zum Beispiel rechne ich das Sehen und das Hören zu den Kräften, wofern
du verstehst, was ich mit dem Begriff sagen will. — Ja, ich verstehe,
sagte er. — Höre denn, was ich von ihnen denke. An einer Kraft sehe 20
ich weder Farbe noch Gestalt, noch sonst irgend etwas derartiges, wie
an vielem anderen, bei dessen Betrachtung ich einige voneinander ver-
schiedene Eigenschaften unterscheide. Bei einer Kraft aber sehe ich
nur auf das Ziel ihres Wirkens und auf .das, was sie hervorbringt und
danach pflege ich jede Kraft als eine einzelne zu benennen und die, welche 25
für dasselbe bestimmt ist und dasselbe hervorbringt, benenne ich jedes-
mal gleich; die aber, welche für etwas anderes bestimmt ist und etwas
anderes hervorbringt, nenne ich anders. — Wie hältst du es damit? —
Ebenso, sagte er. — Kehren wir also wieder zum Thema zurück, sagte
ich. Nennst du das Wissen eine Kraft oder zu welcher Gattung rechnest 30
du es sonst? — Ja, und zwar die stärkste unter allen Kräften, nenne ich
es, erwiderte er. — Werden wir nun das Meinen zu den Kräften zählen
oder zu einer anderen Gattung? — Auch zu den Kräften, versetzte er, denn
das, wodurch wir vorzustellen vermögen, ist nichts anderes als Vorstellen.
— Aber du hast kurz zuvor zugestanden, daß Wissen und Meinen nicht 35
dasselbe sei. — Wie könnte auch, versetzte er, ein Vernünftiger je
das Fehlerlose mit dem Fehlerhaften gleichsetzen? — Gut, sagte ich,
es ist also auch klar, daß wir darin einverstanden sind. Meinen sei etwas
anderes als Wissen. — Ja. — Ihrer verschiedenen Natur nach erwirken
sie also etwas voneinander Verschiedenes, worauf sie sich auch 40
beziehen. — SicherUch. — Und das Erkennen bezieht sich doch wohl
Die Ideenlehre. Ji
o
auf das Seiende und will erkennen, wie sich das Seiende verhalte? —
Ja. — Die Meinung aber, sagen wir, stellt nur vor. — Ja. — Erkennt
sie dasselbe wie das Wissen und wird Erkanntes und Vorgestelltes
dasselbe sein? oder ist das unmöglich? — Unmöglich, erwiderte er,
5 nach dem Zugestandenen, wenn der verschiedene Ursprung verschiedene
Kraft erzeugt, beide aber, Meinen und Wissen, Kräfte sind, doch jede
eine andere, wie wir gesagt haben. — Deshalb ist es unmöglich, daß
Vorgestelltes und Erkanntes dasselbe sei. Ist also das Seiende Gegen-
stand des Erkennens, so muß das Vorstellen einen anderen Gegenstand
10 haben als das Sein? — Ja. — Ist das vielleicht das Nichtseiende ? oder
ist es auch unmöglich, das Nichtseiende vorzustellen? Bedenke aber:
richtet der Vorstellende nicht sein Vorstellen auf etwas? oder ist ein
Vorstellen möglich, das nichts vorstellt? — Unmöglich. — Vielmehr:
etwas wird vorgestellt? — Ja. — Nichtseiendes wird aber doch
15 nicht etwas, sondern mit vollstem Rechte nichts genannt. — Sicher-
lich. — Nichtseiendem entsprach aber doch mit Notwendigkeit Nicht-
\vissen, dem Seienden aber Erkennen? — Richtig, sagte er. — Weder
Seiendes noch auch Nichtseiendes wird also vorgestellt? — Gewiß. —
Vorstellen also wäre weder Nichtwissen noch Erkennen? — So scheint
20 es, — Steht es nun außerhalb von diesen, entweder das Erkennen an
Deuthchkeit übertreffend, oder das Nichtwissen an Undeutlichkeit ? —
Keines von beiden. — Aber scheint dir etwa, fragte ich, das Vorstellen
dunkler als das Erkennen, doch heller als das Nichtwissen? — Ganz
gewiß, sagte er. — Liegt es innerhalb von beiden? — Ja. Das Vor-
25 stellen läge also in der Mitte zwischen beiden? — Allerdings. — Haben
wir nun nicht im vorhergehenden gesagt, wenn sich etwas von der
Art zeige, daß es zugleich sei und nicht sei, so liege es in der Mitte
zwischen dem wahrhaft Seienden und dem schlechterdings Nichtseienden
und weder werde Wissen noch Nichtwissen ihm entsprechen, sondern
30 irgend eine Fähigkeit, welche zwischen beiden in der Mitte liegen muß?
— Ja. — Und als das hat sich nun das Vorstellen herausgestellt. —
So ist es.
XXII. Es bhebe uns also wohl noch übrig, das zu finden, was an
beidem Teil hat, am Sein und am Nichtsein und das mit keinem von
35 beiden genau und richtig bezeichnet würde, damit wir, wenn es uns
vorkommt, es mit Recht als einen Gegenstand des Vorstellens bezeichnen
und so einer jeden der drei Fähigkeiten, den beiden äußersten sowohl
wie der mittleren, den ihr entsprechenden Gegenstand zuweisen. Oder
nicht so? — Allerdings. — Wenn das nun feststeht, werde ich auf meine
40 Fragen irgend jemand um Antwort bitten , der an ein Schönes an
sich und an einen sich immer gleich bleibenden Begriff der Schönheit
6 Plato.
an sich nicht glaubt, wohl aber eine Vielheit schöner Dinge annimmt,
als ein Schaulustiger, der es durchaus nicht zugibt, wenn jemand be-
hauptet, es gebe ein Schönes und e i n Gerechtes und so fort. Gibt
es denn, mein Bester, werden wir sagen, unter diesen vielen schönen
Dingen nicht etwas, was nicht auch häßlich erscheinen wird, und unter 5
den gerechten eines, was nicht als ungerecht, und unter den heiligen, was
nicht als unheilig? — Gewiß, versetzte er, es ist notwendig, daß sie sowohl
schön wie häßlich erscheinen, und das gilt von allem, wonach du sonst
fragst. — Wie aber das viele Doppelte? erscheint das etwa weniger halb
als doppelt? — Durchaus nicht. — Kommt dem Großen und Kleinen, lo
Leichten und Schweren mehr diese Bezeichnung zu als die entgegen-
gesetzte? — Nein, antwortete er, sondern immer wird jedes beide Namen
führen können. — Sind nun alle diese Einzeldinge mehr das, was von
ihnen gerade im Augenblick ausgesagt wird, als was nicht ausgesagt
wird? ... Es ist zweifelhaft und weder als seiend noch als nichtseiend, is
wieder als beides noch als keines von beiden läßt sich irgend etwas mit
Sicherheit denken. — Weißt du nun, sagte ich, etwas Besseres mit ihnen
anzufangen oder weißt du eine bessere Stelle für sie als in der Mitte
zwischen Sein und Nichtsein? Denn weder dunkler als Nichtseiendes,
das heißt mit einem höheren Grade von Nichtsein behaftet, werden sie 20
erscheinen, noch heller als Seiendes, das heißt mit einem höheren Grade
von Sein. — Sehr richtig, sagte er. — Wir haben also wohl gefunden,
daß was die Vielen vieles annehmen vom Schönen und dem übrigen
derart zwischen dem Nichtseienden und wahrhaft Seienden umher-
schwankt? — Ja. — Und vorher waren wir einig geworden, daß, wenn 25
sich etwas dergleichen zeige, es als Gegenstand der Meinung, nicht des
Erkennens bezeichnet werden müsse, da das dazwischen Umherschwan-
kende auch mit der dazwischen liegenden Kraft aufgefaßt wird? —
Ja. — Von denen also, die viel Schönes beschauen, das Schöne aber
nicht sehen, noch einem anderen, der sie dazu führen will, folgen können, 30
und die vielerlei Gerechtes, das Gerechte selbst aber nicht und so
fort, werden wir sagen, daß sie über alles nur eine Meinung haben, aber
nichts von dem, was sie so vorstellen, erkennen. — Notwendig. — Doch
denen, die ein jedes sehen, wie es an sich selbst immer gleichmäßig
sich verhält, werden wir ihnen nicht Erkennen im Gegensatz zu den 35
anderen zusprechen? — Ganz gewiß. — Wir werden also auch sagen,
daß diese das heben und sich dazu neigen, wovon es Erkenntnis gibt,
jene dazu, wovon Meinung. Du erinnerst dich doch, daß wir sagten,
diese letzteren liebten schöne Stimmen und Farben und dergleichen,
das Schöne selbst aber ließen sie nicht einmal gelten als seiend? — 40
Ja. — Werden wir also fehlgreifen, wenn wir sie mehr Meinungsliebende
Die Idee des Guten und die Erkenntnislehre.
als Weisheitsliebende nennen? und werden sie uns deshalb sehr zürnen?
— Nicht wenn sie mir folgen; denn dem Wahren zu zürnen ist nicht
recht. — Dagegen, die, welche in jedem Falle das Seiende selbst lieben,
muß man Philosophen nennen, nicht aber Meinungsliebende? — Ganz
5 gewiß.
Die Idee des Guten und die Erkenntnislehre.
XVI. Ein Philosoph darf also den weiteren Weg nicht scheuen
und ein Lernender darf sich nicht weniger anstrengen als ein Turner
oder er wird, wie wir eben sagten, niemals zum Ziel der höchsten und
am meisten von ihm zu erstrebenden Erkenntnis gelangen. — Ist denn
10 das von uns Abgehandelte noch nicht höchste Erkenntnis, fragte er,
gibt es noch ein Höheres als die Gerechtigkeit und die anderen von uns
erwähnten Tugenden? — Es gibt ein Höheres, sagte ich. Auch dürfen
\yiT nicht wie bisher uns mit einem flüchtigen Umriß begnügen, sondern
müssen uns von ihnen die allerklarste Anschauung verschaffen. Wäre
13 es denn nicht lächerlich, mit heißem Bemühen nach der möglichst
genauen und klaren Erkenntnis minderwertiger Dinge sonst zu streben,
die höchsten aber nicht auch der höchsten Sorgfalt für wert zu erachten?
— Das ist ein sehr richtiger Gedanke. — Doch glaubst du, daß jemand
dich freilassen wird, ohne gefragt zu haben, was die höchste Erkennt-
20 nis und ihr Gegenstand nach deiner Ansicht sei? — Ich glaube es kaum,
frage deshalb nur. — Jedenfalls hast du es nicht selten schon gehört,
jetzt aber erinnerst du dich nicht daran oder willst mir Schwierigkeiten
machen, um zu streiten. Ich glaube eher das letztere. Denn daß die
Idee des Guten die höchste Erkenntnis ist, hast du oft gehört und ebenso,
25 daß die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden erst heilsam und nütz-
lich werden durch ihre Zugehörigkeit zu ihr. Und auch jetzt weißt du
ungefähr, was ich damit sagen will, und ferner, daß wir das Wesen
des Guten noch nicht genügend kennen. Wenn das aber der Fall ist
und wenn ohne eine solche Kenntnis alles übrige Wissen, so groß es auch
30 sein mag, uns nichts nützt, gerade so als wenn wir etwas besäßen ohne
das Gute — oder glaubst du, es sei ein Gewinn, alles zu besitzen, nur
nicht etwas Wertvolles? oder alles zu wissen, nur nicht das Schöne und
Gute? — Bei Gott nicht! sagte er.
XVII. Ferner weißt du auch bereits, daß den meisten Menschen
35 die Lust das Gute zu sein scheint, den Besseren die Einsicht. — Aller-
dings. — Ferner, mein Freund, daß die, welche diese Ansicht haben,
nicht zu zeigen wissen: welche Einsicht, schUeßlich aber doch sagen
müssen : die Einsicht des Guten. — Damit machen sie sich lächerUch. —
8 Plato.
Allerdings, sagte ich, erst schelten sie, daß wir das eigentliche Gute nicht
wüßten, nachher setzen sie eine solche Kenntnis bei uns voraus; denn
sie sagen, es sei Erkenntnis des Guten, als wenn wir dann verständen,
was sie sagen, wenn sie das Wort „ gut " aussprechen. — Sehr richtig ! —
Wie steht es nun mit den anderen? Wenn sie die Lust für das Gute 5
halten, schweben sie vielleicht in einem geringeren Irrtum als ihre Gegner?
Werden sie nicht auch gezwungen, zuzugestehen, daß einige Genüsse
schädlich seien? — Sicherlich. — Sie müssen zugeben, glaube ich, Gutes
und Schlechtes sei ein und dasselbe. Nicht wahr? — Ja. — Es ist also
deuthch, daß es viele und große Meinungsverschiedenheiten über das lo
Gute gebe? — Allerdings. — Ist nicht ferner deutlich, daß viele sich
mit dem bloßen Schein vom Gerechten und Guten begnügen und trotz-
dem es tun und besitzen und dafür angesehen sein wollen, als hätten
sie es wirklich. Gutes aber will niemand nur dem Scheine nach besitzen,
sondern jeder strebt nach seinem wirklichen Besitz, den Schein aber ib
verachtet alle Welt. — Jawohl. — Wonach also jede Menschenseele
strebt und wofür sie alles tut in dunkler Ahnung seines hohen Wertes,
doch in Unsicherheit und ungenügender Kenntnis, was es eigentlich
sei, ohne einen sicheren Glauben daran wie auch bei anderen Dingen,
ohne das aber auch alles übrige Wertvolle zu Grunde geht — über ein 20
für uns so sehr Bedeutsames sollten wir auch jene im Finstern herum-
tappen lassen müssen, die die Besten im Staat sein sollen, denen wir
alles anvertrauen? — Nein, durchaus nicht. — Wenigstens glaube ich,
daß das Gerechte und Schöne, das ohne Kenntnis, weshalb es gut sei,
geschieht, an dem einen schlechten Verwalter haben werde, dem diese 25
gründliche Kenntnis mangelt, und ich vermute, daß vorher niemand
jene wird recht erkennen können. — Das stimmt. — Eine Staatsver-
fassung wird nach unserem Urteil also erst dann vollendet eingerichtet
sein, wenn ihr oberster Leiter über diese Frage vollkommene Kenntnis
besitzt? 30
XVIII. Ja, notwendig. — Doch hältst du, lieber Sokrates,
das Gute für ein Wissen oder für Lust? oder denkst du noch anders
darüber? — Du Trefflicher, sagte ich, lange gabst du zu erkennen, daß
dir die Ansicht anderer hierüber nicht genüge. — Es scheint mir auch
gar nicht recht , lieber Sokrates , sagte er , die Meinungen anderer 35
mitzuteilen, seine eigene aber nicht, zumal wenn man schon so lange
Zeit sich damit beschäftigt hat. — Wie? sagte ich, scheint es dir
recht, über das, was man nicht weiß, zu sprechen, als wisse man es ? —
Keineswegs soll man das tun, wohl aber soll man seine Meinungen
eben als Meinungen vorzutragen bereit sein. — Wie? fuhr ich fort, hast 40
du noch nicht gemerkt, wie schmähHch die Meinungen ohne Erkennen
Die Idee des Guten und die Erkenntnislehre. 9
sind, von denen ja die besten blind sind? Oder findest du einen Unter-
schied z^vischen denen, welche ohne Vernunft ein Körnchen Wahrheit
erhaschen und den Blinden, die auch ihren Weg richtig treffen? — Gar
nicht, sagte er. — Du willst also Schmähliches, Bhndes und Krummes
5 erfahren, da du doch von anderen Klares und Schönes hören kannst? —
Um Gottes willen, heber Sokrates, rief hier Glaukon, laß uns nur nicht
noch am Ende im Stich! Wir wollen ja damit zufrieden sein, wenn du auch
nur ebenso, wie du über Gerechtigkeit, Besonnenheit und das übrige ge-
sprochen hast, auch über das Gute sprichst. — Auch ich, sagte ich, lieber
10 Freund, würde damit sehr zufrieden sein. Aber daß es mir nur nicht un-
möghch ist, dies zu leisten und ich bei dem besten Willen durch meine Un-
geschickhchkeit vor euch lächerlich werde. Allein, ihr Vertrauensseligen,
was das Gute selbst ist, wollen wir jetzt noch lassen, denn es scheint
mir nach unserem jetzigen Anlauf viel zu weit, auch nur bis zu dem zu kom-
15 men, was ich jetzt darüber meine. Doch will ich, wenn es euch auch ange-
nehm ist, über das sprechen, was mir ein Erzeugnis des Guten und zwar
ein ihm ähnliches zu sein scheint, wenn aber nicht, so lasse ich es. — Nein,
sprach er, sage es nur. Ein anderes Mal kannst du uns ja die Beschrei-
bung des Urhebers liefern. — Ich wollte, sagte ich, daß ich euch die ganze
20 Schuld zahlen und ihr sie einstreichen könntet und nicht wie jetzt nur
die Zinsen. Diesen Zins und dies Erzeugnis des Guten nehmt also jetzt
an. Doch seht euch vor, daß ich euch nicht wdder Willen mit falscher
Münze zahle. — Das wollen wir schon nach Möghchkeit tun, beginne
du nur! — Nachdem wir, sagte ich, uns verständigt und ich euch an
25 das vorher Gesagte und auch sonst schon oft Erklärte erinnert habe. —
Was denn? fragte er. — Viel Schönes und viel Gutes und jedes ein ein-
zelnes, sagen wir, gibt es und wir sondern es durch Erklärung ab? — Ja.
— Dann aber \neder das Schöne selbst und das Gute selbst und so
auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee
30 eines jeden und nennen danach jegliches, was es ist. — So ist es. —
Und von jenem vielen sagen wir, daß es gesehen werde, aber nicht ge-
dacht; von den Ideen hingegen, daß sie gedacht werden, aber nicht
gesehen. — Sicherlich. — Womit sehen wir nun das Gesehene? — Mit
dem Gesicht, sagte er. — Nicht auch ebenso, fuhr ich fort, mit dem Ge-
35 hör das Gehörte, und so mit den übrigen Sinnen alles Wahrnehmbare ? —
FreiHch. — Hast du auch wohl beachtet, wie der Bildner der Sinne das
Vermögen des Sehens und Gesehenwerdens bei weitem am köstlichsten
gebildet hat? — Kaum, sagte er. — Nun dann überlege einmal. Be-
dürfen wohl das Gehör und die Stimme noch eines anderen, damit jenes
40 höre und diese gehört werde, so daß beim Fehlen dieses dritten jenes
nicht hören kann und diese nicht gehört werden? — Nein, sagte er. —
10 Plato.
Und ich glaube, fuhr ich fort, daß auch die meisten anderen Sinne, um
nicht zu sagen alle, nichts dergleichen nötig haben. Oder kannst du
einen anführen? — Nein, sagte er. — Merkst du aber nicht, daß das
Gesicht und das Sichtbare eines solchen bedürfen? — Wieso? — Wenn
auch in den Augen Sehkraft ist und ihr Besitzer sie zu gebrauchen ver- 5
sucht und wenn auch Farbe für sie da ist : so weißt du, daß beim Fehlen
eines Dritten, dafür Geschaffenen, die Sehkraft nichts sieht und die
Farben ungesehen bleiben. — Was ist denn das, was du meinst? fragte
er. — Was du, sagte ich, Licht nennst. — Du hast recht. — Nicht durch
etwas Geringes sind also das Gesicht und das Sehbare mit einem kost- lo
lieberen Bande als die anderen solchen Verbindungen aneinander ge-
knüpft, wenn das Licht nicht etwa ein unedles ist. — Ganz und gar nicht
ist es das, sagte er.
XIX. Wen der himmlischen Götter kannst du nun als Ursache
dafür anführen, daß das Licht das Auge das Schönste sehen läßt und das i5
Sehbare zu Sichtbarem macht? — Den, den du und alle anderen nennst;
denn offenbar fragst du doch nach der Sonne. — Steht nun das Gesicht
zu diesem Gott in folgendem Verhältnis? — In welchem? — Das Gesicht
ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, woran es gebunden
ist, das wir Auge nennen. — Freihch nicht. — Aber das sonnenähnhchste, 20
denke ich, ist es doch unter den Werkzeugen der Wahrnehmung. —
Bei weitem. — Und auch die Kraft, welche es hat, besitzt es doch als
einen Ausfluß von jenem Gott, den es in sich aufgenommen? — Aller-
dings. — So ist also auch die Sonne nicht das Gesicht, sie wird aber von
diesem, als seiner Ursache, gesehen. — So ist es. — Verstehe mich nun, 25
sagte ich, so, daß ich diese Sonne als jenen Sprößhng des Guten bezeichne,
welchen das Gute sich ähnhch gezeugt hat, so daß wie jenes selbst
in dem Keiche des Denkbaren sich zu dem Denken und dem Gedachten
verhält, so diese in dem des Sichtbaren zu dem Gesicht und dem Ge-
sehenen. — Wie ist das, sagte er, zeige mir das genauer. — Wenn man 30
die Augen, sagte ich, nicht auf Gegenstände richtet, auf deren Ober-
fläche das Tageslicht fällt, sondern auf solche im unsicheren Licht der
Nacht, so sind sie, wie du weißt, blöde und scheinen beinahe blind, als
ob nicht reine Sehkraft in ihnen wäre. — Ganz recht, sagte er. — Wenn
man aber die Augen auf das richtet, worauf die Sonne scheint, so sehen 35
sie deuthch und es zeigt sich, daß in eben diesen Augen Sehkraft wohnt.
— Freihch. — Ebenso nun denke über die Seele. Wenn sie sich auf das
heftet, woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt und er-
kennt sie es und es zeigt sich, daß sie Vernunft hat. Wenn aber auf das
halb in Dunkel Getauchte, das Entstehende und Vergehende, so stellt 40
sie nur vor, und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie mit ihren Vor-
Die Idee des Guten und die Erkenntnislehre. H
Stellungen ohne Unterlaß wechselt und keine Vernunft zu haben scheint.
— Freilich. — ■ Das also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und
dem Erkennenden die Kraft dazu gibt, soll für uns die Idee des Guten
sein; doch wenn sie auch die Ursache der Erkenntnis und erkannter
5 Wahrheit ist, so wirst du, so schön sie beide auch sind, Erkenntnis und
Wahrheit, dir jenes doch nur richtig denken, wenn du es als ein anderes
und noch schöneres als beide denkst. Erkenntnis und Wahrheit, sowie
dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten, war zwar recht, für
die Sonne selbst aber nicht. So dürfen \\'ir diese beiden zwar für gut-
10 artig halten, keins von beiden aber für das Gute selbst, sondern noch
höher ist des Guten Wesen zu schätzen. — Eine unerreichbare Schönheit,
sagte er, verkündigst du, wenn sie Erkenntnis und Wahrheit hervor-
bringt, selbst aber über diesen an Schönheit steht. Für Lust hältst du
sie also doch gewiß nicht. — Lästre nicht, sagte ich, sondern betrachte
15 so ihr Ebenbild noch weiter. — Wie? — Du \\4rst, wie ich glaube, zu-
geben, daß die Sonne nicht allein dem Sichtbaren die Fähigkeit ver-
leiht gesehen zu werden, sondern auch das Werden, Wachstum und
Nahrung, obgleich sie selbst nicht das Werden ist. — Wie sollte sie das
sein ! — Ebenso gib nun zu, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkannt-
20 werden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe
es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über
das Sein an Würde und Kraft hinausragt.
XX. Da sagte Glaukon: Beim Apoll, das ist ein wundervolles
Übertreffen! — Du gerade, sagte ich, bist schuld daran, da du mich
25 gez^vungen hast zu sagen, was mir davon dünkt. — Höre nur nicht auf,
sagte er, wenigstens nicht, bis du den Vergleich mit der Sonne noch
weiter durchgeführt hast, wenn noch etwas zurückbiieb. — Gewiß,
es fehlt noch mancherlei. — So lasse nur ja auch nicht das Kleinste aus.
— Ich werde wohl, denke ich, sehr vieles auslassen müssen, indessen
30 von dem, was jetzt gesagt werden kann, ^vill ich absichthch nichts über-
gehen. — Ja nicht, sagte er. — Wir sagen also, sagte ich, daß von den
zweien das eine über die Gattung des Denkbaren und sein Reich, das
andere über das Sichtbare herrsche; ich sage nicht: über den Himmel!
damit du nicht glaubst, ich spielte mit Worten. iVlso diese beiden
35 Arten hast du nun: das Denkbare und das Sichtbare. — Ja. — Denke
dir nun eine in zwei ungleiche Teile geteilte Linie und teile wiederum
jeden Teil nach demselben Verhältnis, so gibt dir, wenn du dies auf das
Geschlecht des Sichtbaren und des Denkbaren anwendest, nach dem
Verhältnis von Deutlichkeit und Unbestimmtheit im Sichtbaren der
40 eine Abschnitt Bilder. Ich nenne aber Bilder zuerst die Schatten, dann
die Erscheinungen (Spiegelungen) im Wasser und solche, die sich auf
12 Plato.
allen dicht gefügten, glatten und glänzenden Flächen finden und alles
dergleichen. Verstehst du? — Ja. — Und als den anderen Abschnitt
setze das, dem diese gleichen, nämHch die Tiere um uns und das gesamte
Pflanzenreich und alles Menschen werk. — Gut. — Wirst du nun auch
einräumen wollen, daß in Bezug auf Wahrheit und Falschheit wie sich s
das Vorstellbare von dem Erkennbaren unterscheidet, so auch das
Nachgebildete von dem Gegenstand, den es nachbildet? — Ganz sicher.
— Überlege nun auch, wie das Denkbare zu teilen ist. — Wie? — Den
einen Teil muß die Seele, das in ihm Vorhandene als Bilder gebrauchend,
erforschen von Voraussetzungen aus, ohne zum Anfang zu gelangen, lo
vielmehr nach dem Ende hin, den anderen hingegen zwar auch von
Voraussetzungen ausgehend , aber in Kichtung auf den keiner Vor-
aussetzungen mehr bedürftigen Anfang und mit Hilfe der Begriffe
selbst ohne die bei jenem angewendeten Bilder. — Ich habe deine Aus-
einandersetzung nicht richtig verstanden. — Es wird dir leichter werden, is
sagte ich, wenn ich noch folgendes vorausschicke. Ich denke, du weißt,
daß die, welche sich mit Geometrie und Arithmetik und dergleichen
beschäftigen, nach den Sätzen, welche ihrer AVissenschaft zu Grunde
hegen, das Gerade und Ungerade, die Figuren und drei Arten der Winkel
bei jedem Beweisverfahren voraussetzen, ohne daß sie sich noch anderen 20
Eechenschaft darüber geben zu müssen glauben, als sei dies schon
allen deutlich. Vielmehr führen sie hiermit beginnend gleich das weitere
aus und gelangen dann folgerecht zu dem, auf dessen Untersuchung
sie ausgegangen waren. — Allerdings, sagte er, das weiß ich. — Auch
daß sie sich der sichtbaren Figuren bedienen und ihre Auseinander- 25
Setzungen in Bezug auf diese machen, obgleich sie nicht von diesen
handeln, sondern von jenen, welchen diese gleichen, und daß sie für das
Viereck überhaupt selbst und seine Diagonale ihre Beweise führen,
aber nicht für das von ihnen gezeichnete. Das gilt in Bezug auf alles
übrige: was sie nachbilden und abzeichnen, wovon es auch Schatten so
und Bilder im Wasser gibt, dessen bedienen sie sich zwar als Bilder,
streben aber immer jenes selbst zu erkennen, was man nicht anders
sehen kann als mit dem Verstand. — Du hast recht, sagte er.
XXI. Diese Art des Verstehens also, sagte ich, gebe allerdings auch
Erkennbares, die Seele sei aber genötigt, bei der Erforschung desselben 35
sich der Voraussetzung zu bedienen, nicht so, daß sie zum Anfang zurück-
geht, weil sie über die Voraussetzungen nicht mehr hinausgehen kann,
sondern so, daß sie sich der von den niederen Dingen dargestellten
Bilder bedient, und zwar derer, die im Vergleich mit den anderen als hell
und klar verherrhcht und in Ehren gehalten werden, — Ich verstehe, 4o
daß du das meinst, was zur Geometrie und den ihr verwandten Dis-
Die Idee des Guten und die Erkenntnislehre. 13
ziplinen gehört. — So verstehe denn auch, daß ich als den anderen Teil
des Denkbaren dasjenige bezeichne, was die Vernunft unmittelbar
ergreift , indem sie vermittels des dialektischen Vermögens Voraus-
setzungen macht nicht als angenommene Grundsätze, sondern wahrhaft
5 letzte Voraussetzungen gleichsam als Einschritt und Anlauf, damit sie,
bis zum Aufhören aller Voraussetzung an den Anfang von allem ge-
langend, diesen erfasse und, sich so wiederum an alles haltend, was mit
jenem zusammenhängt, zum Ende hinabsteige, ohne sich überhaupt
dabei irgend^vie eines sinnlich Wahrnehmbaren, sondern nur der Ideen
10 selbst an und für sich zu bedienen, und so am Ende eben zu ihnen, den
Ideen, gelange. — Ich verstehe, sagte er, zwar noch nicht genau, denn
du scheinst mir recht vielerlei zu sagen; doch aber, daß du feststellen
^villst : das, was vermittels der dialektischen Wissenschaft vom Seienden
und Denkbaren geschaut werde, sei sicherer als das von den eigentlich
lö sogenannten Wissenschaften Gefundene, deren Ausgangspunkte Voraus-
setzungen sind, die dann die Forschenden mit dem Verstände und nicht
mit den Sinnen betrachten müssen. Weil sie aber ihre Betrachtung
nicht so anstellen, daß sie bis zu den Ausgangspunkten zurückgehen,
sondern nur von Annahmen aus, so scheinen sie dir keine Vernunft-
20 erkenntnis davon zu haben, obgleich, ginge man vom Anfang aus, sie
ebenfalls erkennbar wären. Verstand aber, nicht Vernunft, scheinst du
mir die Fertigkeit der Mathematiker und was dem ähnlich ist, zu nennen,
als etwas zwischen der bloßen Vorstellung und der Vernunfterkenntnis
Liegendes. — Vollkommen richtig, sagte ich, hast du es aufgefaßt !
25 Und nun nimm mir auch die diesen vier Teilen zugehörigen Zustände
der Seele dazu: die Vernunfteinsicht als zum obersten, die Verstandes-
gewißheit als zum zweiten gehörig, dem dritten aber weise den Glauben
zu und dem vierten die Wahrscheinlichkeit, und ordne sie dir so in der
Weise, daß jedem von ihnen so viel von Gewißheit zukommt, wie das,
30 worauf sie sich beziehen, teil an der Wahrheit hat. — Ich verstehe, sagte
er, und räume es ein und ordne sie wie du sagst.
Die beiden Lesestücke sind aus Piatos (427 — 347) Hauptwerk, dem
„S t a a t'" (aus dem fünften und sechsten Buch), entnommen und gehören zu
den klassischen Stellen, an denen unser Philosoph die „Ideenlehre" darstellt.
Zu ihrem Verständnis möge folgende Vorbemerkung dienen, welche allerdings
nur eine vorläufige Orientierung sein kann und deshalb die von der Wissen-
schaft diskutierten Fragen unberücksichtigt lassen muss. Wer in diese ein-
dringen will, benütze die weiter unten angegebene Literatur.
Zwei Sätze und die daraus abzuleitenden Folgerungen sind es, die Piatos
Erörterungen bestimmen: es gibt nichts Bleibendes — es gibt ein ewiges,
unveränderliches Sein. Der erste Satz erlaubt eine doppelte Anwendung.
'14 P^ato.
Einmal in Bezug auf die Außenwelt: es ergibt sich dann die Lehre vom
Wechsel aller Dinge (Heraklit). Anderseits in Bezug auf das eigene Ich
des Menschen: hier ergibt sich ein e-wiger Wechsel der Bewußtseinsvorgänge.
An das letzte Ergebnis können wir die Folgerung knüpfen, daß mit diesem
so wechselnden Material etwas Feststehendes, Bleibendes nicht erkannt werden
könne. Diese Ansicht läßt sich am besten erläutern an der Verschiedenheit
der Empfindungen verschiedener Menschen oder eines Menschen zu verschiede-
nen Zeiten demselben Gegenstand gegenüber (zum Beispiel Geschmacks-
empfindungen). Wir drücken diese Tatsache aus, wenn wir von der Subjek-
tivität der Sinnesempfindungen sprechen. Von dieser Einsicht aus können
wir übergehen zum Zweifel an der Möglichkeit einer allgemein gültigen Er-
kenntnis (Protagoras und die Sophisten). Der andere Satz: „es gibt ein
ewiges, unveränderliches Sein", gilt auch einmal für die Außenwelt, er geht
von der Tatsache des Erfülltseins derselben mit Wirklichem, der den Raum
füllenden Masse, aus und behauptet im Gegensatz dazu die Undenkbarkeit des
Nichtseienden, des NichterfüUtseins (Parmenides). Für dies so erfaßte Sein
muß ein Beständiges in unserem Bewußtsein nachgewiesen werden. Es kann
nicht in der Erkenntnis durch die Sinne liegen, sondern nur im vernünftigen
Denken. Sokrates hat, von dem Bedürfnis getrieben. Beständiges für das
menschliche Handeln nachzuweisen, diese Art des Erkennens näher bezeichnet
als Erkenntnis durch Begriffe und er hat versucht, planmäßig die volks-
tümlichen Vorstellungen von den Tugenden aus dem Wechsel der Meinungen
zur Klarheit und sicheren Umgrenzung des Begriffes zu erheben. Dieser
Gegensatz und diese Vorbereitung einer Lösung durch Sokrates bedingen das
Denken Piatos. Dem in der Lehre vom ewigen Wechsel liegenden Gedanken
von der Vielheit des Wirklichen wird er gerecht durch die Behauptung nicht
eines einzigen, unveränderlichen Seins, sondern durch die Annahme vieler
ewiger, unveränderlicher, für sich bestehender Wesenheiten, der Ideen (ver-
gleiche zu 2 40 ff.). Ihre Erkenntnis wird uns übermittelt durch das begriffliche
Denken. Das so begrifflich, wahrhaft Erkannte ist für PL zugleich das wahr-
haft Seiende. Die Ideen sind der Urgrund des Seins. „Die Platonische Ideen-
lehre gründet sich auf die zwei Momente, daß ihrem Urheber ohne die Wirk-
lichkeit der Begriffe weder ein wahres Wissen, noch ein wahres Sein möglich
erscheint" (Zeller).
Zur Einführung in Piatos Philosophie können die Darstellungen in den
Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie dienen: Überweg-Heinze, 9. Auf-
lage, Bd. I, 1903; J. E. Erdmann, 4. Auflage, 1896, Bd. I; Vorländer 1903,
Bd. I. Ferner die Grundrisse zur alten Philosophie: Windelband, Geschichte
der alten Philosophie, 2. Auflage, 1894; Zeller, Grundriß der Geschichte der
griechischen Philosophie, 6. Auflage 1901. In diesen Werken findet der Leser
Hinweise, die ein eindringenderes Studium leiten können. Aus der Menge
der dort angegebenen Literatur sei hier nur aufgezählt: Zeller, Philosophie der
Griechen, 4. Auflage, 1889, Bd. II, 1. Abt. ; Gomperz, Griechische Denker, 1902,
Bd. II, und Natorp, Piatos Ideenlehre, 1903. — Piatos Dialoge sind in sechs Bän-
den in der Bibliotheca scriptorum graecorum et romanorum bei Teubner erschienen.
Erläuterungen. \ 5
Die beste Übersetzung des „Staat" ist die im Jahre 1818 erschienene von
Schleiermacher (neu herausgegeben und erläutert von v. Kirchmann, Philos.
Bibl., Bd. 80, 2. Auflage). Nach dieser Übersetzung ist unser Text hergestellt
unter Benützung der Übersetzung von Teuffel-Wiegand 1857. Doch sind
zahlreiche Veränderungen vorgenommen worden, wie sie der archaistische
Charakter von Schleiermachers Übersetzung nötig machte.
li. Der Sprechende ist Sokrates, die Antwortenden sind Adeimantos
und Glaukon. PI. hat für den „Staat" die Form gewählt, daß Sokrates ein
früher von ihm geführtes Gespräch wiedererzählt.
1 3 . Diese Behauptung findet sich zu Anfang unseres Kapitels ausgesprochen
in den berühmten Sätzen: „Bevor nicht entweder die Philosophen Könige
werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber
wahrhaft und gründlich philosophieren und dieses beides zusammenfällt, die
Staatsgewalt und die Philosophie . . . eher gibt es kein Aufhören der Schäden
für die Staaten und auch nicht für das Menschengeschlecht." Über die Staats-
lehre Piatos vergleiche die oben angegebene Literatur. Vielleicht hat es Inter-
esse zu hören, was Kant zu diesem Satze sagt: „Daß Könige philosophieren
oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu
wünschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil unvermeidlich verdirbt.
Daß aber Könige oder königUche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherr-
schende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen,
sondern öfFenthch sprechen lassen, ist beiden zu Beleuchtung ihres Geschäftes
unentbehrlich." Vergleiche Kants Schrift „Zum ewigen Frieden", 1795 (in
Reclams üniversalbibliothek erschienen).
2 22. Ein solches Streben nennt PI. den Eros. In jedem sterblichen Wesen lebt
das Bedürfnis, sich zum Unsterblichen zu erheben. Das Ziel wird erreicht im
Anschauen der Ideen. Hierüber handelt vor allem Piatos Symposion (Gastmahl).
2 40 ff. Diese Ausführungen lassen die Ideenlehre mit völHger Klarheit
dem Leser entgegentreten. Das Schöne ist ein für sich Bestehendes. Wir
gelangen auf dem Wege der Begriffsbildung zu einem Allgemeinen, das von
all den Einzeldingen u. s. w. gilt, die wir als schön bezeichnen. Indem -wir
bei Betrachtung der Einzeldinge immer nur auf die eine Eigenschaft, die
Schönheit an ihnen, sahen, haben wir sie getrennt von allem anderen, das heißt
„für sich" betrachtet. Mit der in der Vorbemerkung erwähnten Übertragung
des Seins auf das Gedachte wird aus dem Für-sich-G edachten ein Für-
sich -Seiendes. Diese Einsicht drücken wir am besten aus, wenn wir
sagen ,.das Schöne". Wir haben aber weiter schon hervorgehoben und er-
fahren es unten (3 40 und 634 ff.), daß das Schöne und überhaupt die Ideen das
wahrhaft Seiende sind. Die bunte Welt mit ihrer Vielheit von Dingen und
deren Eigenschaften hat also nur eine abgeleitete Realität. Die Dinge haben
teil *) an jener Welt des wahrhaft Seienden. — Wir heben kurz die Schwierig-
*) So im Anschluß an unseren Text. Andere Bestimmungen dieses Ver-
hältnisses finden sich bei PL Man orientiere sich für weiteres Studium in der
angegebenen Literatur.
16 Plato.
keiten dieser Lehre hervor. Eine solche besteht vor allem darin, daß wir
uns Begriffe als Wirkliches denken sollen, die uns nur ein Gedankliches sind.
Wenn wir auch zugestehen wollten, daß in dem systematischen Aufbau der
Begriffe, in der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Welt eine höhere Art
der Erkenntnis gegenüber dem unsicher und ungeordnet gesammelten Material
der täglichen Erfahrungen liegt, so werden wir der an uns gestellten Forderung
dies Gedankensystem als wahrhaft seiend aufzufassen, nicht genügen können,
weil die letzte Wirklichkeit für uns doch immer ein unvergleichlich eigen-
artiges Erlebnis in unserem Bewußtsein ist. — Eine weitere Schwierigkeit
liegt in der Frage, wie das Schöne ein Vieles sein könne. Plato braucht hier,
um die Beziehung zwischen Idee und Erscheinung auszudrücken, das Wort
„Teilhaben". Versuchen wir diese Beziehung von der Idee aus zu verstehen,
so entsteht die Frage, wie die für sich bestehende Idee in Teilen hervortreten
könne. Wird der Gedanke des Fürsichseins streng durchgeführt, so liegt darin,
daß die Ideen keine Beziehung haben können, also auch nicht zur Erschei-
nungswelt; dann aber können wir nicht von ihnen sagen, daß sie das wahre
Sein in Bezug auf diese sind. Sobald wir aber nur den Gedanken des Teil-
habens einführen, führen wir den Gedanken des Ganzen und seiner Teile
ein, das heißt eine Beziehung, welche ein Sein für ein anderes in sich
enthält. Vgl. Lotze, Logik, 2. Aufl. 1880 S. 505—524 (Die Ideenwelt).
3 20. Vergleiche die Vorbemerkung und 6 lo f.
423. Vergleiche 10 15 f.
6 10 f. PI. weist hier dem nur vorstellenden Betrachten Unsicherheit nach.
Die Begriffe, die er hier verwendet, nennen wir Beziehungs- (Relations-) Begriffe.
Sprechen wir zum Beispiel von der Größe eines Menschen, so könnten wir ihn
groß etwa in Bezug auf ein kleinstes Lebewesen, klein im Verhältnis zur Erde
nennen. So nennen wir ihn zugleich groß und klein. Es fehlt uns also jede
Sicherheit eines richtigen Urteils, da die Beziehungen ja veränderlich sind.
Über diese Unsicherheit will PI. hinauskommen durch die Erkenntnis des
„Guten, Gerechten, Schönen, Großen, Kleinen" u. s. w. — Von hier aus können
wir unser Erkennen überhaupt prüfen und fragen, ob wir je aus solchen Bezie-
hungen in unseren Aussagen über die Dinge der Außenwelt herauskommen.
Man denke zum Beispiel an den Begriff der Ursache und Wirkung. Alle
unsere Naturgesetze drücken solche Beziehungen aus. Eine moderne Philo-
sophie, die bei dieser Einsicht stehen bleibt, ist der Positivismus (vergleiche
darüber Geschichte der neueren Philosophie von R. Falckenberg, 5. Auflage,
1905, S. 479 — 487). Wenn wir dann weiter unser Verhältnis zu dem, was
wir erkennen, betrachten, so finden wir auch eine letzte Beziehung: zwischen
dem Erkennenden und dem Erkannten. Daraus ergeben sich Probleme, wie
sie der Leser in den Lesestücken aus Kant und Fichte und in den Erläuterungen
dazu erörtert findet.
Verbindende Erörterung.
In den zwischen unserem ersten und zweiten Lesestück liegenden Kapiteln
schildert PI. zuerst die Natur (fuati;) des Philosophen. Ein solcher haßt das Falsche
und liebt die Wahrheit, der Tod hat für ihn keinen Schrecken, er ist „von
Erläuterungen. 1 7
gutem Gedächtnis, gelehrig, edelmütig, anmutig, der Wahrheit Freund und
ihr verwandt, ebenso der Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit, an Er-
ziehung und Alter vollendet". Dagegen wird eingewandt, daß die bisherige
Erfahrung keineswegs diesem Ideale des Philosophen entspreche. PI. erkennt
diesen Einwand nur für die bestehenden Zustände der Staaten als berechtigt
an, wo die Erziehung gerade die edelsten Naturen am meisten vernichtet
(Sophisten!). Das Ideal kann nur erreicht werden durch eine völlige Änderung
der Staatsverfassung. Zur Fortsetzung des abgebrochenen Themas leitet
dann die Frage über, warum die Philosophen zur Leitung des Staates geeignet
sind. Wir lassen PI. selbst sprechen, da schöner der Wert der Philosophie
kaum geschildert werden kann: „Die nun kosten und gekostet haben, was
für eine süße und herrliche Sache die Philosophie ist und auf der anderen Seite
die Torheit der Menge deutlich genug einsehen, und daß, gerade heraus gesagt,
nicht einer unter den Staatslenkern etwas Heübringendes erwirkt noch Mit-
kämpfer sein kann, um der guten Sache den Sieg zu erringen, sondern dass
wie einer, der unter die wilden Tiere gefallen ist und nicht Unrecht mit tun
will, und, da er doch nicht im stände ist, einer allein allen Wilden Widerstand
zu leisten, ehe er für den Staat oder seine Freunde etwas ausrichten könnte,
ohne Nutzen für sich und die anderen zu Grunde gehen würde — dies alles
wohl zu Herzen nehmend, wird ein solcher sich ruhig verhalten und, sich
nur um das Seinige bekümmernd, wie man im Winter, wenn der Wind
Staub und Schlagregen herumtreibt, hinter einer Mauer untertritt, froh
sein, wenn er die anderen voll Frevel sieht, nur selbst von Ungerechtigkeit
und unheiligen Werken frei dieses Leben hinzubringen, und beim Ab-
schiede daraus in guter Hoffnung ruhig und zuversichtlich zu scheiden."
Und einige Seiten später heißt es : „Wer in der Tat seine Gedanken auf das
Seiende richtet, hat ja wohl nicht Zeit, hinunterzublicken auf das Treiben
der Menschen und im Streit gegen sie sich mit Eifersucht und Widerwillen
anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes
schauend, was, unter sich kein Um-echt tut oder leidet, sondern nach Ord-
nung und Regel sich verhält, werden solche auch dies nachahmen und sich
dem nach Vermögen ähnlich bilden . . . Der Philosoph, der mit dem Gött-
lichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es mvc
dem Menschen möglich ist. Verleumdung aber gibt es überall viel. Wenn er
nun den Drang fühlt, zu versuchen, wie er das, was er dort sieht, auch in der
Menschen Sitten einbilden könne, im einzelnen sowohl als öffentlichen Leben,
um nicht nur sich allein zu bilden, glaubst du, er werde ein schlechter Bildner
zur Besonnenheit und Gerechtigkeit sein und zu jeder Bürgertugend?" Der
höchsten Aufgabe entspricht nun die Schwierigkeit, ihr gerecht zu werden.
Um dies zu können, muß der Philosoph in die Tiefen der Erkenntnis ein-
dringen. PI. wendet sich zu den „schwierigsten Forschungen". Hier setzt
unser zweites Lesestück ein.
7-24. Der Leser beachte, wie in den oben zitierten Stellen der Gedanke
der Ordnung der Ideen unter ein Höheres schon vorbereitet wurde. Hier
erfahren wir, wie diese Ordnung beschaffen ist.
D es soir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 2
18 Plato.
7 35. Es sei darauf hingewiesen, daß diese Anschauung der großen Menge
auch philosophische Vertreter in der sogenannten Kyrenaischen Schule, ins-
besondere in Aristipp, gefunden hatte. Er lehrte, daß die Lust an und
für sich ein Gut sei. Doch solle im Genuß den Menschen die Einsicht leiten,
sie soll ihn die verschiedenen Güter im Hinblick auf das Lebensglück als letzten
Zweck richtig beurteilen lehren. Der Mensch darf nicht ein Knecht der Lust
sein, er soll sie beherrschen. Vergleiche über diese Lehre die oben erwähnten
Schriften von Zeller, Überweg, Windelband, Gomperz, Vorländer.
9 8i9. Dies ist in den vorhergehenden Büchern geschehen.
9 36. Der Weltbildner (3*r)|JiioupYo?) schafft in der Platonischen Kosmogonie
die Welt und die Wesen in ihr. Hierüber handelt der Dialog Timaeus.
10 20. Schön drückt Goethe diesen Gedanken aus :
War' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken.
11 22. Zur Vergleichung sei eine andere Äußerung über die Idee des Guten
zitiert. Im dritten Kapitel des siebenten Buches spricht Sokrates das aus,
was er seinen „Glauben" nennt: „Was ich sehe, das sehe ich so, daß zuletzt
unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird,
wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß
sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das
Licht und die Sonne, von der dies abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber
sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend und daß
sie also sehen muß, wer vernünftig handeln will in eigenen oder öffentlichen
Angelegenheiten." Der Leser wird bemerken, daß uns PI. nicht eine genaue
inhaltliche Bestimmung der Idee des Guten gibt. Es wird in eine höhere
Sphäre gehoben, welche über dem Sein schwebt, und darf nicht mit Prädikaten
bezeichnet werden, die aus dem Sein entnommen sind. In dem schönen Ver-
gleich mit der Sonne wird uns gesagt, daß es Urgrund für alles Sein ist. Bei
dem Mangel solcher Bestimmung sind nun verschiedene Deutungsversuche
mögUch. Der Leser kann sich in der angegebenen Literatur darüber orientieren,
insbesondere sei auf das Buch von Natorp verwiesen. Ein Eingehen auf diese
Fragen ist hier natürUch ausgeschlossen, nur folgende Überlegungen, die zu
weiteren Problemstellungen Anlaß geben können, seien hier mitgeteilt.
Es wiederholen sich die Schwierigkeiten, wie wir sie früher bei der Ideen-
lehre fanden, ja sie sind noch verstärkt, da wir das Gute immer als ein zu
Erstrebendes, niemals zu Verwirklichendes auffassen und für die von ihm aus-
gehenden sitthchen Gebote keine Realität nachweisen können, sie leben im
Innern der Menschen. Dort treten sie als ein Sollen auf und dies ist wohl
der Begriff, durch den wir die Idee des Guten verstehen können. Das Sollen
geht über das Sein hinaus, die Welt des Sollens ist eine von der Welt des
Seins unabhängige, in dieser niemals ganz zu verwirklichende, sie erhebt
aber den Anspruch, daß sie in dieser Welt des Seins Geltung habe. Diese
Forderung tritt am deutlichsten in dem menschlichen Handeln zu Tage, das
im Gegensatz zum Sein, z. B. den Leidenschaften und Trieben, geschieht. —
Erläuterungen. ] 9
Doch das Gute ist Urgrund alles Seins. Mit einiger Notwendigkeit, da wir
die Realität des Guten denken sollen, werden wir auf den Gedanken eines
göttlichen Wesens als einer Verkörperung des sittlichen Prinzips und einer
Ursache der Wirklichkeit geführt. Sein Wesen können wir nicht oder nur
mit Mühe begreifen, da es an Würde und Kraft über alles Sein und also auch
das MenschUche hinausragt. — Doch selbst wenn man diesen Hilfsbegriff
eines göttUchen Wesens vermeidet, so bleibt der Gedanke, daß ein sittliches
Prinzip letzter Grund alles Seins ist. Versuchen wir diese Ansicht von dem
Menschen aus zu verstehen, so können wir sagen, daß in dieser Lehre Piatos
der Gedanke zum Ausdruck gelangt, daß das Leben dem Ideal nicht entspreche.
Von einem Widerstreit zwischen Ideal und Leben geht diese Philosophie aus.
Die sittliche Forderung erleben wir in uns und übertragen sie auf die Wirk-
lichkeit, und je stärker sie in uns ist, desto mehr verlangen wir, daß die Wirk-
lichkeit sich ihr füge ; das Sein erhält erst einen Sinn, wenn es als ein Ausdruck
des Sittlichen erfaßt wird. Wie PL die Harmonie im Innenleben des Philo-
sophen übertragen wissen -will auf die Verfassung des Staates, so will er das
Gute verwirklicht finden in der Welt des Seins. Doch hier ist der Philosoph
nicht Führer wie dort, sondern ahnungsvoll naht er sich der höchsten Idee,
deren Gewißheit er aus der Sicherheit seiner eigenen sittlichen Vollendung
gewinnt.
Manches ungelöste Problem enthält diese Lehre Piatos. Wir wiesen auf
die nahe Beziehung hin, in welche die Idee des Guten mit dem Gedanken der
Gottheit tritt. Wird diese als Persönlichkeit gefaßt, so entsteht das Problem
der Vereinigung beider Gedanken. — Eine weitere Schwierigkeit liegt in der
Frage, inwieweit sich das Gute in der Welt des Seins verwirkHche. Die Idee
des Guten ist die höchste der Ideen, diese sind nach ihr geordnet. So ist sie
also mit diesen Ideen zugleich selbst eine Idee. Aus unserem Lesestück er-
fahren wir aber, daß sie nicht selbst das Sein ist, sondern über dem Sein steht,
das heißt also, daß sie nicht ganz in der Ideenwelt verwirklicht ist, zu einem
Teil außer ihr steht. Dadurch entsteht die Möglichkeit, daß die Idee des
Guten sich weiter verwirkliche. Wir würden so zu dem Gedanken der Ent-
wicklung gelangen. Der Weltprozeß würde sich uns darstellen als eine immer
größere Verwirklichung des Guten. ^
13 3. Die Begriffe: „dialektisches" Vermögen und „dialektische" Wissen-
schaft (13 13) haben sich gebildet im Anschluß an die Methode des Sokrates,
im Gespräch (^'.aXe^s^ö-at) Begriffe zu entwickeln. ]Mit dieser Methode wird
dann auch die Lehre Piatos selbst bezeichnet, wenn man von Dialektik = Ideen-
lehre spncht. . jM e n z e r.
II.
Aristoteles.
Vom Schluß.
Ein Schluß ist eine Gedankendarstellung, in der, wenn einiges ge-
setzt ist, etwas anderes, von dem Gesetzten Verschiedenes sich mit
Notwendigkeit ergibt, und zwar aus eben dem Grunde, weil das Ge-
setzte stattfindet. Der Ausdruck „weil das Gesetzte stattfindet" be-
deutet so viel wie: daß das eine die Folge des anderen ist. Dies aber s
bedeutet: es bedarf keines von außen her dazu genommenen Begriffes,
um die Folgerung zu einer notwendigen zu machen.
Wenn man sagt , etwa« sei in einem anderen als Teil im Ganzen
enthalten oder es sei ein Prädikat von allen einzelnen Exemplaren eines
Begriffs, so ist beides gleichbedeutend. Etwas wird von allen ausgesagt, lo
sobald keins von den in dem betreffenden Begriff enthaltenen Einzelnen
aufgezeigt werden kann, von dem das Ausgesagte nicht gälte; und
sobald gesagt wird, etwas komme keinem als Prädikat zu, so hat das die
entsprechende gleiche Bedeutung.
Wenn drei Begriffe sich so zueinander verhalten, daß der letzte im is
Umfang des mittleren hegt und der mittlere im Umfang des ersten
liegt oder nicht hegt, so ergibt sich — mit dem Charakter der Notwendig-
keit — ein vollkommener Schluß, der die beiden äußeren Begriffe ver-
bindet. Ich nenne Mittelbegriff denjenigen, der dem Umfang nach dem
einen untergeordnet und dem anderen übergeordnet ist und der auch 20
seiner Stellung nach der mittlere wird; äußere Begriffe aber einmal
denjenigen, der in einem anderen enthalten ist, sodann denjenigen, der
selbst einen anderen enthält. Denn wenn A von dem ganzen B und
B von dem ganzen C ausgesagt wird, so muß notwendig A von dem
ganzen C ausgesagt werden. Was das „von einem Ganzen ausgesagt 25
werden" bedeutet, habe ich bereits oben gesagt. Ebenso, wenn A von
keinem B und B von allen C ausgesagt wird, so wird A in keinem C ent-
halten sein. Wenn aber der erste Begriff allgemein ein Prädikat des
mittleren, der Mittelbegriff aber kein Prädikat des letzten ist, so wird
Von der Wissenschaft. 21
sich für die beiden äußeren Begriffe kein Schluß ergeben, weil so keine
notwendige Folgerung zu stände kommt. Denn der erste Begriff kann
dann ebensogut in allen einzelnen, wie in keinem einzelnen des letzten
Begriffes enthalten sein; es ergibt sich also weder ein partikularer noch
5 ein allgemeiner Schlußsatz mit Notwendigkeit, und wenn sich nicht-s
notwendig daraus ergibt, so ist es auch kein Schluß. Für den Fall,
wo der erste Begriff im ganzen letzten enthalten ist, können als Beispiel
dienen die Begriffe : Lebewesen, Mensch, Pferd ; und für den Fall, wo er
nicht im letzten enthalten ist: Lebewesen, Mensch, Stein. Auch dann,
10 wenn der erste Begriff nicht in dem mittleren und der mittlere nicht in
dem letzten enthalten ist, gibt es keinen Schluß. Die Begriffe für einen
bejahenden Schlußsatz seien: Wissenschaft, Linie, Arzneikunde; für
einen verneinenden: Wissenschaft, Linie, Eins. Wird demnach von den
Begriffen etwas allgemein ausgesagt, so ist klar, wann sich in dieser
15 Figur ein Schluß daraus ziehen läßt und wann nicht, ferner: wenn ein
Schluß sich soll vollziehen lassen, so müssen sich die Begriffe in der an-
gegebenen Weise zueinander verhalten, und wenn sie sich so verhalten,
muß ein Schluß vorhanden sein.
Wird von dem einen Begriff etwas allgemein, von dem anderen aber
20 nur partikular in Bezug auf den dritten ausgesagt, so ist es dann not-
wendig ein vollkommener Schluß, wenn das Allgemeine dem weiteren
Begriff, sei es beigelegt, sei es abgesprochen, und das Partikulare dem
engeren Begriff beigelegt ^\ärd ; wird dagegen das Allgemeine dem engeren
Begriff beigelegt, oder verhalten sich die Begriffe überhaupt anders
25 zueinander, so ist ein Schluß unmöglich. Den weiteren Begriff nenne
ich den, in dessen Umfang der mittlere hegt, und den engeren Begriff
den, welcher dem mittleren untergeordnet ist. Es sei also A in dem
ganzen B und B in einigen C enthalten, so muß demgemäß, wenn das
.,von allen ausgesagt werden" den zu Anfang genannten Sinn hat, A in
30 einigen C enthalten sein ; und wenn A in keinem B enthalten ist, aber B in
einigen C, so muß A in einigen C nicht enthalten sein; denn wie das „in
keinem enthalten sein" zu verstehen ist, habe ich gleichfalls bestimmt.
Es ^\ärd also auch hier ein vollständiger Schluß vollziehbar sein.
Von der Wissenschaft.
Der Drang nach Erkenntnis ist allen Menschen eingeboren. Das
35 zeigt sich schon in der Freude am sinnlichen Wahrnehmen. Dieses
näniHch wird auch abgesehen von Nutzen und Bedürfnis um seiner
22 Aristoteles.
selbst willen geschätzt, und am meisten von allem das Wahrnehmen
durch den Gesichtssinn. Denn nicht nur zu praktischem Zweck, sondern
auch ohne jede derartige Rücksicht haben wir die Gesichts wahr nehmung
im großen ganzen Heber als jede andere, und zwar deshalb, weil gerade
sie den Gegenstand am deutlichsten erkennen läßt und zahlreiche unter- 5
schiedene Beschafienheiten an ihm enthüllt.
Von Natur haben die lebenden Wesen Wahrnehmungsvermögen.
Nun bleibt von der Wahrnehmung einigen unter ihnen keine dauernde
Erinnerung zurück, anderen dagegen wohl. Diese sind deshalb die
intelhgenteren und gelehrigeren im Vergleich mit denen, die sich nicht lo
zu erinnern vermögen. Geschickt, aber unfähig hinzuzulernen sind
diejenigen, die die Töne nicht hören können, wie die Bienen und etwaige
andere Gattungen, die diese Eigenschaft teilen. Diejenigen indessen,
bei denen zur Erinnerung auch noch diese Art von Wahrnehmungen
hinzutritt, haben damit auch die Fähigkeit zu lernen. Während die is
anderen Arten von Lebewesen in bildlichen Vorstellungen und Erinne-
rungen leben und nur in geringem Maß Erfahrungen machen, besitzt
das Menschengeschlecht hingegen bewußte Kunst und Überlegung.
Aus der Erinnerung erwächst den Menschen die Erfahrung: vielfache
Erinnerung an einen und denselben Gegenstand erlangt nämlich die 20
Bedeutung einer einheitlichen Erfahrung. Die Erfahrung scheint eine
Art Verwandtschaft mit Wissenschaft und Kunst zu haben, wenigstens
bildet sich vermittels der Erfahrung beim Menschen Wissenschaft und
Kunst. Denn, wie Bolus ganz richtig bemerkt: Erfahrung hat die be-
wußte Kunst erzeugt, Mangel an Erfahrung gibt dem Zufall preis. 23
Bewußte Kunst (Theorie) entsteht, wo auf Grund wiederholter
erfahrungsmäßiger Eindrücke sich eine Auffassung gleichartiger Fälle
unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen bildet. Wenn wir die
Ansicht gewannen, daß dem an dieser bestimmten Krankheit leidenden
Kallias dies bestimmte Mittel zuträglich war, und dem Sokrates auch, so
und noch vielen anderen Einzelnen, so machen wir eine Erfahrung.
Der Satz aber, daß allen unter diese Bestimmung Fallenden und be-
grifflich zu einer Gattung Gehörigen bei einer bestimmten Krankheit,
zum Beispiel Verschleimung oder Gallensucht oder hitzigem Fieber,
eben dasselbe geholfen hat, dieser Satz gehört zur Kunst, bildet eine 35
Theorie.
Für praktische Zwecke scheint die Theorie sich nicht vorteilhaft
von der Erfahrung zu unterscheiden. Vielmehr sehen wir, daß die
Empiriker wohl noch häufiger das Richtige treffen als diejenigen, die im
Besitze der Theorie sind, aber keine praktische Erfahrung haben. Der 40
Grund ist, daß die Erfahrung Kenntnis des Einzelnen, die Theorie
Von der Wissenschaft. 23
Kenntnis des Allgemeinen ist, und daß alles praktische Handeln und
Hervorbringen es mit dem Einzelnen zu tun hat. Denn die heilende
Tätigkeit des Arztes bezieht sich nicht etwa auf den Menschen als solchen
(oder höchstens insofern man von dem Einzelfall absieht und sich
5 allgemein ausdrückt), sondern auf den Kallias oder Sokrates oder irgend
ein anderes Individuum, das allerdings auch unter den BegriS ,, Mensch"
fällt. Hat also jemand die Begriffe, ohne die Erfahrung, kennt er nur das
Allgemeine, aber nicht das darunter fallende Einzelne, so wird er in der
Praxis oftmals fehlgehen. Der Gegenstand der Praxis ist das Einzelne.
10 Dennoch urteilt man, daß in der Theorie mehr Erkenntnis und
höheres praktisches Verstehen enthalten ist als in der Erfahrung, und
hält die Theoretiker für einsichtsvoller als die Praktiker, sofern Einsicht
jedem in höherem Maße eigen ist, je nachdem der Grad seiner Erkenntnis
ein höherer ist. Und zwar deshalb, weil jene den ursächlichen Zusammen-
15 hang verstehen, diese nicht. Denn die Praktiker kennen wohl das Daß,
aber nicht das Warum; die Theoretiker jedoch kennen das Warum und
den ursächhchen Zusammenhang. So stellen wir den Arbeitsleiter
höher und trauen ihm eine größere und vertieftere Erkenntnis auch des
Einzelnen zu als dem Arbeiter, weil jener die Gründe dafür kennt, daß
20 etwas Bestimmtes geschieht, während dieser den unbeseelten Wesen
gleicht, die zwar tätig sind, aber nicht wissen, was sie tun — ^vie das
Feuer, das da brennt, ohne es zu wissen. Die unbeseelten Wesen sind —
jedes nach seiner Art — tätig auf Grund natürhcher Anlage; jene Arbeiter
sind tätig auf Grund ihrer Übung. Höhere Einsicht besitzt der Arbeits-
25 leiter nicht in dem Maße, wie er in den einzelnen Verrichtungen geübt
ist, sondern in dem Maße, wie er die Theorie beherrscht und die ur-
sächhchen Zusammenhänge kennt. Schließlich ist dies das Kennzeichen
des Wissenden, daß er lehren kann; deshalb glauben wir, daß die Theorie
in höherem Grade Wissenschaft sei als die Erfahrung. Denn jene vermag
30 andere zu belehren, diese nicht.
Sinnliche Wahrnehmungen als solche betrachten wir noch nicht als
Wissenschaft. Freilich sind sie die trefflichste Kenntnis des Einzelnen,
aber bei keinem Gegenstande geben sie eine Einsicht in die Ursache;
so lehren sie beispielsweise nicht, warum das Feuer wärmt, sondern nur,
35 daß es wärmt. Es ist daher zunächst begreifhch, daß der, der über die
jedermann geläufigen Wahrnehmungen hinaus ein praktisches Ver-
fahren erfand, von den Menschen bewundert wurde; nicht nur, weil
seine Erfindung brauchbar war, sondern auch, weil er emsichtsvoll war
und unter den anderen hervorragte. Wenn nun eine Mehrzahl von solchen
40 Verfahrungsweisen erfunden war, von denen die einen dem Bedürfnis,
die anderen dem Zeitvertreib dienten, so galten — wie durchaus be-
24 Aristoteles.
greiflich — die Erfinder dieser letzten für die geistig Bedeutenderen,
weil ihr Wissen nicht dem bloßen Bedürfnis diente. Und so sind denn
erst, nachdem alles derartige zu stände gekommen war, die reinen
Erkenntnisse aufgefunden worden, die nicht zur Ergötzung und auch
nicht für die Notdurft des Lebens da sind. Das geschah zuerst an 5
solchen Orten, wo man der Muße genoß. Deshalb ist die mathematische
Theorie zuerst in Ägypten ausgebildet worden, denn dort war der Priester-
kaste Muße vergönnt.
In unserer „Ethik" haben wir den Unterschied zwischen praktischer
Disziplin, Wissenschaft und den anderen verwandten Begriffen näher 10
bestimmt. Unsere Untersuchung hier hat den Zweck zu zeigen, daß
nach allgemeiner Ansicht das, was man wirkliche Wissenschaft nennt,
auf die letzten Gründe und Prinzipien geht. Hiernach schreibt man,
\vie wir vorher dargelegt haben, dem Praktiker ein höheres Maß von
Wissenschaft zu als denen, die nur irgendwelche Sinnes Wahrnehmungen 15
gemacht haben, ein höheres Maß dem Theoretiker als dem Praktiker,
dem Arbeitsleiter als dem Arbeiter, der reinen Theorie ein höheres
Maß als dem angewandten Wissen. Daraus wird ersichtlich , daß
Wissenschaft die Erkenntnis von gewissen Ursachen und Prinzipien ist.
Vom Denken des Denkens.
20
Schwierigkeiten bietet die Frage, die das Denken als Tätigkeit des
absoluten Wesens betrifft. Unter dem, was uns an Gott entgegentritt,
scheint das eigentlich Göttliche die denkende Vernunft zu sein; indessen
hat es seine Dunkelheiten, wie die Vernunft, um diesen Eang zu be-
haupten, sich verhält. Denn denkt sie nicht wirklich, was wäre dann an
ihr so Verehrungs würdiges? Es wäre ebensogut als ob sie schliefe. 25
Denkt sie aber wirklich, doch so, daß ein anderes, ein fremder Seelenteil,
Macht über sie hätte (in diesem Falle wäre das, was ihre Substanz aus-
macht, nicht wirkliches Denken, sondern ein bloßes Vermögen) : so wäre
sie nicht das Höchste, das Absolute; das reine Denken nämlich ist es,
durch das ihr dieser Rang zukommt. Aber weiter. Das Vernunft- 30
vermögen bilde ihre Substanz oder die wirkliche Tätigkeit des
Denkens mache ihr Wesen aus: welches Objekt denkt sie? Das Objekt
des Denkens kann entweder sie selbst oder etwas anderes sein, und
wenn etwas anderes, entweder immer dasselbe oder abwechselnd bald
dieses, bald jenes. Macht es nun nicht einen bedeutenden Unterschied, .^5
ob das, was sie denkt, etwas Wertvolles oder etwas Behebiges ist? Oder
Das Wesen der Tugend. 25
wäre es nicht geradezu widersinnig, gewisse Gegenstände als Objekte
ihres Denkens auch nur zu vermuten? Offenbar ist doch so viel, daß
das Objekt ihres Denkens das Göttlichste und Herrlichste sein muß,
und ferner, daß dies Objekt keinem Wechsel unterhegt. Denn jeder
5 Wechsel müßte den Übergang zu etwas weniger Wertvollem bedeuten,
und es wäre damit überdies in das Absolute eine Bewegung gesetzt.
Wir haben also folgendes. Zunächst, wenn die absolute Vernunft
nicht wirkliches Denken, sondern ein bloßes Vermögen des Denkens
wäre, so würde darin die Annahme liegen, daß ein unausgesetztes Denken
10 für sie eine allzu mühevolle Anstrengung bilde. Zweitens aber: es gäbe
dann offenbar ein anderes, was an Wert über der Vernunft stünde,
nämlich das Objekt des Denkens. Denn ein Gedanke und eine Denk-
tätigkeit kommt auch dem zu, der das Wertloseste denkt. Ist es nun
Pflicht, gewisse Gegenstände lieber nicht zu denken — vde es ja von so
15 manchen Dingen gilt, daß sie nicht zu sehen besser ist, als sie zu sehen —
so ergibt sich, daß nicht das Denken als solches schon, sondern erst das
Denken des Besten das Höchste ist. Daraus folgt: die Vernunft, da sie
doch das Herrlichste ist, denkt sich selbst, und ihr Denken ist ein Denken
des Denkens.
20
30
Das Wesen der Tugend.
Wir wollen nunmehr untersuchen, was die Tugend ist. Da, was
in der Seele vorkommt, von dreierlei Art ist: Affekte, Vermögen, Be-
schaffenheiten, so wird die Tugend wohl zu einer dieser Klassen gehören.
Unter Affekten verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude,
Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt das, was von
25 Lust oder Unlust begleitet ist; unter Vermögen das, wodurch wir für
solche Affekte empfänglich, also z. B. fähig sind, in Zorn, Unlust, Mitleid
zu geraten; unter Gemütsrichtung das, vermöge dessen wir uns den
Affekten gegenüber richtig oder falsch verhalten: beispielsweise ist
zorniger Erregung gegenüber das Verhalten falsch, wenn es ungestüm
und maßlos ist, hingegen richtig, wenn es das Maß innehält, und
dasselbe gilt von den anderen Affekten.-
Zu den Affekten nun gehören weder Tugenden noch Untugenden,
denn nicht mit Rücksicht auf die Affekte nennt man uns ehrenwert
oder verwerfhch, wohl aber mit Rücksicht auf unsere Tugenden und
Untugenden. Gelobt und getadelt werden wir nicht auf Grund unserer
Affekte — denn man lobt weder den Furchtsamen noch den Zornigen,
und man tadelt auch nicht den, der zornig ist, ohne weiteres, sondern
26 Aristoteles.
den, der es in gewisser Weise ist — , vielmehr lobt oder tadelt man uns
wegen unserer Tugenden und Untugenden. Ferner : in Zorn und Furcht
geraten wir un vorsätzlich , die Tugenden aber tragen den Charakter
der Vorsätzlichkeit oder sind doch nicht ohne sie. Außerdem spricht
man in Bezug auf die Affekte von Erregung, dagegen bei Tugenden 5
und Untugenden nicht von Erregung, sondern von einer Gesinnungs-
weise. Eben deshalb sind sie auch keine bloßen Vermögen; denn man
nennt uns brav oder schlecht, man lobt oder tadelt uns nicht ohne
weiteres, weil wir das Vermögen haben affiziert zu werden. Und end-
lich, das Vermögen haben wir von Natur, aber gut oder schlecht sind lo
wir nicht von Natur — darüber haben wir schon oben gesprochen.
Wenn sonach die Tugenden weder Affekte noch Vermögen sind, so
bleibt nur übrig , daß sie Gemütsrichtungen sind , und damit wäre
denn bezeichnet, was die Tugend ihrer Gattung nach ist.
Es gilt aber nicht bloß zu sagen, daß sie eine Gemütsrichtung ist, is
sondern auch was für eine. Da ist nun festzustellen, daß jegliche Tugend
oder Tüchtigkeit den Gegenstand selbst, dessen Tugend sie ist, als in
rechter Verfassung befindlich darstellt und auch seine Betätigung als
die rechte kennzeichnet. So macht die Tüchtigkeit eines Auges das
Auge wertvoll und seine Leistung auch, denn vermöge der Tüchtig- 20
keit des Auges sehen wir gut. Ebenso macht die Tüchtigkeit des
Pferdes das Pferd zu einem brauchbaren, so daß es wacker läuft, den
Reiter trägt und den Feinden gegenüber standhält. Wenn sich das nun
bei allen Dingen so verhält, so wird des Menschen Tugend diejenige
Beschaffenheit sein, vermittels deren er ein guter Mensch wird und 25
seine Betätigung in rechter Weise vollzieht. Wie dies geschieht, haben
wir bereits dargelegt ; es wird aber auch dann ersichtlich werden, wenn wir
näher ins Auge fassen, was die eigentliche Natur der Tugend ausmacht.
Bei jedem ausgedehnten und teilbaren Dinge kann man ein Zuviel,
ein Zuwenig und ein rechtes Maß erkennen, und zwar entweder was die 30
Sache selbst oder was die Beziehung auf uns betrifft. Das rechte Maß ist
hier die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig. Unter der Mitte eines
Gegenstandes aber verstehe ich das, was von jedem der beiden Enden
gleichen Abstand hat, und das gilt für alle Dinge in einem und demselben
Sinn. In Beziehung auf uns aber ist das, was weder zuviel noch zuwenig 35
ist, nicht bei allen ein und dasselbe. Gesetzt, zehn wäre viel, zwei aber
wenig; alsdann erkennen wir, was den Gegenstand selbst betrifft, die
Sechs als die Mitte, weil sie um ebenso viel die eine Zahl übertrifft wie
sie von der anderen übertroffen wird, und das bedeutet Mitte im Sinne
eines arithmetischen Verhältnisses. Dagegen darf man es nicht so fassen, 40
was die Beziehung auf uns betrifft. Wenn nämlich zehn Pfund zu essen
Das Wesen der Tugend. 27
für jemand zu viel, zwei aber zu wenig ist, so wird ihm der Leiter der
athletischen Übungen nicht etwa sechs Pfund vorschreiben; möglicher-
weise ist ja auch dies noch für den, der es bekommen soll, zu viel oder
zu wenig — für einen Milo wäre es zu wenig, für den Anfänger in den
5 Übungen zu \'iel. Das gleiche gilt für den Wettlauf und den Ringkampf.
So meidet jeder einsichtsvolle Mensch das Zuviel und das Zuwenig, er
sucht die Mitte und wählt sie, aber nicht die Mitte des Gegenstandes,
sondern das Mittlere in Bezug auf ihn.
Wenn demnach alle vernünftige Einsicht ihre Betätigung richtig so
10 vollzieht, daß sie sich nach der Mitte umtut und ihre Wirksamkeit auf
sie einrichtet (weshalb man gut ausgeführten Leistungen das Prädikat
erteilt, man dürfe weder etwas davon wegnehmen noch etwas hinzu-
fügen, nämhch in dem Sinne, daß ein Zu\^el wie ein Zuwenig dies glück-
Uche Maß zerstört, die Mitte aber es innehält) ; wenn ferner die tüchtigen
15 Sportsleute, wie wir besprochen haben, bei ihrer Arbeit auf diese Mitte
ihr Augenmerk richten; wenn schheßlich die Tugend noch peinlicher
und sorgsamer verfährt als jede Art von fachmännischer Wirksamkeit —
so ergibt sich, daß die Tugend, gerade wie die Natur, die rechte Mitte
zu treffen suchen \^^rd.
20 Wovon ich spreche, das ist die Tugend als ethische, denn sie hat es
mit Affekten und Betätigungen zu tun, und bei diesen gibt es ein Zuviel,
ein Zuwenig und eine rechte Mitte. So gibt es bei der Furcht und bei
der Kühnheit, beim Begehren und Zürnen und Sicherbarmen und über-
haupt bei aller Lust und Unlust ein Zuviel und ein Zuwenig, und beides
25 ist nicht das Rechte. Hingegen solches zu empfinden zu der Zeit, aus
dem Grunde, der Person gegenüber, zu dem Zwecke und in der Weise,
wie es geboten ist, das ist die rechte Mitte und das Beste, wie es im
Sinn der Tugend hegt. Ebenso gibt es bei den Handlungen ein Zuviel,
ein Zuwenig und ein Mittleres. Um Affekte und Handlungen aber
30 dreht es sich bei der Tugend, und hier ist das Zu\'iel ein Fehler, das
Zuwenig ein Vorwurf, die rechte Mitte jedoch das Lobenswerte und Ge-
glückte; und diese beiden Prädikate gebühren der Tugend. Mithin
ist die Tugend ein Innehalten der rechten Mitte, wenigstens setzt sie
sich die rechte Mitte zum Ziel. Ferner kann das Verfehlen auf vielfache
35 Weise geschehen (denn das Schlechte hat die Natur des Grenzenlosen,
wie schon die Pythagoreer meinten, das Gute dagegen die Natur des
Begrenzten), während das rechte Handeln eingestaltig ist. Darum ist
jenes leicht, dieses schwer: leicht ist es, das Ziel zu verfehlen, schwer,
es zu treffen. Und deswegen macht das Zuviel und das Zuwenig den
40 Charakter der Untugend, dagegen die rechte Mitte den der Tugend aus.
„Redhche sind von einerlei Art, Schlechte von vielerlei Art".
28 Aristoteles.
Mithin heißt Tugend die vorsätzHche (d. h. zur Fertigkeit der Selbst-
entscheidung gewordene) Beschaffenheit, die die jedesmal für das Sub-
jekt angemessene Mitte einhält, die ihrerseits genau bestimmt ist durch
vernünftige Überlegung und die Entscheidung, wie sie das Urteil des
Einsichtigen treffen würde. Die Mitte liegt zwischen zwei Untugenden, 5
von denen die eine ein Überschreiten, die andere ein Zurückbleiben
bedeutet, und besonders in dem Sinne, daß das Verfehlen das eine Mal
ein Nichterreichen, das andere Mal ein Hinausgehen über das Pflicht-
mäßige in Affekten wie in Handlungen bedeutet, die Tugend aber die
rechte Mitte findet und wählt. Ihrem Wesen und dem Begriffe nach, 10
der das bleibende, gestaltende Prinzip bezeichnet, ist also die Tugend
ein mittleres Verhalten; fragt man aber nach dem Wert und nach dem
Guten, so bezeichnet sie ein Äußerstes.
Nicht jede Betätigung freilich und nicht jeder Affekt läßt ein Mittleres
zu. Denn einige von ihnen haben ihre Namen in unmittelbarer Ver- 15
knüpfung mit der Verwerflichkeit erhalten: so die Schadenfreude, die
Schamlosigkeit, der Neid und von den Handlungen Ehebruch, Dieb-
stahl, Mord. Alles dieses und dem ähnliches tadelt man, weil es an sich
verwerflich ist, aber nicht weil es im Übermaß oder im Mindermaß ge-
schieht. Hier gibt es denn auch niemals ein richtiges Handeln, sondern 20
immer nur ein Verfehlen, und bei dergleichen bestimmt sich das richtige
oder falsche Verhalten nicht danach, mit wem, zu welcher Zeit und in
welcher Weise man etwa Ehebruch treiben soll, sondern irgend etwas
derartiges tun ist schon ohne weiteres eine Verfehlung. Ebenso wäre es,
wenn man bei Gewalttat, Feigheit und Zuchtlosigkeit an die Existenz 25
einer Mitte, eines Überschreitens und eines Zurückbleibens glauben
wollte; denn dann würde es eine rechte Mitte im Übermaß und im
Mindermaß, ein Übermaß im Übermaß und ein Mindermaß im Minder-
maß geben. Aber wie Besonnenheit und Mannhaftigkeit kein Über-
schreiten und kein Zurückbleiben zulassen, weil hier die Mitte gewisser- 30
maßen ein Äußerstes ist, so gibt es für jenes weder eine rechte Mitte
noch ein Überschreiten oder Zurückbleiben ; sondern, wie auch gehandelt
werde, es ist immer ein Verfehlen. Denn es gibt überhaupt im Übermaß
und im Mindermaß keine rechte Mitte, und ebensowenig in der rechten
Mitte ein Übermaß und ein Mindermaß. 35
Indessen, es gilt nicht bloß diese allgemeinen Bestimmungen auf-
zustellen, sondern sie auch den einzelnen Erscheinungen anzupassen.
Denn in Untersuchungen über Fragen des praktischen Lebens erweisen
sich die allgemeinen Grundsätze als verhältnismäßig leer und die be-
sonderen Anwendungen als inhaltsvoller; alle Tätigkeit bewegt sich ja 40
in den Einzelheiten der Erscheinung und die Aufgabe ist, daß sie mit
über die Glückseligkeit. 29
diesen zusammenstimme. Dies nun läßt sich nur aus einer genauen
Liste entnehmen.
Für Furchtsamkeit und Kühnheit bildet die Mannhaftigkeit die
rechte Mitte. Was hier die Überschreitung des Maßes anlangt, so gibt
5 es für den, der an Furcht zu wenig hat, keinen besonderen Ausdruck
(vieles hat ja keinen Namen) ; wer hingegen kühn im Übermaß ist, heißt
verwegen, und wer in der Furcht zu weit geht und in der Kühnheit
zurückbleibt, heißt feige. — Wo es sich um Freud und Leid handelt,
freihch nicht um jede Art und besonders nicht um jede Art von Leid,
10 da bildet die Besonnenheit die rechte Mitte und die Zuchtlosigkeit das
Überschreiten des Maßes. Solche, die im Genüsse hinter dem Maß
zurückbleiben, kommen nicht gerade häufig vor. Man hat deshalb auch
keinen Ausdruck dafür geprägt ; vielleicht darf man sie gefühllos nennen.
— In Geldsachen, beim Geben und Nehmen, ist Vornehmheit die rechte
15 Mitte, Verschwendungssucht und Knickerei sind das Überschreiten
des Maßes und das Zuwenigtun. Beide zeigen ein Übermaß und einen
Mangel, nur in entgegengesetzter Eichtung. Der Verschwender über-
treibt das Ausgeben und bleibt im Erwerben zurück; der Knickrige
geht zu weit beim Erwerben und nicht weit genug beim Ausgeben. Für
20 jetzt bezeichnen wir das nur im Umriß und ganz im allgemeinen, indem
wir uns hiermit begnügen; an späterer Stelle werden wir genauere Be-
stimmungen geben. Es kommen dem Gelde gegenüber noch andere
Verhaltungsweisen in Betracht: als rechte Älitte die Hochgesinntheit —
zwischen dem Hochgesinnten und dem Vornehmen besteht der Unter-
25 schied, daß es sich bei jenem um große, bei diesem um kleinere Summen
handelt — , als Überschreiten des Maßes Protzentum und Plebejertum,
als Zurückbleiben hinter ihm Unanständigkeit. Es besteht zwischen
diesen Eigenschaften und den bei der Vornehmheit erwähnten ein
Unterschied; wie er beschaffen ist, soll später dargelegt werden.
tiber die Glückseligkeit.
30 Nachdem über die Tugenden, über die Freundschaft und über die
Arten der Lust gesprochen worden ist, bleibt uns noch die Aufgabe,
im Umriß von der Glückseligkeit zu handeln, da mr sie als den End-
zweck alles menschhchen Tuns betrachten. Unsere Erörterung wird
kürzer ausfallen können, wenn wir früher Gesagtes wieder aufnehmen.
35 Wir haben ausgemacht, daß die Glückseligkeit keine ruhende Beschaffen-
heit ist. Sonst müßte sie auch dem beigelegt werden, der sein ganzes
30 Aristoteles.
Leben verschläft oder das Leben einer Pflanze führt, und ebenso dem,
der die schwersten Unglücksfälle erleidet. Wenn nun dem kein Mensch
zustimmen wird, wenn im Gegenteil die GlückseUgkeit, wie früher dar-
gelegt worden ist, eher in eine Axt der Betätigung zu setzen ist, und wenn
ferner von den Arten der Betätigung die einen notwendig sind, um durch 5
sie anderes zu erreichen, die anderen aber an und für sich den Gegenstand
des Wollens bilden: so muß man die Glücksehgkeit offenbar zu den-
jenigen Betätigungen zählen, die um ihrer selbst willen, und nicht zu
denen, die anderer Zwecke wegen gewollt werden. Denn die Glück-
sehgkeit braucht nichts, sie ist sich selbst genug. 10
Nun werden an und für sich gewollt diejenigen Betätigungen, bei
denen nichts weiter erstrebt wird als die Tätigkeit selbst. Solcher Art
sind augenscheinlich die der Tugend entsprechenden Handlungsweisen,
denn das Edle und Würdige zu tun gehört zu dem, was an und für sich
gewollt werden soll. Dahin zählen auch von den Spielen diejenigen, 15
die Vergnügen bereiten, denn man sucht sie nicht auf, um anderes durch
sie zu erreichen : bringen sie doch eher eine Schädigung als einen Gewinn
mit sich, weil man ihrethalben wohl auch die Sorge für Leib und Er-
werb verabsäumt. Gleichwohl greifen die vom Glück Begünstigten
meistenteils zu diesen Arten des Zeitvertreibs, und die in solchen Künsten 20
der Erholung besonders Gewandten sind deshalb bei den Mächtigen
wohlgeh tten, weil sie sich gerade in dem, woran jene ihr Vergnügen
finden, angenehm zu machen wissen: jene brauchen eben solche Leute.
Nun meint man, diese Dinge müßten doch wohl zur Glücksehgkeit ge-
hören, da die Mächtigen und Großen daran ihr Vergnügen haben. In- 25
dessen, die Machthaber kann man kaum als Beweismittel gelten lassen.
Denn Tugend und Vernunft, die Quellen edler Betätigung, haben nichts
mit Macht und Herrschaft zu schaffen, und wenn jene Männer, unfähig
zum Genuß reiner und des gebildeten Geistes würdiger Freuden, sich
der sinnlichen Lust zuwenden , so darf man deshalb nicht glauben, 30
diese verdiente wirkhch den Vorzug. Meinen doch auch die Kinder,
das Herrhchste sei, was unter ihnen den Vorrang verleiht. So hegt
die Vermutung nahe, daß, wie bei den Kindern etwas anderes in Ehren
steht als bei den Erwachsenen, es sich so auch verhalte bei niedrig und
edel Gesinnten. Wie wir nun vielfach bemerkt haben: dasjenige ist 35
rühmhch und erfreuhch, was dem Würdigen dafür gilt. Für jeden
nämhch bildet diejenige Betätigung den bevorzugten Willensinhalt, die
seiner eigentümlichen Beschaffenheit entspricht, und demnach für
den Edlen die der Tugend angemessene Betätigung.
Folghch ist die Glücksehgkeit nicht im Spiel zu suchen. Es wäre 40
auch wider alle Vernunft, wenn das Spiel der letzte Zweck wäre und
über die Glückseligkeit. 31
die Mühen und Schmerzen eines ganzen Lebens um des bloßen Spielens
willen ertragen werden sollten. Denn alles, darf man sagen, ergreifen
Aw, um etwas anderes dadurch zu erreichen, nur die Glückseligkeit
nicht — sie ist selbst der Zweck. Daß man sich mühen und quälen sollte
5 nur des Spielens wegen, das wäre doch ofienbar eine recht alberne
und kindische Vorstellung. Vielmehr darf es für das Richtige gelten,
daß man zum Behufe ernster Arbeit spielt , wie es Anacharsis auf-
faßt. Spielen nämlich bedeutet Ausruhen, und des Ausruhens bedarf
man, weil man nicht im stände ist, sich unausgesetzt zu mühen. Die
10 Erholung ist also kein Endziel, sondern tritt ein, damit man in der
Tätigkeit fortfahren kann. So scheint denn das glückselige Leben das
der Tugend gemäße zu sein , und dieses ist ein Leben ernster Tätig-
keit, nicht des Spiels. Wir nennen ja auch den Ernst preis würdiger
als Belustigung und scherzhaftes Treiben und wir bezeichnen jedes-
15 mal die Betätigung des höher stehenden Vermögens und des höher
stehenden Menschen als die edlere; die Betätigung dieses höher Stehen-
den ist mithin die wert- und glückvollere. Sinnhche Befriedigung mag
ein jeder behebige Mensch und auch ein Sklave nicht minder genießen
als der Herrhchste. Anteil an der Glückseligkeit aber gewährt niemand
20 einem Sklaven, wenn er ihm nicht auch einen Anteil an der entsprechen-
den Lebensführung gewährt. Denn nicht in Unterhaltungen von jener
Art besteht die Glückseligkeit, sondern in den der Tugend entsprechen-
den Tätigkeiten — ^vie schon oben dargelegt worden ist.
Ist nun Glückseligkeit Betätigung im Sinne der Tugend, so Hegt nahe,
25 daß es sich dabei um die herrhchste Tugend handeln mrd, also doch wohl
um die Vorzüglichkeit dessen, was an uns das Edelste ist. Mag dies die
denkende Vernunft, mag es etwas anderes sein, was seiner Natur nach
zur Herrschaft und Leitung und zum bewußten Ergreifen des Idealen
und Götthchen berufen scheint; mag es an sich ein GöttHches oder das
30 in uns sein, was am meisten gottähnUch ist: die Betätigung eben davon
gemäß seiner ihm eigentümhchen Vorzüglichkeit würde die vollendete
Glücksehgkeit bedeuten. Daß diese Betätigung die reine Betrachtung
ist, haben wir gezeigt, und wir dürfen wohl sagen, daß es wie mit dem
früher Ausgeführten, so mit der Wahrheit übereinstimmt. Denn von
35 allen Betätigungsarten steht diese am höchsten, ebenso wie unter unseren
Vermögen die denkende Vernunft, und wie ferner unter den Objekten die
der reinen Vernunfterkenntnis entsprechenden die herrhchsten sind.
Sie ist außerdem die am meisten stätige. Denn in reiner Betrachtung
vermögen wir eher als in irgend einer nach außen gerichteten Tätigkeit
40 anhaltend zu verbleiben. Auch sind wir überzeugt, daß die Glück-
seligkeit mit innerer Befriedigung verbunden se n müsse. Die stärkste
32 Aristoteles.
innere Befriedigung aber gewährt anerkanntermaßen unter den auf
die Tugend gerichteten Tätigkeiten diejenige, die der Wahrheits-
erkenntnis gilt. Wenigstens darf man soviel sagen, daß das Wahrheits-
streben Freuden von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit gewährt,
und es leuchtet ein, daß der Zustand des Wissens noch größere Freude 5
bereitet als der des Suchens. Auch was man Selbstgenügsamkeit nennt,
findet sich am meisten bei der reinen Betrachtung. Denn des zum
Leben Notwendigen bedürfen der Weise und der Gerechte ebenso
wie alle übrigen; sind sie aber mit dergleichen hinlänglich versehen,
so braucht der Gerechte andere Menschen, in Bezug auf die und in Ver- lo
bindung mit denen er seinen Gerechtigkeitssinn betätigen kann, und
das gleiche gilt von dem Besonnenen und dem Willensstarken und
jedem anderen. Der Wahrheitsfreund dagegen kann auch für sich allein
forschen und denken, und dies umsomehr, je mehr er Wahrheitsfreund
ist. Vielleicht geht es noch leichter, wenn er Mitarbeiter hat; aber 15
gleichwohl, sich selbst genug zu sein, das kommt ihm am ehesten zu.
Auch das dürfte gelten, daß allein die reine Betrachtung um ihrer
selbst willen geliebt wird ; man hat nämlich von ihr weiter keinen Gewinn
als das Betrachten selbst, während man bei den äußeren Tätigkeiten
einen Gewinn ins Auge faßt, einen größeren oder geringeren, noch neben 20
der Tätigkeit. Ferner nimmt man an, daß die Glücksehgkeit sich in
der Muße finde. Denn den Geschäften geben wir uns hin, um sodann der
Muße zu genießen, wie wir Krieg führen, um später im Frieden zu leben.
Die Betätigung praktischer Tugenden nun dreht sich um Staatsgeschäfte
oder kriegerische Aktionen; Tätigkeit auf diesen Gebieten aber dürfte 25
sich mit der Muße kaum vertragen, vollends die kriegerische nicht;
denn niemand begehrt kriegerische Tätigkeit oder rüstet zum Kriege
um der kriegerischen Tätigkeit willen. Man würde den für überaus
blutdürstig halten, der seine Freunde sich deshalb zu Feinden machte,
damit es zu Schlachten und Blutvergießen komme. Aber auch die Tätig- so
keit des Staatsmannes ist der Muße f eindhch : auch er sucht etwas außer-
halb ihrer Liegendes, Machtstellung und Ruhm oder auch Glückseligkeit
für ihn selbst und für seine Mitbürger, die aber etwas anderes neben der
staatsmännischen Tätigkeit ist und offenbar von jener unterschieden,
die wir eben jetzt suchen. Erwägt man nun, daß unter den Tätigkeiten, 35
in denen Tugenden wirksam werden, die des Staatsmannes und des
Feldherrn an Glanz und Bedeutung hervorragen, eben diese aber der
Muße bar sind, einem äußeren Zwecke zustreben und nicht um ihrer
selbst willen zu begehren sind ; erwägt man ferner, daß wohl mit Recht die
Betätigung der denkenden Vernunft, weil sie der reinen Betrachtung 40
zugewandt ist, an innerem Wert den Vorrang beansprucht, daß sie kein
Vom Staate. 33
außerhalb liegendes Ziel erstrebt und eine ihr eigentümliche Befriedigung
gewährt, die selbst wieder die Aktivität zu steigern vermag, daß aber
das in sich beschlossen sein (das Element der Muße und Ungestörtheit
in ihr, soweit es einem Menschen zugängHch ist) — daß alles das augen-
5 scheinhch in dieser Art der Betätigung vorhanden ist: so darf eben diese
als die vollendete Glückseligkeit eines Menschen gelten, falls sie nur die
vollendete Dauer eines Menschenlebens hindurch währt. Denn in dem,
was zur Glückseligkeit gehört, darf es nichts Unvollendetes geben.
Ein solches Leben ist freihch herrlicher als daß es der bloß mensch-
10 hohen Natur beschieden sein könnte. Denn nicht sofern einer Mensch ist,
wird er solch ein Leben führen, sondern sofern in ihm etwas Göttliches
wohnt. Soweit aber dies Leben über das mit der sinnhchen Natur
verbundene Leben hervorragt, so weit übertrifft auch diese Art der
Betätigung die aller sonstigen Tugend entsprechende. Wenn also die
15 denkende Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches
ist, so ist auch das ihr gemäße Leben ein göttliches im Vergleich zu dem
menschlichen Leben. Es soll nicht, wie die Moralprediger mahnen, wer
Mensch ist nur an Menschhches denken, noch wer sterblich ist nur an
SterbHches sich halten, sondern man soll nach Möglichkeit sich zum
20 Unsterblichen erheben und all sein Tun darauf einrichten, daß man lebe
würdig dessen, was in uns das Herrlichste ist. Denn wenn es auch gering
an Umfang ist, so übertrifft es doch alles andere an Macht und Wert.
Ja, man darf sagen, daß jeder in diesem Göttlichen sein eigenstes Sein
findet, da es der vornehmere und bessere Teil in ihm ist; und es wäre
25 unvernünftig, wenn er nicht nach seinem eigenen Sein, sondern nach
dem eines anderen streben wollte.
So wird denn das früher Gesagte mit dem jetzt Besprochenen über-
einstimmen: was für jeden seiner eigentümüchen Natur nach das Ent-
sprechende ist, das ist für ihn auch das Wertvollste und Erfreulichste.
30 Für den Menschen also ist es das Leben, das der denkenden Vernunft
entspricht, da diese am meisten der Mensch selber ist. Deshalb ist ein
solches Leben auch das glückseligste.
Vom Staate.
Alles was Staat heißt ist offenbar eine Gemeinschaft; und da jede
Gemeinschaft zur Erreichung eines Guts geschlossen ist — tut doch
35 überhaupt niemand etwas aus einem andern Grunde als wegen der damit
verbundenen Vorstellung von etwas Gutem — : so erhellt, daß, wennüber-
Dessoir-Meiizer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 3
34 Aristoteles.
haupt jede Gemeinschaft irgend ein Gut erstrebt, dieses Streben das
eifrigste und das erstrebte Gut das alleroberste ist in der höchsten und
alle übrigen umfassenden Gemeinschaft, das heißt in der staatlichen.
Zunächst nun stellen alle diejenigen die Sache nicht richtig dar,
die da meinen, die Erfordernisse zu einem Staatsmanne im Verfassungs- 5
Staat, zu einem Könige, Hausvater und Dienstherren seien dieselben; sie
glauben nämlich, der Unterschied zwischen ihnen bestehe nur im Mehr
und Minder, nicht in der Art ; näher gesagt : wo es sich um wenige handle,
da heiße es Herr, wo um mehrere, Hausvater, wo um noch mehrere,
verfassungsmäßiger Staatsmann oder König, da ja, meint man, ein großes lo
Hauswesen und ein kleiner Staat dasselbe bedeuten; und was das Ver-
hältnis zwischen dem verfassungsmäßigen Staatsmann und dem König
betrifft, so heiße er dann König, wenn er selbst an der Spitze stehe;
wenn er hingegen, nach gewissen Bestimmungen, wie die entsprechende
poHtische Wissenschaft sie an die Hand gebe, auch seinerseits wieder 15
Untertan werde, dann heiße er verfassungsmäßiger Staatsmann. Dem
ist jedoch nicht so. Deuthch wird dieser Punkt werden durch eine
nach der für uns leitenden Methode angestellte Untersuchung. Wie
nämlich auf anderen Gebieten die Zerlegung des Zusammengesetzten
fortgeführt werden muß bis auf die einfachen, mithin kleinsten Teile 20
des Ganzen, so wird auch eine ähnliche Forschung nach den einfachen
Bestandteilen des Staats uns bessere Einsicht verschaffen sowohl in
den gegenseitigen Unterschied der genannten Kegierungsarten als auch
darüber, ob es möghch sei, etwas Systematisches über jede einzelne
von ihnen aufzustellen. 25
Will man nun wie anderswo so auch hier die Dinge in ihrem fort-
schreitenden Wachsen sehen, so ist die zweckmäßigste Art der Betrach-
tung wohl folgende. Zuvörderst müssen diejenigen sich paaren, die
einander nicht entbehren können, also Männliches mit Weiblichem zum
Zweck der Fortpflanzung — und zwar fällt dies nicht in den Bereich des 30
freien Willens, sondern wie bei den übrigen Lebewesen und bei den
Pflanzen ist es auch beim Menschen ein natürhcher Trieb, seinesgleichen
zu hinterlassen — ; und das kraft seiner Natur Gebietende muß sich
paaren mit dem kraft seiner Natur Gehorchenden zum Behuf der Er-
haltung; wo nämlich das Vermögen geistiger Voraussicht vorhanden, 35
da ist natürhcher Beruf, Gebieter und Herr zu sein, wo hingegen die
Fähigkeit zu bloß körperhcher Verrichtung der empfangenen Befehle,
da ist natürlicher Beruf Sklave zu sein; deshalb [weil Herr und Sklave
einander nicht entbehren können] besteht auch Gleichheit der Interessen
zwischen ihnen. — Von Natur nun sind Weib und Sklave geschiedene 40
Wesen; denn nichts schafft die Natur in so ärmhcher Weise wie die
Vom Staate. 35
Messerschmiede das delphische Messer, sondern zu je einem Zwecke
schafft sie ein besonderes Mittel; kann doch auch ein jedes AVerkzeug
nuj dann in größter Vollkommenheit hergestellt werden, wenn es nicht
zu mehreren Verrichtungen, sondern nur zu einer Arbeit dienen soll.
5 Bei den Barbaren jedoch haben Weib und Sklave dieselbe Stellung.
Der Grund Hegt darin, daß bei ihnen das von Natur zum Gebieten be-
stimmte Element fehlt, und demnach die ehehche Gemeinschaft nur
eine zwischen Sklave und Sklavin sein kann. In diesem Sinne heißt es
auch bei den Dichtern:
10 »Billig herrschen über Barbaren Griechen",
indem von Natur Barbar und Sklave für identisch gelten.
Aus diesen zwei Gemeinschaften [Mann und Weib, Herr und Sklave]
entsteht nun zuerst die häusHche Famihe, und Hesiod hat es richtig
getroffen in seinem Verse:
15 „Schaffe zuerst dir ein Haus, ein Weib und zugleich einen Pflugstier";
bei den Armen nämlich vertritt der Stier die Stelle des Knechts. Diese
Gemeinschaft also, die, durch natürlichen Trieb geschlossen, alle Be-
ziehungen des täghchen Lebens umfaßt, ist der Hausstand: „Brotkorb-
genossen" nennt Charondas die ihr Zugehörigen, ., Troggenossen " nennt
20 sie der Kreter Epimenides. Die aus mehreren solchen Hausständen
zunächst sich bildende, einen dauernden Verkehr bezweckende Ge-
meinschaft ist das Dorf. Am naturgemäßesten möchte man wohl eine
Kolonie des Hauses in dem Dorf erkennen, dessen Mitgheder, Kinder
und Kindeskinder des Hauses, auch in gewissen Gegenden Milch-
25 vettern heißen. Wegen dieser Entwicklung des Dorfes aus dem Hause
war auch die ursprüngUche Regierungsform in den griechischen Staaten,
wie noch heutzutage bei den nichtgriechischen Völkerschaften, das
Königtum, weil näniHch solche, die von Königen beherrscht wurden,
zu staatlichem Verbände sich vereinigten. Denn jeder Hausstand steht
30 unter könighcher Herrschaft des durch Alter Ehrwürdigsten, und so
bUeb denn auch in den Kolonien des Hauses, infolge der Verwandtschaft,
dieselbe Regierungsform bestehen. Diesen Zustand königlich be-
herrschter Dörfer schildert auch Homer bei den Cyklopen:
„Jeder Einzelne richtet
35 Seine Kinder und Weiber";
jeder für sich, weil sie in weiten Zwischenräumen voneinander wohnten;
und so wohnte man überhaupt in der Urzeit. Eben hieraus entspringt
ferner die allgemein verbreitete Meinung, daß über die Götter ein König
gesetzt sei, weil man nämlich selbst, teils noch jetzt, teils in alter Zeit
40 Könige hatte, und die Menschen sich wie die Gestalten so auch die Lebens-
weise der Götter nach ihrem eigenen Ebenbilde machen.
36 Aristoteles.
Die aus mehreren Dörfern gebildete Gemeinschaft endlich ist die zum
Staat vollendete Stadt, wo nun, wie man wohl sagen darf, das Ziel voll-
kommenen Sichselbstgenügens erreicht ist ; sie e n t steht zwar aus dem
Bedürfnis bloßen Lebens, b e steht jedoch zur Erreichung eines guten
Lebens. — Hiernach ergibt sich, daß jeder Staat eine naturgemäße 5
Bildung ist, da ja die ihm vorangehenden Gemeinschaften es sind. Denn
e r ist ihre Vollendung, und in der Vollendung tritt die Natur hervor.
Nennen wir doch Natur eines jeglichen Dinges denjenigen Zustand, den
es zeigt, wenn seine Entwicklung vollendet und zum Ziel gediehen ist,
z. B. bei einem Menschen, Pferde, oder bei der Familie lo
Hieraus erhellt also, daß der Staat zu den Gebilden der Natur gehört
und der Mensch ein von Natur auf staatsbürgerliche Gemeinschaft
angewiesenes Wesen ist, und ein nicht zufälhg, sondern von Natur
Staatloser entweder übermenschlich oder ein verdorbener Mensch ist,
von demselben Schlage wie der bei Homer gescholtene 15
„Mann ohne Sippe, ohne Recht, ohne Herd".
Wer nämlich von Natur so geartet ist, der muß zugleich auch wirklich,
wie es bei Homer heißt, „kriegssüchtig" sein, da er wie der Käuberstein
im Brettspiel auf eigene Faust lebt. — Daß der Mensch aber auch noch
in viel höherem Maße ein für staatliche Gemeinschaft bestimmtes Ge- 20
schöpf ist als alle Bienen oder sonst ein herdenweis lebendes Tier, er-
gibt sich aus folgendem : Nichts schafft, nach unserm oft ausgesprochenen
Grundsatz, die Natur zwecklos; dem Menschen aber wurde allein unter
allen Lebewesen Sprache zu teil. Die bloße Stimme gibt nur Zeichen
von Schmerz und Lust und ist daher auch den Tieren verliehen, bei 25
denen die Natur nicht weiter ging als bis zu der Fähigkeit, Schmerz
und Lust zu empfinden und davon sich untereinander Zeichen zu geben.
Die Sprache hingegen soll Nützliches und Schädliches, mithin auch Recht
und Unrecht, klar ausdrücken. Denn dies ist dem Menschen im Vergleich
mit den Tieren eigentümlich, daß er allein Sinn hat für Gutes und 3i>
Schlechtes, für Recht und Unrecht und die verwandten Begriffe. Auf
der Gemeinschaft aber in diesen Dingen beruht Haus und Staat.
Ferner ist von Natur der Staat früher als der Hausstand und die
Individuen. Denn das Ganze ist notwendig das Prius des Teils. Hört
doch nach Aufhebung des Ganzen jeder einzelne Teil, z. B. Fuß oder 35
Hand, auf, das zu sein, was er ist, und bloß die Namensgleichheit bleibt,
die in solchem Falle nicht mehr bedeutet als wenn man von einer stei-
nernen Hand spricht; denn eine vom Körper getrennte wird eine un-
brauchbare Hand. Die Wesensbestimmtheit jedes Dinges aber hegt
in seiner Wirkung und Kraft; sobald es daher diese verliert, darf man es 40
Vom Staate. 37
nicht mehr als dasselbe Ding, sondern nur als ein gleichnamiges an-
sprechen. Die Anwendung dieser Sätze ergibt die aufgestellte Behauptung,
daß der Staat von Natur das Prius des Indi\4duums ist, da dieses, wenn
es in seiner Vereinzelung sein volles Genüge nicht findet, sich zum
Staat verhält wie überhaupt der Teil zum Ganzen; wenn es hingegen zur
Gemeinschaft unfähig oder ihrer, weil es in sich selbst sein volles Genüge
findet, gar nicht bedürftig ist, dann freilich ist es keineswegs ein Teil des
Staats, aber eben damit auch kein Mensch, sondern entweder ein Tier
oder ein Gott. — Von Natur also liegt in allen Menschen der Zug nach
einer staatlichen Gemeinschaft; wer sie aber zuerst ins Werk gesetzt
hat, dem werden die höchsten Güter verdankt. Denn wie der Mensch,
wenn er im Staat seine Vollendung findet, das edelste unter allen Ge-
schöpfen ist, so ist er, losgelöst von Gesetz und Recht, das allerschlimmste.
Ist ja gerüstetes Unrecht das gefährhchste. Und der Mensch ist ge-
schaffen mit einer Rüstung zu Einsicht und Tugend, kann sie jedoch
gar leicht zum Gegenteil gebrauchen; deshalb ist er auch ohne Tugend
das A^ildeste und ruchloseste Geschöpf, schhmmer als alle anderen in
Unzucht und Völlerei. Die Gerechtigkeit nun aber [der Gegensatz zu
jenem gefährlichen Unrecht] ist an den Staat gebunden; denn das Recht
ist nichts als die Ordnung der staathchen Gemeinschaft, und es be-
stimmt seine Entscheidung nach dem Begriff der Gerechtigkeit.
Aristoteles (384 — 322) hat in den Analytica priora die Grundlagen der
logischen Elementarlehre als erster dargestellt. Der Anfang unseres Textes
steht im ersten Buche am Ende des ersten Kapitels. Ausgelassen ist die Unter-
scheidung der vollkommenen und unvollkommenen Schlüsse, weil die Schlüsse
der ersten Figur, mit der wir es hier nur zu tun haben, durchweg vollkommene
Schlüsse sind, das heißt Schlüsse, deren Vordersätze die Begriffe schon in
dasjenige Verhältnis setzen, aus dem der Syllogismus unmittelbar hervorgeht.
Das dann folgende ist ein Teil des \'ierten Kapitels. — Eine mit ausführlichen
Erläuterungen versehene Übersetzung steht in der „Philosophischen Bibliothek"*
Die genaueste Behandlung bietet Heinrich ]Maiers dreibändiges Werk „Die
Syllogistik des Aristoteles", 1896 bis 1900; für die meisten Zwecke dürfte die
Darstellung in Zellers „Philosophie der Griechen" genügen.
Das Hauptstück der von A. geschaffenen Logik ist die Lehre vom Schluß,
die Syllogistik. Einmal schon durch die Art der Behandlung, alsdann deshalb,
weil sie fast ohne Vorläufer durch einen einzigen ^lann entworfen und sogleich
in systematischer Geschlossenheit dargestellt worden ist, schließlich auch aus
dem Grunde, daß sie in ihren wesentUchen Zügen sich bis heute erhalten hat.
^Mit Ehrfurcht und Freude betrachten wir diesen ersten Grundriß der Syllo-
gistik; immerhin diüfcn Mir nicht vergessen, Avie vielfach und lebhaft seit den
Zeiten des Humanismus die Syllogistik als unfruchtbar bekämpft worden
ist. Und in der Tat sind der Aristotehschen Syllogistik Wertgrenzen gezogen:
33 Aristoteles.
nicht jeder Zusammenhang unseres Denkens beruht auf den von A. geschilderten
Verknüpfungen der Urteile. Nach A. nämlich geht jeder regelrechte Schluß
vom Allgemeinen zum Besonderen. In dem Schulbeispiel:
Alle Menschen sind sterblich
Caius ist ein Mensch
Folglich ist Caius sterblich
schreitet das Denken von einer allgemeinen Erkenntnis zu der besonderen
Erkenntnis fort, daß Caius sterblich ist; in der Schlußform wird also die Ab-
hängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen deutlich. Durch Unterordnung
des C. unter den Begriff des Menschen erfolgt seine Unterordnung unter den
weiteren Begriff der sterblichen Wesen. Wann eine solche Unterordnung
mit Recht stattfindet und wann nicht, das und nur das hat A. gezeigt. Über
den Sinn des Syllogismus und die dagegen erhobenen Einwürfe vergleiche
Benno Erdmann, Logik, 1892, I, 549 — 564; dort auch die ältere Literatur.
20 1. Unter „Gedankendarstellung" ist ein logisch-sprachlicher Vorgang zu
verstehen.
20 4. Es braucht also nichts weiter zu den beiden ersten Sätzen hinzu-
zutreten, damit der Schlußsatz „C. ist sterblich" zu stände kommt: aus den
beiden Annahmen ergibt sich vermöge ihrer selbst etwas weiteres.
20 8. Das Sterbliche zum Beispiel ist (in dem „ganzen" Menschen oder)
in allen einzelnen Exemplaren des Begriffes Mensch enthalten. Leichter
gewendet: die Sterblichkeit kann von allen Menschen ausgesagt werden,
kommt ihnen allen ohne Ausnahme zu. Gewöhnlich stellen wir die Begriffe
um und sagen: Alle Menschen sind sterblich. — Partikular heißt ein Urteil,
dessen Prädikat nur von einem Teil des Subjektbegriffes seinem Umfange nach
gilt, zum Beispiel: Einige Menschen sind schwarz.
20 15. Um das folgende zu verstehen, muß man die AristoteHsche Aus-
drucksweise, die später durch eine bequemere ersetzt wurde, sich gegewärtig
halten.
In den Umfang der sterblichen Wesen gehört der Mensch
In den Umfang der Menschen gehört Caius
Folglich gehört in den Umfang der sterbUchen Wesen auch Caius.
In der Mitte steht, wie man sieht, (zweimal) der „Mittelbegiiff" Mensch.
Er ist allgemeiner als der eine „Außenbegriff" (Caius) und weniger allgemein
als der andere Außenbegriff (sterbliches Wesen).
20 21. „Seiner Stellung nach". A. ordnet die drei syllogistischen Begriffe
dem Grade der Allgemeinheit nach in eine Reihe und numeriert sie, wobei
der allgemeinste Begriff die erste Stelle auf der Linie und das erste alphabetische
Zeichen erhält. Das nennt er Stellung oder (wörtlicher) „Setzung". Wir
können zwar die Numerierung mit Buchstaben beibehalten, ziehen aber dem
graphischen Symbol der Linie die Umfangsbezeichnung durch ICreise vor.
Siehe die Figuren auf S. 39.
20 25. Die Sterblichkeit (A) wird von allen Menschen (B), das Mensch-
sein (B) vom Caius (C) in seinem ganzen Umfange ausgesagt. So entsteht
3
m.
o
40 Aristoteles.
mit Notwendigkeit und ohne Hilfe anderer Sätze die Erkenntnis, daß die Sterb-
lichkeit von Caius auszusagen ist. Vergleiche Figur 1.
2027. Vergleiche Figur 2.
21 3. Vergleiche die beiden Fälle in Figur 3.
21 9. Die Schlüsse, von denen a der Figur 3, I und b der Figur 3, II ent-
spricht, lauten:
a) Die Bestimmung Lebewesen (A) ist in allen Menschen (B) enthalten.
Das Menschsein (B) ist in keinem Pferde (C) enthalten
Dennoch ist die Bestimmung Lebewesen in allen Pferden enthalten.
b) Die Bestimmung Lebewesen ist in allen Menschen enthalten
Das Menschsein ist in keinem Stein (C) enthalten
Dennoch ist die Bestimmung Lebewesen in k e i n e m Stein enthalten.
Der Schlußsatz erhält demnach bald eine bejahende, bald eine verneinende
Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat. Daraus, daß bald dies, bald jenes
der Wahrheit entsprechen kann, ergibt sich, daß eine richtige Schlußfolgerung
hier nicht vorliegt,
21 13. Vergleiche Figur 4. Die Beispiele sind ebenso wie die vorangegange-
nen aufzufassen. Da wir der Anordnung bei A. folgen müssen, so lauten sie
in unserer Sprache sehr schwerfälUg, nämlich folgendermaßen:
c) Der Begriff der Wissenschaft ist nicht in dem der Linie enthalten
Der Begriff der Linie ist nicht in dem der Arzneikunde enthalten
Aber der Begriff der Wissenschaft ist in dem der Arzneikunde ent-
halten.
d) Der Begriff der Wissenschaft ist nicht in dem der Linie enthalten
Der Begriff der Linie ist nicht in dem der Eins enthalten
Aber der Begriff der Wissenschaft ist nicht in dem der Eins ent-
halten.
21 33. Vergleiche Figur 5. Aus diesen Figuren ist der Zusammenhang
leichter abzunehmen als aus wörtlichen Umschreibungen. Übrigens enthält
wohl jedes Lehrbuch der Logik eine Darstellung der Aristotelischen Syllogistik,
freilich unter Übertragung in die heute üblichen Formen. —
Das zweite Lesestück gibt den Anfang der Aristotelischen „Meta-
physik" unverkürzt wieder. Der Name Metaphysik ist in der Sammlung der
Aristotehschen Schriften denjenigen verliehen Avorden, die hinter die natur-
wissenschaftlichen gestellt wurden (xa jj-etcc xa cpusixa); er hat dann später
sachliche Bedeutung gewonnen und bezeichnete nunmehr, was A. ,,die erste
Philosophie" nannte, nämlich die Lehre „vom Sein als solchem". Vergleiche
die Erläuterung zu 24 13.
Unsere Übertragung ist frei, da eine wortgetreue Übersetzung dem nicht
fachmäßig geschulten Leser unverständlich bleiben muß. Wemi es sich
dabei nicht immer vermeiden ließ, moderne Begriffe in das antike Denken
hineinzutragen, so ist dies Übel für unsere Zwecke jedenfalls das kleinere.
Die vorliegenden Übersetzungen von Schwegler, Kirchmann und Bonitz leiden
Erläuterungen. 41
an mancherlei ^Mängeln; daher haben wir es mit lebhaftem Dank begrüßt,
daß Herr Professor A. Lasson — hier wie bei den Stücken aus der Ethik —
uns seine (noch nicht veröffentlichte) Übersetzung zur Vergleichung und Be-
nutzung überließ. — Dem Verständnis leisten gute Dienste die (französische)
Übersetzung von Barthelemy St. Hilaire mit ihrer ausführlichen Einleitung
und den zahlreichen Anmerkungen (1879) und Hermann Siebecks Mono-
graphie „Aristoteles" (1899). Kürzlich (1904) erschien eine von L. Rolfes
besorgte neue Übersetzung und Erklärung der ersten sieben Bücher der Aristo-
telischen Metaphysik. Für diese Übertragung war der Rolfes leitende Ge-
sichtspunkt: man müsse aus ihr das Griechische rekonstruieren können.
Verbindende Erörterung.
Die Syllogistik als Lehre von der wissenschaftlichen Beweisführung
gilt A, als eine Vorschule der Wissenschaft. Hier wie dort, in der Logik wie
auf allen Gebieten der Wissenschaft, "wdrd von ihm vorausgesetzt, daß ein
objektives Begriffssystem sich in der Welt ver^\drkliche. Wenn die Wissenschaft
feststellen v^iW, was bestimmten Dingen mit Notwendigkeit und Allgemein-
gültigkeit zukommt, sagen wir den Kristallen, so muß sie sich auf den Begriff
der Kristalle stützen und auf alles das, was unmittelbar daraus abgeleitet
werden kann. In allen vidrklichen Kristallen ist der Begriff des Kristalls ent-
halten (die Lehre von der Immanenz der Ideen als substantiale Formen)
und durch ihn werden sie eben als Kristalle gedacht. Was irgend ein Kristall,
den ^vir jetzt in die Hand nehmen, außerdem noch an Eigenschaften zeigen
mag, das geht nicht in seinen Begriff ein, ist somit zufällig ; davon gibt es keine
wissenschaftliche Erkenntnis. Eine richtige ..Theorie" hat es daher mit dem
Allgemeinen, das heißt begrifflich Notwendigen zu tun. Insofern nun die Er-
kenntnis des Notwendigen gleichbedeutend ist mit der Erkenntnis des inneren
Grundes, warum ein Ding gerade das ist was es ist, kann die Aufgabe der
Wissenschaft auch dahin bestimmt werden, daß sie die inneren Gründe der
Dinge zu erforschen habe. Vergleiche zu 24 13.
222. Auch in der Pliilosophie bleiben Erfahrungen des Gesichtssinnes
sachlich und terminologisch von Wichtigkeit. So ist die Unterscheidung der
dunklen und klaren Vorstellungen bei Descartes von optischen Anschauungen
hergenommen, und Leibnizens Ausdruck, daß jede Monade das Weltall von
einem besonderen ..Gesichtspunkt" aus betrachtet, ist im Anschluß an die
Lehre von der Perspektive gewählt. Vergleiche R. Sommer, Grundzüge einer
Gesch. der deutschen Psychol. u. Ästh., 1892, S. 76.
22 12. Wir würden sagen, daß diese Tiere auf ihren Instinkt beschränkt sind.
22 24. Polus war ein Sophist, ein Schüler von Gorgias. Der hier zitierte
Ausspruch findet sich in Piatos Dialog Gorgias.
22 41 f. Methodologische Fragen, die hiermit zusammenhängen, sind gegen-
wärtig mit aller Lebhaftigkeit gestellt und verhandelt worden. Die ausführ-
lichsten und jüngsten Untersuchungen darüber, ob Wissenschaft auf Allge-
meines beschränkt sei, finden sich in Hugo Münsterbergs Grundzügen der
Psj^chologie, I, 1900, und in Heinrich Rickerts Buch „Die Grenzen der natur-
wissenschaftlichen Begriffsbildung", 1902.
42 Aristoteles.
24 4. Wie hier der uninteressierte Geist reiner Wissenschaft geschildert
wird, das sollte in unserer wirrenreichen Zeit nicht überhört werden. Vergleiche
die Erläuterungen zu Bacon.
24 9. Nach der sogenannten Nikomachischen Ethik von A. (VI, 3, 4)
sind die praktischen Disziplinen auf ein Handeln, Hervorbringen angelegt,
die theoretischen Wissenschaften auf ein Erkennen ; jene bewegen sich im Reich
des Möglichen, diese beziehen sich auf das Notwendige und Ewige.
24 12. In den Worten „nach allgemeiner Ansicht" ist der Gang der Unter-
suchung völlig eingeschlossen. Denn von einfachen und verbreiteten Erfahrungs-
vorstellungen war A. ausgegangen; durch Verfolgung des Vorgefundenen ge-
wann er den dies Kapitel abschließenden Hauptbegriff.
24 13. Die höchste Wissenschaft, die Metaphysik, geht auf die allgemeinsten
Gründe. Ein solches Wissen ist das umfassendste (weil im Allgemeinsten alles
andere enthalten ist) und das lehrreichste (da es die obersten Gründe anzu-
geben vermag); es ist das sicherste (insofern es die Fülle des Zufälligen aus-
schliesst) und dennoch das seltenste (denn der in die letzten Prinzipien Ver-
tiefte muß alle sinnliche Erfahrung beiseite lassen). —
Auch die dritte Stelle ist aus der „Metaphysik" entnommen, und zwar
aus dem neunten Kapitel des Buches L. Ihre Macht, die zweiundzwanzig
Jahrhunderte hindurch sich erhalten hat, liegt in der wuchtigen Aufstellung
des Problems. Gott als das schlechthin unkörperliche Grundwesen muß reines
Denken sein; denn nur dieses bleibt von aller StofQichkeit frei. Alles Hervor-
bringen und Handeln braucht einen Stoff und verfolgt einen außerhalb liegen-
den Zweck, das absolute Wesen aber bedarf keines fremden Inhaltes und ist
sich selbst der letzte Zweck. Im Denken liegt Gottes Würde, und da Gott
unabänderlich nur das Größte denken kann, so denkt er das Denken: der Ge-
danke und der gedachte Gegenstand fallen zusammen.
24 26. Wir verstehen diese Stelle dahin, daß jenes andere, das etwa in Gott
herrschen könnte, ein der höchsten Vernunft fremder Seelenteil, zum Beispiel
die Begierde, wäre. Dadurch käme das Denken, das unzweifelhaft den Kern
des göttlichen Wesens bildet, in eine Abhängigkeit und würde auf die Stufe
eines Vermögens hinabsinken.
25 ö. Weil jede Veränderung in Gott ein Schlechterwerden bedeuten
würde, so ist das göttliche Denken unveränderlich. Der darauf folgende Zu-
satz zeigt deutlich, wie eng die griechische Weltanschauung an den Eleatismus
gebunden blieb: das Unbedingte erschien mit Selbstverständlichkeit als be-
wegungsloses, ruhendes Sein. Die gleiche Auffassung des Vollendeten durch-
drang die klassische Wissenschaft und Kunst.
25 12. Unser Denken ist abhängig von den Formen der Welt, denn in
unseren Begriffen bilden wir sie nach. Dem göttlichen Denken hingegen sind
von niemand anderem Linien vorgezeichnet, die es nachzuziehen hätte.
25 18. Viele und folgenschwere Einsichten sind in diesem Ergebnis auf-
gehäuft. Das absolute, unbedingte, voraussetzungslose Sein erweist sich als
identisch mit dem Geistigen ; es wird als ein von der Welt verschiedenes Wesen
aufgefaßt. Seine Tätigkeit ist die höchste, also Denken; ihr Inhalt ist der
Erläuterungen. 43
höchste, also auch Denken. Man mag dies Denken des Denkens allenfalls als
Selbstbewußtsein deuten, darf es aber schwerlich nach unserem Begriff des
Monotheismus als eine selbstbewußte und aktive Individualität fassen, denn
das auf sich selbst reflektierende Denken scheint mit dem Abstrakten und
Allgemeinen in Beziehung, der konkreten Persönlichkeit aber fremd zu sein.
Vergleiche die Erläuterungen zu Piotin. —
Die vierte Stelle findet sich im zweiten Buch der Nikomachischen
Ethik (Kap. 4 — 7, erste Hälfte). Sie steht im Zusammenhang einer allgemeinen
Tugendlehre, deren echt griechischer Charakter zu philosophiegeschichtlichen
Betrachtungen Anlaß geben kann. Der Gedankengang des mitgeteilten Ab-
schnittes, der nur bis zu den ersten Proben einer Einzelaufzählung führt,
erscheint trotz mancher Schwerfälligkeiten als so klar, daß er nicht noch
ausdrücklich herausgehoben zu werden braucht; die Hauptabschnitte sind:
25-20 — 26 14 (Einordnung), 26 15 — 28 (formale Beschreibung), 26 29 ff. (inhalt-
liche Bestimmung der Tugend).
25 28. Ein weiterer Unterschied zwischen Vermögen (Anlage) und Gemüts-
richtung (Beschaffenheit) liegt darin, daß ein Vermögen nach verschiedenen
Seiten bestimmbar, also eine unbestimmte Fähigkeit, hingegen die Gemüts-
richtung etwas verhältnismäßig Fertiges und Bestimmtes ist.
26 11. Im ersten Kapitel des zweiten Buches heißt es: „Hieraus erhellt auch,
daß keine der sittlichen Tugenden uns von der Natur gegeben wird, denn alles
Natürliche kann durch Gewöhnung nicht geändert werden, so kann z. B. der
Stein, der von Natur nach unten treibt, nicht durch Gewöhnung zur Aufwärts -
bewegung gebracht werden. Deshalb haben wir die Tugenden nicht
von Natur und auch nicht gegen die Natur, sondern wir haben die Anlage zu
ihrer Erlangung; aber freilich müssen wir sie durch Gewöhnung vollständig
erwerben. Aus dem gleichmäßigen Handeln bilden sich dauernde
Gemütsrichtungen; deshalb muß man sein Handeln entsprechend einrichten,
denn so wie dieses beschaffen ist, gestaltet sich auch die Gemütsrichtung.
Darum ist es keine Kleinigkeit, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so
gewöhnt; im Gegenteil, es kommt hierauf sehr viel oder vielmehr alles an."
26 17, Die bekannte weite Fassung des Tugendbegriffs. Was wir Tugend
nennen, ist eine Unterart und wird als solche ja auch 27 20 ausdrücklich be-
zeichnet. Der Mensch besitzt Tüchtigkeiten seines leibHchen Organismus
(vgl. das Beispiel des Auges), ferner theoretische („dianoetische") Tugenden
der Seele, wie z. B. die Einsicht, und er hat schließHch Tüchtigkeiten des sitt-
lichen Handelns, die „ethischen" Tugenden. Bei diesen handelt es sich um
diejenigen Gesinnungen und Willensdispositionen, die der Herrschaft der
Vernunft unterliegen; die sittUchen Tugenden wurzeln in der Macht eines
richtigen und vernünftigen Willens, in der Herrschaft der Vernunft über das
Begehren.
27 ''. Da hier nachträglich von Wettlauf und Ringkampf gesprochen wird,
scheint A. vorher an den Faustkampf und an den Trainer für die Faust-
kämpfer gedacht zu haben. Damit stimmt freilich die Erwähnung Milos nicht,
denn der war ein bekannter Ringkämpfer und siegte als solcher sieben Mal in
44 Aristoteles.
Olympia; er wird wohl als allerberühmtester Vertreter der Sports überhaupt
genannt sein.
27 22. A. erkennt richtig, daß Gefühle, Begierden und Affekte sich zwischen
Gegensätzen bewegen. Wenn nun die sittlichen Fehler in dem unbeschränk-
ten, der Vernunftregierung entzogenen Walten jener Gemütsvorgänge bestehen,
so muß auch an ihnen die Gegensätzlichkeit sich ausprägen. Daher treten
die sittlichen Fehler paarweise auf: Geiz — Verschwendung, Feigheit — Toll-
kühnheit u. s. w.
2726. Diese Bestimmungen (mit denen 28 22 zu vergleichen ist) können über
eine etwas mechanistische, aber übliche Auffassung der A.schen Lehre hinaus-
führen. Die „rechte Mitte", ein nur formaler Allgemeinbegriff, hilft bei einer
sittlichen Entscheidung nicht viel; soll eine Handlung tugendhaft sein, d. h.
aus vernünftiger Willensherrschaft entspringen, so müssen die von A. aufge-
zählten Momente gewahrt werden. Das Moralische besteht in der Überein-
stimmung einer Handlung mit der rechten Erkenntnis, und die rechte
Erkenntnis nimmt Rücksicht auf die hier erwähnten Umstände. Mit dem Be-
griff des Maßes ist also der Inhalt der Tugend, d. h. jener vernünftigen Wil-
lensherrschaft, noch nicht erschöpft. — Der an dieser Stelle in gewisse
Kategorien auseinander gelegte Zusammenhang zwischen ethischer und
intellektueller Büdung gehört zu den Grundüberzeugungen der griechischen
Ethik überhaupt.
27 36. A. hat in seiner Metaphysik (I, 5) eine von den Pythagoreern aufge-
stellte Tafel von Gegensätzen mitgeteilt, in der an den Grundgegensatz von
■ Grenze und Unbegrenztheit sich u. a. anschließen Eins und Vieles, Gutes und
Böses.
27 41. Dies Zitat ist aus einem unbekannten Elegiker entnommen.
28 1. Mit dem Begriff der „vorsätzlichen Beschaffenheit", der durch den
beigefügten Erläuterungsausdruck für den Leser des Textes wenigstens einige
Klarheit gewinnen soll, ist gemeint: sowohl eine mit Vorsatz erworbene Fertig-
keit oder Gemütsrichtung, als auch eine Disposition zu bestimmter Handlungs-
weise; diese Disposition beruht ja auf jener Fertigkeit, denn die sittlichen
Tugenden entstehen aus gewohnten und geübten Handlungsweisen und be-
fähigen wiederum zu erneuten Handlungsweisen der gleichen Art. — In der
Fortsetzung dieser Begriffsbestimmung wird das Normale abhängig gemacht
von der Vernunft und dem Urteil des Einsichtigen. Nimmt man die Stellen
27 26 und 28 22 hinzu, so scheint es, daß A. allgemein gültige Feststellungen im
Gebiet der praktischen Sittlichkeit überhaupt nicht anerkennt und deshalb
die Ethik von der theoretischen Wissenschaft unterscheidet, die es mit Dingen
zu tun hat, die „nicht anders sein können". A. denkt eben immer an das
Tatsächliche und Einzelne, worauf es im Handeln ankommt, und begnügt
sich nicht mit „dem Guten" Piatos (vgl. das erste Lesestück). Wie man beim
körperlichen Organismus nicht ein- für allemal sagen kann: das ist zu viel
oder zu wenig, sondern sich nach der Individualität richten muß, so auch beim
seeUschen Organismus. Es gibt also kein unbedingtes, ausnahmsloses Sitten-
gesetz, sondern nur eine von dem Einzelnen für sich zu erringende dauernde
Erläuterungen. 45
Beschaffenheit und jenen sittlichen Takt, den der Einsichtige billigen würde.
— Ob auch auf diese Anschauungsweise Dantes Ausspruch zutrifft, A. sei
der „Meister derer, die da wissen", oder ob andere Richtungen der Ethik der
Wahrheit näher kommen, wäre zu untersuchen; die Lesestücke aus Meister
Eckharts Schriften und aus Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
ermöglichen lehrreiche Vergleichungen.
293. Die Systematik der hier beginnenden Aufzählung erläutert Th.
Ziegler folgendermaßen. 1. Reine Tugenden (Versittlichung des unvernünf-
tigen Seelenteils): Mannhaftigkeit, Besonnenheit. 2. Richtige Benutzung der
in den äußeren Gütern gegebenen Vorbedingungen für ein vollkommen glück-
liches, also auch tugendhaftes Leben: a) Geld und Gut (bis hierher geht unser
Stück), b) Ehre, c) Geselliges Leben. 3. Tugenden, die das sittliche Verhalten
zur Lust normieren, besonders die Mäßigkeit. Vgl. die minder streng gehaltene
Ausführung in des A. Rhetorik I, 9.
29 21. Geschieht im 4. Kapitel des vierten Buches.
Als fünftes Stück bieten wir das sechste und siebente Kapitel aus
dem zehnten Buch der Nikomachischen Ethik. Das Thema der Auseinander-
setzung lautet: Glückseligkeit ist das höchste Gut im menschlichen Leben.
Worin besteht sie? In der unbehinderten Wesensbetätigung, zu höchst Ver-
nunft betätigung. Wie gelangt man zu ihr? Durch die Sittlichkeit als durch
die von vernünftiger Überlegung bestimmte Ordnung des Lebens. Vgl. 31 12.
31 7. Anacharsis, ein weiser Skythe aus älterer Zeit, soll sein iiaiCw oitcuc
oTTODodc^o) gesagt haben, als er wegen Würfelspiels getadelt wurde; U. v. Wilamo-
witz vermutet aber, daß ursprünglich ein Tadel der hellenischen Gymnastik
darin gelegen habe.
31 20. Gewisse Bedingungen zur Entfaltung sittlicher Tätigkeit fehlen
dem Sklaven, er kann daher Glückseligkeit nicht erringen. Auch die Freien
entbehren oft dieser oder jener Bedingung zur Glücksehgkeit, z. B. der Ge-
sundheit oder des Reichtums. Gesundheit und Reichtum sind zwar nicht in«
haltliche Bestandstücke der Glückseligkeit, aber doch Voraussetzungen für
ihr Eintreten und daher sittliche Güter von beträchtlichem Wert. Der Mensch
lebt eben nicht in einer idealen Welt.
31 41. Die innere Befriedigung ist also etwas, was zur Glückseligkeit hinzu-
kommt. Diese, und nicht etwa die Lust, bildet das Ziel der Tugend.
32 ö. Vgl. S. 108.
3225. Die Kriegskunst trennt A. immer von der Staatskunst; die Er-
werbstätigkeit schätzt er so niedrig ein, daß sie überhaupt nicht genannt
wird.
33?. Dies bedeutet nicht, daß der einzelne Mensch ein hohes Alter er-
reichen muß, sondern daß die Betätigung der Vernunft sich zu einer dauernden
Lebensform entwickeln muß. Wer nur für kurze Zeiträume in der tugendhaften
Seelenbetätigung verharrt, oder wer durch äußeres Mißgeschick an der stetigen
Ausbildung sittlicher Willensrichtungen zeitweilig gehindert wird, kann nicht
zur höchsten Glückseligkeit gelangen. Dadurch unterscheidet sich die Glück-
seligkeit von der Lust, die im Augenblicke fertig ist; denn es gibt keine Lust,
46 Aristoteles.
„die durch die Verlängerung ihrer Dauer erst zur Vollendung in ihrer Art
käme". (Nik. Eth. 1174a 13.)
33 18. „Diese Mahnungen sind der Niederschlag der althellenischen Moral;
nichts anderes meint der Gruß des delphischen Apollo yvwÖ", aaüxöv, d. h.
YvwO-t ävd-piuTzoQ uiv. Im 5. Jahrhundert wird das so oft in der von A. bezeich-
neten prägnanten Form ausgesprochen, daß man keinen bestimmten Vers an-
geben kann, den er im Sinne hat." (U. v. Wilamowitz, Griech. Lesebuch
II, 2 S. 184.)
Verbindende Erörterung.
Der Anfang der „Politik" ist als letzte Probe der Aristotelischen Philosophie
von uns gewählt worden. Wir haben die Verdeutschung von J. Bernays zu
Grunde gelegt und auch die kiirzen (in eckigen Klammern stehenden) Sätze
beibehalten, mit denen Bernays gelegentlich den Text ergänzt hat; auf diese
Art konnte der Kommentar entlastet werden. Für ein genaueres Studium
empfehlen wir die Ausgaben von Susemihl (Leipzig 1879) und W. L. Newman
(Oxford 1887).
Die „Politik" schließt sich an die „Ethik" an, indem sie den Staat als das
wichtigste Mittel für die Verwirklichung sittlicher Forderungen behandelt.
Die Gewöhnung, die der Jugend unentbehrlich ist (vgl. die Anm. zu 26 ii),
vollzieht sich am leichtesten in der staatlichen Gemeinschaft, da diese Ver-
nunft, Recht und Macht in sich vereinigt: das tüchtige und glückselige Leben
zu fördern, ist Zweck des Staats. — Außer den moralphilosophischen An-
schauungen bringt A. Voraussetzungen von doppelter Art an seinen Gegen-
stand heran. Die einen entspringen aus den Verhältnissen seiner Zeit und
seines Landes. „Staat" {iz6X'.<;) bedeutet nicht das, was wir mit dem gleichen
Wort und auch wohl mit „Nation" meinen, sondern eine Stadt mit umliegen-
dem Gebiet; der griechische Staat unterscheidet sich ferner in seinen Ein-
richtungen erheblich von unseren heutigen Staaten und Städten. Die Sklaverei
wird von A. anerkannt, denn es gibt seiner Meinung nach Menschen — und
zwar Nichtgriechen — , deren natürliche Bestimmung die Hörigkeit ist. Vgl.
34 37. — Die andere Gruppe von Voraussetzungen stammt aus der Metaphysik.
Jedes Ding empfängt seine Einheit und die Richtung seiner Entwicklung von
dem ihm bestimmten Zweck. Also auch der Staat. Die niederen Verbände
(Hausstand, Dorf) sind Vorstufen für ihn und ihm untergeordnet, also sein
„Stoff" oder seine „Möglichkeit". Näheres darüber bei der Erläuterung ein-
zelner Stellen.
33 33 — 3425. Die Würde des Staates wird aus seinem Zweck, nämlich der
Erreichung des höchsten Gutes, abgeleitet. Piatos Lehre, daß die Verbands -
formen einerseits, die Herrschaftsformen anderseits nur quantitative Unter-
schiede aufweisen, soll durch eine zergliedernd-genetische Untersuchung wider-
legt werden.
34 26 ff. Diese Untersuchung ist in Wahrheit nicht induktiv, sondern eine
gewaltsame Konstruktion. Die Familie kann schwerlich als elementarste
Form, demnach als ein den Tatsachen entsprechender Ausgangspunkt zuge-
standen werden ; es fragt sich, ob die gesellschaftliche Verrichtung der niederen
Erläuterungen. 47
Gemeinschaften zur Verrichtung des Staates gehört (und hierdurch gewinnt
A. das Ergebnis, der Staat genüge sich selbst); endlich hört die Entwicklung
in Wirklichkeit nicht bei dem Stadt-Staat auf.
35 1. Dies Messer konnte mit seinem breiten eisernen Rücken auch als
Hammer benutzt werden.
35 10. Euripides, Iphigenie in Aulis 1401.
35 16. Hesiod, Werke und Tage 403.
35 19. Charondas , ein berühmter Gesetzgeber Siziliens, lebte mehrere
Jahrhunderte vor Aristoteles. Epimenides war ein Zeitgenosse der sieben
Weisen.
35 34. Homer, Odyssee 9, ii4.
363. Das „vollkommene Sichselbstgenügen" bedeutet, daß kein über
den Staat hinausgehender Verband nötig ist, um allen Wünschen des Menschen
gerecht zu werden.
364. Das gute Leben ist das möglichst vollkommene und glückliche.
Da die Begriffsbestimmung immer die höchste Stufe eines Dinges (seinen Zweck
oder sein Ziel oder seine Endursache) treffen muß, für unseren Fall: da Leben
so zu definieren ist, daß das vollendete Leben definiert wird, so hat man mit
Recht gesagt: der Staat ist nach A. für des Menschen Leben so wesentHch
wie der Akt der Geburt.
36.". Der Hausstand (mit Einschluß der Sklaven) ist eine naturgemäße
Bildung und demgemäß auch der Staat. A. wendet sich gegen Sophisten und
Kyniker, die den Staat aus bloßer Übereinkunft hergeleitet hatten ; mit seiner
Behauptung, der Staat sei ein Erzeugnis der Natur, wird nur das Belieben,
nicht das Wollen von der Entstehung des Staates ausgeschlossen. Vgl. 37 10.
— Die natürUche Notwendigkeit und sittliche Bedeutung des Staates wurzelt
darin, daß erst in ihm alle Anlagen des Menschen sich entfalten können, seine
Natur in ihm zum Abschluß gelangt. A. würde nicht zugeben, daß Humanität
außerhalb des Staatslebens zu blühen vermag; vgl. 36 32.
36 16. Homer, Ilias 9, 63.
3633. Früher nicht der Zeit, sondern dem Begriff nach. Der Staat
ist höher und, weil ein Ganzes, selbständiger als das Indi\'iduum. Vgl.
Metaph. I, 8, 10.
37 1. Über die Gleichnamigkeit siehe den Anfang der Aristotelischen
„Kategorien". Dessoir.
III.
Sextus Empiricus.
Die Tropen der Skeptiker.
Gewöhnlich werden von den älteren Skeptikern gewisse ./Tropen"
überliefert, durch die eine Zurückhaltung im Urteil herbeigeführt zu
werden scheint, und zwar zehn an der Zahl, die sie in gleicher Bedeutung
auch .,Eeden" und „Gesichtspunkte" nennen. Es sind die folgenden:
Der erste Tropus gründet sich auf die Verschiedenheit der lebenden 5
Wesen, der zweite auf den Unterschied unter den Menschen, der dritte
auf die verschiedenartigen Einrichtungen der Sinneswerkzeuge, der
vierte auf die besonderen und wechselnden Umstände, der fünfte auf
Stelluncj, Abstand und Standort des Beobachters, der sechste auf die
zu den Dingen hinzutretenden Beimischungen, der siebente auf die 10
Größen Verhältnisse und Zurichtungsarten der Dinge. Der achte Tropus
entsteht aus der allgemeinen Kelativität; der neunte gründet sich auf
die Fortdauer oder Seltenheit der Vorkommnisse; der zehnte auf die
Lebensführungen, die Sitten, Gesetze, mythischen Glaubenssätze und
die lehrphilosophischen Annahmen. Wir bedienen uns übrigens dieser 15
Anordnung nach eigener Festsetzung
Der erste Tropus, sagten wir, sei der, dem gemäß wegen der Ver-
schiedenheit der Lebewesen von denselben Dingen aus nicht dieselben
Erscheinungsbilder in die Sinne fallen Der Unterschied der
wichtigsten Teile des Körpers und besonders der zum Urteilen und zum 20
Wahrnehmen von Natur geeigneten vermag nach der abweichenden
Beschaffenheit der Lebewesen einen Widerstreit in den Vorstellungen
zu bewirken, der sehr groß ist. Meinen doch die Gelbsüchtigen, es sei
gelb, was uns weiß erscheint, und die, welche an blutunterlaufenen Augen
leiden, es sei blutrot. Da nun auch von den Lebewesen einige die Augen 25
gelb haben, andere blutunterlaufen, andere weißlich, andere anders-
gefärbt, so ist es, denke ich, wahrscheinlich, daß ihnen eine verschiedene
x^uffassung der Farben zu teil wird. Wenn wir ferner das
Auge seitwärts drücken, so erscheinen die Gestalten und Figuren und
Die Tropen der Skeptiker. 49
Größen der sichtbaren Gegenstände länglich und schmal. Es ist also
wahrscheinlich, daß alle Lebewesen mit schräger und länglicher Pupille,
wie die Ziegen, Katzen u. dergl., von den Dingen an sich verschiedene
Erscheinungsbilder haben und nicht solche, wie die Tiere mit runden
5 Pupillen sie annehmen. • — Die gleiche Betrachtungsweise gilt
auch von den anderen Sinnen. Deutlicher noch kann man das
Verhältnis kennen lernen aus dem, was für die Lebewesen erstrebens-
und fliehenswert ist. Myrrhe z. B. erscheint den Menschen sehr angenehm,
den Skarabäen und Bienen unerträghch; das öl nützt den Menschen,
10 tötet aber Wespen und Bienen, wenn es auf sie gesprengt wird; das
Meerwasser ist für Menschen unangenehm, wenn es getrunken wird,
und giftähnhch, für Fische aber sehr angenehm und trinkbar.
FolgHch: Wenn dieselben Gegenstände den einen unangenehm sind,
den anderen angenehm, das Angenehme aber und Unangenehme auf
15 einem Erscheinungsbilde beruht, so werden den Lebewesen von den
objektiven Dingen aus verschiedene Erscheinungsbilder zu teil. Wenn
aber dieselben Dinge ungleichmäßig erscheinen nach der Verschieden-
heit der lebenden Wesen, so werden wir zwar sagen können, wie von uns
r das Seiende angeschaut wird, wie es aber in Wirklichkeit ist, darüber
20 werden wir uns des Urteils enthalten. Denn nicht einmal über die Er-
scheinungsbilder zu entscheiden werden wir selbst im stände sein,
weder über unsere eigenen noch die der anderen lebenden Wesen, da
wir ja selbst eine Seite des Widerspruchs bilden und deswegen vielmehr
jemandes bedürfen würden, der entscheiden soll, also daß wir selbst
25 entscheiden könnten.
Als zweiten Tropus nannten wir den von dem Unterschied der Men-
schen herrührenden; denn gesetzt, es gäbe einer zu, daß die Menschen
glaub^vürdiger wären als die unvernünftigen Tiere, so werden wir finden,
daß auch, soweit unsere Verschiedenheit in Betracht kommt, die
30 Urteilsenthaltung sich einstellt. Da man sagt, zwei Dinge seien es, aus
denen der Mensch zusammengesetzt ist, Seele und Körper, so unter-
scheiden wir uns in Bezug auf diese beiden voneinander; z. B. in Bezug
auf den Körper durch die Gestalten und die eigentümhchen Zusammen-
setzungen. Es unterscheidet sich ja in der Gestalt der Körper eines
35 Skythen von eines Inders Körper, den Unterschied aber bewirkt, wie
man sagt, das verschiedene Vorherrschen der Säfte. Nach dem verschie-
denen Vorherrschen der Säfte aber werden auch die Erscheinungsbilder
verschieden, wie wir es beim ersten Tropus dargestellt haben. Deshalb
ist sicherUch auch im Wählen und Vermeiden der Außendinge ein großer
*o Unterschied unter den Menschen; denn an anderem ergötzen sich die
Inder und an anderem unsere Landsleute; an Verschiedenem aber sich
Dessoir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 4
50 Sextus Empiricus.
zu ergötzen, ist ein Anzeichen davon, daß man von den objektiven Dingen
her unterschiedene Vorstellungen empfängt. Da nun Wählen
und Vermeiden auf Lust und Unlust beruht, die Lust und die Unlust
aber auf Wahrnehmung sich gründet und auf ein Erscheinungsbild, so
ist es, wenn die einen dasselbe wählen, was die anderen meiden, folge- 5
recht für uns, zu schließen, daß sie auch nicht auf gleiche Weise von
denselben Dingen bewegt werden, da sie auf gleiche Weise sonst das-
selbe wählen oder ihm ausweichen würden. Wenn aber dieselben Dinge
auf verschiedene Weise das Gemüt bewegen, je nach der Verschieden-
heit der Menschen, so möchte bilhg auch hieraus die Zurückhaltung lo
im Urteil sich ergeben; insofern wir vielleicht zu sagen vermögen, wie
jedes der objektiven Dinge in Bezug auf jegliche Verschiedenheit er-
scheint, jedoch nicht im stände sind zu offenbaren, was es gemäß seiner
Kraft, der Natur nach, ist. Denn entweder werden wir allen Menschen
Glauben schenken oder nur einigen. Aber wenn allen, so werden wir 15
einerseits Unmöghches versuchen, anderseits müssen wir dann das ein-
ander Entgegengesetzte hinnehmen. Wenn aber nur einigen, so soll
man uns sagen, welchen beizupflichten ist: der Platoniker nämUch
wird sagen, dem Plato, der Epikureer, dem Epikur, und die übrigen in
entsprechender Weise ; und indem sie so unentscheidbar uneins sind, 20
werden sie uns wiederum in die Zurückhaltung drängen. Wer aber sagt,
der Mehrheit solle man beistimmen, tut etwas Kindisches, da niemand zu
allen Menschen gehen und ausrechnen kann, was den meisten gefällt,
denn es ist möglich, daß innerhalb von Völkern, die wir nicht ken-
nen, das bei uns Seltene sich bei der Mehrzahl findet, hingegen das, 26
was den meisten von uns zukommt, dort nur selten vorhanden ist. —
Damit wir auch durch Einschränkung der Betrachtung auf einen
Menschen, wie z. B. auf den von dogmatischen Philosophen erträumten
Weisen, zur Zurückhaltung gelangen, so machen wir uns an den der
Ordnung nach dritten Tropus. Als diesen bezeichnen wir den vom Unter- 30
schied der Wahrnehmungen ausgehenden. Daß aber die Wahrnehmungen
sich gegeneinander unterscheiden, ist ganz offenbar. So z. B. scheinen
die Gemälde für den Gesichtssinn Vertiefungen und Erhöhungen zu
haben, nicht aber auch für den Tastsinn. Und der Honig erscheint bei
einigen für die Zunge angenehm, für die Augen aber unangenehm. Auch 36
bei der Myrrhe verhält es sich ebenso. — Deshalb werden wir
nicht sagen können, wie seiner Natur nach jedes dieser Dinge beschaffen
ißt; wie es aber jedesmal erscheint, ist zu sagen möglich. Auch anderes,
mehr als dieses, läßt sich anführen; indessen soll nur folgendes gesagt
werden. Jedes der uns erscheinenden wahrnehmbaren Dinge scheint 40
sich mannigfach darzustellen: wie z. B. der Apfel glatt, wohlriechend,
Die Tropen der Skeptiker. 51^
ßüßj gelb. Unbekannt ist nun, ob er wohl in Wirklichkeit gerade diese
Beschaffenheiten hat ; oder ob er nur eine Beschaffenheit hat, nach
der verschiedenen Einrichtung der Sinneswerkzeuge aber verschieden
erscheint ; oder ob er noch mehr Qualitäten als die erscheinenden hat,
5 uns jedoch einige davon sich nicht darstellen.
Der zehnte Tropus hängt ganz besonders mit den sittlichen Dingen
zusammen. Er bezieht sich auf die Lebensführung, die Sitten, die Ge-
setze, die mythischen Glaubenssätze und die dogmatischen Annahmen.
Lebensführung nun ist die Wahl einer Lebensart oder irgend eines Ver-
10 haltens, das bei einem oder vielen sich findet, z. B. bei Diogenes oder
den Spartanern. Gesetz ist eine schrifthch niedergelegte Übereinkunft, die
bei den Angehörigen eines Staates gilt und deren Übertreter bestraft
wird. Eine Sitte aber oder Gewohnheit — denn dazwischen besteht kein
Unterschied — ist eine vielen Menschen gemeinsame Bilhgung eines
15 Verhaltens, deren Übertreter durchaus nicht bestraft vdrd; wie es bei-
spielsweise Gesetz ist, nicht Ehebruch zu treiben, Sitte aber bei uns ist,
nicht auf offener Straße mit einer Frau geschlechtlich zu verkehren.
Ein mythischer Glaubenssatz ist eine Bilhgung nicht geschehener und
erdichteter Dinge, wie etwa das über den Kronos Erzählte und anderes
20 mehr; denn dies verführt viele zum Glauben. Eine Annahme der dog-
matischen Philosophie aber ist die Zustimmung zu etwas, das durch eine
Überlegung oder irgend einen Beweis gefestigt scheint, z. B. daß die
Grundteile des Seienden unteilbar oder gleichteihg oder sehr klein oder
irgendwie anders beschaffen sind. Wir jedoch stellen jedes liiervon bald
25 sich selbst, bald jedem der anderen gegenüber. Beispielsweise eine Sitte
einer anderen so : einige Äthiopier tätowieren die kleinen Kinder, wir aber
nicht; die Perser halten es für schicklich, ein buntgefärbtes und bis auf
die Füße reichendes Gewand zu brauchen, wir halten es für unschick-
lich. Ein Gesetz aber stellen mr einem anderen so gegenüber :
30 bei den Römern bezahlt, wer dem väterlichen Vermögen entsagt, nicht
die Schulden des Vaters, bei den Rhodiern jedoch bezahlt er sie; bei
den Taurern in Skythien war es Gesetz, die Fremden der Artemis zu
opfern, bei uns aber ist es verboten, einen Menschen an heihger Stätte
zu töten. Eine Lebensweise spielen wir gegen eine andere aus, sobald
35 wir die Lebensweise des Diogenes der des Aristipp oder die der Spartaner
der itahenischen gegenüberstellen ; einen mytliischen Glaubenssatz gegen
einen anderen, sobald wir erwägen, daß bald Zeus als Vater der Menschen
und Götter vorgestellt w^ird, bald Okeanos, indem wir sagen:
„Okeanos, der Götter Erzeuger, und Tethys, die Mutter."
40 (Ilias, 14, 201.)
Lehrphilosophische Annahmen aber stellen wir einander gegenüber,
52 Sextus Empiricus.
wenn wir sagen, die einen behaupten, es gebe nur ein Element, die
anderen, es gebe unbegrenzt viele ; und die einen, durch Vorsehung der
Götter würden die Dinge bei uns geordnet, die anderen hingegen, es
geschehe ohne Vorsehung — — — — . Einer lehrphilosophischen
Annahme aber wird eine Sitte entgegengesetzt, wenn es bei uns Sitte 5
ist, von den Göttern das Gute zu erbitten, Epikur indessen sagt, das
Götthche kümmere sich nicht um uns, und wenn Aristipp es für etwas
Gleichgültiges hielt, ein Frauenkleid anzuziehen, wir aber dies für häßlich
erklären. Eine Lebensweise stellen wir einem Gesetz gegenüber, wenn
gegen das gesetzhche Verbot, einen freien und edelgeborenen Mann zu 10
schlagen, die King- und Faustkämpfer einander schlagen infolge der bei
ihnen üblichen Lebensführung, und wenn, obwohl das Morden verboten
ist, die Zweikämpfer einander töten aus derselben Ursache
Kurzum, da eine so große Ungleichmäßigkeit der Dinge auch mittels
dieses Tropus sich zeigt, so werden wir, wie das an sich Seiende der 15
Natur nach beschaffen ist, nicht zu sagen vermögen, wohl aber wie es
beschaffen erscheint in Bezug auf diese und jene Lebensweise oder in
Rücksicht auf dies und das Gesetz oder in Betrefi dieser und jener Sitte
und in Bezug auf jedes der anderen Dinge. Auch wegen dieses Tropus
ist es also nötig, daß wir mit dem Urteil über die Natur der objektiven 20
Außendinge an uns halten.
So gelangen wir demnach mittels der zehn Tropen zuletzt zur Zurück-
haltung.
Das vorliegende Stück ist aus des Sextus Empiricus ,.Pyrrhonischen
Grundzügen" entnommen und zwar aus dem 14. Kapitel des 1. Buches (§§36
bis 163). Wir haben uns starke Kürzungen erlaubt, in der Meinung, daß die
Wiedergabe sämtHcher Beispiele und Nebengedanken keinen Wert für unsere
Leser hat und die schriftstellerische Persönlichkeit des S. auch in dieser Form
erkennbar bleibt. S., ein Arzt, der um 200 n. Chr. lebte, ist als derjenige Plü-
losoph des Altertums bezeichnet worden, „welcher der studierenden Jugend
nach der Beschäftigung mit Plato und Aristoteles als Vorbereitung auf die
neuere Philosophie vorzugsweise empfohlen zu werden verdient". Eine vor-
zügliche Übersetzung und Erläuterung seines eben genannten Buches verdankt
die Wissenschaft Eugen Pappenlieim (Leipzig 1877 u. 1881, in der „Philos.
Bibl."); empfehlenswert und von uns benützt ist R. Richters Werk „Der
Skeptizismus in der Philosophie", Bd. I, 1904.
Die Skepsis der Griechen bedeutet die wahrhaft klassische Ausbildung
dieser Denkweise: Pyrrho hat sie begründet, Timon sie formuliert und S.
ihr eine energisch abschließende, zusammenhängende Darstellung geliehen.
Es handelt sich hier nicht um jenen leeren Zweifel, der an nichts glauben will,
überall nur Täuschung erblickt und schließlich in Verzweiflung umschlägt,
sondern um die aus einem reichen Wissen entspringende Einsicht, daß unauf-
Erläuterungen. 53
hebbare Widersprüche uns Menschen niemals zur Erkenntnis der eigentlichen
Natur des Seienden gelangen lassen. Als Folgerung schließt sich an: der
Verzicht auf jedes Urteil über die objektive Beschaffenheit der Dinge, und als
Endergebnis: die nunmehr mit Berechtigung eintretende glückerfüllte Ruhe
des Gemüts. Nach den „Pyrrh. Grundz." (I, 4 §§ 8 — 10) besteht die Skepsis
darin, ,,daß sie Erscheinendes und Gedachtes auf jede Weise gegenüberstellt;
und von hier gelangen \\4r infolge der Gleichkräftigkeit in den gegenüberge-
stellten Dingen und Gedanken zuerst zur Zurückhaltung, nachher aber zur
ünbeirrtheit. Gleichkräftigkeit nennen wir die Gleichheit in Glaub-
würdigkeit und Unglaubwürdigkeit, so daß keine von den streitenden Behaup-
tungen der anderen als glaubwürdiger voransteht. Zurückhaltung ist ein
Stillestehen der Einsicht, infolge wovon wir weder etwas verneinen noch be-
jahen, ünbeirrtheit ist Ungestörtheit und Windstille der Seele". Die inhalt-
lich entgegengesetzten, aber an Überzeugungskraft gleichwertigen Behauptungen
beziehen sich auf die Dinge, wie sie an sich, ihrer Natur nach oder in Wirklich-
keit sind, während über die Erscheinungen richtig geurteilt und ihnen gemäß
auch richtig gehandelt werden kann, denn das Erscheinende und seine Wirkung
auf uns 3Ienschen wird nicht angezweifelt. ^lan darf daher sagen, daß schon
in dieser philosophischen Schule der Skeptizismus zum Positivismus führt.
(Vgl. die unter beiden Stichworten im Sachverzeichnis erwähnten Stellen.)
48 1. Bei den »älteren Skeptikern" ist vornehmlich auch an Änesidemus
zu denken, über den (wie über die anderen beiläufig genannten Philosophen)
die Lehrbücher der Philosophiegeschichte Auskunft geben.
48 8. Die Darstellung der Tropen 4 — 9 fehlt in unserer Übersetzung. Der
vierte schließt aus der wechselnden und ungleichartigen Reaktion desselben
Sinnesorgans und aus der individuellen Veränderlichkeit ästhetischer Be-
wertung auf die Unerkennbarkeit des Objektiven; der fünfte handelt von den
Sinnestäuschungen; 6 — 8 bieten nichts Neues; der neunte Tropus beruft sich
auf den Unterschied der Gefühle gegenüber gewohnten und gegenüber seltenen
Erfahrungen und will damit die Unerforschlichkeit des Ansich erweisen, gleich
als ob dieses auch unabhängig von der Beziehung auf den Menschen bestimmte
Gefühlsqualitäten besäße. Gemeinsam ist den ersten neun Tropen, daß Wider-
sprüche in den Sinneswahrnehmungen als Beweismittel gegen die Erkennbar-
keit der zu Grunde liegenden Dinge benützt werden.
48 17. Der erste Tropus galt als der wichtigste.
48 19 — 49'). Der Gedanke ist, daß durch die verschiedene Beschaffenheit
der Sinnesorgane die von dem gleichen Ding ausgehenden Eindrücke auch
verschieden ausfallen müssen.
49 7 ff. Die Verschiedenheit der Gefühls- und Willensreaktionen wird zu
der bekannten Folgerung benützt.
49 26. Beim zweiten und dritten Tropus findet eine allmähliche Einschrän-
kung des Vergleichungsfeldes statt, wie Pappenheim richtig hervorhebt.
5028. Die Stoiker sind gemeint, wie meist bei S., wenn von Dogmatikern
oder Lehrphilosophen die Rede ist.
51 1. Da zwischen den Qualitäten der verschiedenen Sinne kein Wider-
54 Sextua Empiricus.
Spruch festgestellt werden kann, sondern z. B. eine bestimmte Farbe mit jeder
beliebigen tast- oder schmeckbaren Eigenschaft vereint vorkommt, so wird
das Problem an einen anderen Ort verlegt und die auch noch heute interessierende
Frage aufgeworfen, ob die Dinge mehr oder weniger Qualitäten besitzen, als
wir durch unsere fünf Sinne an ihnen wahrnehmen.
51 6. Auch der zehnte Tropus, der einen consensus omnium in sittlichen
und religiösen Angelegenheiten leugnet, führt durch Aufdeckung der hier
bestehenden Widersprüche zu der Einsicht eines seiner Natur nach Unerkenn-
baren. Vielleicht, so will S. sagen, gibt es absolute ethische Werte, aber uns
sind sie unzugänglich. Wertgegenstand und Wahrnehmungsgegenstand werden
gleich gesetzt: auch in der Sphäre der Sittlichkeit finden sich sozusagen Dinge
an sich (absolute Werte), die indessen in den verschiedenen Gesetzen und ver-
änderlichen Sitten derart verschiedentlich „erscheinen", daß die Erkenntnis bei
den moralischen Phänomenen und ihrer Relativität stehen bleiben muß.
ol9 £f. Diese Begriffsbestimmungen stammen vermutlich aus der stoischen
Philosophie.
5135. Aristipp vertrat eine gemäßigte Genußlehre. Vgl. S. 18 die An-
merkung zu 7 35.
D e s s o i r.
IV.
Seneca.
Ein glückseliges Leben.
II. Wenn es sich um die Glückseligkeit des Lebens handelt, so darfst
du mir nicht, als könnte darüber abgestimmt werden, mit der Ant-
wort kommen, daß die Majorität auf dieser oder jener Seite stehe; wo
sie steht, steht auch das Schlechte, denn leider ist es um die Mensch-
5 heit nicht so gut bestellt, daß die Mehrzahl immer für das Bessere sich
entscheide : wo die Masse sich schart , darfst du das SchUmmste er-
warten. Wir müssen nach dem Besten, nicht nach dem Gebräuchlichsten
fragen, nach dem, was uns den sichern Besitz ewigen Glückes verbürgt,
nicht nach dem, was beim Pöbel, dem unzureichendsten Dolmetsch der
10 Wahrheit, gut angeschrieben steht. Zum Pöbel aber rechne ich Leute
im Königsmantel ebenso gut wie solche im groben Kittel : denn ich sehe
nicht auf den äußerlichen Schmuck des bunten Kleides; ich vertraue
mich meinem Auge nicht an bei der Beurteilung eines Menschen; ich
habe ein besseres, ein zuverlässigeres Licht, um Falsches von Wahrem
13 zu unterscheiden: nur der Geist erkunde den Wert des Geistes! Wenn
er einmal Ruhe gewinnt und in sich geht, ^\^e wird er dann, von eigner
Folter gequält, ein Geständnis ablegen müssen und sagen: „Was ich
bisher getan — lieber sah' ich es ungetan! Was ich gesprochen — die
Stummen beneide ich, wenn ich daran zurückdenke ! Was mein Herzens-
20 wünsch war, erscheint mir wie der Fluch eines Feindes! Was meine
Herzensangst war — gütige Götter! wieviel besser wäre es für mich
gewesen, als all das, was ich heiß begehrt habe. Wie vielen war ich Feind
und wurde dann ihr Freund, wenn es unter Schlechten überhaupt Freund-
schaft gibt: mein eigener Freund aber bin ich noch nicht geworden.
25 Alle Mühe habe ich mir gegeben, mich aus der Masse emporzuarbeiten,
durch irgend ein Talent mich bemerkbar zu machen. Was erreichte
ich damit anderes, als daß ich mich Anfeindungen preisgab, und der
Bosheit die Blöße wies, wo sie ihren Zahn einschlagen konnte. Siehst
du alle jene, die deine Redefertigkeit rühmen, deinem Reichtum nach-
56 Seneca.
laufen, deine Gunst erschmeicheln, deine Macht in den Himmel heben?
alle sind sie deine Feinde, oder — was keinen Unterschied macht — sie
könnten es sein. Soviel Bewunderer, soviel Neider! So will ich denn
etwas anerkannt Gutes suchen, was ich im inneren Herzen fühle, nicht
was ich außen zur Schau trage: denn all die Dinge, die begafft werden, 5
die die Menge umdrängt, die einer dem anderen staunend zeigt, sie blenden
nach außen hin, im Kern aber sind sie faul."
III. So also wollen wir ein Gut aufsuchen, das kein Scheingut ist,
das gediegen und sich selbst gleich bleibt, das verborgen in der Tiefe
seinen Wert hat. Ein solches gilt es aufzuspüren. Und es liegt gar lo
nicht so vv^eit in der Ferne. Wir werden es finden. Nur müssen wir
wissen, wie es zu ergreifen ist! Jetzt tappen wir im Finstern gerade
am Nächsthegenden vorbei und stoßen uns an dem, was wir suchen.
In Einem sind alle Stoiker einig: An die Natur werde ich mich halten,
und weise sein heißt, von ihr nicht abzuirren, nach ihrer Satzung, ihrem is
Vorbild sich zu bilden. Glückselig ist ein Leben, das
mit seiner eigenen Natur in Einklang steht!
Dies aber kann nur erreicht werden, wenn der Geist gesund und in
beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; auch muß er stark und
energisch, wohlgebildet und standhaft sein, er muß sich in die Ver- 20
hältnisse schicken können, muß den Bedürfnissen des Körpers Rechnung
tragen, ohne doch gar zu ängstlich um ihn besorgt zu sein. Schheßlich
muß er sein Augenmerk richten auf all das, was zum Leben gehört,
ohne doch auf irgend etwas zu großen Wert zu legen; er soll sich der
Gaben des Glücks bedienen, ohne doch ihr Sklave zu sein. Auch wenn 25
ich es nicht ausdrückhch hinzufügte, erkennst du: daraus fließt eine
beständige Gemütsruhe und Freiheit, die erlöst ist von allem, was reizt
und schreckt. Denn an Stelle der Sinnenlust und jener Genüsse, die
geringwertig, flüchtig und in ihrer Gemeinheit außerdem schädlich sind,
tritt eine starke, freudige Erhobenheit, unerschütterlich und ewig sich so
gleich, Friede und Eintracht, Größe im Bunde mit Milde: denn alles
unbändige Wesen ist ein Zeichen von Schwäche.
IV. — — — — Darum muß man sich durchringen zur Freiheit:
die aber kann uns aus nichts anderem entspringen als aus der Gleich-
gültigkeit gegen das Schicksal : aus ihr erwächst jenes unschätzbare Gut: 30
die Ruhe und Erhabenheit des Geistes, der seinen festen Standpunkt
gefunden hat. — — — —
V. Glücklich kann der Mensch genannt werden, welcher
unter Leitung der Vernunft nichts mehr wünscht und nichts mehr
fürchtet. Steine und Tiere sind zwar auch frei von Furcht und Trübsal, 4o
glückhch aber wird sie niemand nennen, weil ihnen das Bewußtsein
Ein glückseliges Leben. 57
des Glückes fehlt. Auf derselben Stufe stehen jene Menschen, die Stumpf-
sinn und Mangel an Bewußtsein zum Vieh herabsinken Heß. Zwischen
Tier und Mensch ist dann nicht der geringste Unterschied; dort findet
sich zwar keine Vernunft, hier eine verdorbene, die verkehrt und zu
5 ihrem eigenen Schaden wirksam ist. Denn glückhch kann niemand
heißen, der an der Wahrheit keinen Teil hat. Glücklich ist also ein
Leben zu nennen, das auf richtiger und klarer Vernunfteinsicht uner-
schütterhch und unveränderlich ruht. Dann ist die Seele rein und frei
von allen Übeln, wenn sie über die kleinen Quälereien ebenso wie über
10 die großen Qualen hinweggekommen ist, wenn sie sich dort fest be-
hauptet, wo sie einmal steht, und ihren Platz auch gegen das zornige
Andrängen des Geschickes verteidigt. Mag der Strom der Sinnenlust
von allen Seiten her uns überschwemmen, auf allen Wegen und Stegen
wider uns einfließen, mag er unseren Sinn mit seinen Lockungen um-
15 schmeicheln, mag er ein Mittel nach dem anderen aufbieten, uns oder
einen Teil von uns in Unruhe zu versetzen: wer könnte den AVillen haben,
sofern noch eine Spur von Menschentum in ihm lebt, Tag und Nacht
sich diesem Kitzel hinzugeben, die Pflege des Geistes zu vernachlässigen
und nur der gemeinen Lust zu frönen?
20 VI. Sogar die Philosophen, welche die Lust für das höchste
Gut erklärten, haben ihr nur eine niedrige Stelle eingeräumt: deshalb
lehren sie, daß wahre Lust ohne Tugend nicht bestehen könne, und
bestreiten, daß sich ein angenehmes Leben führen ließe, welches nicht
zugleich sittlich wertvoll, ^vie ein sittlich wertvolles, das nicht zugleich
25 angenehm sei.
VII. Ich sehe aber nicht ein, wie man zw^ei so verschiedene Dinge
zusammenbringen will. Ich bitte euch, warum soll man denn die
Sinnenlust nicht von der Tugend trennen können? Vielleicht w^eil ein
jedes Gut seinen Ursprung in der Tugend hat? und weil aus dieser Wurzel
30 auch all das, was man liebt und wünscht, entsproßt? Ließen sich diese
beiden wirklich gar nicht voneinander trennen, so dürften wir folge-
richtig auch niemals erleben, daß manches angenehm, aber dennoch
sitthch wertlos, manches von höchstem sittlichen Wert, aber nur auf
rauhem Pfad und unter Schmerzen erringbar ist. Es kommt hinzu,
35 daß auch das verworfenste Leben sich mit sinnlicher Lust verträgt,
während die wahre Sittlichkeit eine schlechte Lebensführung erst gar
nicht an sich heranläßt, daß Menschen, nicht weil ihnen der Genuß
gemeiner Vergnügungen versagt blieb, unglückUch sind, sondern gerade,
weil sie zuviel davon gekostet. Und dies könnte nie geschehen, wenn
40 Lust und Tugend sich jemals in eine Einheit verschmelzen ließen: oft
zwar fehlt der Tugend die Lust, niemals aber bedarf sie ihrer
58 Seneca.
VIII. Die Lust empfinden die Guten und die Schlechten, und dem
gemeinen Menschen wird seine Schmach ebenso zum Genuß, wie dem
Edlen seine sittliche Würde. Darum auch gaben die Alten jene Vor-
schrift: man solle nicht das angenehmste, sondern das beste Leben sich
zum Ziel erküren, und nicht solle die Lust der Leiter, sondern der Be- s
gleiter der guten und sittlichen Triebe in uns sein. Die Natur soll uns
Führerin sein: die Natur beobachte, die Natur befrage der vernünftige
Mensch. Glücklich leben und naturgemäß leben
ist eins. Der Gott, welcher das Universum umfaßt und
lenkt, ^virkt nach außen, doch kehrt er immer von jedem Wege wieder lo
in sich selbst zurück. Also handle auch unser Geist: er folge dem Zug
der Sinne und wirke mit seiner Kraft hinaus in die umgebende Welt:
dann herrsche er über das äußere Dasein und über sein eigenes Innere.
So wird ihm eine in sich harmonische Macht zu eigen werden, es wird
jene zuverlässige Art von Vernunft daraus entspringen, die einig mit sich i5
selbst, nicht wankt in Meinung, Begriff und Überzeugung. Und wenn
diese Überzeugung innere Ordnung errungen, wenn sie sich bis ins
Einzelne folgerichtig durchgebildet und, sozusagen, harmonisch ein-
gestimmt hat, dann rührt sie an das höchste Gut. Nichts Verkehrtes,
nichts Schwankendes findet sich mehr an einem solchem Menschen, 20
nichts, das ihn zum Straucheln oder Gleiten verführen könnte; in allem
handelt er nach selbst gegebenem Gesetz, nichts kann ihm unerwartet
widerfahren. Alles gerät ihm leicht, glatt, ohne Zögern und Zaudern.
Träge Unschlüssigkeit ist ein Zeichen von Zwiespalt und innerer
Schwäche. So kann man kühn behaupten, daß ein mit sich selbst einiger 25
Geist das höchste Gut sei, denn wo vollkommene Harmonie herrscht,
muß auch Tugend sein. Das Laster liegt mit sich selbst im Kampf.
IX. „ Aber auch du, " könnte man einwenden, „ pflegst die Tugend nur,
weil du dir irgend eine Lust davon versprichst." Dagegen fürs erste:
gewährt auch die Tugend Lust, so ist diese doch 30
nicht der Grund unseres Strebens nach ihr. Nicht
Lust gewährt die Tugend, sondern auch Lust gewährt sie. Nicht der
Lust wegen müht man sich um sie, sondern jedem, der sich um Tugend
müht, fällt auch Lust in den Schoß, mag das Ziel seines Strebens auch
in ganz anderer Richtung liegen. Wie auf einem Acker unter dem 35
Korn Feldblumen mit aufsprießen, ohne daß man besondere Mühe auf-
wandte, sie, die so hübsch aussehen, anzubauen (der Sämann jedenfalls
ging anderen Zwecken nach, und dies war nur ein unbeabsichtigter
Nebenerfolg) — so ist auch die Lust nicht der Lohn der Tugend, nicht
ihr Bestimmungsgrund, sondern eine Zugabe zu ihr: man entscheidet 40
sich nicht für sie, weil sie Lust bringt, sondern, wenn man sich für sie
Ein glückseliges Leben. 59
entschieden hat, empfindet man auch Lust durch sie. Das höchste
Gut liegt im vernünftigen Bewußtsein und der vernünftigen Haltung
der bestmöghchen Geistesbeschaffenheit. Wenn diese ihre Aufgaben
erfüllt, bestimmte Grenzen um sich gezogen hat, dann hat sie das höchste
6 Gut in sich aufgenommen, und es bleibt ihr nichts mehr zu wünschen
übrig. Denn über das Ganze hinaus gibt es nichts mehr, und über
die letzte Grenze hinaus ebensowenig. Darum ist schon die Frage-
stellung verkehrt, aus welchem Grunde ich die Tugend erstrebe. Denn
diese Frage geht über das Höchste hinaus. Du fragst, was ich von der
10 Tugend wolle : sie selbst will ich. Sie hat nichts Besseres als sich selbst,
sie ist ihr eigener Lohn. — —
XL Als einen Weisen kann ich den nicht bezeichnen,
der noch irgend etwas über sich anerkennt, vollends gar die sinnliche
Lust : wie kann er unter ihrem Szepter der Mühe und Gefahr, der Armut
15 und all den mannigfachen Nöten Trotz bieten, welche das Menschen-
leben rings umdräuen ? Wie wird er den Anblick des Todes vertragen
und den des Schmerzes, wie das Erbeben der Erde, das Toben so vieler
Feinde, wenn schon ein so schwacher Gegner ihn wirft? Was die Lust
von ihm verlangt, das wird er tun, und sie wird \'iel von ihm verlangen.
20 ., Aber nichts Unehrenhaftes!" sagst du, „weil ja die Lust in inniger
Verbindung mit der Tugend lebt." Aber was ist das für ein höchstes
Gut, das einen Aufpasser nötig hat, um überhaupt als Gut bestehen
zu können? Wie aber kann die Tugend die Lenkerin der Lust sein, und
ihr dabei nachlaufen, denn Nachlaufen ist Sache des Gehorchenden,
25 Vorangehen aber Sache des Gebietenden.
XII. Auch die Unvernünftigen können ein Leben der Lust
führen, trotz ihrer inneren Unsicherheit und den drohenden Gewissens-
ängsten, und man muß zugeben, daß sie von den Unannehmhchkeiten
des Lebens ebensowenig etwas erfahren, wie von der wahrhaft sittlichen
30 Lebensführung, und daß die Mehrzahl von ihnen in vergnügter Besin-
nungslosigkeit und lachender Tollheit dahinlebt. Die Lust des Weisen
dagegen ist abgedämpft, genügsam, ohne Heftigkeit, nicht ausschweifend
und unauffällig ; sie naht sich von selbst, ohne ausdrücklich herbeigerufen
zu sein, sie steht nicht gar so hoch in Ehren, ob sie auch freiwillig kam,
35 man nimmt sie in Empfang ohne irgendwelche Freudenbezeigungen;
man läßt sie in den Strom des Lebens mit einfließen, wie etwa Spiel
und Scherz in den Ernst. Man suche also fürder nicht Dinge mitein-
ander in Verbindung zu bringen, die nie zueinander passen, man flechte
nicht länger Tugend und Lust in eins: das ist ein Mißgriff, der nur zur
40 Folge hat, daß die Schlechten sich geschmeichelt fühlen.
XIII. Und ich bin nun der Ansicht (vielleicht hören meine Brüder
60 Seneca.
von der Stoa das nicht gern) daß Epikur hierin gute und rechte Vor-
schriften gibt, Vorschriften, welche von großem Ernst zeugen, wenn man
ihnen nur wirkhch näher tritt: die Lust wird nämhch von ihm in ihrer
Bedeutung bis auf den geringsten Umfang eingeschränkt, und was wir
unter Tugend verstanden wissen Vs^ollen, versteht er unter Lust. Er 5
fordert, die Lust müsse der Natur Untertan sein. Was der Natur genug
ist, genügt nicht den Ansprüchen eines schwelgerischen Lebens. Ein
Mensch, der in Müßiggang und unaufhörlichem Wechsel von materiellen
Genüssen und sinnhchen Ausschweifungen hinlebt, und der dies dann
als sein Glück bezeichnet, sucht eine schlechte Sache mit einem guten lo
Namen zu belegen, und ist ihm das gelungen, so überantwortet er sich
der Leitung dieses verführerischen Namens- und geht jener Art von Lust
nach, die seinen Begierden, nicht dem Worte der Lehrer entspricht.
Und hat er erst einmal begonnen, seine Fehltritte als rechte Erfüllungen
der Lehrvorschriften anzusehen, so gibt er sich ihnen frech am hellen is
lichten Tage hin. Schamlos, ja stolz erhobenen Hauptes führt er sein
liederliches Leben. So sage ich nicht, wie die Mehrzahl unserer Gesin-
nungsgenossen, die Schule Epikurs sei eine Pflanzstätte der Ruchlosigkeit :
ich sage, sie steht in schlimmem Rufe, sie ist verschrieen, aber zu Un-
recht. Es müßte nur jemand zwischen den verschiedenen 20
Arten der Lust fein die Unterscheidung treffen, um zu wissen, welche in
den Schranken natürlichen Verlangens bleiben, und welche Hals über
Kopf ins Ungemessene forttreiben, um so unersättlicher, je mehr man
sich an ihnen zu sättigen sucht. — Die Tugend schreite voran, dann ist
der Weg sicher. Zuviel der Lust ist schädHch. Bei der Tugend aber ist 25
ein Zuviel nicht zu befürchten: denn sie ist selbst das Maß.
XIV. Die Menschen, welche der Lust die Führerstellung
eingeräumt haben, müssen gerade dann beides entbehren: die Tugend
verHeren sie; und nicht sie haben die Lust, sondern die Lust hat sie;
entweder quält sie der Mangel an Lust, oder sie ersticken im Überfluß ; 30
sie sind elend, wenn sie sie nicht, doppelt elend, wenn sie sie im Überfluß
haben; sie gleichen den Schiffern in einem Meere voller Sandbänke:
das eine Mal sitzen sie auf dem Trockenen, das andere Mal fahren sie auf
hochgehenden Wogen dahin.
XV. „Warum aber können denn," wendet man ein, „Tugend und S5
Lust nicht eine Einheit bilden, und warum kann das höchste Gut nicht
'.ugleich ein sittlich wertvolles und sinnnch angenehmes sein?" Weil
j'in Teil der Sittlichkeit wieder etwas Sittliches sein muß, und das höchste
Gut seine Reinheit nicht gewahrt hätte, wenn es einen unedlen Bestand-
teil in sich sehen müßte; auch die Freude, die einem sittlichen Lebens- 40
Wandel entquillt, die sicherlich einen sittlichen Wert besitzt, ist kein
Ein glückseliges Leben. ß'[
Teil des absoluten Gutes, ebensowenig wie der innere Frohmut und die
Seelenruhe, mögen sie auch aus den besten Ursachen entspringen. Sie
sind zwar Güter, doch sind sie nur Folgen und nicht Wesensteile des
höchsten Gutes. Wie könnte ein Mensch sich der Gottheit gehorsam
5 erweisen, wie könnte er alle Schicksalsschläge ungetrübten Mutes hin-
nehmen, wie könnte er ohne ein Wort der Klage und ohne Verbitterung
die Zufälle des Daseins ertragen, wenn ihn schon das geringfügigste
Quentlein Schmerz oder Lust in dem seelischen Gleichgewicht stört?
und ebensowenig wird er ein wackerer Schutz, ein Streiter fürs Vater-
10 land, ein Vorkämpfer für seine Freunde sein, wenn er nur auf die Lust
sein einziges Augenmerk hat. Deshalb muß das höchste Gut auf solcher
Höhe thronen, daß keine Gewalttat es herabzuzerren vermag, daß nicht
Leid, nicht Furcht, noch Hoffnung es erreichen und nichts ihm Eintrag
tun kann. Allein die Tugend vermag zu solcher Höhe aufwärts zu
15 steigen. Nur ihr Schritt vermag die Steilheit jenes Weges zu überwinden.
Sie wird starken Fußes dort standhalten, und was kommen soll, wird
sie ertragen, nicht allein in geduldiger Resignation, sondern in frei-
wilhgem Auf sichnehmen ; jede Not der Zeiten wird sie in die Gesetz-
mäßigkeit des Naturiaufs einzuordnen wissen; und, wie der tüchtige
20 Soldat seine Wunden mit Ruhe trägt, seine Narben mit Stolz zählt,
und vom tödlichen Geschoß durchbohrt im Augenblick des Todes noch
des Feldherrn hebend gedenkt, für den er fiel, so wird der sitthche
Mensch jene alte Lehre im Herzen tragen: ,,dem Gotte Gehor-
sam!" Wer aber mit Tränen, Klagen und Seufzern sich wehrt, gegen
25 den ^vird Gewalt gebraucht, bis er dem Befehle folgt; weil er wider-
spenstig ist, wird er zu dem, was man von ihm verlangt, geschleppt.
Wie töricht aber ist es, sich ziehen zu lassen, anstatt freiwilhg zu gehen!
Und gewiß ist es keine geringere Torheit und Verkennung der Bedingungen
des eigenen Lebens, von einem bösen Zufall sich bekümmern zu lassen,
30 oder in Verwunderung und Mißmut über Dinge zu geraten, die Gute und
Schlechte gleichermaßen treffen können, Tod, Gebrechen, Krankheit
und all die anderen Unzuträglichkeiten des menschhchen Daseins. Wor-
ein man sich nach den allgemeinen Gesetzen des Weltverlaufs schicken
muß, das nehme man ungebeugten Mutes auf sich. Auf das Sakra-
35 ment haben wir uns hier eingeschworen, Menschüches zu erdulden, und
uns nicht irre machen zu lassen durch das, was zu vermeiden außerhalb
unserer Macht steht. Als Untertanen des Höchsten sind wir geboren;
Diener Gottes sein, heißt frei sein.
Das ausgewählte Stück soll mit den ethischen Hauptgedanken der stoischen
Schule bekannt machen, deren Lehre in ständiger Umbüdung und Fortent-
62 Seneca.
Wicklung von Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. bis über Marc Aurel hinaus
auf die Lebensgestaltung des Altertums einen mächtigen Einfluß gewonnen
hat. Die Schule, welche den Namen von einer Halle (a-zoö.) trägt, in der sich
ihre Mitglieder versammelten, machte verschiedene Perioden der Entwicklung
durch. Die bedeutendsten ihrer Stifter sind Zenon (c. 340 bis c. 260 v. Chr.)
und der überaus fruchtbare Chrysippos (282 bis 209 v. Chr.). Von den Schriften
dieser ältesten Stoiker sind uns nur Fragmente in Anthologieen und Sammel-
werken oder als Zitate erhalten.
Dagegen besitzen wir zahlreiche zusammenhängende Abhandlungen von
dem vornehmsten Anhänger der römischen Stoa aus der ersten Kaiserzeit,
von Lucius Annans Seneca, dem Lehrer Neros (geb. 3 n. Chr., tötete sich
selbst auf Neros Befehl i. J. 65). Aus der an seinen Bruder Gallio gerichteten
Schrift „De vita beata" stammt das gewählte Lesestück (Kap. 2 — 15, mit vielen
Auslassungen). Die Übersetzung ist angefertigt mit Berücksichtigung der
bei Reclam erschienenen deutschen Ausgabe von Senecas ausgewählten
Schriften.
Zur weiteren Orientierung über die Stoa können die bei Lesestück I an-
geführten Lehrbücher der Geschichte der Philosophie dienen. Von Spezial-
werken ist am leichtesten zugänglich das von P. Barth, Die Stoa, Stuttgart 1903.
Die Stoiker beschäftigt vor allem die Frage: Wie läßt sich der notwendige
Ablauf des Weltgeschehens mit der sittlichen Freiheit des Individuums ver-
einen? Ihr Interesse konzentrierte sich auf die hieraus fließenden Fragen
nach dem Heil des Einzelnen, nach der praktisch sittlichen Lebensgestaltung;
im Mittelpunkt ihrer Diskussion stand das Ideal des „Weisen", den der Besitz
der „Tugend" zur höchsten „Glückseligkeit" befähigt. Die Antwort auf diese
Probleme gab die ethische Grundformel der Stoiker: „das Leben in Überein-
stimmung mit der Natur" (6|i.oXoYO'j|X£Vüj; z-fj 'fUGst C^^v). Vgl. 56 u f. und die
Erläuterung zu dieser Stelle.
56 14. Was die Stoiker unter dem „ Leben in Übereinstimmung mit der Natur"
begriffen wissen wollten, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Bei den einen
erscheint diese Natur als Natur des Weltalls, die späteren — wie auch Seneca —
bevorzugen die anthropologische Fassung, und Natur bedeutet ihnen: der
sittlich wertvolle Wesenskern des Menschen. Dort findet sich auch eine Ver-
einigung dieser beiden Gedanken: die Weltvernunft spricht sich sowohl im
Lauf des Naturgeschehens, wie im sittlichen Zustande der menschlichen Seele
aus ; auch sie ist ein Teil der Weltvernunft, somit Natur, und in Übereinstim-
mung mit einem dieser beiden leben heißt folgerichtig nichts anderes, als in
Übereinstimmung mit beiden leben. So wird uns von Chrysippos überliefert:
„Es ist das Ziel der Menschen, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben,
d. h. mit der des Individuums ebenso, wie mit der des Universums, und sich
alles dessen zu enthalten, was das eine, sie beide beherrschende Gesetz, die
Vernunft, verbietet, welche das Weltall durchströmt und identisch mit Gott
ist. Glück und Gleichmaß im Leben bedeutet nichts anderes, als daß in jedem
Tun sich die Harmonie des Einzelwillens mit dem Willen dessen, der alles
lenkt, kundgibt." (Diog. Laert. VII, 88.)
Erläuterungen. 63
56 36. Die Seelenruhe des Weisen nennen die griechischen Stoiker Apatheia,
Freiheit von den Affekten: sie ist die wahre, die eine Tugend; und indem
nun der Affekt als „Vernunft- und natur-widrige Seelenerregung" definiert
wird, erhält man den positiven Inhalt dieser zunächst negativen Bestimmung:
denn danach ist zur Apatheia ein vernünftiges Urteil über Gut und
Böse nötig, d. h. die Apatheia, die Tugend an sich, ist ein Wissen.
58 9. Das Universum der Stoiker stellt einen großen wirkenden Zusammen-
hang dar, der von der Gottheit bis in die äußersten Glieder hinein beseelt ist.
Die stoische Gotteslehre ist Pantheismus. Ihr Gott ist die vernunftmäßige
Lebenskraft, die befruchtende Vernunft (ko^oq a::£pjxaT'v.&c), die wirkende Ur-
sache des Geschehens, zugleich sein Wert und Sirm: er setzt sich in die zweck-
voUe Ordnung der einzelnen Bildungen um nach dem Gesetz kausaler Not-
wendigkeit, das alles — auch die menschUche Seele — unter sich zwingt.
Diese Notwendigkeit ist einmal unentrinnbares Geschick, aber — sofern die
Gottheit Vernunft ist — auch Vorsehung: „Nicht das geringste in der Welt
verhält sich anders, als der Ratschlag des Zeus es gewollt!" Der Gedanke der
Naturnotwendigkeit wird mit größter Bewußtheit aus dem Lauf des Geschehens
herausgelesen. Doch diese rühmenswerte Konsequenz verwickelte die Stoa in
unlösbare Widersprüche, als sie daran ging, die sittliche Freiheit des Indivi-
duums zu retten: hier sollte einmal der Gedanke helfen, daß die Gottheit in
ihrer Güte das sittliche Übel selber unmögHch hervorgebracht haben könnte,
daß das Geschick nicht die Haupt-, sondern nur die Nebenursachen herbei-
führe, und die freie Zustimmung bei uns stehe, anderseits suchte man sein
Heil in haarspalterischen Trugschlußketten, auf welche hin der Gegner gleich
spitzfindige Gegenargumente ausspielte. Die Lösung mißlang.
60 1. Die Schule Epikurs (geb. 341 v. Chr.), der die Lust als höchstes Prinzip
der Glückseligkeit aufgestellt hatte, war jahrhundertelang im erbittertsten
Kampfe mit der Stoa begriffen. Daß jedoch hier von S. ohne große Ge-
waltsamkeit ein vermittelnder Standpunkt gefunden werden konnte, zeugt
von der tiefen Verwandtschaft in den Grundzügen des stoischen und epiku-
reischen Philosophierens: beider Interesse ging auf die Herstellung der
Lebenssicherheit des Individuums, Physik und Logik waren für sie beide
nur vorbereitenden Charakters; das Ziel war die praktische Ordnung des
Einzellebens. Nur suchten die Stoiker es durch völlige Unterwerfung des
Individuums unter das Gesetz der Gesamtheit zu erreichen; die Epikureer
jedoch durch völliges Zurückziehen des Individuums auf sich selbst, durch
den gleichmäßigen Selbstgenuß des gebildeten Geistes. Da aber die Lust
Epikurs nicht die das Gleichgewicht (Ataraxie) gefährdende Sinnenlust war,
da ferner nach Epikur zu richtiger Abschätzung des bekömmlichen Maßes an
Lust die wahre „Einsicht" als oberste Tugend benötigt wurde, da er Lust über-
haupt nur als Schmerzlosigkeit faßte, zu deren Erreichung man durch
Bekämpfung der störenden Begierden, durch Unabhängigkeit von den äußeren
Einflüssen gelangte, so nähert sich von der anderen Seite dieses Ideal der
Glückseligkeit wieder dem stoischen.
Die spätere Stoa ließ dann das Schwergewicht der Lehre von den großen
ß4 Seneca.
metaphysischen Gedanken, deren Betonung die Differenz zu dem auf dem
Boden der Atomistik stehenden Epikureismus fühlbarer gemacht hatte, noch
mehr auf die rein praktischen Lehren hinübergleiten: umso leichter wurde
es dem eklektischen Geiste des S., die vermittelnden Worte zu finden.
61 2i. Dazu die Verse des Kleanthes (331—232 v. Chr.)
„Du führe mich, o Zeus, und du, mein Schicksal,
Die Pfade, welche mir beschieden sind.
Frei will ich folgen ! Wollt' ich es auch nicht.
So müßt' ich doch, und war' dazu noch elend. "
M e n z e r.
V.
Plotin.
Von dem Einen.
Jede Art von Leben ist in gewissem Sinne ein Denken, jedocli lichter
oder weniger licht — gleichwie das Leben selber. Jenes Hchte und
ursprüngliche Leben aber und der absolute Geist sind eins. Ein Denken
also ist das ursprünghche Leben, und das abgeleitete Leben ein ab-
5 geleitetes Denken, und das niederste Leben ein niederstes Denken.
Demnach ist alles zur Gattung Leben Gehörende auch ein Denken.
Nun können die Menschen wohl unterschiedene Grade des Lebens leicht
angeben, aber unterschiedene Grade des Denkens geben sie nicht an,
sondern die einen nennen sie Denken, die anderen überhaupt nicht so,
10 weil sie schlechterdings nicht untersuchen, was denn eigentlich das
Leben ist.
Nachdem das Schauende als Eins begonnen hatte, bheb es nicht,
wie es begonnen hatte, sondern wurde unbewußt zu vielem, gleichsam
als wäre es belastet, und es entwickelte sich, indem es alles in sich umfassen
15 wollte. Freihch wäre es ihm besser gewesen, dies nicht zu wollen.
Denn es wurde nun ein Abgeleitetes: gerade wie ein Kreis, der sich ent-
faltet, Figur wird und Fläche, Peripherie und Mittelpunkt, Sehnen und
teils ein Oben, teils ein Unten. Der Ursprung ist das Bessere, die Abr
folge das Schlechtere. Denn der Ursprung war nicht von gleicher Be-
20 schafienheit wie der Ursprung zusammen mit der Abfolge, noch waren
Ursprung und Abfolge von derselben Beschaffenheit wie der Ursprung
allein. Anderseits ist der Geist nicht Geist eines einzelnen, sondern All-
geist, und als Allgeist auch Geist von allem. Weil er also Allgeist ist
und Geist von allem, so muß er auch den Teil von sich als Ganzes und
25 Alles in sich haben. Wäre dem nicht so, so würde er einen Teil in sich
haben, der nicht Geist wäre, und würde zusammengesetzt sein aus
Nichtgeistigem; er würde ein zusammengewehter Haufe sein, der erst
noch erwartete, aus den Bestandteilen zum Geist zu werden. Deshalb
ist er auch unendhch, und wenn etwas von ihm ausgeht, so ist weder das
D es 3 oir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 5
66 Plotin.
von ihm Abstammende zu einem Geringeren geworden, weil auch dieses
das Ganze ist, noch der, von dem es stammt, weil es da keine Zusammen-
setzung aus Teilen gab.
Solcher Art also ist der Geist. Darum ist er nicht das letzte Ur-
sprüngliche, sondern es muß noch etwas sein, was jenseits seiner ist, 0
das, worauf auch die bisherigen Auseinandersetzungen abzielten. Zu-
nächst schon aus dem Grunde, weil die Vielheit später ist als das Eine.
Dies ist etwas Zahlenmäßiges; das Prinzip der Zahl aber und einer Zahl
von solcher Beschaffenheit ist das, was wahrhaft Eins ist. Ferner ist
nun der Geist denkender Geist und das Objekt zugleich, also zwei in 10
einem. Wenn aber zwei, so muß man das, was der Zwei vorausliegt,
ergreifen. Was also? Denkender Geist allein? Aber mit jedem denken-
den Subjekt ist das gedachte Objekt mitgegeben; wenn nun das Objekt
nicht mitgegeben sein darf, so wird auch jenes nicht Subjekt sein können.
Wenn es also nicht Subjekt ist, sondern alle Zweiheit entschwindet, is
so muß das, was das Prius der Zweiheit ist, über den denkenden Geist
hinaus liegen.
Was hindert denn nun, daß dies das Objekt selber sei? Doch wohl
der Umstand, daß mit dem Objekt wieder auch das Subjekt verbunden
ist. Wenn es nun weder das Subjekt noch das Objekt des Denkens 20
sein kann, was kann es dann sein? Dasjenige, werden wir sagen, woraus
beides, das Subjekt wie das mit ihm gegebene Objekt, stammt. Was
nun ist dies und in welcher Gestalt werden wir es uns vorstellen? Wird
es doch wieder ein denkendes Subjekt oder ein nicht denke ides sein
müssen. Ist es aber ein denkendes Subjelrt, so ist es Geist; ist es nicht 25
denkendes Subjekt, so wird es auch nicht einmal seiner selbst bewußt
sein. Was also wäre daran so Erhabenes? Selbst wenn wir sagten,
es sei das Gute und es sei das Einfachste, werden wir — zwar das
Wahre aussagend — doch damit nichts sagen, was klar und
deutlich wäre, solange wir nicht etwas haben, worauf wir unsere Re- so
flexion stützen können. Und wiederum, wenn doch die Erkenntnis
der anderen Dinge durch den denkenden Geist erlangt wird, und wir
vermittels des denkenden Geistes ein denkendes Subjekt zu erkennen
vermögen: woher nehmen wir die gesammelte Kraft des Ergreifens,
um das zu erfassen, was über das Wesen des denkenden Geistes hinaus 36
hegt? Wie dies möghch ist, das gilt es zu bezeichnen.
Wir werden sagen : vermittels des in uns liegenden Ebenbildes. Denn
wir tragen etwas davon in uns; oder vielmehr, bei denjenigen, denen ein
Teilhaben an ihm vergönnt ist, gibt es keinen Punkt, wo es nicht wäre.
Denn wenn man an das, was überall ist, in irgend einem Punkte das 40
anknüpft, was man zu haben vermag, so hat man es von dort her. Zum
Von dem Einen. 57
Beispiel, wenn ein Schall eine Einöde erfüllt, in der sich auch Menschen
befinden, so wird man an jedem Punkte der Einöde, wenn man sein Ohr
aufmerken läßt, den ganzen Schall in sich aufnehmen und auch wieder
nicht den ganzen Schall. Was werden wir nun in uns aufnehmen, wenn
5 wir den Geist aufmerken lassen? Es muß doch w^ohl der Geist, wenn er
jenes schauen will, gleichsam hinter sich zurückweichen; er darf, indem
er gleichsam sich selbst an das hinter ihm Liegende aufgibt — da er
auch dort noch ein Gedoppeltes ist — nicht ganz und gp,r Geist sein.
Denn er ist selbst das ursprüngHche Leben als die wirkende Kraft im
10 Durchgang durch das All, im Durchgang, nicht so, daß er das All durch-
dringt, sondern so, daß er es schon durchdrungen hat. Ist er nun Leben
und Durchdringen, so umfaßt er alles in strengem Sinne und nicht nur
der Hauptsache nach; denn sonst A\ürde er es in unvollkommener und
undeuthcher Weise umfassen. Er muß also aus einem, anderen stammen,
15 was nicht mehr in dem Durchdringen begriffen, sondern Prinzip des
Durchdringens, Prinzip des Lebens, des Geistes und des Alls ist. Denn
das All ist nicht Prinzip, sondern aus dem Prinzip stammt das All ; das
Pi'inzip aber ist nicht mehr das All noch etw^as vom All, sondern, damit
es das All erzeuge und nicht eine Vielheit sei, das Prinzip der Vielheit.
■zu Das Erzeugende nämlich ist überall einfacher als das Erzeugte.
Aber was ist es denn? Die Möghchkeit von allem. Wäre diese nicht,
so wäre auch das All nicht, nicht der Geist, nicht das ursprüngliche
noch jedes andere Leben. Was aber über das Leben hinausliegt, ist
Ursache des Lebens. Denn nicht die Wirklichkeit des Lebens, die das
25 All ist, ist das Ursprüngliche, sondern sie entspringt gleichsam selbst
wie aus einer Quelle. Denke dir eine Quelle, die keinen Ursprung
weiter hat, sich selbst aber den Flüssen allen mitteilt, ohne durch die
Flüsse erschöpft zu werden, vielmehr ruhig in sich selbst beharrt. Ihre
Ausflüsse hingegen denke dir, wie sie — vor ihrem Auseinandergehen
30 nach verschiedenen Richtungen — noch beisammen sind, doch aber
jeder gewissermaßen schon weiß, wohin er seine Fluten ergießen wird.
Oder stelle es dir vor wie das Leben eines gewaltigen Baumes, das das
Ganze durchströmt, indem das Prinzip bleibt und sich nicht im Ganzen
zerstreut, gleichsam festgegründet in der Wurzel. Dies also hat dem
35 Baum sein gesamtes reiches Leben gegeben, ist aber es selbst geblieben,
nicht eine Vielheit, sondern Prinzip der Vielheit.
Und das ist kein Wunder. Vielmehr ist es ein Wunder, wie die Viel-
heit aus dem entstanden ist, was keine Vielheit war, und wie die Vielheit
nicht war, wenn nicht vor der Vielheit das war, was nicht Vielheit war.
40 Denn nicht zerteilt sich das Prinzip in das All ; zerteilt nämlich würde es»
auch das All vernichtet haben ; ja dieses würde nicht einmal geworden sein,
68 Plotin.
wenn das Prinzip nicht bestehen blieb, sondern in sich selbst ein anderes
wurde. Deshalb findet auch überall die Zurückführung statt auf Eines.
In jedem einzelnen ist ein Eines, auf das man es zurückführen kann,
so auch das All auf das Eine, das ihm voraushegt, nicht auf ein vielfach
Eines, solange man noch nicht zu dem einfach Einen gelangt ist; dieses &
aber geht nicht mehr auf ein anderes zurück, sondern wenn so, auf jenes
Eine in der Pflanze, und das ist das Prinzip, das bleibt. Es ist das Eine
im Tier und das Eine in der Seele und das Eine im All; erfaßt man es,
so erfaßt man jedesmal das Mächtigste und das Wertvolle. Und wenn
man das Eine im wahrhaft Seienden, das Prinzip, die Quelle, das Ver- lo
mögen erfaßt, dann sollten wir uns ungläubig verhalten und darunter
das Nichts vermuten? Allerdings ist es nichts von dem, dessen Prinzip
es ist, aber es ist doch nichts nur in dem Sinne, daß nichts von ihm aus-
gesagt werden kann, nicht Sein, nicht Wesen, nicht Leben: nur daß
es über allem diesem hinausliegt. Faßt man es aber, indem man das is
Sein wegnimmt, so hat man ein Wunder, und wenn man sich zu ihm
aufschwingt und es trifft in dem, was ihm zugehört, dann darf man inne-
halten und dann suche man es zu verstehen, indem man seiner wie im
Ansturm tiefer inne wird, aber seine Größe überschauend vermittels
dessen, was nach ihm und um seinetwillen ist. 20
Und noch eine andere Weise gibt es. Als Sehen, und zwar als sehendes
Sehen, ist der Geist ein in die Wirksamkeit übergegangenes Vermögen.
Es ist mithin an ihm Materie einerseits, Form anderseits, wie das Sehen
auch eine Wirksamkeit darstellt, seine Materie aber in dem Objekte
des Denkens hat. Denn auch das wirkhche Sehen bildet eine Gedoppelt- 25
heit. Vor dem Sehen war Eines; nun ist das eine zu zweien und aus den
zweien ist eines geworden. Für das Sehen nun kommt die Fülle des
Gesehenen von dem sinnlichen Objekt und damit gleichsam seine Voll-
endung ; für das Sehen des Geistes ist es das Gute, das ihn erfüllt. Denn
wäre er selbst das Gute, wozu brauchte er dann überhaupt noch zu sehen so
oder sich zu betätigen? Denn alles andere übt seine Wirksamkeit
im Sinne des Guten und um des Guten willen; das Gute aber bedarf
nichts, und deshalb gehört ihm nichts zu, als es sich selber. Wer also
vom Guten spricht, der soll dabei an nichts weiter denken ; denn wenn man
etwas hinzufügt, so macht man es nur in dem Grade ärmer, als man 35
irgend etwas weiteres hinzugefügt hat. Also lege man ihm auch nicht
das Denken bei, um es nicht damit zu einem anderen und so zu zweien
zu machen, zu Geist und Gutem. Denn der Geist bedarf wohl des Guten,
das Gute aber nicht des Geistes. Daher nimmt der Geist durch Er-
langung des Guten die Art des Guten an und wird durch das Gute 40
vollendet, indem die Form, die ihm von dem Guten her zu teil wird, ihm
Von dem Einen. 69
die Art des Guten mitteilt. Gerade so aber, wie am Geiste die Spur des
Guten erblickt wird, stellt man sich sein wahrhaftes Urbild am an-
gemessensten vor, indem man es eben auf Grund der dem Geiste sich
eingrabenden Spur denkend erfaßt. Die dem Geiste eingegrabene
5 Spur des Guten zu erfassen, hat das Gute dem Geist, der sein Schauen
darauf richtet, verheben. Daher im Geiste das Streben, ein stetiges
Streben und stetiges Ergreifen. Dort aber ist weder ein Streben — denn
wonach wohl! — noch ein Ergreifen — denn es war ja auch kein Streben
da. Demnach ist dort auch nicht Geist, weil in diesem ein Streben ist
Lo und ein Hinneigen zur Form des Guten.
Da also der Geist herrlich und das Herrhchste von allem ist, da er
im reinen Licht und reinen Glänze wohnt und das Wesen des Seienden
in sich schheßt, so daß auch die Herrhchkeit dieser Welt ein Schatten
und Abbild von ihm ist, der in vollkommener strahlender Pracht thront,
15 weil nichts Ungeistiges, m'chts Finsteres oder Maßloses in ihm ist, und
er ein sehges Leben lebt : so mag den, der ihn erbUckt und — wie er sollte
— sich in ihn versenkt und mit ihm sich vereint, wohl Staunen ergreifen.
Wie aber der, der im Aufblick zum Himmel den Glanz der Sterne ge-
schaut hat, den Schöpfer denkt und sucht, so muß auch der, der die
io Geisteswelt erschaut, betrachtet und bewundert hat, ihren Schöpfer suchen
und nachforschen, wer und wo er oder wie er sie so zu Stand und Wesen
gebracht hat, er, der diesen Sohn, den Geist, gezeugt hat, den herrhchen
Sprößling, der ihm sein Dasein verdankt. Doch er ist schlechterdings
weder Geist noch Sohn, sondern vor dem Geist und dem Sohn; denn
25 nach ihm kommt Geist und Sohn, kommt, was noch erst des Erfülltseins
und des Gedachthabens bedarf. Freilich steht dies demjenigen nahe,
was weder Mangel noch Bedürfnis hat, was auch des Denkens nicht be-
darf; es hat wahrhafte Fülle und wahrhaftes Denken, weil es sie aus
erster Hand hat. Aber das, was ihm zuvor hegt, das braucht weder
30 etwas, noch hat es etwas — sonst wäre es nicht das Gute.
Plotinus (204 — 2G9 n. Chr.) „hat nicht bloß das Altertum abgeschlossen
und innerhch aufgelöst, nicht bloß dem Christentum befreiende Kräfte zu-
geführt und im IVIittelalter gegenüber aller Veräußerhchung der Organisation
einen Neben- und Unterstrom reinen Gemütslebens erhalten, auch der Re-
naissance waren seine Ideen unentbehrliche Hilfen zur Erkämpfung selbständiger
Überzeugungen, selbst die moderne Spekulation wie die moderne Kunstlehre
zeigen seinen Einfluß. So hat PL durch alle Zeiten gewirkt; als ein wahrhaft
ursprünglicher Denker bleibt er auch heute ein Quell großer Anschauungen
und Anregungen', (Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker,
5. Auflage, 1903, S. 128/9.)
Unser Lesestück ist verhältnismäßig einfach und klar; da es trotzdem
70 Plotin.
hier und dort anstatt scharfer begrifflicher Umrisse Intuitionen bietet, so
raten wir an, sich nicht allzu ängstlich an die Worte zu binden, vielmehr die
Lehren im großen aufzufassen. Die gewählte Stelle steht in der dritten Enneade,
im achten Kapitel, und enthält die §§10 und 11; ausgelassen sind ein paar
Sätze vom Anfange des elften Paragraphen. Der Text und eine Übersetzung
der Enneaden wurden 1878 — 80 von Hermann Friedrich Müller herausgegeben.
Unsere Übersetzung, bei der uns Adolf Lassons Hilfe zu teil wurde, weicht erheb-
lich "»^on der MüUerschen ab. Zur Erläuterung empfehlen wir Vorgerückteren
die gedrungene Darstellung in Windelbands Lehrbuch der Geschichte der
Philosophie (3. Auflage, 1903) und die ausführliche, unter den Gesichtspunkt
der Kategorienlehre gestellte Abhandlung in Eduard v. Hartmanns Geschichte
der Metaphysik (I, 1899). Gleichfalls nützlich und von vins benützt ist Zellers
besonnene Darstellung im letzten Band seines großen Werkes (4. Aufl., 1903).
Die Lesestücke aus Plato und Aristoteles haben uns den Unterschied
des begrifflichen Wissens und der bloßen Meinung, der denkenden Erkenntnis
und der Sinneswahrnehmung kennen gelehrt. In diesem Unterschied ruht
zum guten Teil die griechische Weltanschauung. PI. entfernt sich von ihr und
nähert sich orientalischer Geistesweise, er setzt an die Stelle des klassischen
Ideals ein mj'^stisch-romantisches. Er sieht nämlich das letzte Ziel der Phi-
losophie nicht mehr im logischen Erfassen, sondern in einer ihm übergeordneten
Berührung mit der Gottheit; diese unmittelbare Anschauung des göttlichen
Wesens, des ., Einen", vollzieht sich ohne Begriffe und Worte und kennt keine
Trennung dessen, der anschaut, und dessen, das angeschaut wird. Nur in
solcher mystischen Versenkung — also weder mit den Sinnen noch mit dem
Denken — werden vriv inne des letzten Grundes und höchsten Zieles alles Seins ;
es ist ein religiöser Gemütszustand, durch den wir mit Gott vereinigt werden.
Demnach gelten die Platonischen Ideen nicht mehr als letztes, sondern als ein
Mittelglied, gleichwie das ihnen entsprechende begriffliche Denken als Zwischen-
stufe zwischen Wahrnehmung und Ekstase erscheint. Nun hatte zwar Plato
das Gute oder die göttliche Vernunft (siehe S. 18) an die Spitze der Ideenwelt ge-
stellt und Aristoteles hatte als Inhalt des göttlichen Geistes das Denken seiner
selbst (s. S, 25) bezeichnet, aber jener hatte immerhin noch das Gute den Ideen
zugerechnet und dieser ihm die Zweiheit des Denkenden und des Gedachten
belassen. Plotin dagegen erhebt das „Eine" über die Ideenwelt, über den Geist
und über alle Vielheit, selbst über die Zweiheit des Denkenden und Gedachten.
So entsteht ein Problem, das in etwas anderen Formen im dritten Lese-
stück aus den Aristotelischen Schriften uns begegnet ist und bei Spinoza
wieder entgegentreten wird. Das höchste Sein ist gänzlich unbewegt und eigen-
schaftslos ; dennoch soll aus ihm alles Leben und die Fülle der Eigenschaften
abgeleitet werden. Gott steht völlig jenseits, in weltüberlegener Größe;
dennoch soll er allgegenwärtig, überall wirksam sein und der Mannigfaltig-
keit des Seienden die Einheit schaffen. Um diesen Gegensatz zu versöhnen,
bildet PI. die Vorstellung eines absteigenden Stufenreiches. Gott bleibt fern,
aber Kräfte, die von ihm ausgehen, ohne ihn zu schwächen (und zwar zunächst
die ., Ideen'", die in ihrer Gesaintheit den „Geist" ausmachen), halten den
Erläuterungen. 7 1
Zusammenhang mit ihm aufrecht. Die erste Stufe steht der Vollkommenheit
am nächsten^ die folgenden sind immer geringer bis herab zur Materie, die nur
noch eine ..Abschattung'" ist.
65 1 ft. In diesem Abschnitt spricht PI. aus, daß die ganze Sinnenwelt,
auch die unorganische, belebt und beseelt sei, ein von der Weltseele gestalteter
Organismus. Selbst die Materie ist aus dem Absoluten hervorgegangen und
trägt daher die Züge ihres Urbilds ; mag sie zunächst ein leerer, finsterer Raum
sein, so wird doch auch sie von der göttlichen Urkraft schwach durchleuchtet.
65 12 ff. Man pflegt diese Ableitung als Emanationslehre oder dynamischen
Pantheismus zu bezeichnen. Der schlechtweg so genannte Pantheismus des
Altertums faßte die Welt auf als einen Körper, der von der göttlichen be-
wuxßten Vernunft beseelt ist, oder gleichsam als eine Auseinanderfaltung des
Inhaltes der Gottheit. So die stoische Schule. Plotins Anschauung ist die,
daß aus der unendlichen Fülle Gottes Kräfte ausfließen; sein Schema ist das
einer in absteigenden Stufen erfolgenden Minderung der Gottheit.
66 4 f. Der Geist (Nus) ist nicht das Erste. Denn er enthält die (Platoni-
schen) Ideen in sich wie der Gattungsbegriff die Art begriffe, besitzt also eine
Vielheit, die dem Urwesen nicht anhaften darf. Indem der Geist die Ideen
denkt, denkt er freilich nur sich selber, aber er bleibt doch gespalten in die
Tätigkeit des Denkens und in das gedachte Objekt; das ..Eine" muß über
alle Tätigkeit hinaus sein, da diese immer den Unterschied des Subjekts und
des Objekts erfordert. — Hier lernen wir die große Lehre von der Ideenwelt
in einer dritten Gestalt kennen. Die erste, die Platonische, ist ausführlich
erläutert worden. Die zweite, die Aristotelische, versenkt die Ideen — als
substantiale Formen — in die Dinge: die Einzeldinge, die allein wirklich sein
sollen (obwohl nur das Allgemeine wißbar ist), tragen in sich ein System von
Wesenheiten. Plotin endlich verlegt die Ideen in das göttliche Denken.
67 19 f. Soviel ist demnach klar, daß dies göttliche Prinzip — das Gute
und das Einfachste (nach 66 28) — weder mit der Vielfältigkeit des Seienden
identisch noch ein Teil des Weltganzen sein soll. Man wird etwa sagen dürfen,
daß von dem Ureinen Kraftwirkungen ausgehen, die seine Substanz indessen
nicht verringern. Ein Bild von schöner Deutlichkeit findet sich wenige Zeilen
später (67 27). Indessen sind jene Kraftwirkungen nicht als ein Zeitveiiauf,
sondern als ein Verhältnis des Zusammenseins aufzufassen. v
68 14. Wir würden das die Prädikatlosigkeit des Ersten nennen. Im Grunde
genommen kann gar nichts von ihm ausgesagt werden, da es das übernünftige
ist und da jedes Prädikat eine Bestimmung, eine Einschränkung bedeuten
würde. Es ist daher eine Inkonsequenz, wenn PI. das Urwesen als unendlich
und einfach, als den absoluten Grund alles- Seienden und als den Endzweck
alles Geschehens tatsächlich näher bestimmt. Zum Guten verhält sich der
Geist — das erste Überquellen der göttlichen Wirksamkeit — wie etwas, das
an einem anderen teil hat: durch Teilnahme, die aus einem Bedürfen ent-
sprungen ist, nähert er sich dem Guten und der Einheit. Indem Gott den
Geist aus sich entläßt, schafft er die Urbilder und bewegenden Kräfte der
Wirklichkeit. D e s s o i r.
VI.
Thomas von Aquino.
TTber die TTniversalien.
1. Unter den Dingen, die durch Namen bezeichnet werden, findet sich
eine dreifache Verschiedenheit. Es gibt nämHch Dinge, die ihrem ganzen
vollständigen Sein nach außerhalb der Seele existieren: so sind die voll-
ständigen Wesen, wie Mensch und Stein. Andere aber gibt es, die nichts
außerhalb der Seele haben: wie Traumbilder und das Phantasiebild b
von einer Schimäre. Andere endlich gibt es, die eine Grundlage in der
realen Welt außerhalb der Seele haben; aber die Vervollständigung
ihres Begriffes in Bezug auf das, was ihn eigentlich zu stände bringt,
geschieht erst durch die Tätigkeit der Seele: wie es klar ist bei dem
Universale. „Menschheit" ist nämUch etwas in der realen Welt, hat lo
jedoch hier nicht die Bedeutung eines Universale, da es keine vielen
gemeinsame Menschheit außerhalb der Seele gibt; sondern insofern sie
im Intellekt erfaßt wird, verbindet man mit ihr, durch die Tätigkeit des
Intellekts, die gedankhche Beziehung, nach der sie eine spezifische
Art genannt wird. is
2. Der Ausdruck ,,das abstrahierte Universale" besagt zweierlei,
nämHch die Natur eines Dinges und die Abstraktion oder Universahtät.
Die Natur selbst, für die es zufälhg ist, daß sie erkannt oder abstrahiert
wird oder die gedankliche Beziehung der Universalität bekommt, exi-
stiert nur in den Singularien; aber gerade dasjenige, worin ihr Erkannt- 20
werden oder Ab strahiert werden oder die gedankliche Beziehung der
Universalität besteht, das ist im Intellekt vorhanden. Das können wir
an einem ähnlichen Beispiel beim Sinnesvermögen sehen. Der Gesichts-
sinn sieht nämlich die Farbe des Apfels ohne den Geruch desselben.
Wenn man also fragt, wo die Farbe ist, die ohne den Geruch gesehen 25
wird, so ist es offenbar, daß die Farbe, die gesehen wird, nur in dem
Apfel existiert. Aber daß sie ohne den Geruch gesehen wird, das kommt
ihr zufällig zu auf Grund des Gesichtssinnes, insofern nämlich, als im
Gesichtssinn ein Eindruck vorhanden ist, welcher der Farbe, aber nicht
über die Universalien. 73
dem Geruch ähnlich ist. In ähnHcher Weise existiert die Menschheit,
die begriff Hch erkannt wird, nur in diesem oder in jenem Menschen;
aber daß die Menschheit ohne ihre individuellen Beschaffenheiten er-
faßt wird — und gerade darin besteht das Abstrahiertwerden, auf das
5 die gedankUche Beziehung der Universahtät folgt — , das kommt der
Menschheit zufälHg zu, insofern sie von einem Intellekt wahrgenommen
wird, in dem ein Abbild von der spezifischen Art und nicht von den
indi\äduellen Prinzipien vorhanden ist.
3. Das Universale kann in zweifacher Weise genommen werden.
10 Einmal als die allgemeine Natur selbst, wie sie der gedank-
üchen Beziehung der Universahtät zu Grunde Hegt; das andere Mal
als diese gedankliche Beziehung selbst : gerade so wie ,, das
Weiße" dasjenige Ding bezeichnen kann, dem es zufälhg zukommt
weiß gefärbt zu sein, oder den weißen Gegenstand als Träger der
15 weißen Farbe. Die Natur selbst, der die gedankhche Beziehung
der Universahtät zufällt, zum Beispiel die Natur des Menschen, hat aber
ein zweifaches Sein : das eine ist ein materielles, insofern es in dem natür-
hchen Stoffe liegt; das andere dagegen ist immateriell, insofern es im
Intellekt vorhanden ist. Im ersten Falle kann die gedankliche Beziehung
20 der Universahtät nicht zur Natur eines Dinges hinzukommen, weil die
letztere durch die Stofflichkeit individuahsiert wird. Die universale
Beziehung kommt also erst dadurch hinzu, daß die Natur von dem in-
dividuellen Stoffe abstrahiert wird. Sie kann aber nicht real von dem
individuellen Stoffe abstrahiert werden, wie es die Platoniker annahmen.
25 Der Mensch existiert nämhch nur in d i e s e m Fleisch und in d i e s e n
Knochen, wie der Philosoph (Aristoteles) im siebenten Buch der „Meta-
physik" beweist. Es bleibt also nur übrig, daß die menschHche Natur
kein anderes Sein hat außerhalb ihrer individuahsierenden Prinzipien,
als im Intellekt allein. Jedoch ist der Intellekt nicht deshalb falsch,
30 weil er eine allgemeine Natur erfaßt ohne ihre individuahsierenden
Prinzipien, ohne die sie in der realen Welt nicht existieren kann; denn
der Intellekt macht nicht die Wahrnehmung, daß eine allgemeine Natur
ohne individuahsierende Prinzipien existiert; sondern er erfaßt eine all-
gemeine Natur, ohne ihre individuahsierenden Prinzipien mitzuerf assen ;
35 und das ist nichts Falsches. Ebenso wäre die gedankhche Wahrnehmung
eine falsche, wenn man von einem weißen Menschen die weiße Farbe
so trennen wollte, daß der Intellekt die Einsicht gewinnt: jener Mensch
ist nicht weiß. Wenn man aber die weiße Farbe von dem weißen Menschen
nur so trennt, daß der Mensch begriffhch wahrgenommen würde, ohne
40 daß dabei die weiße Farbe begrifflich mit wahrgenommen ist, so wäre
die Wahrnehmung keine falsche; es ist nämhch zur Wahrheit der be-
Thomas von Aquino.
griffliclien Wahrnehmung nicht erforderlich, daß derjenige, der ein
Ding wahrnimmt, alle Merkmale wahrnimmt, die in dem Ding ent-
halten sind. So also abstrahiert der Intellekt ohne Unrichtigkeit die
Gattung von den Arten, insofern er die Natur der Gattung erkennt,
ohne die (spezifischen) Unterschiede zu erkennen. Und in ähnhcher 5
Weise abstrahiert er die Art von den Individuen, insofern er die Natur
der Art erkennt, ohne die individualisierenden Prinzipien zu erkennen.
So also ist es klar, daß man einer allgemeinen Natur die gedankliche
Beziehung der Universalität nicht beilegen kann, außer nach dem Sein,
das diese Natur in der Seele und im Intellekt besitzt. So allein ist sie lo
also Eins, was von vielen ausgesagt werden kann, insofern sie ohne die
individualisierenden Prinzipien gedacht wird; oder Eins, was in vielen
vorkommen kann, nämlich in den Individuen oder den unter ihr ent-
haltenen Dingen, die in dem Höheren Eins sind. Darum bleibt nur
übrig, daß die Universalien als solche nur in der Seele da sind; die Naturen i5
selbst aber, zu denen die gedankliche Beziehung der Universalität
hinzutritt, existieren in der realen Welt. Und deswegen werden die
allgemeinen Namen, welche die Naturen selbst bezeichnen, von den
Individuen ausgesagt, nicht aber diejenigen Namen, welche zur Be-
zeichnung der gedanklichen Beziehungen dienen: Sokrates nämlich ist 20
ein Mensch, aber nicht eine Art.
4. Was vielen gemeinsam ist, das existiert nicht als etwas außerhalb
dieser vielen, sondern im bloßen Gedanken: zum Beispiel „Tier" ist
nicht etwas anderes als Sokrates und Plato und alle die übrigen tierischen
Wesen, sondern es i s t nur durch den Intellekt, der die Wesensform des 25
Tieres als entblößt von allen individualisierenden und artbestimmenden
Merkmalen wahrnimmt. Mensch ist nämlich dasjenige, was wahrhaft
ein tierisches Wesen ist: sonst würde folgen, daß in Sokrates und Plato
mehrere Tierheiten wären, nämlich das allgemeine Tier und der allge-
meine Mensch und Plato selbst. Noch viel weniger ist also ,.das Sein 30
im allgemeinen" etwas außerhalb aller existierenden Dinge, sondern
es ist nur im Intellekt allein.
5. Es kann aber eingewendet werden, daß dieser Name „Sokrates"
oder ,, Plato" dazu bestimmt ist, von mehreren prädikativ ausgesagt
zu werden; w^eil kein Grund verbietet, daß es viele gibt, die mit diesem 35
Namen gerufen werden. Aber darauf ist dife Antwort klar, wenn man auf
die Worte des Aristoteles aufmerksam achten will. Er selbst teilte näm-
lich nicht die Namen ein in das Universale und Partikuläre, sondern
die Dinge. Und deshalb muß man einsehen, daß etwas nicht nur
dann ein Universale genannt wird, wann der Name von mehreren als 40
Prädikat ausgesagt werden kann; sondern auch dann, wann das, was
über die Uni Versalien. 75
durch den Namen bezeichnet wird, seiner Natur nach dazu bestimmt
ist, in mehreren gefunden zu werden : das trifft aber bei den vorgenannten
Namen nicht zu; denn dieser Name „Sokrates'' oder ,, Plato"' bezeichnet
die menschhche Natur gemäß ihrem Dasein in d i e s e r Materie. Wenn
5 aber dieser Name einem anderen Menschen beigelegt würde, so wird er
etwas anderes bezeichnen, und deshalb wäre er nicht universal, sondern
mehrdeutig.
Weil immer etwas von etwas ausgesagt wird, von den Dingen jedoch
einige Uni versahen sind, andere aber Singularien, so ist es notwendig,
10 daß manchmal ausgesagt wird, etwas sei in irgend einem der Univer-
salien, oder es sei nicht darin, manchmal aber, es sei in irgend einem der
Singularien. Es ist aber zu betrachten, daß von einem Universale etw^as
in vierfacher Weise ausgesagt wird. Denn das Universale kann einmal
betrachtet werden, wie wenn es getrennt wäre von den Singularien —
15 sei es als etwas für sich Bestehendes, wie Plato behauptete, sei es gemäß
der Lehrentscheidung des Aristoteles nach dem Sein, welches es im In-
tellekt hat. Und so kann ihm ein Attribut (Prädikat) beigelegt werden
in dreifacher Weise. Manchmal nämlich wird ihm, wenn es so betrachtet
ist, etwas beigelegt, was zur bloßen Innentätigkeit des Intellekts ge-
^0 hört; \\4e wenn man sagt: dies ist prädikativ aussagbar von vielen, sei
es ein Universale oder eine Art. Derartige Gedankengebilde formt
nämUch der Intellekt, indem er sie einer erkannten Natur beilegt, in-
sofern er dieselbe mit den Dingen vergleicht, welche außerhalb der Seele
da sind. Manchmal dagegen legt man dem so betrachteten Universale
25 ein Prädikat bei, weil der Intellekt das Universale als eine Einheit,
als Eines erfaßt hat; jedoch betrifft dann dasjenige, was ihm beigelegt
wird, nicht den Akt des Intellekts, sondern das Sein, das die erfaßte
Natur in den Dingen hat, die außerhalb der Seele da sind, wie zum Bei-
spiel wenn man sagt: der Mensch ist das edelste der Geschöpfe. Dies
30 kommt nämlich der menschhchen Natur zu auch gemäß ihrem Dasein
in den Singularien. Denn jeder behebige einzelne Mensch ist edler als
alle unvernünftigen Geschöpfe. Aber dennoch sind alle einzelnen
Menschen nicht der eine Mensch außerhalb der Seele, sondern nur in
der Auffassung des Intellekts: und auf diese Weise wird ihm das Prädi-
35 kat beigelegt, nämUch als eine m Dinge. Das andere Mal aber wird
etwas dem Universale so beigelegt, wie es in den Singularien ist, und das
in zweifacher Weise. Manchmal nämlich auf Grund der universalen
Natur selbst; \vie zum Beispiel wenn ihm etwas beigelegt wird, was zu
seiner Wesenheit gehört, oder was auf die wesentlichen Prinzipien folgt:
40 wie wenn man sagt, der Mensch ist ein tierisches Wesen oder lachfähig.
Manchmal aber wird ihm etwas beigelegt auf Grund des Singularen,
76 Thomas von Aquino.
in welchem es sich vorfindet; zum Beispiel wenn ihm etwas beigelegt
wird, was zur Tätigkeit des Individuums gehört: wie wenn man sagt,
der Mensch wandelt umher. Dem Singularen aber wird etwas in drei-
facher Weise beigelegt. Einmal danach, daß es unter die Wahrnehmung
fällt: wie wenn man sagt, Sokrates ist etwas Singulares oder prädikativ 5
aussagbar von einem allein. Manchmal aber auf Grund der gemeinsamen
Natur: wie wenn man sagt, Sokrates ist ein tierisches Wesen. Manch-
mal aber auf Grund seiner selbst: wie wenn man sagt, Sokrates wandelt
nmher. Auf ebensoviele Weisen werden auch die verneinenden Aus-
sagen variiert; weil alles, was mögUcherweise bejaht werden kann, 10
möghcherweise auch verneint werden kann.
Thomas von Aquino (c. 1225 — 1274), der Fürst der Scholastik, hat den
Widerstand seiner Zeit gegen den Aristotelismus endgültig gebrochen und
mit pietätvoller Berücksichtigung des Piatonismus und der von Augustinus
zusammengefaßten patristischen Philosophie ein einheitlich abgeschlossenes,
großartiges System der Philosophie geschaffen, welches den Anspruch auf
eine universelle theistische (theomonarchische) Weltanschauung erhebt. Er
gebrauchte es als Unterbau für die christlich-theologische Spekulation, die
er jedoch von der Philosophie selbst nach Gegenstand, Erkenntnisquelle und
Methode scharf unterschieden wissen woUte. In seiner Philosophie geht er
von der Analyse der gesamten Erfahrung aus und erhebt sich zu den höchsten
und einfachsten Grundsätzen. Indem er jede Bildersprache verschmähte,
gelang es ihm, seine Beweisführung von der analogen Bedeutung des Seins-
begriffes aus in einer ununterbrochenen Kette von Vernunftschlüssen kon-
sequent durchzuführen. (Vergleiche Reginaldus, Doctrinae D. Thomae tria
principia cum suis consequentiis. Tolosae 1675, Paris 1878.) In vielen Fragen
hat er Aristoteles verbessert und dessen Gedanken wesentUch erweitert, dabei
auch aus arabischen wie jüdischen Philosophen wertvolles Material aufge-
nommen, das er seinem System harmonisch einzuweben verstand. Eucken
nennt ihn ein architektonisches Talent, Dilthey rühmt ihn als den weisesten
aller Vermittler; unter den Scholastikern ist er unstreitig der größte. So hat
er die Gegenströmungen innerhalb der Scholastik (Scotismus und Nominalismus)
siegreich überwunden, in den Schulen des Mittelalters die Herrschaft errungen
und sie bis zur Renaissance ausschließlich behauptet. Auch später besaß seine
Philosophie eine ununterbrochene Schule, die im 16. und 17. Jahrhundert
eine zweite Blüte und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen neuen Auf-
schwung erlebt hat. Da er die Philosophie meist nur als Hilfsmittel seiner
theologischen Untersuchungen verwendete, so hat er sie nur in den Kommen-
taren zu Aristoteles und in einigen kleineren Monographien systematisch be-
handelt. Man ist daher genötigt, den philosophischen Stoff aus der Gesamt-
heit seiner Werke zusammenzutragen.
Die Literaturangaben findet man am besten bei Mausbach im Kirchen-
lexikon, 2. Auflage, Freiburg 1899, XI, S. 1626 ff. Vergleiche Überweg-Heinze,
Erläuterungen. 77
n, 9. Auflage, Berlin 1905, S. 294 ff. ; Wulf, Histoire de la philosophie medievale,
Louvain 1900, Nr. 266 — 282; Willmann, Gesch. des Idealismus, II, Braun-
schweig 1896, S. 442 — 541 ; Eucken, Thomas von Aquino und Kant, Berlin
1901 ; Commer, Die immerwährende Philosophie, Wien 1899.
Die kritische Untersuchung über seine Werke ruht noch immer auf De
Rubels, De gestis et scriptis ac doctrina D. Thomae Aq., Venetiis 1790. Vergleiche
Denifle, Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mttelalters, II, 1886,
S. 237. — Gesamtausgaben (Mausbach S. 1639): Rom 1570/71, 18 vol. Venedig
1593/94. Antwerpen 1612. Paris 1636—41. Parma 1852—73, 25 Bde. in Fol.
(nach dieser Ausgabe zitieren wir, wo Band und Seite angegeben sind), Paris
1871 — 82,34 vol. Eine neue krit. Ausgabe: Rom 1882, bis jetzt 9 Bde. (darin
auch De Rubels abgedruckt). — Für die Philosophie kommen in Betracht:
Kommentare zu Aristoteles Perihermenias, Analyt. post., de coelo et mundo,
de gener. et corrupt., meteor., de anima, parva naturalia, Metaph., Ethic, Politic.
Kommentare zum liber de causis, zu den areopagitischen Schriften und zu
Boetius. Ferner Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, Summa
contra gentües {S. philosophica) , Summa theologica (deutsche Übersetzung von
C. M. Schneider, Regensburg, 1886, 9 Bde.), — die beiden letzteren sind die
reifsten Werke. Eingehendere philosophische Untersuchungen enthalten die
Quaestiones disputatae und Quodliheta. Endlich Opuscula : de ente et essentia,
Compendium theologiae (deutsch mit Anmerk. von Abert, Würzburg 1896),
de differentia divini verhi et hum^ni, de natura verbi intellectus, de suhstantiis
separatis, de unitate intellectus contra Averroistas (die vier letzteren erkenntnis-
theoretisch), de regimine principum (soziologisch; echt nur lib. 1 und lib. 2
cap. 1 — 4), de aeternitate mundi contra murmurantes, de natura materiae, de
mistione elementorum, de pluralitate formarum, de quo et quod est, u. a. m.
Wegen der präzisen, aber für uns fremdartigen Terminologie setzt das
Studium seiner Philosophie am besten ein bei den logischen Schriften. Zur
Orientierung dient das 1. Buch Perihermenias. Für die Naturphilosophie und
Psychologie beginnt man mit der summarischen Darstellung in den beiden
Summen und zieht dann einige Opuscula zu Rate; darauf die Aristoteles-
kommentare und zuletzt die betreffenden Stellen aus den übrigen Werken.
Für die Metaphysik empfiehlt es sich, mit dem wichtigen Op. de ente et essentia
zu beginnen. Als Hilfsmittel kann das Thomas-Lexikon von Schütz, 2. Auflage,
Paderborn 1895, gebraucht werden; besser noch das Lexicon peripateticum von
Signoriello, Neapoli 1854, besonders die 2., vermehrte Auflage, 1872. Den
größten Nutzen gewährt indes die als Konkordanz angelegte Tabula aurea
von Petrus von Bergomo (Bologna 1473/75 und öfter, ein Auszug daraus in
der edit. Parm. vol. 25), worin die Stellen aus allen Werken nach Materien
systematisch und vollständig angezeigt und scheinbare Widersprüche gehoben
sind. Zu gründlichem Studium sind jedoch die größeren Kommentare nicht
zu entbehren: zu den logischen Schriften von ZigÜara (in der neuen röm. Aus-
gabe), zur Summa theol. von Cajetanus (ebenda), zur Summa philosophica
von Sylvester Ferrariensis. Ferner folgende Werke: Johannes Capreolus,
Defensiones theologiae D. Thomae, Venetiis 1483, 1589; Turonibus (Tours) 1900.
78 Thomas von Aquino.
Joannes a. S. Thema (Poinsot), Cursus 'philosophicus tJiomisticus, Romae 163ß,
Paris 1883. Philippus a SS. Trinitate (Esprit Julien), Summa philosophica . . .
Lugduni 1648. Endlich die Zeitschriften: Divus Tliomas, Piacenza 1879 ff.,
Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, Paderborn 1886 ff. ;
Revue Thomiste, Paris 1893 ff.
1. Die erste Stelle ist aus dem Kommentar genommen, welchen Thomas
zu den Sentenzen büchern des Petrus Lombardus (f c. 1160) in den Jahren
1252 — 57 geschrieben hat: Sentent. Hb. 1 distinctio 19 quaestio 5 articulus 1 {edit.
Parm. vol. 6 p. 167). Von der äußeren und inneren Erfahrung ausgehend,
teilt er den Erfahrungsinhalt, die Dinge (das heißt alles, M^as irgendwie außer-
halb des Nichts ist) so ein: 1. in dasjenige, was unabhängig von unserem
Denken in der x4.ußenwelt vollständig existiert; 2. in dasjenige, was als Vor-
stellungsinhalt nur in der Seele vorhanden ist; 3. in dasjenige, wovon wir
uns eine innere Vorstellung, aber nicht willkürlich, sondern auf einer in der
äußeren Welt vorgefundenen sachlichen Grundlage durch das Denken bilden.
Zur letzteren Klasse gehören auch die sogenannten Uni versahen oder Aligeniein-
begriffe, die auch Ideen heißen und von den Sammelbegriffen verschieden
sind. Thomas definiert das Universale, das heißt den objektiven Inhalt dieser
Allgemeinbegriffe, im Gegensatz zu den Singularien, den Einzeldingen, mit
Aristoteles vom logisch-grammatischen Standpunkte zuerst so {Perihermenias
Hb. l lectio 10, v. 18 p. 21): „Das Universale ist dasjenige, was seiner Natur
nach geeignet ist, von mehreren Einzeldingen (Individuen) als Prädikat aus-
gesagt zu werden." Zum Beispiel Mensch = menschliche Natur = Mensch-
heit in dem Satze: dieses bestimmte Einzelwesen (Plato) ist ein Mensch = einer,
der die menschliche Natur hat. „Das Singulare dagegen ist das, was seiner
Natur nach nicht geeignet ist, von mehreren ausgesagt zu werden, sondern
nur von einem allein." Das Universale ist als solches {unum versus alia) in
seiner Allgemeinheit, nämlich mit der gedanklichen Beziehung auf mehrere
Einzelwesen, ein Produkt unseres Denkens: wir bilden aber diese Vorstellung
(den Begriff) in der Seele auf realer Grundlage, aus der Erfahrung von der
wirklichen Welt. Das Universale ist also kein bloßer Sammelname, der mehrere
Einzeldinge nur zusammen bezeichnet (wie das Wort „Heer" viele Soldaten
zusammenfaßt). Es ist auch keine bloß subjektive Vorstellung; sondern ihm
entspricht tatsächlich etwas in der wirklichen Welt außerhalb unserer Ge-
danken. Denn sonst wäre die logische Aussage falsch, in welcher wir „Mensch"
sowohl von jedem einzelnen für sich, wie von allen zusammen aussagen. Darum
ward das Universale noch genauer so definiert: dasjenige, was seiner Natur
(innersten Beschaffenheit) nach geeignet ist, in mehreren zu sein und deshalb
auch von ihnen im eindeutigen Sinne ausgesagt zu werden. Vergleiche Sum.
theol P. I qu. 13 art. 9 (v. 1 p. 55).
72 15. Da aber etwas in mehrfacher Weise geeignet sein kann, in mehreren
zu sein und von ihnen ausgesagt zu werden, so werden die Universalien von
Aristoteles und Thomas in fünf oberste Klassen eingeteilt: Qa.t.tung (genus),
^j^iSU^ispecies), artbildender Unterschied, logische Eigenschaft und logisches
Accidens. Vergleiche Op. de ente et essentia cap. 3 (v. 16 p. 331 sqq). So be-
Erläuterungen. 79
zeichnet ..Mensch" die allen Einzelmenschen gemeinsame gleiche Natur nach
der Vollständigkeit ihrer Merkmale als die alle Einzelmenschen umfassende
(spezifische) Art. ..Tier'' dagegen (= Tiernatur, Tierheit = ein mit Sinnes-
kräften begabter lebendiger organischer Körper) bezeichnet dasjenige, was
vielen Arten (nämlich dem Menschen und den Arten der vernunftlosen Tiere)
gemeinsam ist als Gattung, welche das Wesen der einzelnen Menschen und
Tiere nur unvollständig rri-drückt. Endlich bezeichnet .^mit Vernunft begabt
sein" den art bildenden l. r.terschied, welcher den Gattungsbegrifit Tier zum
Artbegriff Mensch verengt und genau bestimmt. Vergleiche Anal. post. lih. 2
lect. 13—15 (v. 18 p. 209 sqq.).
2. Die zweite Stelle ist aus der zw, 1255—1273 verfaßten Summa theol. :
P. L qu. 85 a.2 ad2 (v. 1 p. 338). Sie erklärt, wie der Intellekt, das heißt
das geistige Denk- oder Erkenntnisvermögen (= Vernunft und Verstand),
welches tiefer als die Sinneswahrnehmung in das innerste Sein der Dinge hinein-
dringt {inielligere = intus legere : Sum. theol. P. II, 2 qu. 8 art. 1 ; v. 3 p. 30),
sich die Universalvorstellung bildet. Dies geschieht durch eine Art von Ab-
straktion, das heißt durch das gedankliche Herausziehen (abs-trahere) der
Merkmale, die vielen Dingen gemeinsam sind. Das ist aber nichts anderes als
diejenige gedankliche Betrachtung eines Dinges, bei welcher man von den-
jenigen Merkmalen absieht, die diesem Dinge ganz allein zukommen. Ver-
gleiche Sum. theol. I qu. 13 a. 9 (v. 1 p. 55). Über den zweifachen Sinn von
Abstraktion: Sum. theol. 1 qu. 85 a. 1 ad 1, ad 4, ad 5 (v. 1 p. 337); Opuscul.
de suhstantiis separat is (v. 16 p. 184); Metaph. lih. 7 lect. 13 § Universale
dupliciter (v. 20 p. 498).
73 8. Mit dem Worte ..Mensch" bezeichnet man die Summe der Merk-
male, die allen Einzel menschen gemeinsam sind. Individuelle Merkmale sind
dagegen diejenigen, welche in ihrer Gesamtheit nur einem bestimmten einzelnen
Menschen im Unterschied von allen anderen Menschen zukommen: zum Bei-
spiel seine bestimmte Größe, Farbe, Abstammung, Geburtsort und -zeit. In-
dividuelle Prinzipien heißen die sachlichen Gründe und Ursachen für diese
Merkmale: sie entspringen aus dem stofflichen Element, woraus der Mensch
besteht. Vergleiche Sum. theol. P. I. qu. 3 art. 3 (v. 1 p. 11).
3. Die dritte Stelle ist aus dem Opusculum de sensu respectu sensibilium
et intellectu respectu universalium (v. 17 p. 118). Sie führt die Lehre von den
Universalien durch eine Unterscheidung weiter aus, wobei auch die Bedeutung
der Abstraktion noch mehr hervortritt. Th. unterscheidet eine doppelte Be-
trachtung einer universalen Natur. Wir kömien sie 1. absolut für sich betrach-
ten, nachdem ^^-ir sie einmal aus den Dingen", in welchen sie vorkommt, durch
das Denken herausgeschält haben: so betrachtet, hat sie noch nicht die Be-
ziehung zu vielen, die Universalität, sondern existiert real nur in den Einzel-
dingen. Wir können sie aber 2. durch Vergleichung mit vielen Einzeldingen,
in denen sie vorkommt, zur gedanklichen Allgemeinheit erheben: und so auf-
gefaßt, mit der Beziehung der Allgemeinheit, existiert sie nicht real, sondern
nm* als Gedanke in der Seele. Die späteren Scholastiker nannten das Univer-
sale, was absolut für sich gedacht wird, das Universale metaphysicum, da-
80 Thomas von Aquino.
gegen das mit der Beziehung der Allgemeinheit gedachte das Universale logicum.
Th. zeigt in dieser Stelle die logische Berechtigung zu einer solchen Unter-
scheidung, die auch bei Avicenna vorkommt. Eine noch tiefere Ausführung
dieser Lehre gibt besonders das zwischen 1245 und 1248 verfaßte Opusculum
de erUe et essentia cap. 4 (v. 16 p. 333), zu welchem Cajetanus (Thomas de Vio,
t 1534) einen berühmten Kommentar schrieb {Opuscula, Lugduni 1588), ferner
Metaph. lib. 7 lect. 13 (v. 20 p. 498) und Quodlibetum 8 art. 1 (v. 9 p. 571).
Das Resultat der Untersuchung über die Universalien, welche Thomas geführt
hat, ist kurz und klar in dem Opuscul. de natura generis c. 7 (v. 17 p. 8; unsere
Stelle auf p. 12) ausgesprochen, dessen Echtheit jedoch von einigen (Wulf
a. a. 0. p. 261) bezweifelt wird: „Eine Natur, von der man die gedankliche
Beziehung der Allgemeinheit wegdenkt, läßt pine dreifache Betrachtung zu.
1. Man kann sie einmal absolut an sich betrachten, und so kommt ihr kein
anderes Prädikat zu als das allein, was zu ihrem Begriff gehört. So gehört
beispielsweise zum Begriffe , Tierwesen' ein beseelter (belebter) und mit Sinnes-
kräften begabter Körper; denn alles andere kann dem Tierwesen an sich in
dieser absoluten Betrachtung nur fälschlich beigelegt werden, zum Beispiel,
daß es weiß oder musikalisch ist oder etwas anderes dergleichen. 2. In anderer
Weise kann diese Natur so betrachtet werden, wie sie in ein Einzelwesen ihrer
Gattung aufgenommen ist ; und so aufgefaßt wird noch die Wesensbeschaffen-
heit in ihr liegen, die absolut zu ihrem Begriffe gehört. ,Das Tierwesen' näm-
lich, das Sokrates ist, ist eine beseelte und mit Sinneskräften begabte Substanz.
Aber wenn diese Natur in mehrere Individuen aufgenommen wird, so ver-
vielfältigt sich notwendigerweise sowohl die Natur selbst wie ihr Begriff:
Sokrates und Plato nämlich sind zwei tierische Wesen und zwei beseelte und
mit Sinneskräften begabte Substanzen. Obwohl nun in der Natur des Tier-
wesens keine Einzigkeit oder Mehrheit liegt, indem diese Natur von selbst
dazu geeignet ist , in e i n Individuum oder in mehrere aufgenommen zu
vs^erden, da sie ja tatsächlich in eins und in mehrere aufgenommen werden
kann, — so liegt doch eine gewisse Einheit in der Natur selbst, wenn man sie
absolut auffaßt, weil offenbar ihre Definition nur eine und ihr Name nur einer
ist. 3. Auf eine dritte Weise kann man diese Natur betrachten, so wie sie in
der denkenden Seele ist. Und weil alles, was in der Seele ist, von jeder mate-
riellen Teilung und Verschiedenheit losgelöst ist, so legt man dieser Natur
auf Grund der Einförmigkeit, die sie in allen Individuen hat, die Bedeutung
eines Universale bei, das ,eins in vielen' ist. Und deswegen wird diese Natur
(als logischer Allgemeinbegriff aufgefaßt) in den unter ihr enthaltenen Gliedern
nicht vervielfältigt." Zu dieser Dreiteilung in Universale metaphysicum,
Singulare und Universale logicum vergleiche die für unecht gehaltenen Opuscula
de universalibus (v. 17 p. 128 sqq.) und de Logicae Aristotelis Summa (v. 17
p. 54), die jedoch aus echten Stellen zusammengesetzt sind. Für die weitere
Erklärung und Fortbildung der Lehre vergleiche Commer, Logik, Paderborn
1897, S. 52— 84.
4. Die vierte Stelle ist aus der zwischen 1261 und 1264 verfaßten Summa
philosophica, lib. 1 cap. 26 § Adhuc, und enthält eine kurze, aber schlagende
Erläuterungen. gl
Widerlegung des übertriebenen Realismus der Platoniker mittels einer, schon
von Aristoteles angewandten Beweisführung, welcher Th. jedoch noch eine
besondere Anwendung hinzufügt. Nach der Platonischen Ansicht existieren
die Universalien als selbständige Wesen für sich außerhalb der nach ihnen
benannten realen Dinge. Weil aber jeder einzelne Mensch einige Merkmale
besitzt, die zusammen die allgemeine Natur des Menschen ausmachen und den
Artbegriff „Mensch" bilden, und weil ferner der Mensch in seiner allgemeinen
Natur wiederum etwas mit allen tierischen Wesen gemein hat, so ist „ tierisches
Wesen" der Gattungsbegriff, unter welchem die (spezifische) Art „Mensch"
enthalten ist: und unter letztere fallen die einzelnen Menschen als Individuen
einer und derselben Art. Nach der Ansicht der Realisten ist aber der Einzel-
mensch (zum Beispiel Plato) ebenso real wie die Art, zu der er gehört, nämlich
„Mensch im allgemeinen", und wie die darüber stehende Gattung, nämlich
„tierisches Wesen" oder „Tier im allgemeinen". Demgemäß müßten in jedem
Einzelmenschen er selbst als Individuum und außerdem noch „Mensch im all-
gemeinen" und „Tier im allgemeinen" voneinander getrennt enthalten sein,
also drei reale Wesen, was doch absurd erscheint, weil es die erfahrungsmäßige
und natürliche Einheit des Menschen aufheben würde. Th. wendet aber hier
diesen Beweis zur Widerlegung des pantheistischen ReaUsmus des Amalrich
von Bena (f 1209) an. Letzterer behauptete, das Sein, was sich in jedem
Dinge vorfindet, existiere selbständig für sich als das allgemeine Sein und identi-
fizierte es mit Gott. Th. beweist aber, daß „das Sein im allgemeinen", in dieser
Allgemeinheit aufgefaßt, die übrigen Uni versahen noch überragt, weil es von
jedem Individuum, von jeder Art und von jeder Gattung ausgesagt werden
kann; deshalb ist es nichts Reales, sondern nur die höchste gedankHche Ver-
allgemeinerung, die nicht mit Gott identifiziert werden kann, wenn man am
realen Dasein Gottes festhält. Vergleiche Sum. pMlos. Hb. 1 cap. 25 (v. 5 p. 21).
Die ausführhche Widerlegung des Platonischen Realismus und die ein-
gehende Begründung der AristoteUschen Ansicht findet man an folgenden
Stellen: Metaph. Hb. 1 ha. 14 et 15 (v. 20 p. 278 sqq.); lect. 10 (v. 20 p. 274 sqq.),
besonders § Patet autem diligenter intuenti (p. 275) ; Sum. theol. P. I. qu. 84
art. 1 (v. 1 p. 329).
74 23. „Tier" bezeichnet als Universale einen lebendigen oder (was bei
Th. dasselbe besagt) einen beseelten organischen Körper, der mit Sinneskräften
begabt ist.
74 25. Die Wesensform {forma) eines Dinges ist dasjenige Seinselement
oder derjenige Wirklichkeitsfaktor {actus) in dem Dinge, durch dessen Vor-
handensein in dem Ding das letztere seine innerste, wesentliche Seins beschaffen-
heit {essentiä) empfängt und sich wesentHch (das heißt nicht dem realen Da-
sein nach, sondern seiner ganzen innersten Beschaffenheit nach) von jeder
anderen Klasse von Dingen spezifisch unterscheidet.
5. Die letzte Stelle findet sich in dem zwischen 1269 und 1271 geschriebenen
Kommentar zur Aristotelesschrift de interpretatione: Perihermenias lib. 1 lect. 10
(v. 18 p. 22). Th. entwickelt hier im engsten Anschluß an den griechischen
Philosophen die logische Lehre von den Universalien an der Betrachtung des
Dessoir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 6
82 Thomas von Aquino.
grammatischen Satzes und der logischen Aussage. Die Stelle enthält zuerst
(74 33 — 75 8) die Lösung eines Einwandes gegen die Definition des Univer-
sale (vergleiche 75 21) und darauf (75 12 ff.) die Darstellung der mehrfachen
logischen Aussagemöglichkeit der Universalien (siehe die Thomasstellen darüber
bei Commer, Logik S. 149 ff.). Man kann aus dieser Stelle die Methode kennen
lernen, welche Th. bei der Aristoteleserklärung befolgt. Er benützte dabei
nicht die arabischen Übersetzungen, sondern griechisch-lateinische und ließ
dazu selbst durch Wilhelm von Mörbeke (f 1300) in der Zeit zwischen 1260
und 1270) eine wortgetreue Übersetzung aus dem Urtext herstellen; den ge-
reinigten Text erklärt er in streng objektiver Weise, indem er den wörtHchen
Sinn und den Zusammenhang der Gedanken festzustellen sucht.
Commer.
YII.
Meister Eckhart.
Von der Liebe.
Du könntest sagen: ,,Wo]il! Herr, Ihr meinet immer, es sollte ein-
mal dazu kommen, daß diese Geburt in mir geschehe, der Sohn in mir
geboren werde. Nun denn, kann ich dafür ein Zeichen haben, woran
ich zu erkennen vermag, daß es geschehen ist?"
Ja gewiß, untrügliche Zeichen gibt es wohl drei. Nur eins davon will
ich für jetzt kundtun. Man fragt mich oft, ob der Mensch dahin gelangen
könne, daß er nicht mehr gehindert werde durch Zeit, Vielheit und
Materie. Ja und abermals ja! Wenn diese Geburt in der Wahrheit ge-
schieht, dann vermögen dich alle Kreaturen nicht zu hindern, vielmehr
leiten sie alle dich zu Gott und zu dieser Geburt. Dafür finden wir ein
Gleichnis am Bhtz. Was auch immer der Bhtz beim Einschlagen trifft,
sei es Baum oder Tier oder Mensch, das kehrt er durch den Schlag
zu sich hin; und hätte ein Mensch den Eücken hingekehrt, allsogleich
wirft er ihn mit dem AntUtz herum. Und hat ein Baum tausend Blätter,
die drehen sich alle herum, mit der vorderen Fläche dem Schlage ent-
gegen. Siehe, ebenso geschieht es allen denen, die von dieser Geburt
getroffen werden: aufs schnellste werden sie dieser Geburt zugewendetv
in allem, was zeitUch in ihnen vorhanden ist, mag es noch so irdisch grob
sein. Ja, was dir vorher ein Hinderm".s war, das fördert dich jetzt aller-
orten. So vöUig wird das AntHtz dieser Geburt zugekehrt: was immer
du auch siehst und hörst, du vermagst in allem immer nur diese Geburt
entgegenzunehmen, alle Dinge werden dir schlechthin zu Gott, denn in
allen Dingen hast du nur rein noch Gott im Auge. Gerade wie wenn ein
Mensch lange in die Sonne bhckt — aus allem, was er nachher ansieht,
leuchtet ihm die Sonne entgegen. Wo dir das mangelt, daß du nicht in
allem und jedem Gott suchst und im Auge hast, da mangelt dir diese
Geburt.
Du könntest nun fragen: „Soll sich der Mensch, der so weit gelangt
84 Meister Eckhart.
ist, noch in Bußwerken üben, oder versäumt er etwas, wenn er es nicht
tut?" Gib acht! Alle Übung in Büß werken ist neben anderen Ursachen
darum erfunden worden — das Fasten, "Wachen, Beten, Knieen, Kasteien,
härenes Gewand tragen, auf hartem Lager liegen und was es sonst noch gibt
— das ist alles darum erdacht worden, weil der Leib und das Fleisch sich 5
jederzeit dem Geist entgegenstellen: der Leib ist ihm gar oft zu stark,
geradezu ein Krieg herrscht allerwegen zwischen ihnen, ein ewiger Streit.
Der Leib ist hier stark und kühn, denn er ist hier daheim, die Welt
hilft ihm, das Erdreich ist sein Vaterland, ihm helfen hier all seine Ver-
wandten: die Speise, der Trank, das Wohlleben. Das alles ist wider den lo
Geist. Der Geist ist hier in der Fremde — im Himmel hat er alle seine
Verwandten und sein ganzes Geschlecht : dort ist er an Freunden reich.
Um nun dem Geist in dieser Verlassenheit zu Hilfe zu kommen und dem
Leib etwas Abbruch zu tun in diesem Streite, damit er nicht über den
Geist siege, darum legt man ihm den Zaum der Bußübungen an und is
drückt ihn nieder, damit sich der Geist seiner erwehren könne.
Man tut das also, um ihn gefangen zu legen; willst du ihn nun tausend-
fach besser fangen und mit Ketten belasten, so lege ihm an den Zaum
der Liebe. Mit der Liebe überwindest du ihn am vollkommensten,
und mit der Liebe belastest du ihn am schwersten. Und darum lauert 20
uns Gott mit nichts anderem so auf und bedrängt uns mit nichts anderem
so wie mit der Liebe. Denn mit der Liebe ist es geradeso wie mit der
Angel des Fischers. Dem Fischer kann der Fisch nicht zu teil werden,
er hafte denn an der Angel: in dem AugenbHck, da der Fisch anbeißt,
ist der Fischer seiner sicher — wohin sich auch der Fisch dreht, hin 25
und her, der Fischer hält ihn ganz sicher. Also sage ich von der Liebe:
wer von ihr gefangen wird, der trägt das allerstärkste Band und doch eine
süße Bürde. Wer diese süße Bürde auf sich genommen hat, der erreicht
mehr und kommt damit näher zum Ziel heran als mit allen den harten
Bußübungen, die nur immer Menschen üben mögen. Er vermag auch so
mit süßer Freudigkeit alles zu ertragen und zu erleiden, was ihn befällt
und was Gott über ihn verhängt. Kein Ding macht dich Gott, noch
Gott dir so zu eigen, wie dieses süße Band. Wer diesen Weg gefunden hat,
der suche keinen anderen. Wer an dieser Angel haftet, der ist so ge-
fangen, daß Fuß und Hand, Mund, Augen und Herz und alles, was am 35
Menschen ist, alles muß Gott zu eigen sein. Und darum vermagst du
diesen Feind gar nicht besser zu überwinden, daß er dir keinen Schaden
zufüge, als mit der Liebe. Darum steht geschrieben : „ Die Liebe ist stark
wie der Tod, fest wie die Hölle. " Der Tod scheidet die Seele vom Leibe,
aber die Liebe scheidet alle Dinge von der Seele. Was nicht Gott oder 40
göttlich ist, das duldet sie um keinen Preis. Wer in diesem Netz gefangen
Wie der Wille alle Dinge vermag. 85
ist und wer auf diesem Wege wandelt, was für ein Werk er auch immer
tut: die Liebe schafft es, deren Werk ist es allein — er tue etwas oder tue
nichts, darauf kommt es nicht an. Dieses Menschen geringste Handlung
oder Beschäftigung ist für ihn selbst und alle anderen Menschen nütz-
licher und fruchtbarer und Gott wohlgefälHger als aller Menschen
Schaffen, die zwar ohne Todsünden, aber an Liebe ärmer sind. Sein
Kühen ist heilsamer als eines anderen Wirken.
Darum harre allein dieser Angel, so wirst du sehg gefangen, und je
mehr gefangen, je mehr befreit.
Daß wir also gefangen und befreit werden, dazu helfe uns der, der
selber die Liebe ist. Amen.
Wie der Wille alle Dinge vermag und wie alle Tugenden in dem
Willen beschlossen liegen, sofern er ein rechter Wille ist.
Der Mensch soll vor keinem Ding zurückschrecken, solange er in
sich die Festigkeit eines guten Willens findet, und er soll sich nimmer-
mehr betrüben, wenn er nicht alles, was er möchte, in Werken zu voll-
16 bringen vermag. Er soll sich nicht von den Tugenden verbannt glauben,
solange er in sich einen rechten guten Willen findet. Denn Tugend und
alles Gute beruht im guten Willen. Dir kann nichts mangeln, sofern
du den wahren, rechten Willen hast, nicht Liebe, nicht Demut, noch
irgend eine Tugend. Was du mit voller Kraft und ganzem Willen willst,
20 das besitzest du, und das vermag dir Gott und alles Gottesgeschöpf
nicht zu rauben, wenn nur der Wille fest ist und ein götthcher Wille
und Gott zugewandt ist. Nicht in dem Sinne „Ich will für späterhin"
— das würde noch auf die Zukunft gehen — sondern „Ich will, daß
es augenbhckHch so ist". Merk auf! Wäre ein Ding tausend Meilen ent-
25 fernt, und ich will es haben, so habe ich's mehr zu eigen als das, was ich
in meinem Schöße halte, und worauf mein Wille nicht gerichtet ist.
Und das Gute hat nicht minder Kraft zum Guten ala das Böse zum Bösen.
Das präge dir ein ! Gesetzt, ich hätte niemals eine böse Tat getan, dennoch,
wenn der Wille nach dem Bösen steht, so bin ich mit der Sünde beladen,
30 als ob ich die Tat begangen hätte. Und ich könnte allein dadurch, daß
ein fester Wille mich ganz erfüllt, ebenso große Sünde tun, als ob ich
die ganze Welt gemordet hätte, und hätte doch keine Hand dazu ge-
rührt. Warum sollte dasselbe nicht ebenso mit einem guten Willen
möghch sein ? In der Tat, und sogar noch ungleich mehr. Ja wahrhaftig,
35 mit dem bloßen Willen vermag ich alles, ich vermag aller Menschen
86 Meister Eckhärt.
Mühsal auf mich zu nehmen und allen Armen Speise zu geben und aller
Menschen Taten zu tun und was man sonst noch erdenken kann; wenn
es dir nicht am "Willen fehlt, sondern lediglich an der Macht, so hast
du vor Gott es alles vollendet. Und niemand kann es dir nehmen und
dich daran hindern, auch nur für einen Augenblick. Denn etwas tun
wollen, sobald man es vermag, und etwas getan haben, vor
Gott ist es ein Ding.
Johannes Eckhart (1260 — 1327) ist es, der zu uns spricht. Die ausgewähl-
ten Worte stehen in dem Band „ Meister Eckhart, herausgegeben von Franz
Pfeiffer", 1857, S. 28— 30 und S. 552. Im Jahre 1903 erschienen: „Meister
Eckeharts Schriften und Predigten, übersetzt und herausgegeben von Hermann
Büttner" und „Meister Eckharts Mystische Schriften, in unsere Sprache über-
tragen von Gustav Landauer". In Landauers Ausgabe „ist all das, was nicht
von Eckharts Größe kommt, sondern von seinem Zeitgeist, weggelassen".
Dem Verständnis des mystischen Philosophen dient am besten Adolf Lassons
Schrift (Meister E., 1868) und desselben Autors kurze Darstellung in Überweg-
Heinzes Grundriß der Geschichte der Philosophie II, 350 ff. (1905, 9. Aufl.).
Was E. sagt, sind Wahrheiten, die nicht zu einer bestimmten Stunde ge-
boren wurden und nach Jahrzehnten starben oder nach Jahrhunderten sterben
werden, sondern es sind zeitlose Wahrheiten. Ihre Übereinstimmung mit ur-
alter Weisheit und späterer Spekulation wirkt fast beunruhigend. Und noch
erschütternder ist die Wahrnehmung, wie seine Aussprüche das innerste,
dem eigenen Bewußtsein kaum enthüllte Leben des sittlich sich Entwickelnden
zu treffen wissen. Er wiU den Weg zum Heil und zur Freiheit weisen. Dieser
schon von Plotini) betretene Weg führt fort vom Irdischen, das wie ein Nichts
ist, und hin zum Absoluten, zur Gottheit. Sittlichkeit beruht in der Rückkehr
der Seele zu Gott, in der Aufhebung der vielfältigen und nur scheinbar wirk-
lichen Natürlichkeit. Wenn der Mensch sich selber aufgibt, um Gott zu werden,
dann tritt er in den Zustand der „Abgeschiedenheit"; in diesem Zustand
läßt Gott in ihm seinen Sohn lebendig werden. Hier setzt unser Stück
ein, das von dem Eintritt in ein höheres geistiges und sittliches Leben
handelt.
83 7. Zeit und Raum, die in ihnen befangene Materie und die durch sie
bedingte Vielheit bedeuten nichts gegenüber dem einen, zeit- und raumlosen
göttUchen Geiste. In den Upanishads heißt es:
„Den einen Herrn und innres Selbst der Wesen,
Der seine eine Form ausbreitet vielfach.
Wer den, als Weiser, in sich selbst sieht wohnen,
Der nur ist ewig selig, und kein andrer."
Aus der Käthaka-Upanishad s. Deussen, Allg. Gesch. d. Phil. I, 2 S 316.
^) Plotin war ein Gegner des Christentums.
Erläuterungen. 87
Ein weiteres Beispiel für das oben Behauptete möchte den Leser dazu
anregen, daß er diesen Verwandtschaften selber nachgehe.
„Doch wer die Wesen hier alle
Wiedererkennt im eigenen Selbst
Und sich in allem, was lebet,
Der ängstigt sich vor keinem mehr."
J 5ä 6—7.
„Im Geiste soll man dies merken:
Nicht ist hier Vielheit irgendwie,
Von Tod zu neuem Tode schreitet,
Wer hier Verschiednes meint zu sehn."
„Das Licht, als eines, eindringt in den Weltraum,
Und schmiegt sich dennoch jeglicher Gestalt an;
So wohnt das eine innre Selbst der Wesen
Geschmiegt in jede Form und bleibt doch draußen."
Aus: Deussen, Sechzig Upanishads des Veda, 1897, S. 280 und 283.
84 5. Schon Seneca hatte den stärksten Gegensatz zwischen „Fleisch"
und Geist gepredigt, und Philo (ein etwa im Jahre 25 v. Chr. geborener und in
Alexandrien lebender Jude) hatte den Leib als einen Kerker für den Geist
und als den Grund aller Sünde gebrandmarkt. Im Christentum war dann
die Gegenüberstellung in der bekannten Weise fortgebildet worden.
84 19. Was die Schriften des Neuen Testamentes über die Macht der Liebe
sagen, ist heranzuziehen. E.s Lehre wird von Lasson dahin bestimmt: „Die
Liebe ist das Prinzip aller Tugenden ; sie strebt nach dem Guten, sie ist nichts
anderes als Gott selber."
84 30. Man beachte, daß ein Dominikaner vor sechshundert Jahren so
zur Gemeinde sprach.
84 38. Hohelied 8, 6.
85 2. Diese Ausführung bildet den schärfsten Widerspruch zum ethischen
ütihtarismus, wonach der Nützlichkeitswert von Handlungen über ihre sitt-
liche Beschaffenheit entscheidet. Auch Kant hat späterhin dagegen Stellung
genommen, daß der sittliche Wille sich durch Wohlfahrtsgründe bestimmen
lasse: das wesenhaft Gute Uegt in der Gesinnung beschlossen und der Erfolg
sei nebensächUch. Vgl. das Lesestück aus Mills Schriften.
An diesen Gedanken schließt sich das zweite der ausgewählten Stücke.
Hier wäre an mancherlei zu erinnern, zum Beispiel schon an Abälards Gesinnungs-
ethik; wir begnügen uns aber mit dem Hinweis auf Kants (im 15. Lesestück
enthaltenes) Wort: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer
derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten
werden als allein ein guter Wille." Die Kraft und Entschiedenheit, mit der
hier von E. Wille und Tat gegeneinander gehalten werden, darf nicht zu der
Meinung verleiten, als habe er die Untätigkeit anempfohlen. In der Predigt
38 Meister Eckhart.
über Martha und Maria warnt er vielmehr vor dem Quietismus. Seine innerste
Überzeugung ist diese, daß die Gesinnung über den Werken stehe. Eine
Freveltat, die ohne Absicht geschieht, darf nicht „Verbrechen" genannt werden,
und anderseits bedeutet alles fromme Handeln ohne fromme Absicht nichts.
JegUches Menschen Seele kann sich entscheiden, ob sie zu Gott oder zur Zeit-
lichkeit sich halte : im guten Willen spüren wir den Atem der Gottheit. Wahres
Christentum besteht für E. nicht in einem Dogmengewirr, sondern in einer
persönlichen Entscheidung, die von allem Kleinen und Selbstischen frei bleiben
muß. D e s s o i r.
VIII.
Francis Bacon.
Von der Induktion.
19. Zwei Wege gibt es und kann es geben zur Erforschung und Ent-
deckung der Wahrheit. Auf dem einen fliegt man von dem Sinnlichen
und dem Einzelnen zu den allgemeinsten Grundsätzen und bildet und
ermittelt aus diesen obersten Sätzen und ihrer unerschütterlichen Wahr-
5 heit die mittleren Sätze; dieser Weg ist der gebräuchhche. Der zweite
leitet aus dem Sinnhchen und dem Einzelnen Grundsätze ab, indem er
allmählich und stufenweise aufsteigt und so zuletzt zu den allgemeinsten
Sätzen gelangt; dies ist der wahre, aber unbetretene Weg.
20. Jenen ersten Weg betritt der sich selbst überlassene Verstand
10 und verfährt nach den Eegeln der Dialektik. Denn der Geist ist von
Verlangen erfüllt, eilig zum Allgemeineren hinaufzukommen, um da aus-
zuruhen; und der Erfahrung wird er bald überdrüssig. Dieses Übel ist
durch die Dialektik noch gewachsen, zum Besten glanzvoller Dispu-
tationen.
15 21. Bei besonnenen, ruhigen und ernsten Naturen versucht der sich
selbst überlassene Verstand — besonders wenn er durch die überkom-
menen Lehren nicht gehemmt wird — ab und zu jenen zweiten Weg,
der zwar geradeaus führt, aber nur langsam weiterbringt. Denn der
Verstand ist ohne Leitung und Unterstützung ein unbeständiges Ding
20 und ganz unfähig, die Dunkelheit der Gegenstände zu überwinden.
22. Beide Wege gehen von dem Sinnlichen und dem Einzelnen aus
und endigen in dem Allgemeinsten; aber sie weichen darin unendlich
voneinander ab , daß man auf dem einen das Gebiet der Erfahrung
und des Einzelnen nur flüchtig durchstreift, auf dem anderen dagegen
25 richtig und ordentHch sich damit beschäftigt. Ebenso werden auf dem
einen gleich von vornherein abstrakte und nutzlose Allgemeinheiten
aufgestellt, während der andere Schritt vor Schritt zu denen aufsteigt,
die in Wirklichkeit der Natur der Sache mehr entsprechen.
90 Francis Bacon.
23. Es ist kein geringer Unterscliied zwischen den Idolen des mensch-
lichen Geistes und den Ideen des göttlichen Geistes, das heißt zwischen
gewissen leeren Meinungen und den wahren, den Kreaturen aufgepräg-
ten Zeichen, wie sie gefunden werden.
24. Unmöglich können die bloß auf Beweisführungen gegründeten 6
Sätze zu neuen Entdeckungen etwas beitragen, weil die Feinheit der
Natur die Feinheit der Beweisführung vielfach übertrifft ; aber die Sätze,
die von dem Einzelnen richtig und ordentlich abgeleitet sind, weisen leicht
wieder auf neues Einzelnes hin und machen so die Wissenschaften
fruchtbar. lo
103. Aber auch nachdem die Fülle des Einzelnen gehörig vor Augen
geführt ist, darf man nicht gleich zur Erforschung neuer Einzelheiten
und zur Erfindung neuer Werke übergehen, oder wenigstens, wenn es
doch geschieht, nicht dabei stehen bleiben. Denn es ist nicht zu leugnen,
daß, wenn alle Erfahrungen in allen Künsten gesammelt und geordnet sein 15
und der Kenntnis und dem Urteil eines einzelnen Menschen zu Gebote
stehen werden, aus der bloßen Übertragung der Erfahrungen der einen
Kunst auf andere viele neue Erfindungen zum Nutzen des menschhchen
Lebens und Wohlstandes gemacht werden können, auf dem Wege, den
ich die wissenschaftUche Erfahrung nenne. Dennoch ist das, was wir von 20
dieser zu erwarten haben, das Geringere; die Hauptsache ist zu erhoffen
von dem neuen Licht der aus jenen Einzelheiten nach festen Kegeln
abgeleiteten Grundsätze, die dann wieder auf neues Einzelnes führen
können. Denn der Weg führt nicht auf einer Ebene entlang, sondern
bergauf und bergab; zuerst bergauf zu Axiomen, dann bergab zu Werken. 25
104. Doch ist es nicht zulässig, daß der Geist von dem Einzelnen
zu den entlegenen und allgemeinsten Grundsätzen (den sogenannten >
Prinzipien der Künste und der Dinge) springe und fliege und dann nach
dem Maßstabe ihrer unerschütterlichen Wahrheit die mittleren Sätze
prüfe und darlege. Allerdings ist es bisher immer so geschehen infolge 30
einer natürHchen Neigung des Geistes, der außerdem durch die syllo-
gistische Beweisführung schon lange dazu erzogen und daran gewöhnt
worden ist. Aber erst dann können wir für die Wissenschaften Gutes
hoffen, wenn man auf einer richtigen Stufenleiter, allmähhch und nicht
sprungweise, von dem Einzelnen zu den unteren Lehrsätzen aufsteigt, 35
dann zu den mittleren, zu immer höheren, und zuletzt erst zu den all-
gemeinsten. Denn die untersten Sätze unterscheiden sich nicht viel
von der bloßen Erfahrung; aber jene höchsten und allgemeinsten, die
im Schwange sind, sind begriffhch, abstrakt und ohne einen festen
Kern. Dagegen die mittleren Sätze sind die wahren, zuverlässigen und 40
Von der Induktion. <)1
lebendigen, auf denen das Leben und Wolil der Menschheit beruht;
und darauf stützen sich dann endhch die ganz allgemeinen Sätze, natür-
lich solche, die nicht bloß abstrakt sind, sondern in den mittleren ihre
tatsächhchen Grenzen haben.
5 Sonach sollte man dem menschlichen Geist keine Flügel verleihen,
sondern ihm lieber Bleigewichte anhängen, die jedes Springen und
FHegen verhindern. Bis jetzt ist dies noch nicht geschehen; wenn es
aber so weit gekommen ist, werden wir Besseres von den Wissenschaften
hoffen dürfen.
10 105. Bei der Feststellung der Grundsätze aber muß eine andere
Form der Induktion ermittelt werden als die bisher gebräuchUche,
r und diese soll nicht nur zur Prüfung und Auffindung der sogenannten
Prinzipien, sondern auch der unteren und mittleren und überhaupt
aller Sätze dienen. Denn eine Induktion, deren Verfahren in einfacher
15 Aufzählung besteht, ist Kinderei; sie schließt willkürlich, sie ist der
Gefahr widersprechender Fälle ausgesetzt, und sie urteilt meistens nach
zu wenigen oder bloß nach den Fällen, die ihr gerade zur Hand sind.
Dagegen eine Induktion, die für die Entdeckung und Darlegung von
Wissenschaften und Künsten nutzbringend sein soll, muß eine Scheidung
20 des Stoffes vornehmen durch sachgemäße Verwerfung und Aussonderung
und dann, wenn die negativen Fälle erschöpft sind, auf die positiven
schheßen. Das ist bisher weder so gemacht, noch auch nur versucht
worden, ausgenommen allein von Plato, der zur genauen Ergründung
seiner Definitionen und Ideen sich dieser Form der Induktion mitunter
25 bedient. Allein zum guten und richtigen Aufbau dieser Induktion oder
Beweisführung gehört eine ganze Menge, was bisher noch keinem Sterb-
Uchen in den Sinn gekommen ist, und er erfordert mehr Mühe, als bisher
auf den Syllogismus verwendet wurde. Diese Induktion soll uns nicht
nur bei der Auffindung der Grundsätze, sondern auch bei der Bildung
30 der Begriffe helfen; und von einer solchen Induktion ist der größte
Erfolg zu erwarten.
106. Bei der Aufstellung von Grundsätzen auf dem Wege dieser
Induktion ist ferner sorgfältig zu prüfen, ob der Satz, den man auf-
stellt, nur auf die Einzelfälle paßt, aus denen er abgeleitet wird, oder
35 ob er einen größeren Umfang besitzt. Läßt er eine weitere Anwendung
zu, so ist nachzusehen, ob diese durch Hinweis auf neue Einzelfälle be-
stätigt und verbürgt wird, damit wir weder in den bereits bekannten
stecken bleiben, noch etwa durch zu weite Fassung abstrakte Schatten-
bilder statt inhaltUch fest bestimmter Ergebnisse erhaschen. Erst wenn
40 dies Verfahren zur Anwendung kommt, wird uns endhch verdienter-
maßen eine sichere Hoffnung erglänzen.
92 Francis Bacon.
Von den Idolen.
38. Die Idole und falschen Begriffe, die den menschlichen Verstand
nachgerade in Besitz genommen haben und fest in ihm wurzeln, halten
die Geister der Menschen nicht bloß insofern in Fesseln, als die Wahrheit
nur schwer einen Zutritt zu ihnen findet, sondern auch indem sie, selbst 5
wenn ihr dieser Zutritt gewährt und bewilhgt worden ist, gerade bei der
Erneuerung der Wissenschaften immer wiederkehren; und sie werden
sich lästig bemerkbar machen, solange die Menschen nicht, dieser Warnung
eingedenk, sich nach Möglichkeit gegen sie verwahren.
39. Vier Arten von Idolen gibt es, die den menschlichen Geist lo
beherrschen. Damit sie sich recht einprägen, habe ich ihnen besondere
Namen gegeben. Die erste Art nenne ich die Idole des Stammes, die
zweite die der Höhle, die dritte die des Marktes, die vierte die des Theaters.
40. Die Aufstellung der Begriffe und Sätze vermittels der wahren
Induktion ist sicherUch ein geeignetes Mittel, um die Idole abzuhalten und i5
zu entfernen; aber auch die Beschreibung der Idole ist von großem
Nutzen. Denn die Lehre von den Idolen verhält sich ähnHch zur Natur-
forschung, wie die Lehre von den sophistischen Künsten zur gewöhnUchen
Dialektik.
41. Die Idole des Stammes haben ihre Wurzel in der menschUchen 20
Natur selbst und in dem Stamm oder Geschlecht der Menschen. Denn
es ist falsch, wenn behauptet wird, der menschliche Sinn sei das Maß
der Dinge; im Gegenteil: alle Wahrnehmungen, die sinnhchen wie die
geistigen, entsprechen der Natur des Menschen, nicht der Natur des
Alls. Der menschliche Verstand gleicht einem Spiegel, der die Strahlen 25
der Gegenstände ungleichmäßig zurückwirft und die Dinge, indem er
in ihre Beschaffenheit seine eigene hineinwirft, verzerrt und verfälscht.
42. Die Idole der Höhle sind die Idole des einzelnen Menschen.
Jeder Einzelne hat nämhch — außer den Verirrungen der menschUchen
Natur im allgemeinen — sozusagen eine besondere Höhle oder Grotte, 30
die das natürliche Licht bricht und verdirbt. Das folgt entweder aus der
eigentümHchen und besonderen Natur eines jeden oder aus der Er-
ziehung und dem Umgang mit anderen oder aus der Lektüre und der
Verehrung und Bewunderung von Autoritäten oder aus den Unterschieden
der Eindrücke, die einerseits ein voreingenommener und Vorurteils- 35
voller, die anderseits ein gleichmäßiger und ruhiger Sinn empfängt,
und dergleichen mehr. Der menschliche Geist ist eben — je nachdem
er bei den einzelnen Menschen angelegt ist — ganz veränderHch, ver-
worren und ein Spiel des Zufalls. Sehr richtig sagt daher Heraklit,
Von den Idolen. 93
die Menschen suchten ihr Wissen in ihren kleinen Welten statt in der
großen allgemeinen.
43. Es gibt auch Idole infolge der gegenseitigen Berührung und
Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts, die ich wegen des Ver-
5 kehrs und der Verbindung der Menschen die Idole des Marktes nenne.
Denn die Menschen bilden Gemeinschaften vermittels der Rede; aber
die Worte werden der Auffassung der Menge entsprechend geprägt.
So ist es denn erstaunlich, wie die schlechte und unpassende Namen-
gebung den Geist irreführt. Auch die Definitionen oder Erklärungen,
10 womit sich die Gelehrten manchmal wappnen und verteidigen, bessern
die Sache keineswegs. Denn die Worte tun eben dem Verstände Ge-
walt an, bringen alles in Verwirrung und verleiten die Menschen zu zahl-
losen nichtigen Streitigkeiten und Erdichtungen.
44. Es gibt endlich Idole, welche in die Seele der Menschen aus den
15 mannigfachen philosophischen Lehrsätzen und auch aus verkehrten
Regeln für Beweisführungen eingedrungen sind; diese nenne ich die
Idole des Theaters. Denn so viel philosophische Systeme aufgenommen
oder erfunden worden sind, so viele Theaterstücke sind meiner Ansicht
nach damit ersonnen und aufgeführt worden, die aus der Welt eine
20 Dichtung und eine Schaubühne gemacht haben. Ich spreche hier nicht
bloß von den schon vorhandenen oder auch den alten philosophischen
Systemen und Sekten, da man ja noch andere und mehr solcher Märchen
erdichten und zurechtmachen kann, und weil die Ursachen ganz ver-
schiedener Irrtümer eben doch fast überall dieselben sind. Und ich
25 beziehe das wiederum nicht bloß auf ganze philosophische Systeme,
sondern auch auf manche Prinzipien und Lehrsätze in den Wissen-
schaften, die durch Überheferung, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit
zu Ansehen gekommen sind.
Francis Bacons (1561 — 1626) Novum Organum (1620 erschienen, von
J. H. V, Kirchmann 1870 verdeutscht) bringt im 1. Buch vorläufige Angaben
über zwei Hauptpunkte der Baconischen Philosophie, Angaben, die uns wegen
ihrer Kürze zur Wiedergabe besonders geeignet erschienen. Über die In-
duktion und ihre Geschichte unterrichtet vortrefflich Sigwarts Logik, von
den Idolen findet man näheren Bericht in. jeder Geschichte der neueren Phi-
losophie. Eine vertiefte und von der Überlieferung mehrfach abweichende
Auffassung in Hans Heußlers Buch: Francis B. und seine geschichtliche Stel-
lung, 1889; eine schöne Gesamtübersicht bei Rudolf Eucken, Die Lebens-
anschauungen der großen Denker, 5. Auflage, 1903.
Nach B, ist das Grundproblem des menschlichen Lebens nicht das Ver-
hältnis des Menschen zu Gott oder zur eigenen Innerlichkeit, sondern seine
Beziehung zum All, das heißt zur Natur. Diese, an Größe ihm unendHch
94 Francis Bacon.
überlegen, kann dennoch bezwungen werden. Und Herrschaft über die Natur
bedeutet Kultur und Glück. Zur Herrschaft gehört aber ausgedehnte Er-
fahrung (denn, wie Aristoteles zitiert, „Mangel an Erfahrung gibt dem Zu-
fall preis", siehe S. 22 25) und eine sichere Methode, die den modernen Menschen
weiter bringen soll als den Menschen des Altertums. Erst aus einer neuen
Methode wird sich nach B.s Meinung eine fruchtbare Wissenschaft entwickeln.
Die praktische Seite der Wissenschaft ist dem englischen Philosophen die
Wissenschaft überhaupt; anderseits fällt für ihn Wissenschaft zusammen mit
Naturwissenschaft. Während so in zwei Beziehungen der Begriff verengt
wird, erhält er doch dadurch einen bestimmten und gültigen Inhalt, daß die
wesentliche Bedeutung der Methode für die Wissenschaft hervorgehoben wird.
B.s Methode der Induktion und des Experimentes stellt sich der Deduktion
und der Mathematik gegenüber; ihr Ziel ist die Kausalerkenntnis, denn wer
Ursachen erkennt, der kann Wirkungen entweder herbeiführen oder doch
wenigstens voraussehen. So wird Wissen zur Macht, so soll eine gemeinsame
europäische Wissenschaft entstehen.
89 10. Mit Dialektik (siehe die Anmerkung zu Plato 13 3) wird gewöhn-
lich eine rein formale Schulung gemeint, das Auffassen logischer Beziehungen
zwischen den Begriffen. Des genaueren versteht Aristoteles unter Dialektik
das Aufsuchen höchster Erklärungsprinzipien. Es erfolgt, indem der Forscher
von sinnlichen Einzelerfahrungen aus und unterstützt durch die allgemein
verbreiteten Ansichten zu höchsten Sätzen vordringt, deren Wahrheit unmittel-
bar und unbeweisbar ist. Diese dialektische Induktion ist etwas Vorläufiges, ein
Probieren ohne absolute Sicherheit; die strenge Wissenschaft besteht erst
in der darauf folgenden Tätigkeit, aus den obersten, allgemeinsten Sätzen
weniger allgemeine Erkenntnisse syllogistisch abzuleiten. Wissenschaft ist
nach Aristoteles das beweisende und erklärende Fortschreiten vom Allgemeinen
zum Besonderen und zwar mit Hilfe des Schlußverfahrens (siehe S. 41). Da
hierbei nur angeordnet, auseinandergelegt, begrifflich verkettet, aber nichts
vorher Unbekanntes entdeckt oder gar erfunden werden kann, so tadelt B. die
syllogistische Wissenschaft (und die mathematische Deduktion) als unfrucht-
bar. Immerhin wird man dem Syllogismus einen Erkenntniswert nicht ab-
sprechen dürfen, denn welche Prämissen die gesuchte Beziehung zwischen
Subjekt und Prädikat des Schlußsatzes ermöglichen — dies festzustellen
bedeutet in vielen Fällen einen Fortschritt unserer Einsicht.
91 14. Die Induktion durch bloße Aufzählung ist im Grunde genommen
einem Analogieschluß gleich. Wenn ich in allen mir bekannten Fällen einer
bestimmten Art mit den Merkmalen a b c noch das weitere Merkmal d ver-
bunden finde, so schheße ich daraus, daß bei allen ferneren Verbindungen
von a b c auch d vorhanden sein muß. Dies Aufzählen der bisher bekannten
Fälle und das analogische SchHeßen auf alle weiteren Fälle kann natürUch
(nach B.s Meinung) jeden Augenblick durch eine negative Instanz widerlegt
werden: hatte ich bisher bei Lichtausstrahlung auch immer Wärmeentwick-
lung gefunden und daher die wissenschaftUche Behauptung eines notwendigen
Zusammenhanges aufgestellt, so wird diese „Erkenntnis" durch eine einzige
Erläuterungen. 95
negative Instanz (wo Licht ohne Wärme auftritt) widerlegt. Deshalb kommt
alles darauf an, die negativen Fälle genau zu prüfen; durch Aufzählung der
positiven Fälle ergründet man niemals das „Wesen" einer Erscheinung. —
Die nähere Ausführung, die B. später gibt, ist sehr verwickelt und der scho-
lastischen Syllogistik keineswegs so entgegengesetzt, wie er glauben machen
will. Aber noch heute ist die Theorie der Induktion nicht vollendet. Man
pflegt seit J. St. Mill {System of logic 1843) das Recht, mit dem wir in der Wissen-
schaft von einer begrenzten Zahl von Beobachtungen auf alle ähnhchen Fälle,
also auf einen inneren und notwendigen Zusammenhang schließen, aus der
Annahme einer Gleichförmigkeit des Naturlaufs abzuleiten. Näheres in den
Lehrbüchern der Logik von Sigwart, Wundt, B. Erdmann.
91 23. Wegen der Allgemeinheit der Angabe ist es schwer zu sagen, an welche
Ausführungen Piatos B. denkt. Vielleicht an den Dialog Sophistes — vor-
ausgesetzt, daß B. ihn gelesen hat — , weil in ihm die Methode des zweiteilenden
Entweder — Oder, des Gegenüberstellens von Bejahung und Verneinung
geübt wird. Das allgemeine Verfahren, durch negative Kj-itik zum Positiven
zu gelangen, findet sich hundertfach bei Plato.
92 1. Es ist mit Recht bemerkt worden, daß die Lehre von diesen falschen
Begriffen bei B. eine ähnliche Bedeutung hat, wie bei Aristoteles die Lehre
von den Trugschlüssen. Vergleiche 92 i8.
92 22. B. spielt auf den sogenannten Tiomo-mensuraSaitz an. Der griechische
Sophist Protagoras hatte, und zwar zunächst in Bezug auf das sinnliche Wahr-
nehmen, den Satz aufgestellt: „Aller Dinge Maß ist der Mensch ..." Damit
wollte er für das Zeugnis unserer wahrnehmenden Fähigkeiten eintreten; er
meinte, daß das Wahrgenommene als die einzige Wirklichkeit zu gelten habe.
Hiergegen eben bemerkt B., daß die Wahrnehmungen nicht der Natur des Alls
entsprechen. — Von den Anthropomorphismen, wie wir diese Trugbilder nennen
dürfen, hat B. besonders die Teleologie, die Hineintragung des Zweckgedankens
in das Naturgeschehen, bekämpft. Vergleiche das Lesestück aus Spinoza.
92 39. Ein solcher Satz findet sich in Heraklits Fragmenten nicht, doch
ist der Sinn HerakUtisch.
93 3 f. Über die Mangelhaftigkeit und Ersetzbarkeit des sprachlichen
Ausdrucks ist von alters her geklagt und nachgedacht worden. Aus älterer
Zeit sind die Bemühungen Leibnizens um diese Frage die bekanntesten: ihm
zufolge vermag die Vernunft Zeichen zu ersinnen, die jeden einfachen Begriff
und jede Begriffsverbindung unzweideutig in Charakteren und Formeln nieder-
legen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es eine mit Symbolen, anstatt
mit Worten, arbeitende Logik, von der in Wundts „Logik" (I^ 246 ff.) das
Nötigste gesagt ist. Vergleiche auch L. Liard, Die neuere englische Logik,
deutsch von Imelmann, 2. Auflage, 1883. D e s s o i r.
IX.
Descartes.
Erste Betrachtung.
Woran man zweifeln kann.
Schon vor einer Keihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches
ich in der Jugend als wahr hingenommen habe, und wie zweifelhaft
alles ist, was ich später darauf gründete, und es ist mir klar geworden,
daß ich einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und ganz von
vorn beginnen müsse, wenn ich überhaupt jemals etwas Festes und &
Bleibendes in den Wissenschaften ausmachen wolle.
Das schien mir jedoch eine ungeheure Aufgabe zu sein, und ich
wartete daher jenes reife Alter ab, dem kein anderes nachfolgt, das zur
Erwerbung der Wissenschaften noch geeigneter wäre. Infolgedessen
habe ich so lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich laden würde, lo
wenn ich die zum Handeln noch übrige Zeit mit weiteren Bedenken
vergeuden wollte.
Und da trifft es sich günstig, daß ich heute meinen Geist von allen
Sorgen befreit, daß ich mir eine sichere Muße verschafft und mich in
die Einsamkeit zurückgezogen habe: so will ich denn endUch ernsten is
und freien Sinnes zu diesem allgemeinen Umsturz meiner bisherigen
Meinungen schreiten.
Dazu wird indessen nicht nötig sein, sie alle als falsch aufzuzeigen,
denn das würde ich vielleicht niemals erreichen können; vielmehr, da
schon der gesunde Instinkt rät, in ebenso vorsichtiger Weise bei dem 20
nicht ganz Gewissen und Unzweifelhaften wie bei dem offenbar Falschen
die Zustimmung zurückzuhalten, so wird es hinreichen, sie alle zurück-
zuweisen, wenn ich in einer jeden irgend einen Grund zum Zweifel an-
treffe. Auch braucht man sie dazu nicht alle einzeln durchzugehen,
was eine endlose Arbeit wäre, sondern, da nach Untergrabung der Grund- 25
lagen alles darauf Gebaute von selbst zusammenstürzt, so werde ich den
Erste Betrachtung. Woran man zweifeln kann. 97
Angriff sogleich auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine
früheren Meinungen stützten.
Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr hingenommen
habe, empfing ich von den Sinnen oder durch Vermittlung der Sinne.
5 Nun aber bin ich dahinter gekommen, daß diese uns bisweilen täuschen,
und es ist ein Gebot der Klugheit, niemals denen ganz zu trauen, die
auch nur ein einziges Mal uns getäuscht haben.
Indessen — mögen uns auch die Sinne über zu kleine und entfernte
Gegenstände bisweilen täuschen, so gibt es am Ende doch sehr vieles
10 andere, woran man gar nicht zweifeln kann, wenn es gleich aus denselben
Quellen geschöpft ist, so zum Beispiel daß ich jetzt hier bin, daß ich
meinen Winterrock anhabe und am Kamin sitze, daß ich dies Papier
mit den Händen betaste, und Ähnliches; vollends daß eben dies meine
Hände sind, daß dieser gesamte Körper der meine ist, wie könnte man mir
15 das abstreiten? Ich müßte mich denn mit ich weiß nicht welchen
Wahnsinnigen vergleichen, deren Gehirn durch widrige Dünste infolge
schwarzer Galle so geschwächt ist, daß sie hartnäckig behaupten, sie
seien Könige, während sie bettelarm sind, oder sie trügen Purpur, während
sie nackt sind, oder sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien über-
20 haupt Kürbisse oder aus Glas; — allein das sind ja Wahnsinnige, und ich
würde ebenso verrückt erscheinen, wenn ich das, was von ihnen gilt,
auf mich übertragen wollte.
VortreffHch! — Bin ich denn nicht ein Mensch, der des Nachts zu
schlafen pflegt, und dem genau dieselben oder bisweilen noch weniger
25 wahrscheinhche Dinge im Traume begegnen, wie jenen im Wachen?!
Wie oft kommt es vor, daß ich alle jene gewöhnUchen Umstände: ich
sei hier, ich säße, mit meinem Rocke bekleidet, am Kamin — mir mitten
im Schlafe einbilde, während ich doch entkleidet im Bette liege. — Aber
jetzt schaue ich doch sicher mit wachen Augen auf dieses Papier; dies
30 Haupt, das ich hin und her bewege, ist doch nicht vom Schlaf befangen;
mit Vorbedacht und Bewußtsein strecke ich meine Hand aus und fühle
das. Im Schlafe würde mir das doch nicht so deuthch entgegentreten ! —
Als wenn ich mich nicht entsänne, daß ich auch sonst durch ähnhche
Gedankengänge im Traume irregeführt worden bin! Denke ich einmal
35 aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß niemals Wachen
und Traum nach sicheren Kennzeichen unterschieden werden können,
— so daß ich ganz betroffen bin, und diese Betroffenheit selbst mich bei-
nahe in der Meinung bestärkt, daß ich träume.
Sei es denn: wir träumen. Mögen wirkhch alle jene Einzelheiten
40 nicht wahr sein, daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände
ausstrecken; ja, mögen wir vielleicht gar keine solchen Hände, noch über-
Desso ir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 7
98 Descartes.
haupt einen solchen Körper haben. Immerhin muß man doch gestehen,
daß alles während des Schlafes Geschaute sich gleichsam wie Malereien
verhalte, die nur nach dem Muster wahrer Dinge gebildet werden konnten ;
daß also wem'gstens dies Allgemeine: Augen, Haupt, Hände und über-
haupt der ganze Körper als nicht eingebildete, sondern wirkliche Dinge 5
existieren. Sind doch auch die Maler, selbst wenn sie Sirenen und Satyrn
in den fremdartigsten Gestalten zu bilden versuchen, nicht im stände,
ihnen in jeder Hinsicht neue Eigenschaften beizulegen, sie mischen
vielmehr nur die Gheder von verschiedenen lebenden Wesen durchein-
ander; oder wenn sie vielleicht etwas so unerhört Neues sich ausdenken, lo
wie man Ähnliches überhaupt nie gesehen hat, also etwas völlig Er-
dichtetes und Unwirkhches, so müssen es doch zum mindesten wirldiche
Farben sein, aus denen sie es zusammensetzen. Wenn also auch dies
Allgemeine : Augen, Haupt, Hände und dergleichen nur in der Einbildung
vorhanden sein könnte, so muß man doch notwendigerweise gestehen, 15
daß wenigstens gewisse andere, noch einfachere und allgemeinere Dinge
wirkUch vorhanden sind, mit denen — wie oben mit den wirklichen
Farben — alle jene wahren oder falschen Bilder von Dingen, die wir
in unserem Bewußtsein haben, sich in uns malen. Von dieser Art scheinen
zu sein die Natur des Körpers überhaupt und seine Ausdehnung, ferner 20
die Gestalt der ausgedehnten Dinge, ebenso die Quantität, d. i. ihre
Größe und Zahl, ebenso der Ort, an welchem sie existieren, die Zeit,
während welcher sie dauern, und dergleichen.
Man darf daher hieraus wohl mit Kecht schheßen, daß zwar die Physik,
die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von 25
der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge abhängen, ungewiß sind,
daß dagegen die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften
dieser Art, die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegen-
ständen handeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirk-
hchkeit vorhanden sind oder nicht, etwas von zweifelloser Gewißheit 30
enthalten. Denn ob ich nun wache oder schlafe, so ist doch stets 2 -|- 3 = 5,
und das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich,
daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Unrichtigkeit
geraten können.
Es ist indessen meinem Geiste eine alte Meinung eingeprägt, daß 35
ein Gott sei, der alles vermag, und von dem ich so, wie ich bin, ge-
schaffen sei. Woher weiß ich aber, daß er nicht bewirkt hat, daß es
überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine
Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt, und daß trotzdem alles dies genau
so wie jetzt mir da zu sein scheint? Oder vielmehr, daß — so wie ich 4o
urteile, daß bisweilen auch andere sich in dem irren, was sie aufs voll-
Erste Betrachtung. Woran man zweifeln kann. 99
kommenste zu \vissen meinen — auch ich mich täusche, so oft ich 2 und 3
addiere, oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch
Leichteres denken mag.
Aber vielleicht hat Gott nicht gewollt, daß ich mich so täusche?
o Heißt er doch der Allgütige ! — Allein wenn es mit seiner Güte unverein-
bar wäre, mich so zu schaffen, daß ich mich stets täusche, so schiene
es doch ebensowenig dieser Eigenschaft entsprechend, mir zu erlauben,
daß ich mich bisweilen täusche. Und dies läßt sich doch nicht
behaupten.
10 FreiHch möchte es wohl manche geben, die lieber einen so mächtigen
Gott überhaupt leugnen würden, als daß sie an die Ungewißheit aller
anderen Dinge glaubten; allein mit denen wollen wir nicht streiten und
einmal zugeben, alles von Gott Gesagte sei eine bloße Fiktion. Sie
mögen nun annehmen, ich sei durch Schicksal oder Zufall oder durch
15 die Verkettung der Umstände oder sonstwie zu dem geworden, was ich
bin, jedenfalls scheint doch das Sichtäuschen und Irren eine gewisse
Unvollkommenheit zu sein; demnach wird es, je geringere Macht man
dem Urheber meines Seins zuschreibt, umso wahrscheinlicher sein, ich
sei so unvollkommen, daß ich mich stets täusche.
20 Auf diese Gründe habe ich schlechterdings keine Antwort, und so
sehe ich mich schließUch zu dem Geständnis gezwungen, daß an allem,
was ich früher für wahr hielt, ein Zweifel möglich ist, und zwar nicht aus
Unbesonnenheit oder Leichtsinn, sondern aus triftigen und wohlerwogenen
Gründen; daß ich folghch auch diesem allem, nicht minder als dem offen-
25 bar Falschen, fortan meine Zustimmung aufs vorsichtigste versagen
muß, wenn ich zu etwas Gewissem gelangen will.
Doch ist es nicht genug, dies einmal bemerkt zu haben, sondern man
muß Sorge tragen, es sich stets gegenwärtig zu halten; kehren doch die
gewohnten Meinungen unablässig wieder und nehmen memen leicht-
30 gläubigen Smn, den sie gleichsam durch langen Verkehr und durch ver-
trauhche Bande an sich gefesselt haben, fast auch wider meinen Willen
in Beschlag. Und ich werde es noir niemals abgewöhnen, ihnen bei-
zustimmen und zu vertrauen, solange ich sie für das ansehe, was sie in
der Tat sind, nämhch — wie bereits gezeigt — für einigermaßen zweifel-
35 haft, aber immerhin recht wahrscheinhch, so daß es weit vernunft-
gemäßer ist, sie zu glauben als zu leugnen.
Es wird daher, denke ich, wohl angebracht sein, wenn ich meiner
Willkür die gerade entgegengesetzte Wirkung gebe, mich selbst täusche
und für eine Weile die Fiktion mache, jene Meinungen seien durchweg
40 falsch und bloße Einbildungen, bis ich schUeßHch meine Vorurteile
auf beiden Seiten so ins Gleichgewicht gebracht habe, daß keine üble
^
100 Bescartes.
Gewohnheit fernerhin mein Urteil von der wahren Erkenntnis der Dinge
ablenkt. Denn ich weiß ja, daß hieraus inzwischen weder Gefahr noch
Irrtum entstehen kann, und daß ich meinem Mißtrauen gar nicht zu
weit nachgeben kann, da es mir ja für jetzt nicht auf ein Handeln, sondern
nur auf ein Erkennen ankommt. 5
So will ich denn annehmen, daß nicht der allgütige Gott, die Quelle
der Wahrheit, sondern daß irgend ein böser Geist, der zugleich höchst
mächtig und verschlagen ist, allen seinen Fleiß daran gewandt habe,
mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Ge-
stalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende 10
Spiel von Träumen, durch die jener Geist meiner Leichtgläubigkeit
Fallen stellt; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände,
keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern
glaubte nur fälschlich dies alles zu besitzen. Und ich werde hartnäckig
an dieser Art der Betrachtung festhalten, und wenn es dann auch nicht i5
in meiner Macht steht, irgend eine Wahrheit zu erkennen, so will ich doch
entschlossenen Sinnes mich in acht nehmen, soviel an mir liegt, nichts
Falschem zuzustimmen noch von jenem Betrüger mich hintergehen zu
lassen, so machtvoll und listig er sein mag.
Aber das ist ein mühevolles Unternehmen, und eine gewisse Trag- 20
heit führt mich zur gewohnten Lebensweise zurück. Etwa wie ein Ge-
fangener im Traume eine eingebildete Freiheit genießen kann, und wenn
er zu merken beginnt, daß er nur träumt, sich vor dem Erwachen fürchtet
und den schmeichlerischen Vorspieglungen solange wie möglich sich
hingibt, so sinke ich von selbst in die alten Meinungen zurück und 25
fürchte mich vor dem Erwachen. Denn das arbeitsvolle Wachen, das
auf die behagliche Ruhe folgt, kann nicht im Lichte, sondern muß in
der undurchdringUchen Finsternis der schon angedeuteten Schwierigkeiten
verbracht werden.
Zweite Betrachtung.
Über die Natur des menschlichen Geistes; daß er leichter erkennbar
ist als der Körper.
Die gestrige Betrachtung hat mich in so gewaltige Zweifel gestürzt,
daß ich sie nicht mehr vergessen kann. Einen Weg zur Lösung sehe ich
auch nicht. Sondern wie wenn ich unversehens in einen tiefen Strudel
hinabgestürzt wäre, bin ich so verwirrt, daß ich weder auf dem Grunde
festen Fuß fassen noch zur Oberfläche emporschwimmen kann. Dennoch
30
Zweite Betrachtung. Über die Natur des menschlichen Geistes. 101
will ich mich herausarbeiten und von neuem eben den Weg versuchen,
den ich gestern beschritten hatte, indem ich nämlich alles von mir fern-
halte, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt, genau so, wie wenn
ich in sichere Erfahrung gebracht hätte, daß es durchaus falsch sei.
ö Ich will so lange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder,
wenn nichts anderes, so doch zum mindesten das für gewiß erkenne,
daß es nichts Gewisses gibt. Nichts als einen festen und unbewegHchen
Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu
bewegen; auch ich darf Großes hoffen, wenn ich auch nur das Germgste
10 finde, das von unerschütterhcher Gewißheit ist.
Ich setze also voraus, alles, was ich sehe, sei falsch ; ich glaube, daß
niemals etwas von dem allem existiert hat, was das trügerische Gedächtnis
mir darstellt: ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Größe,
Bewegung und Ort sind nichts als Schimären. Was soll da noch wahr
lö sein? Vielleicht nur dies eine, daß es nichts Gewisses gibt.
Aber woher weiß ich denn, daß es nicht etwas von allem bereits
Aufgezähltem Verschiedenes gibt, an dem zu zweifeln auch nicht der
geringste Anlaß vorHegt? Gibt es etwa einen Gott, oder wie ich sonst
den nennen mag, der mir diese Vorstellungen einflößt? — Doch wozu
20 sollte ich das annehmen, da ich doch am Ende selbst ihr Urheber sein
könnte! Also wäre doch zum mindesten ich irgend etwas? Indessen
— ich habe bereits geleugnet, daß ich irgendwelche Sinne, irgend einen
Körper hätte. Doch hier stutze ich: was soll daraus folgen? Bin ich
etwa so an den Körper und die Sinne gefesselt, daß ich ohne sie nicht
25 sein kann? Freilich, ich habe mich überredet, es sei gar nichts in der
Welt: kein Himmel, keine Erde, keine Geister, keine Körper. Also
auch wohl ich selber nicht ? Keineswegs ; ich war sicherlich da, wenn
ich mich dazu überredet habe. — Aber es gibt einen, ich weiß nicht
welchen, höchst mächtigen und schlauen Betrüger, der mich geflissentlich
30 stets täuscht. — Nun, wenn er mich täuscht, so ist es unzweifelhaft, daß
doch ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es fertig
bringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und
so komme ich, nachdem ich so alles mehr als zur Genüge hin und her
erwogen habe, schließhch zu dem Ergebnis, daß dieser Satz : „Ich bin,
35 ich existiere" notwendig wahr ist, so oft ich ihn ausspreche oder in
Gedanken erfasse.
Noch erkenne ich aber nicht zur Genüge, wer ich denn bin, der ich
mit Notwendigkeit bin. Ich muß mich nun hüten, daß ich nicht etwa
unvorsichtigerweise etwas anderes für mich selbst ansehe und auf diese
40 Weise sogar in der Erkenntnis abirre, von der ich behaupte, sie sei die
gewisseste und einleuchtendste von allen. Ich will deshalb jetzt von
102 Descartes.
neuem erwägen, was ich denn früher zu sein glaubte, bevor ich noch
auf diese Gedanken gekommen war. Und davon will ich dann alles ab-
ziehen, was durch die oben beigebrachten Gründe auch nur im geringsten
erschüttert werden kann, so daß schheßlich genau nur das übrig bleibt,
was von unerschütterhcher Gewißheit ist. b
Wofür also habe ich vordem mich gehalten? Doch wohl für einen
Menschen. Aber was ist das, „ein Mensch?" Soll ich sagen: ein ver-
nünftiges lebendes Wesen? Keineswegs; denn dann müßte man ja
weiter fragen, was „ein lebendes Wesen" und was „vernünftig" ist,
und so würde ich aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere lo
geraten. Auch habe ich nicht so viel Zeit, daß ich sie mit derartigen
Spitzfindigkeiten vergeuden möchte. Lieber will ich hier mein Augen-
merk darauf richten, was vordem ganz von selbst und naturgemäß sich
meinem Bewußtsein darbot, so oft ich erwog, was ich sei.
Da bot sich mir nun zunächst dar, daß ich Gesicht, Hände, Arme 15
und diese ganze GHedermaschine habe, die man auch an einem Leichnam
wahrnimmt; ich nannte sie Leib. Ferner bemerkte ich, daß ich mich
ernähre, gehe, empfinde und denke, und zwar bezog ich diese Tätigkeiten
auf die Seele; was aber diese Seele sei, darauf achtete ich entweder gar
nicht, oder wenn doch, so stellte ich mir darunter ein feines Etwas vor, 20
nach Art eines Windes, Feuers oder Äthers, das in meine gröberen
Bestandteile ausgegossen sei. Was aber den Körper angeht, so zweifelte
ich daran nicht im mindesten, sondern ich vermeinte seine Natur genau
zu kennen, und wenn ich etwa versucht hätte, sie so zu beschreiben,
wie ich sie mir dachte, so würde ich mich folgendermaßen darüber 25
erklärt haben: „Unter , Körper' verstehe ich alles, was durch irgend
eine Figur begrenzt und örthch umschrieben werden kann, was einen
Kaum so erfüllt, daß es aus ihm jeden anderen Körper ausschheßt;
was durch Gefühl, Gesicht, Gehör, Geschmack oder Geruch wahrge-
nommen oder auch auf mannigfache Art bewegt werden kann; zwar 30
nicht durch sich selbst, jedoch durch irgend etwas anderes, von dem es
berührt wird." Denn ich nahm an, daß die Fähigkeit, sich selbst zu be-
wegen, ebenso wie die zu empfinden oder zu denken, keineswegs zur
Natur des Körpers gehöre, ja, ich war geradezu überrascht, solche
Fähigkeiten in manchen Körpern vorzufinden. 35
Nun aber, da ich voraussetze , daß irgend ein höchst mächtiger und,
wenn man so sagen darf, boshafter Betrüger sich in jeder Beziehung,
soweit er vermochte, Mühe gegeben hat, mich zu täuschen — kann ich
da noch behaupten, auch nur das Geringste von allem dem zu besitzen,
wovon ich oben gesagt habe, es gehöre zur Natur des Körpers? Mit ge- 40
spannter Aufmerksamkeit denke ich immer wieder darüber nach, —
Zweite Betrachtung. Über die Natur des menschlichen Geistes. 103
nichts bietet sich mir dar, und ich werde es müde, fruchtlos immer das-
selbe zu wiederholen.
Wie verhält es sich aber mit den Eigenschaften, die ich der Seele
zuschrieb, zunächst mit der Ernährung und dem Gehen? Nun, da ich
5 jetzt überhaupt keinen Körper habe, so smd auch das bloß Erdichtungen.
Und wie steht es mit dem Empfinden? Auch dieses kommt ohne den
Körper nicht zu stände, außerdem glaubte ich sehr vieles während des
Traumes zu empfinden, von dem ich hernach bemerkte, daß ich es nicht
empfunden hatte. Und das Denken? Hier finde ich nun: das Denken
10 ist's, das Denken allein kann von mir nicht getrennt werden : I c h bin,
ich existiere, das ist gewiß.
Wie lange aber bin ich? Offenbar nur so lange wie ich denke. Denn
es wäre wohl möglich, daß ich alsbald zu existieren aufhören würde,
sobald ich gänzUch aufhörte zu denken. Für jetzt lasse ich nichts gelten,
15 als was notwendig wahr ist! Ich bin also genau genommen nur ein
denkendes Ding, das heißt Geist, Seele, Verstand, Vernunft — lauter
Ausdrücke, deren Bedeutung mir früher unbekannt war. Aber ein
wahres und wahrhaft existierendes Ding bin ich. Was für ein Ding?
Ich sagte es bereits — ein denkendes.
20 Und was heißt das? Nun — ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht,
verneint, wtU, nicht will, und das auch Einbildung und Empfindung hat.
In der Tat, es ist nicht wenig, wenn dies alles zu mir gehören soll ! Doch
wie sollte es nicht? Bin ich es nicht selbst, der jetzt fast an allem zweifelt,
der dennoch einiges erkennt, der behauptet, dies eine sei wahr, der alles
2ö übrige leugnet, der mehr wissen möchte, der sich nicht täuschen lassen
will, der vieles, selbst gegen seinen Willen, in der Einbildung hat, vieles
auch als wie von den Sinnen kommend bemerkt? Mag ich immerhin
stets schlafen, mag mein Schöpfer, so sehr er vermag, mich täuschen —
ist nicht dies alles trotzdem ebenso w^ahr, wie daß ich bin? Ist irgend
30 etwas davon von meinem Bewußtsein trennbar? Oder läßt sich etwa
von sonst etwas behaupten, daß es von meinem Ich getrennt sei? Denn
daß i c h es bin, der zweifelt, der einsieht, der will, das ist so offenbar,
daß es durch nichts noch augenscheinhcher gemacht werden kann.
Ich bin aber ferner auch derselbe, der «twas in seiner Einbildung hat;
35 denn wenn vielleicht auch, wie ich angenommen habe, kein Objekt,
das sich der Einbildung darstellt, wahr ist, so besteht doch diese Kraft
der Einbildung wirklich und macht einen Teil meines Bew'ußtseins aus.
Schließlich bin ich es auch, der wahrnimmt, das heißt, der die körper-
lichen Dinge als durch die Sinne gegeben bemerkt. Ich sehe doch oifen-
40 bar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme . . . aber
104 Descartes.
nein, das ist doch falsch; denn ich schlafe ja. Gewiß. Immerhin ist mir
doch so, a 1 s ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, und das kann nicht
falsch sein; das ist es eigentlich, was an mir Empfinden genannt wird.
Und wenn ich das Empfinden genau so verstehe, ist es nichts anderes
als Bewußtsein. 5
Hieraus beginne ich in der Tat schon erheblich besser zu erkennen,
was ich bin. Dennoch scheint es bisher immer noch — und ich kann
mich dieser Meinung gar nicht erwehren — , als ob die körperlichen
Dinge, deren Bilder sich in meinem Bewußtsein gestalten und die durch
die Sinne selbst erforscht werden, viel deutlicher erkannt würden als 10
jenes Etwas in mir, das kein Gegenstand der Einbildung ist. Allerdings
bleibt es recht wunderbar, daß ich die Dinge, die mir als zweifelhaft,
unbekannt und mir fremd erscheinen, deuthcher erfassen sollte als das
Wahre, mir Bekannte, kurz als mich selbst.
Aber ich sehe schon, wie es sich hiermit verhält: meinem Geiste is
macht es Freude abzuirren , er verträgt es noch nicht, sich in den
Schranken der Wahrheit zu halten. So sei es denn! Lassen wir ihm
noch einmal die Zügel locker, um sie dann zur rechten Zeit wieder an-
zuziehen und ihn umso leichter lenken zu können. Betrachten wir die-
jenigen Gegenstände, die nach der gewöhnlichen Meinung am deut- 20
liebsten erfaßt werden, das heißt die Körper, die wir betasten und sehen,
und zwar nicht die Körper im allgemeinen; denn solche allgemeinen
Begriffe pflegen bedeutend verworrener zu sein. Nehmen wir vielmehr
irgend einen Körper im besonderen, zum Beispiel dieses Stück Wachs.
Vor kurzem erst hat man es aus der Wachsscheibe gewonnen, noch ver- 25
lor es nicht ganz den Geschmack des Honigs, noch blieb ein wenig zurück
von dem Duft der Blumen, aus denen es gesammelt wurde; seine Farbe,
Gestalt, Größe Hegen offen zu Tage ; es ist hart, auch kalt, man kann es
leicht anfassen, und klopft man mit dem Knöchel darauf, so gibt es
einen Ton von sich. Kurz, es besitzt alles, was erforderhch scheint, 30
um einen Körper aufs deutlichste erkennbar zu machen. Doch sieh!
Während ich noch so rede, kommt es dem Feuer zu nahe. Da geht
verloren, was es noch an Geschmack hatte, der Geruch entschwindet,
die Farbe ändert sich, seine Gestalt wird vernichtet, die Größe wächst,
es wird flüssig, wird warm, läßt sich kaum mehr anfassen, und wenn 35
man darauf klopft, so wird es keinen Ton mehr von sich geben. Bleibt
es nun noch dasselbe Wachs? Man muß zugeben, es bleibt dasselbe;
keiner leugnet es, niemand ist anderer Meinung! Was war denn nun
an ihm, was man so deutlich erkannte? Sicherlich nichts von dem,
was im Bereich der Sinne lag; denn alles, was unter den Geschmack, 40
den Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, ist ja jetzt
Zweite Betrachtung. Über die Natur des menschlichen Geistes. 105
anders geworden, und doch bleibt es — das Wachs. Vielleicht verhielt
es sich so, wie ich mir jetzt denke, nämlich: das Wachs selbst war nicht
jene Süßigkeit des Honigs, nicht der Duft der Blumen, nicht die weiße
Farbe, nicht die Gestalt oder der Ton, sondern ein Körper, der sich kurz
5 zuvor mit solchen Bestimmungen meinem BUcke darbot, jetzt aber
mit anderen.
Was ist aber genau das, was ich hierbei mir vorstelle? Geben wir
acht: entfernen wir alles, was nicht dem Wachse zugehört, und sehen
wir zu, was übrig bleibt ! Nun — nichts anderes als etwas Ausgedehntes,
10 Biegsames und VeränderUches.
Und was ist nun dieses Biegsame, Veränderliche? Etwa, daß ich
mir vorstelle, wie dieses Wachs aus der runden Gestalt in die quadra-
tische, oder aus dieser in die dreieckige übergehen kann? Keineswegs.
Denn ich begreife wohl, daß es fähig ist, unzählige derartige Verände-
15 rungen zu erleiden; diese unzähligen Veränderungen aber kann ich nicht
alle in der Einbildung durchlaufen. Es kommt also dieser BegrifE nicht
durch die Einbildungskraft zu stände.
Und was ist das Ausgedehnte? Ist etwa auch seine Ausdehnung
mir unbekannt? Denn in dem schmelzenden Wachs wird sie größer,
20 noch größer in dem siedenden, und wiederum größer, wenn die Hitze
weiter zunimmt. Auch würde ich, was das Wachs ist, nicht richtig
beurteilen, wenn ich nicht annähme, daß es auch der Ausdehnung nach
noch mehr Verschiedenheiten zuläßt, als ich jemals in der Einbildung
umfaßt habe. Es bleibt mir also nichts übrig als einzuräumen, daß ich
25 nicht einmal, was dieses Wachs hier ist, vorzustellen vermag,
sondern es nur rein geistig, denkend erfassen kann. Und dies sage ich
von dem einzelnen Stück Wachs; denn von dem Wachs überhaupt ist
es noch klarer.
Was ist denn aber dieses Wachs, das sich nur im Geist erfassen läßt?
30 Offenbar dasselbe, das ich sehe, betaste und in der Einbildung habe,
kurz, dasselbe, das ich von Anfang an gemeint habe; aber — wohlge-
merkt — seine Erkenntnis ist nicht ein Sehen, ein Berühren, ein Vor-
stellen, und ist es auch nie gewesen, wenngleich es früher mir so schien,
sondern sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes, die ent-
35 weder, wie früher, unvollkommen und verworren, oder, wie jetzt, klar
und deutUch sein kann. Das hängt von der größeren oder geringeren
Aufmerksamkeit ab, mit der ich auf seine Bestandteile achte.
Inzwischen bemerke ich mit Verwunderung, wie sehr doch mein
Geist zum Irrtum neigt; denn obgleich ich das obige bei mir schweigend
40 und ohne zu reden erwäge, bleibe ich doch an den Worten hängen und
lasse mich durch den Sprachgebrauch beinahe beirren. Nämlich wir sagen
106 Descartes.
doch: wir sehen das Wachs selbst, wenn es da ist, und sagen nicht: wir
urteilen aus der Farbe und der Gestalt, daß es da sei. Daraus möchte
ich gleich schließen, daß man also das Wachs durch das Sehen des Auges
und nicht durch die Einsicht des Verstandes allein erkennt. Doch da sehe
ich zufälHg vom Fenster aus Menschen auf der Straße vorübergehen, 5
von denen ich ebenfalls, genau wie vom Wachs, gewohnt bin zu sagen,
ich sehe sie, und dennoch sehe ich nichts als die Hüte und Kleider,
unter denen sich ja Maschinen verbergen könnten! Ich urteile aber,
daß es Menschen sind. Und so erkenne ich das, was ich mit den Augen
zu sehen vermeinte, einzig und allein durch die meinem Geiste inne- lo
wohnende Fähigkeit des Urteils.
Aber ich sollte mich schämen, daß mir, der ich weiser als die Menge
sein will. Bedenken aus den Sprachbildungen kommen, die doch die
Menge erfunden hat. So wollen wir denn weiter untersuchen, ob ich
damals vollkommener und klarer erfaßte, was das Wachs sei, als ich es is
zuerst erblickte und es durch die bloßen äußeren Sinne oder doch durch
den sogenannten Gemeinsinn, das heißt durch die Einbildungskraft,
zu erkennen glaubte — oder eher jetzt, nachdem ich sorgfältig nach-
geforscht habe, einmal, was das Wachs ist, ferner, wie es erkannt wird.
Darüber zu zweifeln wäre gewiß töricht. Denn was war m der ersten 20
Wahrnehmung deutlich? War etwas in ihr, was nicht jedes Tier ver-
mutlich ebenso haben könnte? ^ Hingegen wenn ich das Wachs von
seinen äußeren Formen unterscheide, es gleichsam entkleidet und in seiner
Nacktheit betrachte, so kann ich es in der Tat — mag mein Urteil immer
noch einen Irrtum enthalten — doch nicht ohne menschlichen Geist in 25
dieser Weise erfassen.
Was aber soll ich von diesem Geist oder von meinem Ich sagen?
(denn ich rechne nichts anderes zu meinem Ich als den Geist). Wenn
ich dieses Wachs so deuthch zu erkennen glaube, sollte ich da nicht
mich selbst so viel wahrer, so viel gewisser, ja viel deutlicher und ein- 30
leuchtender erkennen? Denn wenn ich das Wachs sehe und daraus
urteile : das Wachs existiert, — so folgt doch eben daraus, daß i c h das
Wachs sehe, noch viel augenscheinlicher, daß ich selbst existiere. Denn
es wäre möglich, daß das, was ich sehe, in Wirklichkeit kein Wachs
wäre; es wäre auch möglich, daß ich überhaupt keine Augen hätte, 35
etwas zu sehen; aber es ist ganz unmöglich, daß, während ich sehe oder
— was ich hier nicht unterscheide — das Bewußtsein habe zu sehen,
ich selbst, der ich dies Bewußtsein habe, nicht irgend etwas bin. ÄhnUch,
wenn ich das Wachs berühre und daraus urteile : das Wachs existiert, —
so folgt daraus wieder dasselbe, nämlich daß ich bin; oder wenn ich das- 40
selbe Urteil daraus fälle, daß ich das Wachs in meiner Einbildung habe,
Erläuterungen. 107
oder aus irgend einem anderen Grunde, so folgt offenbar dasselbe. Ich
kann aber eben das, was ich hier vom Wachs bemerke, auch auf alles
übrige, was außer mir ist, anwenden. Sollte aber weiterhin die Erkenntnis
des Wachses deuthcher erscheinen, nachdem es mir nicht bloß durch das
5 Gesicht oder durch den Tastsinn, sondern durch eine Reihe von Ursachen
bekannt geworden ist, um wie viel deuthcher muß ich, wie man zugeben
wird, jetzt mich selber erkennen, da dieselben Gründe, die zur Erkenntnis
des Wachses oder irgend eines sonstigen Körpers beitragen können, alle
noch besser die Natur meines Geistes beweisen. Es ist überdies noch so
10 \'ieles andere dem Geiste selbst eigen, wodurch man zu einer deutlicheren
Kenntnis von ihm gelangen kann, daß, was der Körper uns in dieser
Beziehung bietet, dagegen kaum in Anrechnung zu bringen ist.
Und sieh da ! so bin ich schließhch ganz von selbst dahin gekommen,
wo ich hinaus wollte. Denn da ich jetzt weiß, daß die Körper nicht
lö eigenthch durch die Sinne oder durch die Fähigkeit der Einbildung,
sondern einzig und allein durch den Verstand erfaßt werden, auch nicht
dadurch, daß man sie betastet oder sieht, sondern dadurch, daß man sie
denkt, so erkenne ich ganz ofienbar, daß ich nichts leichter und augen-
scheinlicher erfassen kann — als meinen Geist. Doch da man die Ge-
20 wohnheit einer eingewurzelten Meinung nicht so schnell ablegen kann,
so halte ich es für gut, hier einzuhalten, damit sich diese neu erworbene
Kenntnis durch längeres Nachdenken meinem Gedächtnis einprägt.
Rene Descartes [Renatus Cartesius 1596 — 1650) hat die Meditationes de
prima philosophia, von denen die beiden ersten (mit einer kleinen Auslassung)
dem Leser hier vorgelegt werden, im Jahre 1641 veröffentlicht. 1642 erschien
eine etwas erweiterte zweite Ausgabe, 1647 eine von Descartes durchgesehene
französische Übersetzung, die in der Neuausgabe von C. Güttier (München 1901)
neben dem lateinischen Text abgedruckt ist. Verdeutscht und mit einer
lesenswerten Einleitung versehen wurden die Meditationen durch Kuno Fischer
(1863, 2, Aufl. 1868). Die Reclamsche Universalbibliothek enthält eine von
Ludwig Fischer besorgte Übertragung; die allzu wortgetreue Übersetzung
Artur Buchenaus, die 1902 in der „Philosophischen Bibliothek" herauskam,
ist 1904 durch einen ausführlichen, auf D.s eigene Schriften gestützten Kom-
mentar ergänzt worden. Gute Abrisse des Gedankenganges finden sich in
den Philosophiegeschichten von Überweg-Heinze, Falckenberg und Berg-
mann. Will man das Werden und den Zusammenhang der Cartesischen Phi-
losophie erfassen, so muß man mit dem 1637 veröffentlichten Discours de
la methode beginnen; wünscht man jedoch in den Mittelpunkt einzudringen,
so bieten sich die beiden ersten der „Betrachtungen" dar.
Diese Betrachtungen sind so überaus anziehend, weil sie einen wahrhaften
Philosophen bei der Arbeit zeigen. Allen Wegen seines Gedankens folgen
vir. Wenn sie auch bisweilen gegeneinander und zurück zu führen scheinen —
108 Descartes.
gerade dieses Hin und Her gibt der Darstellung die äußerste Lebendigkeit.
Erhöht wird sie dadurch, daß es ganz einfache Tatsachen sind, die hier zu den
tiefsten Überlegungen Anlaß geben. Philosophieren heißt eben, das Pro-
blematische im Selbstverständhchen erkennen; unphilosophisch ist ein Kopf,
dem das Dasein von etwas dadurch, daß es immer so war, hinreichend erklärt
ist. Der Leser versuche, sich völlig in die Stimmung eines bewegten und zu-
gleich reifen Nachdenkens hineinzuleben.
Der Anfang scheint der Skepsis das Wort zu reden, also jener Ansicht,
die wir aus Lesestück III kennen. In Wahrheit aber ist D. kein
Skeptiker, sondern er benützt den grundsätzUchen Zweifel nur als das
Radikalmittel, um zur Gewißheit zu gelangen. Das Verfahren ist: alles
Zweifelhafte auszusondern und das Sichere zurückzubehalten. Auch das
vollständigste Zerstörungswerk — lehrt die zweite Betrachtung — läßt den
Zerstörer bestehen. So gelangen wir zu einem festen Punkt, zur Selbstgewiß-
heit des Subjekts. An allem läßt sich zweifeln, nur nicht daran, daß ich zweifle,
und demnach, da das Zweifeln ein Denken ist, nicht daran, daß ich denke.
Unerschütterlich gewiß ist das Ich, insofern es zweifelt, denkt, bewußt ist. —
Die Aufstellung dieses Grundsatzes entspringt der unausgesprochenen Voraus-
setzung, daß ohne etwas unbedingt Sicheres alles Forschen nach Wahrheit
in der Luft schwebe. Hier wäre nun für ein selbständiges Philosophieren
zu erwägen, ob es sich tatsächlich und notwendig in unserem Denken so ver-
hält, zum mindesten, ob „der Zustand des Wissens noch größere Freude be-
reitet als der des Suchens", wie bereits Aristoteles (s. S. 32 5) behauptet hat.
In Augustins Schrift Contra Academicos vertritt eine der redenden Personen
die Ansicht, die uns durch Lessing vertraut geworden ist, daß schon das
Streben nach Wahrheit glücklich mache; Augustin selber hält freilich den
Besitz der Wahrheit für erforderlich. Noch deutlicher entscheidet er sich
in späteren Schriften*) dahin, daß das eigene Denken und daher das eigene
Sein das Gewisseste sei; man hat ihn deshalb den bedeutendsten Vorgänger
Descartes' genannt. Im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte hat Kant
die „reine Apperzeption": „Ich denke", die allem Erkennen zu Grunde liege,
als eine „Wirklichkeit schlechtweg" bezeichnet.
An D.'s Hauptsatz heften sich also mehrere Fragen. Erstens: Bedarf
das Denken, damit es zur „Wahrheit" gelange, eines unbedingt sicheren An-
satzes oder kann es in bloßen Relativitäten sich bewegen? (Vgl. zu Plato 610
u. das Lesestück aus Comte). Zweitens: Auch wenn das relativistische Erkennen
den Anforderungen des täglichen Lebens genügt, muß nicht der zum Höchsten
Strebende auf dieser instdbilis tellus, inndbilis unda sich unglücklich fühlen?
Drittens: Bietet das Bewußtsein als ein von den Objekten verschiedenes Sein
den gesuchten Punkt der Vollgültigkeit? Ist wirklich das seines Daseins
gewisse Selbstbewußtsein etwas Gegebenes und Einfaches, nicht vielleicht eine
*) Solüoquia II, 1: „Weißt du, dass du denkst?" „Das weiß ich." De
trinitate XIV, 7: „Denn nichts kennt der Geist so wie das, was ihm gegen-
wärtig ist, und nichts ist dem Geist gegenwärtiger als er sich selbst."
Erläuterungen. 1 09
nachträgliche und verwickelte Konstruktion? Zum mindesten: Ist nicht die
scheinbar einfachste Tatsache der eigenen Existenz, indem ich sie in Urteils-
form ausspreche, durch allerhand Denkvorgänge umgeformt?
96-3. Hier mag man an das denken, was Plato die bloße ».Meinung" und
Francis Bacon die Trugbilder nennt.
96 17, Damit endet die Einleitung, die von den Voraussetzungen und
Bedingungen des Philosophierens handelt.
97 3 — 98 1. Die Sinne, deren Aussagen dem Unbefangenen als ganz sicher
erscheinen, verdienen unser Zutrauen nicht. Die Sinnestäuschungen, die
Halluzinationen und die Träume sprechen dagegen; diese letzten natürlich
nur unter der Annahme, daß aus den wirklichen Wahrnehmungen das Dasein
der wahrgenommenen Dinge folgt.
97 17. Die „schwarze Galle" wurde seit dem Altertum als Ursache von Tem-
peramentsstörungen und Geisteskrankheiten angesehen. Die „Dünste" {vapores,
vapeurs), die aus der schwarzen Galle oder aus dem krankhaft veränderten
Menstrualblut und dergleichen zum Kopf emporsteigen sollen, haben sich bis
heute in dem Volksausdruck von der „ verschlagenen Milch " erhalten. Vergleiche
Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie I^ S. 321, 475 und 479.
98 1 f. Das „immerhin" lenkt ein. Die Elemente der Sinnenwelt (98 19—23)
können wahr sein; es gibt ferner Vernunftwahrheiten, die von dem Sein oder
Nichtsein ihrer Gegenstände unabhängig sind (98 29). Beide Gruppen von
Wahrheiten zerfallen aber in sich, wenn Gott uns täuschen mll. So kommt es
denn zu dem Geständnis 99 22.
100 18. D. befindet sich hier in einer wunderlichen Verwirrung. Schon daß
der deceptor malignus keine Wahrheit spenden kann, wäre ja eine bestimmte
Erkenntnis. Vor allem aber ist der Vorsatz, „nichts Falschem zuzustimmen",
doch nur dann möglich, wenn bereits zwischen Richtigem und Unrichtigem
unterschieden, das Kennzeichen der Wahrheit also gefunden ist.
101 34. Über diese entscheidende Stelle hat D. selbst mit gleichzeitigen
Philosophen vielfach verhandelt. Am bekanntesten ist die Fassung cogito
ergo sum. Aber sie ist nicht die beste, weil sie wie ein Schluß aussieht. In
Wahrheit ist ein unmittelbares Erfassen des Seins durch das Bewußtsein
gemeint: das cogüare verbürgt ohne weiteres das esse. Der ganze Beweisgang
läßt sich auf zwei Glieder zurückführen. Erstens: Wenn ich denke, daß ich
einen Körper habe, oder daß dort Wachs vor mir liegt, oder daß alles falsch
ist, so Hegt hierin, daß ich überhaupt denke. Zweitens: Indem ich überhaupt
denke, bin ich meines Daseins sofort sicher. Denn in allem Denken steckt das
Ich. Meine tatsächliche Existenz ist mit meinen Bewußtseinsvorgängen un-
mittelbar gegeben, während es zunächst fraglich bleibt, ob und was tatsächlich
dem Inhalt dieser Bewnißtseinsvorgänge (zum Beispiel der Vorstellung des
Wachses) entsprechen mag. Man beachte aber die Einschränkung 101 35. Eine
höchst scharfsinnige Kritik steht am Anfang von Schellings Münchner Vor-
lesungen über Geschichte der neueren Philosophie.
102 ti. Das Ich, dessen Dasein keinen Zweifel mehr zuläßt, soll durch ein Ver-
fahren fortschreitender Einschränkungen seinem Inhalt nach bestimmt werden.
110 Descartes.
102 8. Scholastisch-logische Begriffsbestimmungen siehe S, 78.
102 18 und 20. Wir rechnen heute Ernährung und. Bewegung nicht zur
Seele. Aber „ Seele" hat, seit dem Beginn der griechischen Philosophie, vielfach
die weitere Bedeutung von Lebenskraft und umfaßt daher auch rein physio-
logische Funktionen. Daß die Seele ein feiner Stoff sei, wurde seit Urzeiten
aus der Beobachtung des dampfenden Blutes und des belebenden Atems er-
schlossen ; als Luft galt die Psyche, weil Seele Leben und Leben Atem ist ; dem
Feuer wurde sie durch den Vergleichungspunkt der Beweglichkeit angenähert.
103 10. Vom Denken kann ich nicht absehen, weil dies Abstrahieren ja
selber wieder ein Denken ist. Hier erhält der Cartesische Begriff des Denkens,
der sonst unserem „Bewußtsein" entspricht, den Charakter des reinen Denkens.
103 17. Daß diese Ausdrücke jetzt ganz klar geworden wären, läßt sich
schwerlich zugeben. Entscheidend ist die Behauptung: ich sei ein denkendes
Ding, res cogüans. D. glaubt, daß mit der Selbstgewißheit des Denkens auch
die Existenz eines geistigen Dinges verbürgt sei, das Ich als wahrhaft vor-
handene unkörperliche Substanz erwiesen sei. Die Folgezeit hat diese Be-
weisführung übernommen und ausgebaut, Kant hat sie als einen Fehlschluß
gebrandmarkt. Zur ersten Orientierung über den Substanzbegriff vergleiche
die unter diesem Stichwort verzeichneten Stellen in Paulsens Einleitung in
die Philosophie und in Külpes gleichnamigem Buch.
104-2. Wir würden etwa sagen: wenn ich Licht zu sehen meine, so mag
objektiv kein Licht vorhanden, also der Inhalt meiner Wahrnehmung falsch
sein; aber der Akt des Wahrnehmens, der Bewußtseinsvorgang als solcher
ist eine unumstößliche Wirklichkeit.
104 15. Hier beginnt eine neue Erwägung. Das Beispiel des Wachses soll
klar machen, daß die sinnlichen Eigenschaften eines Körpers sein Wesen nicht
erschöpfen. Das Bleibende am Wachs wird nicht mit den Sinnen aufgefaßt;
die cera ipsa ist weder die weiße Farbe noch der Geruch, sondern etwas, das
diese Eigenschaften gleichsam trägt. Die Dinglichkeit des Wachses enthüllt
sich nicht den Sinnen, sondern dem Denken, der solius mentis inspectio. Hier-
nach wäre das Wesen der Gegenstände etwas Gedankliches, was zwar geistig
aufgefaßt, aber nicht mehr bildlich vorgestellt werden kann. Vergleiche
was über die Aristotelische Lehre gesagt wurde S. 41 und das Lesestück aus
Berkeley. Genau so meint es indessen D. nicht. Vielmehr lehrt er, daß dem
Körper an sich die Eigenschaften der Gestalt, Größe, Lage und Bewegung
zukommen. Das seien Beschaffenheiten, die über den Wert einer subjektiv-
menschlichen Vorstellungsweise hinausgehen, die nicht nur aus der Wirkung
auf unsere Sinne stammen. John Locke hat sie im Anschluß an D. als „pri-
märe" Eigenschaften bezeichnet. Da sie zugleich diejenigen sind, die dem
mathematischen Denken sich fügen, so begreift man, daß sie der sinnlichen
Erkenntnisweise gegenübergestellt werden. Eine gute Darstellung in Windel-
bands Lehrbuch der Gesch. der Philos., 3. Aufl., 1903.
1068. Wir sehen nicht eigentlich die Dinge, sondern wir urteilen auf Grund
der Sinneseindrücke. Um zu einer gültigen Einsicht zu gelangen, muß die
Wahrnehmung sich mit dem Urteil verbinden. D e s s o i r.
X.
Spinoza.
Gott ist die Ursache aller Dinge.
Lehrsatz XVI. Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur
muß Unendliches auf unendHch viele Weisen folgen, das heißt alles,
was von einem unendhchen Verstände gedacht werden kann.
Beweis. Dieser Lehrsatz muß jedem klar sein, der nur beachtet,
5 daß der Verstand aus der Definition irgend eines Gegenstandes ver-
schiedene Eigenschaften ableitet, welche in Wahrheit aus ihr (das heißt
aus dem Wesen des Dinges selbst) notwendig folgen, und zwar desto
mehr, je mehr ReaHtät das Wesen des definierten Dinges enthält. Da
nun die göttliche Natur unbedingt unendhch viele Attribute hat (nach
10 Definition VI), von denen jedes eine unendliche Wesenheit in seiner
Art ausdrückt, so muß aus ihrer Notwendigkeit Unendliches auf unend-
lich viele Weisen folgen (das heißt alles, was von einem unendlichen
Verstand gedacht werden kann).
Folgesatz I. Hieraus ergibt sich: 1. daß Gott die wirkende
15 Ursache aller Dinge ist, welche von einem unendlichen Verstand ge-
dacht werden können.
F o 1 g e s a t z IL Es ergibt sich : 2. daß Gott diese Ursache durch
sich allein ist, nicht durch ein Hinzukommendes.
Folgesatz III. Es ergibt sich : 3. daß Gott die unbedingt erste
20 Ursache ist.
Lehrsatz XVII. Gott handelt nur nach den Gesetzen seiner
Natur und von niemand gezwungen.
Beweis. Ich habe soeben in Lehrsatz XVI gezeigt, daß aus der
bloßen Notwendigkeit der göttlichen Natur, oder was dasselbe ist, aus
25 den bloßen Gesetzen seiner Natur unendlich vieles unbedingt folge,
und in Lehrsatz XV habe ich bewiesen, daß ohne Gott nichts sein noch
gedacht werden könne, vielmehr alles in Gott sei. Daher kann es nichts
außer ihm geben, was ihn zum Handeln bestimmen oder zwingen könnte,
112 Spinoza.
und Gott handelt daher nur nach den Gesetzen seiner Natur und von
niemand gezwungen.
Folgesatz I. Hieraus folgt: 1. daß es keine Ursache gibt, welche
Gott von außen oder von innen neben der Vollkommenheit seiner Natur
zum Handeln bestimmte. s
F o 1 g e s a t z II. Es folgt: 2. daß nur Gott eine freie Ursache sei.
Denn nur Gott allein existiert und handelt aus der bloßen Notwendig-
keit seiner Natur; er ist daher allein eine freie Ursache.
Erläuterung. Andere meinen, Gott sei deshalb eine freie Ur-
sache, weil er, nach ihrer Ansicht, bewirken kann, daß das nicht geschieht lo
oder von ihm hervorgebracht wird, was, wie angegeben, aus seiner Natur
folgt, das heißt was in seiner Macht steht. Aber dies wäre gerade so,
als wenn man behauptete, Gott könne bewirken, daß aus der Natur
des Dreiecks nicht folge, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten seien,
oder daß aus einer gegebenen Ursache keine Wirkung folge; was wider- is
sinnig ist. Ferner werde ich unten ohne Hilfe dieses Lehrsatzes zeigen,
daß der Natur Gottes weder Verstand noch Wille zukommt. Ich weiß
allerdings, daß viele beweisen zu können glauben, zur Natur Gottes
gehöre höchster Verstand und freier Wille ; denn nichts Vollkommeneres
sei ihnen bekannt und könne Gott zugeteilt werden, als das, worin unsere 20
eigene höchste Vollkommenheit besteht. Obgleich sie nun Gott als
den in Wirklichkeit höchsten Verstand denken, so glauben sie doch
nicht, daß er die Existenz von allem, was er wirklich vorstellt, auch
bewirken könne; denn sie glauben auf diese Weise die Macht Gottes
zu zerstören: hätte er nämhch alles, was in seinem Verstände ist, er- 25
schaffen, so könnte er dann nichts weiter erschaffen; was nach ihrer
Meinung der Allmacht Gottes widerstreitet. Man nimmt daher lieber
an, Gott sei allem gegenüber gleichgültig und erschaffe nur das, was
er nach einem gewissen unbedingtenWillen zu schaffen beschlossen hat.
Ich glaube jedoch deutlich genug bewiesen zu haben , daß aus der so
höchsten Macht oder unendHchen Natur Gottes Unendliches auf unend-
lich viele Weisen, das heißt alles notwendig hervorgegangen ist oder
stets mit derselben Notwendigkeit folgt; in derselben Weise wie aus
der Natur eines Dreiecks von Ewigkeit zu Ewigkeit folgt, daß seine
Winkel gleich zwei rechten sind. Gottes Allmacht ist daher von Ewig- 35
keit wirklich gewesen und wird in derselben Wirklichkeit in Ewigkeit
bleiben. Auf diese Weise wird nach meiner Ansicht Gottes Allmacht
weit vollkommener hingestellt; ja wenn ich offen sprechen darf, so
scheinen jene Gegner vielmehr Gottes Allmacht zu leugnen. Müssen
sie doch einräumen, daß Gott unendlich Vieles als möglich denkt, was 40
er doch niemals wird erschaffen können. Denn sonst, wenn er alles,
Gott ist die Ursache aller Dinge. 113
was er denkt, erschüfe, würde er nach ihrer Meinung seine Allmacht
erschöpfen und sich unvollkommen machen. Um also Gott als voll-
kommen anzunehmen, müssen sie zugleich annehmen, daß er nicht
alles bewirken kann, worauf sich seine Macht erstreckt. Ich wüßte aber
5 keine Annahme, welche widersinniger wäre und der Allmacht Gottes
mehr widerstritte als diese.
Nun noch einiges über den Gott gewöhnhch zugeteilten Verstand
und Willen! Sollen Verstand und Wille zu Gottes ewigem Wesen ge-
hören, so ist unter diesen beiden Attributen etwas anderes zu ver-
10 stehen, als die Menschen gemeinhin tun. Der Verstand und Wille,
welche Gottes Wesen bilden sollen, müßten von unserem Verstand und
Willen ganz und gar verschieden sein und könnten nur im Namen über-
einstimmen, nicht anders als etwa übereinstimmen der Hund als Stern-
bild und der Hund als bellendes Tier.
15 Mein Beweis ist folgender: Wenn zur göttlichen Natur ein Ver-
stand gehört, so kann er nicht wie der unsrige den von ihm gedachten
Gegenständen nachfolgen oder zugleich mit ihnen sein: denn Gott
ist der Kausalität nach vor allen Dingen (Lehrsatz XVI, Folgesatz I);
vielmehr ist die Wahrheit und das wirkHche Wesen der Dinge so be-
20 schafien, weil sie in Gottes Verstände so objektiv bestehen.
Daher ist der Verstand Gottes, sofern in ihm das Wesen Gottes
begriffen gedacht wird, in Wahrheit die Ursache aller Dinge, sowohl
ihrem Wesen wie ihrem Dasein nach. Dies scheinen auch diejenigen
bemerkt zu haben, welche behaupten, Gottes Verstand, Wille und
25 Macht sei eines und dasselbe. Ist demnach Gottes Verstand die alleinige
Ursache sowohl von dem Wesen wie von dem Dasein der Dinge, so muß
er selbst notwendig sowohl nach seinem Wesen wie nach seinem Dasein
von den Dingen unterschieden sein. Denn das Bewirkte unterscheidet
sich von seiner Ursache gerade in dem, was es von der Ursache hat.
30 Ein Mensch zum Beispiel ist wohl die Ursache des Daseins, aber nicht
des Wesens eines anderen Menschen — dies ist eine ewige Wahrheit —
und so können beide ihrem Wesen nach übereinstimmen, dem Dasein
nach aber müssen sie voneinander unterschieden sein. Deshalb wird,
wenn das Dasein des einen aufhört, nicht auch das des anderen aufhören;
35 wenn aber das Wesen des einen zerstört und falsch werden könnte,
so würde auch das Wesen des anderen zerstört werden. Was also Ur-
sache einer Wirkung ihrem Wesen und Dasein nach ist, muß sich von
dieser Wirkung unterscheiden sowohl seinem Wesen wie seinem Dasein
nach. Nun ist aber Gottes Verstand die Ursache sowohl von dem Wesen
40 wie von dem Dasein unseres Verstandes: Gottes Verstand, soweit er
als das göttliche Wesen bildend gedacht wird, ist daher von unserem
Dessoir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 8
114 Spinoza.
Verstände dem Wesen wie dem Dasein nach unterschieden und kann,
wie hervorgehoben, nur im Namen mit ihm übereinstimmen. In Bezug
auf den Willen gilt dasselbe, wie man leicht einsehen kann.
Die Natur handelt nicht nach Zwecken.
Anhang zu Lehrsatz XXXVI. Hiermit habe ich die Natur
Gottes und seine Eigenschaften dargelegt , nämlich 5
daß er notwendig existiert; daß er ein einziger ist;
daß er nur aus der Notwendigkeit seiner Natur
ist und handelt; daß er die freie Ursache aller Dinge
ist und in welcher Weise; daß alles in Gott ist
und von ihm so abhängt, daß ohne ihn nichts sein 10
noch gedacht werden kann, und endlich, daß alles von
Gott vorausbestimmt worden ist, und zwar nicht aus
Freiheit des Willens oder aus einem unbedingten Belieben, sondern
aus der unbedingten Natur oder unendlichen
MachtGottes. 15
Ich habe ferner bei jeder Gelegenheit, die Vorurteile zu entfernen
gesucht, welche das Verständnis meiner Beweise hindern könnten.
Da indes noch manche sonstige Vorurteile bleiben, welche auch, und
zwar ganz besonders, hindern könnten und können, daß man die Ver-
kettung der Dinge so, wie ich sie dargelegt habe, erfasse, so habe ich 20
es für nötig erachtet, diese Vorurteile hier einer Prüfung durch die Ver-
nunft zu unterwerfen. Und da alle Vorurteile, welche ich hier be-
sprechen will, von der gewöhnlichen Meinung der Menschen abhängen,
daß alle natürlichen Dinge, wie sie selbst, eines Zweckes wegen handeln,
ja daß Gott selbst unzweifelhaft alles nach einem gewissen Ziele leitet 25
(sie sagen nämlich, Gott habe alles des Menschen wegen gemacht, den
Menschen aber, daß er ihn verehre), so will ich diese Meinung zunächst
betrachten. Ich werde zuerst den Grund suchen, weshalb sie meistens
sich bei diesem Vorurteil beruhigen, und alle zu dieser Annahme von
Natur geneigt sind, sodann werde ich seine Unwahrheit darlegen. 30
Es ist hier nicht der Ort, dies aus der Natur des menschlichen
Geistes abzuleiten, es wird genügen, wenn ich von dem ausgehe, was
von jedermann anerkannt werden muß, nämlich davon, daß die Menschen
ohne Kenntnis der Ursachen der Dinge auf die Welt kommen, und daß
alle den Trieb haben, das ihnen Nützliche zu suchen, und daß sie sich 35
dessen bewußt sind.
Die Natur handelt nicht nach Zwecken. 115
Daraus folgt zunächst, daß die Menschen sich für frei halten; denn
sie sind sich ihres Begehrens und ihrer Triebe bewußt und denken nicht
im Traume an die Ursachen, welche sie zum Begehren und Wollen ver-
anlassen, da sie diese nicht kennen. Sodann folgt daraus, daß die Men-
5 sehen alles um eines Zweckes willen tun, nämlich des Nutzens wegen,
den sie begehren ; daher kommt es, daß sie immer nur nach den Zwecken
des Geschehenen fragen, und sobald sie diese erfahren, sich beruhigen,
da sie keinen Anlaß zu weiteren Zweifeln haben. Können sie aber diese
Zwecke von anderen nicht erfahren, so bleibt ihnen nur übrig, auf sich
10 selbst und auf die Zwecke zu sehen, wodurch sie zu Ähnhchem bestimmt
zu werden pflegen; und so beurteilen sie die Sinnesweise des anderen
notwendig nach ihrer eigenen. Da sie ferner in sich und außer sich
viele Mittel finden, die zur Erreichung ihres Nutzens erhebhch beitragen,
wie zum Beispiel die Augen zum Sehen, die Zähne zum Kauen, die
15 Kräuter und Tiere zur Nahrung, die Sonne zum Licht, das Meer zur
Ernährung der Fische u. s. w., so kommt es, daß sie alles Natürliche
gleichsam als Mittel für ihren Nutzen ansehen, und da sie wissen, daß
sie diese Mittel nicht hergerichtet, sondern vorgefunden haben, so
entstand der Glaube, daß irgend ein anderer es sein müsse, der diese
20 Mittel zu ihrem Nutzen bereitet habe. Denn nachdem sie einmal die
Dinge als Mittel betrachtet hatten, so konnten sie nicht annehmen,
daß diese sich selbst gemacht hätten ; vielmehr mußten sie aus den Mitteln,
welche sie sich selbst herzurichten pflegen, schließen, daß es einen oder
mehrere Lenker der Natur gäbe, welche mit menschlicher Freiheit aus-
25 gestattet, alles für sie besorgt und zu ihrem Nutzen gemacht haben.
Da sie nun von dem Verstände dieser Lenker niemals etwas gehört
hatten, so mußten sie ihr Urteil darüber nach ihrem Verstände bilden;
und so nahmen sie an, daß die Götter alles zum Nutzen der Menschen
lenken, um sich dieselben zu verbinden und von ihnen in höchsten Ehren
30 gehalten zu werden.
Daher ist es gekommen, daß der eine diese, der andere jene Art
der Gottesverehrung in seinem Kopfe erdacht hat, damit Gott ihn mehr
als die übrigen Menschen heben und die ganze Natur zum Besten seiner
bhnden Begierde und unersättlichen Habsucht lenken möge. Dies
35 Vorurteil ist zum Aberglauben geworden und hat in den Geistern tiefe
Wurzeln geschlagen; es war der Grund, daß jeder vor allem die End-
zwecke der Dinge einzusehen und zu erklären sich bemühte. Während
sie aber zu zeigen suchten, daß die Natur nichts umsonst tue, das heißt
nichts, was nicht zum Besten der Menschen diene, so haben sie doch
40 nur damit gezeigt, daß die Natur und die Götter ebenso wie die Menschen
wahnwitzig sind. Man sehe nur, wohin dies endUch führte! Unter
116 Spinoza.
vielem Nützlichen mußten sie auch vieles Schädliche in der Natur be-
merken, wie Stürme, Erdbeben, Krankheiten u. s. w., und sie nahmen
nun an, diese kämen, weil die Götter erzürnt wären über die ihnen von
den Menschen angetanen Kränkungen, oder über die in ihrem Dienste
begangenen Versehen. Und obgleich die Erfahrung täghch widersprach 5
und durch unzähUge Beispiele zeigte, daß Nutzen und Schaden ohne
Unterschied die Frommen wie die Gottlosen treffen, so ließ man doch
von dem eingewurzelten Vorurteile nicht ab. Denn es wurde ihnen
leichter, diese Erfahrung zu dem anderen Unbekannten, dessen Nutzen
man nicht einsah, zu rechnen und so den gegenwärtigen und angeborenen lo
Zustand der Unwissenheit zu bewahren, als das ganze Gebäude nieder-
zureißen und ein neues auszudenken. Es galt ihnen daher als gewiß,
daß die Beschlüsse der Götter die menschliche Fassungskraft weit
übersteigen. Dies allein hätte hingereicht, daß die Wahrheit dem mensch-
lichen Geschlecht ewig verborgen geblieben wäre, wenn nicht die Mathe- 15
matik, welche sich nicht mit den Zwecken, sondern nur mit dem Wesen
und den Eigenschaften der Gestalten beschäftigt, den Menschen ein
anderes Richtmaß der Wahrheit gezeigt hätte. Auch können neben
der Mathematik noch andere Gründe (deren Aufzählung hier überflüssig
ist) angeführt werden, durch welche die Menschen veranlaßt wurden, 20
diese gemeinen Vorurteile zu bemerken und zur wahren Erkenntnis der
Dinge überzugehen.
Damit habe ich, was ich an erster Stelle auseinander zu setzen
versprach, erledigt. Um nun aber zu zeigen, daß die Natur sich keinen
Zweck vorgesetzt hat, und daß alle Endzwecke nichts als menschliche 25
Einbildungen sind, dazu bedarf es nicht viel. Denn ich glaube, daß
dies schon genügend sich ergibt aus den Quellen und Ursachen, aus
welchen ich den Ursprung dieses Vorurteils abgeleitet habe, als auch
aus Lehrsatz XVI und den Folgesätzen zu Lehrsatz XXXII, und aus
allem, wodurch ich gezeigt habe, daß alles in der Natur mit einer ge- 30
wissen ewigen Notwendigkeit und höchsten Vollkommenheit vor sich
gehe. Indes will ich noch hinzufügen, daß durch diese Lehre vom
Zweck die Natur überhaupt ganz zur verkehrten Welt gemacht wird.
Denn sie behandelt das als Wirkung, was in Wahrheit Ursache ist, und
umgekehrt; ferner macht sie das, was von Natur früher ist, zum Späteren, 35
und endlich das Höchste und Vollkommenste zum Unvollkommensten.
Denn wenn ich die zwei ersten Punkte beiseite lasse, weil sie sich von
selbst verstehen, so erhellt aus Lehrsatz XXI, XXII und XXIII, daß
diejenige Wirkung die vollkommenste ist, welche von Gott unmittelbar
hervorgebracht wird; je mehr Mittelursachen eine solche zu ihrer Hervor- 40
bringung bedarf, desto unvollkommener ist sie. Wenn nun aber die
Die Natur handelt nicht nach Zwecken. 117
von Gott unmittelbar hervorgebrachten Dinge nur gemacht wären,
damit Gott seinen Zweck erreichte, so müßten notwendig die letzten,
für die die früheren gemacht sind, die vorzüglichsten sein. Auch hebt
diese Lehre die Vollkommenheit Gottes auf; denn wenn Gott wegen eines
5 Zweckes handelt, so begehrt er notwendig etwas, was ihm fehlt. Wenn
nun auch die Theologen und Metaphysiker zwischen dem Zweck, dessen
man bedarf, und dem Zweck, dem man sich annähern will, unterscheiden,
so gestehen sie doch zu, daß Gott alles nur seinetwegen getan hat und
nicht der zu schaffenden Dinge wegen, weil sie vor der Schöpfung nichts
10 neben Gott angeben können, für dessen Nutzen Gott gehandelt hätte.
So müssen sie also einräumen, daß Gott dasjenige, wofür er die Mittel
hat bereiten wollen, entbehrt hat, und daß er es begehrt hat, wie von
selbst klar ist.
Es muß hier auch erwähnt werden, daß die Anhänger dieser Lehre,
15 welche in Aufstellung von Zwecken der Dinge ihren Scharfsinn zeigen
wollten, für den Beweis ihrer Lehre eine neue Art der Begründung
aufgebracht haben, indem sie diese nicht auf die Unmöghchkeit, sondern
auf die Unwissenheit zurückführten, woraus erhellt, daß ihnen kein
anderes Mittel der Begründung zu Gebote gestanden hat. Wenn zum
20 Beispiel ein Stein aus einer Höhe auf eines Menschen Kopf fällt und
ihn tötet, so beweisen sie nach dieser Methode, daß der Stein gefallen
sei, um den Menschen zu töten; denn w^äre er nicht zu diesem Zweck
nach dem Willen Gottes gefallen, wie konnten da so viele Umstände
aus Zufall zusammentreffen? (Denn oft wirken mehrere zugleich.)
25 Man wird vielleicht antworten, es sei so gekommen, weil der Wind
geweht, und weil den Menschen sein Weg dahin geführt habe. Aber
jene werden darauf bestehen: Weshalb hat der Wind damals geweht?
Weshalb führte den Menschen zur selben Zeit sein Weg dahin? Wenn
man darauf erwidert, der Wind sei damals entstanden, weil das Meer
30 den Tag vorher bei ruhigem Wetter angefangen hatte, bewegt zu werden,
und weil der Mensch von einem Freunde eingeladen worden war, so
werden sie wiederum nicht ablassen, da des Fragens hier kein Ende ist:
Warum wurde das Meer unruhig? Weshalb war der Mensch damals
eingeladen? Und so werden sie fort und fort nach den Ursachen der
35 Ursachen fragen, bis man zu dem Willen Gottes, das heißt zu dem Asyl
der Unwissenheit seine Zuflucht nimmt.
Ebenso staunen sie bei dem AnbHck des Baues des menschlichen
Körpers, und weil sie die Ursachen von so viel Kunst nicht kennen,
so schUeßen sie, daß er nicht durch mechanische Kräfte, sondern durch
40 eine götthche und übernatürliche Kunst gebildet und so eingerichtet
Avorden sei, daß kein Teil den anderen verletzt. So kommt es, daß der,
118 Spinoza.
welcher die wahren Ursachen der Wunder aufsucht und sich bestrebt,
die Naturvorgänge als ein Wissender einzusehen und nicht wie ein
Tor anzustaunen, hie und da für einen Ketzer und Gottlosen gehalten
und als ein solcher von denen verschrieen wird, welche die Menge als
die Dolmetscher der Natur und der Götter verehrt. Denn diese wissen,
daß mit dem Wegfall der Unwissenheit auch das Erstaunen, das heißt
das einzige Mittel für ihre Beweise und für Erhaltung ihrer Autorität,
aufhört.
Die göttliche Liebe.
Lehrsatz XXXII. Was wir in der dritten Art der Erkenntnis
erkennen, daran erfreuen wir uns und denken dabei zugleich an Gott lo
als Ursache.
Beweis. Aus dieser Art der Erkenntnis entsteht die höchste
Befriedigung des Geistes, die es geben kann, das heißt (nach Definition
Nr. XXV der Affekte) die höchste Freude, wobei wir an uns selbst (nach
Lehrsatz XXVII dieses Buches) und folglich (nach Lehrsatz XXX is
dieses Buches) zugleich an Gott als die Ursache denken.
Folgesatz. Aus der dritten Art der Erkenntnis entsteht not-
wendig die geistige Liebe zu Gott. Denn aus dieser Art der Erkennt-
nis entsteht Freude, begleitet von der Vorstellung Gottes, als Ursache
(nach Lehrsatz XXXII), das heißt die Liebe zu Gott (nach Defini- 20
tion VI der Affekte), nicht insofern wir ihn als gegenwärtig vorstellen,
sondern sofern wir Gott als ewig seiend erkennen (nach Lehr-
satz XXIX dieses Buches), und dies ist, was ich die geistige Liebe zu
Gott nenne.
Lehrsatz XXXIII. Die geistige Liebe zu Gott, welche aus 25
der dritten Art der Erkenntnis entsteht, ist ewig.
Beweis. Denn die dritte Art der Erkenntnis ist ewig (nach
Lehrsatz XXXI dieses Buches und Axiom III von Buch I). Folghch
ist die Liebe, welche aus ihr entspringt, auch notwendig ewig (nach
demselben Axiom). 30
Erläuterung. Obgleich diese Liebe zu Gott keinen Anfang
hat, so hat sie doch alle Vollkommenheiten der Liebe ebenso (nach
dem vorigen Lehrsatz), als wenn sie entstanden wäre, wie im Folgesatz
zu vorigem Lehrsatz angenommen worden ist. Es ist hier kein Unter-
schied, außer, daß die Seele dieselben Vollkommenheiten, welche wir 35
dort als hinzutretend angenommen haben, von Ewigkeit gehabt hat,
und zwar begleitet von der Vorstellung Gottes als ewiger Ursache.
Die göttliche Liebe. 119
Wenn die Freude in dem Übergange zu einer größeren Vollkommenheit
besteht, so muß die SeUgkeit sicherlich darin bestehen, daß die Seele
mit der Vollkommenheit selbst begabt ist.
Lehrsatz XXXIV. Die Seele ist nur so lange der Körper be-
5 steht denjenigen Afiekten unterworfen, welche ein Leiden enthalten.
Folgesatz. Hieraus ergibt sich, daß keine andere Liebe, außer
der geistigen, ewig ist.
Lehrsatz XXXV. Gott liebt sich selbst mit einer unendHchen
geistigen Liebe.
10 Beweis. Gott ist unbedingt unendlich, das heißt Gottes Natur
erfreut sich einer unendlichen Vollkommenheit, und zwar begleitet
von der Vorstellung seiner, das heißt von der Vorstellung seiner als
Ursache, und dies ist, was im Folgesatz zum Lehrsatz XXXII die geistige
Liebe genannt worden ist.
15 Lehrsatz XXXVI. Die geistige Liebe der Seele zu Gott ist
Gottes Liebe selbst, durch welche Gott sich selbst hebt, nicht sofern
er unendlich ist, sondern sofern er durch das Wesen des menschlichen
Geistes, unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit betrachtet, ausge-
drückt werden kann, das heißt die geistige Liebe der Seele zu Gott ist
20 ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt.
Beweis. Diese Liebe der Seele gehört zu ihren Handlungen
(Folgesatz zum Lehrsatz XXXII) und ist eine Handlung, wodurch die
Seele sich selbst betrachtet, unter Begleitung der Vorstellung Gottes
als Ursache (nach demselben Folgesatz), das heißt eine Handlung, wo-
25 durch Gott, insoweit er durch die menschliche Seele ausgedrückt werden
kann, sich selbst betrachtet unter Begleitung der Vorstellung seiner
selbst. Mithin ist diese Liebe der Seele (nach vorigem Lehrsatz) ein
Teil der unendhchen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.
Folgesatz. Hieraus ergibt sich, daß Gott, insofern er sich selbst
30 liebt, die Menschen hebt, und folghch, daß die Liebe Gottes zu den
Menschen und die geistige Liebe der Seele zu Gott ein und dasselbe sind.
Erläuterung. Hieraus kann man deutlich erkennen, worin
unser Heil oder unsere Seligkeit oder Freiheit
besteht, nämlich in beständiger und ewiger Liebe zu Gott oder
35 in der Liebe Gottes zu den Menschen. Und diese Liebe oder SeUgkeit
wird in den heihgen Schriften nicht mit Unrecht Ruhm (gloria) ge-
nannt, denn mag diese Liebe auf Gott oder auf die Seele bezogen werden,
so kann sie mit Recht Zufriedenheit der Seele genannt werden, welche
sich in Wahrheit von dem Ruhme nicht unterscheidet. Denn so weit
40 sie auf Gott bezogen wird, ist es Freude (nach Lehrsatz XXXV), wenn
es noch gestattet ist, dieses Wort zu gebrauchen, unter Begleitung der
10
120 Spinoza.
Vorstellung Gottes, und dasselbe gilt, wenn diese Freude auf die Seele
bezogen wird (nach Lehrsatz XXVII). Weil ferner das Wesen unserer
Seele nur in der Erkenntnis besteht, deren Prinzip und Grundlage
Gott ist, so wird nun dadurch verständhch, wie und auf welche Weise
unsere Seele nach ihrer Wesenheit und ihrem Dasein aus der göttlichen
Natur folgt und fortwährend von Gott abhängt. Ich habe dies hier er-
wähnen wollen, um an diesem Beispiel zu zeigen, wieviel jene Erkenntnis
der Einzeldinge, welche ich die intuitive oder die der dritten Art ge-
nannt habe , vermag und höher steht als die allgemeine Erkenntnis,
welche ich die der zweiten Art genannt habe. Denn obgleich ich im
I. Teil überhaupt gezeigt habe, daß alles und mithin auch die mensch-
liche Seele von Gott nach Wesenheit und Existenz abhängig ist, so ist
jener Beweis, obgleich er richtig und über allen Zweifel erhaben ist,
doch für unseren Verstand nicht so überzeugend, als wenn dies aus der
eigenen Wesenheit jeder einzelnen Sache, welche ich als von Gott ab- is
hängig erklärt habe, gefolgert wird.
Lehrsatz XXXVII. Es gibt in der Natur nichts, was dieser
geistigen Liebe entgegen ist oder sie aufheben könnte.
Beweis. Die geistige Liebe folgt notwendig aus der Natur der
Seele, sofern sie als eine ewige Wahrheit durch die Natur Gottes auf- 20
gefaßt wird (nach Lehrsatz XXXIII). Wenn es also einen Gegensatz
gegen diese Liebe gäbe, so wäre dies ein Gegensatz gegen das Wahre,
und mithin bewirkte das, was diese Liebe aufzuheben vermöchte, daß
das Wahre falsch wäre, was (wie von selbst klar ist) widersinnig ist.
Es gibt deshalb nichts in der Natur u. s. w. 20
Baruch Despinoza (1632 — 1677) hat die „Ethica ordine geometrico denwn-
strata' 1662 begonnen; nach seinem Tode wurde sie herausgegeben in den
,.Opera posthuma' 1677. Die beste Ausgabe seiner Werke ist die von Vloten
und Land, 2. Auflage 1895. Die sämtlichen Werke Spinozas hat Auerbach
übersetzt (1841, 2. Auflage 1872), ferner J. H. v. Kirchmann in der „Philo-
sophischen BibHothek"; auch in Reclams Universalbibliothek ist eine Über-
setzung der Ethik erschienen. Die vorhegende Übersetzung schließt sich an
v. Kirchmann an. Eine neue, mit Einleitung, Anmerkung und einem für den
Anfänger sehr nützHchen Register versehene Übersetzung von O. Baensch
erschien 1905 als Bd. 92 der „Philosophischen Bibliothek".
Eine gute Übersicht der Lehre S.s, besonders des Hauptwerkes, findet
der Leser in Überwegs Grundriß, 9. Auflage, Bd. III, S. 109—144. Ferner
sei hingewiesen auf die Darstellung in Windelband, Geschichte der neueren
Philosophie, 2. Auflage, Band I, S. 196—235. Für die Lebensgeschichte S.s
sei das Buch des bekannten Spinozaf orschers J. Freudenthal erwähnt: „Spinoza,
sein Leben und seine Lehre". Bd. I. Das Leben Spinozas. 1904.
Erläuterungen. 121
Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Metaphysik S.s ist enthalten
in dem. „Tractatus de intellectus emendatione'' (ebenfalls herausgegeben in den
Opera posthuma). In Übereinstimmung mit Descartes sieht S. das Kriterium
der Wahrheit in der unmittelbaren Evidenz gewisser Elemente der Erkenntnis,
Begriffe oder Sätze. Wie es in der Geometrie gewisse Begriffe und Grund-
wahrheiten, Axiome, gibt, so müssen solche einfachen Wahrheiten (simplicia)
in der Metaphysik aufgesucht werden; -wie sich in der Geometrie aus Defini-
tionen und Axiomen alle weiteren geometrischen Verhältnisse in notwendiger
Folge ableiten lassen, so müssen in der Metaphysik mit derselben Notwendigkeit
nach derselben Methode aus intuitiv sicheren Definitionen und Axiomen alle
Verhältnisse der Wirklichkeit abgeleitet werden. So beginnt S. seine Ethik
mit Definitionen der Grundbegriffe der Wirklichkeit und Aufstellung von
Axiomen. Aus diesen durch sich selbst gewissen Grundsätzen werden die
Lehrsätze {Propositiones) abgeleitet. Diesen Lehrsätzen können sich dann
anschließen CoroUarien, das heißt unmittelbar aus den Lehrsätzen sich er-
gebende Folgesätze, und Schollen, das heißt Erläuterungen der Lehrsätze
und Beweise. Die nach S. evidenten Grundbegriffe seines Systems sind die
Substanz, das Attribut, der Modus. Unter Substanz ver-
steht S. das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, das heißt, dessen
Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, um daraus abgeleitet
werden zu müssen ; unter Attribut das, was der Verstand von der Substanz
erfaßt als das, was ihr Wesen ausmacht; unter Modus endlich die Zustände der
Substanz oder das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.
Unter Zuhilfenahme der Axiome bestimmt nun S. im ersten Buch seiner
Ethik aus diesen Grundbegriffen das Wesen Gottes. Unter Gott versteht er
das absolut unendliche Wesen, das heißt die Substanz, welche aus unendlichen
Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Wesenheit
ausdrückt. Einem absolut unendlichen Wesen können keine unendlichen
Attribute abgesprochen werden. Außer Gott kann es keine Substanz geben,
denn, würde irgend eine Substanz außer Gott existieren, so müßte die Wesen-
heit dieser Substanz, da Gott als dem absolut unendlichen Wesen kein Attribut
abgesprochen werden kann, durch irgend ein Attribut Gottes ausgedrückt
werden; es gäbe also zwei Substanzen mit demselben Attribut. Zwei Sub-
stanzen von derselben Wesenheit wären aber überhaupt nicht mehr zwei ver-
schiedene Substanzen; also gibt es nur eine absolut unendliche Substanz.
Gibt es aber nur eine einzige Substanz, so muß alles in Gott sein. Die Attribute
drücken ja nur die Wesenheit und die Modi nur die Zustände der Substanz
aus; und außer der Substanz, den Attributen und den Modi gibt es in der
Wirklichkeit nichts. Wie ist nun das Verhältnis der Wirklichkeit, wie sie sich
in der Vielheit der Einzeldinge darstellt, zu dieser einen unendlichen gött-
lichen Substanz? Es ist das Verhältnis der mathematischen Folge; aus dem
Wesen Gottes muß die ganze Wirklichkeit abgeleitet werden. Hier setzt
Lehrsatz XVI ein.
111 9. Siehe Einleitung.
111 26. Siehe Einleitung.
122 Spinoza.
112 4. Un Vollkommenheit ist nach S. immer ein Mangel, eine Einschränkung,
eine Negation; da Gott ein absolut unendliches Wesen ist, das heißt, da von
ihm kein Attribut negiert werden kann, so ist Gott ein absolut vollkommenes
Wesen. Für S. sind absolute Realität, absolute Macht, absolute Vollkommen-
heit dasselbe. Diese Vollkommenheit ist, wie wir sehen werden, weit entfernt
von dem, was die Menschen als gut und böse bezeichnen.
112 16 f. Über den Gott persönlich zugeschriebenen Verstand und Willen
vergleiche Anmerkung zu 116 29 und im Verlauf der Erläuterung.
113 19 ff. Die Begriffe „Wahrheit" und „Falschheit" der Dinge sind zu ver-
stehen, wenn wir den Gegensatz von Wesen {essentia) und Dasein (existentia)
der Dinge beachten, wie er 113 21 ff. erörtert wird. Danach unterscheidet S.
an den Dingen eine begriffliche, zeitlose Essenz und eine sinnlich zeitliche
Existenz. Das Beispiel 11 3 30 f. orientiert über diesen Gegensatz. So können
wir sagen, daß ein einzelner Mensch zu einem Teile, sofern er den Gattungs-
charakter des Menschen besitzt, am Ewigen teil hat, sofern es aber dieser ein-
zelne Mensch, zum Beispiel Sokrates, ist, ist er vergänglich. Wenn die Essenz
eines Dinges (zum Beispiel des Menschen) eine ewdge Wahrheit ist, so ist
deutUch, daß wir über ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit nicht entscheiden
können mit den Bestimmungen, die wir von dem nur zeitlich Existierenden
hernehmen. Ein solches zeitloses Bestehen gibt es nun in den logischen Be-
ziehungen. Die im Syllogismus (vergleiche oben S. 20 2 ff.) ausgedrückte Ab-
hängigkeit des Einzelnen vom Allgemeinen gilt zeitlos. Wollen wir über die
Möglichkeit der Essenz eines Wesens entscheiden, so können wir dies nur mit
Hilfe solcher logischen Bestimmungen, zum Beispiel des Satzes vom Wider-
spruch. Die Idee eines viereckigen Dreiecks wäre logisch angesehen ein Wider-
spruch, die Essenz eines solchen wäre falsch, wir brauchten nicht erst die Exi-
stenz eines solchen zu versuchen. Wir erkennen aber unsere Grenze als Men-
schen, wenn wir die Idee eines Centauren bilden. Da hätten wir eine logisch
widerspruchslose Essenz, aber nicht die Existenz. Wir können überhaupt
sagen, daß die Essenz der Dinge ihre Existenz nicht einschließt, sondern daß
Gott, insofern zu seiner Natur allein die Existenz gehört (Lehrsatz XXIV
von Buch I) die Ursache der Existenz der Dinge ist. Dies fordert die pan-
theistische Grundanschauung S.s. Vergleiche L. Busse: Über die Bedeutung
der Begriffe essentia und existentia bei S., Vierteljahrschrift für wiss. Phil. X,
1886, S. 283—306.
Verbindende Erörterung.
Nachdem S. gezeigt hat, wie aus Gottes Natur auf unendliche Weise Un-
endliches folgt (Lehrsatz XVI) und den Grundsatz eines ununterbrochenen
Kausalzusammenhanges, das heißt in seinem Sinn einer logisch-mathematischen
notwendigen Folge, der Dinge mit Gott und der Dinge untereinander, unter
Ausschluß jeglichen Zufalls, aufgestellt hat, wendet er sich gegen alle Versuche,
die Welt aus einem zwecksetzenden Willen Gottes abzuleiten.
114 31. Die Vorurteile leitet S. in seiner Affektenlehre (Buch III, Über den
Ursprung und die Natur der Affekte) aus der Mechanik des menschlichen
Seelenlebens ab.
Erläuterungen. 123
116 18. S. lebte zu einer Zeit, wo im Gebiete der Naturwissenschaft überall
die quantitativen Beziehungen der Wirklichkeit gemessen und mathematisch
bestimmt wurden und die exakte Naturwissenschaft entstand (Kepler und
Galilei).
116 29 f. Lehrsatz XVI vergleiche verbindende Erörterung S. 122 Z. 9 v. u. f.
In dem Folgesatz I zu Lehrsatz XXXII ergibt sich für S. unmittelbar aus
der Behauptung, daß der Wille nicht frei sein könne, weil auch die Willens-
handlung nichts ist als ein Glied in einer unendlichen Kausalreihe, die Tatsache,
daß Gott nicht aus sogenanntem freien Willen handeln könne. Auch Wille
und Geist Gottes sind gerade so wie Ruhe und Bewegung in bestimmter Weise
durch seine Natur determiniert (Folgesatz II).
116 38. Die Lehrsätze XXI bis XXIII besagen, daß alles, was aus der unend-
lichen Natur eines Attributes Gottes oder aus einem Modus, der sich aus der
unendlichen Natur eines Attributes herleitet, folgt, ewig und unendlich ist.
Je mehr Glieder dagegen zwischen einem Attribut oder einem Modus, der aus
einem Attribut folgt, und einem Dinge in der logisch-mathematischen Folge
sich einschieben, desto unvollkommener ist das Ding. Die Schwierigkeit,
wie überhaupt aus dem Unendlichen und Vollkommenen etwas Endliches
und Unvollkommenes folgen kann, ist offenkundig.
117 6 f. Diese Unterscheidung wird in der Scholastik überaus häufig ge-
macht und geht schUeßHch auf Aristoteles zurück. J. Freudenthal, dem wir
diese ^Mitteüung verdanken, glaubt, daß S. sie aus dem von ihm oft benützten
Adrien Heereboord (Cartesianer, gest. 1659) geschöpft hat {Disputationum vol.
II p. 269a ed. 1665).
118 3. S. kannte den Haß derer, welche die Menge als die Dolmetscher
der Natur und der Götter verehrt, aus eigener Erfahrung. Er wurde 1656
durch Bannfluch aus der Synagoge ausgestoßen. Sein tractatus theologico-
polüicus (1670) wurde von allen Parteien in gehässigster Weise angegriffen.
Der schon bei Lebzeiten beabsichtigten Herausgabe seiner Ethik wurde der
hartnäckigste Widerstand entgegengesetzt.
118 8. S. fordert, wie wir sehen, die strengste Durchführung der mechani-
schen Naturerklärung unter Ausschluß jeder Erklärung der Vorgänge der
Wirklichkeit aus einem göttlichen Zweckhandeln. Diese Forderung hat sich
die ganze moderne Naturwissenschaft zu eigen gemacht; eine Flucht in das
Asyl der Unwissenseit ist dem exakten Naturforscher nicht mehr erlaubt.
Dagegen ist die teleologische Betrachtungsweise unter Ausschluß der Hypo-
stasierung eines göttHchen zwecksetzenden Willens seit Kants Kritik der Urteils-
kraft als bloßes wissenschaftliches Forschungsprinzip (nicht als Erklärungs-
prinzip) anerkannt.
VerbindendeErörterung.
Hat S. im ersten Buch („Über Gott") das Wesen Gottes oder der Natur
als der einen unendlfchen Substanz in ihrem Verhältnis zu den Attributen
und Modi dargestellt, so gibt er im zweiten Buch („Über die Natur und den
Ursprung des Geistes") die beiden parallelen Kausalzusammenhänge der
Attribute „Denken und Ausdehnung". Im dritten Buch („Über den Ursprung
124 Spinoza.
und die Natur der Affekte") bedient sich dann S, seiner mathematisch-mecliani-
schen Betrachtungsweise, um eine Mechanik der menschlichen Affekte zu geben,
erörtert dann im vierten Buch („Über die menschhche Knechtschaft oder die
Macht der Affekte"), wie der Mensch mit derselben Notwendigkeit, die überall
in der Natur herrscht, unter die Herrschaft der Affekte geraten muß, um dann
im fünften Buch („Über die Macht des Intellekts oder die menschliche Frei-
heit") zu zeigen, wie der Mensch von dieser Knechtschaft frei werden kann.
118 9. S. unterscheidet drei Arten der Erkenntnis: 1. die Meinung (opinio)
oder Einbildung {imaginatiö), welche von einzelnen ungeordneten Sinnes-
wahrnehmungen oder bloßen Worten ausgeht und nicht adäquate Erkenntnis
übermittelt; 2. die Verstandeserkenntnis [ratio), welche das aUen Dingen
gemeinsame adäquat begreift, z. B. die Ideen der Ausdehnung, Denken etc. ;
3. das intuitive Wissen, das von der adäquaten, unmittelbar evidenten Er-
kenntnis der Attribute Gottes zm* Erkenntnis des Wesens der Dinge fort-
schreitet. Vergleiche Ethik Buch II, Erläuterung II zu Lehrsatz XL.
118 12 f. Die höchste Befriedigung, die der Mensch in sich selbst finden kann,
ist die Freude, wenn er in sich die Macht zu handeln, nicht zu leiden, nicht
durch etwas eingeschränkt zu werden besitzt (siehe Anmerkung 112 4). Sie
entspringt aus der dritten Art der Erkenntnis, aus der Betrachtung der Dinge
vom Standpunkt der Ewigkeit, aus dem Bewußtsein, daß wir in Gott sind.
Diese dritte Art der Erkenntnis stammt nur aus dem ewigen Geiste Gottes;
der intuitiv erkennende Mensch weiß, daß Gott die Ursache seiner höchsten
Freude ist; weiß er das, so liebt er Gott als ewige Wesenheit.
11827. Da die dritte Art der Erkenntnis ewig ist, so muß, weil aus einer
gegebenen Ursache immer eine bestimmte Folge folgen muß und die dritte
Art der Erkenntnis Ursache der geistigen Liebe Gottes ist, die geistige Liebe
Gottes ewig sein. Axiom 3 gibt die Definition der Substanz, vergleiche die
Einleitung.
118 32. Jede andere Liebe richtet sich auf eine vergängUche Ursache der
Freude, und schwindet mit ihr; nur die Liebe zu Gott ist ewig, anfangs- und
endlos (siehe Lehrsatz XXXIV, Folgesatz), weil ihre Ursache ewig und unver-
änderUch ist, sie ist ein ewiges Glück, nicht eine vorübergehende Freude.
1195. Alle Affekte, denen der Mensch bloß leidend hingegeben ist, ent-
springen der ersten Stufe der Erkenntnis (siehe Anmerkung 1189), aus in-
adäquaten Ideen, verworrenen Sinneseindrücken, denen der Mensch sich nur
sinnlich perzipierend ohne Denktätigkeit hingibt. Da diese Sinneseindrücke
durch die körperliche Natur des Menschen bedingt sind, so schwinden diese
inadäquaten Ideen und die durch sie verursachten Leidenschaften, wenn der
Mensch von seiner KörperUchkeit erlöst ist.
119 37. Siehe Jes. 6, 3; Ps. 8, 6, 113, 4; Joh. 11, 40; Rom. 3, 23; Eph. 1,
17, 18. Luther übersetzt das, was S. hier als Ruhm bezeichnet, als Herrlich-
keit Gottes.
1202. Vergleiche zu 118 12.
120 14. Die Methode, durch ein deduktives Schlußverfahren die Wahr-
heiten abzuleiten, gehört der zweiten Art der Erkenntnis an; sie ist die Me-
Erläuterungen. 125
thode, deren S. sich in seinen Beweisführungen bedient hat. Bei der dritten
Art der Erkenntnis dagegen bedarf es keines Schlußverfahrens; wer das
intuitive Wissen hat, erkennt unmittelbar, wie das Wesen jedes Dinges in
Gott ruht. S. selbst hat, wie er sagt, nur sehr wenig auf diese Art eingesehen.
120 26. Die mitgeteilten Stücke haben wohl deutlich gezeigt, wie es auf der
einen Seite S.s Bestreben ist, nach strenger logischer Methode das Wesen Gottes
und der Natur gedankenmäßig zu erfassen, wie er aber anderseits dies unendliche
Wesen in der intellektuellen Liebe gefühlsmäßig in sich aufnehmen will. Alles
ist in Gott und Gott ist in allem, das ist seine pantheistische Weltansicht, und
dieses unendliche Allwesen liebt der Weise mit einer unendlichen ewigen Liebe,
die sich doch wieder zum Urgründe alles Seins zurückwendet und aus ihm
entspringt. Der kalte Gedankenbau wird durchglüht von wärmender gött-
licher Liebe, das konsequenteste Verstandessystem endigt im Mystizismus.
M e n z e r.
XL
Locke.
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren.
§ 1. Der Nachweis des Weges, auf dem wir zu
irgendwelchem Wissen gelangen, genügt, um dar-
zutun, daß es nicht angeboren ist. — Bei manchen
Leuten steht die Ansicht fest, daß der Verstand gewisse ihm angeborene
Grundbegriffe enthalte, gewisse ursprüngliche Vorstellungen, xoival 5
svvotai, dem menschUchen Bewußtsein gleichsam aufgeprägte Schrift-
züge, die die Seele bei ihrem Eintritt in das Dasein empfange und mit
sich in die Welt bringe. Um vorurteilsfreie Leser von der Unrichtigkeit
dieser Annahme zu überzeugen, würde es genügen, wenn ich nur zeigte,
wie die Menschen bloß durch den Gebrauch ihrer natürlichen Fähigkeiten 10
alles Wissen, das sie besitzen, ohne Beihilfe irgendwelcher angeborenen
Eindrücke erwerben und ohne solche ursprünglichen Vorstellungen oder
Grundbegriffe zur Gewißheit gelangen können. Denn ich denke, jeder-
mann wird leicht zugeben, daß es ungereimt sein würde, die Ideen
der Farben bei einem Geschöpfe für angeboren zu halten, dem Gott 15
das Gesicht und die Kraft gegeben hat, sie vermittels der Augen von
äußeren Gegenständen zu empfangen; und nicht weniger unvernünftig
wäre es, einige Wahrheiten natürlichen Eindrücken und angeborenen
Schriftzügen zuzuschreiben, wenn wir Fähigkeiten in uns wahrnehmen
können, die uns in den Stand setzen, sie mit ebenso großer Leichtig- 20
keit und Sicherheit zu erkennen, als wenn sie dem Geiste ursprünglich
eingeprägt wären.
Weil es aber niemand ohne Tadel gestattet ist, bei der Erforschung
der Wahrheit seinen eigenen Gedanken zu folgen, wenn sie ihn auch nur
ein wenig von der gemeinen Heerstraße ableiten, so werde ich die Gründe, 25
die mich an der Wahrheit jener Meinung zweifeln heßen, zur Entschuldi-
gung meines Irrtums auseinandersetzen für den Fall, daß ich mich in
einem solchen befinde. Das Urteil darüber überlasse ich denen, die
Dem Geiste sind keine Grundbegrijßfe angeboren. 127
gleich mir entsclilossen sind, sich die Wahrheit anzueignen, wo immer
sie sie finden.
§ 2. Die allgemeine Zustimmung als Hauptargu-
ment. Nichts wird allgemeiner als zugestanden angesehen, als daß
5 es gewisse Grundsätze gebe, sowohl theoretische wie praktische, denen
die ganze Menschheit stets und überall zustimme; diese müßten des-
halb — so folgert man — notwendigerweise dauernde Eindrücke sein,
die die Seelen der Menschen bei ihrem ersten Eintritt in das Dasein emp-
fingen, und die sie ebenso notwendig und tatsächhch mit sich in die
10 Welt brächten, wie irgend eine der ihnen innewohnenden Fähigkeiten.
§ 3. Die allgemeine Zustimmung beweist nicht
das Angeborensein. Dies von der allgemeinen Zustimmung
abgeleitete Argument ist ein unglückliches zu nennen, weil, wenn es
wirkhch gewisse, von allen Menschen anerkannte Wahrheiten gebe,
15 darin noch kein Beweis für ihr Angeborensein Hegen würde; denn es
heße sich vielleicht irgendwelche andere Weise zeigen, wie die Menschen
zu jener allgemeinen Übereinstimmung in den Sachen, worüber sie einer
Meinung sind, kommen können; und ich denke, das läßt sich tun.
§4. Den Sätzen: „was ist, das ist", und: „kein
20 Ding kann zugleich sein und nicht sein", wird
nicht allgemein zugestimmt. — Was aber noch schUmmer
ist: dieses Argument von der allgemeinen Zustimmung, dessen man
sich bedient, um die Existenz angeborener Grundsätze zu beweisen,
scheint mir vielmehr zu zeigen, daß es solche nicht gibt, weil es keine
25 gibt, denen die ganze Menschheit stets und überall beistimmte. Ich
werde mit den spekulativen beginnen, und als Beispiel die gepriesenen
Grundlagen des Beweisens: .,was ist, das ist", und: „kein Ding kann
zugleich sein und nicht sein", benutzen, die, wie ich glaube, unter allen
anderen den am meisten anerkannten Anspruch auf Angeborensein
30 haben. Ihr Ruf als allgemein angenommene Axiome steht so fest, daß
es sicherHch für seltsam gelten wird, wenn irgend jemand daran zu
zweifeln scheint. Dennoch nehme ich mir die Freiheit zu sagen, daß
diese Sätze so weit davon entfernt sind, allgemeine Zustimmung zu
finden, daß sie einem großen Teil der Menschheit überhaupt nicht be-
35 kannt sind.
§5. Sie sind dem Geiste nicht von Natur ein-
geprägt, weil sie den Kindern, Idioten u. s. w.
nicht bekannt sind. — Denn erstens hegt es auf der Hand,
daß alle Kinder und Idioten nicht den geringsten Begriff oder Gedanken
40 von ihnen haben, und dieser Mangel genügt, um die allgemeine Zustim-
mung zu vernichten, die notwendig der unausbleibliche Begleiter aller
128 Locke.
angeborenen Wahrheiten sein muß; denn es scheint mir fast ein Wider-
spruch darin zu liegen, wenn man sagen wollte, es gebe der Seele ein-
geprägte Wahrheiten, die sie nicht bemerke oder verstehe, da das Ein-
prägen, wenn es überhaupt einen Sinn hat, nur darin bestehen kann,
daß die Erkenntnis gewisser Wahrheiten bewirkt wird. Denn daß dem 5
Geiste etwas eingeprägt werde, ohne daß es ihm zum Bewußtsein käme,
scheint mir kaum verständHch zu sein. Wenn deshalb Kinder und
Idioten Seelen haben, oder einen Geist besitzen, die mit solchen Ein-
drücken versehen sind, so müssen sie diese unausbleibUch bemerken,
sie müssen diese Wahrheiten notwendig erkennen und ihnen beipflichten, lo
und da sie das nicht tun, gibt es augenscheinhch solche Eindrücke nicht.
Denn wenn es keine von Natur eingeprägte Vorstellungen sind, wie
können sie dann angeboren sein? und, wenn es eingeprägte Vorstellungen
sind, w^ie können sie dann unbekannt sein? Sagen, daß eine Vorstellung
dem Geiste eingeprägt sei, und doch zugleich behaupten, daß der Geist i5
kein Bewußtsein von ihr habe und sie noch niemals beachtete, heißt,
ihre Einprägung zu nichte machen. Von einem Satze, der dem Geiste noch
niemals bekannt gewesen ist, dessen er sich noch niemals bewußt ge-
worden, kann man nicht sagen, daß er in ihm enthalten sei. Wäre dies
bei einem zulässig, so darf man aus demselben Grunde von allen 20
wahren Sätzen, denen der Geist jemals zustimmen mag, behaupten,
sie seien in ihm enthalten und ihm eingeprägt. Wenn sich von irgend
einem sagen läßt, er sei in ihm enthalten, so kann dies nur deshalb
gestattet sein, weil der Geist fähig ist, ihn kennen zu lernen, und dies
von allen Wahrheiten gilt, die er jemals einsehen wird. Ja, auf die 25
Art können dem Geiste Wahrheiten eingeprägt sein, die er niemals
gewußt hat, noch jemals wissen wird; denn es kann jemand lange in
der Unkenntnis mancher Wahrheiten leben und endhch darin sterben,
zu deren Erkenntnis, und zwar mit Sicherheit, sein Geist befähigt war.
So daß, wenn die behauptete ursprünghche Einprägung in der Möglich- 30
keit Wissen zu erwerben besteht, alle Wahrheiten, zu deren Erkenntnis
einer jemals gelangt, aus diesem Grunde Stück für Stück angeboren
sein werden; und dieser Hauptpunkt wird auf nichts mehr als eine
recht unpassende Ausdrucksweise hinauslaufen, die, während sie das
Gegenteil zu behaupten vorgibt, nur dasselbe sagt, wie die, welche an- 35
geborene Grundbegriffe leugnen. Denn niemand hat, meine ich, jemals
geleugnet, daß der Geist fähig sei, manche Wahrheiten zu erkennen.
Die Fähigkeit, heißt es, ist angeboren, das Wissen ist erworben. Wozu
dann aber dieser Kampf für gewisse angeborene Grundsätze? Wenn
Wahrheiten dem Verstände eingeprägt sein können, ohne daß sie be- 40
merkt werden, so sehe ich nicht ein, daß zwischen den Wahrheiten, zu
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren. 129
deren Erkenntnis der Geist fähig ist, hinsichtlich ihres Ursprungs irgend
ein Unterschied bestehen könnte; sie müssen alle angeboren, oder alle
erworben sein; vergeblich würde man versuchen, hier einen Unterschied
zu machen. Wer von angeborenen Gedanken im Verstände spricht,
5 kann deshalb (wenn er darunter eine besondere Art von Wahrheiten
versteht) nicht meinen, daß der Verstand solche Wahrheiten enthalte,
die er noch niemals erfaßt hat, und die ihm noch völlig unbekannt
sind. Denn, wenn diese Worte (im Verstände enthalten sein) irgendwie
zutreffend sind, so bedeuten sie „verstanden werden", so daß „im Ver-
10 stände enthalten sein und nicht verstanden werden", „im Geiste ent-
halten sein und niemals bemerkt werden", ganz dasselbe ist, als wenn
jemand sagte, etwas sei und sei zugleich nicht im Geiste oder Verstände.
Wenn also diese beiden Sätze: „was ist, das ist", und: „kein Ding kann
zugleich sein und nicht sein", uns von Natur eingeprägt sind, so können
15 sie den Kindern nicht unbekannt sein. Kleine Kinder und alle beseelten
Wesen müssen sie notwendig in ihrem Verstände haben, ihre Wahrheit
einsehen und ihnen beipflichten.
§6. Erwiderung darauf, daß sie den Menschen
bewußt werden, sobald sie zum Gebrauch ihrer
20 Vernunft gelangen. — Um dieser Folgerung zu entgehen, er-
\vidert man gewöhnhch, daß alle Menschen sie einsehen und ihnen bei-
pflichten, sobald sie zum Gebrauch ihrer Vernunft kommen, und daß
dies genüge, um ihr Angeborensein zu beweisen. Darauf entgegne ich:
§ 7. Zweifelhafte Ausdrücke, die kaum irgendwelchen Sinn haben,
25 gelten für klare Gründe bei denen, die voreingenommen sind und sich
deshalb nicht die Mühe geben, auch nur das zu prüfen, was sie selbst
sagen. Denn damit diese Antwort sich mit irgend einem erträghchen
Sinn auf unser gegenwärtiges Thema anwenden lasse, muß sie entweder
bedeuten: daß, sobald die Menschen zum Gebrauch ihrer Vernunft ge-
30 langen, jene vermeintlich angeborenen Inschriften ihnen bekannt U4d
von ihnen wahrgenommen werden, oder aber, daß der Gebrauch und
die Übung der Vernunft den Menschen bei der Entdeckung jener Grund-
sätze behilflich sind und die gewisse Kenntnis derselben übermittelt.
§ 8. Wenn die Vernunft sie entdeckte, so würde
35 dadurch ihrxA.ngeborensein nicht bewiesen. — Wenn
man glaubt, daß die Menschen jene Grundsätze durch den Gebrauch
ihrer Vernunft entdecken können, und daß dies genüge, um ihr An-
geborensein zu beweisen, so Hegt darin folgende Schlußfolgerung:
daß alle Wahrheiten, die die Vernunft mit Gewißheit offenbaren, und
40 wofür sie unsere feste Zustimmung gewinnen kann, dem Geiste von
Natur eingeprägt seien, da die allgemeine Zustimmung, die als Kenn-
D es soir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 9
130 Locke.
zeichen dienen soll, auf nicht mehr als darauf hinausläuft, daß wir im
Stande sind, durch den Gebrauch der Vernunft zu ihrer sicheren Kennt-
nis zu gelangen und ihnen beizupflichten; und danach gibt es keinen
Unterschied zwischen den Axiomen der Mathematiker und den daraus
von ihnen abgeleiteten Lehrsätzen; alle müssen gleichermaßen für 5
angeboren gelten, weil alle mit Hilfe der Vernunft entdeckt worden
sind, und ihre Wahrheit von einem vernünftigen Geschöpfe sicher er-
kannt werden kann, wenn es sein Denkvermögen auf diesen Gegenstand
recht anwendet.
§9. Daß die Vernunft sie entdecke, ist nicht lo
wahr. — Aber wie kann man glauben, daß der Gebrauch der Vernunft
zur Entdeckung von Grundsätzen nötig sei, die für angeboren gelten,
wenn die Vernunft (wie man uns lehrt) nur das Vermögen ist, unbekannte
Wahrheiten aus schon bekannten Grundbegriffen oder Sätzen abzu-
leiten. Das, zu dessen Entdeckung wir die Vernunft nötig haben, kann i5
sicherhch niemals für angeboren gelten; sonst werden uns, wie gesagt,
alle sicheren Wahrheiten, die wir jemals durch die Vernunft kennen
lernen, dafür gelten müssen. Wir könnten ebensogut den Gebrauch der
Vernunft für erforderlich halten, damit unsere Augen sichtbare Gegen-
stände wahrnehmen, als daß die Vernunft oder deren Anwendung 20
nötig sein sollten, damit der Verstand etwas gewahr werde, was ihm
ursprünglich eingeprägt ist und nicht früher im Verstände enthalten
sein kann, bevor es von ihm aufgefaßt wird. Läßt man demnach die
Vernunft jene so eingeprägten Wahrheiten entdecken, dann sagt man,
durch den Gebrauch der Vernunft werde jemand etwas offenbar, was 25
er schon vorher wußte; und wenn die Menschen jene bei der Geburt
ihnen eingeprägten Wahrheiten ursprünglich und vor dem Vernunft-
gebrauch besitzen, sich aber doch in beständiger Unkenntnis derselben
befinden, bis sie zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangen, so heißt das
wirklich nichts anderes, als daß sie dieselben zu gleicher Zeit wissen und so
nicht wissen.
§12. Die Zeit, wo wir zum Gebrauch der Ver-
nunft gelangen, ist nicht die der Erkenntnis
jener Axiome. — Wenn mit der Behauptung, daß wir sie erkennen
und ihnen beipflichten, sobald wir zum Gebrauch der Vernunft gelangen, 35
gemeint ist, daß dies der Zeitpunkt sei, zu welchem wir uns ihrer be-
wußt werden, und daß, sobald die Kinder zum Gebrauch der Vernunft
gelangen, sie auch dazu kommen, jene Axiome zu erkennen und ihnen
beizupflichten, so ist auch das falsch und gedankenlos. Erstens ist
es darum falsch, weil ein Bewußtsein dieser Axiome offenbar nicht so 4o
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren. 131
früh eintritt, wie der Gebrauch der Vernunft, und deshalb der Beginn
des Vernunftgebrauchs mit Unrecht als die Zeit ihrer Entdeckung be-
zeichnet wird. Wie viele Beispiele des Vernunftgebrauchs können wir
nicht bei Kindern beobachten, lange Zeit bevor sie irgendwelche Kennt-
5 nis des Axioms haben: ,,kein Ding kann zugleich sein und nicht sein!"
Und ein großer Teil der ungebildeten Leute und der Wilden verbringt
viele Jahre auch ihres vernünftigen Alters, ohne jemals diese oder ähn-
liche allgemeine Sätze zu denken. Ich räume ein, daß die Menschen zur
Erkenntnis dieser allgemeinen und mehr abstrakten Wahrheiten, die
10 man für angeboren hält, nicht eher gelangen, als bis sie ihre Vernunft
gebrauchen lernen, und füge hinzu: auch dann noch nicht. Das verhält
sich so, weil erst nach dem Eintritt des Vernunftgebrauchs im Geiste
sich die allgemeinen abstrakten Ideen bilden, worauf jene allgemeinen
Axiome sich beziehen, die man irrtümUch für angeborene Grundsätze
15 hält, während sie in der Tat Entdeckungen sind, die ebenso gemacht,
und Wahrheiten, die ebenso in das Bewußtsein eingeführt und gebracht
und durch dieselben Schritte gefunden werden, wie manche andere
Sätze, die für angeboren zu halten noch niemand eingefallen ist.
Ich räume demnach die Notwendigkeit ein, daß die Menschen zum
20 Gebrauch der Vernunft kommen müssen, bevor sie sich jener allgemeinen
Wahrheiten bewußt werden, leugne aber, daß der Beginn des Vernunft-
gebrauchs bei den Menschen der Zeitpunkt ihrer Entdeckung sei.
§ 14. Wenn der Beginn des Vernunftgebrauchs
der Zeitpunkt ihrer Entdeckung wäre, so würde
25 dadurch nicht ihr Angeborensein erwiesen. — Ich
stimme also mit den Verteidigern der angeborenen Grundsätze darin
überein, daß jene allgemeinen und von selbst einleuchtenden Axiome
dem Geiste nicht bewußt werden, bevor er zum Vernunftgebrauch ge-,
langt; ich leugne aber, daß der Beginn des Vernunftgebrauches genau
30 der Zeitpunkt ist, wann sie zuerst erkannt werden, und wäre er der genaue
Zeitpunkt dafür, so leugne ich, daß sie dadurch als angeboren erwiesen
würden. Alles, was unter dem Satze, daß die Menschen ihnen beipflichten,
wenn sie zum Vernunftgebrauch kommen, irgendwie in Wahrheit ge-
meint sein kann, ist nur, daß, weil die Bildung allgemeiner abstrakter
35 Ideen und das Verständnis allgemeiner Namen die Fähigkeit zum ver-
nünftigen Denken begleiten und mit ihr sich entwickeln, die Kinder
gewöhnhch jene allgemeinen Ideen nicht erfassen, und deren Namen
nicht erlernen, bevor sie ihre Vernunft eine Zeitlang an alltäghchen
und einzelnen besonderen Ideen geübt haben, und dann in ihrer richtigen
132 Locke.
Art mit anderen zu reden und zu verkehren für befähigt zu einer ver-
nünftigen Unterhaltung gelten. Wenn es auf irgendwelche andere Art
wahr sein kann, daß die Menschen den Axiomen beipflichten, sobald sie
zum Vernunftgebrauch gelangt sind, so möge man mir das nachweisen,
oder wenigstens, wie dadurch in diesem oder irgend einem anderen Sinne 5
ihr Angeborensein bewiesen wird.
§ 15. Durch welche Schritte der Geist zu mannig-
facher Erkenntnis gelangt. — Zuerst lassen die Sinne
einzelne besondere Ideen ein und statten damit das noch leere Ge-
mach aus, und wenn der Verstand nach und nach mit manchen von lo
ihnen vertraut geworden, dann werden sie in dem Gedächtnis unter-
gebracht und mit Namen versehen. Hernach abstrahiert der Verstand
in weiterem Fortschritt aus ihnen Begriffe und lernt allmählich den
Gebrauch allgemeiner Namen. Auf diese Art wird der Geist mit Ideen
und Sprache ausgestattet, den Materialien, woran er sein Denkvermögen is
üben kann, und der Vernunftgebrauch wird täglich umso sichtbarer,
je mehr diese Materiahen, die ihm Beschäftigung geben, sich anhäufen.
Obgleich aber der Besitz allgemeiner Ideen und der Gebrauch all-
gemeiner Wörter und der Vernunft gewöhnlich miteinander wachsen,
so sehe ich nicht ein, inwiefern dies irgendwie ihr Angeborensein be- 20
weist. Ich gebe zu, daß die Kenntnis gewisser Wahrheiten sich sehr
früh im Geiste findet, aber in einer Weise, die zeigt, daß sie nicht ange-
boren sind. Denn wenn wir genau zusehen, so werden wir immer finden,
daß jene Kenntnis nicht angeborene, sondern erworbene Ideen betrifft,
und zwar zuerst solche, die von äußeren Dingen herrühren, mit denen Kin- 25
der am frühesten zu tun haben und die am häufigsten Eindruck auf ihre
Sinne machen. An den so erworbenen Ideen entdeckt der Geist, daß
einige übereinstimmen und andere sich unterscheiden, vermuthch, sobald
er zu irgendwelchem Gebrauche des Gedächtnisses gelangt und fähig
ist, bestimmte Ideen zu behalten und wahrzunehmen. Mag es aber 30
alsdann geschehen, oder nicht, so viel ist gewiß, er tut das viel früher,
als er Worte gebrauchen lernt, oder zu dem gelangt, was man gewöhn-
lich Vernunftgebrauch nennt. Denn ein Kind kennt, bevor es sprechen
kann, ebenso gewiß den Unterschied zwischen den Ideen von süß und
bitter (das heißt, daß süß nicht bitter ist), wie es nachher (wenn es 35
sprechen gelernt hat), weiß, daß Wermut und Zuckerkörner nicht das-
selbe Ding sind. 1
§ 16. Ein Kind weiß nicht, daß drei und vier gleich sieben sind,
bevor es bis sieben zählen kann und den Namen wie die Idee der Gleich-
heit gewonnen hat, und dann pflichtet es der Wahrheit jenes Satzes bei, 40
oder vielmehr es erkennt sie, nachdem ihm jene Worte erklärt worden
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren. 133
sind. Aber es gibt dann weder seine Zustimmung deshalb bereitwillig,
weil er eine angeborene Wahrheit ist, noch auch fehlte dies bis dahin,
weil ihm der Vernunftgebrauch mangelte, vielmehr leuchtet ihm die
Wahrheit des Satzes ein, sobald es die mit jenen Namen bezeichneten
ä Ideen klar und deuthch in sein Bewußtsein aufgenommen hat, und dann
erkennt es die Wahrheit jenes Satzes aus denselben Gründen und durch
dieselben Mittel, vermöge welcher es früher wußte, daß eine Rute und
eine Kirsche nicht dasselbe Ding sind, und auch aus denselben Gründen,
woher ihm später bekannt werden mag, daß ., kein Ding zugleich sein
10 und nicht sein kann", wie weiterhin näher gezeigt werden soll. Je später
demnach jemand dazu kommt, die allgemeinen Ideen aufzufassen, w^omit
jene Axiome sich beschäftigen, oder die Bedeutung der allgemeinen
Ausdrücke zu verstehen, die sie bezeichnen, oder die von diesen Aus-
drücken vertretenen Ideen in seinem Geiste zusammenzufügen, umso
15 später wird er auch dazu gelangen, den Axiomen beizupflichten; denn
da deren Ausdrücke nebst den Ideen, die sie bezeichnen, nicht mehr
angeboren sind als die einer Katze oder eines Wiesels, so muß er warten,
bis die Zeit und die Beobachtung ihn damit bekannt gemacht haben,
und dann wird er im stände sein, die Wahrheit jener Axiome bei der
20 ersten Gelegenheit zu erkennen, die ihn veranlaßt, jene Ideen in seinem
Bewußtsein nebeneinander zu stellen und zu beachten, ob sie über-
einstimmen oder verschieden sind, je nachdem das eine oder das andere
in den fraghchen Sätzen ausgesprochen ist. Deshalb ist es für einen
Mann ebenso von selbst einleuchtend, daß achtzehn und neunzehn zu-
25 sammen gleich siebenunddreißig sind, wie daß eins und zwei gleich drei
sind, während ein Kind das eine nicht so früh wie das andere erkennt,
nicht weil ihm der Vernunftgebrauch fehlte, sondern weil die mit den
Wörtern achtzehn, neunzehn und siebenunddreißig bezeichneten Ideen
nicht so früh erworben werden , wie die mit eins, zwei und drei be-
30 zeichneten. v
§ 17. Daß ein Satz Zustimmung findet, sobald er vor-
getragen undverstanden ist, beweist nicht, daß er eine
angeborene Wahrheit enthält. — Da also, wie wir gesehen
haben, die Ausflucht mit der allgemeinen Zustimmung der Menschen,
35 wenn sie zum Vernunftgebrauch gelangen, fehlschlägt, und zwischen den
vermeintlich angeborenen und anderen Wahrheiten, die später erworben
und gelernt werden, kein Unterschied übrig bleibt, so hat man versucht,
für die sogenannten Axiome eine allgemeine Zustimmung sicher zu stellen,
indem man sagt: ihnen werde allgemein beigepflichtet, sobald sie vor-
40 getragen, und die Ausdrücke, worin das geschehe, verstanden seien.
Da man sieht, daß alle Menschen, sogar Kinder, sobald sie die Aus-
134 Locke.
drücke hören und verstehen, diesen Sätzen beipflichten, so denkt man,
das genüge, um sie als angeboren zu erweisen. Denn weil die Menschen,
nachdem sie einmal die Worte verstanden haben, nie verfehlen, sie als
zweifellose Wahrheiten anzuerkennen, so schließt man, daß solche Sätze
dem Verstände von Anfang an sicherlich eingepflanzt waren, denen der 5
Geist ohne irgendwelche Belehrung bei dem allerersten Vortrag ohne
weiteres sich anschließt und zustimmt, und die er später niemals wieder
bezweifelt.
§18. Wenn solche Zustimmung ein Zeichen des
Angeborenseins wäre, dann müßten auch die Sätze: lo
„eins und zwei sind gleich drei", „süß ist nicht
bitter", und tausend ähnliche angeboren sein. —
In Erwiderung darauf frage ich: „ob es ein sicheres Kennzeichen
eines angeborenen Grundsatzes ist, daß er beim Hören und Verstehen
der Ausdrücke sofort Zustimmung findet?" Wenn nicht, dann wird is
solch eine allgemeine Zustimmung vergebens als Probe dafür geltend
gemacht, sagt man aber, es sei ein Kennzeichen des Angeborenseins,
dann muß man alle Sätze als angeboren anerkennen, die allgemeine
Zustimmung finden, sobald jemand sie hört, und dabei wird man sich
selbst mit angeborenen Grundsätzen reichlich versorgt finden. Denn 20
aus demselben Grunde, weshalb man will, daß jene Axiome für angeboren
gelten sollen, nämlich wegen der Zustimmung, die sie bei dem ersten
Hören und Verstehen der Ausdrücke finden, muß man auch eine Reihe
von Sätzen über Zahlenverhältnisse für angeboren gelten lassen: daß
eins und zwei gleich drei sind, daß zweimal zwei gleich vier ist, und eine 25
Menge anderer ähnlicher auf Zahlen bezüglicher Sätze, denen jeder beim
ersten Hören und Verstehen der Ausdrücke beistimmt, müssen sonach
unter diesen angeborenen Axiomen Platz finden. Auch gilt dies nicht
allein von den Zahlen und Sätzen, die sich auf deren Verhältnisse be-
ziehen, sondern selbst die Naturkunde und alle anderen Wissenschaften so
bieten uns Sätze dar, die sicher Zustimmung finden, sobald sie ver-
standen sind. Daß zwei Körper sich nicht in demselben Räume be-
finden können, ist eine Wahrheit, vor deren Annahme sich niemand
länger bedenkt als bei den Axiomen, „daß kein Ding zugleich sein und
nicht sein kann, daß weiß nicht schwarz, daß ein Viereck kein Kreis, 3r>
daß bitter nicht süß ist". Diesen und einer Milhon anderen ebensolchen
Sätzen, wenigstens so vielen, wie wir unterschiedene Ideen haben,
muß jedermann, der bei gesundem Verstände ist, notwendig zustimmen,
sobald er sie hört und weiß, was die Worte bedeuten. Wenn man der
selbst aufgestellten Regel treu bleiben und die Zustimmung beim ersten 40
Hören und Verstehen der Ausdrücke als Kennzeichen des Angeboren-
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren. 135
Seins festhalten will, so muß man nicht nur so ^^ele angeborene Wahr-
heiten zulassen, wie die Menschen unterschiedene Ideen haben, sondern
so viele, wie sie Sätze bilden können, worin unterschiedene Ideen von-
einander verneint werden. Denn jeder Satz, in dem zwei Ideen von-
5 einander unterschieden werden, wird ebenso gewiß beim ersten
Hören und Verstehen der Ausdrücke Zustimmung finden, wie der all-
gemeine Satz: „kein Ding kann zugleich sein und nicht sein", oder der,
welcher diesen begründet, und von beiden der leichter verständliche
ist: „dasselbe ist nicht etwas anderes"; und aus diesem Grunde wird
10 man Legionen angeborener Wahrheiten allein von dieser Art haben;
anderer gar nicht zu gedenken. Weil aber kein Satz angeboren sein kann,
wenn nicht die Ideen, die er betrifft, angeboren sind, so heißt das so
viel, wie alle unsere Ideen von Farben, Tönen, Geschmack, Gestalt
u. s. \\\ für angeboren halten, was der Vernunft und Erfahrung so sehr
15 wie nur sonst irgend etwas zuwiderlaufen würde. Allgemeine und so-
fortige Zustimmung nach dem Hören und Verstehen der xlusdrücke ist,
^\^e ich zugebe, ein Kennzeichen des von selbst Einleuchtenden, aber
weil das Vonselbsteinleuchten nicht auf angeborenen Eindrücken, son-
dern (wie weiterhin gezeigt werden wird) auf etwas anderem beruht,
20 so kommt es vielen Sätzen zu, die noch niemand gewagt hat, für an-
geboren auszugeben.
§21. Daß diese Axiome mitunter unbekannt
bleiben, bis sie mitgeteilt w^ erden, zeigt, daß sie
nicht angeboren sind. — Aber mr sind mit der BilHgung
25 von Sätzen beim ersten Hören und Verstehen ihrer Worte noch nicht
zu Ende; zunächst müssen wir noch Notiz davon nehmen, daß darin
anstatt eines Kennzeichens für ihr Angeborensein vielmehr ein Beweis
des Gegenteils liegt, weil es voraussetzt, daß manche, die andere Dinge
verstehen und wissen, dieser Prinzipien unkundig bleiben, bis sie ihnen
30 vorgetragen werden, und daß jemand von diesen Wahrheiten nicht
eher Kenntnis erhalten mag, als er sie von anderen erfährt. Denn wenn
sie angeboren wären, wie könnten sie es dann nötig haben, erst vorge-
tragen zu werden, um Zustimmung zu finden, da sie doch infolge einer
natürlichen und ursprünglichen Einprägung (wenn es eine solche gäbe)
35 schon vorher bekannt sein müßten? Oder prägt ihr Vortrag sie dem
Geiste deutlicher ein als die Natur? Wäre das der Fall, so würde folgen,
daß jemand, nachdem sie ihm gelehrt worden, sie besser als vorher ver-
stände. Und daraus würde sich ergeben, daß diese Grundsätze uns
durch Belehrung von selten anderer einleuchtender gemacht werden
40 könnten, als die Natur sie durch ihre Einprägung gemacht hat, und das
136 Locke.
würde zu der Hochsciiätzung der angeborenen Prinzipien schlecht passen
und ihnen nur geringes Ansehen verleihen, ja sogar im Gegenteil sie
ungeeignet machen, allem unseren anderen Wissen als Grundlage zu
dienen, was sie doch tun sollen. Es läßt sich nicht leugnen, daß die
Menschen mit vielen dieser von selbst einleuchtenden Wahrheiten &
zuerst durch Unterricht bekannt werden; es ist aber klar, daß jeder,
dem dies widerfährt, in sich selber wahrnimmt, daß ihm alsdann ein
bisher unbekannter Satz bewußt zu sein anfängt, den er fortan niemals
bezweifelt, nicht weil er ihm angeboren war, sondern weil die Betrach-
tung der Natur der in seinen Worten enthaltenen Dinge ihm nicht er- lo
laubt, anders zu denken, so oft er veranlaßt wird, ihnen seine Aufmerk-
samkeit zuzuwenden. Und wenn alles, was beim ersten Hören und Ver-
stehen der Ausdrücke Zustimmung findet, für einen angeborenen Grund-
satz gelten muß, so muß jede wohlbegründete Beobachtung, die aus
den einzelnen Fällen zu einer allgemeinen Regel erhoben ist, angeboren i5
sein; obgleich es gewiß ist, daß nicht alle, sondern nur scharfsinnige
Köpfe zuerst auf solche Beobachtungen geraten und sie auf allgemeine
Sätze zurückführen, die ihnen nicht angeboren waren, sondern aus
voraufgehender Erfahrung und Nachdenken über einzelne Beispiele
allmähhch gefolgert wurden. Wenn aufmerksame Leute diese gebildet 20
haben, so können auch unaufmerksame, denen sie vorgetragen werden,
ihre Zustimmung nicht versagen.
§27. Sie sind nicht angeboren, weil sie am
wenigsten offenbar sind, während das Angeborene
sich am deutlichsten zeigt. — Daß die allgemeinen 25
Axiome, von denen hier die Rede ist, Kindern, Idioten und einem großen
Teil der Menschen unbekannt sind, haben wir schon genügend nach-
gewiesen; und daraus erhellt, daß sie weder allgemeine Zustimmung
finden, noch auch allgemeine Eindrücke sind. Aber es liegt darin noch
dieses weitere Argument gegen ihr Angeborensein, daß, wenn sie natür- so
liehe und ursprüngliche Eindrücke wären, ihre Schriftzüge sich am
reinsten und klarsten in den Personen zeigen müßten, bei denen wir
noch keine Spur von ihnen finden; es spricht meiner Meinung nach
sehr gegen ihr Angeborensein, daß sie denen am wenigsten bekannt sind,
bei welchen sie sich, falls sie angeboren wären, mit der größten Stärke 35
und Lebhaftigkeit geltend machen müßten. Denn da Kinder, Idioten,
Wilde und ungebildete Leute unter allen übrigen am wenigsten durch
Gewohnheiten oder Meinungen verdorben sind, da Unterricht und Er-
ziehung ihr natürhches Denken nicht in neue Formen gegossen, und
nicht durch Bedeckung mit fremden und eingelernten Doktrinen die 40
Dem Geiste sind keine Grundbegriffe angeboren. 137
reinen dort von der Natur geschriebenen Schriftzüge verwischt haben,
so sollte man vernünftigerweise denken, daß in ihren Geistern die an-
geborenen Wahrheiten für jedermanns Auge offen zu Tage hegen würden,
wie das doch sicherhch mit den Gedanken der Kinder der Fall ist. Es
5 ließe sich wohl erwarten, daß diese Grundsätze auch Blödsinnigen voll-
kommen bekannt sein müßten, weil sie (wie man annimmt) unmittel-
bar der Seele eingeprägt sind, also nicht von der Konstitution oder
den Organen des Körpers abhängig sein können, w^orin zugestandener-
maßen der alleinige Unterschied zwischen jenen und anderen Menschen
10 hegt. Man sollte nach Maßgabe der Prinzipien ihrer Verteidiger denken,
daß alle jene angeborenen Lichtstrahlen (wenn es solche gäbe) an denen,
die keine Zurückhaltung, keine Künste der Verheimlichung kennen,
sich in ihrem vollen Glänze zeigen würden, und daß uns ihre Existenz
daselbst ebenso zweifellos werden müßte, wie das Vorhandensein der
15 Liebe zum Vergnügen und des Abscheues vor dem Schmerze. Aber
ach, welche allgemeinen Axiome, welche universalen Prinzipien des
Wissens finden sich wohl bei Kindern, Idioten, Wilden und völhg Un-
gebildeten? Ihre Begriöe sind wenige und beschränkte, nur von Ob-
jekten erborgt, womit sie am meisten zu tun gehabt haben, und die auf
20 ihre Sinne die häufigsten und stärksten Eindrücke gemacht haben.
Ein Kind kennt seine Amme und seine Wiege und nach und nach die
Spielsachen für ein etwas höheres Lebensalter, und der Kopf eines jungen
Wilden ist \äelleicht, der Sitte seines Stammes gemäß, voll von Liebe
zur Jagd. Wer aber bei einem unterrichteten Kinde oder einem wilden
25 Waldbewohner jene abstrakten Axiome und berühmten Prinzipien der
Wissenschaften erw^arten wollte, der würde sich, fürchte ich, getäuscht
finden. Allgemeine Sätze dieser Art hört man selten in den Hütten der
Indianer, und noch weniger sind sie in den Gedanken der Kinder zu
finden, oder irgendwie als Eindrücke auf den Geist eines Blödsinnigen.
30 Sie sind die Sprache und die Beschäftigung der Schulen und Akademien
gelehrter Nationen, die an solche Art der Gelehrsamkeit und Unter-
haltung gewöhnt sind, und wo häufig Disputationen stattfinden. Denn
jene Axiome sind für eine künstliche Beweisführung geeignet und nütz-
lich zur Überführung des Gegners, während sie zur Entdeckung der
35 Wahrheit und zur Förderung des Wissens nicht viel beitragen.
§ 28. Im ganzen genommen kann ich keinen Grund dafür absehen,
jene beiden spekulativen Axiome für angeboren zu halten, weil ihnen
nicht allgemein beigestimmt wird, und weil der Beifall, den sie gewöhnlich
finden, kein anderer ist als der, welcher ebenso wie ihnen verschiedenen
40 Sätzen zu teil wird, die man nicht für angeboren gelten läßt; endlich,
weil der Beifall, den sie erhalten, auf andere Weise entsteht und nicht
138 Locke.
von einer natürlichen Einprägung herrührt. Und wenn es sich ergibt,
daß diese ersten Prinzipien der Erkenntnis und Wissenschaft nicht
angeboren sind, dann läßt sich, denke ich, von keinen anderen speku-
lativen Axiomen das mit mehr Recht behaupten.
John Lockes (1632 — 1704) „Versuch über den menschlichen Verstand"
wurde in den Grundzügen entworfen 1670. Nach vielfachen Änderungen
erschien das ganze Werk 1689/90. L.s philosophische Werke sind 1854 von
St. John herausgegeben worden; sein „Versuch über den menschlichen Ver-
stand" von Fräser 1894. Von neuesten Übersetzungen dieses Werkes sind
zu nennen die von v. Kirchmann und die in Reclams Universalbibliothek
erschienene; an die letztere schließt unsere Übertragung des vorstehenden
Abschnittes sich an. Die etwas umständliche und weitschweifige Darstellung
L.s gab den Grund zu manchen Auslassungen. Eine Streitschrift gegen
das Werk L.s verfaßte Leibniz 1704 unter dem Titel: „Nouveaux essais sur
r erUendemerU humain''; sie erschien erst nach Leibnizens Tode 1765. Diese
Streitschrift ist in Dialogform abgefaßt; ein Vertreter der Lockeschen und
ein Vertreter der Ansicht von Leibniz disputieren miteinander. Vergleiche
hierüber: Hartenstein, Lockes Lehre von der menschlichen Erkenntnis in
Vergleichung mit Leibniz' Kritik. 1865.
L. bezeichnet in seiner Einleitung des „Versuches über den menschlichen
Verstand" als Zweck dieses Werkes „eine Untersuchung über den Ursprung,
über die Gewißheit und den Umfang der menschlichen Erkenntnis, über die
Gründe und Grade des Glaubens, der Meinung und der Zustimmung". Durch
Zergliederung des Bewußtseins in die einfachsten Elemente schafft sich L.
die Grundlage für die Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme. Sein
Ausgangspunkt ist also ein psychologischer; er ist der Schöpfer einer wissen-
schaftlich durchgeführten Psychologie der Erkenntnis. Von dieser Psychologie
der Erkenntnis aus sucht er die Frage nach dem Erkenntniswert, nach dem
Wahrheitsgehalt unserer Bewußtseinsinhalte zu beantworten. Im ersten
Buch polemisiert L. gegen die Lehre von den angeborenen Ideen, um dann im
zweiten Buch in positiven Ausführungen nachzuweisen, woher der Geist
seine Ideen habe.
Eine vortreffliche Darstellung der Philosophie L.s findet der Leser bei
Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, 5. Auflage 1905, S. 134 — 158.
— Vergleiche auch Vorländer a. a. O. II, S. 134 — 144.
126 5. xoival swoia: {notiones communes bei Cicero) oder Tzpokri'J^siz sind
„gemeinsame" Begriffe, die aller wissenschaftlichen Untersuchung voraus-
gehen. Die xotval l'vvoiat sind wenigstens bei den älteren Stoikern keine ange-
borenen, sondern nur naturgemäß aus den Wahrnehmungen, das heißt ohne
absichtliche und methodische Denktätigkeit entstandene Begriffe. L.s Pole-
mik richtet sich einmal gegen englische Denker wie Herbert von Cherbury
(Begründer des Deismus, 1581 — 1648), den er bei Bekämpfung der an-
geborenen praktischen Grundsätze nennt, dann aber auch gegen Descartes
Erläuterungen. 139
in Bezug auf die von Locke so genannten theoretischen Sätze. Vergleiche
darüber Eduard Grimm, Zur Geschichte des Erkenntnisproblems, Leipzig 1890,
S. 200 ff.
126 12. Es sei darauf hingewiesen, daß L. unter „Eindrücken" (impressions)
hier etwas anderes versteht als später Hume. L. hält an dem ursprünglichen
Bild fest, nach dem der Seele etwas eingeprägt, etwas eingedrückt wird, was
sie nun dauernd behält. Vergleiche 127 7. Zur Erläuterung kann auch der
Ausdruck „angeborene Schriftzüge" dienen. Vergleiche 126 18.
126 19. Unter Idee versteht Locke jeden Denkinhalt überhaupt. Ver-
gleiche Buch II, Kap. 8, § 8: „Alles, was der Geist in sich selber wahr-
nimmt, oder was das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung, des Denkens
oder des Verstandes ist, das nenne ich Idee."
127 ö. Beispiele für theoretische Sätze gibt L. in § 4, auf die praktischen
Prinzipien, wie zum Beispiel: „Jeder soll so handeln, wie er wünschen kann,
daß andere gegen ihn handeln", geht er im dritten Kapitel des ersten Buches ein.
127 19. Über diese beiden Grundgesetze des menschlichen Denkens, den
Satz der Identität und des Widerspruches vergleiche die Anmerkung zu 157 38.
128 e, L. bestreitet also hier die MögUchkeit eines unbewußt Psychischen.
Die moderne Psychologie stellt sich zu dieser Frage anders, wie aus dem Satze
eines ihrer Vertreter hervorgeht: „In der Psychologie auf das Unbewußte
verzichten heißt auf die Psychologie verzichten" (Lipps). Ohne auf die viel-
erörterte Frage einzugehen, sei hier darauf hingewiesen, daß für alle, die die
psychischen Vorgänge als eine besondere Reihe neben den physischen an-
sehen, die Notwendigkeit besteht, unbewußte psychische Zustände anzu-
nehmen. Wie wären sonst die bewußten psychischen Vorgänge zu erklären,
da sie aus den physischen nicht erklärt werden können? Vergleiche Th. Lipps,
Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie, Dritter internationaler Kon-
greß für Psychologie 1897, S. 146—164.
128 30 f. Leibniz erwidert in den „Nouveaux Essais'' auf diese Behaup-
tung L.s, daß man die Vernunftwahrheiten, das heißt die ewigen mit absoluter
Notwendigkeit geltenden Wahrheiten, wozu die arithmetischen und geo-
metrischen Sätze gehören, in dem Sinne als angeboren betrachten muß, daß
sie virtuell, das heißt der Anlage nach im menschlichen Geist vorhanden sind.
Vergleiche Anmerkung zu 135 15.
132?. In § 15 deutet L. ganz kurz seine eigenen positiven Anschauungen
über den Ursprung der Erkenntnis an ; weiter ausgeführt hat er diese Gedanken
im zweiten und im dritten Buch. Der Entwicklungsprozeß ist kurz folgender:
Zuerst sind Wahrnehmungen im Bewußtsein; gewisse von diesen Wahr-
nehmungen werden im Gedächtnis behalten, das heißt sie können als Vor-
stellungen wieder erweckt werden, durch Abstraktion werden viele von diesen
Vorstellungen in eine zusammengefaßt und so wird eine Allgemeinvorstellung
gebildet.
135 15. Nach Leibniz sind allerdings die reinen Vorstellungen, die er den
„phantastischen Erscheinungen der Sinne" entgegensetzt, der Seele bereits
eingeprägt. „In diesem Sinne muß man sagen, daß die ganze Arithmetik
140 Locke.
und die ganze Geometrie angeboren und auf eine potentielle Weise
in uns sind, dergestalt, daß man sie, wenn man aufmerksam das im Geist«
schon Vorhandene betrachtet und ordnet, darin auffinden kann, ohne sich
irgend einer durch die Erfahrung oder Überlieferung von einem anderen er-
lernten Wahrheit zu bedienen." Aber „niemals können wir abstrakte Ge-
danken haben, ohne dazu etwas Sinnliches zu bedürfen". Dies Sinnliche
enthält aber noch nicht die notwendigen Wahrheiten, diese kommen also
erst zu stände durch Körper und Seele zugleich, zwischen denen vorherbestimmte
Harmonie herrscht. So können wir sagen, daß der Geist die notwendigen
Wahrheiten aus sich selbst, nämlich insofern er tätig ist, schöpft. Es gibt
nun verschiedene Grade der Schwierigkeit, mit der wir uns bewußt werden,
was in uns ist. „Es gibt angeborene Grundsätze, die allen bekannt und sehr
leicht faßlich sind; es gibt Lehrsätze, die man auch gleich entdeckt, und aus
denen die natürlichen Wissenschaften bestehen, welche bei dem einen aus-
gebreiteter sind als bei dem anderen. Endlich können in einem noch weiteren
Sinne, den anzuwenden gut ist, alle diejenigen Wahrheiten angeborene ge-
nannt werden, die man aus den ursprünglichen angeborenen Erkenntnissen
ziehen kann, weil der Geist sie aus seinem eigenen Innern zu schöpfen vermag,
was oft keine leichte Sache ist." Diese Ansicht hängt mit Leibnizens Lehre
von den Monaden überhaupt zusammen. Vergleiche deshalb Lesestück XIII.
Über den Zusammenhang von Kants Lehre vom Apriori mit diesen Theorien
vergleiche die Vorbemerkung zu dem ersten Lesestück aus Kant.
135 19. Die Evidenz beruht auf dem intuitiven Wissen, das heißt darauf,
daß die Seele den Einklang oder Widerstreit zweier Ideen sofort, sobald sie
nur im Geiste vorhanden sind, ohne Dazwischenkunft und ohne Hilfe einer
dritten vermittelnden Vorstellung, ohne jeglichen Beweis gewahrt.
136 38. Hier klingen Gedanken an, welche L. ausführlicher entwickelt hat
in seinen „Gedanken über Erziehung", 1693 (Übersetzung in K. Richters
„Pädagogischer Bibliothek" 1872). Falckenberg faßt ihren Gehalt zusammen
mit den Worten: „Die Erziehung soll nichts in den Zögling hineintragen,
sondern aUes aus ihm herauslocken, soll ihn leiten, aber nicht meistern, seine
Anlagen naturgemäß entwickeln, seine Selbsttätigkeit wecken, nicht ihn zur
Gelehrsamkeit abrichten" (a. a. O. S. 158). Diese Forderung einer natür-
lichen Erziehung wurde in Anschluß an L. dann lauter und wirksamer aus-
gesprochen von J. J. Rousseau in seinem „Emile", 1762 (Übersetzung von
Dehnhardt in Reclams Universalbibliothek). M e n z e r.
XII.
Berkeley.
Von den abstrakten Ideen.
VI. Wer nicht durchaus ein Fremdling in Schriften und
Disputationen der Philosophen ist, muß zugeben, daß kein kleiner
Teil von ihnen sich auf abstrakte Ideen bezieht. Man nimmt
an, daß sie vorzugsweise das Objekt der Wissenschaften bilden, welche
5 die Namen Logik und Metaphysik tragen , und überhaupt
derjenigen, welche für die abstraktesten und höchsten Lehrobjekte
gelten. In ihnen allen wird man schwerUch eine Frage behandelt finden
ohne die Voraussetzung, daß abstrakte Ideen im Geiste existieren
und daß er mit ihnen wohlbekannt sei.
10 VII. Allseitig wird anerkannt, daß die Eigenschaften oder Be-
schaffenheiten der Dinge nicht einzeln für sich und gesondert von allen
anderen in Wirkhchkeit existieren, sondern daß jedesmal mehrere von
ihnen in demselben Objekt gleichsam miteinander vermischt und ver-
bunden sind. Doch man sagt uns, daß der Geist sich selbst abstrakte
15 Ideen bilde, da er fähig ist, jede Eigenschaft einzeln zu betrachten,
oder sie von den anderen Eigenschaften, mit welchen sie vereinigt sind,
abzusondern. Wenn z. B. durch den Gesichtssinn ein ausgedehntes,
farbiges und bewegtes Objekt wahrgenommen worden ist, so bildet,
sagt man, der Geist, indem er diese gemischte oder zusammengesetzte
20 Idee in ihre einfachen Bestandteile auflöst und einen jeden derselben
für sich mit Ausschluß der übrigen betrachtet, die abstrakten Ideen
der Ausdehnung, Farbe, Bewegung. Nicht als ob es möghch wäre, daß
Farbe oder Bewegung ohne Ausdehnung existieren; es soll nur der
Geist für sich selbst durch Abstraktion die Idee der Farbe ohne
25 Ausdehnung und der Bewegung ohne Farbe und Ausdehnung bilden
können.
VIII. Da ferner der Geist beobachtet hat, daß bei den einzelnen
durch die Sinne wahrgenommenen Ausdehnungen etwas Gleiches, ihnen
142 Berkeley.
allen Gemeinsames ist, und etwas anderes, den einzelnen Ausdehnungen
Eigentümliches, wie diese oder jene Form oder Größe, wodurch sie sich
voneinander unterscheiden : so betrachtet er das Gemeinsame besonders
oder scheidet es als ein Objekt für sich ab, und bildet demgemäß eine
sehr abstrakte Idee einer Ausdehnung, die weder Linie, noch Fläche, 5
noch Körper ist, noch auch eine bestimmte Form oder Größe hat, sondern
eine von diesem allem abgelöste Idee ist. In gleicher Weise bildet der
Geist, indem er von den einzelnen sinnlich perzipierten Farben das-
jenige wegläßt, was sie voneinander unterscheidet, und nur dasjenige
zurückbehält, was allen gemeinsam ist, eine Idee von Farbe in abstracto, lo
die weder rot, noch blau, noch weiß, noch irgend eine andere bestimmte
Farbe ist. In gleicher Art wird auch die abstrakte Idee der Bewegung,
welche gleichmäßig allen einzelnen sinnUch wahrgenommenen Be-
wegungen entspricht, dadurch gebildet, daß die Bewegung nicht nur
abgesondert von dem bewegten Körper, sondern ebenso auch von der 15
beschriebenen Figur und von allen besonderen Richtungen und Ge-
schwindigkeiten betrachtet wird.
IX. Wie der Geist sich abstrakte Ideen von Eigenschaften oder Be-
schaffenheiten bildet, so erlangt er durch denselben Akt der sondernden
Unterscheidung oder Vorstellungszerlegung auch abstrakte Ideen von 20
den mehr zusammengesetzten Dingen, welche verschiedene zusammen
existierende Eigenschaften enthalten. Hat zum Beispiel der Geist
beobachtet, daß Peter, Jakob und Johann einander durch gewisse,
ihnen allen gemeinsam zukommende Beschaffenheiten der Gestalt
und anderer Eigenschaften gleichen, so läßt er aus der komplexen oder 25
zusammengesetzten Idee, die er von Peter, Jakob und anderen einzelnen
Menschen hat, dasjenige weg, was einem jeden von ihnen eigentümlich
ist, behält nur dasjenige zurück, was ihnen allen gemeinsam ist, und
bildet so eine abstrakte Idee, an welcher alle einzelnen gleichmäßig
teilhaben, indem er von allen den Umständen und Unterschieden, 30
welche sie zu irgend einer Einzelexistenz gestalten können, gänzlich ab-
strahiert und dieselben ausscheidet. Auf diese Weise, sagt man, erhalten
wir die abstrakte Idee des Menschen oder, wenn wir lieber wollen,
der Menschheit oder der menschlichen Natur. Darin liegt zwar die Idee
der Farbe, da kein Mensch ohne Farbe ist; aber dies kann weder die 35
weiße, noch die schwarze, noch irgend eine andere einzelne Farbe sein,
weil es keine einzelne Farbe gibt, an der alle Menschen teilhaben. Ebenso
Hegt darin auch die Idee- der Körpergestalt, aber dies ist weder eine
große, noch eine kleine, noch eine mittlere Gestalt, sondern etwas von
diesen allen Abstrahiertes. Das gleiche gilt von allen übrigen. Da es 40
ferner eine große Menge anderer Geschöpfe gibt, die in einigen Teilen,
Von den abstrakten Ideen. 143
aber nicht in allen, mit der abstrakten Idee Mensch übereinstimmen,
so läßt der Geist die Teile weg, welche den Menschen eigentümhch sind,
behält nur diejenigen, welche allen lebenden Wesen gemeinsam sind,
und bildet so die Idee des .^anwiaV' (tierisches Wesen), w^orin nicht nur
5 von allen einzelnen Menschen, sondern auch von allen Vögeln, Vier-
füßlern, Fischen und Insekten abstrahiert wird. Die wesentlichen Teile
der abstrakten Idee eines Tieres (animal) sind: Körper, Leben, Sinnes-
empfindung und freiwilUge Bewegung. Unter „Körper" wird ver-
standen ein Körper ohne irgend eine besondere Gestalt oder Figur, da
10 keine solche allen Tieren gemeinsam ist, ohne Bedeckung mit Haaren,
Federn oder Schuppen u. s. w., aber auch nicht nackt, da Haare, Federn,
Schuppen und Nacktheit unterscheidende Eigentümlichkeiten einzelner
Tiere sind und darum aus der abstrakten Idee wegbleiben.
Aus demselben Grunde darf die freiwillige Bewegung weder ein Gehen,
15 noch ein Fhegen, noch ein Kriechen sein; sie ist nichtsdestoweniger
eine Bewegung, — was für eine Bewegung aber, ist nicht leicht zu be-
greifen.
X. Ob andere diese wunderbare Fähigkeit der Ideenab strak-
t i 0 n besitzen, können sie uns am besten sagen ; was mich betrifft, so
20 finde ich in der Tat in mir eine Fähigkeit, mir die Ideen der einzelnen
Dinge, die ich wahrgenommen habe, vorzustellen oder zu vergegen-
wärtigen, und dieselben mannigfach zusammenzusetzen und zu teilen.
Ich kann mir einen Mann mit zwei Köpfen oder auch die oberen Teile
eines Menschen mit dem Leibe eines Pferdes verbunden vorstellen.
25 Ich kann die Hand, das Auge, die Nase, jedes für sich abstrakt oder ge-
trennt von den übrigen Teilen des Körpers betrachten. Was für eine
Hand oder was für ein Auge ich dann auch mir vorstellen mag, so muß
doch dieser Hand oder diesem Auge irgend eine bestimmte Gestalt und
Farbe zukommen. Ebenso muß auch die Idee eines Mannes, die ich mir
30 bilde, entweder die eines weißen oder eines schwarzen oder eines rot-
häutigen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder
kleinen oder eines Mannes von mittlerer Größe sein. Es ist mir unmög-
lich, durch angestrengtes Denken die oben beschriebene abstrakte Idee
zu erfassen. Ebenso unmöglich ist es mir, die abstrakte Idee einer Be-
35 wegung ohne einen sich bewegenden Körper, die weder schnell noch
langsam, weder krummhnig noch geradlinig ist, zu bilden, und das gleiche
gilt von jeder anderen abstrakten allgemeinen Idee. Um mich genauer
zu erklären: ich finde mich selbst befähigt zur Abstraktion in einem
Sinne, und zwar so, daß ich gewisse einzelne Teile oder Eigenschaften
40 gesondert von anderen betrachte, mit denen sie zwar in irgendwelchem
Objekt vereinigt sind, ohne die sie aber in Wirkhchkeit existieren können.
144 Berkeley.
Aber ich finde mich nicht befähigt, diejenigen Eigenschaften vonein-
ander durch Abstraktion zu trennen oder gesondert zu betrachten,
welche nicht mögUcherweise ebenso gesondert existieren können; auch
kann ich nicht einen allgemeinen Begriff durch Abstraktion von den
besonderen in der vorhin bezeichneten Weise bilden. In diesen beiden 6
letzteren Bedeutungen aber wird eigenthch der Terminus Abstrak-
tion gebraucht. Auch ist die Annahme nicht unbegründet, daß die
meisten Menschen zugeben werden, mit mir in gleichem Falle zu sein.
Die meisten Menschen, welche schHcht und ungelehrt sind, machen
keinen Anspruch auf den Besitz abstrakter Begriffe. Man lo
sagt, sie seien schwierig und nicht ohne Mühe und Studium zu erlangen.
Wir dürfen nach dem obigen vernünftigerweise schheßen, daß, wenn
es abstrakte Begriffe gibt, dieselben nur bei Gelehrten sich finden.
XI. Ich schreite nun zur Prüfung dessen fort, was zur Verteidigung
der Lehre von der Abstraktion vorgebracht werden kann, und versuche 10
zu entdecken, was es sei, wodurch wissenschaftliche Männer bewogen
werden, eine Meinung anzunehmen, welche dem gemeinen Menschen-
verstände so fremd ist, wie diese es zu sein scheint. Ein kürzHch ver-
storbener, mit Recht geschätzter Philosoph hat ohne Zweifel dieser
Meinung Vorschub geleistet, da er zu denken scheint, der Besitz abstrakter 20
Ideen sei das, was zwischen der Verstandeskraft des Menschen und der
Tiere den größten Unterschied ausmache. „Der Besitz allgemeiner
Ideen," sagte er, „begründet einen durchgängigen Unterschied zwischen
dem Menschen und den vernunftlosen Wesen und ist ein Vorzug, der
den Fähigkeiten der letzteren in keiner Weise erreichbar ist. Denn es 25
ist offenbar, daß wir bei ihnen keine Spuren des Gebrauches allgemeiner
Zeichen für universale Ideen finden, sonach haben wir Grund anzu-
nehmen, daß sie nicht die Fähigkeit zu abstrahieren oder allgemeine
Ideen zu bilden besitzen, da sie keine Worte oder irgendwelche allgemeine
Zeichen gebrauchen. " Und bald darauf : „ Demgemäß dürfen wir, denke 30
ich, annehmen, daß hierin der spezifische Unterschied der Tiere von
den Menschen bestehe; dieser eigentümhche Unterschied sondert sie
gänzlich und erweitert sich zuletzt zu einem so beträchthchen Abstände.
Denn haben die Tiere überhaupt irgendwelche Vorstellungen und sind
sie nicht, wie einige wollen, bloße Maschinen, so können wir nicht leugnen, 35
daß sie in einem gewissen Sinne Vernunft besitzen. Ebenso offenbar wie
die Tatsache, daß sie Sinne besitzen, scheint mir auch dies zu sein,
daß einige von ihnen in gewissen Fällen Schlüsse ziehen, aber nur mittels
solcher Einzelvorstellungen, wie sie dieselben von ihren Sinnen emp-
fangen. Auch die obersten Tierklassen bleiben in diese engen Grenzen 40
gebannt, ohne sie durch irgendwelche Abstraktion erweitern zu können"
Von den abstrakten Ideen. 145
(Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kapitel XI, 10 und
11). Ich stimme diesem gelehrten Schriftsteller unbedenkhch darin
bei, daß den Fähigkeiten der Tiere die Abstraktion durchaus
unerreichbar ist ; nur fürchte ich, daß, wenn hierin ihr Unterscheidungs-
5 merkmal Hegen soll, sehr viele von denen, die für Menschen gelten,
mit ihnen in eine Klasse zu setzen sind. Der hier angegebene Grund,
den Tieren keine abstrakten Ideen zuzuschreiben, liegt darin, daß wir
bei ihnen keinen Gebrauch von Worten oder anderen allgemeinen Zeichen
beobachten. Dieser Grund ruht auf der Voraussetzung, daß der Ge-
10 brauch von Worten an den Besitz allgemeiner Ideen geknüpft sei, woraus
folgt, daß Menschen, die sich der Sprache bedienen, fähig sind zu abstra-
hieren oder ihre Ideen zu verallgemeinern. Daß dies der Sinn und die
Folgerung des Verfassers ist, geht ferner aus seiner Antwort auf die
Frage hervor, die er an einer anderen Stelle aufwirft: „Da doch alle
15 existierenden Dinge Einzelobjekte sind, wie gelangen wir zu allgemeinen
Bezeichnungen?" Er antwortet: „Worte werden dadurch allgemein,
daß sie zu Zeichen allgemeiner Ideen gemacht werden" (a. a. 0. Buch III,
Kapitel III, 6). Es scheint jedoch, daß ein Wort allgemein wird, indem
es als Zeichen gebraucht wird nicht für eine abstrakte allgemeine Idee,
20 sondern für mehrere EinzeHdeen, deren jede es besonders im Geiste
anregt. Wird zum Beispiel gesagt : die Bewegungsänderung
ist proportional der angewandten Kraft, oder :
alles Ausgedehnte ist teilbar, so sind diese Regeln von
Bewegung und Ausdehnung im allgemeinen zu verstehen; dennoch
25 folgt nicht, daß sie in meinem Geiste eine Vorstellung von Bewegung
ohne einen bewegten Körper oder ohne eine bestimmte Richtung und
Geschwindigkeit anregen, oder daß ich eine abstrakte allgemeine Idee
einer Ausdehnung bilden müsse, die weder Linie, noch Fläche, noch
Körper, weder groß noch klein, weder schwarz noch weiß noch rot,
30 noch von irgend einer anderen bestimmten Farbe sei; sondern es liegt
darin nur, daß das Axiom von der Bewegung sich gleichmäßig bewahr-
heitet, welche Bewegung ich auch immer betrachten mag: sei sie schnell
oder langsam, senkrecht, wagerecht oder schräg, sei sie die Bewegung
dieses oder jenes Objektes. Ebenso bewahrheitet sich der andere Satz
35 bei jeder besonderen Ausdehnung, wobei es keinen Unterschied macht,
ob sie eine Linie oder eine Fläche oder ein Körper, ob sie von dieser
oder jener Größe oder Figur ist.
XII. Indem wir beobachten, wie Ideen allgemein werden, gelangen
wir zu einem richtigeren Urteil darüber, wie Worte dies werden. Ich
49 muß hier bemerken, daß ich nicht absolut die Existenz von allgemeinen
Ideen, sondern nur die von abstrakten allgemeinen Ideen
D es soir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 10
146 Berkeley.
leugne ; denn an den obigen Stellen, wo allgemeine Ideen erwähnt werden,
ist stets vorausgesetzt, daß sie durch Abstraktion gebildet sind,
auf die in VIII und IX auseinandergesetzte Weise. Wollen wir nun
mit unseren Worten einen bestimmten Sinn verbinden und nur von
BegreifHchem reden, so müssen wir, glaube ich, anerkennen, daß eine 5
Idee, die an und für sich eine Einzelvorstellung ist, allgemein dadurch
wird, daß sie dazu verwendet wird, alle anderen Einzelvorstellungen
derselben Art zu repräsentieren oder statt ihrer aufzutreten. Damit
dies durch ein Beispiel klar werde, stelle man sich vor, daß ein Mathe-
matiker den Nachweis führe, wie eine Linie in zwei gleiche Teile zu lo
zerlegen ist. Er zeichnet etwa eine schwarze Linie von der Länge eines
Zolls; diese Linie, die an und für sich eine einzelne Linie ist, ist nichts-
destoweniger mit Rücksicht auf das, was durch sie bezeichnet wird,
allgemein, da sie, wie sie hier gebraucht wird, alle einzelnen Linien,
wie diese auch immer beschaffen sein mögen, repräsentiert, so daß, i5
was von ihr bewiesen ist, von allen Linien, oder mit anderen Worten,
von einer Linie im allgemeinen bewiesen ist. Ebenso, wie die einzelne
Linie dadurch, daß sie als Zeichen dient, allgemein wird, so ist der Name
Linie, der an sich partikular ist, dadurch, daß er als Zeichen dient, all-
gemein geworden. Und wie die Allgemeinheit jener Idee nicht darauf 20
beruht, daß sie ein Zeichen für eine abstrakte oder allgemeine Linie
wäre, sondern darauf, daß sie ein Zeichen für alle einzelnen geraden
Linien ist, die existieren können, so muß auch angenommen werden,
daß das Wort Linie seine Allgemeinheit derselben Ursache verdanke,
nämlich dem Umstände, daß es verschiedene einzelne Linien Unterschieds- 25
los bezeichnet.
XIII. Um dem Leser eine noch klarere Einsicht in die Natur ab-
strakter Ideen und in die Anwendungen, um derentwillen man ihrer
zu bedürfen glaubt, zu verschaffen, will ich noch folgende Stelle aus dem
„ Versuch über den menschhchen Verstand " anführen : „Abstrakte so
Ideen sind Kindern oder im Denken noch ungeübten Personen nicht
so leicht verständHch oder faßbar, wie Einzehdeen; soweit sie dies
den Erwachsenen sind, sind sie es nur durch den beständigen, gewohnten
Gebrauch geworden. Achten wir genau auf sie, so werden wir finden,
daß allgemeine Ideen Gebilde und Erfindungen des Geistes sind, die 35
nicht ohne Schwierigkeit hergestellt werden und sich nicht so leicht von
selbst einstellen, wie wir zu glauben geneigt sind. Erheischt es z. B.
nicht einige Mühe und Geschickhchkeit, die allgemeine Idee eines Drei-
ecks zu bilden, die doch noch keine der abstraktesten, umfassendsten
und schwierigsten ist? Es soll die Idee eines Dreiecks gebildet werden, 40
welches weder schiefwinkhg noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch
Von den abstrakten Ideen. 147
gleichschenklig noch ungleichschenkHg ist, sondern alles dieses
und zugleich auch nichts von diesem. In der Tat ist
dies etwas Unvollständiges, das nicht existieren kann, eine Idee, in welcher
einige Teile verschiedener und miteinander unvereinbarer Ideen
ö verbunden sind. Allerdings bedarf der Geist in seinem gegenwärtigen
unvollkommenen Zustande solcher Ideen und eilt möghchst sie zu
bilden zum Zweck der Mitteilung und Erweiterung der Erkenntnis,
da er zu beidem von Natur eine sehr starke Neigung hat. Doch läßt
sich mit Recht vermuten, daß solche Ideen Merkmale unserer Unvoll-
10 kommenheit sind. Zum mindesten reicht das Gesagte hin, zu beweisen,
daß die abstraktesten und allgemeinsten Ideen nicht diejenigen sind,
mit welchen der Geist zuerst und am leichtesten vertraut wird, nicht
diejenigen, auf welche seine ersten Kenntnisse sich beziehen" (a. a. 0. IV,
Kapitel VII, 9). Falls irgend jemand die Fähigkeit besitzt, in seinem
15 Geiste eine solche Dreiecksidee zu bilden, wie sie hier beschrieben ist,
so ist es vergeblich, sie ihm abdisputieren zu wollen; ich unternehme das
nicht. Mein Wunsch geht nur dahin, der Leser möge sich vollständig
und mit Ge^dßheit überzeugen, ob er eine solche Idee habe oder nicht.
Und dies, denke ich, kann für niemand eine schwer zu lösende Aufgabe
20 sein. Was kann einem jeden leichter sein, als ein wenig in seinen eigenen
Gedankenkreis hineinzuschauen und zu erproben, ob er eine der Be-
schreibung, welche hier von der allgemeinen Idee eines Dreiecks gegeben
worden ist, entsprechende Idee habe oder erlangen könne: die Idee
eines Dreiecks, welches weder schiefwinklig noch recht-
25 winklig, weder gleichseitig noch gleichschenk-
lig noch ungleichseitig, sondern dieses alles und
zugleich auch nichts von diesem ist?
XIV. Es wird hier vieles von der Schwierigkeit gesagt, welche
sich an abstrakte Ideen knüpfe, von der Mühe und Kunst, die erforderhch
30 sei, um sie zu bilden. Es ist auch gar nicht zu bezweifeln, daß es großer
Mühe und Anstrengung des Geistes bedarf, unser Denken von den Einzel-
objekten loszumachen und sich zu den hohen Spekulationen zu erheben,
die sich auf abstrakte Ideen beziehen. Die natürhche Konsequenz
hieraus scheint doch zu sein, daß etwas so Schwieriges, wie die Bildung
35 abstrakter Ideen, nicht notwendig für die Gedankenmitteilung
sei, die etwas allen Klassen der Menschen so Leichtes und Gewöhnliches
ist. Doch man sagt uns, wenn sie Erwachsenen naheliegend und leicht
zu sein scheinen, so seien sie dies nur durch beständi-
gen und gewöhnlichen Gebrauch geworden. Nun
40 möchte ich gern wissen, zu welcher Zeit die Menschen damit beschäftigt
sind, jene Schwierigkeit zu überwinden und sich mit jenen notwendigen
148 Berkeley.
Mitteln zur Unterredung zu versorgen. Dies kann nicht dann geschehen,
wenn sie erwachsen sind, denn zu dieser Zeit sind sie, wie es scheint,
sich keiner derartigen Bemühung bewußt; somit bleibt nur übrig, daß
es ein Werk ihrer Kindheit ist. Gewiß wird man finden, daß die große
und vielfache Mühe der Bildung abstrakter Ideen eine harte Aufgabe s
für dies zarte Alter ist. Ist es nicht schwer, sich vorzustellen, daß ein
paar Kinder nicht miteinander von ihren Zuckerbohnen und Klappern
und ihrem anderen Tand plaudern können, wenn sie nicht zuvor zahl-
lose Widersprüche miteinander vereinigt und so in ihrem Geist a b-
strakte allgemeine Ideen gebildet und dieselben an jeden lo
Gemeinnamen, dessen sie sich bedienen, geknüpft haben?
XV. Auch glaube ich, daß diese zur Erweiterung der Er-
kenntnis ganz ebensowenig wie zur Mitteilung erforderHch
sind. Es wird, wie ich wohl weiß, entschieden behauptet, daß alle Er-
kenntnis und Beweisführung allgemeine Begriffe betreffe, und ich stimme is
meinerseits dieser Behauptung völlig bei; doch scheint mir, daß diese
Begriffe nicht durch Abstraktion in der vorhin bezeichneten Weise ge-
bildet sind; denn Allgemeinheit besteht, soviel ich begreifen kann,
nicht in dem absoluten positiven Wesen oder Begriffe von irgend etwas,
sondern in der Beziehung, in welcher etwas zu anderem einzelnen steht, 20
was dadurch bezeichnet oder vertreten wird. Dadurch geschieht es,
daß Dinge, Namen oder Begriffe, die ihrer eigenen Natur nach parti-
kular sind, allgemein werden. Wenn ich irgend einen Satz
aus der Lehre vom Dreieck beweise, so nimmt man an, daß ich den all-
gemeinen Begriff des Dreiecks im Auge habe; dies muß aber nicht so 25
verstanden werden, als ob ich eine Idee eines Dreiecks, das weder
gleichseitig noch ungleichseitig noch gleichschenklig wäre, bilden könnte,
sondern nur so, daß das einzelne Dreieck, welches ich betrachte, gleich-
gültig ob dasselbe von dieser oder jener Art sei, geradlinige Dreiecke aller
Art repräsentiert oder statt derselben steht und in diesem Sinne all- 30
gemein ist. Dieses alles scheint sehr klar zu sein und keine Schwierig-
keit zu enthalten.
XVI. Doch mag hier gefragt werden, wie wir anders wissen können,
daß ein Satz von allen einzelnen Dreiecken wahr sei, als wenn wir ihn
zuerst an der abstrakten Idee eines Dreiecks, die von allen einzelnen 35
gleichmäßig gilt, bewiesen gesehen haben. Denn daraus, daß gezeigt
sein mag, eine Eigenschaft komme irgend einem einzelnen Dreieck zu,
folgt ja doch nicht, daß sie gleicherweise auch irgend einem anderen
Dreieck zukomme, welches nicht in jeder Beziehung identisch mit jenem
ist. Habe ich z. B. gezeigt, daß die drei Winkel eines gleichschenkligen 40
rechtwinkligen Dreiecks zwei rechten Winkeln gleich sind, so kann ich
Erläuterungen. 149
hieraus nicht schüeßen, daß das nämHche von allen Dreiecken gilt,
welche weder einen rechten Winkel noch zwei einander gleiche Seiten
haben. Es scheint demnach, daß wir, um gewiß zu sein, daß dieser
Satz allgemein wahr ist, entweder einen besonderen Beweis für jedes
B einzelne Dreieck führen müssen, was unmöglich ist, oder es ein für
allemal zeigen müssen an der aligemeinen Idee eines Drei-
ecks, woran alle einzelnen unterschiedslos teilhaben und wodurch
sie alle gleichmäßig repräsentiert werden. Darauf antworte ich, daß,
obschon die Idee, die ich im Auge habe, während ich den Beweis führe,
10 zum Beispiel die Idee eines gleichschenkHgen, rechtwinkligen Dreiecks
ist, dessen Seiten von einer bestimmten Länge sind, ich nichtsdesto-
weniger gewiß sein kann, derselbe Beweis finde Anwendung auf alle
anderen geradhnigen Dreiecke, von welcher Form oder Größe sie auch
immer sein mögen, und zwar darum, weil weder der rechte Winkel
15 noch die Gleichheit zweier Seiten noch auch die bestimmte Länge der
Seiten irgendwie bei der Beweisführung in Betracht gezogen worden
sind. Zwar trägt das Gebilde, welches ich vor Augen habe, alle diese
Besonderheiten an sich, aber es ist durchaus keine Erwähnung derselben
in dem Beweise des Satzes geschehen. Es ist nicht gesagt worden,
20 die drei Winkel seien darum zwei rechten gleich, weil einer von ihnen
ein rechter sei, oder weil die Seiten, welche diesen einschUeßen, gleich
lang seien; das zeigt ausreichend, daß der Winkel, der ein rechter ist,
ein schiefer hätte sein können und die Seiten ungleich, und daß nichts-
destoweniger der Beweis gültig geblieben wäre. Aus diesem Grunde
25 und nicht darum, weil ich von der abstrakten Idee eines Dreiecks den
Beweis geführt hätte, schHeße ich, daß das von einem einzelnen recht-
\vinkLigen, gleichschenkHgen Dreieck Erwiesene von jedem schief wink-
hgen und ungleichseitigen Dreieck wahr ist. Es muß hier zugegeben
werden, daß es möglich ist, eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten,
30 ohne daß man auf die besonderen Eigenschaften der Winkel oder Ver-
hältnisse der Seiten achtet. Insoweit kann man abstrahieren; aber dies
beweist keineswegs, daß man eine abstrakte allgemeine widersinnige
Idee eines Dreiecks bilden könne. In gleicher Art können wir Peter,
insofern er ein Mensch ist oder insofern er ein lebendes Wesen ist, be-
35 trachten, ohne die vorerwähnte abstrakte Idee eines Menschen oder
eines lebenden Wesens zu bilden, indem wir nicht alles Wahrgenommene
in Betracht ziehen.
George Berkeley (1685 — 1753) sieht seine philosophische Aufgabe vornehm-
lich in der Widerlegung von zwei Grundirrtümern: des Glaubens an die
Existenz einer Körperwelt außerhalb unseres Bewußtseins und der Annahme
150 Berkeley.
von abstrakten Begriffen. In Bezug auf die erste Frage lautet seine Ant-
wort: Es gibt nichts als Geister und, deren Bewußtseinstätigkeiten. Auf die
zweite Frage gibt das mitgeteilte Stück die Antwort. B. zeigt sich hier als
einen Vertreter des konsequenten Nominalismus, das heißt der schon im Mittel-
alter vertretenen Ansicht, daß die universalia (das Allgemeine, die Begriffe)
keine Realität haben, sondern nur Vorstellungen, nur Namen (nomina) sind.
Einen dieser Lehre entgegengesetzten Standpunkt (Realismus) findet der
Leser in den Lesestücken aus Plato vertreten. Vergleiche auch die Erläute-
rungen zu Lesestück VI.
Die beiden Hauptschriften B.s heißen: „Three dialogues between Hylas
and Philonous'' 1743, übersetzt von R. Richter in der Philos. Bibliothek und
„A treatise concerning the principles of human knowledge'' 1710, übersetzt von
Fr. Überweg in der Philos. Bibhothek. Aus diesem Werk (unter Zugrunde-
legung der genannten Übersetzung) ist unser Lesestück genommen. Eine
Gesamtausgabe der Werke B.s in vier Bänden erschien im Jahre 1871 (Fräser
ist der Herausgeber). Klare Darstellungen seiner Lehre findet der Leser bei
Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, 5. Auflage, S. 187 — 193,
und Vorländer, Gesch. der Phil. II, S. 151—157.
141 3. Bei B. bedeutet Idee wie bei Locke so viel wie Bewußtseinsinhalt
überhaupt. — Die Terminologie in Bezug auf das Wort „abstrakt" ist nicht
eine feststehende. Man stellt „abstrakt" in Gegensatz zu „konkret" und nennt
die Vorstellungen „konkret", welche sich auf einen selbständig existierenden
Gegenstand (zum Beispiel: Baum), diejenigen „abstrakt", welche sich auf
etwas nur unselbständig Existierendes beziehen (die Farbe als Eigenschaft
an vielen einzelnen Dingen). Dieser hauptsächlich in der Grammatik gebräuch-
lichen Unterscheidung stellt die Logik den Gegensatz der allgemeinen Begriffe
und der nur für Einzelnes geltenden Vorstellungen gegenüber, wobei gleich-
gültig ist, ob ein solcher Begriff für selbständig existierende Gegenstände
gilt oder nicht (zum Beispiel: Baum — Bewegung). Das Verfahren, durch das
wir zu solchen Begriffen kommen, nennen wir Abstraktion. In diesem bildet
man durch Reflexion auf die gleichen Merkmale und Abstraktion von den
ungleichartigen Merkmalen einzelner Dinge den allgemeinen Begriff (zum
Beispiel: Eiche, Buche, Fichte, Tanne u. s. w. — Baum). Falsch ist es, wenn
man nur von einem Fortlassen der besonderen Merkmale des einzelnen Dinges
spricht, es muß ein bestimmtes Prinzip sein, wonach die Abstraktion sich
richtet. Dies Prinzip wird gegeben durch praktische (zum Beispiel: Nutzholz)
und wissenschaftliche Gesichtspunkte (zum Beispiel: Einteilung der Menschen
in Rassen), schließlich letzte Erkenntnisprinzipien (zum Beispiel: Physisches
und Psychisches). Vergleiche Überweg, System der Logik, 1882, § 47 und 51,
und Th. Lipps, Grundzüge der Logik, 1893, S. 124 ff., R. Lehmann, Lehrbuch
der philosophischen Propädeutik, 1905, S. 20 f. Man beachte, wie B. die
beiden Bedeutungen von „abstrakt" miteinander vermischt.
141 8. „Geist" definiert B. wie folgt: ein Geist ist ein einfaches, unteilbares,
tätiges Wesen, welches, sofern es Ideen perzipiert. Verstand, und sofern
es sie hervorbringt oder anderweitig in Bezug auf sie tätig ist, Wille heißt.
Erläuterungen. 151
143 39. Man vergleiche die Beispiele, welche B. 143 23 ff. gegeben hat. Er
spricht dort nur von Teilen, aber nicht von Eigenschaften. Diese können
nicht, wie es oben heißt, in Wirklichkeit existieren. B.s Ausdrucksweise ist
hier etwas ungenau.
144 19. Es ist Locke gemeint, wie sich aus dem folgenden ergibt.
144 35. Dies hatt« Descartes gelehrt. Über die Psychologie der Tiere ver-
gleiche W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, 3. Auf-
lage 1897, S. 385 ff.
145 17. Das dritte Buch des Lockeschen Hauptwerkes enthält seine Sprach-
philosophie. Das Kapitel, aus welchem B. zitiert, hat die Überschrift: „Über
allgemeine Ausdrücke".
146 15. B. wendet hier gerade das an, was er bestreitet. Wie kann eine
einzelne Linie überhaupt als Beweismittel benützt werden? Wie kommen wir
überhaupt dazu, ein Einzelnes im HinbUck auf ein Allgemeines zu denken?
Die Linie repräsentiert nicht durch das, was an ihr eigenartig ist, was sie
zu einer einzelnen Linie (hier: Schwärze und Länge von 25 Zoll) macht,
sondern durch das, was jede Linie, also auch diese einzelne, zur Linie macht.
Nicht das sinnlich Wahrnehmbare an ihr, sondern die unsinnlichen Eigen-
schaften, wie sie die Mathematik von der Linie bestimmt, ermögUchen das,
was B. Repräsentation nennt.
149 37. Die Schwierigkeiten, welche B. entwickelt hat, gehören zu den
ungelösten Problemen des menschlichen Denkens und haben die Philosophen
vielfach beschäftigt. Die menschlichen Sinne haben nur eine begrenzte Auf-
fassungsfähigkeit gegenüber der Vielheit der einzelnen Vorstellungen, die
in unserem Bewußtsein auftreten. Wären wir auf den jeweiUgen Bestand
unseres Bewußtseins angewiesen, so würde der Umkreis unseres Wissens ein
höchst dürftiger sein und das menschliche Denken und Handeln würde allen
Zusammenhang verlieren müssen. Als ein Mittel, einen solchen zu geben,
kennen wir das Gedächtnis. Doch dies Mittel ist bekanntlich ein verhältnis-
mäßig unzureichendes. Es genügt nicht der durch die praktischen Forderungen
des Lebens gegebenen Notwendigkeit, unerschütterliche, für alle Fälle gel-
tende, von allen Menschen anerkannte Einsichten zu geben. Diesen Mangel
versucht die Wissenschaft zu beseitigen. Ihr Ziel ist stets: eine allgemein-
gültige Erkenntnis zu gewinnen. Von den populären Vorstellungen über
das Wesen der Dinge und über die Gleichmäßigkeit der Vorgänge in der Natur
steigt sie auf dem Wege immer höherer Abstraktion empor zu festumgrenzten
und klar bestimmten Begriffen von den Dingen und stets gleichbleibenden
Gesetzen der Natur. An die Stelle der anschaulichen, am einzelnen haftenden
Auffassung ist das verstandesmäßige, das Allgemeine erfassende Erkennen ge-
treten, welches in der Logik und ^Mathematik hauptsächlich die Grundlage
findet für die Konstruktion der Wirklichkeit. Doch durch diese begriffliche
Konstruktion ist ein Gedankenzusammenhang geschaffen, den wir niemals
durch die Sinne wahrnehmen oder im vorstellenden BewTißtsein erfahren oder,
wenn man will, erleben können. Man denke zum Beispiel an die mathematische
Linie oder das Fallgesetz, Begriffe wie Volk, Menschheit. Zwischen diesen
152 Berkeley.
beiden Arten des Aufnehmens der Wirklichkeit: begrifflicher Konstruktion
und sinnlicher Auffassung (als Zusammenhang im Bewußtsein) besteht eine
unüberbrückbare Kluft. Man verdeutliche sich diesen Widerstreit an dem
Atombegriff. Der Verstand fordert ein letztes Unteilbares, daher Unaus-
gedehntes, die Sinne können dieser Forderung nicht genügen und es ist un-
möglich, ohne den Atombegriff aufzugeben, aus Unausgedehntem das Aus-
gedehnte sich zusammengesetzt zu denken. Man vergleiche die Vorbemerkung
zu Plato, ferner Anmerkung zu 187 ii. Eine gute Einführung in diese Frage
bietet die Philosophie der Eleaten, vergleiche die Darstellung von Gomperz,
Griechische Denker, Bd. I, 134 ff. M e n z e r.
tätig
es sie .
XIII.
Leibniz.
Die Monadologie.
1. Die Monade, von der wir hier sprechen werden, ist niclits anderes
als eine einfache Substanz, aus der sich die zusammengesetzten Dinge
bilden; ., einfach" bedeutet „ohne Teile".
2. Solche einfachen Substanzen muß es geben, weil es zusammen-
5 gesetzte Dinge gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als
eine Anhäufung oder ein Aggregat der einfachen Substanzen.
3. Wo es nun keine Teile gibt, da gibt es auch keine Ausdehnung,
keine Gestalt und keine Teilbarkeit. Diese Monaden sind die wahren
Atome der Natur und mit einem Wort: die Elemente der Dinge.
10 4. Es ist bei ihnen auch keine Auflösung zu befürchten, und man
kann sich auf keine Weise vorstellen, wie eine einfache Substanz auf
natürlichem Wege untergehen könnte.
5. Aus demselben Grunde kann man sich auch nicht vorstellen,
wie eine einfache Substanz auf natürhchem Wege anfangen könnte,
15 da sie durch Zusammensetzung nicht gebildet werden kann.
6. Man darf daher sagen, daß die Monaden nur mit einem Schlage
anfangen oder aufhören können, das heißt sie können nur durch Er-
schaffung anfangen und nur durch Vernichtung aufhören, während
das Zusammengesetzte aus Teilen entsteht oder in Teile sich auflöst.
20 7. Es gibt auch kein Mittel zu erklären , wie eine Monade durch
irgend ein anderes Erschaffenes in ihrem Innern eine Veränderung oder
einen Wechsel erfahren könnte, da man nichts in sie hineinzubringen,
noch eine innere Bewegung in ihr vorzustellen vermag, die darin erregt,
gelenkt, vermehrt oder vermindert würde, wie dies beim Zusammen-
25 gesetzten möghch ist, wo ein Wechsel unter den Teilen stattfindet.
Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie hinein oder
aus ihnen herausgehen könnte. Die Accidenzen können sich von den
Substanzen nicht ablösen, noch außerhalb ihrer sich bewegen, wie es
ehemals die .,sinnhchen Eigenschaften" bei den Scholastikern taten.
154 Leibniz.
Sonach kann weder eine Substanz noch ein Accidens von außen in eine
Monade hineingelangen.
8. Trotzdem müssen die Monaden gewisse Eigenschaften haben,
sonst könnte man nicht einmal sagen, daß sie sind. Und wenn sich die
einfachen Substanzen nicht durch ihre Eigenschaften unterschieden, 5
so gäbe es kein Mittel, überhaupt eine Veränderung in den Dingen zu
bemerken. Denn das, was in dem zusammengesetzten Ding enthalten ist,
kann nur von den einfachen Bestandteilen kommen; und wenn die
Monaden keine Eigenschaften hätten, so wären sie voneinander nicht
zu unterscheiden, zumal sie auch in der Quantität nicht verschieden lo
sind. Wenn man daher annimmt, daß es keinen leeren Kaum gibt,
so würde jeder Ort im Falle der Bewegung immer nur das Äquivalent
dessen erhalten, was er vorher hatte, und ein Zustand wäre vom anderen
nicht zu unterscheiden.
9. Es muß aber auch jede Monade von jeder anderen verschieden is
sein. Denn es gibt in der Natur niemals zwei Dinge, von denen das eine
dem anderen vollkommen gleich wäre, und wo es nicht möglich wäre,
einen inneren Unterschied oder einen Unterschied zu finden, der auf
einer inneren, eigentlichen Bezeichnung beruht.
10. Ich nehme ferner als zugestanden an, daß jedes erschaffene Wesen 20
der Veränderung unterworfen ist, mithin auch die erschaffene Monade, und
ferner, daß diese Veränderung in einer jeden ununterbrochen fortdauert.
11. Aus dem Gesagten folgt, daß die natürlichen Veränderungen
der Monaden von einem inneren Prinzip herrühren, da eine äußere
Ursache auf ihr Inneres keinen Einfluß haben kann. 25
12. Aber es muß außer dem Prinzip der Veränderung noch eine
Eigentümlichkeit dessen, was sich verändert, vorhanden sein, die so-
zusagen die Arten und die Verschiedenheiten der einfachen Substanzen
herbeiführt.
13. Diese Eigentümlichkeit muß eine Vielheit in der Einheit oder in 30
dem Einfachen umfassen. Denn da jede natürliche Veränderung all-
mähhch vor sich geht, so wechselt etwas, und etwas bleibt. FolgUch
muß es in der einfachen Substanz eine Mehrheit von Erregungen und
Beziehungen geben, obgleich sie keine Teile hat.
14. Der veränderliche Zustand, der eine Vielheit in der Einheit 35
oder in der einfachen Substanz umfaßt oder darstellt, ist nichts anderes
als das, was man die Perzeption nennt. Man muß sie von der Apper-
zeption oder von dem Bewußtsein unterscheiden, wie sich aus dem
folgenden ergeben wird. Hierin haben die Cartesianer einen groben
Fehler gemacht, indem sie die Perzeptionen, deren man sich nicht 40
bewußt wird, für nichts gerechnet haben. Dies hat sie auch zu dem
Die Monadologie. 155
Glauben geführt, daß bloß die Geister Monaden seien, und daß es keine
Tierseelen oder andere Entelechien gebe. Auch haben sie deshalb, in
Übereinstimmung mit der ■voilgären Anschauung, eine lange Betäubung
mit dem Tode im strengen Sinne verwechselt und sind dadurch in das
5 scholastische Vorurteil geraten, daß es ganz für sich bestehende Seelen
gebe. Die schwächeren Köpfe hat das dann in der Meinung von der
Sterblichkeit der Seelen bestärkt.
15. Die Tätigkeit des inneren Prinzips, das den Wechsel oder den
Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt, kann man Be-
10 gehren nennen. Allerdings kann die Begierde nicht immer vollständig
zu jeder Perzeption gelangen, nach der sie strebt; aber sie erlangt immer
etwas davon und gelangt zu neuen Perzeptionen.
16. Wir selbst erfahren eine Vielheit in der einfachen Substanz,
wenn wir finden, daß der geringste Gedanke, dessen wir uns bewußt
15 werden, eine Mannigfaltigkeit in seinem Gegenstande enthält. Wer
also die Seele als eine einfache Substanz anerkennt, muß auch diese
Vielheit in der Monade anerkennen; und Herr Bayle brauchte hier
keine Schwierigkeit zu finden, wie es in seinem Wörterbuche bei dem
Artikel ., Rorarius" geschieht.
20 17. Übrigens muß man bekennen, daß die Perzeption, und das,
was von ihr abhängt, sich aus mechanischen Gründen, das heißt durch
die Gestaltungen und die Bewegungen, nicht erklären läßt. Stellt man
sich eine Maschine vor, die vermittels ihres Baues zu denken, zu fühlen
und zu empfinden vermöchte, so kann man sie sich unter Beibehaltung
23 derselben Verhältnisse so vergrößert denken, daß man in sie eintreten
könnte wie in eine Mühle. Unter diesen Voraussetzungen wird man bei
Besichtigung des Innern nur Stücke finden, von denen eines das andere
treibt, aber niemals etwas, wodurch man eine Perzeption erklären
könnte. Demnach muß man diese in der einfachen Substanz und nicht
30 in dem Zusammengesetzten oder in der Maschine suchen. Also kaiin
man auch nur dies in der einfachen Substanz finden, nämlich die Per-
zeptionen und ihre Veränderungen. Darin allein können alle inneren
Tätigkeiten der einfachen Substanzen bestehen.
18. Man könnte alle einfachen Substanzen oder erschaffenen Monaden
35 Entelechien nennen; denn sie haben in sich eine gewisse Vollkommenheit
(eyy:t:ji zb IvtsXsc;) , sie haben eine Selbstgenügsamkeit (aordpxsia), die
sie zu Quellen ihrer inneren Tätigkeiten und gleichsam zu unkörper-
lichen Automaten macht.
19. Wenn wir alles, was Perzeptionen und Begierden hat, Seele
40 nennen wollen in dem allgemeinen Sinne, den ich eben erklärt habe,
so könnten wir alle einfachen Substanzen oder erschaffenen Monaden
156 Leibniz.
Seelen nennen; allein da der Gedanke etwas mehr als eine bloße Perzep-
tion ist, so bin ich damit einverstanden, daß der allgemeine Name Monade
oder Entelechie für die einfachen Substanzen genüge, die nur die Per-
zeption haben, und daß man bloß diejenigen Monaden Seelen nenne,
deren Perzeption deutUcher und mit Erinnerung verbunden ist. 0
20. Denn wir erfahren an uns selbst einen Zustand, wo wir uns an
nichts erinnern und keine deutliche Perzeption haben, zum Beispiel
wenn wir in Ohnmacht fallen oder in einen tiefen und traumlosen Schlaf
versunken sind. In diesem Zustande unterscheidet sich die Seele nicht
merkhch von einer einfachen Monade; allein da dieser Zustand nicht 10
dauernd ist und die Seele wieder frei von ihm wird, so ist sie etwas mehr.
21. Daraus folgt aber keineswegs, daß dann die einfache Substanz
ohne jede Perzeption ist. Das ist aus den oben entwickelten Gründen
auch nicht einmal möglich; denn sie kann nicht untergehen und auch
nicht ohne alle Erregung bestehen, und diese ist ja nichts anderes als ihr 15
Perzipieren. Wenn aber eine große Menge kleiner Perzeptionen eintritt,
wobei man nichts unterscheiden kann, so ist man betäubt : wie wenn man
sich mehrere Male hintereinander in derselben Eichtung herumdreht,
wobei ein Schwindel eintritt, der uns ohnmächtig machen kann und uns
nichts unterscheiden läßt. Der Tod kann die tierischen Geschöpfe eine 20
Zeitlang in diesen Zustand versetzen.
22. Da jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz natur-
gemäß eine Folge ihres vorhergehenden Zustandes ist, so kann man sagen,
daß der gegenwärtige mit dem kommenden schwanger geht.
23. Da man nun bei dem Erwachen aus der Betäubung sich seiner 25
Perzeption bewußt wird, so muß man unmittelbar vorher solche gehabt
haben, obgleich man es nicht bemerkt hat; denn eine Perzeption kann
auf natürhche Weise nur von einer anderen Perzeption kommen, wie eine
Bewegung auf natürliche Weise nur von einer Bewegung kommen kann.
24. Man sieht daraus, daß, wenn wir nichts Bestimmtes und so- so
zusagen Höheres und Feineres in unseren Perzeptionen hätten, wir
uns immer in der Betäubung befänden. Und dies ist der Zustand der
bloßen, ganz hilflosen Monaden.
25. So sehen wir auch, daß die Natur den Tieren höhere Perzeptionen
gegeben hat, indem sie eine besondere Sorgfalt darauf verwandt hat, 35
ihnen Organe zu verleihen, die mehrere Lichtstrahlen oder mehrere
Luftwellen zusammenfassen, um sie durch diese Vereinigung wirksamer
zu machen. Es gibt etwas Ähnliches beim Geruch, Geschmack und
Getast, und vielleicht noch bei vielen anderen Sinnen, die wir nicht kennen.
Ich werde nun gleich erklären, wie das, was in der Seele vorgeht, das ^^
vorstellt, was in den Organen geschieht.
Die Monadologie. 157
26. Das Gedächtnis gewährt den Seelen eine Art von Folgerichtigkeit,
die der Vernunft nachahmt, von ihr aber unterschieden werden muß.
So erwarten die Tiere bei der Perzeption von etwas, was ihnen auffällt
und wovon sie früher eine ähnhche Perzeption gehabt haben, kraft der
5 Vorstellung ihres Gedächtnisses wieder das, was bei jener früheren Per-
zeption damit verbunden gewesen war, und neigen zu ähnUchen Ge-
danken wie in dem früheren Falle. Wenn man zum Beispiel den Hunden
den Stock zeigt, so erinnern sie sich des Schmerzes, den er ihnen ver-
ursacht hat, und heulen oder laufen davon.
10 27. Die starke Einbildungskraft, welche die Seelen erregt und be-
wegt, kommt entweder von der Größe oder von der Menge der vorher-
gegangenen Perzeptionen. Denn oft wirkt ein einmaUger starker Ein-
druck ebenso wie eine lange Gewohnheit oder wie viele mäßige, aber
immer wiederholte Perzeptionen.
15 28. Insoweit, als die Folge der Perzeptionen nur durch das Prinzip
des Gedächtnisses bestimmt wird, handeln die Menschen wie die Tiere;
sie gleichen den Empirikern unter den Ärzten, die eine bloß praktische
Erfahrung ohne Theorie haben; und wir sind bei drei Vierteln unserer
Handlungen nur Empiriker. Wenn man zum Beispiel erwartet, daß es
20 morgen Tag wird, so verhält man sich als Empiriker, weil es bis jetzt
immer so gewesen ist. Nur der Astronom urteilt hier nach Gründen.
29. Dagegen ist es die Kenntnis der notwendigen und ewigen Wahr-
heiten, die uns von den bloßen Tieren unterscheidet und bewirkt, daß
wir Vernunft und Wissenschaften haben, indem sie uns zur Kenntnis
25 unser selbst und Gottes erhebt. Und das ist es, was man die vernünftige
Seele oder den Geist in uns nennt.
30. Durch die Kenntnis der notwendigen Wahrheiten und deren
Abstraktionen erheben wir uns auch zu den auf uns selbst gerichteten
Beobachtungen, die uns an das denken lassen, was man das Ich nennt,
30 und uns erwägen lassen, daß dieses und jenes in uns ist. Und indem wir
so an uns selbst denken, denken wir an das Seiende, an die Substanz,
an das Einfache oder das Zusammengesetzte, an das Immaterielle und
an Gott selbst, indem wir begreifen, daß das, was in uns beschränkt ist,
bei ihm ohne Schranken ist. Diese auf uns selbst sich richtenden Beob-
35 achtungen Hefern die hauptsächhchen Gegenstände unserer vernünf-
tigen Erwägungen.
31. Unsere vernünftigen Erwägungen stützen sich auf zwei große
Prinzipien: auf den Satz des Widerspruchs, demzufolge wir für falsch
erklären, was einen Widerspruch enthält, und für wahr, was dem Falschen
40 kontradiktorisch entgegengesetzt ist.
32. Und auf den Satz des zureichenden Grundes, vermöge dessen
158 Leibniz.
wir annelimen, daß kein Ereignis wahr oder wirklich und kein Aus-
spruch wahrhaft sein kann, wenn nicht ein zureichender Grund dafür
vorhanden ist, warum es sich so und nicht anders verhält; obgleich diese
Gründe uns in den meisten Fällen nicht bekannt sein können.
33. Es gibt auch zwei Arten von Wahrheiten: die tatsächlichen und 5
die begründeten. Die begründeten "Wahrheiten sind notwendig, und
ihr Gegenteil ist unmöghch; die tatsächhchen sind zufälhg, und ihr
Gegenteil ist möghch. Wenn eine Wahrheit notwendig ist, so kann man
den Grund dafür durch Analyse auffinden, indem man sie so lange in
einfachere Vorstellungen und Wahrheiten auflöst, bis man zu den ur- 10
sprünghchen gelangt.
34. In dieser Weise werden von den Mathematikern die theoretischen
Lehrsätze und die praktischen Regeln durch Analyse auf Definitionen,
Axiome und Forderungen zurückgeführt.
35. Es gibt schheßhch einfache Ideen, die sich nicht mehr definieren 15
lassen; es gibt auch Axiome und Forderungen, mit einem Wort: ur-
sprüngliche Prinzipien, die nicht bewiesen werden können und es auch
nicht nötig haben. Es sind dies die identischen Aussagen, deren Gegenteil
einen ausdrücklichen Widerspruch enthält.
36. Der zureichende Grund muß aber auch bei den zufälligen oder den 20
tatsächlichen Wahrheiten vorhanden sein, das heißt in der Folge der
Dinge, die durch das Universum des Erschaffenen hin verbreitet sind,
wo die Auflösung in besondere Gründe sich in eine Zergüederung ohne
Ende verlaufen könnte, wegen der unermeßhchen Mannigfaltigkeit der
Dinge in der Natur und der unendHchen Teilbarkeit der Körper. Es 25
gibt eine unendhche Menge von Gestalten und Bewegungen in der Gegen-
wart und in der Vergangenheit, die zu der wirkenden Ursache zum Bei-
spiel der von mir geschriebenen Worte gehören, und ebenso gibt es eine
unendliche Menge kleiner Neigungen und Anlagen meiner Seele in der
Gegenwart und in der Vergangenheit, die zu der Endursache dieser 30
meiner Arbeit gehören.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 — 1716) hat eine zusammenfassende
Übersicht seines Systems in einer (1714 französisch abgefaßten) Abhandlung
niedergelegt, die man die „Monadologie" zu nennen pflegt. Sie ist in den
Gesamtausgaben Leibnizischer Schriften von Erdmann (1840) und Gerhardt
(1875 — 1890) abgedruckt; eine Ausgabe mit guten Erläuterungen erschien
(Paris, 2. Auflage 1881) unter dem Titel: La Monadologie, publiee d'apns
les manuscrits et accompagnee d'eclaircissements par Emile Boutroux. Vor
kurzem (1904) wurde veröffentlicht der erste Band von Leibnizens „Haupt-
schriften zur Grundlegung der Philosophie", in deren zweitem Band der Heraus-
geber, Ernst Cassirer, die Monadologie von neuem mitzuteilen beabsichtigt.
Erläuterungen. 159
Inzwischen kann auf die in Reclams Universalbibliothek enthaltenen „Kleineren
philosophischen Schriften" Leibnizens hinge\viesen werden. Aus der Literatur
nennen wir: Joh. Rehmke, Grundriß der Geschichte der Philosophie (1896,
S. 194 ff., trotz großer Kürze reich an Beziehungen), J. E. Erdmann, Grund-
riß der Geschichte der Philosophie (1896 II ^ 155 ff., unmittelbar aus den
Quellen geschöpft) und E. Cassirer, Leibniz' System (1902, eine wirkliche
Untersuchung).
In der „Monadologie" lassen sich drei Teile unterscheiden. Wir geben
nur den ersten wieder, dessen eine Hälfte (§§ 1 — 17) die Natur der Monaden,
dessen andere Hälfte (§§ 18 — 36) ihre Vollkommenheitsgrade behandelt. Der
Gedankenfortschritt darin ist der folgende. Von außen angesehen zeigt sich
die Monade als einfach, unteilbar und sonst noch vielfältig bestimmbar (§§ 1 — 7),
von innen betrachtet erweist sie sich als ein perzipierendes und nach deutlichen
Vorstellungen strebendes Wesen. Von der größeren oder geringeren Deut-
hchkeit ihrer Vorstellungen hängt der Vollkommenheitsgrad einer Monade
ab. Zu Unterst stehen die unorganischen Körper und die Pflanzen mit einer
Art von verworrenem Vorstellen und Streben. Bei den Tieren tritt Gedächt-
nis und Erfahrungswissen hinzu. Der Mensch besitzt Apperzeptionsfähigkeit,
Vernunft und Einsicht in ewige Wahrheiten. Alle vernünftigen Erwägungen
gehen auf zwei große Grundsätze zurück, denen zwei Arten von Wahrheiten
entsprechen.
Die Entstehung der Leibnizischen Monadenlehre ist uns nicht durch-
sichtig, doch scheint die Philosophie Giordano Brunos und die Mathematik,
namentlich der Begriff des Differentials, den größten Einfluß geübt zu haben.
Die Monadenlehre w^ar ein Versuch, die uns umgebende Welt in aU ihrer Mannig-
faltigkeit zu erklären. Zwar glaubte L. mit Spinoza, daß nur ein Allum-
fassendes Substanz sein könne, aber er besaß einen so lebhaften Sinn für den
Wert des Einzelnen und die Wirklichkeit der Unterschiede, daß er als letztes
Element der Dinge nicht eine einzige Substanz zugeben konnte, sondern
viele Substanzen annahm. Soll jede dieser vielen Substanzen alles
umfassen, so kann sie nicht räumüch sein. L. denkt sie sich daher als aus-
dehnungslose Kxaftwesen, als tätige, wirkende Wesen, die den Grund, aus
dem ihre Veränderungen hervorgehen, in sich selbst tragen. Hiermit ist bereits
ausgesprochen, daß jede Monade als wahrhafte Substanz nur aus sich heraus
wirkt und nicht von anderen Monaden bestimmt wird. Ihr Zusammenhang
untereinander ruht nicht in gegenseitiger Beeinflussung, sondern in einer
eigentümlichen Beziehung, die jede Monade zu allen übrigen hat: jede spiegelt
(in ihrer Weise) die Gesamtheit der anderen (das heißt das Universum), in
jeder sind die anderen vertreten, „repräsentiert". Dadurch scheint nun frei-
lich die Monade jene Einheit und Einfachheit zu verlieren, die doch für die
Selbständigkeit und Unvergänglichkeit eines bleibenden Seins von nöten ist.
L. überwindet diese Schwierigkeit, indem er das Wort „repräsentieren" in einer
zweiten Bedeutung gleich „vorstellen" faßt. Das Vorstellen nämlich, ja über-
haupt jede seelische Tätigkeit ist ein Zusammenfassen des Vielfachen zur Ein-
heit. Daher kann das Wirken jenes Kraftwesens nur im „Perzipieren" be-
j Leibniz.
fiehen (siehe Anmerkung zu 15437), denn das ist eine immaterielle Tätigkeit,
bei der Vielheit und Einheit sich nicht ausschließen.
153 4. Die Einfachheit gilt als ein Kennzeichen der unvergänglichen und
in sich selbst ruhenden Substanz. Alles Zusammengesetzte ist als solches
Erscheinung.
153 9. Wahre Atome im Gegensatz zu den physischen Atomen. Die
Monaden besitzen tätige Kräfte und ihre Einheit birgt qualitative Mannig-
faltigkeit in sich; die Atome verfügen weder über eigene Tätigkeit noch über
Mannigfaltigkeit noch über qualitative Unterschiede.
153 20. Im folgenden dreht es sich um die Kausalität, um das Verhältnis
von Ursache und Wirkung. L. leugnet einen physischen Einfluß der Monaden
aufeinander. Es können keine Teilchen und keine stofflosen Zustände von
einer Monade in die andere übergehen. Dennoch besteht ein Kräfteverhält-
lüs zmschen ihnen, von dem freihch an unserer Stelle nicht weiter gesprochen
wird. Vergleiche E. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik, 1899, I, 437.
153 28 f. Die species sensibiles machen die Accidentien, das heißt die zu-
fälligen, sinnUchen Eigenschaften eines Dinges erkennbar, beispielsweise die
schwarze Farbe und länglich runde Form dieses Federhalters, während die
species irUelligibües den unveränderlichen Begriffsinhalt des Federhalters über-
haupt bezeichnen. Vergleiche die Aristotelische Auffassung S. 41. Die scho-
lastische Lehre der species sensibiles, gegen die L. hier ankämpft, ruht auf
der antiken Annahme von Wanderbildchen. Kleine Bilder, so meinte man,
lösen sich von den Gegenständen ab und wandern bei der Wahrnehmung
durch Sinne und Nervenröhren hindurch in das sensorium commune, wo sie
gewissermaßen das Objekt wiederholen. Unmittelbar werden diese species
und durch sie mittelbar die Objekte erkannt. Nachdem aber durch Galilei
und Kepler die gründliche Verschiedenheit von den in Wahrheit bloß ausge-
dehnten Gegenständen und unseren qualitativen (Klänge, Töne u. s. f. ent-
haltenden) Wahrnehmungen festgestellt worden war, ließ sich eine bildartige
AhnUchkeit zwischen Ding und Vorstellung nicht mehr aufrechthalten. —
Übrigens muß bemerkt werden, daß L.s Polemik die großen Scholastiker
wie zum Beispiel Thomas nicht trifft. Denn diese bekämpfen die materiellen
Wanderbildchen, weil durch sie die Sinnesorgane schheßlich vollgestopft und
die Objekte aufgezehrt werden müßten; die species sensibiles bei Thomas
sind nur intentionales , denen ein esse physicum nicht zugeschrieben werden
darf.
154 3. Kant ist hingegen der Meinung, daß der Verstand von der über-
sinnUchen Welt wohl ihre Existenz, aber keine Eigenschaften aussagen könne.
154 18. Das sogenannte principium indiscernibilium. Mit dem „Innern
Unterschied" ist einer der Qualität gemeint, denn bloße Größenunterschiede
machen nach L. zwei Dinge noch nicht verschieden (was Kant späterhin be-
stritten hat).
154 35. Das uralte Problem, wie die Vielheit mit der Einheit zu versöhnen
sei, erscheint hier gewissermaßen im kleinsten Format. Jede Monade ist eine
Einheit, so zum Beispiel unsere menschliche Seele ; in dieser Einheit findet sich
Erläuterungen. Ißl
aber eine Vielheit, so oft eine Perzeption auftritt, denn der Gegenstand einer
beliebigen Perzeption (denken \dr wieder an den Federhalter) bildet ja eine
Mannigfaltigkeit in sich. Vergleiche § 16.
154 37, Perzeption bezeichnet alles, was in der Seele vorgeht.
155 1. ]VIit ..Geistern'" sind die Seelen der Menschen, der Engel und Gottes
gemeint.
155 10. Unter Begehren {appetüio7i) versteht L. die Tatsache, daß die
Monaden eine Kraft haben, von einer Perzeption zur anderen überzugehen.
155 17. Die Stelle in Bayles Wörterbuch lautet: „Enfin comme il {Leibniz)
suppose avec heaucoup de raison que toutes les ämes sont simples et indivisibles,
on ne saurait comprendre qu'elles j^uissent etre comparees ä une pendule; c'est
ä dire que,parleur Constitution originale, elles puissent diversißer leurs Operations,
en sc servant de Vactivite spontanee qu'elles recevraient de leur Createur. On
con^oit clalrement qii'un etre simple agira toujours tmiformement , si aucune
cause etrangere ne le detourne. S'il etait compose de plusieurs pieces comme
une machine, il agirait diversement, parceque l'activite particuliere de chaque
pi^ce pourrait changer a tout moment le cours de celle des autres ; mais dans une
substance unique, oii trouverez-vous la cause du changement d'operation ?^ {Dic-
tionnaire historique et critique. Par Monsieur Bayle. Tome 3% 2« ed. Rotter-
dam, 1702, S. 2608.)
155 35. Entelechie heißt bei Aristoteles die Form als Erfüllung einer stoff-
lichen Anlage oder als der in der Materie sich realisierende Zweck: der Stoff,
der durch die Form bewältigt wird, ist an sich bloße Möglichkeit, die Form
hingegen ist die Macht sich zu verwirklichen, ist der (von vornherein angelegte)
Vollendungszustand. Für L. liegt die Vollkommenheit in dem Reichtum der
Einzelheiten, die etwas in sich enthält; in diesem Sinn wird die Vollkommen-
heit zum Prinzip des Seins und der Entwicklung.
155 38. xA.utomat bedeutet hier ein Wesen, das in sich selbst das Prinzip
seiner Bewegung hat. Die Handlung dieser Leibnizischen Automaten ist
natürlich das Perzipieren.
156 15. Erregung = affection. Ursprünglich hatte L. Variation geschrieben,
was den Sinn des endgültig gewählten Wortes gut erläutert.
156 16 f. Über die petites perceptions, die dumpfen, unbewußten Vorstel-
lungen, vergleiche Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie,
1902, 1-, 38.
157 22 und 158 5. Die Aufstellung der beiden Wahrheitsklassen, der Nach-
weis eines zweifachen Ursprungs unseres Wissens vermittelt zwischen fran-
zösischem Rationalismus und englischem Empirismus. Die Methode besteht
bei den ewigen Wahrheiten in „geometrischer'" Ableitung (vergleiche Spinoza)
aus ersten Wahrheiten, bei den Tatsachenwahrheiten in empirischer Fest-
stellung; jene Wahrheiten übertreffen diese an Wert. Der rein logische Cha-
rakter der notwendigen Wahrheiten zeigt sich darin, daß sie analytische Sätze
sind, das heißt durch bloße Zergliederung der in ihnen enthaltenen Begriffe
sich ergeben. Wenn ich lehre: „Jeder Körper ist ausgedehnt", so genügt die
Analyse des Begriffes eines Körpers, um die Einsicht zu gewinnen, daß er
Dcsöoir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 11
162 Leibniz.
ausgedehnt sein muß (vergleiche S. 177 25 ff.). Der letzte Maßstab für solche
Sätze ist ihre Denknotwendigkeit (oder die Unmöglichkeit des Gegenteils),
weshalb sie schließlich auf den Satz des Widerspruchs zurückführen. Die
empirischen Wahrheiten hingegen (zum Beispiel „Dieser Federhalter ist
schwarz") lassen sich nicht durch bloße Zergliederung feststellen, noch aus
obersten Axiomen ableiten: sie sind Tatsachen und immer nur wieder auf
Tatsachen zurückzuführen. Das Prinzip für dieses System von Wahrheiten
liegt demnach im Kausalzusammenhang der Erscheinungen: es ist der Satz
vom zureichenden Grunde. Über eine weitere Bedeutung des gleichen Satzes
unterrichtet die Anmerkung zu 157 41.
157 38. Anderwärts (zum Beispiel in den Nouveaux Essais IV, 2, § 1) unter-
scheidet L. vom Satz des Widerspruchs noch den damit eng zusammen-
gehörigen Satz der Identität A = A. Der Satz des Widerspruchs, seit Ari-
stoteles, ja seit Parmenides als ein Denkaxiom anerkannt, das eines Beweises
weder fähig noch bedürftig ist, tritt uns hier in zwei Fassungen entgegen.
Falsch ist erstens, was einen Widerspruch in sich birgt, wie wenn ich von
diesem Federhalter in gleicher Beziehung aussage, er sei schwarz und er sei
nicht schwarz. Wahr ist zweitens, was dem Falschen kontradiktorisch, das
heißt so entgegengesetzt ist, daß ein dritter möglicher Fall ausgeschlossen ist.
Ist es also falsch, daß der Federhalter die schwarze Farbe hat, so folgt daraus
unmittelbar das Urteil als richtig: er hat nicht die schwarze Farbe. Freilich
kann man aus dem bloßen Grundsatz des Widerspruchs nicht wissen, ob die
erste Behauptung falsch war, sondern bedarf dazu anderer Erkenntnismittel.
Aber darauf geht L. nicht ein.
157 41. Auch das Denkgesetz des zureichenden Grundes tritt hier in doppelter
Fassung auf. Die eine ist metaphysisch, nämlich, daß kein Ereignis ohne
genügenden Grund sich vollziehe, die andere ist logisch, nämlich, daß jedes
wahre Urteil hinreichend begründet sein müsse. Eine noch weitere Aus-
dehnung hat Schopenhauer diesem Satz gegeben in seiner Promotionsschrift
„Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde", 1813.
Gegenwärtig wird meist die Beschränkung auf die logische Fassung emp-
fohlen. Alsdann kann man den Satz dahin erläutern, daß im strengen Denken
mit jeder vorhergehenden Erkenntnis die Notwendigkeit der folgenden gegeben
ist. Logische Beziehung nennen wir eine Abhängigkeit der Denkinhalte von-
einander: das, wovon etwas abhängt, heißt der Grund, das Abhängige heißt
die Folge. Dieser positive Ausdruck der Denkgesetzmäßigkeit bezeichnet
ebenso wie der negative Ausdruck (der Satz des Widerspruchs) die Eigen-
tümlichkeiten, an welche die Gültigkeit der Denkakte gebunden ist.
158 12. Vergleiche den Anfang unseres Kommentars zu Spinoza.
D e s s o i r.
XIV.
Hume.
Vom Ursprung der Ideen.
Wir können (daher) sämtliche Vorstellungen des Geistes in zwei
Klassen oder Gattungen einteilen, die sich durch ihre verschiedenen Grade
von Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden. Die weniger starken und
lebendigen heißen gewöhnlich Gedanken oder Ideen. Für die
5 andere Gattung fehlt in unserer und den meisten anderen Sprachen
ein Name; ich vermute, weil es für keine anderen als philosophische
Zwecke erforderUch war, sie unter eine allgemeine Bezeichnung oder
Benennung einzureihen. Nehmen wdr uns daher eine kleine Freiheit
und nennen sie ., Eindrücke", dies Wort in einem etwas anderen als dem
10 übhchen Sinn gebraucht. Mit dem Worte Eindruck also meine
ich alle unsere lebendigeren Vorstellungen, wenn wir hören, sehen,
fühlen, heben, hassen, wünschen oder wollen. Eindrücke sind ferner
verschieden von Ideen, die in den weniger lebendigen Vorstellungen be-
stehen, deren war uns bewußt sind, wenn wir an irgend eine jener oben
15 erwähnten Empfindungen oder Gemütsbewegungen zurückdenken.
Nichts mag auf den ersten Bhck schrankenloser scheinen als das
menschhche Denken, das sich nicht nur aller menschlichen Macht und
Autorität entzieht, sondern nicht einmal in die Grenzen von Natur
und Wirklichkeit gebannt ist. Ungeheuer zu bilden und widersprechende
20 Gestalten und Erscheinungen zu verbinden, kostet der Einbildungs-
kraft nicht mehr Mühe, als die natürlichsten und vertrautesten Gegen-
stände vorzustellen. Und während der Körper auf einen Planeten
beschränkt ist, auf dem er leidvoll und schwerfälHg umherkriecht, kann
uns der Gedanke blitzschnell in die entlegensten Gebiete des Weltalls
25 versetzen oder selbst darüber hinaus ins unbegrenzte Chaos, wo die
Natur, wie man glaubt, in gänzhcher Verwirrung hegt. Was niemals
gesehen oder gehört wurde, kann doch vorgestellt werden; und nichts
liegt jenseits der Macht des Gedankens, außer was einen unbedingten
Widerspruch in sich enthält.
164 Hume.
Aber obgleich unser Denken diese unbeschränkte Freiheit zu besitzen
scheint, werden wir doch bei näherer Untersuchung finden, daß es in
Wirkhchkeit in sehr enge Grenzen eingeschlossen ist, und daß diese
ganze schöpferische Macht des Geistes auf nicht mehr hinauskommt
als auf die Fähigkeit, die uns von den Sinnen und der Erfahrung ge- s
lieferten Stoffe zu verbinden, umzustellen, zu vermehren oder zu ver-
mindern. Denken wir an einen goldenen Berg, so verbinden wir nur
zwei miteinander verträgliche Ideen, Gold und Berg, mit denen
wir zuvor bekannt waren. Ein tugendhaftes Pferd können wir vorstellen,
weil wir von unserem eigenen Gefühl aus Tugend vorstellen können; lo
und diese können wir mit dem Aussehen und der Gestalt eines Pferdes
vereinigen, das ein uns vertrautes Tier ist'. Kurz, alle Stoffe des Denkens
sind entweder von unserem äußeren oder unserem inneren Gefühl her-
geleitet: ihre Mischung und Zusammensetzung allein gehört dem Geist
und dem Willen an. Oder, um mich in philosophischer Sprache aus- i5
zudrücken: alle unsere Ideen (oder schwächeren Vorstellungen) sind
Kopien unserer Eindrücke (oder lebendigeren Vorstellungen).
Um dies zu beweisen, werden hoffentlich die beiden folgenden Argu-
mente genügen. Erstens: zergliedern wir unsere Gedanken oder Ideen,
mögen sie noch so zusammengesetzt oder erhaben sein, so finden wir 20
stets, daß sie sich in solche einfachen Ideen auflösen, die die Kopien
eines früheren Fühlens oder Empfindens sind. Selbst jene Ideen, die
beim ersten Anblick am weitesten von diesem Ursprung entfernt er-
scheinen, zeigen sich bei näherer Untersuchung davon hergeleitet. Die
Idee von Gott, im Sinne eines unendlich intelhgenten, weisen und gütigen 25
Wesens, entspringt aus dem Nachdenken über die Tätigkeiten unseres
eigenen Geistes und aus der ins Unendliche gehenden Steigerung jener
Eigenschaften : Güte und Weisheit. Wir mögen diese Untersuchung fort-
setzen, soweit es uns behebt, — immer werden wir dabei finden, daß jede
Idee, die wir prüfen, die Kopie eines gleichartigen Eindrucks ist. Wer 30
behaupten wollte, dieser Satz sei nicht allgemein wahr noch ausnahms-
los, hat nur ein, und zwar ein leichtes Verfahren, ihn zu widerlegen :
indem er die Idee nachweist, die nach seiner Meinung nicht aus dieser
Quelle geschöpft ist. Alsdann wird es uns obüegen, wenn wir unsere
Lehre aufrecht halten wollen, den Eindruck oder die lebendige Vor- 35
Stellung nachzuweisen, die ihr entspricht.
Zweitens: kommt es infolge eines Fehlers am Sinnesorgan vor, daß
ein Mensch für eine Empfindung irgendwelcher Art nicht empfänglich
ist, so finden wir stets, daß er dann ebensowenig der entsprechenden
Ideen fähig ist. Ein Bhnder kann sich keinen Begriff von Farben, ein 40
Tauber keinen von Tönen machen. Gibt man jedem von ihnen den Sinn
Vom Ursprung der Ideen. 165
wieder, dessen er ermangelt, so ist ihm mit der Öffnung dieses neuen
Zuganges für seine Empfindungen auch ein Zugang für die Ideen ge-
öffnet, und er findet keine Schwierigkeit, sich diese Gegenstände vor-
zustellen. Der Fall ist derselbe, wenn der Gegenstand, der geeignet ist,
5 irgend eine Empfindung anzuregen, niemals auf das Organ eingewirkt
hat. Ein Lappländer oder ein Neger hat keinen Begriff vom Geschmack
des Weines. Und obgleich es wenig oder keine Beispiele einer ähnlichen
Mangelhaftigkeit des Geistes gibt, wo jemand eine seiner Gattung eigen-
tümliche Empfindung oder Leidenschaft nie gefühlt hat oder ihrer gänz-
10 hch unfähig ist, so finden wir hier doch die gleiche Beobachtung in einem
geringeren Grade. Ein Mensch von gutmütigem Charakter kann sich
keine Idee von eingewurzelter Eache oder Grausamkeit bilden, noch
ein selbstsüchtiges Herz sich leicht den Gipfel von Freundschaft und
Edelmut vorstellen. Gern wird zugestanden, daß andere Wesen manche
15 Sinne besitzen mögen, von denen wir keine Vorstellung haben können,
weil die Ideen davon auf dem einzigen Wege, auf dem eine Idee Zugang
zum Geiste haben kann, niemals in uns eingeführt worden sind : nämlich
durch das tatsächliche Fühlen und Empfinden.
Gleichwohl gibt es eine dem widersprechende Erscheinung, die be-
20 weisen könnte, daß es für Ideen nicht schlechtweg unmöglich sei, un-
abhängig von ihren entsprechenden Eindrücken zu entstehen. Ich glaube,
es wird gern zugegeben, daß die einzelnen verschiedenen Ideen von Farbe,
die durch das Auge eindringen, oder die von Ton, die durch das Ohr
zugeführt werden , wirkhch alle voneinander verschieden, wenn auch
25 zugleich ähnlich sind. Ist dies nun von verschiedenen Farben wahr, so
muß es nicht weniger von den verschiedenen Schattierungen derselben
Farbe wahr sein; jede Schattierung bringt eine bestimmte, von den
übrigen unabhängige Idee hervor. Denn würde dies geleugnet, so wäre
durch die stetige Abstufung der Schattierungen das unmerkHche Ver-
30 laufen einer Farbe in eine ihr ganz entgegengesetzte möglich; und wer
die Verschiedenheit irgendwelcher Mittelglieder nicht zugeben will,
kann nicht ohne inneren Widerspruch die Gleichheit der äußeren leugnen.
Man nehme also an, eine Person habe sich dreißig Jahre lang ihres Augen-
lichtes erfreut und sei mit Farben aller Art bekannt geworden, ausge-
35 nommen zum Beispiel eine besondere Schattierung von blau, die sie
anzutreffen niemals das Glück hatte. Legen wir alle die verschiedenen
Schattierungen dieser Farbe außer jener einzigen, von der dunkelsten
bis zur hellsten allmählich absteigend, vor sie hin, so ist offenbar: sie
stellt da, wo diese Schattierung fehlt, eine Lücke vor und wird an dieser
40 Stelle eine größere Entfernung zwischen den angrenzenden Farben
empfinden als an irgend einer anderen. Nun frage ich, ob es für sie mög-
166 Hume.
lieh sei, aus ihrer eigenen Einbildungskraft diesen Ausfall zu decken
und sich die Idee jener besonderen Schattierung zu verschaffen, obgleich
sie ihr durch die Sinne niemals zugeführt worden war. Ich glaube, es
werden nur wenige der Meinung sein, sie könne es nicht. Und dies
kann als Beweis dafür dienen, daß die einfachen Ideen nicht immer und &
unter allen Umständen von den entsprechenden Eindrücken abgeleitet
sind; obgleich dieser Fall so vereinzelt dasteht, daß er kaum unserer
Beachtung wert ist und nicht verdient, daß wir seinetwegen allein unseren
allgemeinen Grundsatz ändern.
Hier haben wir also einen Satz, der nicht nur in sich selbst einfach lo
und verständlich scheint, sondern der auch bei richtiger Anwendung
jede Streitfrage in gleicher Weise klären und das ganze Kauderwelsch
verbannen könnte, das so lange die metaphysischen Betrachtungen in
Besitz gehabt und in Verruf gebracht hat. Alle Ideen, besonders die
abstrakten, sind von Natur matt und dunkel; der Geist hat nur einen is
kümmerlichen Halt an ihnen; sie werden leicht mit anderen ähnlichen
Ideen verwechselt ; und haben wir irgend einen Ausdruck oft gebraucht,
wenn auch ohne bestimmte Bedeutung, so sind wir geneigt uns einzu-
bilden, es sei eine bestimmte Idee mit ihm verknüpft. Dagegen sind alle
Eindrücke, das heißt alle inneren oder äußeren Empfindungen, stark und 20
lebhaft; die Grenzen zwischen ihnen sind genauer bestimmt, und es ist
nicht leicht, in Hinsicht auf sie einen Irrtum oder eine Verwechslung
zu begehen. Hegen wir daher Verdacht, ein philosophischer Ausdruck
sei ohne irgend eine Bedeutung oder Idee angewendet — was freilich
nur allzu häufig geschieht — , so brauchen wir nur zu fragen: von 25
welchem Eindruck ist jene angebliche Idee her-
geleitet? Und läßt sich keiner aufweisen, so wird dies dazu dienen,
unseren Verdacht zu bestärken. Indem wir die Ideen in ein so klares
Licht gebracht haben, dürfen wir vernünftigerweise hoffen, jeden Streit
zu entfernen, der sich hinsichtlich ihrer Natur und Wirklichkeit erheben 30
könnte.
Von der Idee der notwendigen Verknüpfung.
In der Metaphysik kommen keine dunkleren und unbestimmteren
Ideen vor als die von Vermögen, Kraft, Energie oder
notwendiger Verknüpfung, von denen wir notwendiger-
weise jeden Augenblick in allen unseren Untersuchungen zu handeln
haben. Wir werden uns daher in diesem Abschnitt bemühen, womöglich
den genauen Sinn dieser Bezeichnungen festzustellen und dadurch einen
Von der Idee der notwendigen Verknüpfung. 167
Teil jener Dunkelheit zu beseitigen, über die in dieser Art von Philosophie
so sehr geklagt wird.
Es scheint ein Satz zu sein, der nicht viel Streit zulassen dürfte,
daß alle unsere Ideen nichts als Kopien unserer Eindrücke sind, oder
5 mit anderen Worten, daß es uns unmöglich ist, irgend etwas zu denken,
was WTT nicht vorher durch unsere äußeren oder inneren Sinne aufgenom-
men haben. Ich habe mich bemüht, diesen Satz zu erläutern und zu
beweisen, und habe meine Hoffnung ausgedrückt, daß die Menschen durch
seine geeignete Anwendung größere Klarheit und Genauigkeit im philo-
10 sophischen Denken erreichen dürften, als sie bisher zu erlangen im stände
waren. Zusammengesetzte Ideen können vielleicht durch eine Begriffs-
bestimmung gut erkannt werden, die nichts als eine Aufzählung jener
Teile oder einfachen Ideen ist, aus denen sie bestehen. Aber wenn wir
mit Definitionen bis zu den einfachsten Ideen hinauf gekommen sind
15 und immer noch einige Zweideutigkeit und Dunkelheit finden: welche
Hilfsquelle besitzen wir dann noch? Durch welche Erfindung können
wir Licht über diese Idee verbreiten und sie für unseren geistigen Blick
insgesamt genau und bestimmt machen? Man weise die Eindrücke oder
ursprünglichen Gefühle nach, deren Kopien die Ideen sind. Diese Ein-
20 drücke sind alle stark und sinnfälhg. Sie lassen keine Zweideutigkeit
zu. Sie stehen nicht nur selbst in vollem Licht, sondern können auch die
ihnen entsprechenden, in Dunkel hegenden Ideen aufhellen. Und so
erhalten wir vielleicht ein neues Mikroskop oder eine Art Sehwerkzeug,
wodurch die winzigsten und einfachsten Ideen in den Geisteswissen-
25 Schäften so vergrößert werden können, daß sie unserer Auffassung un-
mittelbar zugänghch sind und ebenso wie die gröbsten und sinnfältigvSten
Ideen erkannt werden, die der Gegenstand unserer Forschung sein können.
Um also mit der Idee von Vermögen oder notwendiger Verknüpfung
völhg vertraut zu werden, wollen \\4r den ihr zu Grunde liegenden Ein-
30 druck prüfen; und um ihn mit größerer Sicherheit zu finden, suchen wir
nun nach ihm in allen den Quellen, aus denen er möghcherweise her-
geleitet werden kann.
Bücken wir um uns auf äußere Gegenstände und betrachten die
Wirksamkeit von Ursachen, so können wir niemals, in keinem einzigen
35 Fall, irgend ein Vermögen oder eine notwendige Verknüpfung entdecken,
irgend eine Qualität, die die Wirkung an die Ursache bindet und die
eine zur unfehlbaren Folge der anderen macht. Wir finden bloß, daß
das eine wirkhch und tatsächlich auf das andere folgt. Auf den Stoß der
einen Billardkugel folgt die Bewegung in der zweiten. Das ist alles,
40 was den äußeren Sinnen erscheint. Der Geist hat kein Gefühl oder
inneren Eindruck von dieser Folge der Gegenstände ; demnach liegt
168 Hume.
in irgend einem einzelnen, besonderen Beispiel von Ursache und Wirkung
niclits, was die Idee von Vermögen oder notwendiger Verknüpfung
eingeben könnte.
Bei dem Erscheinen eines Gegenstandes können wir niemals gleich
erraten, welche Wirkung sich aus ihm ergeben werde. Vermöchte jedoch 0
der Geist das Vermögen oder die Energie irgend einer Ursache zu ent-
decken, so könnten wir die Wirkung sogar ohne Erfahrung voraussehen
und gleich beim ersten Male mit Gewißheit über sie urteilen durch die
bloße Kraft des Denkens und Schließens.
Als Tatsache wissen wir, daß Hitze ein beständiger Begleiter der 10
Flamme ist; doch zu einer Vermutung oder Vorstellung, was das Bindende
zwischen ihnen sei, haben wir nicht genug Anlaß. Es ist daher unmög-
lich, die Idee von Kraft aus der Betrachtung der Körper in den Einzel-
fällen ihrer Wirksamkeit abzuleiten, da kein Körper je irgend eine Kraft
enthüllt, die das Urbild dieser Idee sein kann. 15
Weil uns also äußere Gegenstände, wie sie den Sinnen erscheinen,
durch ihre Wirksamkeit in einzelnen Fällen keine Idee von Vermögen
oder notwendiger Verknüpfung geben, wollen wir sehen, ob diese Idee
aus einer Reflexion auf die Tätigkeit unseres eigenen Geistes abgeleitet
und nach einem inneren Eindruck abgebildet ist. Man könnte behaup- 20
ten, wir seien jeden Augenblick uns eines inneren Vermögens bewußt,
wann wir fühlen, daß wir durch den einfachen Befehl unseres Willens
die Organe unseres Körpers bewegen oder die Fähigkeiten unseres
Geistes leiten können. . . . Die Bewegung unseres Körpers folgt auf
den Befehl unseres Willens. Dessen sind wir uns jederzeit bewußt. 25
Aber die Mittel, wodurch dies geschieht, die Energie, durch die der
Wille eine so außerordentliche Tat vollbringt, sind dem unmittelbaren
Bewußtsein so sehr entzogen, daß sie unserer eifrigsten Forschung für
immer entgehen müssen.
Doch eilen wir zu einem Beschluß dieser Erörterung, die schon zu 30
sehr in die Länge gezogen ist. Vergebens haben wir nach einer Idee von
Vermögen oder notwendiger Verknüpfung in allen den Quellen gesucht,
aus denen sie vermutUch geflossen sein könnte. Es zeigt sich, daß wir
in einzelnen Fällen von körperhchen Vorgängen auch bei gewissenhaf-
tester Untersuchung nichts weiter entdecken können als das Folgen eines 3b
Vorgangs auf den anderen, ohne fähig zu sein, irgend eine Kraft oder
ein Vermögen zu begreifen, durch das die Ursache wirkt, oder irgend
eine Verknüpfung zwischen ihr und ihrer angenommenen Wirkung.
Dieselbe Schwierigkeit stellt sich bei der Betrachtung der Einwirkungen
Von der Idee der notwendigen Verknüpfung. 1(39
des Geistes auf den Körper ein, wo wir beobachten, wie die Bewegung
auf das Wollen folgt, nicht aber im stände sind, das Band, das Wollen
und Bewegung verbindet, oder die Energie, durch die der Geist
diese Wirkung hervorbringt, zu beobachten oder zu begreifen. Die
5 Macht des Willens über seine eigenen Fähigkeiten und Ideen ist nicht
im geringsten faßhcher, — so daß sich überhaupt in der ganzen Natur
nicht ein einziger Fall von Verknüpfung zeigt, den wir begreifen könnten.
Alle Vorgänge scheinen völhg lose und getrennt zu sein. Ein Vorgang
folgt dem anderen ; niemals aber können wir ein Band zwischen ihnen
10 beobachten. Sie scheinen verbunden, aber nie verknüpft. Und
da wir von nichts, was sich weder unserem äußeren Sinn noch inneren
Gefühl jemals zeigte, eine Idee haben können, so scheint der not-
wendige Schluß der: wir haben keine Idee von Verknüpfung oder Ver-
mögen überhaupt, und diese Worte sind völhg sinnlos, sei es, daß sie in
15 philosophischen Betrachtungen oder im gewöhnlichen Leben angewendet
werden.
Es bleibt aber doch noch ein Weg, diesem Schluß zu entgehen, und
eine Quelle, die wir noch nicht geprüft haben. Haben wir irgend einen
natürhchen Gegenstand oder Vorgang vor uns, so ist es uns unmögUch,
20 selbst mit Aufbietung alles Scharfsinns und aller Einsicht, ohne Erfah-
rmig zu entdecken oder auch nur zu vermuten, welches Ereignis aus ihm
hervorgehen werde, oder mit unserer Voraussicht über jenen Gegenstand
hinauszukommen, der dem Gedächtnis und den Sinnen unmittelbar
gegenwärtig ist. Selbst nach einem Falle oder Versuche, wobei wir
25 beobachtet haben, wie ein einzelner Vorgang auf einen anderen folgte,
sind wir nicht berechtigt, eine allgemeine Regel daraus zu bilden oder
vorauszusagen, was in gleichen Fällen geschehen werde; denn mit Recht
gilt es für eine unverzeihUche Unbesonnenheit, aus einer einzigen noch
so genauen und sicheren Probe über den ganzen Lauf der Natur zu ur-
30 teilen. Ist aber ein Vorgang von besonderer Art immer, in allen FäUen,
mit einem anderen verbunden gewesen, so stehen wir nicht länger an,
den einen bei Erscheinen des anderen vorauszusagen und die Beweisfüh-
rung anzuwenden, die allein uns über irgendwelche Tatsache oder Existenz
Gewißheit geben kann. Wir nennen alsdann den einen Gegenstand
35 Ursache, den anderen Wirkung. Wir setzen voraus, zwischen
ihnen bestehe eine Verknüpf ung ; irgend ein Vermögen sei in dem einen,
wodurch er unfehlbar den anderen hervorbringt, und mit der größten
Sicherheit und strengsten Notwendigkeit wirkt.
Es zeigt sich also : diese Idee einer notwendigen Verknüpfung zwischen
40 Vorgängen entspringt aus einer Anzahl ähnhcher Fälle der beständigen
Verbindung dieser Vorgänge; und jene Idee kann niemals durch irgend
170 Hume.
einen dieser Fälle eingegeben werden, mag man ihn auch in allen mög-
lichen Beleuchtungen und Stellungen betrachten. Allein es gibt in einer
Anzahl von Fällen nichts, was von jedem einzelnen als genau gleich-
artig vorausgesetzten Fall verschieden wäre; ausgenommen nur, daß
nach einer Wiederholung gleichartiger Fälle der Geist durch die Gewöh- s
nung dahin gebracht wird, beim Erscheinen des einen Vorgangs seinen
gewöhnlichen Begleiter zu erwarten und zu glauben, er werde ins
Dasein treten. Diese Verknüpfung also, die wir im Geist fühlen,
dieser gewohnheitsmäßige Übergang der Einbildungskraft von einem
Gegenstand zu seinem gewöhnlichen Begleiter ist das Gefühl oder der lo
Emdruck, aus dem wir die Idee von Vermögen oder notwendiger Ver-
knüpfung bilden. Weiter liegt dabei nichts vor. Man betrachte die
Sache von allen Seiten: man wird nie irgend einen anderen Ursprung
jener Idee finden. Dies ist der einzige Unterschied zmschen einem
Falle, aus dem wir niemals die Idee von Verknüpfung gewinnen können, is
und einer Anzahl gleichartiger Fälle, durch die sie eingegeben wird. Sieht
ein Mensch zum ersten Male die Mitteilung der Bewegung durch Stoß,
wie beim Zusammenprall zweier Billardkugeln, so kann er nicht urteilen,
der eine Vorgang sei mit dem anderen verknüpft, sondern nur,
er sei mit ihm verbunden. Hat er mehrere derartige Fälle beob- 20
achtet, dann urteilt er, sie seien verknüpft. Welche Veränderung ist
geschehen, die diese neue Idee von Verknüpfung entstehen läßt?
Nichts als daß er jetzt fühlt, daß diese Vorgänge in seiner Ein-
bildung verknüpft sind, und sofort die Existenz des einen aus dem
Erscheinen des anderen voraussagen kann. Sagen wir also, ein Objekt 25
ist mit einem anderen verknüpft, so meinen wir nur, sie haben in unserem
Denken eine Verknüpfung gewonnen und veranlassen diese Folgerung,
wodurch sie gegenseitig zu Beweisen ihrer Existenz werden: ein Schluß,
der etwas außergewöhnlich ist, doch auf genügende E\'idenz gegründet
scheint. Seine Evidenz wird auch durch kein allgemeines Mißtrauen 30
des Verstandes oder einen skeptischen Verdacht in Bezug auf jeden neuen
und außerordenthchen Schluß geschwächt werden. Keine Schlüsse
können dem Skeptizismus angenehmer sein als solche, die über die
Schwäche und die engen Grenzen der menschlichen Vernunft und Fas-
sungskraft Aufklärungen geben. 35
Und welcher zwingendere Beweis könnte für die überraschende
Unwissenheit und Schwäche des Verstandes beigebracht werden als der
gegenwärtige? Denn sicherlich : gibt es irgend eine Beziehung zwischen
Gegenständen, an deren vo]lkommener Kenntnis uns gelegen ist, so ist
es die von Ursache und Wirkung. Hierauf sind alle unsere Schlüsse 40
über eine Tatsache oder Existenz gegründet. Durch sie allein erlangen wir
Von der Idee der notwendigen Verknüpfung. 171
überhaupt Sicherheit über Gegenstände, die von dem gegenwärtigen
Zeugnis unseres Gedächtnisses und unserer Sinne weit abliegen. Der ein-
zige unmittelbare Nutzen aller Wissenschaften besteht darin, daß sie uns
lehren, zukünftige Ereignisse durch ihre Ursachen zu beherrschen und
ö zu regulieren. Unsere Gedanken und Überlegungen sind also jeden
Augenbhck mit diesem Verhältnis beschäftigt; so unvollkommen sind
jedoch die davon gebildeten Ideen, daß es unmöglich ist, eine richtige
Definition von Ursache zu geben, wenn man nicht etwas ihr Äußerhches
und Fremdes mit hineinnehmen will. Gleichartige Gegenstände sind
10 stets mit gleichartigen verbunden. Das sagt uns die Erfahrung. Dieser
Erfahrung entsprechend können wir daher eine Ursache definieren
als einen Gegenstand, dem ein anderer folgt, wo-
bei allen dem ersten gleichartigen Gegenstän-
den andere folgen, die dem zweiten gleichartig
15 sind; oder mit anderen Worten : wo, wenn der e r s t e G e g e n-
stand nicht gewesen wäre, der zweite niemals
existiert hätte. Das Erscheinen einer Ursache führt den Geist
durch eine gewohnheitsmäßige Übertragung immer auf die
Idee der Wirkung. Auch das lehrt uns die Erfahrung. Wir können also
20 dieser Erfahrung gemäß noch eine andere Definition von Ursache bilden
und sie bezeichnen als einen Gegenstand, dem ein anderer
folgt, und dessen Erscheinen die Gedanken stets
auf jenen anderen führt. Sind nun auch diese beiden De-
finitionen aus Umständen hergenommen, die der Ursache fremd sind,
25 so können wir doch diesem Übelstand nicht abhelfen oder zu irgend einer
vollkommeneren Begriffsbestimmung gelangen, die jenen Umstand in
der Ursache bezeichnet, der sie mit ihrer Wirkung verknüpft. Wir
haben keine Idee von dieser Verknüpfung noch selbst einen deutlichen
Begriff von dem Wesen dessen, was wir zu wissen w^ünschen, wenn wir
30 nach einer Vorstellung davon verlangen. Wir sagen zum Beispiel, die
Schwingung dieser Saite ist die Ursache dieses einzelnen Tones. Was
meinen wir aber mit dieser Behauptung? Entweder: dieser
Schwingung folgt dieser Ton, und auf alle gleich-
artigen Schwingungen sind gleichartige Töne
35 gefolgt; oder : dieser Schwingung folgt dieser Ton,
und bei Erscheinen des einen kommt der Geist
den Sinnen zuvor und bildet sofort eine Idee
von dem andere n. Wir können die Beziehung von Ursache
und Wirkung in einer dieser beiden Beleuchtungen betrachten; doch
40 darüber hinaus haben wir keine Idee davon.
Fassen wir also kurz die Beweisführungen dieses Abschnitts zu-
172 Hume.
sammen. Jede Idee ist die Kopie irgend eines vorhergelienden Ein-
drucks oder Gefühls; und wo wir keinen Eindruck finden können, da ist
sicher auch keine Idee. In allen einzelnen Fällen der Wirksamkeit von
Körpern oder Geistern gibt es nichts, was irgend einen Eindruck von
Vermögen oder notwendiger Verknüpfung hervorbringt, folglicher- 5
weise auch nichts, was eine Idee davon eingeben kann. Treten aber
viele gleichförmige Fälle ein, und ist derselbe Gegenstand stets von
demselben Erfolge begleitet, dann beginnen wir den Begriff von Ursache
und Verknüpfung in uns aufzunehmen. Wir fühlen alsdann ein
neues Gefühl oder einen Eindruck, das heißt eine gewohnheitsmäßige lo
Verknüpfung im Denken oder Einbilden zwischen einem Gegenstand
und seinem gewöhnlichen Begleiter; und dieses Gefühl ist das Urbild
jener Idee, nach der wir suchen. Denn da diese Idee aus einer Anzahl
gleichartiger Fälle und nicht aus einem einzelnen Fall hervorgeht, so
muß sie aus jenem Umstand hervorgehen, worin die Anzahl der Fälle i5
von jedem Einzelfall abweicht. . . .
David Humes (1711 — 1776) Hauptwerk ist der Treatise on human nature
(1739/40), dessen erster Teil („Über den Verstand") von E. Köttgen übersetzt
und von Th. Lipps mit Anmerkungen und einem ausführlichen Verzeichnis
versehen worden ist ( 1895). Das Enquiry concerning human understanding (1748)
steht jenem Hauptwerk an Bedeutung nach, ist aber gedrungener und über-
sichtlicher, so daß es für unsere Zwecke sich empfahl, aus ihm (und zwar aus dem
2. und 7. Abschnitt) einige Stellen zu entnehmen. Unter dem Titel „Eine
Untersuchung über den menschlichen Verstand" erschien in der Philosophischen
Bibliothek eine Verdeutschung (5. Auflage 1902), Wir haben uns mehr der
strengen Übersetzung von C. Nathanson (1893) angeschlossen. — Aus der
Literatur heben wir hervor die leicht verständlichen Darstellungen in Jul.
Bergmanns Geschichte der Philosophie (I, 1892) und W. Windelbands Ge-
schichte der neueren Philosophie (I-, 1899). Nützlich ist ferner: Ed. Grimm,
Zur Geschichte des Erkenntnisproblems. Von Bacon zu Hume. 1890. (Die
Verwandtschaft mit Bacon wird schon aus einer Vergleichung unserer beiden
Lesestücke ersichtlich.) Für Vorgerückte: A. Meinong, Hume-Studien, 1877
und 1882.
Die geschichtliche Bedeutung H.s reicht gleich weit nach vorwärts wie nach
rückwärts. In seinem empiristischen Skeptizismus, das heißt in seinem aus
der Erfahrung abgeleiteten Zweifel, vollendet sich die englische Aufklärung;
durch ihn ist Kant angeregt und diejenige Geistesrichtung im 19. Jahrhundert
vorbereitet worden, die man Positivismus nennt. Sachlich betrachtet ist diese
Erkenntnistheorie bedeutsam durch die Folgerichtigkeit, mit der das Wissen
auf die Erfahrung und diese auf sich selbst beschränkt Avird. All unser Wissen,
so meint H., entspringt aus der Einwirkung des vorgestellten Gegenstandes auf
das vorstellende Ich : wir sind passiv Empfangende, die nichts weiter vermögen
Erläuterungen. 173
als Eindrücke aufzunehmen, in schwächeren Abbildern zu wiederholen und
verschiedentlich zu kombinieren. Wenn es so scheint, als ob v.iT einen not-
wendigen Zusammenhang zwischen den gegebenen Tatsachen feststellen
könnten, so ist das kein Ergebnis wissenschaftlicher Beweisführung, sondern
eines gewohnlieitsmäßigen Glaubens. Diese Theorie, nicht nur gegen speku-
lativen Übermut, sondern auch gegen übliche Voraussetzungen der Erfahrungs-
\vissenschaften gerichtet, bedeutet den abstrakten Ausdruck einer ganzen
Weltanschauung.
163 10. Vergleiche S. 139 die Anmerkung zu 126 12.
163 12. Die „Eindrücke" umfassen also außer den Sinneswahrnehmungen
noch die unmittelbaren Erlebnisse der Seele, wie lieben und hassen. Ob die
Erinnerungs- und Phantasievorstellungen von ihren Urbildern \\-irklich nur
durch einen Unterschied der Stärke getrennt sind, mag billig bezweifelt
werden. Denn es müßte sich doch zum Beispiel die Vorstellung eines sehr
lauten Tones der Wahrnehmung eines sehr leisen Tones wenigstens nähern,
und das geschieht nicht.
164 6. Hier wird nicht nur die Schöpferkraft des Ich geleugnet, sondern
auch seine Fähigkeit zu formalen Neubildungen auf vier Vorgänge (verbinden,
umstellen, vermehren, vermindern) eingeschränkt. Es würde lohnen, die Be-
hauptung an den Leistungen der künstlerischen Phantasie nachzuprüfen.
Vergleiche W. Dilthey, Das Schaffen des Dichters, in den E. Zeller zu seinem
fünfzigjährigen Doktor Jubiläum gewidmeten „Philosophischen Aufsätzen" ver-
schiedener Verfasser (1887).
165 35. Wenn die ^littelglieder in einer Farbenskala nicht versclüeden sind,
also keine unterschiedenen Vorstellungen zurücklassen, so wären auch die End-
punkte der Reihe nicht verschieden, was der Voraussetzung widerstreitet.
165 36. Die von hier ab besprochene Möglichkeit stellt eine Ausnahme dar
von der Regel ..alle einfachen Ideen stammen aus den entsprechenden Ein-
drücken". Selbst wenn sie so selten und unbeträchtlich wäre, wie H. annimmt,
so bleibt es doch bedenklich, daß der grundlegende Satz eine Ausnahme erleide.
Zur Sache selbst wird man folgendes sagen müssen. H. vereinfacht das Problem
zu sehr und unterschätzt seine Schwierigkeiten. Kann man die Frage überhaupt
zum Austrag bringen, so müßten schon Untersuchungen an blind geborenen und
später operierten Personen zu Hilfe genommen werden und zwar müßten
längere Zeit nach der Operation noch alle Gesichtseindrücke notiert werden.
Auch in den anderen Sinnesgebieten sind die Verhältnisse viel zu verwickelt,
als daß sie mit einer wahrscheinlichen Vermutung abgetan werden könnten.
166 15. Von hier ab mrd der Wert des unmittelbar Erfahrenen
mit größter Energie herausgestellt: man nennt das öfters Humes ..psycho-
logischen Empirismus". Der Gegensatz zu Piatos Rationalismus wird durch
Rückgreifen auf unser erstes Lesestück leicht nachweisbar.
166 31. Das Problem ist in Wahrheit hiermit nicht abgeschlossen. Kant
hat es neu aufgenommen und umgestaltet.
166 33. Die Nebeneinanderstellung dieser Begriffe erklärt sich so, daß H. die
notwendige, das heißt kausale Verknüpfung als das Werk einer Krafttätigkeit
auffaßt. Die Wirkung entstehe aus der Ursache durch ein Vermögen oder eine
Energie, die das Spätere aus dem Früheren hervortreibt.
174 Hume.
168 9. Der Gedankengang ist dieser: Aus dem Begriff des Körpers läßt
sich durch keine logische Zerghederung herauslesen, daß er, seiner Stütze beraubt,
fallen muß. Er könnte ebensogut emporsteigen. Erst die Erfahrung belehrt
uns darüber, daß er jenes und nicht dieses tut. Hierdurch unterscheiden
sich die Kausalverbindungen in der Außenwelt vom Denkzusammenhang
des Grundes und der Folge. Denn die logische Folge ist ohne weiteres aus ihrem
Grunde zu entnehmen: wenn ich aus dem Urteil „2 -)- 3 = 5" das andere Urteil
„5 — 3 = 2" erschließe, so bedarf es dazu keiner besonderen Erfahrung. Man
wird hierauf (mit Bergmann, Geschichte der Philosophie, I, 373) erwidern
dürfen: „Die Unmöglichkeit, ohne Kenntnis der aus der Erfahrung geschöpften
Gesetze über die Aufeinanderfolge der Ereignisse vorherzusehen, welche
Wirkung irgend ein Vorgang nach sich ziehen werde, habe ihren Grund in der
ünvoUständigkeit unserer Erkenntnis dieses Vorganges und der Dinge, an denen
er stattfinde."
169 10. Diese Verbindung der beiden Gedankengruppen scheint gezwungen,
wenn nicht sogar widerspruchsvoll. Wir haben doch die Vorstellung der
Kausalität! Da es nun keine angeborenen Vorstellungen geben soll, vielmehr
alle Vorstellungen Kopien von Eindrücken sind, so muß auch, wie es scheint,
die Vorstellung ursächlichen Zusammenhangs in einem Eindi-uck wurzeln.
Indessen gilt das nach H. nur für die richtigen Ideen; die Idee einer Kraft,
die aus der Ursache die Wirkung zu stände bringe, ist eben erdichtet, eine
subjektive Zutat zu der ausschließlich erfahrenen Zeitfolge der zwei Ereignisse
und als solche der Gewöhnung zu verdanken. Vergleiche den Schluß des
Lesestückes.
169 30. H. spricht hier von Vorgängen, wenige Zeilen später freihch von
Gegenständen. Immerhin geht die Richtung seiner Gedanken dahin, die alte
Auffassung, als sei die Ursache ein Ding, durch eine andere zu ersetzen, wonach
auch sie als ein Vorgang aufgefaßt wird.
170 7. Die subjektive Nötigung, eine bestimmte Erscheinung zu erwarten,
wird nach H. als ein Notwendigkeits Verhältnis innerhalb der objektiven
Wirklichkeit aufgefaßt, als ob unabhängig von uns ein Vorgang den anderen
durch eine Energie tatsächlich erzwinge. Die Erklärung geht also dahin,
aus BeAvußtseinsvorgängen das scheinbar Objektive verständlich zu machen,
aus der Psychologie die Entscheidung über Gültigkeit und Grenzen des Er-
kennens zu entnehmen. Vergleiche den Anfang unserer Erläuterungen zu
Locke.
170 40. Die Bedeutung der Kausalität wird von H. kräftig herausgehoben.
In neuester Zeit ist sie von Naturforschern (zum Beispiel Mach) und Philo-
sophen (zum Beispiel Avenarius) eingeschränkt worden. Vergleiche die kurze,
aber tüchtige Darstellung in Wundts Logik (12, 583 — 630) und das zwei-
bändige Werk von Edm. König, Die Entwicklung des Kausalproblems, 1888
bis 1890.
171 40. Nach allen diesen Bestimmungen wäre das Kausalgesetz der
Hauptsache nach das Gesetz der regelmäßigen Aufeinanderfolge. In dieser
regelmäßigen Aufeinanderfolge selber steckt aber eine Schwierigkeit, die von
Erläuterungen. 175
Kant aufgedeckt worden ist; man lese nach, was die „Kritik der reinen Ver-
nunft" über die zweite Analogie der Erfahrung aussagt. Eine weitere Schwierig-
keit ergibt sich aus den im Seelenleben vorkommenden Ursachverknüpfungen,
da diese zwar vom Gefühl der Notwendigkeit, aber nicht vom Bewußtsein der
Ausnahmelosigkeit begleitet sind. Wenn nämlich auch eine Wahrnehmung zu
wiederholten Malen ein Lustgefühl erwirkt hat, so kann sie doch bei nächster
Gelegenheit ein Unlustgefühl zur Folge haben: die Kausal Verknüpfung zmschen
Wahmehmungsinhalt und Lust — sofern sie überhaupt so genannt werden soll
— läßt Ausnahmen zu, und auch in den Ausnahmefällen haben wir das
Bewußtsein eines dm'chaus notwendigen Zusammenhangs der beiden
GUeder. — Vortreffhche, vielleicht etwas schwierige Darlegungen in Schuppes
Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik 1894, S. 58 — 77.
D e s s o i r.
XV.
Kant.
Vorerinnerung von dem Eigentümlichen aller metaphysischen
Erkenntnis.
§ 1.
Von deu (^wellen der Metaphysik.
Wenn man eine Erkenntnis als Wissenschaft darstellen will,
so muß man zuvor das Unterscheidende, was sie mit keiner anderen
gemein hat und was ihr also eigentümlich ist, genau bestimmen
können; widrigenfalls die Grenzen aller Wissenschaften ineinander 5
laufen, und keine derselben ihrer Natur nach gründlich abgehandelt
werden kann.
Dieses Eigentümliche mag nun in dem Unterschiede des Objekts
oder der Erkenntnisquellen oder auch der Erkenntnis-
art oder einiger, wo nicht aller dieser Stücke zusammen bestehen, 10
so beruht darauf zuerst die Idee der möglichen Wissenschaft und ihres
Territorium.
Zuerst , was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis be-
trifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, daß sie nicht empirisch sein
können. Die Prinzipien derselben (wozu nicht bloß ihre Grundsätze, 15
sondern auch Grundbegriffe gehören) müssen also niemals aus der Er-
fahrung genommen sein: denn sie soll nicht physische, sondern meta-
physische, das ist jenseit der Erfahrung liegende, Erkenntnis sein. Also
wird weder äußere Erfahrung, welche die Quelle der eigentlichen Physik,
noch innere, welche die Grundlage der empirischen Psychologie aus- 20
macht, bei ihr zum Grunde liegen. Sie ist also Erkenntnis a friori,
oder aus reinem Verstände und reiner Vernunft.
Hierin würde sie aber nichts Unterscheidendes von der reinen Mathe-
matik haben; sie wird also reine philosophische Erkenn t-
n i s heißen müssen. — So viel von den Quellen der metaphysischen 26
Erkenntnis.
Vorerinnerung v. d. Eigentümliclien aller metaphjsisclien Erkenntnis. 177
§2.
Ton der Erkenntnisart, die allein metaphysisch heißen kann.
a) Von dem Unterschiede synthetischer und ana-
lytischer Urteile überhaupt.
5 Metaphysische Erkenntnis muß lauter Urteile a priori enthalten,
das erfordert das Eigentümliche ihrer Quellen. Allein Urteile mögen
nun einen Ursprung haben, welchen sie wollen, oder auch ihrer logischen
Form nach beschaffen sein, wie sie wollen, so gibt es doch einen Unter-
schied derselben dem Inhalte nach, vermöge dessen sie entweder bloß
10 erläuternd sind und zum Inhalte der Erkenntnis nichts hinzutun,
oder erweiternd und die gegebene Erkenntnis vergrößern ; die
ersteren werden analytisch e, die zweiten synthetische
Urteile genannt werden können.
Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts als das, was im Be-
15 griffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem
Bewußtsein gedacht war. Wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt,
so habe ich meinen Begriff vom Körper nicht im mindesten erweitert,
sondern ihn nur aufgelöst, indem die Ausdehnung von jenem Begriffe
schon vor dem Urteile, obgleich nicht ausdrücklich gesagt, dennoch
20 wirklich gedacht war; das Urteil ist also analytisch. Dagegen enthält
der Satz: einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate, was in dem
allgemeinen Begriffe vom Körper nicht wirklich gedacht wird; er ver-
größert also meine Erkenntnis, indem er zu meinem Begriffe etwas hinzu-
tut, und muß daher ein synthetisches Urteil heißen.
25 b) Das gemeinschaftliche Prinzip aller analyti-
schen Urteile ist der Satz des Widerspruchs.
Alle analytischen Urteile beruhen gänzlich auf dem Satze des Wider-
spruchs und sind ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori, die Begriffe,
die ihnen zur Materie dienen, mögen empirisch sein oder nicht. Denn
30 weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils schon vorher
im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so kann es von ihm ohne Wider-
spruch nicht verneint werden; ebenso wird sein Gegenteil in einem ana-
lytischen, aber verneinenden Urteile notwendig von dem Subjekt ver-
neint und zwar auch zufolge dem Satze des Widerspruchs. So ist es
35 mit den Sätzen: Jeder Körper ist ausgedehnt, und: Kein Körper ist
unausgedehnt (einfach), beschaffen.
Eben darum sind auch alle analytischen Sätze Urteile a priori,
wenngleich ihre Begriffe empirisch sind, zum Beispiel Gold ist ein gelbes
Metall; denn um dieses zu wissen brauche ich keine weitere Erfahrung
Dessoir-Meuzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 12
178 Kant.
außer meinem Begriffe vom Golde, der enthielte, daß dieser Körper
gelb und Metall sei; denn dieses, machte eben meinen Begriff aus, und
ich durfte nichts tun als diesen zergliedern, ohne mich außer demselben
wonach anders umzusehen.
c) Synthetische Urteile bedürfen ein anderes 5
Prinzip als den Satz des Widerspruchs.
Es gibt synthetische Urteile a 'posteriori, deren Ursprung empirisch
ist; aber es gibt auch deren, die a priori gewiß sind, und die aus reinem
Verstände und Vernunft entspringen. Beide kommen aber darin über-
ein, daß sie nach dem Grundsatze der Analysis, nämlich dem Satze lo
des Widerspruchs, allein nimmermehr entspringen können; sie erfordern
noch ein ganz anderes Prinzip, ob sie zwar aus jedem Grundsatze, welcher
er auch sei, jederzeit dem Satze des Widerspruchs ge-
mäß abgeleitet werden müssen; denn nichts darf diesem Grundsatze
zuwider sein, obgleich eben nicht alles daraus abgeleitet werden kann. i5
Ich will die synthetischen Urteile zuvor unter Klassen bringen.
1. Erfahrungsurteile sind jederzeit synthetisch. Denn es
wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen,
da ich doch aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das
Urteil abzufassen, und also kein Zeugnis der Erfahrung dazu nötig habe. 20
Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und
kein Erfahrungsurteil. Denn ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle
Bedingungen zu meinem Urteile schon in dem Begriffe, aus welchem
ich das Prädikat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen
und dadurch zugleich der Notwendigkeit des Urteils bewußt 25
werden kann, welche mir Erfahrung nicht einmal lehren würde.
2. Mathematische Urteile sind insgesamt synthetisch.
Dieser Satz scheint den Bemerkungen der Zerghederer der menschUchen
Vernunft bisher ganz entgangen, ja allen ihren Vermutungen gerade
entgegengesetzt zu sein, ob er gleich unwidersprechlich gewiß und in 30
der Folge sehr wichtig ist. Denn weil man fand, daß die Schlüsse der
Mathematiker alle nach dem Satze des Widerspruches fortgehen (welches
die Natur einer jeden apodiktischen Gewißheit erfordert), so überredete
man sich, daß auch die Grundsätze aus dem Satze des Widerspruches
erkannt würden, worin sie sich sehr irrten; denn ein synthetischer Satz 35
kann allerdings nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen werden,
aber nur so, daß ein anderer synthetischer Satz vorausgesetzt wird,
aus dem er gefolgert werden kann, niemals aber an sich selbst.
Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentUche mathematische
Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Not- 40
Vorerinnerung v. d. Eigentümlichen aller metaphysischen Erkenntnis. 179
wendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen
werden kann. Will man mir aber dieses nicht einräumen, wohlan, so
schränke ich meinen Satz auf die reine Mathematik ein, deren
Begrifi es schon mit sich bringt, daß sie nicht empirische, sondern bloß
ö reine Erkenntnis a ^priori enthalte.
Man sollte anfänglich wohl denken, daß der Satz 7 -j- 5 = 12 ein
bloß analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von sieben
und fünf nach dem Satze des Widerspruchs erfolge. Allein wenn man es
näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von sieben
10 und fünf nichts weiter enthalte, als die Vereinigung beider Zahlen in
eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese
einzige Zahl sei, die beide zusammenfaßt. Der Begriff von zwölf ist
keineswegs dadurch schon gedacht, daß ich mir bloß jene Vereinigung
von sieben und fünf denke ; und ich mag meinen Begriff von einer solchen
iB möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin
die zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen,
indem man die Anschauung zu Hilfe nimmt, die einem von beiden
korrespondiert, etwa seine fünf Finger oder fünf Punkte, und so nach
und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen fünf zu dem
20 Begriffe der sieben hinzutut. Man erweitert also wirklich seinen Begriff
durch diesen Satz 7 -f- 5 = 12 und tut zu dem ersteren Begriff einen
neuen hinzu, der in jenem gar nicht gedacht war, das ist der arithmetische
Satz ist jederzeit synthetisch, welches man desto deutlicher inne wird,
wenn man etwas größere Zahlen nimmt; da es denn klar einleuchtet,
25 daß, wir möchten unseren Begriff drehen und wenden, wie wir wollen,
wir, ohne die Anschauung zu Hilfe zu nehmen, vermittels der bloßen
Zerghederung unserer Begriffe die Summe niemals finden könnten.
Ebensowenig ist irgend ein Grundsatz der reinen Geometrie ana-
lytisch. Daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste ist,
30 ist ein synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts
von Größe, sondern nur eine Quahtät. Der Begriff des Kürzesten kommt
also gänzhch hinzu und kann durch keine Zerghederung aus dem Be-
griffe der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier
zu Hilfe genommen werden, vermittels deren allein die Synthesis mög-
35 lieh ist.
Einige andere Grundsätze, welche die Geometer voraussetzen, sind
zwar wirkhch analytisch und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs;
sie dienen aber nur, wie identische Sätze, zur Kette der Methode und
nicht als Prinzipien, zum Beispiel a = a, das Ganze ist sich selber gleich,
40 oder (a -[- b) > a, das ist: das Ganze ist größer als sein Teil. Und doch
auch diese selbst, ob sie gleich nach bloßen Begriffen gelten, werden in
180 Kant.
der Mathematik nur darum zugelassen, weil sie in der Anschauung können
dargestellt werden. Was uns hier gemeiniglich glauben macht, als läge
das Prädikat solcher apodiktischen Urteile schon in unserem Begriffe,
und das Urteil sei also analytisch, ist bloß die Zweideutigkeit des Aus-
drucks. Wir sollen nämlich zu einem gegebenen Begriffe ein gewisses &
Prädikat hinzudenken, und diese Notwendigkeit haftet schon an den
Begriffen. Aber die Frage ist nicht, was wir zu dem gegebenen Begriffe
hinzu denken sollen, sondern was wir wirklich in ihm,
obzwar nur dunkel, denken; und da zeigt sich, daß das Prädikat
jenem Begriffe zwar notwendig, aber nicht unmittelbar, sondern ver- lo
mittels einer Anschauung, die hinzukommen muß, anhänge.
Der Prolegomenen Allgemeine Frage:
Ist überall Metaphysik möglich ^J
§4.
Wäre Metaphysik, die sich als Wissenschaft behaupten könnte, 15
wirkHch; könnte man sagen: hier ist Metaphysik, die dürft ihr nur
lernen, und sie wird euch unwiderstehlich und unveränderlich von
ihrer Wahrheit überzeugen: so wäre diese Frage unnötig, und es bliebe
nur diejenige übrig, die mehr eine Prüfung unserer Scharfsinnigkeit,
als den Beweis von der Existenz der Sache selbst beträfe, nämlich 20
wie sie möglich sei, und wie Vernunft es anfange, dazu zu
gelangen. Nun ist es der menschlichen Vernunft in diesem Falle so gut
nicht geworden. Man kann kein einziges Buch aufzeigen, so wie man
einen Euklid vorzeigt, und sagen : das ist Metaphysik, hier findet
ihr den vornehmsten Zweck dieser Wissenschaft, das Erkenntnis eines 25
höchsten Wesens und einer künftigen Welt, bewiesen aus Prinzipien
der reinen Vernunft. Denn man kann uns zwar viele Sätze aufzeigen,
die apodiktisch gewiß sind und niemals bestritten worden; aber diese
sind insgesamt analytisch und betreffen mehr die Materialien und das
Bauzeug zur Metaphysik, als die Erweiterung der Erkenntnis, die doch 30
unsere eigentliche Absicht mit ihr sein soll (§2 lit. c). Ob ihr aber gleich
auch synthetische Sätze (zum Beispiel den Satz des zureichenden
Grundes) vorzeigt, die ihr niemals aus bloßer Vernunft, mithin, wie doch
eure Pflicht war, a ^priori bewiesen habt, die man euch aber doch gerne
einräumt: so geratet ihr doch, wenn ihr euch derselben zu eurem Haupt- 35
zwecke bedienen wollt, in so unstatthafte und unsichere Behauptungen,
daß zu aller Zeit eine Metaphysik der anderen entweder in Ansehung
der Behauptungen selbst, oder ihrer Beweise widersprochen und dadurch
Ist überall Metaphj^sik möglich? 181
ihren Anspruch auf dauernden Beifall selbst vernichtet hat. Sogar sind
die Versuche, eine solche Wissenschaft zu stände zu bringen, ohne Zweifel
die erste Ursache des so früh entstandenen Skeptizismus gewesen, einer
Denkungsart, darin die Vernunft so gewalttätig gegen sich selbst ver-
5 fährt, daß diese niemals als in vöUiger Verzweiflung an Befriedigung
in Ansehung ihrer wichtigsten Absichten hätte entstehen können.
Denn lange vorher, ehe man die Natur methodisch zu befragen an-
fing, befrug man bloß seine abgesonderte Vernunft, die darch gemeine
Erfahrung in gewissem Maße schon geübt war, weil Vernunft uns doch
10 immer gegenwärtig ist, Naturgesetze aber gemeiniglich mühsam auf-
gesucht werden müssen: und so schwamm Metaphysik obenauf wie
Schaum, doch so, daß so wie der, den man geschöpft hatte, zerging,
sich sogleich ein anderer auf der Oberfläche zeigte, den immer einige be-
gierig aufsammelten, wobei andere, anstatt in der Tiefe die Ursache
15 dieser Erscheinung zu suchen, sich damit weise dünkten, daß sie die
vergfebliche Mühe der ersteren belachten.
Das WesentHche und Unterscheidende der reinen mathemati-
schen Erkenntnis von aller anderen Erkenntnis a priori ist, daß sie
durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit nur durch
20 die Konstruktion der Begriffe vor sich gehen muß. Da sie also in ihren
Sätzen über den Begriff zu demjenigen, was die ihm korrespondierende
Anschauung enthält, hinausgehen muß : so können und sollen ihre Sätze
auch niemals durch ZergUederung der Begriffe, das ist analytisch, ent-
springen und sind insgesamt daher synthetisch.
25 Eigentlich metaphysische Urteile sind insgesamt syn-
thetisch. Man muß zur Metaphysik gehörige von eigent-
lich metaphysischen Urteilen unterscheiden. Unter jenen sind
sehr viele analytisch, aber sie machen nur die Mittel zu metaphysi-
schen Urteilen aus, auf die der Zweck der Wissenschaft ganz und gar
30 gerichtet ist, und die allemal synthetisch sind. Denn wenn Begriffe zur
Metaphysik gehören, zum Beispiel der von Substanz, so gehören die
Urteile, die aus der bloßen Zerghederung derselben entspringen, auch
notwendig zur Metaphysik, zum Beispiel Substanz ist dasjenige, was
nur als Subjekt existiert u. s. w., und vermittels mehrerer dergleichen
35 analytischen Urteile suchen wir der Definition der Begriffe nahe zu
kommen. Da aber die Analysis eines reinen Verstandesbegriffs (der-
gleichen die Metaphysik enthält) nicht auf andere Art vor sich geht,
als die Zerghederung jedes anderen, auch empirischen Begriffs, der
nicht in die Metaphysik gehört (zum Beispiel Luft ist eine elastische
40 Flüssigkeit, deren Elastizität durch keinen bekannten Grad der Kälte
182 Kant.
aufgehoben wird), so ist zwar der Begriff, aber nicht das analytische
Urteil eigentümlich metaphysisch: denn diese Wissenschaft hat etwas
Besonderes und ihr Eigentümliches in der Erzeugung ihrer Erkenntnisse
a priori, die also von dem, was sie mit allen anderen Verstandeserkennt-
nissen gemein hat, muß unterschieden werden; so ist zum Beispiel der 5
Satz: alles, was in den Dingen Substanz ist, ist beharrUch, ein syn-
thetischer und eigentümhch metaphysischer Satz.
Wenn man die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik
und ihr Bauzeug ausmachen, zuvor nach gewissen Prinzipien gesammelt
hat, so ist die Zergliederung dieser Begriffe von großem Werte; auch lo
kann dieselbe als ein besonderer Teil (gleichsam als philosophia definitiva),
der lauter analytische, zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen
synthetischen Sätzen, die die Metaphysik selbst ausmachen, abgesondert
vorgetragen werden. Denn in der Tat haben jene Zerghederungen
nirgends anders einen beträchtlichen Nutzen als in der Metaphysik, is
das ist in Absicht auf die synthetischen Sätze, die aus jenen zuerst zer-
gliederten Begriffen sollen erzeugt werden.
Der Schluß dieses Paragraphen ist also: daß Metaphysik es eigent-
lich mit synthetischen Sätzen a priori zu tun habe, und diese allein
ihren Zweck ausmachen, zu welchem sie zwar allerdings mancher Zer- 20
ghederungen ihrer Begriffe, mithin analytischer Urteile bedarf, wobei
aber das Verfahren nicht anders ist als in jeder anderen Erkenntnis-
art, wo man seine Begriffe durch Zergliederung bloß deutlich zu machen
sucht. Allein die Erzeugung der Erkenntnis a priori sowohl der
Anschauung als Begriffen nach, endHch auch synthetische Sätze a priori 25
und zwar im philosophischen Erkenntnisse machen den wesentlichen
Inhalt der Metaphysik aus.
Überdrüssig also des Dogmatismus, der uns nichts lehrt, und zu-
gleich des Skeptizismus, der uns gar überall nichts verspricht, auch
nicht einmal den Ruhestand einer erlaubten Unwissenheit, aufgefordert 30
durch die Wichtigkeit der Erkenntnis, deren wir bedürfen, und miß-
trauisch durch lange Erfahrung in Ansehung jeder, die wir zu besitzen
glauben, oder die sich uns unter dem Titel der reinen Vernunft anbietet,
bleibt uns nur noch eine kritische Frage übrig, nach deren Beantwortung
wir unser künftiges Betragen einrichten können: Ist überall 35
Metaphysik möglich? Aber diese Frage muß nicht durch
skeptische Einwürfe gegen gewisse Behauptungen einer wirklichen Meta-
physik (denn wir lassen jetzt noch keine gelten), sondern aus dem nur
noch problematischen Begriffe einer solchen Wissenschaft be-
antwortet werden. 40
Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich? 183
Es trifit sich aber glücklicherweise, daß, ob wir gleich nicht annehmen
können, daß Metaphysik als Wissenschaft wirklich sei, wir doch
mit Zuversicht sagen können, daß gewisse reine synthetische Erkenntnis
a priori wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik
5 und reine Naturwissenschaft; denn beide enthalten Sätze,
die teils apodiktisch gewiß durch bloße Vernunft, teils durch die all-
gemeine Einstimmung aus der Erfahrung und dennoch als von Erfahrung
unabhängig durchgängig anerkannt werden. Wir haben also einige
wenigstens unbestrittene synthetische Erkenntnis a 'priori und
10 dürfen nicht fragen, ob sie mögHch sei (denn sie ist wirkhch), sondern
nur wie sie möglich sei, um aus dem Prinzip der Möglichkeit
der gegebenen auch die Möghchkeit aller übrigen ableiten zu können.
Allgemeine Frage:
Wie ist Erkenntnis ans reiner Vernunft möglich?
15 § 5.
Wir haben oben den mächtigen Unterschied der analytischen und
synthetischen Urteile gesehen. Die Möghchkeit analytischer Sätze
konnte sehr leicht begriffen werden; denn sie gründet sich lediglich auf
dem Satze des Widerspruchs. Die Möghchkeit synthetischer Sätze
20 a posteriori, das ist solcher, welche aus der Erfahrung geschöpft werden,
bedarf auch keiner besonderen Erklärung; denn Erfahrung ist selbst
nichts anderes als eine kontinuierUche Zusammenfügung (Synthesis)
der Wahrnehmungen. Es bleiben uns also nur synthetische Sätze
a priori übrig, deren Möghchkeit gesucht oder untersucht werden muß,
25 weil sie auf anderen Prinzipien als dem Satze des Widerspruchs beruhen
muß.
Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher Sätze hier nicht
zuerst suchen, das ist fragen, ob sie möglich seien. Denn es sind deren
genug und zwar mit unstreitiger Gewißheit wirklich gegeben, und da
30 die Methode, die wir jetzt befolgen, analytisch sein soll, so werden wir
davon anfangen, daß dergleichen synthetische, aber reine Vernunft-
erkenntnis wirklich sei; aber alsdann müssen wir den Grund dieser
Möghchkeit dennoch untersuchen und fragen, wie diese Erkennt-
nis möglich sei, damit wir aus den Prinzipien ihrer Möghchkeit die Be-
35 dingungen ihres Gebrauchs, den Umfang und die Grenzen desselben
zu bestimmen in Stand gesetzt werden. Die eigentliche, mit schulgerechter
Präzision ausgedrückte Aufgabe, auf die alles ankommt, ist also:
Wie sind synthetische Sätze a p r ior i möglich?
Ich habe sie oben der Popularität zu Gefallen etwas anders, nämlich
184 Kant.
als eine Frage nach der Erkenntnis aus reiner Vernunft, ausgedrückt,
welches ich dieses Mal ohne Nachteil der gesuchten Einsicht wohl tun
konnte: weil, da es hier doch ledighch um die Metaphysik und deren
Quellen zu tun ist, man nach den vorher gemachten Erinnerungen sich
wie ich hoffe, jederzeit erinnern wird, daß, wenn wir hier von Erkennt- 5
nis aus reiner Vernunft reden, niemals von der analytischen, sondern
ledighch der synthetischen die Rede sei.
Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen oder
Fallen der Metaphysik und also ihre Existenz gänzhch an. Es mag
jemand seine Behauptungen in derselben mit noch so großem Schein 10
vortragen, Schlüsse auf Schlüsse bis zum Erdrücken aufhäufen; wenn
er nicht vorher jene Frage hat genugtuend beantworten können, so
habe ich recht zu sagen: es ist alles eitle, grundlose Philosophie und
falsche Weisheit. Du sprichst durch reine Vernunft und maßest dir
an, a priori Erkenntnisse gleichsam zu erschaffen, indem du nicht bloß 15
gegebene Begriffe zerghederst, sondern neue Verknüpfungen vorgibst,
die nicht auf dem Satze des Widerspruchs beruhen, und die du doch so
ganz unabhängig von aller Erfahrung einzusehen vermeinst; wie kommst
du nun hierzu, und wie willst du dich wegen solcher Anmaßungen recht-
fertigen? Dich auf Bestimmung der allgemeinen Menschen Vernunft zu 20
berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen
Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht. Quodcumque ostendis
mihi sie, incredulus odi. Horat.
So unentbehrhch aber die Beantwortung dieser Frage ist, so schwer
ist sie doch zugleich; und obzwar die vornehmste Ursache, weswegen 25
man sie nicht schon längst zu beantworten gesucht hat, darin liegt, daß
man sich nicht einmal hat einfallen lassen, daß so etwas gefragt werden
könne, so ist doch eine zweite Ursache diese, daß eine genugtuende Be-
antwortung dieser einen Frage ein weit anhaltenderes, tieferes und müh-
sameres Nachdenken erfordert als jemals das weitläufigste Werk der 30
Metaphysik, das bei der ersten Erscheinung seinem Verfasser Unsterb-
lichkeit versprach. Auch muß ein jeder einsehende Leser, wenn er diese
Aufgabe nach ihrer Forderung sorgfältig überdenkt, anfangs durch ihre
Schwierigkeit erschreckt, sie für unauflösHch, und gäbe es nicht wirk-
hch dergleichen reine synthetische Erkenntnisse a priori, sie ganz und 35
gar für unmöglich halten ; welches dem David Hume wirklich
begegnete, ob er sich zwar die Frage bei weitem nicht in solcher Allge-
meinheit vorstellte, als es hier geschieht und geschehen muß, wenn die
Beantwortung für die ganze Metaphysik entscheidend werden soll.
Denn wie ist es möglich, sagt der scharfsinnige Mann, daß, wenn mir 40
ein Begriff gegeben ist, ich über denselben hinausgehen und einen anderen
Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich? 185
damit verknüpfen kann, der in jenem gar niclit enthalten ist, und zwar
so, als wenn dieser notwendig zu jenem gehöre? Nur Erfahrung
kann uns solche Verknüpfungen an die Hand geben (so schloß er aus
jener Schwierigkeit, die er für Unmöglichkeit hielt), und alle jene ver-
5 meintliche Notwendigkeit oder, welches einerlei ist, dafür gehaltene
Erkenntnis a priori ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr
zu finden und daher die subjektive Notwendigkeit für objektiv zu halten.
Alle Metaphysiker sind demnach von ihren Geschäften feierlich
und gesetzmäßig so lange suspendiert, bis sie die Frage : Wie sind
10 synthetische Erkenntnisse a f r i o r i möglich? ge-
nugtuend werden beantwortet haben. Denn in dieser Beantwortung
allein besteht das Kreditiv, welches sie vorzeigen mußten, wenn sie
im Namen der reinen Vernunft etwas bei uns anzubringen haben; in
Ermanglung desselben aber können sie nichts anderes erwarten, als
15 von Vernünftigen, die so oft schon hintergangen worden, ohne alle
weitere Untersuchung ihres Anbringens abgewiesen zu werden.
Man kann sagen, daß die ganze Transzendentalphilosophie, die vor
aller Metaphysik notwendig vorhergeht, selbst nichts anderes als bloß
die vollständige Auflösung der hier vorgelegten Frage sei, nur in syste-
20 matischer Ordnung und Ausführlichkeit, und man habe also bis jetzt
keine Transzendentalphilosophie. Denn was den Namen davon führt,
ist eigentlich ein Teil der Metaphysik; jene Wissenschaft soll aber die
MögUchkeit der letzteren zuerst ausmachen und muß also vor aller
Metaphysik vorhergehen. Man darf sich also auch nicht wundern,
25 daß eine ganze und zwar aller Beihilfe aus anderen beraubte, mithin
an sich ganz neue Wissenschaft nötig ist, um nur eine einzige Frage
hinreichend zu beantworten, wenn die Auflösung derselben mit Mühe
und Schwierigkeit, ja sogar mit einiger Dunkelheit verbunden ist.
Indem wir jetzt zu dieser Auflösung schreiten und zwar nach ana-
30 lytischer Methode, in welcher wir voraussetzen, daß solche Erkenntnisse
aus reiner Vernunft wirklich sind: so können wir uns nur auf zwei
Wissenschaften der theoretischen Erkenntnis (als von der
allein hier die Rede ist) berufen, nämlich reine Mathematik
und reine Naturwissenschaft; denn nur diese können uns
36 die Gegenstände in der Anschauung darstellen, mithin, wenn etwa in
ihnen ein Erkenntnis a priori vorkäme, die Wahrheit oder Übereinstim-
mung derselben mit dem Objekte in concreto, das ist i h r e W i r k 1 i c h-
k e i t , zeigen, von der alsdann zu dem Grunde ihrer Möglichkeit auf
dem analytischen Wege fortgegangen werden könnte. Dies erleichtert
186 Kant.
das Geschäft sehr, in welchem die allgemeinen Betrachtungen nicht
allein auf Fakta angewandt werden, sondern sogar von ihnen ausgehen,
anstatt daß sie in synthetischem Verfahren gänzlich in abstracto aus
Begriffen abgeleitet werden müssen.
Um aber von diesen wirklichen und zugleich gegründeten reinen 6
Erkenntnissen a priori zu einer möghchen, die wir suchen, nämhch einer
Metaphysik als Wissenschaft, aufzusteigen, haben wir nötig, das, was
sie veranlaßt, und als bloß natürlich gegebene, obgleich wegen ihrer
Wahrheit nicht unverdächtige Erkenntnis a priori jener zum Grunde
liegt, deren Bearbeitung ohne alle kritische Untersuchung ihrer Mög- lo
lichkeit gewöhnhchermaßen schon Metaphysik genannt wird, mit einem
Worte die Naturanlage zu einer solchen Wissenschaft, unter unserer
Hauptfrage mit zu begreifen; und so wird die transzendentale Haupt-
frage, in vier andere Fragen zerteilt, nach und nach beantwortet werden.
1. Wie ist reine Mathematik möglich? is
2. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
3. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?
4. Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?
Man sieht, daß, wenngleich die Auflösung dieser Aufgaben haupt-
sächlich den wesenthchen Inhalt der Kritik darstellen soll, sie dennoch 20
auch etwas EigentümUches habe, welches auch für sich allein der Auf-
merksamkeit würdig ist, nämlich zu gegebenen Wissenschaften die
Quellen in der Vernunft selbst zu suchen, um dadurch dieser ihr Ver-
mögen, etwas a priori zu erkennen, vermittels der Tat selbst zu erforschen
und auszumessen; wodurch denn diese Wissenschaften selbst, wenn- 25
gleich nicht in Ansehung ihres Inhalts, doch was ihren richtigen Ge-
brauch betrifft, gewinnen und, indem sie einer höheren Frage, wegen
ihres gemeinschaftlichen Ursprungs, Licht verschaffen, zugleich An-
laß geben, ihre eigene Natur besser aufzuklären.
Der transzendentalen Hauptfrage erster Teil: so
Wie ist reine Mathematik möglich 'S
§6-
Hier ist nun eine große und bewährte Erkenntnis, die schon jetzt
von bewundernswürdigem Umfange ist und unbegrenzte Ausbreitung
auf die Zukunft verspricht, die durch und durch apodiktische Gewiß- 36
heit, das ist absolute Notwendigkeit, bei sich führt, also auf keinen Er-
fahrungsgründen beruht, mithin ein reines Produkt der Vernunft, über-
dem aber durch und durch synthetisch ist. „ Wie ist es nun der mensch-
lichen Vernunft möglich, eine solche Erkenntnis gänzHch a priori zu
Wie ist reine Mathematik möglich? 187
Stande zu bringen?" Setzt dieses Vermögen, da es sich nicht auf Erfah-
rungen fußt, noch fußen kann, nicht irgend einen Erkenntnisgrund
a priori voraus, der tief verborgen liegt, der sich aber durch diese seine
Wirkungen offenbaren dürfte, wenn man den ersten Anfängen derselben
5 nur fleißig nachspürte?
§7.
Wir finden aber, daß alle mathematische Erkenntnis dieses Eigen-
tümHche habe, daß sie ihren Begrifi vorher in der Anschauung
und zwar a priori, mithin einer solchen, die nicht empirisch, sondern
10 reine Anschauung ist, darstellen müsse, ohne welches Mittel sie nicht
einen einzigen Schritt tun kann; daher ihre Urteile jederzeit intuitiv
sind, anstatt daß Philosophie sich mit diskursiven Urteilen,
aus bloßen Begriffen, begnügen muß und ihre apodiktische
Lehren wohl durch Anschauung erläutern, niemals aber daher ableiten
16 kann. Diese Beobachtung in Ansehung der Natur der Mathematik gibt
uns nun schon eine Leitung auf die erste und oberste Bedingung ihrer
Möglichkeit : nämUch es muß ihr irgend eine reine Anschau-
ung zum Grunde liegen, in welcher sie alle ihre Begriffe in concreto
und dennoch a priori darstellen oder, wie man es nennt, sie k o n-
20 struieren kann. Können wir diese reine Anschauung und die
Möglichkeit einer solchen ausfinden, so erklärt sich daraus leicht, wie
synthetische Sätze a priori in der reinen Mathematik, und mithin auch,
wie diese Wissenschaft selbst möglich sei; denn so wie die empirische
Anschauung es ohne Schwierigkeit möglich macht, daß wir unseren Be-
25 griff, den wir uns von einem Objekt der Anschauung machen, durch
neue Prädikate, die die Anschauung selbst darbietet, in der Erfahrung
synthetisch erweitern, so wird es auch die reine Anschauung tun; nur
mit dem Unterschied: daß im letzteren Falle das synthetische Urteil
a priori gewiß und apodiktisch, im ersteren aber nur a posteriori und
30 empirisch gewiß sein wird, weil diese nur das enthält, was in der zu-
fälligen empirischen Anschauung angetroffen wird, jene aber, was in
der reinen notwendig angetroffen werden muß, indem sie als Anschauung
a priori mit dem Begriffe vor aller Erfahrung oder einzelnen
Wahrnehmung unzertrennlich verbunden ist.
35 § 8.
Allein die Schwierigkeit scheint bei diesem Schritte eher zu wachsen,
als abzunehmen. Denn nunmehr lautet die Frage : wie ist es mög-
lich, etwas a priori anzuschauen? Anschauung ist eine
Vorstellung, so wie sie unmittelbar von der Gegenwart des Gegen-
40 Standes abhängen würde. Daher scheint es unmöglich, ap r i or i u r-
188 Kant.
sprünglich anzuschauen, weil die Anschauung alsdann ohne einen
weder vorher noch jetzt gegenwärtigen Gegenstand, worauf sie sich
bezöge, stattfinden müßte und also nicht Anschauung sein könnte.
Begriffe sind zwar von der Art, daß wir uns einige derselben, nämlich
die, so nur das Denken eines Gegenstandes überhaupt enthalten, ganz s
wohl a priori machen können, ohne daß wir uns in einem unmittelbaren
Verhältnisse zum Gegenstande befänden, zum Beispiel den Begriff von
Größe, von Ursache u. s. w. ; aber selbst diese bedürfen doch, um ihnen
Bedeutung und Sinn zu verschaffen, einen gewissen Gebrauch in con-
creto, das ist Anwendung auf irgend eine Anschauung, dadurch uns lo
ein Gegenstand derselben gegeben wird. Allein wie kann Anschau-
ung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst vorhergehen ?
§9.
Müßte unsere Anschauung von der Art sein, daß sie Dinge vorstellte,
so wie sie an sich selbst sind, so würde gar keine An- is
schauung a priori stattfinden, sondern sie wäre allemal empirisch.
Denn was in dem Gegenstande an sich selbst enthalten sei, kann ich
nur wissen, wenn er mir gegenwärtig und gegeben ist. FreiHch ist es
auch alsdann unbegreifUch, wie die Anschauung einer gegenwärtigen
Sache mir diese sollte zu erkennen geben, wie sie an sich ist, da ihre Eigen- 20
Schäften nicht in meine Vorstellungskraft hinüberwandem können;
allein die MögHchkeit davon eingeräumt, so würde doch dergleichen
Anschauung nicht a priori stattfinden, das ist, ehe mir noch der Gegen-
stand vorgestellt würde : denn ohne das kann kein Grund der Beziehung
meiner Vorstellung auf ihn erdacht werden, sie müßte denn auf Ein- 25
gebung beruhen. Es ist also nur auf eine einzige Art möghch, daß meine
Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe und als
Erkenntnis a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts
anderes enthält, als die Form der Sinnlichkeit,
die in meinem Subjekt vor allen wirklichen Ein- so
drücken vorhergeht, dadurch ich von Gegenstän-
den affiziert werde. Denn daß Gegenstände der Sinne
dieser Form der Sinnhchkeit gemäß allein angeschaut werden können,
kann ich a priori wissen. Hieraus folgt : daß Sätze, die bloß diese Form
der sinnHchen Anschauung betreffen, von Gegenständen der Sinne 35
möghch und gültig sein werden, imgleichen umgekehrt, daß Anschau-
ungen, die a priori möghch sind, niemals andere Dinge als Gegenstände
unserer Sinne betreffen können.
§ 10.
Also ist es nur die Form der sinnlichen Anschauung, dadurch wir 40
a priori Dinge anschauen können, wodurch wir aber auch die Objekte
Wie ist reine Mathematik möglicla? 189
nur erkennen , wie sie uns (unseren Sinnen) erscheinen können,
nicht wie sie an sich sein mögen, und diese Voraussetzung ist schlechter-
dings notwendig, wenn synthetische Sätze a ^priori als möglich eingeräumt
oder, im Falle sie wirklich angetroffen werden, ihre MögHchkeit begriffen
5 und zum voraus bestimmt werden soll.
Nun sind Raum und Zeit diejenigen Anschauungen, welche die
reine Mathematik allen ihren Erkenntnissen und Urteilen, die zugleich
als apodiktisch und notwendig auftreten, zum Grunde legt; denn
Mathematik muß alle ihre Begriffe zuerst in der Anschauung und reine
10 Mathematik in der reinen Anschauung darstellen , das ist sie kon-
struieren, ohne welche (weil sie nicht analytisch, nämlich durch Zer-
ghederung der Begriffe, sondern synthetisch verfahren kann) es ihr
unmöghch ist, einen Schritt zu tun, solange ihr nämlich reine Anschauung
fehlt, in der allein der Stoff zu synthetischen Urteilen a 'priori gegeben
lö werden kann. Geometrie legt die reine Anschauung des Raums zum
Grunde. Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch sukzessive
Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zu stände, vornehmlich aber
reine Mechanik kann ihre Begriffe von Bewegung nur vermittels der
Vorstellung in der Zeit zu stände bringen. Beide Vorstellungen aber
20 sind bloß Anschauungen; denn wenn man von den empirischen An-
schauungen der Körper und ihrer Veränderungen (Bewegung) alles
Empirische, nämhch was zur Empfindung gehört, wegläßt, so bleiben
noch Raum und Zeit übrig, welche also reine Anschauungen sind, die
jenen a priori zum Grunde liegen und daher selbst niemals weggelassen
25 werden können, aber eben dadurch, daß sie reine Anschauungen a priori
sind, beweisen, daß sie bloße Formen unserer Sinnlichkeit sind, die
vor aller empirischen Anschauung, das ist der Wahrnehmung wirklicher
Gegenstände, vorhergehen müssen, und denen gemäß Gegenstände
a priori erkannt werden können, aber freilich nur, wie sie uns erscheinen.
30 § IL
Die Aufgabe des gegenwärtigen Abschnitts ist also aufgelöst. Reine
Mathematik ist als synthetische Erkenntnis a priori nur dadurch mög-
lich, daß sie auf keine andere als bloße Gegenstände der Sinne geht,
deren empirischer Anschauung eine reine Anschauung (des Raums und
35 der Zeit) und zwar a priori zum Grunde hegt und darum zum Grunde
liegen kann, weil diese nichts anderes als die bloße Form der Sinnhch-
keit ist, welche vor der wirklichen Erscheinung der Gegenstände vor-
hergeht, indem sie dieselbe in der Tat allererst möghch macht. Doch
betrifft dieses Vermögen, a priori anzuschauen, nicht die Materie der
40 Erscheinung, das ist das, was in ihr Empfindung ist, denn diese macht
190 Kant.
das Empirische aus, sondern nur die Form derselben, Raum und Zeit.
Wollte man im mindesten daran zweifeln, daß beide gar keine den
Dingen an sich selbst, sondern nur bloße ihrem Verhältnisse zur Sinn-
hchkeit anhängende Bestimmungen sind, so möchte ich gerne wissen,
wie man es möglich finden kann, a priori und also vor aller Bekannt- 5
Schaft mit den Dingen, ehe sie nämlich uns gegeben sind, zu wissen,
wie ihre Anschauung beschaffen sein müsse, welches doch hier der Fall
mit Raum und Zeit ist. Dieses ist aber ganz begreifhch, sobald beide
für nichts weiter als formale Bedingungen unserer Sinnlichkeit, die
Gegenstände aber bloß für Erscheinungen gelten; denn alsdann kann lo
die Form der Erscheinung, das ist die reine Anschauung, allerdings aus
uns selbst, das ist a priori, vorgestellt werden.
§ 12. ,
Um etwas zur Erläuterung und Bestätigung beizufügen, darf man
nur das gewöhnliche und unumgänglich notwendige Verfahren der i&
Geometer ansehen. Alle Beweise von durchgängiger Gleichheit zweier
gegebener Figuren (da eine in allen Stücken an die Stelle der anderen
gesetzt werden kann) laufen zuletzt darauf hinaus, daß sie einander
decken, welches offenbar nichts anderes als ein auf der unmittelbaren
Anschauung beruhender synthetischer Satz ist; und diese Anschauung 20
muß rein und a 'priori gegeben werden, denn sonst könnte jener Satz
nicht für apodiktisch gewiß gelten, sondern hätte nur empirische Ge-
wißheit. Es würde nur heißen: man bemerkt es jederzeit so, und er gilt
nur so weit, als unsere Wahrnehmung bis dahin sich erstreckt hat. Daß
der vollständige Raum (der selbst keine Grenze eines anderen Raumes 26
mehr ist) drei Abmessungen habe, und Raum überhaupt auch nicht
mehr derselben haben könne, wird auf den Satz gebaut, daß sich in einem
Punkte nicht mehr als drei Linien rechtwinklig schneiden können ; dieser
Satz aber kann gar nicht aus Begriffen dargetan werden, sondern beruht
unmittelbar auf Anschauung und zwar reiner a priori, weil er apodiktisch so
gewiß ist; daß man verlangen kann, eine Linie soll ins Unendliche
gezogen {in indeflnitum), oder eine Reihe Veränderungen (zum Beispiel
durch Bewegung zurückgelegte Räume) solle ins UnendKche fortgesetzt
werden, setzt doch eine Vorstellung des Raumes und der Zeit voraus,
die bloß an der Anschauung hängen kann, nämüch sofern sie an sich 36
durch nichts begrenzt ist; denn aus Begriffen könnte sie nie geschlossen
werden. Also liegen doch wirkhch der Mathematik reine Anschauungen
a priori zum Grunde, welche ihre synthetischen und apodiktisch geltenden
Sätze möghch machen ; und daher erklärt unsere transzendentale
Deduktion der Begriffe in Raum und Zeit zugleich die Möglichkeit einer 40
Wie ist reine Mathematik möglich? 191
reinen Mathematik, die ohne eine solche Deduktion, und ohne daß
wir annehmen, ., alles, was unseren Sinnen gegeben werden mag (den
äußeren im Räume, dem inneren in der Zeit), werde von uns nur an-
geschaut, wie es uns erscheint, nicht wie es an sich selbst ist", zwar
ö eingeräumt, aber keineswegs eingesehen werden könnte.
§ 13.
Diejenigen, welche noch nicht von dem Begriffe loskommen können,
als ob Raum und Zeit wirkHche Beschaffenheiten wären, die den Dingen
an sich selbst anhingen, können ihre Scharfsinnigkeit an folgendem
io Paradoxon üben und, wenn sie dessen Auflösung vergebens versucht
haben, wenigstens auf einige Augenblicke von Vorurteilen frei, vermuten,
daß doch vielleicht die Abwürdigung des Raumes und der Zeit zu bloßen
Formen unserer sinnlichen Anschauung Grund haben möge.
Wenn zwei Dinge in allen Stücken, die an jedem für sich nur immer
15 können erkannt werden (in allen zur Größe und Qualität gehörigen Be-
stimmungen) völHg einerlei sind, so muß doch folgen, daß eins in allen
Fällen und Beziehungen an die Stelle des anderen könne gesetzt werden,
ohne daß diese Vertauschung den mindesten kennthchen Unterschied
verursachen würde. In der Tat verhält sich dies auch so mit ebenen
20 Figuren in der Geometrie; allein verschiedene sphärische zeigen uner-
achtet jener völligen inneren Übereinstimmung doch eine solche Ver-
schiedenheit im äußeren Verhältnis, daß sich eine an die Stelle der anderen
gar nicht setzen läßt ; zum Beispiel zwei sphärische Triangel von beiden
Hemisphären, die einen Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen
25 Basis haben, können völhg gleich sein in Ansehung der Seiten sowohl
als Winkel, so daß an keinem, wenn er allein und zugleich vollständig
beschrieben wird, nichts angetroffen wird, was nicht zugleich in der
Beschreibung des anderen läge, und dennoch kann einer nicht an die
Stelle des anderen (nämHch auf dem entgegengesetzten Hemisphär)
30 gesetzt werden ; und hier ist denn doch eine innere Verschieden-
heit beider Triangel, die kein Verstand als innerhch angeben kann,
und die sich nur durch das äußere Verhältnis im Räume offenbart.
Allein ich will gewöhnhchere Fälle anführen, die aus dem gemeinen
Leben genommen werden können.
35 Was kann wohl meiner Hand oder meinem Ohr ähnhcher und in allen
Stücken gleicher sein, als ihr Bild im Spiegel? Und dennoch kann ich
eine solche Hand, als im Spiegel gesehen wird, nicht an die Stelle ihres
Urbildes setzen; denn wenn dieses eine rechte Hand war, so ist jene
im Spiegel eine hnke, und das Bild des rechten Ohres ist ein hnkes, das
40 nimmermehr die Stelle des ersteren vertreten kann. Nun sind hier keine
192 Kant.
inneren Unterschiede, die irgend ein Verstand nur denken könnte; und
dennoch sind die Unterschiede innerhch, soweit die Sinne lehren, denn
die linke Hand kann mit der rechten unerachtet aller beiderseitigen
Gleichheit und ÄhnUchkeit doch nicht zwischen denselben Grenzen
eingeschlossen sein (sie können nicht kongruieren); der Handschuh s
der einen Hand kann nicht auf der anderen gebraucht werden. Was
ist nun die Auflösung? Diese Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen
der Dinge, wie sie an sich selbst sind, und wie sie der pure Verstand
erkennen würde, sondern es sind sinnliche Anschauungen, das ist Erschei-
nungen, deren Möglichkeit auf dem Verhältnisse gewisser an sich un- lo
bekannten Dinge zu etwas anderem, nämlich unserer SinnHchkeit, be-
ruht. Von dieser ist nun der Raum die Form der äußeren Anschauung,
und die innere Bestimmung eines jeden Raumes ist nur durch die Bestim-
mung des äußeren Verhältnisses zu dem ganzen Räume, davon jener
Teil ist (dem Verhältnisse zum äußeren Sinne), das ist der Teil ist nur i5
durchs Ganze möglich, welches bei Dingen an sich selbst als Gegenständen
des bloßen Verstandes niemals, wohl aber bei bloßen Erscheinungen
stattfindet. Wir können daher auch den Unterschied ähnlicher und
gleicher, aber doch inkongruenter Dinge (zum Beispiel widersinnig ge-
wundener Schnecken) durch keinen einzigen BegrifE verständlich machen, 20
sondern nur durch das Verhältnis zur rechten und linken Hand, welches
unmittelbar auf Anschauung geht.
Anmerkung I.
Anmerkung II.
Alles, was uns als Gegenstand gegeben werden soll, muß uns in 25
der Anschauung gegeben werden. Alle unsere Anschauung geschieht
aber nur vermittels der Sinne ; der Verstand schaut nichts an, sondern
reflektiert nur. Da nun die Sinne nach dem jetzt Erwiesenen uns
niemals und in keinem einzigen Stück die Dinge an sich selbst, sondern
nur ihre Erscheinungen zu erkennen geben, diese aber bloße Vorstel- so
lungen der Sinnlichkeit sind, „so müssen auch alle Körper mitsamt
dem Räume, darin sie sich befinden, für nichts als bloße Vorstellungen
in uns gehalten werden und existieren nirgends anders, als bloß in
unseren Gedanken". Ist dieses nun nicht der offenbare Idealismus?
Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als 35
denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung
wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden
Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand
korrespondierte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns
befindhche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was 4o
Wie ist reine Mathematik möglich? 193
sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nui
ihre Erscheinungen, das ist die Vorstellungen, die sie in uns wirken,
indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings,
daß es außer uns Körper gebe, das ist Dinge, die, obzwar nach dem,
5 was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzhch unbekannt, wir durch
die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsere Sinnlichkeit
uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben;
welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber
nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses
Lo wohl Ideahsmus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon.
Daß man unbeschadet der wirkUchen Existenz äußerer Dinge von
einer Menge ihrer Prädikate sagen könne: sie gehörten nicht zu diesen
Dingen an sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen und hätten
außer unserer Vorstellung keine eigene Existenz, ist etwas, was schon
L5 lange vor L o c k e s Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein
angenommen und zugestanden ist. Dahin gehören die Wärme, die Farbe,
der Geschmack u. s. w. Daß ich aber noch über diese aus wichtigen
Ursachen die übrigen Qualitäten der Körper, die man frimarias nennt,
die Ausdehnung, den Ort und überhaupt den Raum mit allem, was ihm
10 anhängig ist (Undurchdiinglichkeit oder Materialität, Gestalt u. s. w.),
auch mit zu bloßen Erscheinungen zähle, damder kann man nicht den
mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen; und so wenig wie der,
so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Objekt an sich selbst,
sondern nur dem Sinn des Sehens als Modifikationen anhängen, will
25 gelten lassen, darum ein Ideaüst heißen kann: so wenig kann mein
Lehrbegriff ideaUstisch heißen, bloß deshalb, weil ich finde, daß noch
mehr, ja alle Eigenschaften, die die Anschauung
eines Körpers ausmachen, bloß zu seiner Erscheinung
gehören; denn die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch
30 nicht wie beim wirkUchen Ideahsmus aufgehoben, sondern nur gezeigt,
daß wir es, wie es an sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen
können.
Ich möchte gerne wissen, wie denn meine Behauptungen beschaffen
sein müßten, damit sie nicht einen Idealismus enthielten. Ohne Zweifel
35 müßte ich sagen: daß die Vorstellung vom Raimie nicht bloß dem Ver-
hältnisse, was unsere Sinnhchkeit zu den Objekten hat, vollkommen
gemäß sei, denn das habe ich gesagt, sondern daß sie sogar dem Objekt
völhg ähnhch sei; eine Behauptung, mit der ich keinen Sinn verbinden
kann, so wenig als die Empfindung des Roten mit der Eigenschaft
40 des Zinnobers, der diese Empfindung in mir erregt, eine Ähnhchkeit
habe.
D es 80 ir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 13
194 Kant.
Anmerkung III.
Hieraus läßt sicii nun ein leicht vorherzuseliender, aber niclitiger
Einwurf gar leicht abweisen: „daß nämlich durch die Idealität des
Raums und der Zeit die ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt
werden würde." Nachdem man nämhch zuvörderst alle philosophische 5
Einsicht von der Natur der sinnHchen Erkenntnis dadurch verdorben
hatte, daß man die Sinnhchkeit bloß in einer verworrenen Vorstellungs-
art setzte, nach der wir die Dinge immer noch erkennten, wie sie sind,
nur ohne das Vermögen zu haben, alles in dieser unserer Vorstellung zum
klaren Bewußtsein zu bringen; dagegen von uns bewiesen worden, daß 10
Sinnhchkeit nicht in diesem logischen Unterschiede der Klarheit oder
Dunkelheit, sondern in dem genetischen des Ursprungs der Erkennt-
nis selbst bestehe, da sinnhche Erkenntnis die Dinge gar nicht vorstellt,
wie sie sind, sondern nur die Art, wie sie unsere Sinne affizieren, und
also, daß durch sie bloß Erscheinungen, nicht die Sachen selbst dem 15
Verstände zur Reflexion gegeben werden: nach dieser notwendigen Be-
richtigung regt sich ein aus unverzeihHcher und beinahe vorsätzhcher
Mißdeutung entspringender Einwurf , als wenn mein Lehrbegriff alle
Dinge der Sinnenwelt in lauter Schein verwandelte.
Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei, wie 20
wir die Sache daraus beurteilen wollen. Jene, nämhch Erscheinung,
beruhte auf den Sinnen, diese Beurteilung aber auf dem Verstände,
und es fragt sich nur, ob in der Bestimmung des Gegenstandes Wahr-
heit sei oder nicht. Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum
wird nicht durch die Beschaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegen- 25
stände bezogen werden, ausgemacht, denn die sind in beiden einerlei,
sondern durch die Verknüpfung derselben nach den Regeln, welche
den Zusammenhang der Vt)rstellungen in dem Begriffe eines Objekts
bestimmen, und wiefern sie in einer Erfahrung beisammen stehen können
oder nicht. Und da liegt es gar nicht an den Erscheinungen, wenn unsere 30
Erkenntnis den Schein für Wahrheit nimmt, das ist wenn Anschauung,
wodurch uns ein Objekt gegeben wird, für Begriff vom Gegenstande
oder auch der Existenz desselben, die der Verstand nur denken kann,
gehalten wird. Den Gang der Planeten stellen uns die Sinne bald recht-
läufig, bald rückläufig vor, und hierin ist weder Falschheit noch Wahr- 35
heit, weil, solange man sich bescheidet, daß dieses vorerst nur Erschei-
nimg ist, man über die objektive Beschaffenheit ihrer Bewegung noch
gar nicht urteilt. Weil aber, wenn der Verstand nicht wohl darauf
acht hat, zu verhüten, daß diese subjektive Vorstellungsart nicht für
objektiv gehalten werde, leichthch ein falsches Urteil entspringen kann, 40
so sagt man: sie scheinen zurückzugehen; allein der Schein kommt nicht
Wie ist reine Mathematik möglich? 195
auf Rechnung der Sinne, sondern des Verstandes, dem es allein zukommt,
aus der Erscheinung ein objektives Urteil zu fällen.
Auf solche Weise, wenn wir auch garnicht über den Ursprung unserer
Vorstellungen nachdächten und unsere Anschauungen der Sinne, sie
mögen enthalten, was sie wollen, im Räume und Zeit nach Regeln des
Zusammenhanges aller Erkenntnis in einer Erfahrung verknüpfen: so
kann, nachdem wir unbehutsam oder vorsichtig sind, trüghcher Schein
oder W^ahrheit entspringen; das geht ledigHch den Gebrauch sinnlicher
Vorstellungen im Verstände und nicht ihren Ursprung an. Ebenso
w^enn ich alle Vorstellungen der Sinne samt ihrer Form, nämlich Raum
und Zeit, für nichts als Erscheinungen und die letzteren für eine bloße
Form der Sinnlichkeit halte, die außer ihr an den Objekten gar nicht
angetroffen wird, und ich bediene mich derselben Vorstellungen nur in
Beziehung auf mögliche Erfahrung: so ist darin nicht die mindeste Ver-
leitung zum Irrtum, oder ein Schein enthalten, daß ich sie für bloße
Erscheinungen halte; denn sie können dessen ungeachtet nach Regeln
der Wahrheit in der Erfahrung richtig zusammenhängen. Auf solche
Weise gelten alle Sätze der Geometrie vom Räume ebensoTvohl von allen
Gegenständen der Sinne, mithin in Ansehung aller möglichen Erfahrung,
ob ich den Raum als eine bloße Form der Sinnlichkeit, oder als etwas
an den Dingen selbst Haftendes ansehe; wiewohl ich im ersteren Falle
allein begreifen kann, wie es möglich sei, jene Sätze von allen Gegen-
ständen der äußeren Anschauung a priori zu wissen; sonst bleibt in
Ansehung aller nur möglichen Erfahrung alles ebenso, wie wenn ich
diesen Abfall von der gemeinen Meinung gar nicht unternommen hätte.
Wage ich es aber mit meinen Begriffen von Raum und Zeit über
alle möghche Erfahrung hinauszugehen, welches unvermeidhch ist, wenn
ich sie für Beschaffenheiten ausgebe, die den Dingen an sich selbst
anhingen (denn was sollte mich da hindern, sie auch von eben denselben
Dingen, meine Sinne möchten nun auch anders eingerichtet sein und
für sie passen oder nicht, dennoch gelten zu lassen?), alsdann kann
ein wichtiger Irrtum entspringen, der auf einem Scheine beruht, da ich,
das, was eine bloß meinem Subjekt anhängende Bedingung der An-
schauung der Dinge war und sicher für alle Gegenstände der Sinne,
mithin nur alle möghche Erfahrung galt, für allgemein gültig ausgab,
weil ich sie auf die Dinge an sich selbst bezog und nicht auf Bedingungen
der Erfahrung einschränkte.
Also ist es so weit gefehlt, daß meine Lehre von der Ideahtät des
Raumes und der Zeit die ganze Sinnenwelt zum bloßen Scheine mache,
daß sie vielmehr das einzige Mittel ist, die Anwendung einer der aller-
wichtigsten Erkenntnisse, nämhch derjenigen, welche Mathematik
196 Kant.
a 'priori vorträgt, auf wirkliche Gegenstände zu sichern und zu verhüten,
daß sie nicht für bloßen Schein gehalten werde, weil ohne diese Bemerkung
es ganz unmöghch wäre auszumachen, ob nicht die Anschauungen von
Raum und Zeit, die wir von keiner Erfahrung entlehnen, und die dennoch
in unserer Vorstellung a priori liegen, bloße selbstgemachte Hirnge-
spinste wären, denen gar kein Gegenstand, wenigstens nicht adäquat,
korrespondierte, und also Geometrie selbst ein bloßer Schein sei; dagegen
ihre unstreitige Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände der Sinnen-
welt eben darum, weil diese bloße Erscheinungen sind, von uns hat
dargetan werden können.
Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis
zur philosophischen.
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten
werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft
und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut,
Entschlossenheit, Beharrhchkeit im Vorsatze als Eigenschaften des 15
Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und
wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädHch werden,
wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und
dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht
gut ist. Mit den Glücksgaben ist es ebenso bewandt. Macht, 20
Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und
Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glück-
seligkeit machen Mut und hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht
ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt und liiermit
auch das ganze Prinzip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig 25
mache; ohne zu erwähnen, daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer
sogar am Anbhcke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens,
das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohl-
gefallen haben kann, und so der gute Wille die unerläßHche Bedingung
selbst der Würdigkeit glückhch zu sein auszumachen scheint. 30
Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförder-
Hch und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber demungeachtet
keinen inneren unbedingten Wert, sondern setzen immer noch einen
guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit
Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin 36
Übergang v. d. gemeinen sittl. Vernunfterkenntnis zur philosophischen. 1 97
gut zu halten. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherr-
schung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht
gut , sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der
Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohns Einschränkung
für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen
worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst
böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein
weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unseren Augen noch
verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden.
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet,
nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten
Zweckes, sondern allein durch das Wollen, das ist an sich, gut und,
für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als
alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will,
der Summe aller Neigungen nur immer zu stände gebracht werden
könnte. Wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals,
oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem
Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn
bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet
würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch,
sondern als die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt
sind) übrigbHebe : so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen,
als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit
oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch
abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im
gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksam-
keit derer, die noch nicht genug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht
aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Wert zu bestimmen.
Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem absoluten Werte des
bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in An-
schlag zu bringen, etwas so BefremdHches, daß unerachtet aller Ein-
stimmung selbst der gemeinen Vernunft mit derselben dennoch ein
Verdacht entspringen muß, daß vielleicht bloß hochfliegende Phantasterei
insgeheim zum Grunde liege, und die Natur in ihrer Absicht, warum sie
unserem Willen Vernunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch ver-
standen sein möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem Gesichts-
punkte auf die Prüfung stellen.
In den Naturanlagen eines organisierten, das ist zweckmäßig zum
Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß
kein Werkzeug zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde,
als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten ange-
198 Kant.
messen ist. Wäre nun an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen
hat, seine Erhaltung, sein Wohle r gehen, mit einem Worte
seine Glückseligkeit, der eigentliche Zweck der Natur, so hätte
sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft
des Geschöpfes zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn 5
alle Handlungen, die es in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze
Kegel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorge-
zeichnet und jener Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden
können, als es jemals durch Vernunft geschehen kann, und sollte diese
ja obenein dem begünstigten Geschöpfe erteilt worden sein, so würde lo
sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über die glückliche Anlage
seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer
zu erfreuen und der wohltätigen Ursache dafür dankbar zu sein; nicht
aber, um sein Begehrungsvermögen jener schwachen und trüglichen
Leitung zu unterwerfen und in der Naturabsicht zu pfuschen; mit einem 15
Worte, sie würde verhütet haben, daß Vernunft nicht in praktischen
Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren
schwachen Einsichten sich selbst den Entwurf der Giücksehgkeit und
der Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein
die Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und 20
beide mit weiser Vorsorge lediglich dem Instinkte anvertraut haben.
In der Tat finden wir auch, daß, je mehr eine kultivierte Vernunft
sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Giücksehgkeit
abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkommt,
woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, 25
wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad
von M i s o 1 o g i e , das ist Haß der Vernunft, entspringt, weil sie
nach dem Überschlage alles Vorteils, den sie, ich will nicht sagen von
der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus, sondern sogar von
den Wissenschaften (die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes 30
zu sein scheinen) ziehen, dennoch finden, daß sie sich in der Tat nur
mehr Mühseligkeit auf den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen
haben und darüber endhch den gemeineren Schlag der Menschen, welcher
der Leitung des bloßen Naturinstinkts näher ist, und der seiner Ver-
nunft nicht viel Einfluß auf sein Tun und Lassen verstattet, eher be- 35
neiden als geringschätzen. Und soweit muß man gestehen, daß das
Urteil derer, die die ruhmredigen Hochpreisungen der Vorteile, die uns
die Vernunft in Ansehung der Giücksehgkeit und Zufriedenheit des
Lebens verschaffen sollte, sehr mäßigen und sogar unter Null herab-
setzen, keineswegs grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung ^^
undankbar sei, sondern daß diesen Urteilen insgeheim die Idee von
Übergang v. d. gemeinen sittl. Vernunfterkenntnis zur philosophisclien. 199
einer anderen und viel würdigeren Absicht ihrer Existenz zum Grunde
hege, zu welcher und nicht der Glücksehgkeit die Vernunft ganz eigent-
lich bestimmt sei, und welcher darum als oberster Bedingung die Privat-
absicht des Menschen größtenteils nachstehen muß.
5 Denn da die Vernunft dazu nicht taughch genug ist, um den Willen
in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer
Bedürfnisse (die sie zum Teil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als
zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinkt viel gewisser ge-
führt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Ver-
Lo mögen, das ist als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll,
dennoch zugeteilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein,
einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich
selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings
Vernunft nötig war, wo anders die Natur überall in Austeilung ihrer
Uj Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also
zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das höchste Gut
und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glücksehgkeit die
Bedingung sein, in welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur
gar wohl vereinigen läßt, wenn man wahrnimmt, daß die Kultur der
20 Vernunft, die zur ersteren und unbedingten Absicht erforderlich ist,
die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, nämlich der Glück-
seligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei Weise einschränke,
ja sie selbst unter nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur darin
unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre höchste praktische
25 Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Er-
reichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art,
nämhch aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft
bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den
Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein.
30 Um aber den Begrifl eines an sich selbst hochzuschätzenden und
ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen
gesunden Verstände beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr
nur aufgeklärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung
des ganzen Werts unserer Handlungen immer obenan steht und die
35 Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den
Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens,
obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen,
enthält, die aber doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkennt-
hch machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto
40 heller hervorscheinen lassen.
Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig er-
200 Kant.
kannt werden, ob sie gleicli in dieser oder jener Absicht nützlich sein
mögen; denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus
Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten.
Ich setze auch die Handkmgen beiseite, die wirkhch pflichtmäßig sind,
zu denen aber Menschen unmittelbar keine Neigung haben, s
sie aber dennoch ausüben, weil sie durch eine andere Neigung dazu
getrieben werden. Denn da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflicht-
mäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht
geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken,
wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subjekt noch überdem lo
unmittelbare Neigung zu ihr hat. Zum Beispiel es ist allerdings
pflichtmäßig, daß der Krämer seinen unerfahrenen Käufer nicht über-
teure, und, wo viel Verkehr ist, tut dieses auch der kluge Kaufmann
nicht, sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann,
so daß ein Kind ebensogut bei ihm kauft als jeder andere. Man wird 15
also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen
zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehr-
hchkeit so verfahren; sein Vorteil erforderte es; daß er aber überdem
noch eine unnnttelbare Neigung zu den Käufern haben sollte, um gleich-
sam aus Liebe keinem vor dem anderen im Preise den Vorzug zu geben, 20
läßt sich hier nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus Pflicht
noch aus unmittelbarer Neigung, sondern in eigennütziger Absicht ge-
schehen.
Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jeder-
mann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die 25
oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt,
noch keinen inneren Wert und die Maxime derselben keinen morah-
schen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflicht mäßig, aber
nicht aus Pflicht. Dagegen wenn Widerwärtigkeiten und hoff-
nungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzHch weggenommen 30
haben; wenn der Unglückhche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr
entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und
sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht,
sondern aus Pflicht : alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.
Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es 35
manche so teilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen
anderen Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres
Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich
an der Zufriedenheit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergötzen können.
Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so 40
pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren
Übergang v. d. gemeinen sittl, Yernunfterkenntnis zur philosophischen. 201
sittlichen Wert habe, sondern mit anderen Neigungen zu gleichen Paaren
gehe, zum Exempel der Neigung nach Ehre, die, wenn sie glückhcher-
weise auf das trifft, was in der Tat gemeinnützig und pflichtmäßig,
mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung
5 verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche
Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun. Ge-
setzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram um-
wölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte
immer noch Vermögen, anderen Notleidenden wohlzutun, aber fremde
10 Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist,
und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch
aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung
ohne alle Neigung, ledigUch aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren
echten moralischen Wert. Noch mehr: wenn die Natur diesem oder
lö jenem überhaupt wenig Sjrmpathie ins Herz gelegt hätte, wenn er
(übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig
gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht weil er, selbst gegen seine
eigenen mit der besonderen Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke
versehen, dergleichen bei jedem anderen auch voraussetzt, oder gar
20 fordert; wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht
ihr schlechtestes Produkt sein v/ürde) nicht eigentlich zum Menschen-
freunde gebildet hätte, würde er denn nicht noch in sich, einen Quell
finden, sich selbst einen weit höheren Wert zu geben, als der eines gut-
artigen Temperaments sein mag? Allerdings! gerade da hebt der Wert
25 des Charakters an, der moralisch und ohne alle Vergleichung der höchste
ist, nämlich daß er wohltue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht.
Seine eigene Glücksehgkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirekt),
denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Ge-
dränge von \delen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen
50 könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der
Pflichten werden. Aber auch ohne hier auf Pflicht zu sehen,
haben alle Menschen schon von selbst die mächtigste und innigste
Neigung zur Glückseligkeit, weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen
zu einer Summe vereinigen. Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit.
}5 mehrenteils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen großen Abbruch
tut und doch der Mensch sich von der Summe der Befriedigung aller
unter dem Namen der Glückseligkeit keinen bestimmten und sicheren
Begriff machen kann; daher nicht zu verwundern ist, wie eine einzige
in Ansehung dessen, was sie verheißt, und der Zeit, worin ihre Befrie-
'0 digung erhalten werden kann, bestimmte Neigung eine schwankende
Idee überwiegen könne, und der Mensch, zum Beispiel ein Podagrist,
202 Kant.
wählen könne, zu genießen, was ihm schmeckt, und zu leiden, was er
kann, weil er nach seinem Überschlage hier wenigstens sich nicht durch
vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks, das in der Gesundheit
stecken soll, um den Genuß des gegenwärtigen Augenblicks gebracht
hat. Aber auch in diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glück- 5
sehgkeit seinen Willen nicht bestimmte, wenn Gesundheit für ihn
wenigstens nicht so notwendig in diesen Überschlag gehörte, so bleibt
noch hier wie in allen anderen Fällen ein Gesetz übrig, nämlich seine
Glückseligkeit zu befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht,
und da hat sein Verhalten allererst den eigentlichen morahschen Wert, lo
So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin ge-
boten wird, seinen Nächsten, selbst unseren Feind zu lieben. Denn
Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht
selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche
und unbezwingliche Abneigung widersteht , ist praktische und is
nicht pathologische Liebe , die im Willen Hegt und nicht im
Hange der Empfindung , in Grundsätzen der Handlung und nicht
schmelzender Teilnehmung; jene aber allein kann geboten werden.
Der zweite Satz ist : eine Handlung aus Pflicht hat ihren morahschen
Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden 20
soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also
nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern
bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Hand-
lung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen
ist. Daß die Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre 25
Wirkungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens, den Handlungen
keinen unbedingten und morahschen Wert erteilen können, ist aus dem
vorigen klar. W^orin kann also dieser Wert liegen, wenn er nicht im Willen
in Beziehung auf dessen verhoffte Wirkung bestehen soll ? Er kann nirgend
anders liegen, als im Prinzip des Willens unangesehen der 30
Zwecke, die durch solche Handlung bewirkt werden können; denn der
Wille ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell
ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist,
gleichsam auf einem Scheidewege, und da er doch irgend wodurch muß
bestimmt werden, so wird er durch das formelle Prinzip des Wollens 33
überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung aus Pflicht
geschieht, da ihm alles materielle Prinzip entzogen worden.
Den dritten Satz als Folgerung aus beiden vorigen würde ich
so ausdrücken : Pflicht ist die Notwendigkeit einer
Handlung aus Achtung fürs Gesetz. Zum Objekte als 40
Wirkung meiner vorhabenden Handlung kann ich zwar Neigung
Übergang v. d. gemeinen sittl. Vernunfterkenntnis zur philosophisclien. 203
haben, aber niemals Achtung, eben darum weil sie bloß eine
Wirkung und nicht Tätigkeit eines Willens ist. Ebenso kann ich für
Neigung überhaupt, sie mag nun meine oder eines anderen seine sein,
nicht xA.chtung haben, ich kann sie höchstens im ersten Falle billigen,
5 im zweiten bisweilen selbst lieben, das ist sie als meinem eigenen Vorteüe
günstig ansehen. Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung
mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient,
sondern sie überwiegt, wenigstens diese von deren Überschlage bei der
Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz für sich kann ein Gegen-
10 stand der Achtung und hiermit ein Gebot sein. Nun soll eine Handlung
aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand
des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig,
was ihn bestimmen könne, als objektiv das Gesetz und subjektiv
reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime*),
15 einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen
Folge zu leisten.
Es hegt also der morahsche Wert der Handlung nicht in der Wir-
kung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Prinzip
der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten
20 Wirkung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmhch-
keit seines Zustandes, ja gar Beförderung fremder GlückseUgkeit)
konnten auch durch andere Ursachen zu stände gebracht werden, und
es brauchte also dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens,
worin gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen
25 werden kann. Es kann daher nichts anderes als die Vorstellung
des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im ver-
nünftigen Wesen stattfindet, sofern sie , nicht aber
die verhoffte Wirkung, der Bestimmungsgrund des Willens ist, so das
vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in
30 der Person selbst schon gegenwärtig ist, die danach handelt, nicht
aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf.
Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung,
auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Eücksicht zu nehmen,
den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne
35 Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe
beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes ent-
springen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit
*) M a X i m e ist das subjektive Prinzip des WoUens ; das objektive Prinzip
(das ist dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum prak-
tischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungs-
vermögen hätte) ist das praktische Gesetz.
204 Kant.
der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip
dienen soll, das ist ich soll niemals anders verfahren als so, d a ß ich
auch wollen könne, meine Maxime solle ein all-
gemeines Gesetz werden. Hier ist nun die bloße Gesetz-
mäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen be- 5
stimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prinzip
dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein
leerer Wahn und schimärischer Begriff sein soll; hiermit stimmt die
gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurteilung auch voll-
kommen überein und hat das gedachte Prinzip jederzeit vor Augen, lo
Die Frage sei zum Beispiel: darf ich, wenn ich im Gedränge bin,
nicht ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten? Ich mache
hier leicht den Unterschied, den die Bedeutung der Frage haben kann,
ob es klüglich oder ob es pflichtmäßig sei, ein falsches Versprechen zu
tun. Das erstere kann ohne Zweifel öfters stattfinden. Zwar sehe ich i6
wohl, daß es nicht genug sei, mich vermittels dieser Ausflucht aus einer
gegenwärtigen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt werden
müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinterher viel größere Ungelegen-
heit entspringen könne, als die sind, von denen ich mich jetzt befreie,
und, da die Folgen bei aller meiner vermeinten Schlauigkeit 20
nicht so leicht vorauszusehen sind, daß nicht ein einmal verlorenes Zu-
trauen mir weit nachteiliger werden könnte als alles Übel, das ich jetzt
zu vermeiden gedenke, ob es nicht klüglicher gehandelt sei, hierbei
nach einer allgemeinen Maxime zu verfahren und es sich zur Gewohn-
heit zu machen, nichts zu versprechen als in der Absicht, es zu halten. 25
Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine solche Maxime doch immer
nur die besorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es doch etwas
ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nach-
teiligen Folgen : indem im ersten Falle der Begriff der Handlung an sich
selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst so
anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit
verbunden sein möchten. Denn wenn ich von dem Prinzip der Pflicht
abweiche, so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime
der Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr vorteil-
haft sein, wiewohl es freihch sicherer ist, bei ihr zu bleiben. Um in- 35
dessen mich in Ansehen der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügen-
haftes Versprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch un-
trüghche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: vfürde ich wohl
danüt zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Ver-
sprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl 40
für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können:
Übergang v. d. gemeinen sittl. Vernunfterkenntnis zur pliilosopliisclien. 205
es mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Ver-
legenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann?
So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines
Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen
5 würde es eigenthch gar kein Versprechen geben, weil es vergebUch
wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen anderen
vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie
es übereilterweise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden,
mithin meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht
10 würde, sich selbst zerstören müsse.
Was ich also zu tun habe, damit mein Wollen sitthch gut sei, dazu
brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren
in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich ereignenden Vorfälle
desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen,
15 daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie
verwerfhch, und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus
bevorstehenden Nachteils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip
in eine möghche allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber
zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar
20 jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Phi-
losoph untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daß
es eine Schätzung des Wertes sei, welcher allen Wert dessen, was durch
Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die Notwendigkeit
meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz
23 dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungs-
grund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten
Willens ist, dessen Wert über alles geht.
So sind wir denn in der morahschen Erkenntnis der gemeinen
Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt, welches sie sich zwar
30 freihch nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber
doch jederzeit wirkhch vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Be-
urteilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Kom-
passe in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid
wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflicht-
35 widrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren,
sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht,
und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu
wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise
und tugendhaft zu sein. Das ließe sich auch wohl schon zum voraus
40 vermuten, daß die Kenntnis dessen, was zu tun, mithin auch zu wissen
jedem Menschen obhegt, auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen
206 Kant.
Sache sein werde. Hier kann man es doch nicht ohne Bewunderung an-
sehen, wie das praktische Beurteilungsvermögen vor dem theoretischen
im gemeinen Menschenverstände so gar viel voraus habe. In dem letz-
teren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen
und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen, gerät sie in lauter Un- 5
begreifUchkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens in ein
Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im praktischen
aber fängt die Beurteilungskraft dann eben allererst an, sich recht
vorteilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle sinnlichen Trieb-
federn von praktischen Gesetzen ausschließt. Er wird alsdann sogar lo
subtil, es mag sein, daß er mit seinem Gewissen oder anderen Ansprüchen
in Beziehung auf das, was recht heißen soll, schikanieren oder auch den
Wert der Handlungen zu seiner eigenen Belehrung aufrichtig bestimmen
will, und was das meiste ist, er kann in letzterem Falle sich ebensogut
Hoffnung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph i5
versprechen mag, ja ist beinahe noch sicherer hierin, als selbst der letztere,
weil dieser doch kein anderes Prinzip als jener haben, sein Urteil aber
durch eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen
leicht verwirren und von der geraden Richtung abweichend machen
kann. Wäre es demnach nicht ratsamer, es in moralischen Dingen bei 20
dem gemeinen Vernunfturteil bewenden zu lassen und höchstens nur
Philosophie anzubringen, um das System der Sitten desto vollständiger
und faßlicher, imgleichen die Regeln derselben zum Gebrauche (noch
mehr aber zum Disputieren) bequemer darzustellen, nicht aber um
selbst in praktischer Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner 25
glücklichen Einfalt abzubringen und ihn durch Philosophie auf einen
neuen Weg der Untersuchung und Belehrung zu bringen?
Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum
sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt
wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit — die sonst wohl mehr im 30
Tun und Lassen als im Wissen besteht — doch auch der Wissenschaft,
nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauer-
haftigkeit zu verschaffen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges
Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so
hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, 35
deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der GlückseHgkeit zu-
sammenfaßt. Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigungen
etwas zu verheißen, unnachläßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung
und Nichtachtung jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden
Ansprüche (die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen) ihre Vor- 40
Schriften. Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik,
Erläuterungen. 207
das ist ein Hang, wider jene strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln
und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel
zu ziehen und sie womöglich unseren Wünschen und Neigungen ange-
messener zu machen, das ist sie im Grunde zu verderben und um ihre
ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische
Vernunft am Ende nicht gut heißen kann.
So wird also die gemeine Menschen Vernunft nicht
durch irgend ein Bedürfnis der Spekulation (welches ihr, solange sie
sich genügt, bloße gesunde Vernunft zu sein, niemals anwandelt), sondern
selbst aus praktischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen
und einen Schritt ins Feld einer praktischen Philosophie
zu tun, um daselbst wegen der Quelle ihres Prinzips und richtigen Be-
stimmung desselben in Gegenhaltung mit den Maximen, die sich auf
Bedürfnis und Neigung fußen, Erkundigung und deutliche Anweisung
zu bekommen, damit sie aus der Verlegenheit wegen beiderseitiger An-
sprüche herauskomme und nicht Gefahr laufe, durch die Zweideutig-
keit, in die sie leicht gerät, um alle echte sittliche Grundsätze gebracht
zu werden. Also entspinnt sich ebensowohl in der praktischen gemeinen
Vernunft, wenn sie sich kultiviert, unvermerkt eine Dialektik,
welche sie nötigt, in der Philosophie Hilfe zu suchen, als es ihr im theo-
retischen Gebrauche widerfährt, und die erstere wird daher wohl eben-
sowenig als die andere irgendwo sonst, als in einer vollständigen Kritik
unserer Vernunft Ruhe finden.
Immanuel Kant (1724 — 1804) ist der Begründer der kritischen Philosophie.
Sein Hauptwerk ist die „ Kritik der reinen Vernunft " ( 1781 ). Die ., Prolegomena
zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können"
(1783), aus denen hier eine Probe gegeben wird, sind als eine Erläuterungsschrift
des Hauptwerkes anzusehen und infolge ihrer übersichtlichen Anordnung und
kürzeren Fassung zur Einleitung in die Philosophie K.s geeignet. Das aus-
gewählte Stück soll den Leser in die Fragestellung Kants im allgemeinen ein-
führen und die Lösung eines einzelnen Problems als Beispiel verdeutlichen.
Zum Verständnis der Kantischen Lehre kann vielleicht folgende elementare
Betrachtung dienen. Die letzte Bedingung, bis zu der unser Denken als seinem
Ausgangspunkt zurückgeführt werden kann, ist, daß wir in allem Erkennen ein
Subjekt, das erkennt, und ein Objekt, das erkannt wird, unterscheiden. Wir
können deshalb jede einzelne Erkenntnis als ein Produkt eines subjektiven
und eines objektiven Faktors bezeichnen. Je nachdem man nun diese Faktoren
in Bezug auf ihren Einfluss auf die fertige Erkenntnis einschätzt, ergeben sich
verschiedene erkenntnistheoretische Standpunkte. Wer den objektiven Faktor
als den überwiegenden auffaßt, wird das Subjekt, das Ich, im wesentlichen als
aufnehmend, als passiv betrachten. Dies wäre der Standpunkt des Empirismus,
den Locke und Hume vertreten. Wer den subjektiven Faktor als den über-
208 Kant.
wiegenden auffaßt, wird dem Ich ursprüngliche Aktivität, Spontaneität zu-
schreiben. Das Objekt würde als ein von dem Subjekt gestaltetes, geformtes
angesehen werden müssen. Dies wäre der Standpunkt des Apriorismus. Diese
beiden erkenntnistheoretischen Standpunkte ^vurzeln also schließlich in einer
bestimmten Auffassung des Ich oder populär ausgedrückt der Seele. Sie
lassen sich deshalb nicht streng beweisen, sondern sind abhängig von der
Lebensanschauung des einzelnen Denkers. Vergleiche dazu das Lesestück
XVI (Fichte).
Doch können die Vertreter des Apriorismus einige Schwierigkeiten an-
führen, welche die empiristische Anschauung nicht lösen kann. Der Empirismus
vermag nicht aufzuzeigen, wie aus den getrennten Elementen des Erkennens
(den Empfindungen) ihre Vereinigung im Begriff, welcher ein Allgemeines ent-
hält, zu stände komme, und er kann nicht die Allgemeingültigkeit und Not-
wendigkeit erklären, mit denen einige Sätze in unserem Erkennen auftreten.
Die Summierung einzelner Erfahrungen führt niemals zur Notwendigkeit,
die in einem allgemeinen Satz, zum Beispiel einem Naturgesetz ausgedrückt
wird, vergleiche 18436 ff. und Anmerkung zu 17826.
K. hält an dem Vorhandensein solcher allgemeingültigen und notwendigen
Sätze fest. Aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit des Empirismus sieht er
sich als Erkenntnistheoretiker zu dem Standpunkt des Apriorismus geführt.
Er sucht deshalb das Vorhandensein solcher Sätze nachzuweisen aus einem
ursprünglichen Besitz der Seele, aus Anlagen derselben, und prüft danach die
Erkenntnisvermögen des Menschen: Anschauung, Verstand, Vernunft. Das
folgende Stück zeigt uns den ursprünglichen Besitz der Seele in Bezug auf die
Anschauung.
Aus dieser allgemeinen Grundanschauung lassen sich nun drei Folgerungen
ziehen: erstens, daß die Gesetzmäßigkeit der Erfahrungswelt (Natur)
zurückzuführen ist auf die ursprünglichen Anlagen (Formen) der Seele,
zweitens, daß wir diese Erfahrungswelt erkennen können, weil sie ja eine
von uns so geformte ist, drittens, daß die erkannten Dinge Dinge für uns
sind, daß wir hinter diesen Dingen für uns das Ding an sich denken müssen,
das für uns aber unerkennbar ist, da wir es nie anders als durch die uns eigen-
tümüche Art des Erkennens (Sinne und Verstand) erkennen können. Sobald wir
erkennen, ist es sofort Ding für uns. Man hüte sich vor allem vor der falschen
Meinung, als läge in dieser Folgerung eine skeptische Ansicht. Folgerung 2
sichert ausdrücklich die Erkennbarkeit der Erfahrungswelt, hinter diese
dringen wollen würde heißen: auf die menschliche Art zu erkennen, verzichten
wollen. Eine andere Art des Erkennens ist uns aber nicht gegeben und nicht
verständlich.
Von dieser orientierenden Einleitung aus versuche man nun das folgende
zu begreifen und vor allem die Begriffe „a priori, Form, Ding an sich" richtig
zu erfassen. Anmerkungen erläutern sie noch im einzelnen.
Zur Einführung in die Kantische Philosophie können die betreffenden
Abschnitte in den Grundrissen der Geschichte der Philosophie dienen: Über-
weg-Heinze, Bd. III; J. E. Erdmann, Bd. II; Vorländer, Bd. IL Femer sei
Erläuterungen. 209
hingewiesen auf die Darstellung in Windelbands Gesckichte der neueren
Philosophie, Bd. II, auf Falckenbergs vielfach zitiertes Buch über denselben
Gegenstand und besonders auf A. Riehl, Zur Einführung in die Philosophie
der Gegenwart , 2. Aufl. 1904 , S. 56 ff. Durch große Klarheit zeichnet
sich aus Fr. A. Langes Darstellung in seiner Geschichte des MateriaUsmus,
Bd. II, S. 1 &., und höheren Ansprüchen wird genügt durch Dilthey, Leben
Schleiermachers, 1870, S. 88 — 108. Über das Leben und die Lehre handeln
Kuno Fischer, Gesch. d. n. Phil., Bd. IV u. V, und Fr. Paulsen, I. Kant,
Frommanns Klassiker der Philosophie, Bd. VII. Von Kants Hauptwerken
sind Einzelausgaben in Reclams üniversalbibliothek und in Kirchmanns Philo-
sophischer Bibliothek erschienen. Sonderausgaben der Kritik der reinen Vernunft
veranstalteten außerdem B. Erdmann, 5. Auflage 1900, Adickes 1889, Vorländer
1899. Für den Anfänger ist die zuletzt genannte Ausgabe wegen des ange-
hängten Sachregisters zu empfehlen. Die augenblicklich beste Gesamtausgabe
ist die von Hartenstein: J. Kants SämtHche Werke, 8 Bde., 1867/68. Eine
neue Ausgabe wird von der Berhner Akademie der Wissenschaften herausgegeben.
176 1. Über den Begriff „Metaphysik" vergleiche oben S. 40 n v. u. und
die Anmerkung zu 24 1 3.
176 1 4. Zur Erläuterung diene folgende Stelle aus der Kritik der reinen
Vernunft: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die VorsteUungsfähigkeit,
sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Die-
jenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht,
heißt empirisch." — „Anschauung findet nur statt, sofern uns der
Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens
nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die
Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen
affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittels der
Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein Hefert
uns Anschauungen." Es ist deutUch, daß die dem Gesichtssinn eigen-
tümliche Alt des Erfassens der Außenwelt hier im übertragenen Sinne gebraucht
vdrd. Vergleiche auch Anmerkung zu 187 ii.
176 21. AusführUcher heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: „Wir
werden unter Erkenntnissen a priori rucht solche verstehen, die von dieser
oder jener, sondern die schlechterdings von aUer Erfahrung unab-
hängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse oder solche, die nur
a posteriori, das ist durch Erfahrung möglich sind, entgegengesetzt. Von den
Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Em-
pirisches beigemischt ist." Als Kennzeichen der Sätze a priori gilt ihre All-
gemeingültigkeit und Notwendigkeit.
177 21. Gegen die von K. angeführte Unterscheidung ist mit Recht der
Einwand erhoben worden, daß ein sicheres Kriterium, unter welche der beiden
Klassen ein Urteil zu rechnen ist, nicht angegeben sei. Wer in dem Begriff
„Körper" die „Schwere" mitdenkt, wird das Urteil „der Körper ist schwer"
als ein analytisches auffassen. Die Einteilung K.s ist von der Ansicht be-
einflußt, daß es den Dingen wesentliche Eigenschaften gebe, ohne die sie nicht
D e SS oir-:Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 14
210 Kant.
gedacht werden können, und daß in Bezug auf diese wesentlichen Eigenschaften
ein Zweifel nicht bestehen könne, daß sie allgemein anerkannt werden. Ver-
gleiche Sigwart, Logik, 3. Auflage, 1904, Bd. I, S. 133—147.
177 26. Über den Satz des Widerspruchs vergleiche das oben zu 157 38
Gesagte. K. faßt ihn in die Formel: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat
zu, welches ihm widerspricht." Weiter heißt es dann: „Er ist ein allgemeines,
obzwar bloß negatives Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum
bloß in die Logik, weil er von Erkenntnissen, bloß als Erkenntnissen über-
haupt, unangesehen ihres Inhalts gilt und sagt, daß der Widerspruch sie gänz-
hch vernichte und aufhebe."
178 26. Man vergleiche die Anmerkung zu 176 21 und folgenden Satz aus
der Kritik der reinen Vernunft: „Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre
oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit
(durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: soviel wir bisher wahr-
genommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme."
178 31 ff. Als Beispiel nehme man den Satz: „In jedem Dreieck ist die
Summe der Winkel = 2 R. " Er kann „an sich selbst" nicht eingesehen werden,
sondern wird auf die bekannte Weise abgeleitet. Wir können seine Richtig-
keit nach dem Satz des Widerspruchs einsehen, da seine Unrichtigkeit gegen
frühere Sätze verstoßen würde. Dagegen läßt sich der Grundsatz der Plani-
metrie: „Zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie die kürzeste", nicht auf
diese Weise einsehen, da er nicht aus anderen Sätzen gefolgert werden kann;
er wird an sich selbst eingesehen. — Das „apodiktische" Urteil ist nach Kants
Bestimmung in seiner Logik von „dem Bewußtsein der Notwendigkeit des
Urteilens begleitet". Vergleiche Anmerkung zu 177 26.
180 11. In Bezug auf Kants Raumtheorie vergleiche B. Erdmann, Die
Axiome der Geometrie, 1877, und L. Goldschmidt, Kant und Helmholtz, 1898.
180 32. Vergleiche oben 157 41 ff.
182 28 ff. Zum besseren Verständnis dieses Gegensatzes mögen folgende
von K. an anderer Stelle gegebene Begriffsbestimmungen dienen. „Unter
dem Dogmatismus der Metaphysik versteht die Kritik das allgemeine Zutrauen
zu ihren Prinzipien ohne vorhergehende Kritik des Vernunftvermögens selbst.
Skeptizismus ist das ohne vorhergegangene Kritik gegen die reine Vernunft
gefaßte allgemeine Mißtrauen bloß um des Mißlingens ihrer Behauptungen willen.
Kritizismus ist die Maxime eines allgemeinen Mißtrauens gegen alle syntheti-
schen Sätze a priori, bevor nicht ein allgemeiner Grund ihrer Möglichkeit in den
wesentlichen Bedingungen unserer Erkenntnisvermögen eingesehen worden."
182 35. „überall" steht im Sinne von „überhaupt".
183 30 f. Über die Anwendung der analytischen Methode in den „Pro-
legomenen" sagt K. im Vorwort: „Hier ist nun ein solcher Plan nach vollendetem
Werke, der nunmehr nach analytischer Methode angelegt sein darf, da das
Werk (Kritik der reinen Vernunft) selbst durchaus nach syntheti-
scher Lehrart abgefaßt sein mußte, damit die Wissenschaft alle ihre
Artikulationen, als den Gliederbau eines ganz besonderen Erkenntnisver-
mögens, in seiner natürlichen Verbindung vor Augen stelle."
Erläuterungen. 211
184 36. Vergleiche oben S. 171 ii ff.
185 17. „Transzendental" nennt K. „alle Erkenntnis, die sich nicht sowohl
mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen,
sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt." Diese Mög-
lichkeit ist nach der oben angeführten Definition des Kritizismus gelegen
„in den wesentUchen Bedingungen unserer Erkenntnisvermögen". Es ent-
steht die Frage, was wir unter „Bedingungen" zu verstehen haben. Wir
lernen hier den Begriff „a priori'' in einer anderen Bedeutung kennen. Wir
soUen den Grund der allgemeingültigen und notwendigen Sätze ableiten aus
den Bedingungen unserer Erkenntnisvermögen, das heißt wie sie jeder einzelne
von uns besitzt. Da nun jene Allgemeingültigkeit sich aus unserer Erfahrung
(den Empfindungen) nicht gewinnen läßt, so muß in unseren Erkenntnis-
vermögen etwas angelegt sein, was diese Allgemeingültigkeit erklärlich macht.
Angeborene Sätze können es nicht sein; das hatte Locke (vergleiche Lese-
stück XI) erwiesen. Im Anschluß an Leibniz (vergleiche zu 135 i5) lehrt K.,
nur die Anlage zur Gewinnung allgemeiner Sätze sei angeboren. Dies ist die
andere Bedeutung des Begriffes a priori (vergleiche zu 176 21). Näher sagt nun
Kant, daß diese Anlage eine Form (ohne Inhalt, daher kein Satz) sei, zu der erst
der Stoff hinzukommen müsse (vergleiche 188 28 ff.). Nur durch eine Verbindung
beider kommt Erfahrung zu stände. Erfahrung heißt in diesem Fall aber
nicht mehr einzelne Erfahrung = Empfindung, sondern bedeutet den Inbegriff
aller Erkenntnis, zu deren Zustandekommen die apriorischen Formen not-
wendig sind. So wären also bei K. die Empfindung (Stoff, a posteriori) auf
der einen Seite und der Verstand (Form, a priori) auf der anderen Seite zu
ihrem Rechte gekommen und man kann deshalb seine Philosophie als eine
Vereinigung der sensuahstischen und der rationalistischen Lehren bezeichnen.
187 11. Über den Gegensatz „intuitiv — diskursiv" sagt K. in seiner Logik:
„ Alle unsere Erkenntnisse sind entweder Anschauungen oder B e-
griffe. Die ersteren haben ihre Quelle in der Sinnlichkeit, — dem
Vermögen der Anschauungen ; die letzteren im Verstände, — dem Ver-
mögen der Begriffe." Das Wort diskursiv erklärt er an einer anderen Stelle;
„Das menschliche Erkenntnis ist von selten des Verstandes diskursiv, das heißt
es geschieht durch Vorstellungen, die das, was mehreren Dingen gemein ist,
zum Erkenntnisgrunde machen, mithin durch Merkmale, als solche. "
Durch die Anschauung würden wir unmittelbar, das heißt nicht vermittelt'
durch Merkmale ein Ding erfassen. Der Ausdruck „diskursiv' steht für
„allgemein", weil K. die Bezeichnung „allgemeiner Begriff" für eine Tauto-
logie erklärt ; Begriffe sind immer allgemein. Vergleiche zu diesem Gegen-
satz das Lesestück aus Berkeley und dort die Anmerkung zu 14937.
188 15. „an sich selbst", das heißt: losgelöst von der Beziehung zu unserer
Anschauung, vergleiche 189 1.
190";. Zur Erläuterung diene Kants erster Beweis vom Raum aus der
Kritik der reinen Vernunft: „Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von
äußeren Erfahrungen abgezogen worden. Denn damit gewisse Empfindungen
(zum Beispiel Licht der Sonne) auf etwas außer mir bezogen werden (das ist
212 Kant.
auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde),
imgleichen damit ich sie als außer und nebeneinander, mithin nicht bloß ver-
schieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die
Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vor-
stellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung
durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur
durch gedachte Vorstellung allererst möglich."
190 39. Über den Begriff „transzendental" vergleiche die Vorbemerkung
und Anmerkung zu 185 17. Die Aufgabe der Deduktion entsteht dadurch,
daß K. durch den Nachweis der Formen in unserem Bewußtsein noch nicht
erwiesen hat, daß sie auch für die Gegenstände der Erfahrung (außer uns)
gelten. Dies leistet er dadurch, daß er zeigt, daß ohne diese Formen Erfahrung,
insofern sie allgemeingültige Sätze enthält, nicht möglich ist, daß jene ihre
notwendigen Bedingungen sind. Hier liegt das Zwingende der Deduktion
in dem Nachweis, daß die Möglichkeit einer reinen Mathematik nur durch die
Lehre von den apriorischen Formen der Sinnlichkeit eingesehen, das heißt
abgeleitet (deduziert) werden kann.
1913. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es: „Die Zeit ist nichts
anderes als die Form des inneren Sinnes, das ist des Anschauens unserer selbst
und unseres inneren Zustandes. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer
Erscheinungen sein; sie gehört weder zu einer Gestalt oder Lage u. s. w.,
dagegen bestimmt sie das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren
Zustande." Einfacher können wir sagen, daß unsere psychischen Vorgänge
zeitlich aufeinanderfolgen.
192?. Vergleiche hierzu Anmerkung II des Kantischen Textes.
19235/36. Eine solche Formulierung hatte der Idealismus durch Berkeley
gefunden: es gibt nichts als Geister und deren Vorstellungen. Vergleiche
hierzu die Vorbemerkung zu den Erläuterungen des Lesestückes Nr. XII.
193 2. So ist das Vorhandensein des Stoffes der Erkenntnis erklärt. Man
sieht wohl, wie sich die Wirklichkeit des Dinges an sich als eine notwendige
Folgerung aus K.s Unterscheidung von Form und Stoff der Erkenntnis ergibt.
193 14 £f. Die Unterscheidung der Eigenschaften der Körper in primäre,
welche als zum Wesen derselben gehörig, also als unabhängig von unserer
Wahrnehmung bestehend, angesehen werden, und in sekundäre, welche diesen
gegenüber zufällige, abgeleitete genannt werden und abhängig von der Wahr-
nehmung durch unsere Sinne sind, ist bereits von den griechischen Atomisten
vollzogen worden. Eigenschaften wie „süß, bitter, warm, kalt" u. s. w. wurden
von ihnen zurückgeführt auf die verschiedene Größe und Gestalt der Atome,
welche unsere Sinnesorgane treffen; vergleiche die zum ersten Lesestück an-
gegebene Literatur über die griechische Philosophie. Dieser Unterschied findet
sich dann bei Descartes in seiner Einteilung der Eigenschaften in Attribute
imd Modi. Locke rechnet zu den primären Eigenschaften: Ausdehnung,
Bewegung, Ruhe, Zahl, Figur, Solidität; zu den sekundären hart — weich,
heiß — kalt, farbig — tönend, riechend — schmeckend. Jene sind wirkUche
Kopien der Eigenschaften der Dinge, diese Empfindungszustände.
Erläuterungen. 213
194 7. Dies hatte Leibniz und nach ihm Wolff und seine Schule gelehrt.
Unser Lesestück hat die erste der von K. aufgestellten Fragen (S. 186)
bejaht. Wie die anderen Fragen beantwortet werden, kann der Leser mit
Hilfe der oben angegebenen Literatur ersehen.
Verbindende Erörterung.
Kants Ethik ist von seiner theoretischen Philosophie maßgebend
beeinflußt worden. Doch war die hier zu lösende Aufgabe eine andere. In
der theoretischen Philosophie fand K. allgemeingültige und notwendige Sätze
vor, er gab für sie nur eine neue und sichere Begründung. Für das sittliche
Handeln war eine solche Gesetzgebung erst zu finden. Die vorhandenen Sitten-
lehren, welche zum Ziel die allgemeine GlückseUgkeit hatten, waren einmal
empirisch begründet und konnten anderseits nicht eindeutig den BegrifiE der
GlückseHgkeit bestimmen, das heißt sie entsprachen nicht den Forderungen,
welche die kritische Philosophie an einen allgemeingültigen und notwendigen
Satz stellt. Ein solcher war nur apriorisch zu begründen.
Dieser Forderung K.s stand nun die von den enghschen Moralphilosophen
(Shaftesbury, Hutcheson, Hume) begründete Ansicht gegenüber, daß in dem
ursprüngHchen Urteil des moralischen Gefühls, das unabhängig von aller philo-
sophischen Begründung unmittelbar gefällt wird, ein selbst für die schwierigeren
sittlichen Fragen ausreichender Maßstab gelegen ist. Bei K. tritt diese Lehre
auf als Moralprinzip des „guten Willens". Es ist nun seine Aufgabe, das,
was der gute Wille aussagt, als im Einklang nachzuweisen mit einem aus der
vernünftigen Natur des Menschen, a priori begründeten Sittengesetz, so daß
der gute Wille seinen einzigen adäquaten Ausdruck in einem solchen finden
kann. Das mitgeteilte Stück versucht diese Lösung zu geben. Es ist der erste
Abschnitt der 1785 erschienenen „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten".
1788 erschien K.s ethische Hauptschrift, die „Kritik der praktischen Vernunft".
Die zu dem ersten Lesestück angegebene allgemeinere Literatur kann zu
weiterer Orientierung auch über die Ethik dienen.
1975. Dies hatten vornehmlich die Stoiker getan. Vergleiche Lese-
stück Nr. IV und die Erläuterungen dazu. K.s Ethik ist vielfach von der
stoischen Lehre beeinflußt.
197 38 f. Dieser Grundsatz ist allerdings nur eine Annahme, wird aber
von K. als zugestanden behandelt. Die moderne Naturwissenschaft würde
eine solche Ansicht von einem Plan der Natur nicht teilen, sondern auf Grund-
lage von Darwins Entwicklungstheorie (vergleiche Schulte-Tigges, Philos.
Propädeutik auf naturmssenschaftlicher Grundlage, 2. Aufl., 1904, S. 143 ff.),
die für das Leben und die Erhaltung der organischen Wesen zweckmäßigen
Eigenschaften streng mechanisch, das heißt ohne Annahme von der Natuv
angestrebter Zwecke, ableiten. K.s Stellung zu diesen Fragen präzisiert
der zweite Teil der Klritik der Urteilskraft: „Kritik der teleologischen Urteils-
kraft." (Zu. empfehlen die Ausgabe von Vorländer in der Philosophischen
BibHothek.)
198 22 f. Man denke an Rousseau, dessen Lehren, wie sie insbesondere im
Emile ausgesprochen sind, auf K. einen sehr starken Eindruck gemacht haben.
214 Kant.
199 26. ])er in der Anmerkung zu 205 i8 erörterte Gedanke einer doppelten
Gesetzgebung, einer Welt des Seins und einer Welt des Sollens, liegt hier zu
Grunde.
199 36,37. Es ist leicht einzusehen, wie durch diese Bestimmung der
Charakter des guten Willens eine Änderung erfährt. In ihm liegt keineswegs
der Gedanke an „subjektive Einschränkungen und Hindernisse". Das durch
ihn Ausgedrückte trägt nicht den Charakter eines Gebots an sich.
202 10. Diese Bestimmungen haben der Ethik K.s den Vorwurf des Ri-
gorismus zugezogen und Einwände verursacht wie das bekannte Epigramm
Schillers :
Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
K. ist zu diesem Standpunkt gekommen aus einer gewissen Strenge seiner
Lebensanschauung und aus dem Bedürfnis nach reinlicher Scheidung von
Vernunft und Sinnlichkeit analog dem für die theoretische Philosophie Ge-
leisteten. Man setzt sich aber mit K.s eigenen Ausführungen in Widerspruch,
wenn man behauptet, er habe Handlungen, die nicht „aus Pflicht" geschehen
sind, jeden Wert abstreiten wollen; nur einen moralischen Wert besitzen sie
nicht. Für diesen will K. einen sicheren Maßstab aufweisen.
202 32. Man beachte die Abhängigkeit der Probleme der Moralphilosophie
von den Ergebnissen der theoretischen Philosophie K.s. In Bezug auf die
Begriffe a priori und a posteriori vergleiche oben zu 176 21.
203 31. Schöner und mächtiger werden diese Gedanken ausgedrückt in der
berühmten Stelle der Kritik der praktischen Vernunft: „Pflicht! du
erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei
sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts
drohest, was natürUche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um
den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst
im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung
(wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen ver-
stummen, wenn sie gleich insgeheim ihm entgegenwirken, welches ist der
deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Ab-
kunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von
welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts
ist, den sich Menschen allein geben selbst können?
Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als
einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft,
die nur der Verstand denken kaim, und die zugleich die ganze Sinnenwelt,
mit ihr das empirisch -bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das
Ganze aller Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen,
als das moralische, angemessen ist) unter sich hat. ICs ist nichts anderes,
als die Persönlichkeit, das ist die Freiheit und Unabhängigkeit
von dem Mechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines
Wesens betrachtet, welches eigentümUchen, nämUch von seiner eigenen Ver-
nunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnen-
Erläuterungen. 215
weit gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich
zur intelligiblen Welt gehört; da es denn nicht zu verM'Undern ist, wenn der
Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen, in Beziehung auf
seine zweite und höchste Bestimmung, nicht anders, als mit Verehrung und
die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß."
205 18. Der Beweisführung mangelt noch ihre letzte Stütze. Den Wert,
den eine allgemeine Gesetzgebung hat, können wir noch nicht einsehen. Er
muß also nachgewiesen werden. Dies geschieht in folgenden Gedankengängen:
Das Pflichtgebot ist apriorisch, es ist unmöglich, mit völliger Gewißheit einen
einzigen, ihm völlig entsprechenden Fall in der Erfahrung nachzuweisen. So
entsteht die Aufgabe einer Begründung desselben aus der Anlage des Men-
schen, des näheren, wie Avir wissen, seiner Vernunftanlage. Zu einer solchen
apriorischen Gesetzgebung eignet sich unter allen mögUchen Imperativen
nur der kategorische, das heißt der ohne Beziehung auf andere Zwecke ge-
bietende Imperativ. Wir dürfen ihn nicht ableiten von einer Bestimmung,
die außerhalb des vernünftigen Wesens liegt, da eine solche ihm ja immer
nur empirisch gegeben sein könnte. Der Imperativ kann also nur gelten für
ein Wesen, welches Zweck an sich selbst ist. Ein solches Wesen ist der Mensch.
So erhalten wir das Gebot: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck,
niemals bloß als Mittel brauchst." Wir können diese Gesetzgebung Selbst-
gesetzgebung, Autonomie nennen, insofern der einzelne Mensch aus seiner
in ihm als Indi\dduum vorhandenen vernünftigen Natur dieses Gesetz sich
selbst gibt, das zugleich, als ein apriorisches, ein allgemeines ist. Es ist also
die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetz-
gebenden Willens. Dies Prinzip hat einen lediglich formalen Charakter, der
am deutlichsten in der klassischen Formel des kategorischen Imperativs
ausgedrückt ist: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zu-
gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
Diese Selbstgesetzgebung hat einen hohen Wert für den Menschen. Er
erfaßt sich in dieser von allem Empirischen unabhängigen Gesetzgebung als
ein von der Erscheinungswelt losgelöstes, zu einer Vernunftwelt, intelligiblen
Welt, gehöriges Wesen, er wird sich seiner Würde bewußt durch die Größe der
Aufgabe, die ihm gestellt ist und ihn auf seine höhere Bestimmung hinweist.
Dem Sollen muß ein Können entsprechen, es wäre sonst sinnlos. Durch
das in uns auftretende Sollen werden wir uns unserer Freiheit bewußt. Wir
sind freie Wesen. So ist neben die Erscheinungswelt die intelligible Welt
getreten, der Mensch ist zugleich ein Glied der einen wie der anderen, in
jener herrscht strengste Notwendigkeit, in dieser Freiheit. Im Sollen zeigt
letztere ihre Kausalität in der Erscheinungswelt. Eine einzelne Handlung
steht also unter doppelter Gesetzgebung. Einmal ist sie notwendig in der
Erscheinungswelt, anderseits ist sie eine Tat aus Freiheit, sie hätte auch anders
sein können. So ist der Mensch verantwortlich für sein Handeln. Vergleiche
oben das Zitat zu 203 3i. M e n z e r.
XVI.
Fichte.
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre.
1.
Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich um-
gibt, ab und in dein Inneres — ist die erste Forderung, welche die
Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, das außer dir ist,
die Rede, sondern lediglich von dir selbst. 5
Auch bei der flüchtigsten Selbstbeobachtung wird jeder einen merk-
würdigen Unterschied zwischen den verschiedenen unmittelbaren Be-
stimmungen seines Bewußtseins, die wir auch Vorstellungen nennen
können, wahrnehmen. Einige nämhch erscheinen uns als völlig ab-
hängig von unserer Freiheit, aber es ist uns unmöghch zu glauben, 10
daß ihnen etwas außer uns, ohne unser Zutun, entspreche. Unsere Phan-
tasie, unser Wille erscheint uns als frei. Andere beziehen wir auf eine
Wahrheit, die, unabhängig von uns, festgesetzt sein soll, als auf ihr
Muster; und unter der Bedingung, daß sie mit dieser Wahrheit über-
einstimmen sollen, finden wir uns in Bestimmung dieser Vorstellung 15
gebunden. In der Erkenntnis halten wir uns, was ihren Inhalt betrifit,
nicht für frei. Wir können kurz sagen: einige unserer Vorstellungen
sind von dem Gefühle der Freiheit, andere von dem Gefühle der Not-
wendigkeit begleitet.
Es kann vernünftigerweise nicht die Frage entstehen: Warum sind 20
die von der Freiheit abhängigen Vorstellungen gerade so bestimmt,
und nicht anders? — denn indem gesetzt wird, sie seien von der Frei-
heit abhängig, wird alle Anwendung des Begriffs vom Grunde abgewiesen;
sie sind so, weil ich sie so bestimmt habe, und hätte ich sie anders be-
stimmt, so würden sie anders sein. Aber es ist allerdings eine des Nach- 25
denkens würdige Frage: Welches ist der Grund des Systems der vom
Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Ge-
fühls der Notwendigkeit selbst? Diese Frage zu beantworten ist die
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. 217
Aufgabe der Philosophie; und es ist, meines Bedünkens, nichts Philo-
sophie als die Wissenschaft, weiche diese Aufgabe löst. Das System
der von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen
nennt man auch die Erfahrung: innere sowohl als äußere. Die
5 Philosophie hat sonach — daß ich es mit anderen Worten sage — den
Grund aller Erfahrung anzugeben.
Gegen das soeben Behauptete kann nur dreierlei eingewendet werden.
Entweder dürfte jemand leugnen, daß Vorstellungen von dem Gefühle
der Notwendigkeit begleitet und, auf eine ohne unser Zutun bestimmt
10 sein sollende W^ahrheit bezogen, im Bewußtsein vorkommen. Ein solcher
leugnete entweder gegen besseres Wissen, oder er wäre anders beschaffen
als andere Menschen; es wäre dann für ihn auch nichts da, was er ab-
leugnete, und kein Ableugnen, und wir könnten gegen seinen Einspruch
uns ohne weiteres hinwegsetzen. Oder es dürfte jemand sagen, die
15 aufgeworfene Frage sei völlig unbeantwortlich, wir seien über diesen
Punkt in unüberwindhcher Unwissenheit und müßten in ihr bleiben.
Mit einem solchen auf Gründe und Gegengründe sich einzulassen, ist
ganz überflüssig. Er vdrä am besten durch die wirkliche Beantwortung
der Frage widerlegt, und es bleibt ihm nichts übrig, als unseren Versuch
20 zu prüfen und anzugeben, wo und warum er ihm nicht hinlänghch er-
scheine. Endhch könnte jemand die Benennung in Anspruch nehmen
und behaupten: Philosophie sei überhaupt, oder sie sei außer dem an-
gegebenen auch noch mit, etwas anderes. Ihm würde leicht nachzu-
weisen sein, daß von jeher von allen Kennern gerade das Angeführte
25 für Philosophie gehalten worden, daß alles, was er etwa dafür ausgeben
möchte, schon andere Namen habe; daß, wenn dieses Wort etwas
Bestimmtes bezeichnen solle, es gerade die bestimmte Wissenschaft
bezeichnen müsse.
Da wir jedoch auf diesen unfruchtbaren Wortstreit uns einzulassen
30 nicht wüUens sind, so haben war an unserem Teile diesen Namen schon
längst preisgegeben, und die Wissenschaft, welche ganz eigentlich die
angezeigte Aufgabe zu lösen hat. Wisse nschaftslehre genannt.
2.
Nur bei einem als zufällig Beurteilten, das heißt wobei man voraus-
35 setzt, daß es auch anders sein könne, das jedoch nicht durch Freiheit
bestimmt sein soll, kann man nach einem Grunde fragen; und gerade
dadurch, daß er nach seinem Grunde fragt, wird es dem Frager ein Zu-
fälUges. Die Aufgabe, den Grund eines Zufälligen zu suchen, bedeutet:
etwas anderes aufzuweisen, aus dessen Bestimmtheit sich einsehen lasse,
40 warum das Begründete, unter den mannigfaltigen Bestimmungen,
218 Fichte.
die ihm zukommen kömiten, gerade diese habe, welche es hat. Der
Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des
Begründeten; beides, das Begründete und der Grund, werden, inwiefern
sie dies sind, einander entgegengesetzt, aneinander gehalten und so das
erstere aus dem letzteren erklärt. 5
Nun hat die Philosophie den Grund aller Erfahrung anzugeben;
ihr Objekt Hegt sonach notwendig außer aller Erfahrung.
Dieser Satz gilt für alle Philosophie und hat auch, bis auf die Epoche
der Kantianer und ihrer Tatsachen des Bewußtseins, und also der
inneren Erfahrung, wirklich allgemein gegolten. 10
Gegen den hier aufgestellten Satz läßt sich gar nichts einwenden:
denn der Vordersatz unserer Schlußfolge ist die bloße Analyse des
aufgestellten Begriffs der Philosophie, und aus ihm wird gefolgert.
Wollte etwa jemand erinnern, daß der Begriff des Grundes anders er-
klärt werden müsse, so können wir demselben allerdings nicht verwehren, 15
bei dieser Benennung sich zu denken, was er will: wir erklären aber
mit unserem guten Rechte, daß wir in obiger Beschreibung der Phi-
losophie nichts anderes als das Angegebene darunter verstanden wissen
wollen. Es müßte sonach, wenn diese Bedeutung nicht stattfinden
soll, die Möglichkeit der Philosophie überhaupt in der von uns an- 20
gegebenen Bedeutung geleugnet werden, und darauf haben wir schon
oben Rücksicht genommen.
3.
Das endliche Vernunftwesen hat nichts außer der Erfahrung; diese
ist es, die den ganzen Stoff seines Denkens enthält. Der Philosoph steht 25
notwendig unter den gleichen Bedingungen; es scheint sonach unbe-
greiflich, wie er sich über die Erfahrung erheben könne.
Aber er kann abstrahieren, das heißt: das in der Erfahrung Ver-
bundene durch Freiheit des Denkens trennen. In der Erfahrung ist
das Ding, dasjenige, welches unabhängig von unserer Freiheit 30
bestimmt sein und wonach xmsere Erkenntnis sich richten soll, und die
Intelligenz, welche erkennen soll, unzertrennlich verbunden.
Der Philosoph kann von einem von beiden abstrahieren, und er hat
dann von der Erfahrung abstrahiert und über dieselbe sich erhoben.
Abstrahiert er von dem ersteren, so behält er eine Intelligenz a n s i c h, 35
das heißt abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung; abstrahiert
er von dem letzteren, so behält er ein Ding an sich, das heißt
abstrahiert davon, daß es in der Erfahrung vorkommt, — als Er-
klärungsgrund der Erfahrung übrig. Das erste Verfahren heißt Idealis-
mus, das zweite Dogmatismus. Es sind, wovon man durch 40
das Gegenwärtige eben überzeugt werden sollte, nur diese beiden philo-
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. 219
sophischen Systeme möglich. Nach dem ersten Systeme sind die von
dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen Produkte
der ihnen in der Erklärung vorauszusetzenden Intelligenz; nach dem
letzteren Produkte eines ihnen vorauszusetzenden Dinges an sich.
Wollte jemand diesen Satz leugnen, so hätte er zu erweisen, ent-
weder daß es noch einen anderen Weg sich über die Erfahrung zu er-
heben als den der Abstraktion gebe, oder daß in dem Bewußtsein der
Erfahrung mehr, als die beiden genannten Bestandteile, vorkommen.
Nun wird zwar in Absicht des ersten tiefer unten erhellen, daß das-
jenige, was Intelligenz sein soll, unter einem anderen Prädikate im
Bewußtsein wirklich vorkomme, also nicht etwas lediglich durch Abstrak-
tion Hervorgebrachtes sei; es wird sich aber doch zeigen, daß das Be-
wußtsein derselben durch eine, dem Menschen freilich natürliche, Ab-
straktion bedingt ist.
Es wird gar nicht geleugnet, daß es wohl möghch sei, aus Bruch-
stücken dieser ungleichartigen Systeme ein Ganzes zusammenzuschmel-
zen, und daß diese inkonsequente Arbeit wirklich sehr oft getan worden :
aber es wird geleugnet, daß bei einem konsequenten Verfahren mehrere
als diese beiden Systeme möglich seien.
4.
Zwischen den Objekten — wir wollen den durch eine Philosophie
aufgestellten Erklärungsgrund der Erfahrung das Objekt der
Philosophie nennen, da es ja nur durch und für dieselbe da zu
sein scheint — zwischen dem Objekt des Idealismus und dem
des Dogmatismus ist, in Rücksicht ihres Verhältnisses zum Be-
wußtsein überhaupt, ein merkwürdiger Unterschied. Alles, dessen ich
mir bewußt bin, heißt Objekt des Bewußtseins. Es gibt dreierlei Ver-
hältnisse dieses Objekts zum Vorstellenden. Entweder erscheint das
Objekt als erst hervorgebracht durch die Vorstellung der InteUigenz,
oder als ohne Zutun derselben vorhanden: und im letzteren Falle ent-
weder als bestimmt auch seiner Beschaffenheit nach ; oder als vorhanden
lediglich seinem Dasein nach, der Beschaffenheit nach aber bestimmbar
durch die freie IntelHgenz.
Das erste Verhältnis kommt zu einem ledigHch Erdichteten, es sei
ohne Zweck oder mit Zweck, das zweite einem Gegenstande der Erfah-
rung, das dritte nur einem einzigen Gegenstande, den wir sogleich auf-
weisen wollen.
NämUch ich kann mich mit Freiheit bestimmen, dieses oder jenes
zu denken, zum Beispiel das Ding an sich des Dogmatikers. Abstrahiere
ich nun von dem Gedachten, und sehe lediglich auf mich, so werde ich
220 Fichte.
mir selbst in diesem Gegenstande das Objekt einer bestimmten Vorstel-
lung. Daß ich mir gerade so bestimmt erscheine und nicht anders, ge-
rade als denkend, und unter allen möghchen Gedanken gerade das Ding
an sich denkend, soll meinem Urteil nach abhangen von meiner Selbst-
bestimmung: ich habe zu einem solchen Objekte mit Freiheit mich 5
gemacht. Mich selbst an sich aber habe ich nicht gemacht, sondern
ich bin genötigt, mich als das zu Bestimmende der Selbstbestimmung
voraus zu denken. Ich selbst also bin mir Objekt, dessen Beschaffenheit
unter gewissen Bedingungen lediglich von der Intelhgenz abhängt,
dessen Dasein aber immer vorauszusetzen ist. lo
Nun ist gerade dieses Ich an sich das Objekt des Idealismus. Das
Objekt dieses Systems kommt noch als etwas Eeales wirklich im Be-
wußtsein vor, nicht als ein Ding an sich, wodurch der Ideahs-
mus aufhören würde zu sein, was er ist, und in Dogmatismus sich ver-
wandeln würde, aber als Ich ansich, nicht als Gegenstand der i5
Erfahrung: denn es ist nicht bestimmt, sondern es wird lediglich durch
mich bestimmt und ist ohne diese Bestimmung nichts, und ist über-
haupt ohne sie nicht; sondern als etwas über alle Erfahrung Erhabenes.
Das Objekt des Dogmatismus im Gegenteil gehört zu den Objekten
der ersten Klasse, die ledigUch durch freies Denken hervorgebracht werden ; 20
das Ding an sich ist eine bloße Erdichtung und hat gar keine Realität.
Es kommt nicht etwa in der Erfahrung vor: denn das System der Er-
fahrung ist nichts anderes als das mit dem Gefühle der Notwendigkeit
begleitete Denken und kann selbst von dem Dogmatiker, der es, wie
jeder Philosoph, zu begründen hat, für nichts anderes ausgegeben werden. 25
Der Dogmatiker will ihm zwar Reahtät, das heißt die Notwendigkeit,
als Grund aller Erfahrung gedacht zu werden, zusichern und er wird
es, wenn er nachweist, daß die Erfahrung dadurch wirklich zu erklären
und ohne dasselbe nicht zu erklären ist ; aber gerade davon ist die
Frage und es darf nicht vorausgesetzt werden, was zu erweisen ist. so
Also das Objekt des Idealismus hat vor dem des Dogmatismus den
Vorzug, daß es, nicht als Erklärungsgrund der Erfahrung, welches
widersprechend wäre und dieses System selbst in einen Teil der Erfahrung
verwandeln würde, aber doch überhaupt, im Bewußtsein nachzuweisen
ist, dahingegen das letztere für nichts anderes gelten kann als für eine 35
bloße Erdichtung, die ihre Realisation erst von dem Gelingen des Systems
erwartet. Dies ist bloß zur Beförderung der deutlichen Einsicht in
die Unterschiede beider Systeme angeführt, nicht aber, um daraus
etwas gegen das letztere zu folgern. Daß das Objekt jeder Philosophie,
als Erklärungsgrund der Erfahrung, außerhalb der Erfahrung liegen 40
müsse, erfordert schon das Wesen der Philosophie, weit entfernt, daß
Erste Einleitung in die Wissenscbaftslehre. 221
es einem Systeme zum Nachteil gereichen solle. Warum jenes Objekt
überdies auf eine besondere Weise im Bewußtsein vorkommen solle,
dafür haben wir noch keine Gründe gefunden.
Sollte jemand von dem soeben Behaupteten sich nicht überzeugen
5 können, so würde, da es nur eine beiläufige Bemerkung ist, seine Über-
zeugimg von dem Ganzen dadurch noch nicht unmögHch gemacht.
Jedoch will ich, meinem Plane gemäß, auch hier auf möghche Einwürfe
Bedacht nehmen. Es dürfte jemand das behauptete unmittelbare
SelbstbewuJ^tsein in einer freien Handlung des Geistes leugnen. Einen
10 solchen hätten wir nur nochmals an die von uns angegebenen Bedingungen
desselben zu erinnern. Jenes Selbstbewußtsein dringt sich nicht auf
und kommt nicht von selbst; man muß wirklich frei handeln und dann
vom Objekte abstrahieren und ledigHch auf sich selbst merken. Niemand
kann genötigt werden, dieses zu tun, und wenn er es auch vorgibt,
15 kann man immer nicht \vissen, ob er richtig und wie gefordert werde
dabei verfahre. Mit einem Worte, dieses Bewußtsein kann keinem nach-
gewiesen werden; jeder muß es durch Freiheit in sich selbst hervor-
bringen. Gegen die zweite Behauptung, daß das Ding an sich eine bloße
Erdichtung sei, könnte nur darum etwas eingewendet werden, weil
20 man sie mißverstände. Wir würden einen solchen an die obige Beschrei-
bung von der Entstehung dieses Begriffs zurückverweisen.
5.
Keines dieser beiden Systeme kann das entgegengesetzte direkt
widerlegen: denn ihr Streit ist ein Streit über das erste, nicht weiter
25 abzuleitende Prinzip; jedes von beiden widerlegt, wenn ihm nur das
seinige zugestanden wird, das des anderen; jedes leugnet dem entgegen-
gesetzten alles ab und sie haben gar keinen Punkt gemein, von welchem
aus sie sich einander gegenseitig verständigen und sich vereinigen
könnten. Wenn sie auch über die Worte eines Satzes einig zu sein
30 scheinen, so nimmt jedes sie in einem anderen Sinne.
Zuvörderst der IdeaHsmus kann den Dogmatismus nicht wider-
legen. Der erstere zwar hat, wie wir gesehen haben, das vor dem letz-
teren voraus, daß er seinen Erklärungsgrund der Erfahrung, die frei-
handelnde Intelligenz, im Bewußtsein nachzuweisen vermag. Das
35 Faktum als solches muß ihm auch der Dogmatiker zugeben: denn
außerdem macht er sich aller ferneren Unterhandlung mit ihm unfähig;
aber er verwandelt es durch eine richtige Folgerung aus seinem Prinzip
in Schein und Täuschung, und macht es dadurch untaughch zum Er-
klärungsgrunde eines anderen, da es in seiner Philosophie sich selbst
40 nicht behaupten kann. Nach ihm ist alles, was in unserem Bewußtsein
vorkommt, Produkt eines Dinges an sich, sonach auch unsere vermeinten
222 Fichte.
Bestimmungen durch Freiheit, mit der Meinung selbst, daß wir frei
seien. Diese Meinung wird durch die Einwirkung des Dinges in uns
hervorgebracht, und die Bestimmungen, die wir von unserer Freiheit
ableiten, werden gleichfalls dadurch hervorgebracht: nur wissen wir
das nicht, darum schreiben wir sie keiner Ursache, also der Freiheit s
zu. Jeder konsequente Dogmatiker ist notwendig Fatalist; er leugnet
nicht das Faktum des Bewußtseins, daß wir uns für frei halten: denn
dies wäre vernunftwidrig; aber er erweist aus seinem Prinzip die Falsch-
heit dieser Aussage. — Er leugnet die Selbständigkeit des Ich, auf welche
der Idealist baut, gänzlich ab und macht dasselbe lediglich zu einem lo
Produkte der Dinge, zu einem Accidens der Welt; der konsequente
Dogmatiker ist notwendig auch Materialist. Nur aus dem Postulate
der Freiheit und Selbständigkeit des Ich, könnte er widerlegt werden;
aber gerade das ist es, was er leugnet.
Ebensowenig kann der Dogmatiker den Idealisten widerlegen. is
Das Prinzip desselben, das Ding an sich, ist nichts und hat, wie der
Verteidiger desselben selbst zugeben muß, keine Realität, außer diejenige,
die es dadurch erhalten soll, daß nur aus ihm die Erfahrung sich er-
klären lasse. Diesen Beweis vernichtet der IdeaHst dadurch, daß er
die Erfahrung auf andere Weise erklärt, also gerade dasjenige, worauf 20
der Dogmatismus baut, ableugnet. Das Ding an sich wird zur völUgen
Schimäre ; es zeigt sich gar kein Grund mehr, warum man eins annehmen
sollte; und mit ihm fällt das ganze dogmatische Gebäude zusammen.
Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich die absolute Unverträg-
lichkeit beider Systeme, indem das, was aus dem einen folgt, die Folge- 25
rungen aus dem zweiten aufhebt; sonach die notwendige Inkonsequenz
ihrer Vermischung zu einem. Allenthalben, wo so etwas versucht wird,
passen die GUeder nicht aneinander und es entsteht irgendwo eine unge-
heure Lücke. — Die Möglichkeit einer solchen Zusammensetzung, die
einen stetigen Übergang von der Materie zum Geiste, oder umgekehrt, 30
oder, was ganz dasselbe heißt, einen stetigen Übergang von der Not-
wendigkeit zur Freiheit [bedeutet], müßte derjenige nachweisen, der das
soeben Behauptete in Anspruch nehmen wollte.
Da, soviel wir bis jetzt einsehen, in spekulativer Rücksicht beide
Systeme von gleichem Werte zu sein scheinen, beide nicht beisammen 36
stehen, aber auch keines von beiden etwas gegen das andere ausrichten
kann, so ist es eine interessante Frage, was wohl denjenigen, der
dies einsieht — und es ist ja so leicht einzusehen — , bewegen möge,
das eine dem anderen vorzuziehen, und wie es komme, daß nicht der
Skeptizismus, als gänzhche Verzichtleistung auf die Beantwortung des 40
aufgegebenen Problems, allgemein werde.
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. 223
Der Streit zwischen dem Idealisten und Dogmatiker ist eigentlich
der, ob der Selbständigkeit des Ich die Selbständigkeit des Dinges,
oder umgekehrt, der Selbständigkeit des Dinges die des Ich aufgeopfert
werden solle. Was ist es denn nun, das einen vernünftigen Menschen
5 treibt, sich vorzüglich für das eine von beiden zu erklären?
Der Philosoph findet auf dem angegebenen Gesichtspunkte, in
welchen er sich notwendig stellen muß, wenn er für einen Philosophen
gelten soll, und in welchen beim Fortgange des Denkens der Mensch
auch ohne sein wissenthches Zutun über kurz oder lang zu stehen
10 kommt, nichts weiter, als daß er sich vorstellen müsse, er
sei frei und es seien außer ihm bestimmte Dinge. Bei diesem Gedanken
ist es dem Menschen unmöghch stehen zu bleiben; der Gedanke der
bloßen Vorstellung ist nur ein halber Gedanke, ein abgebrochenes
Stück eines Gedankens; es muß etwas hinzugedacht werden, das ihm
15 unabhängig vom Vorstellen entspreche. Mit anderen Worten: die Vor-
stellung kann für sich allein nicht bestehen, sie ist nur mit einem anderen
verbunden etwas, und für sich nichts. Diese Notwendigkeit des Denkens
ist es eben, die von jenem Gesichtspunkte aus zu der Frage treibt:
welches ist der Grund der Vorstellungen, oder, was ganz dasselbe heißt,
20 welches ist das ihnen Entsprechende?
Nun kann allerdings die Vorstellung von der Selbständigkeit des
Ich und der des Dinges, nicht aber die Selbständigkeit beider selbst,
beieinander bestehen. Nur eines kann das erste. Anfangende, Unab-
hängige sein: das, welches das zweite ist, wird notwendig dadurch,
25 daß es das zweite ist, abhängig von dem ersten, mit welchem es verbunden
werden soll.
Welches von beiden soll nun zum ersten gemacht werden? Es ist
kein Entscheidungsgrund aus der Vernunft möghch; denn es ist nicht
von Anknüpfung eines Gliedes in der Reihe, wohin allein Vernunftgründe
30 reichen, sondern von dem Anfange der ganzen Reihe die Rede, welches,
als ein absolut erster Akt, ledighch von der Freiheit des Denkens ab-
hängt. Er wird daher durch Willkür und, da der Entschluß der Will-
kür doch einen Grund haben soll, durch Neigung und Inter-
esse bestimmt. Der letzte Grund der Verschiedenheit des Ideahsten
35 und Dogmatikers ist sonach die Verschiedenheit ihres Interesses.
Das höchste Interesse und der Grund alles übrigen Interesses ist
das für uns selbst. So bei dem Philosophen. Sein Selbst im
Räsonnement nicht zu verlieren, sondern es zu erhalten und zu behaup-
ten, dies ist das Interesse, welches unsichtbar alles sein Denken leitet.
40 Nun gibt es zwei Stufen der Menschheit; und im Fortgange unseres
Geschlechts, ehe die letztere allgemein erstiegen ist, zwei Hauptgattungen
224 Fichte.
von Menschen. Einige, die sich noch nicht zum vollen Gefühl ihrer
Freiheit und absoluten Selbständigkeit erhoben haben, finden sich selbst
nur im Vorstellen der Dinge, sie haben nur jenes zerstreute, auf den
Objekten haftende und aus ihrer Mannigfaltigkeit zusammenzulesende
Selbstbewußtsein. Ihr Bild wird ihnen nur durch die Dinge, wie durch s
einen Spiegel zugeworfen; werden ihnen diese entrissen, so geht ihr
Selbst zugleich mit verloren; sie können um ihrer selbst willen den
Glauben an die Selbständigkeit derselben nicht aufgeben: denn sie
selbst bestehen nur mit jenem. Alles, was sie sind, sind sie wirklich durch
die Außenwelt geworden. Wer in der Tat nur ein Produkt der Dinge ist, lo
wird sich auch nie anders erbhcken, und er wird recht haben, solange er
lediglich von sich und seinesgleichen redet. Das Prinzip der Dogmatiker
ist Glaube an die Dinge, um ihrer selbst willen : also mittelbarer Glaube
an ihr eigenes zerstreutes und nur durch die Objekte getragenes Selbst.
Wer aber seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, i^
was außer ihm ist, sich bewußt wird — und man wird dies nur dadurch,
daß man sich, unabhängig von allem, durch sich selbst zu etwas macht — ,
der bedarf der Dinge nicht zur Stütze seines Selbst, und kann sie nicht
brauchen, weil sie jene Selbständigkeit aufheben und in leeren Schein
verwandeln. Das Ich, das er besitzt, und welches ihn interessiert, hebt 20
jenen Glauben an die Dinge auf; er glaubt an seine Selbständigkeit aus
Neigung, ergreift sie mit Affekt. Sein Glaube an sich selbst ist unmittelbar.
Aus diesem Interesse lassen sich auch die Afiekte erklären, die sich
in die Verteidigung der philosophischen Systeme gewöhnlich einmischen.
Der Dogmatiker kommt durch den Angriff seines Systems wirklich 25
in Gefahr sich selbst zu verlieren; doch ist er gegen diesen Angriff nicht
gewaffnet, weil in seinem Innern selbst etwas ist, das es mit dem An-
greifer hält; er verteidigt sich daher mit Hitze und Erbitterung. Der
Ideahst im Gegenteil kann sich nicht wohl enthalten, mit einer Nicht-
achtung auf den Dogmatiker herabzublicken, der ihm nichts sagen kann, so
als was der erstere schon längst gewußt und als irrig abgelegt hat, indem
man, wenn auch nicht durch den Dogmatismus selbst, doch zum wenig-
sten durch die Stimmung dazu zu dem Idealismus hindurchgeht. Der
Dogmatiker ereifert sich, verdreht und würde verfolgen, wenn er die
Macht dazu hätte : der Ideahst ist kalt und in Gefahr, des Dogmatikers 35
zu spotten.
Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was
man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein
toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns be-
liebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. 40
Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten
Erläuterungen. 225
Luxus und Eitelkait erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich
nie zum Idealismus erheben.
Man kann dem Dogmatiker die UnzulängUchkeit und Inkonsequenz
seines Systems zeigen, man kann ihn verwirren und ängstigen von allen
5 Seiten; aber man kann ihn nicht überzeugen, weil er nicht ruhig und
kalt zu hören und zu prüfen vermag, was er schlechthin nicht ertragen
kann. Zum Philosophen — vrenn der Ideahsmus sich als die einzig
wahre Philosophie bewähren sollte — zum Philosophen muß man ge-
boren sein, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu erziehen: aber
10 man kann durch keine menschliche Kunst dazu gemacht werden. Darum
verspricht auch diese Wissenschaft sich unter den schon gemach-
ten Männern wenige Proselyten ; darf sie überhaupt hoffen, so hofft
sie mehr von der jungen Welt, deren angeborene Kraft noch nicht in
der Schlaffheit des Zeitalters zu Grunde gegangen ist.
Johann Gottlieb Fichte (1762 — 1814) geht von der Kantischen Philo-
sophie aus, er fühlt sich als ihr Vollender, sein System enthält dieselbe Ansicht,
aber ein anderes Verfahren , diese darzustellen. F. will , wie vor ihm
Reinhold, das Kantische System an zwei Punkten ergänzen: einmal sucht
er ein höheres Prinzip zu finden für die bei K. getrennt und unabgeleitet neben-
einander auftretenden Erkenntnisvermögen (vergleiche Anmerkung zu 218 9),
anderseits behauptet er die Unmöglichkeit der Lehre vom Ding an sich (ver-
gleiche 220 21 ). Das Ding an sich ist nur ein Gedanke im Ich. Durch diese
Wendung muß natürlich das „Ich" eine andere Bedeutung erhalten. Es kann
damit nicht das Individuum gemeint sein, da sonst die widersinnige Meinung
entsteht, der einzelne Mensch produziere die ganze Wirklichkeit, die dann
mit ihm entstehen und vergehen müßte. Deshalb unterscheidet F. Ichheit,
Geistigkeit von Individuum, Person. Jenes Ich haben wir uns als den ver-
nünftigen Urgrund alles Seins zu denken, der in den einzelnen Individuen
in die Erscheinung tritt. Man begreift das Fichtesche System als eine Ver-
bindung von Kants Transzendentalphilosophie und Spinozas Pantheismus.
Das Hauptwerk F.s, die „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre"
erschien im Jahre 179-1. Unter dem Titel „Erste Einleitung in die Wissen-
schaftslehre'' 1797 und „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre" 1797
schrieb F. Erläuterungsschriften, welche die AngTiffe der Gegner widerlegen
und die Grundgedanken seines Systems klar darstellen sollten. Das Stück,
welches wir mitteilen, ist der ersten Einleitung entnommen und darf als ein
Meisterwerk von Klarheit und Schärfe des Denkens gelten. Es zeigt ferner,
wie alle Philosophie schließlich wurzelt in der Persönlichkeit ihres Urhebers.
Dieser tritt uns hier als eine willensstarke, im Handeln, in Tätigkeit sich
auslebende Natur entgegen. Neben der theoretischen Vollendung der Kanti-
schen Philosophie ist F. auch Vollender der Lehre Kants von der Freiheit.
Der Ideahsmus entwickelt in ihm in viel stärkerem Grade als bei Kant seine
Gefühlswerte und setzt sich in Tat um, die das Leben beeinflussen will. So
Dessoir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 15
226 Fichte.
ist denn F. in das praktische Leben eingetreten und hat besonders in seinen
„Reden an die deutsche Nation" 1808 vorbildlich in nationalem Sinne gewirkt.
F.s sämtliche Werke sind in den Jahren 1845 — 1846 in acht Bänden, seine
nachgelassenen Schriften 1834 — 1835 in drei Bänden erschienen. Zur Ein-
führung in seine Philosophie sei auf die oben erwähnten „Einleitungen" hin-
gewiesen. Seine Persönlichkeit lernt der Leser am besten aus den „Reden"
und der Schrift: „Über das Wesen des Gelehrten" 1806 kennen. Beide Werke
sind in der Universalbibliothek von Reclam erschienen. Darstellungen der
Philosophie Fichtes findet der Leser in den mehrfach zitierten Geschichten
der Philosophie. Vergleiche auch Anmerkung zu 218 9.
217 6. Die Verwandtschaft dieser Fragestellung mit der Kantischen ist
deutlich.
21723/24. Dieser Nachweis wäre wohl nicht so leicht zu führen, wie der Leser
aus der Vergleichung der verschiedenen Lesestücke selbst ersehen kann.
217 32. Mit dem Worte „ Wissen schaftslehre" soll der Gedanke ausge-
drückt werden, daß es eine Lehre gibt, welche sich mit dem, was allen einzelnen
Wissenschaften gemeinsam ist, beschäftigt. Dies Gemeinsame können wir
finden in der Tatsache, daß ihnen allen das Erkennen zu Grunde liegt. Es
würde nun die Aufgabe sein zu bestimmen: Gegenstand, Mittel, Umfang
und Grenzen des Erkennens. Diese Lehre wird jetzt gewöhnlich Erkenntnis-
theorie genannt.
218 9. F. wendet sich hier gegen K. L. Reinhold und die von ihm beein-
flußten Lehren von S. Maimon und Sigismund Beck. Reinhold nimmt als
Grundlage für die Möglichkeit der Erfahrung die Tatsache des Bewußtseins.
Er geht über Kant hinaus in dem Sinne, daß er für die drei Erkenntnisver-
mögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft) ein höheres Prinzip sucht, aus welchem
sie abgeleitet werden können. Dies findet er in der Tatsache des Bewußtseins,
welche er in dem Satz ausdrückt: „Die Vorstellung wird im Bewußtsein vom.
Vorgestellten und Vorstellenden unterschieden und auf beide bezogen." Den
Ton müssen wir auf die Worte „auf beide" legen. Damit ist gesagt, daß die
Philosophie nicht von einem letzten Einfachen (Subjekt oder Objekt) aus-
gehen kann, sondern bei einer unzertrennlichen Verbindung beider (Subjekt
und Objekt) halt machen muß. F. stimmt dieser Ansicht zu, jedoch nur für
die Erfahrung (vergleiche 218 32); die Philosophie vermag aber noch den Grund
derselben anzugeben. Dieser kann indessen keine Tatsache sein, deim eine
solche wäre immer gegeben, das heißt, Tatsache für ein Bewußtsein,
sondern er ist eine Tat handlung, welche diese Beziehung in sich ent-
hält. Deshalb heißt der absolut erste, schlechthin unbedingte Grundsatz alles
menschlichen Wissens: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes
Sein." Er enthält in sich den anderen: „Dem Ich wird schlechthin entgegen-
gesetzt ein Nichtich." So ist die verlangte Beziehung erklärt. Vergleiche
Kuno Fischer, Fichtes Leben und Lehre, Gesch. d. n. Phil., Jubiläumsaus-
gabe 1900, Bd. VI, und W. Kabitz, Studien zur Entwicklungsgeschichte der
Fichteschen Wissenschaftslehre, Berlin 1902.
218 28. Man beachte, wie hier F. das Abstraktionsverfahren bestimmt.
Erläuterungen. 227
Es wird häufig als ein einfaches Fortlassen der besonderen Merkmale und ein
Zurückbehalten der allgemeinen bezeichnet. Ein solches Fortlassen genügt
aber nicht, es muß ein Prinzip hinzutreten, nach welchem es geschieht. Wir
haben zum Beispiel einzelne Körper mit vielen Eigenschaften und abstrahieren
nach dem Merkmal Farbe.
218 40. F. versteht also unter Dogmatismus etwas anderes als Kant (ver-
gleiche Anmerkung zu 182 28). Wir würden den Gegensatz heute so fassen:
Idealismus — Realismus (Materialismus).
219 10/12. Man beachte den Gegensatz: „durch Abstraktion Hervorgebrachtes"
— „im Bewußtsein wirklich vorkommen". Die Verwandtschaft mit Berke-
leys Fragestellung ist wohl deutlich.
219 38 ff. Wir drücken diese Überlegung einfacher aus, wenn wir sagen,
daß unser Ich für uns das letzte ist, wozu wir gelangen, wenn wir alle Inhalte
des Bewußtseins, über welche ^^'ir verfügen können, uns fortdenken. Das
Ich selbst können wir aber nicht fortdenken. Hier endigt unsere Freiheit,
das Ich ist mit unserer Existenz unlösbar verknüpft, diese ist ohne das Ich
undenkbar. Man beachte vor allem den Gegensatz: Dasein — Beschaffen-
heit des Ich.
220 22. F. beruft sich hier auf die unbezweifelte Tatsache, daß wir von
der Außenwelt nur insofern etwas erfahren, als wir Empfindungen u. s. w.
haben, die wir auf etwas außer uns Befindliches beziehen. Die ReaUtät der
Außenwelt ist uns also niemals unmittelbar, sondern immer nur vermittelt
durch die Tatsachen des Bewußtseins gegeben. Wir können von der Realität
der letzteren, aber nur von dem Glauben an die Realität der Außenwelt sprechen.
Vergleiche W. Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres
Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. Sitzungsberichte
der Königl. Preuß. Ak. d. Wiss. 1890.
222 24. Zu dieser Folgerung kommt F. entsprechend der oben 218 40 f.
ausgesprochenen Behauptung, daß z\^ischen Idealismus und Dogmatismus
kein System, das auf Konsequenz Anspruch macht, möglich sei. Ein solcher
— nach F. inkonsequenter — Vermittlungsversuch ist die Philosophie Kants,
insbesondere seine Lehre von der Freiheit mit der Unterscheidung, daß der
Mensch als zur Erscheinungswelt gehörig in seinem Handeln bedingt, als
GHed der intelligiblen Welt aber frei sei (vergleiche Anmerkung zu 205 is).
222 34. „in spekulativer Rücksicht'' vergleiche 223 28.
M e n z e r.
XVII.
Hegel.
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie.
a)Die Geschichte der Philosophie als Vorrat
von Meinungen.
Geschichte schließt [nämlich] beim ersten Anschein sogleich dies
ein, daß sie zufälhge Ereignisse der Zeiten, der Völker und Individuen
zu erzählen habe — zufällig teils ihrer Zeitfolge nach, teils aber ihrem 5
Inhalte nach. Von der Zufälligkeit in Ansehung der Zeitfolge ist nach-
her zu sprechen. Den Begriff, mit dem wir es zuerst zu tun haben
wollen, geht die Zufälhgkeit des Inhalts an — zufällige Handlungen.
Der Inhalt aber, den die Philosophie hat, sind nicht Handlungen und
äußerhche Begebenheiten der Leidenschaften und des Glücks — sondern lo
es sind Gedanken. Zufällige Gedanken aber sind nichts anderes als
Meinungen, und philosophische Meinungen heißen Meinungen über den
näher bestimmten Inhalt und die eigentümhcheren Gegenstände der
Philosophie — über Gott, die Natur, den Geist.
Somit stoßen wir denn sogleich auf die sehr gewöhnliche Ansicht 15
von der Geschichte der Philosophie, daß sie nämlich den Vorrat von
philosophischen Meinungen herzuerzählen habe, wie sie sich in der Zeit
ergeben und dargestellt haben. Wenn glimpflich gesprochen wird, so
heißt man diesen Stoff Meinungen; die es mit gründlicherem Urteile
ausdrücken zu können glauben, nennen diese Geschichte eine Galerie 20
der Narrheiten sogar, oder wenigstens der Verirrungen des sich ins
Denken und in die bloßen Begriffe vertiefenden Menschen. Man kann
solche Ansicht nicht nur von solchen hören, die ihre Unwissenheit in
Philosophie bekennen (sie bekennen sie, denn diese Unwissenheit soll
nach der gemeinen Vorstellung nicht hinderlich sein, ein Urteil darüber 25
zu fällen, was an der Philosophie sei; im Gegenteil hält sich jeder für
sicher, über ihren Wert und Wesen doch urteilen zu können, ohne etwas
von ihr zu verstehen); sondern auch von solchen, welche selbst Ge-
schichte der Philosophie schreiben und geschrieben haben. Diese
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie. 229
Geschichte, so als eine Hererzählung von vielerlei Meinungen, wird auf
diese Weise eine Sache einer müßigen Neugierde, oder, wenn man will,
ein Interesse der Gelehrsamkeit. Denn die Gelehrsamkeit besteht
vorzüghch darin, eine Menge unnützer Sachen zu wissen, das heißt solche,
5 die sonst keinen Gehalt und kein Interesse in ihnen selbst haben als dies,
daß man eben die Kenntnis derselben habe.
Jedoch meint man zugleich einen Nutzen davon zu haben, auch
verschiedene Meinungen und Gedanken anderer kennen zu lernen: es
bewege die Denkkraft, führe auch auf manchen guten Gedanken, das
10 ist es veranlasse etwa auch wieder , eine Meinung zu haben , und die
Wissenschaft bestehe darin, daß sich so Meinungen aus Meinungen
fortspinnen.
Wenn die Geschichte der Philosophie nur eine Galerie von Meinungen
— obzwar über Gott, über das Wesen der natürlichen und geistigen
15 Dinge — aufstellte: so würde sie eine sehr überflüssige und langweilige
Wissenschaft sein, man möchte auch noch so viele Nutzen, die man von
solcher Gedankenbewegung und Gelehrsamkeit ziehen solle, herbei-
bringen. Was kann unnützer sein als eine Keihe bloßer Meinungen
kennen zu lernen? was gleichgültiger? Schriftstellerische Werke, welche
20 Geschichten der Philosophie in dem Sinne sind, daß sie die Ideen der
Philosophie in der Weise von Meinungen aufführen und behandeln,
braucht man nur leicht anzusehen, um zu finden, wie dürr und ohne
Interesse das alles ist.
Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Ge-
26 danke, eine Einbildung, die ich so oder so, und ein anderer anders haben
kann : eine Meinung ist m e i n , sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an
und für sich seiender Gedanke. Die Philosophie aber enthält keine
Meinungen; denn es gibt keine philosophischen Meinungen. Man hört
einem Menschen, und wenn es auch selbst ein Geschichtschreiber der
30 Philosophie wäre, sogleich den Mangel der ersten Bildung an, wenn er von
philosophischen Meinungen spricht. Die Philosophie ist objektive
Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, be-
greifendes Erkennen, kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinungeil.
Die weitere eigenthche Bedeutung von solcher Vorstellung ist dann.
So daß es nur Meinungen sind, von denen wir Kenntnis erhalten ; wobei
auf Meinung der Akzent gelegt wird. Das, was der Meinung gegen-
übersteht, ist nun die Wahrheit; Wahrheit ist es, vor der die Meinung
erbleicht. Wahrheit aber ist auch das Wort, bei dem die den Kopf
abwenden, welche nur Meinungen in der Geschichte der Philosophie
40 suchen, oder überhaupt meinen, es seien nur solche in ihr zu finden.
Es ist ein Antagonismus von zweierlei Seiten, welchen die Philosophie
10
230 Hegel.
hier erfährt. Einerseits erklärte die Frömmigkeit bekanntlich die Ver-
nunft oder das Denken für unfähig, das Wahre zu erkennen : im Gegenteil
führe die Vernunft nur auf den Abgrund des Zweifels, und auf Selbst-
denken müsse Verzicht getan und die Vernunft unter den blinden Autori-
tätsglauben gefangen genommen werden, um zur Wahrheit zu gelangen.
Vom Verhältnis der Eeligion zur Philosophie und ihrer Geschichte
werden wir nachher reden. Dagegen ist es anderseits ebenso bekannt,
daß die sogenannte Vernunft sich geltend gemacht, den Glauben aus
Autorität verworfen hat und das Christentum vernünftig machen wollte :
so daß durchaus nur die eigene Einsicht, die eigene Überzeugung ver-
pflichtend für mich sei, etwas anzuerkennen. Aber wunderbarerweise
ist auch diese Behauptung des Rechts der Vernunft dahin umgeschlagen,
dies zum Resultat zu haben, daß die Vernunft nichts Wahres erkennen
könne. Diese sogenannte Vernunft bekämpfte einerseits den religiösen
Glauben im Namen und kraft der denkenden Vernunft, und zugleich i5
ist sie ebenso gegen die Vernunft gekehrt und Feindin der wahren Ver-
nunft; sie behauptet gegen diese die innere Ahnung, das Gefühl, und
macht so das Subjektive zum Maßstabe des Geltenden, nämlich eine
eigene Überzeugung, wie jeder sie sich in seiner Subjektivität aus und in
sich selber mache. Solche eigene Überzeugung ist nichts anderes als die 20
Meinung, welche dadurch zum letzten für die Menschen geworden ist.
Eigene Überzeugung ist allerdings das letzte und absolut Wesentliche,
was die Vernunft und ihre Philosophie, nach der Seite der Subjektivität,
zur Erkenntnis fordert. Aber es ist ein Unterschied, ob die Überzeugung
auf Gefühlen, Ahnungen, Anschauungen u. s. w., auf subjektiven Gründen, 25
überhaupt auf der Besonderheit des Subjekts beruht — oder ob auf dem
Gedanken, und sie aus der Einsicht in den Begriff und die Natur der
Sache hervorgeht. Auf jene erstere Weise ist die Überzeugung nun
die Meinung.
Den Gegensatz zwischen Meinung und Wahrheit, der sich jetzt 30
scharf herausstellt, erbhcken wir auch schon in der Bildung der So-
kratisch-Platonischen Zeit, einer Zeit des Verderbens des griechischen
Lebens, als den Platonischen Gegensatz von Meinung (oö^a) und Wissen-
schaft (sTüLO'CYJjj.Yj). Es ist derselbe Gegensatz, den wir in der Zeit des
Untergangs des römischen öffentlichen und pohtischen Lebens unter 35
Augustus und in der Folge sehen, wo Epikureismus und Gleichgültigkeit
gegen die Philosophie sich breit machten; in welchem Sinne Pilatus,
als Christus sagte: „Ich bin gekommen in die Welt, die Wahrheit zu
verkünden", erwiderte: „Was ist Wahrheit?" Das ist vornehm ge-
sprochen und heißt so viel: „Diese Bestimmung Wahrheit ist ein Ab- 40
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie. 231
gemachtes, mit dem wir fertig sind ; wir sind weiter, wir wissen : Wahrheit
zu erkennen — davon kann nicht mehr die Rede sein; wir sind darüber
hinaus." Wer dies aufstellt, ist in der Tat darüber hinaus. Wenn
man bei der Geschichte der Philosophie von diesem Standpunkt aus-
5 geht, so wäre dies ihre ganze Bedeutung, nur Partikularitäten anderer,
deren jeder eine andere hat, kennen zu lernen: Eigentümlichkeiten, die
mir also ein Fremdes sind, und wobei meine denkende Vernunft nicht
frei, nicht dabei ist, die mir nur ein äußerer, toter, historischer Stoff sind,
eine Masse in sich selbst eitlen Inhalts; und sich so in Eitlem befriedigen,
10 ist selbst nur subjektive Eitelkeit.
Dem unbefangenen Menschen wird die Wahrheit immer ein großes
Wort bleiben und das Herz schlagen lassen. Was nun die Behauptung
betrifft, daß man die Wahrheit nicht erkennen könne, so kommt sie in
der Geschichte der Philosophie selbst vor, wo wir sie denn auch näher
15 betrachten werden. Hier ist nur zu erwähnen, daß, wenn man diese
Voraussetzung gelten läßt, Tvde zum Beispiel Tennemann, es nicht zu
begreifen ist, warum man sich um die Philosophie noch bekümmert;
denn jede Meinung behauptet dann fälschlich, die Wahrheit zu haben.
Ich berufe mich hierbei vorläufig auf das alte Vorurteil, daß im Wissen
20 Wahrheit sei, daß man aber vom Wahren nur insofern wisse als man
nachdenke, nicht so wie man gehe und stehe: daß die Wahrheit nicht
erkannt werde im unmittelbaren Wahrnehmen und Anschauen, weder
in der äußerlich sinnlichen noch in der intellektuellen Anschauung
(denn jede Anschauung ist als Anschauung sinnlich), sondern nur durch
25 die Mühle des Denkens.
b) Erweis der Nichtigkeit der philosophischen
Erkenntnis durch die Geschichte der Philosophie
selbst.
Nach einer anderen Seite hin hängt aber mit jener Vorstellung von
30 der Geschichte der Philosophie eine andere Folge zusammen, die man,
wie man will, für einen Schaden oder Nutzen ansehen kann. Nämlich
beim AnbHck von so mannigfaltigen Meinungen, von so vielerlei philo-
sophischen Systemen gerät man in das Gedränge, zu welchem man sich
halten solle. Man sieht, über die großen Materien, zu denen sich der
35 Mensch hingezogen fühlt, und deren Erkenntnis die Philosophie gewähren
wolle, haben sich die größten Geister geirrt, weil sie von anderen wider-
legt worden sind. „Da dieses so großen Geistern widerfahren ist, wie
kann ego homuncio da entscheiden wollen? " Diese Folge, die aus der
Verschiedenheit der philosophischen Systeme gezogen wird, ist, wie man
40 meint, der Schaden in der Sache, zugleich aber ist sie auch ein subjek-
tiver Nutzen. Denn diese Verschiedenheit ist die gewöhnliche Ausrede
232 Hegel.
— für die, welche mit Kennermiene sich das Ansehen geben wollen, sie
interessieren sich für die Philosophie — dafür, daß sie bei diesem angeb-
lichen guten Willen, ja bei zugegebener Notwendigkeit der Bemühung
um diese Wissenschaft, doch in der Tat sie gänzUch vernachlässigen.
Aber diese Verschiedenheit der philosophischen Systeme ist weit ent- &
fernt, sich für eine bloße Ausrede zu nehmen. Sie gilt vielmehr für einen
ernsthaften, wahrhaften Grund gegen den Ernst, den das Philosophieren
aus seiner Beschäftigung macht, als eine Rechtfertigung, sich nicht mit
ihr zu befassen, und als eine selbst unwiderlegbare Instanz über die
Vergeblichkeit des Versuchs, die philosophische Erkenntnis der Wahrheit lo
erreichen zu wollen. Wenn aber auch zugegeben wird, .,die Philosophie
solle eine wirkliche Wissenschaft sein, und eine Philosophie werde wohl
die wahre sein: so entstehe die Frage, aber welche? Woran soll man sie
erkennen? Jede versichere, sie sei die wahre: jede selbst gebe andere
Zeichen und Kriterien an, woran man die Wahrheit erkennen solle; ein i5
nüchternes, besonnenes Denken müsse daher Anstand nehmen sich zu
entscheiden ".
Dies ist das weitere Interesse, welches die Geschichte der Philosophie
leisten soll. Cicero (De natura deorum, I, 8 fi.) gibt eine in solcher Ab-
sicht verfaßte, höchst schludrige Geschichte der philosophischen Gedanken 20
über Gott. Er legt sie einem Epikureer in den Mund, wußte aber nichts
besseres darauf zu sagen; es ist also seine Ansicht. Der Epikureer sagt,
man sei zu keinem bestimmten Begriff gekommen. Der Erweis, daß das
Bestreben der Philosophie nichtig sei, wird sogleich aus der allgemeinen
oberflächhchen Ansicht der Geschichte der Philosophie geführt: der Er- 25
folg der Geschichte zeige sich als eine Entstehung der mannigfaltigsten
Gedanken der vielfachen Philosophien, die einander entgegengesetzt
sind, sich widersprechen und widerlegen. Dies Faktum, welches nicht
zu leugnen ist, scheint die Berechtigung, ja die Aufforderung zu enthalten,
die Worte Christi auch auf die Philosophien anzuwenden und zu sagen: 30
„ Laßt die Toten ihre Toten begraben, und folge mir nach. " Das Ganze
der Geschichte der Philosophie wäre hienach ein Schlachtfeld, nur be-
deckt mit den Gebeinen der Toten — ein Reich nicht nur verstorbener,
leiblich vergangener Individuen, sondern widerlegter, geistig vergangener
Systeme, deren jedes das andere tot gemacht, begraben hat. Statt 35
„Folge mir nach" müßte es freilich in diesem Sinne vielmehr heißen:
„Folge dir selbst nach", das heißt halte dich an deine eigene Über-
zeugung, bleibe bei deiner eigenen Meinung stehen. Warum bei einer
fremden?
Es geschieht freilich, daß eine neue Philosophie auftritt, welche be- 40
hauptet, daß die anderen nichts gelten; und zwar tritt jede Philosophie
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie. 233
mit der Prätention auf, daß durch sie die vorhergehenden Philosophien
nicht nur \\iderlegt, sondern ihrem Mangel abgeholfen und das Eechte
gefunden sei. Aber der früheren Erfahrung gemäß zeigt sich vielmehr,
daß auf solche Philosophie gleichfalls andere Worte der Schrift anwendbar
5 sind, die der Apostel Petrus zu Ananias spricht: ,, Siehe, die Füße derer,
die dich hinaustragen werden, stehen schon vor der Tür." Siehe, die
Philosophie, wodurch die deinige widerlegt und verdrängt werden w4rd,
wird nicht lange ausbleiben, so wenig als sie bei jeder anderen ausge-
bheben ist.
10 c) Erklärungen über die Verschiedenheit der
Philosophien.
Es ist allerdings eine genug gegründete Tatsache, daß es verschiedene
Philosophien gibt und gegeben hat ; die Wahrheit aber ist e i n e , dieses
unüberwindliche Gefühl oder Glauben hat der Instinkt der Vernunft.
15 „Also kann auch nur eine Philosophie die wahre sein, und weil sie so
verschieden sind , so müssen " — schheßt man — ,, die übrigen nur
Irrtümer sein; aber jene Eine zu sein, versichert, begründet, beweist
eine jede von sich." Dies ist ein gewöhnliches Räsonement und eine
richtig scheinende Einsicht des nüchternen Denkens. Was nun die
20 Nüchternheit des Denkens, dieses Schlagwort, betrifft : so wissen wir von
der Nüchternheit aus der täglichen Erfahrung, daß, wenn wir nüchtern
sind, wir uns zugleich damit oder gleich darauf hungrig fühlen. Jenes
nüchterne Denken aber hat das Talent und Geschick, aus seiner Nüchtern-
heit nicht zum Hunger, zum Verlangen überzugehen, sondern in sich
25 satt zu sein und zu bleiben. Damit verrät sich dieses Denken, das jene
tote Sprache spricht, daß es toter Verstand ist; denn nur das Tote ist
nüchtern und ist und bleibt dabei zugleich satt. Die physische Lebendig-
keit aber, wie die Lebendigkeit des Geistes, bleibt in der Nüchternheit
nicht befriedigt, sondern ist Trieb, geht über in den Hunger und Durst
30 nach Wahrheit, nach Erkenntnis derselben, dringt nach Befriedigung
dieses Triebes und läßt sich nicht mit solchen Reflexionen, wie jene ist,
abspeisen und ersättigen.
Was aber näheres über diese Reflexion zu sagen ist, wäre zunächst
schon dies, daß so verschieden die Philosophien wären, sie doch dies
35 Gemeinschaftliche hätten, Philosophie zu sein. Wer also irgend eine
Philosophie studierte oder inne hätte, wenn es anders eine Philosophie
ist, hätte damit doch Philosophie inne. Jenes Ausreden und Räsonement,
das sich an die bloße Verschiedenheit festhält, und aus Ekel oder Bangig-
keit vor der Besonderheit, in der ein Allgemeines wirklich ist, nicht diese
40 Allgemeinheit ergreifen oder anerkennen will, habe ich anderswo mit
einem Kranken verglichen, dem der Arzt Obst zu essen anrät und dem
234 Hegel.
man Kirschen oder Pflaumen oder Trauben vorsetzt, der aber in einer
Pedanterie des Verstandes nicht zugreift, weil keine dieser Früchte
Obst sei, sondern die eine Kirschen, die andere Pflaumen oder Trauben.
Aber es kommt wesentlich darauf an, noch eine tiefere Einsicht
darein zu haben, was es mit dieser Verschiedenheit der philosophischen 5
Systeme für eine Bewandtnis habe. Die philosophische Erkenntnis
dessen, was Wahrheit und Philosophie ist, läßt diese Verschiedenheit
selbst als solche noch in einem ganz anderen Sinne erkennen als nach dem
abstrakten Gegensatz von Wahrheit und Irrtum. Die Erläuterung
hierüber wird uns die Bedeutung der ganzen Geschichte der Philosophie lo
aufschheßen. Wir müssen dies begreifhch machen, daß diese Mannig-
faltigkeit der vielen Philosophien nicht nur der Philosophie selbst —
der Möglichkeit der Philosophie — keinen Eintrag tut : sondern daß solche
Mannigfaltigkeit zur Existenz der Wissenschaft der Philosophie schlechter-
dings notwendig ist und gewesen ist, daß sie ihr wesentlich ist. i5
Bei dieser Betrachtung gehen wir freiHch davon aus, daß die Philo-
sophie das Ziel habe, die Wahrheit denkend, begreifend zu erfassen, nicht,
dies zu erkennen, daß nichts zu erkennen sei, sondern nur eine zeit-
liche, endliche Wahrheit (das heißt eine Wahrheit, die zugleich auch ein
Nichtwahres ist): ferner, daß wir es in der Geschichte der Philosophie 20
mit der Philosophie selbst zu tun haben. Die Taten der Geschichte
der Philosophie sind keine Abenteuer, so wenig als die Weltgeschichte
nur romantisch ist; sie sind nicht nur eine Sammlung von zufälligen
Begebenheiten, Fahrten irrender Kitter, die sich für sich herumschlagen,
absichtslos abmühen, und deren Wirksamkeit spurlos verschwunden 25
ist. Ebensowenig hat sich hier einer etwas ausgeklügelt, dort ein anderer
nach Willkür; sondern in der Bewegung des denkenden Geistes ist
wesenthch Zusammenhang, und es geht darin vernünftig zu. Mit diesem
Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte und insbesondere
an die Geschichte der Philosophie gehen. so
Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das
ist vernünftig.
In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewußtsein, wie
die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des
geistigen Universums aus als des natürlichen. Wenn die
Reflexion, das Gefühl oder welche Gestalt das subjektive Bewußtsein
habe, die G e g e n w a r t für ein E i 1 1 e s ansieht, über sie hinaus 35
Vom Begriff der Geschichte der Philosophie. 235
ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eitlen, und weil es Wirk-
lichkeit nur in der Gegenwart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit. Wenn
umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung
in einem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht,
ö daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem
Scheine des Zeithchen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent,
und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige,
was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich
in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von
10 Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor, und umzieht seinen
Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust,
welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und
ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen.
Die unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Äußer-
15 lichkeit, durch das Scheinen des W^esens in sie, bilden, dieses unendHche
Material und seine Regulierung, ist nicht Gegenstand der Philosophie.
Sie mischte sich damit in Dinge, die sie nicht angehen ; guten Rat darüber
zu erteilen kann sie sich ersparen; Plato konnte es unterlassen, den
Ammen anzuempfehlen, mit den Kindern nie stillezustehen, sie immer
20 auf den Armen zu schaukeln, ebenso Fichte die Vervollkommnung der
PaßpoHzei bis dahin, wie man es nannte, zu konstruieren, daß
von den Verdächtigen nicht nur das Signalement in den Paß gesetzt,
sondern das Porträt darin gemalt werden solle. In dergleichen Aus-
führungen ist von Philosophie keine Spur mehr zu sehen, und sie kann
25 dergleichen Ultra Weisheit umsomehr lassen, als sie über diese unendHche
Menge von Gegenständen gerade am liberalsten sich zeigen soll. Damit
wird die Wissenschaft auch von dem Hasse, den die Eitelkeit des Besser-
wissens auf eine Menge von Umständen und Institutionen wirft — ein
Haß , in welchem sich die Kleinlichkeit am meisten gefällt , weil sie
30 nur dadurch zu einem Selbstgefühl kommt — , sich am entferntesten
zeigen.
So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft
enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein
in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen.
35 Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen
Staat wie er sein soll konstruieren zu sollen; die Belehrung,
die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu be-
lehren wie er sein soll, sondern vielmehr wie er, das sittliche Universum,
erkannt werden soll.
40 'ISoo Tö5o^, t§o'j y.al tö rrjOYj»i,a.
Hie Bhodus, hie saltus.
10
236 Hegel.
Das, was ist, zu begreifen ist die Aufgabe der Pliilosopliie, denn
das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist
ohnehin jedes ein Sohn seiner Z e i t; so ist auch die Philo-
sophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht
zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt
hinaus als: ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus
hinaus. Geht seine Theorie in der Tat darüber hinaus, baut er sich eine
Welt wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem
Meinen — einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden
läßt.
Mit weniger Veränderung würde jene Redensart lauten:
Hier ist die Rose, hier tanze.
Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Ver-
nunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser
scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel 15
irgend eines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Ver-
nunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit
dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung
mit der Wirklichkeit, v/elche die Philosophie denen gewährt, an die ein-
mal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen, und in dem, 20
was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten, sowie
mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen,
sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen.
Dies ist es auch, was den konkreten Sinn dessen ausmacht, was oben
abstrakter als Einheit der Form und des Inhalts be- 25
zeichnet worden ist, denn die Form in ihrer konkretesten Bedeutung
ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Ver-
nunft als das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen
WirkHchkeit; die bewußte Identität von beidem ist die philosophische
Idee. — Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen 30
Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht
durch den Gedanken gerechtfertigt ist, — und dieser Eigensinn ist das
Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip
des Protestantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis
des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist 35
im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und da-
durch in ihr sich zu finden bestrebt ist. Wie es ein berühmtes Wort
geworden ist, daß eine halbe Philosophie von Gott abführe — und es
ist dieselbe Halbheit, die das Erkennen in eine Annäherung zur
Wahrheit setzt — , die wahre Philosophie aber zu Gott führe, so ist es 40
Erläuterungen. 237
dasselbe mit dem Staate. So wie die Vernunft sich nicht mit der An-
näherung, als welche weder kalt noch warm ist und darum ausgespieen
wird, begnügt, ebensowenig begnügt sie sich mit der kalten Verzweiflung,
die zugibt, daß es in dieser Zeitlichkeit wohl schlecht oder höchstens
5 mittelmäßig zugehe, aber eben in ihr nichts Besseres zu haben und nur
darum Frieden mit der Wirkhchkeit zu halten sei; es ist ein wärmerer
Friede mit ihr, den die Erkenntnis verschafft.
Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort
zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als
10 der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die
Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht
hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte,
daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber
erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in
15 Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Pliilosophie
ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden,
und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen;
die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung
ihren Flug.
Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770 — 1S31) gewaltiges System hat
in den Teilen, die den Geisteswissenschaften ge^^idmet sind, iinvergängUche
Wirkungen geübt. Namentlich auch auf die Fortbildung der Philosophie-
geschichte und der Rechtswissenschaft hat H. großen Einfluß gehabt. Wir
geben daher eine Stelle aus dem Anfang der „Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie" (Sämtliche Werke, Bd. XIII, 2, Auflage 1840) und eine
andere Stelle aus der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts"
(S, W. VIII). Nur das zweite Stück ist von H. selbst (und zwar im Jalu-e 1820)
geschrieben, das erste ist nach mehreren Heften von einem Anhänger H.s
redigiert, zweifellos aber bis in den wörtlichen Ausdruck hinein zuverlässig. —
Wer sich in Hegels Philosophie hineinlesen will, greift immer noch mit Nutzen
zu den Auszügen, die Frantz und Hillert (H.s Philosophie, 1843) und Schasler
(H., 1870, 2. Auflage 1873) aus den Werken veranstaltet haben. Eine Ver-
deutlichung, die bis ins einzelne H.s eigener Darstellung folgt, bietet Kuno
Fischers Geschichte der neueren Philosophie im achten Bande; die großen
Züge sind klar herausgestellt in Windel bands Geschichte der neueren Philo-
sophie.
230 16 f. Während H. bei dem ersten Standpunkt (230 1 ff.) wohl an ältere
Theologen und Philosophen denkt, hat er hier sicher die von ihm mehrfach
bekämpften Philosophen Friedr. Heinr. Jacobi und Fries vor Augen. Über
diese unterrichtet jedes Lehrbuch der Philosophiegeschichte den Leser.
231 14. Der Skeptizismus ist gemeint, der seit dem Altertum alle Phasen der
geschichtlichen Entwicklung begleitet hat.
238 Hegel.
231 IC. W. G. Tennemann, Geschichte der Philosophie , II Bde., 1798
bis 1819.
231 23. Intellektuelle Anschauung ist nach Fichte eine Fähigkeit, die jeder
in sich zu finden vermag, die ihm aber nicht begrifflich erklärt oder bewiesen
werden kann. Sie besteht in dem unmittelbaren Bewußtsein, daß ich handle,
und dessen, was ich handle. Die „Zweite Einleitung in die Wissenschafts-
lehre" sagt darüber: ,.Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß
bewegen, ohne die intellektuelle Anschauung meines Selbstbewußtseins in
diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, daß ich es tue,
nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich von
dem vorgefundenen Objekte des Handelns." Darüber hinaus bedeutet aber
intellektuelles Anschauen noch etwas anderes, nämhch die philosophische
Tätigkeit, das Ich zum Gegenstand des Denkens zu machen. Dadurch er-
kenne ich mich als den selbsttätigen Urheber meiner Vorstellungen, als eine
(von Hume geleugnete) Krafttätigkeit, als schöpferisches Subjekt; dadurch
„entsteht mir das ganz fremdartige Ingrediens der reellen Wirksamkeit meines
Selbst in einem Bewußtsein, das außerdem nur das Bewußtsein einer Folge
meiner Vorstellungen sein würde".
232 31. Ungenau zitiert aus Ev. Luc. 9, 59. Auch das 233 5 gegebene
Zitat aus der Apostelgeschichte 5, ;> ist ungenau.
233 40. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Einleitung § 13.
Verbindende Erörterung.
Was am Schluß des ersten der beiden Lesestücke nur angedeutet ist und
von H. im weiteren Verlauf seiner Vorlesungen ausgeführt wird, muß hier
mitgeteilt werden, um das Verständnis des zweiten Stücks zu erleichtern. —
Die so lebendig geschilderte Verschiedenheit der Systeme erklärt
H. daraus, daß jedes von ihnen ein Spiegelbild des jeweihgen Kulturzustandes
ist: eine Auffassung, die seitdem wissenschaftUches Gemeingut geworden ist
(vergleiche 236 4). Die Gemeinsamkeit der Systeme liegt darin,
daß sie alle Philosophie sind. Keins von ihnen ist völlig unwahr, denn es
enthält ein Moment der weltgeschichtlich sich entwickelnden Wahrheit, wenn
auch auf untergeordneter Stufe. Der Fehler liegt ledighch darin, diese relative
Wahrheit für die absolute zu halten, den Teil für das Ganze zu erklären. Ein
abschließendes System kann nur dasjenige sein, das die sämtlichen vorher-
gehenden Richtungen zu einer höheren Einheit zusammengefaßt in sich ent-
hält. H. glaubt, daß seine Philosophie die zu jener Zeit möghche Vollendung
bedeute, weil sie die gesonderten und sich widersprechenden Anschauungen
der Vergangenheit als Glieder einer Entwicklung in sich aufgenommen hat,
etwa so wie der reife Mann die getrennten und oft gegeneinander gerichteten
Wesensbestimmungen seiner Kinder- und Jünglings jähre in sich bewahrt
(als „aufgehobene Momente"). Erst durch diesen Gedanken der Entwicklung
gelangt die Philosophie über den „abstrakten Gegensatz von Wahrheit und
Irrtum" (234 9) hinaus zur „Lebendigkeit des Geistes" (233 28). Die vielen
geschichtlichen Philosophien sind Entwicklungsstufen in der Entfaltung der
Wahrheit: jede hat an ihrem Platze — aber nur dort — ihr gutes Recht. Es
Erläuterungen. 239
bleibt im Grunde bei dem, was schon Kant gelehrt hat: „Die Systeme scheinen
. . . aus dem bloßen Zusammenfluß von aufgesammelten Begriffen, anfangs
verstümmelt, mit der Zeit vollständig gebildet worden zu sein, ob sie gleich alle
insgesamt ihr Schema, als den ursprünglichen Keim, in der sich bloß auswickeln-
den Vernunft hatten, und darum nicht allein ein jedes für sich nach einer
Idee gegliedert, sondern noch dazu alle untereinander in einem
System menschlicher Erkenntnis wiederum als Glie-
der eines Ganzen zweckmäßig vereinigt sind und eine
Architektonik alles menschlichen Wissens erlauben ..." (Kritik der reinen
Vernunft, Architektonik, in der Ausgabe der Reclamschen Universalbibliothek
S. 630.)
Die ganze geschichtliche Entwicklung der Philosophie ist demnach als ver-
nünftig und zweckvoll zu begreifen. Aus ihrer Betrachtung ergibt sich,
daß ein vernünftiger und notwendiger Gang vorUegt, sofern man nur die Vor-
aussetzung mitbringt, daß in der geistig-geschichtlichen Welt die Vernunft
herrsche. Es handelt sich, meint H., nicht um apriorisches Konstruieren,
sondern es ist das Ergebnis der Forschung, „daß das von der ewigen Weisheit
Bezweckte wie auf dem Boden der Natur, so auf dem Boden des in der Welt
wirkhchen und tätigen Geistes herausgekommen ist" (S. W. IX, 18). „Bei
allem insbesondere, was wissenschaftlich sein soll, darf die Vernunft nicht
schlafen und muß Nachdenken angewandt werden; wer die Welt vernünftig
ansieht, den sieht sie auch vernünftig an: beides ist in Wechselbestimmung"
(IX, 14). „Um in der empirischen Gestalt und Erscheinung, in der die Philo-
sophie geschichthch auftritt, ihren Fortgang als Entwicklung der Idee zu
erkennen, muß man freihch die Erkenntnis der Idee schon mitbringen: so gut
als man zur Beurteilung der menschlichen Handlungen die Begriffe von dem,
was recht und gehörig ist, mitbringen muß. Sonst, wie vdr dies in so vielen
Geschichten der Philosophie sehen, bietet sich dem ideenlosen Auge freilich
nur ein unordentUcher Haufe von Meinungen dar" (XIII, 44). Schließlich
gelangt H. daliin, den Fortgang der geschichtlich gewordenen Systeme als
wesenhaft identisch mit der systematischen Folge der logischen Kategorien,
wie er sie aufgestellt hat, zu erklären. Daß die Systeme von bleibender
Geltung übereinstimmen sollen mit den notwendigen Entwicklungsstufen des
reinen Denkens, ist augenscheinliche Übertreibung eines an sich berechtigten
Gedankens; dagegen kann man H. einräumen, daß die Systeme in vielen
Beziehungen nicht nur aufeinander, sondern auseinander folgen. Der Fort-
gang zum Höheren ist ebenso sicher wie die Beschränkung durch ein Kräfte-
spiel von Handlung und Gegenhandlung. Ferner sprechen mit (als wichtige
Bedingungen für die Gestaltung des Einzelnen) die persönlichen Eigenschaften
der Urheber, und anderseits treten auch niancherlei Irrtümer auf als nicht
einmal relativ berechtigte Elemente. Dies wäre zur Ergänzung und Berichti-
gung hinzuzufügen.
Aus den soeben gegebenen Zitaten läßt sich der Satz, der an der Spitze
des zweiten Stückes steht, schon einigermaßen verstehen. H.s Ab-
sicht geht überall dahin, die zunächst irrationale und bunte Mannigfaltigkeit
240 Hegel.
unserer menschlichen Erfahrungen begreiflich zu machen, das heißt in Begriff
zu verwandeln oder in Vernunft umzusetzen. Das Denken muß dazu im stände
sein; es ist — der ihm richtig gestellten Aufgabe gegenüber — unbeschränkt.
Anderseits muß das Seiende dafür angelegt sein: es ist — seinem Wesen nach —
gleichfalls Vernunft, denn etwas durchaus anderes als Geist wäre für den mensch-
lichen Geist nicht vorhanden. Der Philosoph vermag aus seiner eigenen Ver-
nunft heraus das Wesen der Dinge ebensogut zu erkennen, wie etwa der Che-
miker aus wenigen Wassertropfen die innere Beschaffenheit alles Wassers
der Welt erkennen kann. Und hat der erkennende Geist seine Aufgabe gelöst,
dann hängen alle Gegenstände und Vorgänge in ihm zusammen als Glieder
«ines Denkprozesses, ähnlich so wie alle vorhandenen Kegel, Halbkugeln und
Zylinder als Glieder eines mathematischen Verhältnisses verknüpft waren
im Geist des Archimedes. — Man darf nun aber die Behauptung jenes be-
rühmten Satzes nicht überspannen. Ebensowenig wie alles Gedachte wahr-
haft vernünftig ist, ist alles Bestehende w'ahrhaft wirklich. H. will nicht
etwa die Druckfehler rechtfertigen. Er nennt vielmehr als Beispiele objektiver
Vernunft: die astronomischen Gesetze und den Staat. Was so wahrhaft
vernünftig ist wie der Staat, das muß zur Wirklichkeit werden, und was so
wahrhaft wirklich ist wie der Staat, das beweist eine ihm innewohnende Ver-
nünftigkeit.
23433. „Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen
habe wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst
verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr
gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden
Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr
immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe.
Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente
des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es
die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und
Gewalt gebracht habe, darin behaupte und innewohne." (Rechtsphil. Vorr.
S. 7.)
235 5. Idee = Weltvernunft. Genaueres 236 29.
235 3G. H. zielt auf Piatos Staat, bemerkt jedoch späterhin, daß auch
dieses Idealgebilde „wesentlich nichts aufgefaßt hat als die Natur der griechi-
schen Sittlichkeit".
235 40. Aus einer Fabel Äsops. Meist wird übersetzt: Hie Ehodus, hie
ßalia. Die nachher von H. vorgenommene Veränderung besteht darin, daß
statt ''f\ 'P6oo(; xh ^öoov (die Rose) gesetzt Avird. Weiterhin spielt H. vielleicht
auf die Rosenkreuzer an, deren Zeichen eine Rose (Symbol der Wissenschaft)
am unteren Ende eines Kreuzes (Symbol des Christentums) war. Möglicher-
weise dachte er an Goethes „Geheimnisse". Gemeint ist jedenfalls mit
dem Gleichnis die oben erläuterte Beziehung zwischen Wirklichkeit und Ver-
nunft.
236 lü. Das Abstrakte ist etwas Niederes im Verhältnis zum Konkreten.
Die Entwicklung im logischen wie im philosophiegeschichtlichen Fortschritt
Erläuterungen. 241
erfolgt dadurch, daß von den abstraktesten, leersten, ärmsten Bestimmungen
zu immer konkreteren Begriffen vorgedrungen wird. Das Konkrete ist ein-
fach und doch unterschieden, das heißt in ihm ist Verschiedenes innig zu-
sammen (vergleiche Leibnizens Monadenbegriff: S. 160 die Anmerkung zu
154 35). Auch der Geist ist konkret und seine Bestimmungen sind Freiheit
und Notwendigkeit. Vergleiche 236 21.
236 37. Das Wort stammt von Francis Bacon: Leves gustus in philosophia
movere fortasse ad atheismum, sed pleniores haustus ad religionem reducere {De
augm. scient. I, 5).
237 10. Wie in der verbindenden Erörterung gezeigt wurde, ist jedes philo-
sophische System Erzeugnis und Ausdruck seiner Zeit. Daher kann es erst
dann auftreten, wann diese Zeit vollendet ist. D e s s o i r.
Dessoir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 16
XVIII.
Herbart.
Veränderung als Gegenstand eines Trilemma.
§ 125. Der Begriff der Veränderung liegt so selir in der Mitte
unseres gesamten Vorstellungskreises, und es haben sicli von den
ältesten Zeiten her an denselben so mancherlei philosophische Versuche
angeknüpft, daß es notwendig wird, ihn unter den übrigen metaphysischen
Problemen besonders hervorzuziehen und von ihm aus einen längeren 5
Faden von Untersuchungen fortlaufen zu lassen. Gleich bei der Exposition
dieses Begriffs ist bemerkt worden, daß schon im gemeinen Denken
sich ein Bedürfnis fühlbar mache, zu den Veränderungen, als Wirkungen,
Ursachen zu suchen; ein Bedürfnis, dessen Grund nachzuweisen gleich
hier möglich wäre, doch wird sich dazu am Ende dieses Kapitels die 10
bequemere Stelle finden. Für jetzt nehmen wir die Meinung, daß alle
Veränderungen eine Ursache und zwar eine äußere Ursache haben,
zuerst vor uns, eben darum, weil dies die am meisten populäre, die ge-
wohnte Ansicht ist, mit der jeder zur Philosophie zu kommen pflegt.
Weiterhin aber müssen wir noch zwei andere Vorstellungsarten is
beleuchten; eine von der Selbstbestimmung oder der sogenannten
transzendentalen Freiheit; die andere vom absoluten Werden. Zur
vorläufigen Erklärung dient folgendes: Jede Veränderung hat entweder
eine Ursache, oder sie hat keine; im ersten Falle hat sie entweder eine
äußere oder innere Ursache. Veränderung ohne Ursache gibt absolutes 20
Werden; Veränderung aus einer inneren Ursache ergibt Selbstbestim-
mung; endlich Veränderung aus äußeren Ursachen könnte man Me-
chanismus nennen, im weitesten Sinne des Worts. Da die Disjunktion
dieser drei Glieder vollständig ist; so wird ein Trilemma entstehen,
wenn man beweisen kann, daß die Veränderung in keinem der drei 25
Fälle sich denken lasse; daß es also überhaupt keine Veränderung geben
könne. Dieses Satzes, über welchen zwar erst die Metaphysik den wahren
Aufschluß leistet, werden wir uns hier bedienen, um den Weg zum strengen
und eigenthchen Begriff des Sein zu finden, welches über allem Werden
erhaben ist. 30
Veränderung als Gegenstand eines Trüemma. 243
§ 126. Um die Untersucliung vorzubereiten, können wir einen
Blick auf die Frage werfen, welche wir am Eingange der Gescliiclite
der Philosophie aufgestellt finden: Woraus ist alles geworden? Aus dem
Wasser, antwortete Thaies; und gab dadurch zu erkennen, daß er
5 einen bestimmten und bekannten Stoö glaubte angeben zu können,
als denjenigen, aus dessen Verwandlung die übrigen Dinge hervorge-
gangen seien.
Nun liegt es allerdings im Begriff der Veränderung, daß eins aus
dem anderen werde; und es scheint daraus zu folgen, das Gewordene,
.0 welchem keine neue Reahtät, sondern nur eine neue Beschaffenheit zu-
komme, sei eigenthch noch das Alte, nur in neuer Verkleidung. Allein
es ist ebensowenig das Alte wie das Neue. Denn wenn es seine frühere
Beschaffenheit ebensowohl ablegen, als ohne die nachmahge Beschaffen-
heit zuvor bestehen konnte: so sind beide, sowohl die frühere als die
.5 nachmahge, ihm gleich zufällig, und weder durch die eine noch durch
die andere kann beantwortet werden, was es eigenthch sei. Da wir es
nun nicht anders als durch die wechselnden Gestalten kennen : so bleibt
es unbekannt und unbestimmt ; es ist Stoff in der eigenthchen
Bedeutung des Worts, welches den Begriff von einem Etwas bezeichnet,
>o das noch darauf warte, was aus ihm werden solle. Vielleicht war dies
der Sinn, welchen Anaxim ander mit dem aTTStpov verband : ein
Ausdruck, der nicht bloß das Unendhche, der Größe nach, bedeuten
kann, sondern der auch das Unbestimmte, der Quahtät nach,
bezeichnet.
)5 § 127. Dem Begriff des Stoffes steht gegenüber der Begriff der
Kraft. Wie weit die Vorstellungsart herrschen mag, daß den Dingen
eine tote Masse zum Grunde hege, aus der sie geformt seien, ebenso weit
verbreitet muß auch die von einem hinzukommenden Prinzip sein,
welches aufrege, belebe und bilde. Denn auf dieses Prinzip hat der Stoff
30 gewartet, da er selbst, in seiner Trägheit, sich keine Gestalt geben,
vollends in keinen Wechsel der Gestalten sich hineinwerfen konnte.
Wir finden uns also hier bei dem Begriffe der Kausahtät und zwar'
auf eine Weise, welche scheint über den Ansichten des gemeinen Lebens
erhaben zu sein. Denn es war von einem wirkenden Prinzip die
35 Rede ! Wo wir aber im täghchen Erfahrungskreise von Ursachen reden,
da pflegen dieselben nicht Prinzipien, das heißt Anfangspunkte des
Wirkens zu sein, sondern sie selbst, diese Ursachen sind zu ihrer Wirk-
samkeit durch andere Ursachen angetrieben worden. Es war eine Ver-
änderung in ihrem eigenen Zustande, daß sie wirkten; wie nun zu aller
40 Veränderung eine Ursache hinzugedacht wird, so auch zu dieser; und
wie zu der Veränderung des Zustandes der nächsten Ursache, so auch
244 Herbart.
bei der entfernteren Ursache; und so rückwärts fort ins Unendliche.
Allein hier entsteht eine Ungereimtheit. Keine der Ursachen wird ge-
dacht als eine solche, die von selbst wirke, jede nur als eine solche, die
da wirken würde, wenn sie einen Anstoß bekäme. Die ganze,
wenngleich unendHche Reihe ist daher in Ruhe, es geht aus ihr keine s
Wirkung hervor und kann aus ihr keine erklärt werden. Und dennoch
hatte man zum Behuf e solcher Erklärung die ganze Reihe angenommen.
Gibt es dagegen ein wirkendes Prinzip: so fällt die obige Schwierig-
keit weg. Bei diesem gehört das Wirken zu seiner Natur, und ist keines-
wegs eine Veränderung in ihm, die einer äußeren Ursache bedürfte, lo
Allein der Gewinn ist nur scheinbar. Bei dem wirkenden Prinzip
so gut als bei der unendHchen Reihe muß ein Eingreifen des Tätigen
ins Leidende gedacht werden: dieses Eingreifen ist widersinnig. Das
Tätige geht dabei aus sich heraus; das Leidende nimmt etwas Fremd-
artiges in sich auf; dabei geraten beide in Widerspruch mit sich selbst, is
— Das Tätige wird zuvörderst an und für sich selbst irgend etwas sein ;
man wird eine bestimmte Qualität als die seinige, als das, was es ist,
ansehen müssen. Nun soll es aus sich herausgehen; es soll eine Wirkung
vollziehen in einem anderen und Fremden. Bei diesem Wirken wird
das Fremde vorausgesetzt; es ist ein Begriff, der sich durch die eigene 20
Quahtät des Tätigen allein nicht denken läßt. Gleichwohl soll auf die
Frage, was das Tätige sei, geantwortet werden, es sei ein Wirkendes;
denn ihm wird das Wirken zugeschrieben. Hier entsteht der Wider-
spruch, daß der Qualität des Wirkenden das näm-
liche beigelegt und auch abgesprochen wird. Das 25
Tätige erscheint als ein solches, welches, um das zu sein, was es ist, sich
selbst nicht genügt, welches eine fremde, das heißt ihm nicht eigene
Bedingung als Eigenschaft seiner Natur in sich einschließt;
und gerade von eben demselben Fremden scheint es bedingt, was von
ihm leiden, seinem Einflüsse unterworfen sein soll. 3o
Nicht besser geht es dem Leidenden. Auch dieses soll, unabhängig
von dem Leiden, und selbst im Gegensatze gegen die Veränderung,
die es erfährt, für sich selbst etwas sein. Aber durch die Veränderung
soll etwas Neues, vielleicht selbst dem vorigen Widerstreitendes, in ihm
werden. Beide verschiedenen Bestimmungen sollen dem Leidenden, 36
und zwar eben insofern es leidet, was wider seine Natur
ist, zusammengenommen beigelegt werden. Auf die Frage, was es
sei, erfolgt also eine vollkommen widersprechende Antwort. Es ist
im Leiden dasselbe und auch nicht dasselbe was
es ist. ^^
Veränderung als Gegenstand eines Trilemma. 245
Schon an diesem Orte nun ist es Zeit, eine Erinnerung beizufügen,
welche eigentlich bei allem Nachfolgenden erneuert werden müßte.
Es gibt nämlich Personen, welche in dem Augenblick, wo sie das Un-
gereimte eines metaphysischen Begriffs erbhcken, ins Staunen geraten
5 und sich dadurch für die wahre Metaphysik ganz und gar abstumpfen.
Sie glauben eben in der Ungereimtheit die wahre, hocherhabene Weis-
heit zu erblicken, und freuen sich ihrer fortgeschrittenen Einsicht umso
mehr, je weiter aller Sinn und Verstand von ihnen weicht. Wer die Ge-
schichte der Philosophie noch nicht kennt, wird sich nimmermehr vor-
10 stellen, wie viele hochberühmte Denker der verschiedensten Zeiten von
solchem verkehrten Erstaunen, bald über diesen, bald über jenen Begriff,
sind gefaßt und gleichsam starr und blind gemacht worden, so daß sie
über einen gelassen Punkt nicht mehr hinwegkommen konnten. — Einmal
ergriffen, wollten die meisten nicht mehr geheilt sein. Die aber deshalb
15 Philosophie studieren, um einen so hartnäckigen und, wie sie meinen,
angenehmen Eausch sich zuzuziehen, — diese werden zwischen mancherlei
philosophischen Systemen die Wahl haben, denn es gibt auf dem Wege
zur Metaphysik der Ungereimtheiten, welche das Gemüt verfinstern
können, mehrere und verschiedene.
20 Das Staunen beiseite gesetzt, wird man einsehen, daß die Begriffe
des Tätigen und Leidenden nicht denkbar sind, daß sie also aus unserem
fernen Nachdenken weichen müssen, falls sie nicht einer Verbesserung
fähig sind, — die noch nicht genug vorbereitet ist.
§ 128. Das erste Glied des aufzustellenden Trilemma ist nach-
25 gewiesen, es folgt das zweite, nämlich der Versuch, die Veränderung
auf Selbstbestimmung zurückzuführen, also eine innere Ursache statt
der äußeren anzunehmen.
Sogleich kommt uns hier eine unendHche Keihe entgegen, ähn-
Hch der im vorigen Paragraphen verworfenen: Das Veränderte soll
30 sich selbst zu dieser Veränderung bestimmen; es ist demnach zu betrach-
ten als das Bestimmte und auch als das Bestimmend^.
Jenes findet die Ursache seiner Bestimmtheit in diesem. Aber das Be-
stimmende, insofern es eine Tätigkeit anwenden mußte, weil sonst die
Bestimmung nicht zu stände gekommen, vielmehr ein anderer Zustand
35 vorhanden gewesen und geblieben wäre — würde selbst, falls es
sich untätig verhalten hätte, in einem änderen Zustande, als dem der
Tätigkeit, sich befunden haben; seine Tätigkeit ist daher schon eine
Veränderung in ihm, auch abgesehen von jener Veränderung, die
als Wirkung aus der Tätigkeit hervorgeht. Was mag die Ur-
40 Sache sein von der eben bemerkten Veränderung, die schon bloß in dem
246 Herbart.
Tätigsein liegt? — Wir haben keine Wahl mehr zwischen inneren und
äußeren Ursachen; diese letzteren sind verworfen, jene bleiben allein
übrig. Also der Aktus des Sichselbstbestimmens hat selbst eine tiefer-
liegende, innere Ursache; die Selbstbestimmung ist selbst Wirkung
einer Selbstbestimmung. — Nun erneuert sich die Frage. Diese tiefer- 5
Hegende Selbstbestimmung ist ebenfalls ein Heraustreten aus einem
anderen Zustande, der, ohne sie, würde gewesen sein, und
vor ihrem Beginnen (wenn wir anders die unnötige Vorstellung der
Zeit einmengen wollen) wirklich mag stattgefunden haben. Dieses Heraus-
treten, wodurch ist es bewirkt worden? — Befänden wir uns schon bei lo
dem Begriff des absoluten Werden, so stünde hier (und schon bei der
vorigen Frage) allenfalls frei zu antworten: Das Heraustreten in dem
aktiven Selbstbestimmen geschieht absolut. Allein wir suchen
das absolute Werden möglichst lange zu vermeiden ; dagegen den Begriff
der Ursachen möglichst lange festzuhalten. Wir antworten also noch is
einmal: Die Ursache der Selbstbestimmung ist wiederum eine Selbst-
bestimmung. Nun ist es aber offenbar, daß die nämliche Frage uns
immer weiter verfolgen wird; daß die Eeihe der Selbstbestimmungen
eine innerliche Unendlichkeit, i n dem Sichselbstbestimmenden, erlangen
wird; endlich, daß selbst die unendliche Reihe ganz untauglich ist, 20
indem sie aus lauter bedingten GHedern besteht. Jede Selbstbestimmung
würde vorgehen, wenn eine andere vorangegangen wäre ! Damit
kommt keine einzige zu stände und wird keine Veränderung erklärt.
Jene unbrauchbare Vorstellungsart ist aber auch darum völlig wider-
sinnig, weil sie ein und dasselbe, das Sichbestimmende, eben in dem 25
Aktus der Selbstbestimmung, mit sich selbst entzweit, durch den Gegen-
satz der Aktivität und Passivität. — Dürfte man sich in irgend einem
Sinne gestatten, diese Zweiheit in einem gelten zu lassen, so würde
in dem nämHchen Sinne die Ungereimtheit des vorigen Paragraphen
wiederkehren, indem nun das Bestimmende aus sich heraus-, in das 30
von ihm unterschiedene Bestimmte hineinginge, das Bestimmte aber
dieses Eingreifen erduldete. — Allein jene Spaltung in zwei Entgegen-
gesetzte ist so wenig zulässig, daß schon die bloße Zweiheit, wären
auch die Zwei nicht entgegengesetzt, den Widerspruch
des § 122 herbeibringen würde. 35
Es ist nicht überflüssig zu bemerken , daß die Masse dieser Un-
gereimtheiten noch wächst, wenn die Selbstbestimmung in dem hier
erörterten Sinne, oder die transzendentale Freiheit, dem Willen endlicher
Vernunftwesen beigelegt wird ; wie sehr gewöhnlich geschieht , weil
teils die absoluten ästhetischen Urteile mit Selbstbestimmungen ver- 4o
Veränderung als Gegenstand eines Trilemma. 247
wechselt werden, teils der Begrifi der Zurechnung in einer Gefahr ge-
glaubt Tvdrd, die für ihn nicht vorhanden ist. — Es soll nämlich dem
Willen die freie Wahl zustehen zwischen dem Guten und Bösen; welches
insofern vollkommen wahr ist, als das Gute und Böse auf keine andere
5 Weise an den Menschen kommen kann, außer nur durch seinen eigenen
Willen, in welchem dasselbe einzig und allein seinen Sitz hat ; so, daß
auch gerade so weit die Handlungen des Menschen ihm zugerechnet
werden, als sie die gute oder böse Beschaffenheit seines Willens
ausdrücken. Nun aber sieht man den Willen an als eine Selbstbestim-
10 mung mit Bewußtsein, — woraus, wenn nicht dieser Selbstbestimmung
ein absolutes Werden zum Grunde gelegt werden soll, sogleich folgen
wird (laut obiger Entwicklung), daß zu jedem Wollen eine unendliche
Eeihe innerer Selbstbestimmungen gehöre, wovon das Selbstbewußt-
sein ebensowenig etwas weiß, als diese Erklärung des WoUens an sich
15 brauchbar sein würde. — Ferner soll es dem Willen möglich sein, die
entgegengesetzte Wahl von derjenigen vorzunehmen, die er wirklich
vollzieht. Dies füllt das Maß der Widersprüche. Fragen wir jetzt,
was das Wollen sei? so enthält die Antwort nicht bloß den Gegensatz
des Bestimmens und Bestimmtwerdens, sondern auch noch die anderen
20 Gegensätze des wirklichen Bestimmens und des möglichen Bestimmens,
des wirkhchen Bestimmtwerdens und des möglichen Bestimmtwerdens;
ja es wird das wirkliche Wählen aus einer Wirkhchkeit und einer ent-
gegengesetzten Möglichkeit zusammengesetzt, wobei nicht bloß die
Ungereimtheit der Summe, Wirkliches plus Möghchem, sondern noch
25 das, auch sonst häufige, Unternehmen zu bemerken ist, eine Mög-
üchkeit, die als solche nicht real ist, unter die Prädikate eines Realen
zu mengen. — Eine solche Masse des Widersinnigen, wie dieser Begriff*
der vorgebhchen Willensfreiheit sie in sich schließt, vermag schon allein,
denjenigen, der sie unentwickelt annimmt, um alle zum Philosophieren
30 nötige Besonnenheit zu bringen; ihm das Bewußtsein dessen, was er
eigenthch denkt, völhg zu verdunkeln. — — — —
§ 129. Das absolute Werden ist noch übrig; eine zwar nicht sehr
populäre, aber desto mehr unter den Philosophen aller Zeiten verbreitete
Vorstellungsart, welche in den Systemen vielerlei Formen und Aus-
35 schmückungen erhalten hat. Sie war darum willkommen, weil sie die
Widersprüche der äußeren und inneren Ursachen vermeidet; und sie
besitzt wenigstens den Vorzug, einfacher zu sein, und eben darum,
wenn sie nur von fremdartigen Zusätzen reingehalten wird, auch klarer
als die vorhergehenden. — — — — — — — — — — — —
40 Hier muß zuerst der Zufall beseitigt werden. Diesen würde
das absolute Werden darstellen, wenn eine Veränderung wie ohne Grund,
248 Herbart.
so auch ohne Regel sich ereignete. Aber dann würde der Widerspruch
zugleich zu Tage liegen. Was eine Zeitlang sich ruhig verhielte, dann
sprungweise die vorige Beschaffenheit mit einer neuen verwechselte,
das wäre offenbar nicht mehr dasselbe wie zuvor. Schon die Ruhe und
der Wechsel würden in der Bestimmung seiner Qualität einander wider- 5
streiten. Nicht anders, wenn es in einem verschiedenartigen Wechsel
bald ein solches, bald ein anderes würde. — Man kann auch die Zeit-
bestimmung weglassen. Was ohne alle Regel ein solches ist, während
es in anderem Zustande sein könnte : auch dies stellt in seiner Beschaffen-
heit den Zufall dar. lo
Vielmehr in einem festen und sich selbst gleichen Begriffe muß das
absolute Werden sich auffassen lassen, damit man versuchen könne,
den Wechsel selbst als die Qualität dessen anzu-
sehen, was ihm unterworfen ist. — Dazu gehört zu-
vörderst, daß es nicht einmal sich ändere, ein andermal beharre; sondern iß
daß der Wechsel beständig fortgehe, aus aller Vergangenheit
in alle Zukunft, ohne Anfang, ohne Absatz, ohne Ende. Ferner
daß er mit gleicher Geschwindigkeit kontinuier-
lich anhalte ; also daß in gleichen Zeiten allemal ein gleiches Quantum
der Umwandlung vollbracht werde. EndHch daß die Richtung der 20
Veränderung stets die gleiche sei und bleibe; wodurch das Rückwärts-
und wieder Vorwärtsgehen, das Wiederholen früherer Zustände gänz-
lich ausgeschlossen ist. —
Die erste Schwierigkeit, welche sich zeigt, ist nun zugleich diese,
daß eine solche strenge Gleichförmigkeit des Wechsels in der Natur der 25
Dinge nicht angetroffen wird. Wohl bezeugt die Erfahrung einen
Kreislauf der Dinge; aber auch diesen nur ungefähr und nicht mit der
Genauigkeit, welche der obige Begriff schlechterdings fordert.
30
In der Tat kann man die Ungleichförmigkeit des Wechsels nur mit
Ausflüchten entschuldigen. Man kann annehmen, daß Verschiedenes
auf verschiedene Art wechsele, in verschiedener Richtung, Geschwindig-
keit und Zeit. Man muß alsdann hinzusetzen, es möge dieses Ver-
schiedene einen Einfluß, wenigstens scheinbar, aufeinander ausüben,
sich gegenseitig stören und hemmen : — wobei man aber schon auf irgend
eine Weise in den oben verworfenen Kausalbegriff verfällt. Man kann 35
noch die Bemerkung geltend machen, der Wechsel sei ohne Zweifel
auch in unserem Gemüte (welches ja als veränderhch in seinen Zuständen
sich unmittelbar im Bewußtsein ankündigt); dadurch werde uns, den
in eigener Umwandlung Fortgerissenen, die klare Auffassung des von uns
unabhängig Wechselnden getrübt und die Gleichförmigkeit des Werdens
40
Veränderung als Gegenstand eines Trilemma. 249
entziehe sich, wennschon wirklich vorhanden, unserer Kenntnis : — Wobei
nur der Fehler wird begangen werden, daß von einer trüben Auf-
fassung die Kede ist, wo gar keine stattfindet, wenn durch kein
Kausalverhältnis zwischen uns und dem Äußeren Vorstellungen in uns
ö erzeugt werden.
Die erwähnten Ausflüchte treffen ungefähr zusammen mit den
Vorstellungsarten des H e r a k 1 i t und Protagoras, von denen
jener, vielleicht der älteste entschiedene Verkündiger des beständigen
Flusses aller Dinge, die Freundschaft und Feindschaft bei der Welt-
10 erklärung zu Hilfe rief; dieser den Menschen für das Maß aller Dinge
erklärte. — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Im Vorbeigehen sei hier erwähnt, daß der Begriff des absoluten
Werden genau mit dem echten Begriffe des Schicksals (cl^apfisvT]) zu-
sammentrifft. Von allen Gottheiten ist das Schicksal scharf unter-
15 schieden und über sie hinausgestellt, wie das absolute Werden über
aller Kausalität und Freiheit hervorragt, denen es, wenn man sie übrigens
zulassen will, wenigstens ihre Reihen anfangen muß,
damit der Anfang nicht selbst im Unendhchen vergebHch gesucht
werde. Von einem gütigen und grausamen Schicksal kann deshalb
20 nicht die Eede sein, nicht einmal von einem Zwange, den es ausübe;
welches Kausalität wäre ; sondern nur von der vorbestimmten
Gewißheit der Erfolge, die keine Klugheit noch Gewalt abwenden
könne.
Abgesehen nun von allen möglichen Nebenbestimmungen, durch
25 welche man versuchen kann, diesen Gedanken der Erfahrung anzupassen,
ist der Begriff des absoluten Werden in sich selbst widersprechend; so
daß er in allen Gestalten, worin bisherige oder künftige Systeme ihn er-
scheinen lassen, muß verworfen werden. Denn was ist das Werdende?
Seine QuaHtät soll im Werden selbst bestehen; aber dieser Begriff läßt
30 sich nicht anders denken als durch die wechselnden Beschaffenheiten,
welche in der Umwandlung durchlaufen werden. Man muß also diese
untereinander entgegengesetzten Beschaffenheiten, welche in der unend*
liehen Reihe des Wechsels vorkommen sollen, zusammenfassen und
sowohl durch die verschwundenen, welche als Vorläufer zu der jetzigen
35 gehören, als durch die zukünftigen, welche in der jetzigen prädestiniert
liegen, die Qualität des Werdenden bestimmen. Hierbei werden alle
in eine Einheit konzentriert, worin sie sich aufheben; denn sie werden
eigentlich alle zugleich dem Werdenden beigelegt. Will man dagegen
sich auf die Sukzession berufen, wodurch der Widerspruch vermieden
40 w^erde, indem jedesmal von zweien entgegengesetzten die vorige weiche,
ehe die folgende eintrete, folghch das Werdende in jedem Zeitpunkte
250 Herbart.
nur eine einzige Qualität wirklich besitze: so hat man sich den Begriff
verdorben, und dabei gar nichts gewonnen. Der Begriff erfordert,
daß nicht irgend eine unter den einzelnen Beschaffenheiten, sondern
das gesamte Werden, welches sie alle durchläuft, als Qualität des
Werdenden gelte; und dabei wird nur der Fehler begangen, daß man 5
an dem abstrakten Gedanken des Werdens sich fest-
hält, der freilich keinen Widerspruch in sich enthalten würde, wenn
er nur ohne die Beziehung auf die mannigfalti-
s:en, wechselnden Beschaffenheiten überall Sinn
und Bedeutung hätte. Wer nun lieber von der Höhe des ab- lo
strakten Gedankens herabsteigen, das Werdende in seinen einzelnen
Zuständen näher betrachten und zusehen will, wie die nächstfolgende
Beschaffenheit aus der nächstvorhergehepden hervortritt; der hat gar
nichts mehr, woran auch nur eine Täuschung sich anlehnen ließe. Denn
nun soll die vorhergehende sich selbst aufheben, und über- is
dies ihr eigenes Gegenteil erzeugen. Das Werdende war
etwas Bestimmtes; eben darum weil es dieses war, soll es dasselbe nicht
mehr sein, sondern das Gegenteil werden. Das heißt, A, weil es A ist,
soll nicht A sein, sondern ein Gegenteil von A werden! Ferner in dem
Augenbhcke des Überganges soll die eine Beschaffenheit aufhören, die 20
andere eintreten. Läßt man jene ganz aufhören, bevor diese ein-
tritt, so zerreißt die Kontinuität des Werdens; ein Ding verschwindet,
ein völHg anderes. Fremdes, mit dem vorigen nicht Zusammenhängendes
entsteht in dem nächsten Augenbhcke. Läßt man, damit eins aus
dem anderen werde, die vorige Beschaffenheit noch nicht ganz 25
aufhören, indem die andere, entgegengesetzte schon eintritt: so faßt
e i n Zeitpunkt die widersprechenden zusammen ; er enthält Aufhören
und Anfangen, wovon jenes. Sein und doch nicht mehr Sein, dieses
Sein und doch noch nicht Sein bedeutet.
Diese letztere, offenbar ungereimte Vorstellungsart wird bei geübten 3o
Denkern sich höchstens als Übereilung einschleichen; die erste tritt
umso dreister auf; besonders wenn noch hinzugesetzt wird, der gesamte
Wechsel sei nur Erscheinung eines nicht wechselnden , aber
insofern auch nicht erscheinenden, Grundes. Doch dies ist kaum Ver-
hüllung, es ist Verschhmmerung des Widerspruchs. Besäße der Grund, 35
das wahrhaft Seiende hinter dem Werden, eine einfache QuaHtät: so
würde aus dem einfachen Grunde gar nichts weiteres werden, er würde
sich selbst gleich sein und bleiben; — am wenigsten würde e r e r-
scheinen, welches eine Relation zu der Auffassung dieses Er-
scheinens in sich schUeßt. Diese Auffassung mag nun was immer für 40
einem auffassenden Subjekte zugeschrieben werden: so ist damit allein
Erläuterungen. 251
schon ein doppelter Widerspruch zugelassen. Erstlich daß zu dem-
jenigen, was das Erscheinende (welches nicht bloße Erscheinung,
das heißt ein nichtiges Bild sein kann) selber ist, noch das Erscheinen
hinzukommt, dies bringt zweierlei in die Quahtät desselben hinein;
5 womit der Widerspruch des § 122 herbeigeführt wird. Zweitens daß
dasselbe Erscheinende für ein auffassendes Subjekt vorhanden sein soll,
welches Subjekt wenigstens insofern von jenem unterschieden und
ihm entgegengesetzt werden muß — dieser Umstand fordert zu ähnlichen
Betrachtungen auf, wie oben § 127 über das Tätige angestellt wurden.
10 Es wird nämlich auch hier ein solches gedacht, welches, um das zu sein,
was es ist, sich selbst nicht genügt, sondern die Voraussetzung eines
ihm entgegengesetzten in die Bestimmung seiner eigenen Qualität auf-
nimmt. — — In diese Ungereimtheiten nun sich zu verstricken ist
völlig unnütz für den Begriff des absoluten Werden; es mildert dessen
15 Widersprechendes nicht im mindesten. Denn immer bleibt die Menge, es
bleiben die Gegensätze der wechselnden Beschaffenheiten; wenn schon die-
selben nur Erscheinungen sein sollen. Indem sie alle aus einem und dem-
selben Grunde erwartet werden, tritt es nur deutlicher hervor,
daß in diesem, nicht wechselnden, Grunde alle Man-
20 nigfaltigkeit und aller Widerspruch k o n zentriert
sei, woraus das Viele und Entgegengesetzte der
Erscheinung sich entfalten soll. Der Grund würde nicht
Grund sein, wenn man i n i h m nicht alles das unentwickelt, also
zusammengedrängt, voraussetzen sollte, was aus ihm hervorgehen wird.
25 Es käme alsdann nicht aus ihm, sondern zu ihm ; es würde nicht von
ihm getragen, sondern es flöge ihm an; und selbst wenn man dies, im
höchsten Grade widersinnige, zufällige Ankleben des Wech-
selnden an das Beharrliche, ernstlich annehmen wollte,
würde nicht einmal in dem Ankleben, nicht einmal in der Berührung
30 zweier so völHg Heterogenen, ein Sinn angetroffen werden.
§ 130. Die Aufstellung des Trilemma, wodurch die Veränderung als
etwas ganz Undenkbares erkannt wird, ist vollendet.
Johann Friedrich Herbart (1776—1841) reicht in die Gegenwart hinein
weniger durch seine philosophischen als durch seine pädagogischen Schriften,
auch ist sein Versuch, die Mathematik auf die Seelenlehre anzuwenden, bei
dem heutigen Zustande dieser Wissenschaft von einem gewissen Interesse.
Das aus seinem „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie" mitgeteilte
Stück zeigt uns Herbart als einen überaus scharfen und klaren Denker. Er
stellt der Philosophie die Aufgabe, die Begriffe zu bearbeiten. Bei dieser
Tätigkeit findet er nun die unsere Erfahrung begründenden Kategorien voll
252 Herbart.
von Widersprüchen. Um diesen zu entgehen, ist eine Neubegründung unserer
Erkenntnis notwendig, welche H. in seiner Metaphysik zu geben versucht.
Seine Kritik der vorhandenen Grundbegriffe weist hauptsächlich auf das un-
lösbare Problem hin, in einer Einheit eine Vielheit zu denken, zum Beispiel
ein Ding und seine Eigenschaften (vergleiche Erläuterung zu 246 35), oder:
die Veränderung eines Dinges. Diesen Schwierigkeiten glaubt H. zu entgehen
durch die Annahme von Substanzen (Realen), die ihrem Wesen nach ein-
fach und unveränderlich und keinem Wechsel unterworfen sind, doch ver-
mag er nur sehr gezwungen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie eine
Beziehung , eine Beeinflussung dieser Realen aufeinander, wie sie uns die
Erfahrung gibt, möglich und zu erklären ist.
Zur Einführung in H.s Philosophie ist das genannte Lehrbuch an erster
Stelle zu empfehlen, wie es überhaupt als Einführung in die Philosophie auch
heute noch gelten darf. Seine Werke sind von Hartenstein 1850 — 52 in zwölf
Bänden herausgegeben worden, der erste Band ist unser Lehrbuch. Harten-
stein hat auch in seinen „Problemen und Grundlehren der allgemeinen Meta-
physik" 1836 und in den „Grundbegriffen der ethischen Wissenschaften" 1844
Herbarts System dargestellt. Eine gute Übersicht enthält Falckenbergs Ge-
schichte der neueren Philosophie, 5. Auflage 1905, S. 445 — 462.
242 1. Das Trilemma wird von der Logik zu den „vermischten" Schlüssen
gezählt, welche im Gegensatz zu den „einfachen", aus kategorischen Urteilen
zusammengesetzten, Schlüssen aus kategorischen und disjunktiven, hypotheti-
schen und disjunktiven u. s. w. bestehen. Da die Terminologie in Bezug auf
das Trilemma schwankt (vergleiche darüber Überweg, System der Logik,
§ 123), sei hier angegeben, was Herbart in seinem Lehrbuch § 68 sagt: „Die
zweite (Schluß-) Figur, wenn statt des Mittelbegriffs eine vollständige Reihe
vorkommt, ergibt Dilemmata, Trilemmata u. s. w. nach folgender Formel:
P ist entweder a, oder b, oder c u. s. w.
S ist nicht a, noch b, noch c u. s. w.
Also S ist nicht P."
Bringen wir den Inhalt des ganzen Abschnittes in diese Form, so er-
gibt sich:
Veränderung ist entweder aus einer äußeren Ursache, oder aus Selbst-
bestimmung, oder als absolutes Werden zu erklären.
Denkbar ist weder die Erklärung aus einer äußeren Ursache, noch
aus Selbstbestimmung, noch aus absolutem Werden.
Also ist nicht denkbar die Veränderung.
242 4. Es ist an die Eleaten (vergleiche die Vorbemerkung zu Plato) und
Aristoteles (vergleiche einen der zum Lesestück I angegebenen Grundrisse
der griechischen Philosophie) zu denken.
242 6. Vergleiche die Vorbemerkung.
242 10. Ein solcher direkter Nachweis fehlt, doch H. zeigt, daß zur Er-
klärung der Vorgänge der Natur und des menschlichen Handelns nach Ur-
sachen im gemeinen Denken wie im Denken des Naturforschers, Historikers
und Philosophen geforscht wird.
Erläuterungen. 253
242 17. In Bezug auf die transzendentale Freiheit vergleiche Anmerkung
zu 203 31 und zu 205 is.
242 27. Vergleiche die Vorbemerkung.
2434. Vergleiche einen der zum Lesestück I angegebenen Grundrisse der
griechischen Philosophie.
243 18. Vergleiche Anmerkung zu 155 35.
243 21. Die Deutung, welche hier dem aTcsipov, das ist das Unbegrenzte,
gegeben wird, dürfte das richtige treffen. Vergleiche E. Zeller, Die Philosophie
der Griechen, 5. Auflage, 1892, I, 1, S. 212 fip.
246 35. In § 122 hat Herbart den Widerspruch entwickelt, der im Begriff
des Dinges mit vielen Eigenschaften liegt. Es heißt dort: „Aus der Forderung,
das Ding soUe die vielen ^Merkmale besitzen, entwickelt sich gar ein
Widerspruch. Das Besitzen oder Haben der Merkmale muß auf was
immer für eine Weise doch am Ende dem Dinge als etwas seiner
Natur Eigentümliches, als eine Bestimmung seines
Was, zugeschrieben werden: denn von ihm selbst wird
gesagt, daß es jene vielen habe und besitze. Dieses Besitzen ist ein ebenso
vielfaches und ebenso verschiedenes als die Eigenschaften, welche besessen
werden. Es ist folghch ebensowenig als sie fähig, zur Antwort zu dienen auf
die einfache Frage: was ist dies Ding? Diese Frage erfordert eine
einfache Antwort; sie stößt jede Vielheit aus, nüt der man sie würde beseitigen
wollen; jeder Umschweif ist hier entweder eine Unwahrheit, oder doch eine
Verzögerung der rechten Auskunft über dasjenige, von dem eigentHch
gesagt wird, daß es sei und Eigenschaften habe, die es in sich ver-
einige." Da Zweiheit schon eine Vielheit ist, so tritt der in § 122 aufge-
zeigte Widerspruch ein.
246 39. Dies ist eine Anspielung auf Kants Lehre von der Autonomie des
Sittengesetzes (vergleiche Anmerkung zu 205 is). Die Bezeichnung „ästhe-
tischen Urteile" ist daraus zu erklären, daß H. die Ethik als einen Teil der
Ästhetik behandelt. Ästhetik und Ethik haben das Gemeinsame, daß sie auf
unveränderUchen Wertbestimmungen durch Lob und Tadel beruhen. Ver-
gleiche den dritten Abschnitt des Lehrbuchs: „Einleitung in die Ästhetik;
besonders in ihren wichtigsten Teil, die praktische Philosophie."
247 34. Es sei hier vor allem auf Herakht hingewiesen. Vergleiche S. 249 7
und die Vorbemerkung zu Lesestück I.
249 7. Zu Protagoras vergleiche die Anmerkung zu 92 22.
2519. Vergleiche Anmerkung zu 246 35.
251 11,12. Man vergleiche diese Kritik H.s mit dem in Anmerkung zu 2 40 ff.
Gesagten. M e n z e r.
XIX.
Schopenhauer.
Alles Leben ist Leiden.
§ 57. Auf jeder Stufe, welche die Erlcenntnis beleuchtet, erscheint
sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher
Zeit findet das menschHche Individuum sich als endhche, folglich als
eine gegen jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat,
wegen ihrer Unbegrenztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes 5
Wann und W 0 seines Daseins : denn sein Ort und seine Dauer sind
endhche Teile eines Unendlichen und Grenzenlosen. — Sein eigent-
Hches Dasein ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in
die Vergangenheit ein steter Übergang in den Tod, ein stetes Sterben ist,
da sein vergangenes Leben, abgesehen von dessen etwaigen Folgen für 10
die Gegenwart, wie auch von dem Zeugnis über seinen Willen, das darin
abgedrückt ist, schon völHg abgetan, gestorben und nichts mehr
ist: daher es auch ihm vernünftigerweise gleichgültig sein muß, ob
der Inhalt jener Vergangenheiten Qualen oder Genüsse waren. Die
Gegenwart aber wird beständig unter seinen Händen zur Vergangenheit : 15
die Zukunft ist ganz ungewiß und immer kurz. So ist sein Dasein
schon von der formellen Seite betrachtet, ein stetes Hinstürzen der
Gegenwart in die tote Vergangenheit, ein stetes Sterben. Sehen wir
es nun aber auch von der physischen Seite an, so ist offenbar, daß , wie
bekannthch unser Gehen nur ein stets gehemmtes Fallen ist, das Leben 20
unseres Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer auf-
geschobener Tod ist: endlich ist ebenso die Regsamkeit unseres Geistes
eine fortdauernd zurückgeschobene Langweile. Jeder Atemzug wehrt
den beständig eindringenden Tod ab, mit welchem wir auf diese Weise
in jeder Sekunde kämpfen, und dann wieder, in größeren Zwischen- 25
räumen, durch jede Mahlzeit, jeden Schlaf, jede Erwärmung u. s. w.
Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir durch die Geburt anheimge-
fallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie ver-
Alles Leben ist Leiden. 255
schlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit großem Anteil und vieler
Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange
und so groß als mögUch aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit,
daß sie platzen wird.
5 Sahen wir schon in der erkenntnislosen Natur das innere Wesen
derselben als ein beständiges Streben, ohne Ziel und ohne Käst, so
tritt uns bei der Betrachtung des Tieres und des Menschen dieses noch
viel deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen,
einem unlöschbaren Durst gänzlich zu vergleichen. Die Basis alles
0 WoUens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folghch
schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm
hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung
sie ihm sogleich wieder wegnimmt, so befällt ihn furchtbare Leere und
Langweile: das heißt, sein Wesen und sein Dasein selbst wird ihm zur
5 unerträgHchen Last. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel,
hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langweile, welche beide
in der Tat dessen letzte Bestandteile sind. Dieses hat sich sehr selt-
sam auch dadurch aussprechen müssen, daß, nachdem der Mensch alle
Leiden und Qualen in die Hölle versetzt, für den Himmel nun nichts
0 übrig blieb, als eben Langweile.
Das stete Streben aber, welches das Wesen jeder Erscheinung des
Willens ausmacht, erhält auf den höheren Stufen der Objelrtivation
seine erste und allgemeinste Grundlage dadurch, daß hier der Wille
sich erscheint als ein lebendiger Leib, mit dem eisernen Gebot, ihn zu
5 nähren: und was diesem Gebote die Kraft gibt, ist eben, daß dieser
Leib nichts anderes als der objektivierte Wille zum Leben selbst ist.
Der Mensch, als die vollkommenste Objektivation jenes Willens, ist
demgemäß auch das bedürftigste unter allen Wesen: er ist kon-
kretes Wollen und Bedürfen durch und durch; ist ein Konkrement von
io tausend Bedürfnissen. Mit diesen steht er auf der Erde, sich selber
überlassen, über alles in Ungewißheit, nur nicht über seine Bedürftig-
keit und seine Not: demgemäß füllt die Sorge für die Erhaltung jenes,
Daseins, unter so schweren, sich jeden Tag von neuem meldenden For-
derungen, in der Regel das ganze Menschenleben aus. An sie knüpft
t5 sich sodann unmittelbar die zweite Anforderung, die der Fortpflanzung
des Geschlechts. Zugleich bedrohen ihn von allen Seiten die verschieden-
artigsten Gefahren, denen zu entgehen es beständiger Wachsamkeit
bedarf. Mit behutsamem Schritt und ängsthchem Umherspähen ver-
folgt er seinen Weg, denn tausend Zufälle und tausend Feinde lauern ihm
10 auf. So ging er in der Wildnis, und so geht er im zivihsierten Leben;
es gibt für ihn keine Sicherheit.
256 Schopenhauer.
^In welch' dunkeler Nacht, umringt von den größten Gefahren,
Leben die Kinder der Zeit dahin." Lucr. II, 15,
Das Leben der allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um die
Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie
aber in diesem so mühseligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl 5
die Liebe zum Leben als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als un-
ausweichbar im Hintergrunde steht und jeden AugenbHck herantreten
kann. — Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel,
die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet,
obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung lo
und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt
dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren
Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, dem Tode: dieser
ist das endhche Ziel der mühseligen Fahrt und für ihn schlimmer als
alle Klippen, denen er auswich. is
Nun ist es aber sogleich sehr bemerkenswert, daß einerseits die Leiden
und Qualen des Lebens leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod,
in der Flucht vor welchem das ganze Leben besteht, wünschenswert
wird und man freiwilUg zu ihm eilt; und anderseits wieder, daß, sobald
Not und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Langweile 20
gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes notwendig bedarf. Was
alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach
Dasein. Mit dem Dasein aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie
nichts anzufangen: daher ist das zweite, was sie in Bewegung setzt,
das Streben, die Last des Daseins los zu werden, es unfühlbar zu machen, 25
„die Zeit zu töten", das heißt der Langweile zu entgehen. Demgemäß
sehen wir, daß alle vor Not und Sorgen geborgenen Menschen, nachdem
sie nun endlich alle anderen Lasten abgewälzt haben, jetzt sich selbst
zur Last sind und nun jede durchgebrachte Stunde für Gewinn achten,
also jeden Abzug von eben jenem Leben, zu dessen möghchst langer 3o
Erhaltung sie bis dahin alle Kräfte aufboten. Die Langweile aber ist
nichts weniger als ein gering zu achtendes Übel: sie malt zuletzt wahre
Verzweiflung auf das Gesicht. Sie macht, daß Wesen, welche einander
so wenig lieben wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und
wird dadurch die Quelle der Geselhgkeit. Auch werden überall gegen 35
sie, wie gegen andere allgemeine Kalamitäten, öffentliche Vorkehrungen
getroffen, schon aus Staatsklugheit; weil dieses Übel, so gut als sein
entgegengesetztes Extrem, die Hungersnot, die Menschen zu den größten
Zügellosigkeiten treiben kann: fanem et Circenses braucht das Volk.
Das strenge Philadelphische Pönitenziarsystem macht mittels Einsam- 40
keit und Untätigkeit bloß die Langweile zum Straf Werkzeug : und es
Alles Leben ist Leiden. 257
ist ein so fürchterliches, daß es schon die ZüchtHnge zum Selbstmord
geführt hat. Wie die Not die beständige Geißel des Volkes ist, so
die Langweile die der vornehmen Welt. Im bürgerlichen Leben ist sie
durch den Sonntag, wie die Not durch die sechs Wochentage reprä-
5 sentiert.
Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschen-
leben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz : die Erreichung
gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz
nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch,
10 das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langweile,
gegen welche der Kampf ebenso quälend ist wie gegen die Not. — Daß
Wunsch und Befriedigung sich ohne zu kurze und ohne zu lange Zwischen-
räume folgen, verkleinert das Leiden, welches beide geben, zum geringsten
Maße und macht den glückUchsten Lebenslauf aus. Denn das, was man
15 sonst den schönsten Teil, die reinsten Freuden des Lebens nennen möchte,
eben auch nur, weil es uns aus dem realen Dasein heraushebt und uns in
anteillose Zuschauer desselben verwandelt, also das reine Erkennen,
dem alles Wollen fremd bleibt, der Genuß des Schönen, die echte Freude
an der Kunst, dies ist, weil es schon seltene Anlagen erfordert, nur höchst
20 wenigen und auch diesen nur als ein vorübergehender Traum vergönnt:
und dann macht eben diese wenigen die höhere intellektuelle Kraft
für viel größere Leiden empfänghch, als die Stumpferen je empfinden
können, und stellt sie überdies einsam unter merkUch von ihnen ver-
schiedene Wesen: wodurch sich denn auch dieses ausgleicht. Dem
25 bei weitem größten Teile der Menschen aber sind die rein intellektuellen
Genüsse nicht zugänglich; der Freude, die im reinen Erkennen hegt,
sind sie fast ganz unfähig: sie sind gänzhch auf das Wollen verwiesen.
W^enn daher irgend etwas ihnen Anteil abgewinnen, ihnen interes-
sant sein soll, so muß es (dies Hegt auch schon in der Wortbedeutung)
30 irgendwie ihren Willen anregen, sei es auch nur durch eine ferne
und nur in der MögUchkeit hegende Beziehung auf ihn; er darf aber
nie ganz aus dem Spiele bleiben, weil ihr Dasein bei weitem mehr im
Wollen als im Erkennen hegt: Aktion und Reaktion ist ihr einziges
Element. Die naiven Äußerungen dieser Beschaffenheit kann man aus
35 Kleinigkeiten und alltäghchen Erscheinungen abnehmen: so zum Bei-
spiel schreiben sie an sehenswerten Orten, die sie besuchen, ihren Namen
hin, um so zu reagieren, um auf den Ort zu wirken, da er nicht auf sie
wirkte; ferner können sie nicht leicht ein fremdes, seltenes Tier bloß
betrachten, sondern müssen es reizen, necken, mit ihm spielen, um nur
40 Aktion und Reaktion zu empfinden; ganz besonders aber zeigt jenes
Bedürfnis der Willensanregung sich an der Erfindung und Erhaltung
D es s oir-Menzer, Pliilosopliisches Lesebuch. 2. Auti. 17
258 Schopenhauer.
des Kartenspieles, welches recht eigentUch der Ausdruck der kläglichen
Seite der Menschheit ist.
Aber was auch Natur, was auch das Glück getan haben mag, wer
man auch sei, und was man auch besitze; der dem Leben wesentHche
Schmerz läßt sich nicht abwälzen: b
Peleus Sohn wehklagte, den Blick gen Himmel erhebend.
Und wieder:
Zwar Zeus Sohn des Kroniden war ich und duldete dennoch
Unaussprechlichen Gram.
Die unaufhörhchen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten lo
nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünghch
Mangel, Not, Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer
hält, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt
er sogleich sich in tausend anderen ein, abwechselnd nach Alter und
Umständen, als Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, i6
Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit u. s. w. Kann er endUch
in keiner anderen Gestalt Eingang finden, so kommt er im traurigen,
grauen Gewand des Überdrusses und der Langweile, gegen welche dann
mancherlei versucht wird. Gelingt es endlich, diese zu verscheuchen,
so wird es schwerlich geschehen, ohne dabei den Schmerz in einer der 20
vorigen Gestalten wieder einzulassen und so den Tanz von vorne zu
beginnen; denn zwischen Schmerz und Langweile wird jedes Menschen-
leben hin und her geworfen. So niederschlagend diese Betrachtung
ist, so will ich doch nebenher auf eine Seite derselben aufmerksam
machen, aus der sich ein Trost schöpfen, ja vielleicht gar eine stoische 25
Gleichgültigkeit gegen das vorhandene eigene Übel erlangen läßt. Denn
unsere Ungeduld über dieses entsteht großenteils daraus, daß wir es
als zufällig erkennen, als herbeigeführt durch eine Ketbe von Ursachen,
die leicht anders sein könnte. Denn über die unmittelbar notwendigen
und ganz allgemeinen Übel, zum Beispiel Notwendigkeit des Alters so
und des Todes und vieler täghchen Unbequemlichkeiten, pflegen wir
uns rücht zu betrüben. Es ist vielmehr die Betrachtung der ZufälHg-
keit der Umstände, die gerade auf uns ein Leiden brachten, was diesem
den Stachel gibt. Wenn wir nun aber erkannt haben, daß der Schmerz
als solcher dem Leben wesenthch und unausweichbar ist, und nichts 35
weiter als seine bloße Gestalt, die Form, unter der er sich darstellt, vom
Zufall abhängt, daß also unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle aus-
füllt, in welche, ohne dasselbe, sogleich ein anderes träte, das jetzt von
jenem ausgeschlossen wird, daß demnach, im wesenthchen, das Schick-
sal uns wenig anhaben kann; so könnte eine solche Reflexion, wenn sie 40
Alles Leben ist Leiden. 259
zur lebendigen Überzeugung würde, einen bedeutenden Grad stoischen
Gleichmuts herbeiführen und die ängsthche Besorgnis um das eigene
Wohl sehr vermindern. In der Tat aber mag eine so viel vermögende
Herrschaft der Vernunft über das unmittelbar gefühlte Leiden selten
5 oder nie sich finden.
Übrigens könnte man durch jene Betrachtung über die Unvermeid-
lichkeit des Schmerzes und über das Verdrängen des einen durch den
anderen und das Herbeiziehen des neuen durch den Austritt des vorigen
sogar auf die paradoxe, aber nicht ungereimte Hypothese geleitet werden,
0 daß in jedem Individuum das Maß des ihm wesentlichen Schmerzes
durch seine Natur ein für allemal bestimmt wäre, welches Maß weder
leer bleiben, noch überfüllt werden könnte, wie sehr auch die Form des
Leidens wechseln mag. Sein Leiden und Wohlsein wäre demnach gar
nicht von außen, sondern eben nur durch jenes Maß, jene Anlage, be-
5 stimmt , welche zwar durch das physische Befinden einige Ab- und
Zunahme zu verschiedenen Zeiten erfahren möchte, im ganzen aber doch
dieselbe bliebe und nichts anderes wäre, als was man sein Temperament
nennt, oder genauer der Grad, in welchem er, wie Piaton es im ersten
Buch der Republik ausdrückt, eoy.oXo? oder S6aytoXo<;, das ist leichten
0 oder schweren Sinnes wäre. — Für diese Hypothese spricht nicht nur
die bekannte Erfahrung, daß große Leiden alle kleineren gänzlich un-
fühlbar machen, und umgekehrt, bei Abwesenheit großer Leiden selbst
die kleinsten Unannehmlichkeiten uns quälen und verstimmen; sondern
die Erfahrung lehrt auch, daß, wenn ein großes Unglück, bei dessen
5 bloßen Gedanken ^är schauderten, nun wirklich eingetreten ist, dennoch
unsere Stimmung, sobald wir den ersten Schmerz überstanden haben,
im ganzen ziemhch unverändert dasteht; und auch umgekehrt, daß
nach dem Eintritt eines lang ersehnten Glückes wir uns im ganzen
und anhaltend nicht merklich wohler und behaghcher fühlen als vorher.
0 Bloß der Augenbhck des Eintritts jener Veränderungen bewegt uns
ungewöhnlich stark als tiefer Jammer oder lauter Jubel; aber beide
verschwinden bald, weil sie auf Täuschung beruhten. Denn sie entstehen
nicht über den unmittelbar gegenwärtigen Genuß oder Schmerz, sondern
nur über die Eröffnung einer neuen Zukunft, die darin antizipiert wird.
ö Nur dadurch, daß Schmerz oder Freude von der Zukunft borgten, konnten
sie so abnorm erhöht werden, folglich nicht auf die Dauer. — Für die
aufgestellte Hypothese, der zufolge, wie im Erkennen, so auch im Ge-
fühl des Leidens oder Wohlseins ein sehr großer Teil subjektiv und
a friori bestimmt wäre, können noch als Belege die Bemerkungen an-
0 geführt werden, daß der menschliche Frohsinn oder Trübsinn, augen-
scheinlich nicht durch äußere Umstände, durch Reichtum oder Stand,
260 Schopenhauer.
bestimmt wird; da wir wenigstens ebenso viele frohe Gesichter unter
den Armen als unter den Reichen antreffen: ferner, daß die Motive,
auf welche der Selbstmord erfolgt, so höchst verschieden sind; indem
wir kein Unglück angeben können, das groß genug wäre, um ihn nur
mit vieler Wahrscheinlichkeit, bei jedem Charakter herbeizuführen, 5
und wenige, die so klein wären, daß nicht ihnen gleichwiegende ihn schon
veranlaßt hätten. Wenn nun gleich der Grad unserer Heiterkeit oder
Traurigkeit nicht zu allen Zeiten derselbe ist, so werden wir, dieser
Ansicht zufolge, es nicht dem Wechsel äußerer . Umstände, sondern dem
des inneren Zustandes, des physischen Befindens, zuschreiben. Denn, 10
wann eine wirkliche, wiewohl immer nur temporäre, Steigerung unserer
Heiterkeit, selbst bis zur Freudigkeit, eintritt, so pflegt sie ohne allen
äußeren Anlaß sich einzufinden. Zwar sehen wir oft unseren Schmerz
nur aus einem bestimmten äußeren Verhältnis hervorgehen und sind
sichtbarlich nur durch dieses gedrückt und betrübt: wir glauben dann, 15
daß, wenn nur dieses gehoben wäre, die größte Zufriedenheit eintreten
müßte. Allein dies ist Täuschung. Das Maß unseres Schmerzes und
Wohlseins im ganzen ist, nach unserer Hypothese, für jeden Zeitpunkt
subjektiv bestimmt, und in Beziehung auf dasselbe ist jenes äußere
Motiv zur Betrübnis nur was für den Leib ein Vesikatorium, zu dem 20
sich alle, sonst verteilten bösen Säfte hinziehen. Der in unserem Wesen,
für diese Zeitperiode, begründete und daher unabwälzbare Schmerz
wäre, ohne jene bestimmte äußere Ursache des Leidens, an hundert
Punkten verteilt und erschiene in Gestalt von hundert kleinen Verdrieß-
lichkeiten und Grillen über Dinge, die wir jetzt ganz übersehen, weil 25
unsere Kapazität für den Schmerz schon durch jenes Hauptübel aus-
gefüllt ist, welches alles sonst zerstreute Leiden auf einen Punkt kon-
zentriert hat. Diesem entspricht auch die Beobachtung, daß, wenn eine
große, uns beklemmende Besorgnis endlich, durch den glücklichen Aus-
gang, uns von der Brust gehoben wird, alsbald an ihre Stelle eine andere 30]
tritt, deren ganzer Stoff schon vorher da war, jedoch nicht als Sorge ins
Bewußtsein kommen konnte, weil dieses keine Kapazität dafür übrig
hatte, weshalb dieser Sorgestoff bloß als dunkle unbemerkte Nebel-
gestalt an dessen Horizonts äußerstem Ende stehen blieb. Jetzt aber, da |
Platz geworden, tritt sogleich dieser fertige Stoff heran und nimmt den 35
Thron der herrschenden (TUpUTavsDOOoa) Besorgnis des Tages ein, wenn
er nun auch, der Materie nach, sehr viel leichter ist als der Stoff jener
verschwundenen Besorgnis, so weiß er sich doch so aufzublähen, daß
er ihr an scheinbarer Größe gleichkommt und so als Hauptbesorgnis
des Tages den Thron vollkommen ausfüllt. «
Unmäßige Freude und sehr heftiger Schmerz finden sich immer
i
Alles Leben ist Leiden. 261
nur in derselben Person ein: denn beide bedingen sich wechselseitig
und sind auch gemeinschafthch durch große Lebhaftigkeit des Geistes
bedingt. Beide werden, wie wir soeben fanden, nicht durch das rein
Gegenwärtige, sondern durch Antizipation der Zukunft hervorgebracht.
5 Da aber der Schmerz dem Leben wesenthch ist und auch seinem Grade
nach durch die Natur des Subjekts bestimmt ist, daher plötzliche Ver-
änderungen, weil sie immer äußere sind, seinen Grad eigenthch nicht
ändern können; so liegt dem übermäßigen Jubel oder Schmerz immer
ein Irrtum und Wahn zum Grunde: folglich ließen jene beiden Über-
10 Spannungen des Gemüts sich durch Einsicht vermeiden. Jeder un-
mäßige Jubel (exultatio, insolens laetitia) beruht immer auf dem Wahn,
etwas im Leben gefunden zu haben, was gar nicht darin anzutreffen
ist, nämhch dauernde Befriedigung der quälenden, sich stets neu ge-
bärenden Wünsche oder Sorgen. Von jedem einzelnen Wahn dieser
15 Art muß man später unausbleiblich zurückgebracht werden und ihn
dann, wann er verschwindet, mit ebenso bitteren Schmerzen bezahlen,
als sein Eintritt Freude verursachte. Er gleicht insofern durchaus einer
Höhe, von der man nur durch Fall wieder herab kann; daher man sie
vermeiden sollte: und jeder plötzliche, übermäßige Schmerz ist eben
20 nur der Fall von so einer Höhe, das Verschwinden eines solchen Wahnes
und daher durch ihn bedingt. Man könnte folglich beide vermeiden,
wenn man es über sich vermöchte, die Dinge stets im ganzen und in
ihrem Zusammenhang völlig klar zu übersehen und sich standhaft zu
hüten, ihnen die Farbe wirklich zu leihen, die man wünschte, daß sie
25 hätten. Die stoische Ethik ging hauptsächlich darauf aus, das Gemüt
von allem solchen Wahn und dessen Folgen zu befreien, und ihm statt
dessen unerschütterlichen Gleichmut zu geben. Von dieser Einsicht
ist Horatius erfüllt in der bekannten Ode:
Mit ruh'gem Gleichmut wappne die Seele dir
30 Am Tag des Unheils, aber am glücklichen
Den ausgelass'nen Rausch der Lust auch
Mäßige.
Meistens aber verschließen wir uns der, einer bitteren Arzenei zu ver-
gleichenden Erkenntnis, daß das Leiden dem Leben wesenthch ist und
35 daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversieg-
bare Quelle desselben in seinem eigenen Inneren herumträgt. Wir suchen
vielmehr zu dem nie von uns weichenden Schmerz stets eine äußere
einzelne Ursache, gleichsam einen Vorwand; wie der Freie sich einen
Götzen bildet, um einen Herrn zu haben. Denn unermüdlich streben
40 wir von Wunsch zu Wunsch, und wenngleich jede erlangte Befriedigung,
262 Schopenhauer.
soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistens
bald als beschämender Irrtum dasteht, sehen wir doch nicht ein, daß
wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen, sondern eilen zu immer neuen
Wünschen :
Sondern, so lang uns fehlt, wonach uns lüstet, bedünkt uns 5
Dieses das Beste; doch ist es errungen, so lüstet uns wieder.
So auch läßt fortwährend der Durst nach Leben uns lechzen.
Lucr. III, 1095.
So geht es denn entweder ins Unendliche, oder, was seltener ist
und schon eine gewisse Kraft des Charakters voraussetzt, bis wir auf lo
einen Wunsch treffen, der nicht erfüllt und doch nicht aufgegeben werden
kann: dann haben wir gleichsam was wir suchten, nämhch etwas, das
wir jeden Augenblick, statt unseres eigenen Wesens, als die Quelle unserer
Leiden anklagen können, und wodurch wir nun mit unserem Schicksal
entzweit, dafür aber mit unserer Existenz versöhnt werden, indem die is
Erkenntnis sich wieder entfernt, daß dieser Existenz selbst das Leiden
wesenthch und wahre Befriedigung unmöglich sei. Die Folge dieser
letzten Entwicklungsart ist eine etwas melanchoHsche Stimmung, das
beständige Tragen eines einzigen, großen Schmerzes und daraus ent-
stehende Geringschätzung aller kleineren Leiden oder Freuden; folg- 20
lieh eine schon würdigere Erscheinung als das stete Haschen nach immer
anderen Truggestalten, welches viel gewöhnlicher ist.
§ 58. Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt,
ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus
nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kom- 25
mende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches
sein. Denn Wunsch, das heißt Mangel, ist die vorhergehende Bedingung
jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folg-
lich der Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie
mehr sein als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Not: denn 30
dahin gehört nicht nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch
jeder Wunsch, dessen Importunität unsere Ruhe stört, ja sogar auch
die ertötende Langweile, die uns das Dasein zur Last macht. — Nun
aber ist es so schwer, irgend etwas zu erreichen und durchzusetzen: jedem
Vorhaben stehen Schwierigkeiten und Bemühungen ohne Ende entgegen, 35
und bei jedem Schritt häufen sich die Hindernisse. Wenn aber endlich
alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas anderes ge-
wonnen sein, als daß man von irgend einem Leiden oder einem Wunsche
befreit ist, folglich nur sich so befindet, wie vor dessen Eintritt. — Un-
mittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, das heißt der Schmerz. 40
Alles Leben ist Leiden. 263
Die Befriedigung aber und den Genuß können wir nur mittelbar er-
kennen, durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Ent-
behren, welches bei seinem Eintritt aufhörte. Daher kommt es, daß wir
der Güter und Vorteile, die wir wirklich besitzen, gar nicht innewerden,
5 noch sie schätzen, sondern nicht anders meinen, als eben es müsse so
sein, denn sie beglücken immer nur negativ, Leiden abhaltend. Erst
nachdem wir sie verloren haben, wird uns ihr Wert fühlbar; denn der
Mangel, das Entbehren, das Leiden ist das Positive, sich unmittelbar
Ankündigende. Daher auch freut uns die Erinnerung überstandener
10 Not, Krankheit, Mangel und dergleichen, weil solche das einzige Mittel
die gegenwärtigen Güter zu genießen ist. Auch ist nicht zu leugnen,
daß in dieser Hinsicht und auf diesem Standpunkt des Egoismus, der
die Form des Lebenwollens ist, der Anblick oder die Schilderung fremder
Leiden uns auf eben jenem Wege Befriedigung und Genuß gibt, wie
15 es Lukretius schön und ofienherzig ausspricht, im Anfang des zweiten
Buches :
Süß ist's über das Meer, wenn Sturm aufpeitschet die Wogen,
Not und Mühe der Schiffer zu schaun vom sicheren Lande,
Nicht weil Anderer Leid dir Lust im Herzen erwecket,
20 Nein, weil süß es erscheint von Trübsal frei sich zu wissen.
Jedoch wird sich uns weiterhin zeigen, daß diese Art der Freude,
durch so vermittelte Erkenntnis seines Wohlseins, der Quelle der eigent-
lichen positiven Bosheit sehr nahe liegt.
Daß alles Glück nur negativer, nicht positiver Natur ist, daß es
25 eben deshalb nicht dauernde Befriedigung und Beglückung sein kann,
sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst, auf welchen
entweder ein neuer Schmerz, oder auch languor, leeres Sehnen und
Langweile folgen muß; dies findet einen Beleg auch in jenem treuen
Spiegel des Wesens der Welt und des Lebens, in der Kunst, besonders
30 in der Poesie. Jede epische oder dramatische Dichtung nämlich kann
immer nur ein Eingen, Streben und Kämpfen um Glück, nie aber das
bleibende und vollendete Glück selbst darstellen. Sie führt ihren Helden
durch tausend Schwierigkeiten und Gefahren bis zum Ziel: sobald es
erreicht ist, läßt sie schnell den Vorhang fallen. Denn es bliebe ihr jetzt
35 nichts übrig, als zu zeigen, daß das glänzende Ziel, in welchem der Held
das Glück zu finden wähnte, auch ihn nur geneckt hatte, und er nach
dessen Erreichung nicht besser daran war als zuvor. Weil ein echtes,
bleibendes Glück nicht möglich ist, kann es kein Gegenstand der Kunst
sein. Zwar ist der Zweck des Idylls wohl eigenthch die Schilderung
40 eines solchen: allein man sieht auch, daß das Idyll als solches sich nicht
264 Schopenhauer.
halten kann. Immer wird es dem Dichter unter den Händen ent-
weder episch und ist dann nur ein sehr unbedeutendes Epos, aus kleinen
Leiden, kleinen Freuden und kleinen Bestrebungen zusammengesetzt:
dies ist der häufigste Fall; oder aber es wird zur bloß beschreibenden
Poesie, schildert die Schönheit der Natur, das heißt eigentlich das reine 5
willensfreie Erkennen, welches freilich auch in der Tat das einzige reine
Glück ist, dem weder Leiden noch Bedürfnis vorhergeht, noch auch
Reue, Leiden, Leere, Überdruß notwendig folgt: nur kann dieses Glück
nicht das ganze Leben füllen, sondern bloß Augenblicke desselben. —
Was wir in der Poesie sehen, finden wir in der Musik wieder, in deren lo
Melodie wir ja die allgemein ausgedrückte innerste Geschichte des sich
selbst bewußten Willens, das geheimste Leben, Sehnen, Leiden und
Freuen, das Ebben und Fluten des menschlichen Herzens wiedererkannt
haben. Die Melodie ist immer ein Abweichen vom Grundton durch
tausend wunderliche Irrgänge bis zur schmerzlichsten Dissonanz, darauf i5
sie endlich den Grundton wiederfindet, der die Befriedigung und Be-
ruhigung des Willens ausdrückt, mit welchem aber nachher weiter nichts
mehr zu machen ist und dessen längeres Anhalten nur lästige und nichts-
sagende Monotonie wäre, der Langweile entsprechend.
Alles was diese Betrachtungen deutlich machen sollten, die Unerreich- 20
barkeit dauernder Befriedigung und die Negativität alles Glückes findet
seine Erklärung in dem, was am Schlüsse des zweiten Buches gezeigt
ist: daß nämlich der Wille, dessen Objektivation das Menschenleben
wie jede Erscheinung ist, ein Streben ohne Ziel und ohne Ende ist.
Das Gepräge dieser Endlosigkeit finden wir auch allen Teilen seiner ge- 25
samten Erscheinung aufgedrückt, von der allgemeinsten Form dieser,
der Zeit und dem Raum ohne Ende an, bis zur vollendetsten aller Er-
scheinungen, dem Leben und Streben des Menschen. — Man kann drei
Extreme des Menschenlebens theoretisch annehmen und sie als Elemente
des wirklichen Menschenlebens betrachten. ErstHch das gewaltige Wollen, 30
die großen Leidenschaften (Radscha Guna). Es tritt hervor in den großen
historischen Charakteren; es ist geschildert im Epos und Drama: es
kann sich aber auch in der kleinen Sphäre zeigen, denn die Größe der
Objekte mißt sich hier nur nach dem Grade, in welchem sie den Willen
bewegen, nicht nach ihren äußeren Verhältnissen. Sodann zweitens das 35
reine Erkennen, das Auffassen der Ideen, bedingt durch Befreiung der
Erkenntnis vom Dienste des Willens: das Leben des Genius (Satwa
Guna). Endlich drittens die größte Lethargie des Willens und damit der
an ihn gebundenen Erkenntnis, leeres Sehnen, lebenerstarrende Lang-
weile (Tama Guna). Das Leben des Individuums, weit entfernt in einem 40
dieser Extreme zu verharren, berührt sie nur selten und ist meistens
Alles Leben ist Leiden. 265
nur ein schwaclies und schwankendes Annähern zu dieser oder jener
Seite, ein dürftiges Wollen kleinlicher Objekte, stets wiederkehrend und
so der Langweile entrinnend. — Es ist wirklich unglaublich, wie nichts-
sagend und bedeutungsleer, von außen gesehen, und wie dumpf und be-
0 sinnungslos, von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen
dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches
Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Be-
gleitung einer Reihe trivialer Gedanken. Sie gleichen Uhrwerken, welche
aufgezogen werden und gehen, ohne zu wessen warum; und jedesmal,
10 daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschen-
lebens aufs neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes
Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt,
mit unbedeutenden Variationen. — Jedes Individuum, jedes Menschen-
gesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des un-
15 endhchen Naturgeistes, des beharrhchen Willens zum Leben, ist nur
ein flüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unend-
Hches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine
Weile bestehen läßt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. Dennoch,
und hier liegt die bedenkhche Seite des Lebens, muß jedes dieser flüch-
20 tigen Gebilde, dieser schalen Einfälle, vom ganzen Willen zum Leben,
in aller seiner Heftigkeit, mit vielen und tiefen Schmerzen und zuletzt
mit einem lange gefürchteten, endlich eintretenden bitteren Tode be-
zahlt werden. Darum macht uns der AnbHck eines Leichnams so plötz-
lich ernst.
25 Das Leben jedes einzelnen ist, wenn man es im ganzen und allge-
meinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigent-
lich immer ein Trauerspiel; aber im einzelnen durchgegangen hat es
den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages,
die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der
30 Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittels des stets auf Schabernack be-
dachten Zufalls, sind lauter Komödienszenen. Aber die nie erfüllten
Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zer-
tretenen Hoffnungen, die unzähhgen Irrtümer des ganzen Lebens, mit
dem steigenden Leiden und Tode am Schlüsse, geben immer ein Trauer-
35 spiel. So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unseres Daseins noch
den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels
enthalten und wir dabei doch nicht einmal die Würde tragischer Per-
sonen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, un-
umgängHch läppische Lustspielcharaktere sind.
40 So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschen-
leben füllen und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen
266 Schopenhauer.
sie doch nicht die UnzulängUchkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes,
das Leere und Schale des Daseins zu verdecken, oder die Langweile aus-
zuschließen, die immer bereit ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge
läßt. Daraus ist es entstanden, daß der menschliche Geist, noch nicht
zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen und Beschäftigungen, die 5
ihm die wirkHche Welt auflegt, sich in der Gestalt von tausend ver-
schiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit dieser
sich dann auf alle Weise zu tun macht und Zeit und Kräfte an ihr ver-
schwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er
gar nicht empf änghch ist. Dieses ist daher auch ursprünghch am meisten lo
der Fall bei den Völkern, welchen die Milde des Himmelsstriches und
Bodens das Leben leicht macht, vor allen bei den Hindus, dann bei den
Griechen, Eömern und später bei den ItaHenern, Spaniern u. s. w. —
Dämonen, Götter und Heihge schafft sich der Mensch nach seinem
eigenen Bilde; diesen müssen dann unablässig Opfer, Gebete, Tempel- i5
Verzierungen, Gelübde und deren Lösung, Wallfahrten, Begrüßungen,
Schmückung der Bilder u. s. w. dargebracht werden. Ihr Dienst ver-
webt sich überall mit der Wirklichkeit, ja verdunkelt diese: jedes Er-
eignis des Lebens wird dann als Gegenwirkung jener Wesen aufge-
nommen: der Umgang mit ihnen füllt die halbe Zeit des Lebens aus, 20
unterhält beständig die Hoffnung und wird, durch den Reiz der Täu-
schung, interessanter, als der mit wirklichen Wesen. Es ist der Ausdruck
und das Symptom der doppelten Bedürftigkeit des Menschen, teils
nach Hilfe und Beistand und teils nach Beschäftigung und Kurzweil:
und wenn er auch dem ersteren Bedürfnis oft gerade entgegenarbeitet, 25
indem bei vorkommenden Unfällen und Gefahren kostbare Zeit und
Kräfte, statt auf deren Abwendung, auf Gebete und Opfer unnütz
verwendet werden, so dient er dem zweiten Bedürfnis dafür desto besser,
durch jene phantastische Unterhaltung mit einer erträumten Geister-
welt: und dies ist der gar nicht zu verachtende Gewinn aller Super- 3o
stitionen.
Arthur Schopenhauer (1788 — 1860) lehrt, als Jünger Kants, daß die Welt
unsere Vorstellung sei, und schHeßt von der Erscheinungswelt aus auf etwas,
das ihr zu Grunde liegt. Kant hatte dies zu Grunde Liegende, das Ding an
sich, als unerkennbar bezeichnet, S. begreift es als Will e. Es war ein Aus-
druck seiner eigenen inneren Erlebnisse, wenn er die Triebe und Leiden-
schaften als die eigentlichen Bewegerinnen des menschlichen Lebens und
Handelns ansah und dies dunkle Streben und Drängen überall in der Erschei-
nungswelt wiederfand und als Urgrund alles Seins bezeichnete. Gehen wir
von diesem Urgrund aus, so können wir sagen, daß der Wille in der Welt in
die Erscheinung (für ein auffassendes Bewußtsein) tritt, sich objektiviert.
Erläuterungen. 267
Doch wir können Stufen dieser Objektivation unterscheiden: „Wir sehen auf
der untersten Stufe den Willen sich darstellen als einen blinden Drang, ein
finsteres, dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren Erkennbarkeit. Es
ist die einfachste und schwächste Art seiner Objektivation. Als solcher blinder
Drang und erkenntnisloses Streben erscheint er aber noch in
der ganzen unorganischen Natur, in allen den ursprünglichen Kräften, welche
aufzusuchen und ihre Gesetze kennen zu lernen Physik und Chemie beschäf-
tigt sind, und jede von welchen sich uns in ^lillionen ganz gleichartiger,
keine Spur von individuellem Charakter ankündigender
Erscheinungen darstellt . . . Von Stufe zu Stufe sich deutlicher objektivierend,
wirkt dennoch auch im Pflanzenreich, wo nicht mehr eigentliche Ursachen,
sondern Reize das Band seiner Erscheinungen sind, der Wille doch noch
völlig erkenntnislos, als finstere treibende KJraft und so endlich auch noch
im vegetativen Teil der tierischen Erscheinung . . ., wo immer nur noch bloße
Reize seine Erscheinung notwendig bestimmen. Die immer höher stehenden
Stufen der Objektivität des Willens führen endlich zu dem Punkt, wo das
Individuum, welches die Idee (im Sinne Piatos) darstellt, nicht mehr
durch bloße Bewegung auf Reize seine zu assimilierende Nahrung erhalten
konnte, weil solcher Reiz abgewartet werden muß, hier aber die Nahrung eine
spezieller bestimmte ist, und bei der immer mehr angewachsenen Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen das Gedränge und Gewirre so groß geworden
ist, daß sie einander stören und der Zufall, von dem das durch bloße Reize
bewegte Individuum seine Nahrung erwarten muß, zu ungünstig sein würde.
Die Nahrung muß daher aufgesucht werden . . . Dadurch wird hier die Be-
wegung auf Motive und wegen dieser die Erkenntnis notwendig,
welche also eintritt als ein auf dieser Stufe der Objektivation des Willens
erfordertes Hilfsmittel zur Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des
Geschlechts. Sie tritt hervor, repräsentiert durch das Gehirn oder ein größeres
Ganglion, eben wie jede andere Bestrebung oder Bestimmung des sich ob-
jektivierenden Willens durch ein Organ repräsentiert ist, das heißt für die Vor-
stellung sich als Oi'gan darstellt. — Allein mit diesem Hilfsmittel steht nun
mit einem Schlage die Welt als Vorstellung da, mit allen ihren
Formen, Objekt und Subjekt, Zeit, Raum, Vielheit und Kausalität. Die Welt
zeigt jetzt die zweite Seite. Bisher bloß Wille, ist sie nun zugleich Vor-
stellung, Objekt des erkennenden Subjekts . . . Endlich nun da, wo
der Wille zum höchsten Grad seiner Objektivation gelangt ist, reicht die den
Tieren aufgegangene Erkenntnis des Verstandes, dem die Sinne
die Data Uefern, woraus bloße Anschauung, die an die Gegenwart gebunden
ist, hervorgeht, nicht mehr zu: das komplizierte, vielseitige, bildsame, höchst
bedürftige und unzähHgen Verletzungen ausgesetzte Wesen, der Mensch,
mußte, um bestehen zu können, durch eine, doppelte Erkenntnis erleuchtet
werden, gleichsam eine höhere Potenz der anschaulichen Erkenntnis mußte
zu dieser hinzutreten, eine Reflexion jener: die Vernunft als das Ver-
mögen abstrakter Begriffe." Das Zitat enthält die für das Verständnis unseres
Lesestückes nötigen Grundlehren S.s. Das letztere ist genommen aus dem
268 Schopenhauer.
vierten Buch von S.s Hauptwerk „Welt als Wille und Vorstellung" und gibt
in schöner und machtvoller Darstellung die Motive und die Begründung der
pessimistischen Weltanschauung unseres Philosophen.
Die beste und am leichtesten erreichbare Ausgabe der Werke S.s ist die
bei Reclam in sechs Bänden erschienene (Herausgeber E. Grisebach). Von
den Werken über S. seien erwähnt: Rudolf Lehmann, Schopenhauer, 1894,
Johannes Volkelt, Arthur Schopenhauer, 1900, Kuno Fischer, Gesch. d. neueren
Philos., Bd. IX, 2. Auflage 1898. Die Tatsachen seines Lebens gibt knapp
und übersichtlich E. Grisebach, Schopenhauer, Geschichte seines Lebens,
1897. Außerdem enthalten die Gesamtdarstellungen der Geschichte der Philo-
sophie kurze Übersichten über S.s Philosophie und weitere Literaturangaben.
Zur ersten Lektüre sind zu empfehlen S.s „Parerga und Paralipomena" (in
Reclams Ausgabe Band IV und V).
254 16 f. Der Ausdruck „formelle Seite" wird deutlich, wenn wir an die
Kantische Lehre denken, daß Raum und Zeit Formen des Erkennens sind.
2555. Vergleiche die Vorbemerkung und zu näherer Kenntnis S.s Schrift:
„Über den Willen in der Natur".
256 1. Die Zitate sind aus Lucrez, De natura rerum entnommen. Ver-
gleiche 262 5 f. und 263 17 f.
256 40 f. Das Philadelphische Pönitenziarsystem war ein sogenanntes Ver-
einzelungssystem und wurde im Jahre 1786 eingeführt. Darüber heißt es
in HoltzendorfTs Strafrecht, 1871: „Das Isolierungs- oder pennsylvanische
Zellensystem ging von dem Grundgedanken aus, daß das Zusammenleben
von Sträflingen an Leib und Seele verdirbt, was noch zu verheeren ist, und
daß ohne bessernde Gefängniszucht die Strafe fruchtlos bleibt. Die ursprüng-
liche, rohe, durch quäkerische Askesis verfälschte Form der Isolierung der
SträfHnge durch die Einrichtung einer arbeitslosen, lebensfremden Verein-
samung, der mosf rigid and unremitted solitude, mußte im Namen der Mensch-
lichkeit bald aufgegeben werden."
257 17 f. Den durch das reine Erkennen gewonnenen Zustand schildert
S. einmal so: „Wenn äußerer Anlaß oder innere Stimmung uns plötzlich
aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklaven-
dienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die
Motive des Willens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung
auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv
sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht
sofern sie Motive sind: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer
gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe auf einmal eingetreten, und uns ist
völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste
Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind für jenen Augenblick
des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zucht-
hausarbeit des Willens, das Rad des Ixion steht still. " — Der Genuß des Schönen
ist nach S., der sich hier an Kant anschließt, ein „interesseloses Anschauen".
Wir verlieren uns gänzlich in dem Gegenstande und werden zum reinen, willen-
losen, schmerzlosen, zeitlosen Subjekt der Erkenntnis.
Erläuterungen. 269
258 6 ff. Die Zitate sind aus Homers Ilias und Odyssee entnommen.
Der Sohn des Zeus ist Herakles.
258 13 f. Hier drängt sich uns wohl die Erinnerung an die Klage des
Goethischen Faust auf:
Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen,
Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an;
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen,
' Dann heißt das Bess're Trug und Wahn.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle,
Erstarren in dem irdischen Gewühle.
Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
Und hoffnungsvoll zum E^\dgen erweitert,
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug.
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,
Dort wirket sie geheime Schmerzen,
Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh;
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;
Du bebst vor allem, was nicht trifft.
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.
258 23. Vergleiche Lesestück IV.
259 19. S. denkt wohl an das einleitende Gespräch in Piatos Staat (I. c. 1 — 4).
Nicht das Alter, so heißt es dort, ist an und für sich beschwerUch, sondern
die Sinnesart des Menschen entscheidet über seine Lebensstimmung. Ist
jene heiter, so vermag das Alter sie nicht zu trüben, ist sie trübe, so kann die
Jugend sie nicht aufheitern.
261 28 ff. Es ist die dritte Ode aus Buch IL
264 22 f. Es heißt an der bezeichneten Stelle: „Abwesenheit alles Zieles,
aller Grenzen gehört zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben
ist." Und etwas später: „Jedes erreichte Ziel ist wieder Anfang einer neuen
Laufbahn und so ins Unendliche. Die Pflanze erhöht ihre Erscheinung vom
Keim durch Stamm und Blatt zur Blüte und Frucht, welche wieder nur Anfang
eines neuen Keimes ist, eines neuen Individuums, das abermals die alte Bahn
durchläuft, und so dmxh unendliche Zeit. Ebenso ist der Lebenslauf des
Tieres : die Zeugung ist der Gipfel desselben, nach dessen Erreichung das Leben
des ersten Individuums schnell oder langsam sinkt, während ein neues der
Natur die Erhaltung der Spezies verbürgt und dieselbe Erscheinung wieder-
holt . . . E-\vige3 Werden, endloser Fluß, gehört zur Offenbarung des Wesens
des Willens."
264 28,29. Diese Einteilung hat S. entnommen aus Manus Gesetzbuch. Nach
einer von W. Siegling für uns freundlichst angefertigten Übersetzung heißt
es dort in Kap. XII:
270 Schopenhauer.
Vers 24. Sattva, Rajas und Tamas soll man erkennen als die drei
Grundeigenschaften (gunas) des Selbst, mit welchen der erhabene Große
(das große Prinzip) alle diese (Wesen) vollständig erfüllt hat.
25. Wenn eine dieser Eigenschaften besonders im Körper vorwaltet,
dann gestaltet sie diese Seele so, daß diese Eigenschaft den Hauptbestand-
teil bildet.
26. Sattva ist Wissen, Tamas Unwissenheit, Rajas Liebe und Haß,
so lautet die Überlieferung; dies ist ihr allumfassender, an allen Wesen
haftender Charakter.
27. Wenn man im Innern etwas Freudiges fühlt, gleichsam Ruhe, ein
reines Licht, so soll man das als Sattva erkennen.
28. Was aber von Schmerz begleitet ist und dem Innern Unfreude
bringt, das soll man als Rajas erkennen, das unwiderstehlich und beständig
die Seelen abzieht (von der wahren Erkenntnis).
29. Was aber von Verblendung begleitet ist, das unbegreifliche Ding,
das man sich nicht vorstellen, nicht erkennen kann, das soU man Tamas
nennen.
Über die Folgen dieser verschiedenen gunas heißt es dann:
31. Vedastudium, Askese, Wissen, Reinheit, Bezähmung der Sinne,
gesetzmäßiges Handeln und Meditation sind die Wirkungen des Sattva-
guna.
32. Unternehmungslust, Wankelmut, das Ergreifen unerlaubter
Beschäftigungen und beständiges Frönen der Sinnlichkeit sind die Wir-
kungen des Rajas-guna.
33. Begierde, Schläfrigkeit, Unruhe, Grausamkeit, Aufgeben des
guten Lebenswandels, Bettelei und Nachlässigkeit sind die Wirkungen
des Tamas-guna.
40. Die das Sattva besitzen, werden Götter; die das Rajas besitzen,
werden Menschen; zur tierischen Natur gelangen beständig die, welche
das Tamus besitzen ; das ist der dreifache Weg (des Kreislaufs der Geburten).
Vgl. hierzu R. Garbe, Die Sämkhya-Philosophie, 1894.
265 12. S. leugnet hier also jede Entwicklung. Dies entspricht seinem
Mangel an historischem Sinn.
266 31. Eine Erlösung von diesem Leiden ist nur möglich durch die Er-
kenntnis, daß derselbe Wille in allem sei und daß ihm nur zu entrinnen ist durch
die Verneinung des Willens zum Leben, S. erläutert diesen Gedanken an dem
Leben der Heiligen, welche die Welt überwanden und dauernde Heiterkeit
der Seele gewannen. Diese Erlösung nennt er eine Gnadenwirkung und schmerz-
voll drückt er die Sehnsucht nach einer solchen aus: „Wenden wir den Blick
von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf diejenigen, welche die
Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntnis gelangt, sich
in allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur
noch seine letzte Spur mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen
abwarten, so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des
steten Überganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie
Erläuteningen. 271
zu befriedigenden und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum,
des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft,
jene gänzHche Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterHche
Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz . . . ein ganzes
und sicheres Evangehum ist: nur die Erkenntnis ist geblieben, der WiUe ist
verschwunden. Wir aber blicken dann mit tiefer und schmerzHcher Sehnsucht
auf diesen Zustand, neben welchem das Jammervolle und Heillose unseres
Lebens durch den Kontrast in vollem Lichte erscheint." — Vor uns bleibt
allerdings nur das Nichts. — „Wir bekennen es frei: was nach gänzlicher
Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle die, welche noch des Willens
voU sind, allerdings nichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der
Wüle sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen
ihren Sonnen und ^Milchstraßen — nichts."
M e n z e r.
XX.
Comte.
über Wesen und Bedeutung der positiven Philosophie.
Bei Betrachtung der Entwicklung des menschlichen Geistes in all
seinen verschiedenen Wirkungssphären seit seinem ersten, unschein-
baren Aufkeimen bis zur Gegenwart glaube ich ein großes allgemeines
Gesetz gefunden zu haben, dem er mit unabwendbarer Notwendigkeit
imterworfen ist. Es kann, wie ich meine, fest und sicher begründet s
werden durch die wissenschafthchen Theorien über unsere Organisation
und die Bestätigungen, welche eine genaue geschichtliche Erforschung
der Vergangenheit gegeben hat. Dies Gesetz sagt, daß all unsere letzten
Gedanken und einzelnen Kenntnisse nacheinander drei verschiedene
Stadien des Erkennens durchlaufen: das theologische oder fiktive, das lo
metaphysische oder abstrakte, das wissenschaftliche oder positive. Mit
anderen Worten: der menschliche Geist wendet nach einem Gesetze
seiner Natur nacheinander bei jeder seiner Untersuchimgen drei
Methoden des Philosophierens an, welche ihrem Wesen nach ver-
schieden und selbst einander absolut entgegengesetzt sind: zuerst die is
theologische Methode, dann die metaphysische und endlich die positive.
Daraus entstehen drei Arten der Philosophie oder allgemeine Systeme
von Gedanken über den Zusammenhang der Dinge, welche sich gegen-
seitig ausschheßen: die erste ist der notwendige Ausgangspunkt des
menschUchen Denkens, die dritte sein End- und Ruhepunkt, die zweite 20
dient nur als Übergang von dem einen zum anderen.
Im theologischen Stadium richtet der menschhche Geist seine 4
Untersuchungen im wesentlichen auf die innere Natur der Dinge und
die ersten Ursachen und letzten Ziele alles Geschehens, mit einem Wort :
auf eine absolute Erkenntnis. Er sieht in allen Vorgängen das unmittel- 25
bare, ununterbrochene Wirken von mehr oder minder zahlreichen
übernatürlichen Wesen, deren vermeintliches Eingreifen alle Unregel-
mäßigkeit im Weltall erklären soll, die ihm in die Augen fällt. .-
über Wesen und Bedeutung der positiven Philosophie. 273
Im metaphysischen Stadium, das im Grunde nur eine einfache
Abänderung des ersten ist, werden die übernatürlichen Wesen ersetzt
durch abstrakte Kräfte, als wirklich gedachte Wesenheiten (personi-
fizierte Abstraktionen), welche den verschiedenen Dingen der Welt
5 innewohnen sollen. Ihnen schreibt man die Fähigkeit zu, alle be-
obachteten Erscheinungen zu verursachen, deren jede dann durch Ab-
leitung aus einer entsprechenden Wesenheit erklärt wird.
Im positiven Stadium erkennt man endlich die Unmöglichkeit,
absolute Erkenntnis zu gewinnen; man verzichtet darauf, Ursprung
10 und Bestimmung des Weltalls zu ergründen und die inneren Ursachen
der Erscheinungen zu begreifen. Man strebt einzig und allein danach,
durch wohlüberlegte Vereinigung von Theorie und Beobachtung ihre
wirkenden Gesetze, das heißt ihre unveränderlichen Beziehungen nach
Zeitfolge und Ähnlichkeit zu entdecken. Die Erklärung der Vorgänge,
15 so erst auf ihr wahres Gebiet beschränkt, besteht jetzt nur noch in
der Vereinigung der verschiedenen Einzelerscheinungen mit einigen
allgemeinen Tatsachen, deren Zahl die fortschreitende Wissenschaft
immer mehr zu vermindern strebt.
Das theologische System erreichte seine höchstmögliche Vollkommen-
20 heit, als es das voraussehende Handeln eines einzigen Wesens an die
Stelle des wahllosen Eingreifens zahlreicher, unabhängiger Gottheiten
setzte, die eine primitive Einbildungskraft erdacht hatte. Ebenso
liegt die letzte Vollendung des metaphysischen Systems in dem Gedanken
einer einzigen großen allgemeinen Wesenheit an Stelle verschiedener
25 einzelner : der Natur, betrachtet als die einzige Quelle aller Er-
scheinungen. Ebenso würde die Vollkommenheit der positiven Philo-
sophie, welcher sie sich immer mehr zu nähern strebt, ohne sie wohl
jemals zu erreichen, darin bestehen, daß es gelingt, sich die getrennt
gegebenen Erscheinungen als besondere Fälle einer einzigen letzten
30 Tatsache zu denken, wie zum Beispiel der Tatsache der Schwerkraft.
Es ist hier nicht der Ort, dies allgemeine Gesetz der geistigen Ent-
wicklung der Menschheit im einzelnen zu erweisen, es scheint mir genug,
daß ein solches Gesetz ausgesprochen wird, um unmittelbare Anerken-
nung bei allen zu finden, welche eine eindringende Kenntnis der ali-
as gemeinen Geschichte der Wissenschaften besitzen. Letztere sind heute
alle in das positive Stadium gelangt, waren aber früher im wesentlichen
aus metaphysischen Abstraktionen zusammengesetzt, nachdem sie an-
fangs von theologischen Begriffen beherrscht wurden.
Diese allgemeine Umwälzung des menschlichen Geistes findet heute
40 außerdem eine sehr einleuchtende , obgleich indirekte Bestätigung,
wenn wir die geistige Entwicklung eines Individuums betrachten.
Dessoir-Menzer, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 18
274 Comte.
Der Ausgangspunkt ist bei dem Bildungsgange des Einzelnen derselbe
wie bei dem der Gattung, und die versckiedenen Phasen des ersteren
müssen die allgemeinen Epochen des letzteren darstellen. Wer er-
innert sich nicht in Bezug auf seine wichtigsten Erkenntnisse nach-
einander ein Gläubiger als Kind, ein Metaphysiker als JüngHng, ein 5
naturwissenschaftlich Forschender als Mann gewesen zu sein?
Doch ich möchte vor allem die theoretischen Gründe betrachten,
welche die Notwendigkeit dieses Gesetzes erkennen lassen. Der wich-
tigste von ihnen hegt in der Natur der Sache, er besteht in dem Be-
dürfnis jedes Zeitalters nach einer die einzelnen Tatsachen verbindenden lo
Theorie, obgleich es doch offenbar unmöghch für den jugendlichen
menschhchen G^ist ist, Theorien nach Beobachtungen zu bilden.
Seit Bacon wiederholen alle guten Köpfe, daß wahre Erkenntnis
nur aus der Beobachtung von Tatsachen gewonnen werden kann.
Dieser Grundsatz gilt, wenn man ihn richtig anwendet, zweifellos für is
das Mannesalter unseres Denkens. Ebenso gewiß ist aber, daß bei der
ersten Bildung von Erkenntnissen der menschhche Geist in seinem
primitiven Zustande so nicht denken konnte und auch nicht durfte,
denn wenn auch jede Theorie notwendig auf Beobachtungen geführt
sein muß, so ist doch anderseits klar, daß wir zur Beobachtung irgend 20
einer Theorie bedürfen. Wenn wir die Beobachtung der Erscheinungen
mcht sogleich nach bestimmten Grundsätzen einrichten würden, wäre es
uns nicht allein unmöghch, diese vereinzelten Beobachtungen zu ver-
einigen und dann daraus irgend ein Ergebnis zu ziehen, wir wären sogar
gänzHch unfähig, sie festzuhalten ; wir würden bhnd sein mit offenen 25
Augen.
So befand sich das menschhche Denken an seinem Beginn einge-
schlossen in einen Kreis, aus dem es nie herausgekommen wäre, wenn
sich nicht ein glückhcher Ausweg geöffnet hätte durch die natürhche
Entwicklung der theologischen Ideen. Sie gaben den Anstrengungen so
des Denkens ein gemeinsames Ziel und Stoff seinem Tatendrang.
Daß es so kommen mußte, wird noch deuthcher, wenn wir betrachten,
wie vollkommen die theologische Philosophie mit der Eigenart der
Probleme übereinstimmt, an deren Überwindung der jugendliche mensch-
hche Geist seine ganze Kraft einsetzt. Es ist merkwürdig, daß sich unser 35
Denken in diesem primitiven Zustande gerade die für uns immer un-
lösbaren Fragen stellt: nach dem Wesen der Dinge, Anfang und Ende
der Welt. Alle wirkhch lösbaren Probleme werden kaum ins Auge
gefaßt, als wären sie unwert eines ernsteren Nachdenkens. Man sieht
leicht den Grund : die Erfahrung allein hat uns das Maß unserer Kräfte 40
zeigen können. Hätte der Mensch nicht mit einer übertriebenen
über Wesen imd Bedeutung der positiven Philosophie. 275
Schätzung seines Könnens begonnen, er hätte niemals entwickeln können,
was in ihm lag. So fordert es unsere Organisation.
Sehen wir auf die praktische Bedeutung dieses Philosophierens für
den primitiven Menschen, so hatte es für ihn den Eeiz, daß er sich als
ö unumschränkten Herrscher fühlte über die ihn umgebende Welt, welche
ganz für seinen Nutzen eingerichtet zu sein schien. Diese chimärischen
Hoffnungen, diese übertriebenen Anschauungen von der Bedeutung
des Menschen innerhalb des W^eltalls entstehen aus der theologischen
Philosophie, werden aber für immer beim ersten Einfluß der positiven
10 Philosophie zerstört. Indessen, sie sind die unentbehrliche Triebfeder,
ohne welche der Entschluß des primitiven Menschens zu so mühsamen
Arbeiten unerklärt bleibt. Wir sind erst jetzt reif genug, um schwierige
wissenschaftliche Untersuchungen zu unternehmen, ohne daß ein außer-
ordentliches Ziel unsere Phantasie entflammt, wie es bei der Astrologie
15 und Alchymie der Fall war.
Es ist jetzt sehr leicht einzusehen, daß der menschliche Geist, um
von dieser vorläufigen Philosophie zur endgültigen überzugehen, natürhch
als Übergangsphilosophie die metaphysischen Methoden und Lehren
annehmen mußte. Die Theologie und die Physik sind so durchaus un-
20 vereinbar, ihre Art zu denken ist so ganz und gar entgegengesetzt, daß
der menschliche Geist, ehe er auf die eine verzichtete, um ausschheßhch
die andere anzuwenden, sich vermittelnder Begriffe bedienen mußte,
welche durch ihren zwiespältigen Charakter den Übergang erleichtern
konnten. Dies ist die natürliche Bestimmung der metaphysischen Be-
25 griffe : sie haben sonst keinen wirklichen Nutzen. Wenn nun der Mensch
bei der Erforschung der Erscheinungen an die Stelle einer übernatürlichen
Leitung eine den Dingen entsprechende und von ihnen unabtrennbare
Wesenheit zur Erklärung einsetzte, so wurde diese zwar zuerst begriffen
wie eine Ausstrahlung aus jener, aber allmähhch gewöhnte man sich
30 daran, nur die gegebenen Tatsachen zu betrachten. Auch w^urden die
Begriffe dieser metaphysischen Anschauungen allmähhch so verfeinert,
daß sie für ein klares Denken nur noch abstrakte Namen der Vorgänge
waren.
Es wird mir nun leicht sein, das Wesen der positiven Philosophie
35 scharf zu bestimmen. Für sie sind alle Vorgänge unveränderlichen,
natürlichen Gesetzen unterworfen, deren genaue Entdeckung und Zu-
rückführung auf eine möglichst geringe Anzahl das Ziel all ihrer Be-
strebungen ist. Für sie ist es ein völlig aussichtsloses und sinnloses
Unternehmen, nach ersten Ursachen und letzten Zwecken zu forschen.
*o Selbst in den vollendeten, völHg gelungenen positiven Erklärungen haben
wir nicht die Anmaßung, die erzeugenden (schaffenden) Ursachen
276 Comte.
der Vorgänge darzustellen, da wir so nur die Schwierigkeit hinausschieben
würden. Wir wollen nichts als die Bedingungen ihres Auftretens exakt
zergHedern und sie untereinander durch die gewöhnlichen Beziehungen
von Zeitfolge und Ähnlichkeit verknüpfen.
Um das bewundernswürdigste Beispiel zu nennen : wir sagen, daß die 5
allgemeinen Vorgänge im Weltall erklärt sind, soweit dies möglich
ist, durch Newtons Gesetz der Gravitation. Denn diese schöne Theorie
zeigt einerseits, daß die grenzenlose Mannigfaltigkeit der astronomischen
Erscheinungen ein und derselbe Vorgang ist, nur von verschiedenen
Gesichtspunkten aus angesehen; anderseits wird uns dies allgemeine lo
Geschehen dargestellt auf Grund einer einfachen Verallgemeinerung
eines uns ganz vertrauten Vorgangs, der Schwere der Körper auf der
Erdoberfläche, und deshalb betrachten wir es als völHg erkannt. Die
Frage, was Anziehung und Schwere selbst und welches ihre Ursachen
seien, gehört zu den unlösbaren und nicht in das Gebiet der positiven is
Philosophie, und wir überlassen sie mit Eecht der Einbüdungskraft
der Theologen oder der Spitzfindigkeit der Metaphysiker. Der offenbare
Beweis für die Unmöglichkeit, auf solche Fragen Antwort zu erhalten.
Hegt in der Tatsache, daß bei allen Versuchen, etwas wirklich Wissen-
schafthches hierüber auszusagen, die größten Geister immer nur das eine 20
Prinzip durch das andere bestimmen konnten ; entweder sagten sie, daß
die Anziehung nur eine allgemeine Schwere, oder daß die Schwere nur
eine Anziehung der Erde sei.
Ich habe nun zu untersuchen, zu welcher Phase ihrer Ausbildung
die positive Philosophie heute gekommen ist und was noch übrig bleibt, 25
um alle Erscheinungen ihr unterzuordnen.
Ich erinnere zunächst daran, daß die verschiedenen Zweige unserer
Kenntnisse die drei großen Phasen ihrer Entwicklung nicht gleichmäßig
schnell durchlaufen konnten. Es besteht hier ein unveränderliches
und notwendiges Gesetz. Es entspricht der verschiedenen Natur der 30
Erscheinungen und wird bestimmt durch den verschiedenen Grad ihrer
Allgemeinheit, Einfachheit und gegenseitigen Abhängigkeit. So sind
zuerst die astronomischen Vorgänge durch positive Theorien begriffen
worden, dann die physikaHschen im eigentlichen Sinne, dann die che-
mischen und schHeßlich die physiologischen. 35
Umfaßt nun die positive Philosophie heute alle Arten der Erschei-
nungen? Offenbar ist dies nicht der Fall. Es ist noch viel wissenschaft-
hche Arbeit zu tun, um der positiven Philosophie den Charakter der
Universahtät zu geben, welcher zu ihrer endgültigen Herrschaft unent-
behrhch ist. ^^
TatsächHch ist innerhalb der vier soeben genannten Hauptkategorien
über Wesen und Bedeutung der positiven Philosophie. 277
der natürliclien Erscheinungen eine Lücke. Die sozialen Vorgänge
verdienen, obgleich sie mitbegriffen werden unter den physiologischen
Vorgängen, wegen ihrer Bedeutsamkeit und eigentümlichen Schwierig-
keiten für die Forschung, eine besondere Kategorie zu bilden. Diese letzte
5 Begriffsreihe, welche sich auf die eigenartigsten, zusammengesetztesten
und am meisten von den anderen beeinflußten Erscheinungen bezieht,
mußte sich schon deshalb langsamer vollenden als die vorigen. Es
ist einleuchtend, daß sie in den Bereich der positiven Philosophie
noch nicht eingetreten ist. Die theologischen imd metaphysischen
10 Methoden sind hier noch allein im Gebrauch, obgleich alle guten Köpfe
schon völlig davon überzeugt sind, daß sie für diesen Zweck nicht aus-
reichen.
Das ist die große, aber offenbar einzige Lücke, welche ausgefüllt
werden muß, um die Herrschaft der positiven Philosophie ganz zu be-
15 gründen. Jetzt, wo der menschliche Geist eine Physik des Himmels,
der Erde, der organischen Wesen begründet hat, bleibt ihm übrig, das
System der Erfahrungswissenschaften zu schließen durch Begründung
einer sozialen Physik. Dies ist heute das größte und dring-
hchste Bedürfnis unseres Denkens: es ist der erste, der besondere Zweck
20 dieses Werks.
Meine Auffassung der sozialen Vorgänge will dieser Wissenschaft
nicht die gleiche Vollkommenheit wie den vorerwähnten verschaffen,
aber sie soll dieser letzten Klasse unserer Erkenntnis den positiven
Charakter aufprägen, welchen alle anderen schon haben. Wenn diese
25 Forderung einmal wirkHch erfüllt ist, so wird das philosophische System
der Gegenwart als Ganzes begründet sein; denn jedes beobachtete
Phänomen muß offenbar sich unterordnen lassen unter eine der fünf
großen Kategorien, der astronomischen, physikalischen, chemischen,
physiologischen und sozialen Vorgänge. Sind dann also unsere Grund-
30 begriffe einartig, so "v\drd die Philosophie endgültig den positiven Zustand
erreicht haben, ohne jemals ihren Charakter ändern zu können. Sie
kann sich nur unbegrenzt weiter entwickeln durch die immer wachsenden
Neuerwerbungen, welche notwendig aus neuen Beobachtungen odqr
tieferen Überlegungen sich ergeben werden. Hat sie so den ihr jetzt
35 noch fehlenden Charakter der Universalität erworben, so wird sie fähig
sein, vermöge ihrer natürhchen Überlegenheit die theologische und
metaphysische Philosophie zu verdrängen, deren einziger besonderer
W^ert diese Universahtät ist. Ist ihnen diese werbende Kraft ge-
nommen, so werden sie für unsere Nachkommen nur noch eine histo-
40 rische Bedeutung haben.
278 Comte.
Auguste Comte (1798 — 1857) ist der Begründer des modernen Positivis-
mus. Sein Hauptwerk „Cours de Philosophie positive" erschien in 6 Bänden
vom Jahre 1830 — 1842. Ein Auszug aus diesem wurde unter dem Pseudonym
Jules Rig 1880/81 in 2 Bänden veröffentHcht imd von J. v. Kirchmann in das
Deutsche übersetzt (Heidelberg 1883). Unser Lesestück ist mit Benützung
jener Auswahl und Übersetzung hergestellt, doch wurde das Original über-
all verglichen und einige besonders charakteristische Sätze wurden aus ihm
hinzugefügt. Die Grundlehren der positiven Philosophie können nicht präg-
nanter und schärfer, als es hier geschieht, formuliert werden. C. versucht dem
Gedanken der strengen, unabänderlichen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens
die Befriedigung abzugewinnen, welche aus der sicheren Erkenntnis gegenüber
dem bloßen Vermuten und unsicheren Hoffen erfolgt. So sagt er mit besonderer
Beziehung auf die sozialen Probleme der neueren Zeit: „Die tiefe Empfindung
für die Gesetze, welche die verschiedenen Arten der Vorgänge leiten, kann
allein zur wahren Resignation führen, welche standhaft und ohne Hoffnung
auf Ausgleichung die unvermeidlichen Übel erträgt. Wenn es politische Übel
gibt, welche die Wissenschaft nicht beseitigen kann, und dies ist wohl zu
bezweifeln, so kann sie wenigstens immer deren Unvermeidlichkeit darlegen
und so die durch jene herbeigeführten Schmerzen lindern, sowie die Naturgesetze
aufzeigen, welche sie unübersteiglich machen." Das Denken C.s nahm später
eine Wendung zur Religion, welche er als Kultus der Menschheit begriff.
Über C.s Lehre und Leben geben die mehrfach genannten Lehrbücher
der Geschichte der Philosophie Aufschluß. Vergleiche außerdem J. St. Mill,
Comte and Positivism, 2. Aufl., 1866, ins Deutsche übersetzt 1874. Als An-
hänger des Positivismus sind in England J. St. Mill, in Frankreich H. Taine,
in Deutschland A. Riehl, E. Mach und R. Avenarius zu nennen.
274 13. Vgl. Lesestück VIII und XIV, sowie die Einleitung zu Nr. XXL
275 29. Vgl. Lesestück III und die Erläuterung dazu.
277 2. C. betrachtete die Psychologie nur als Teil der Physiologie. Die
geistigen Vorgänge werden den „das Gehirn betreffenden Verrichtungen"
gleichgesetzt.
277 18. Diese soziale Physik (Soziologie) zerfällt in zwei Teile: die soziale
Statik und soziale Dynamik. Erstere handelt von den Bedingungen des ge-
sellschaftlichen Lebens, letztere von seiner Entwicklung. Die Soziologie ist
bisher noch nicht zu einer sicheren Abgrenzung ihres Arbeitsgebietes und der
von ihr anzuwendenden Methode gelangt. Vgl. Wundt, Logik, 2. Aufl. 1895,
II, 2, S. 436 ff. u. 589 ff. und P. Barth, Die Philosophie der Geschichte als
Soziologie, 1. Teil. Leipzig 1897.
277 29. Die Aufzählung der Wissenschaften wird vollständig, wenn wir die
Mathematik hinzunehmen. Sie steht an erster Stelle und gibt den anderen
die Grundlage, da „jede Frage auf eine reine Zahlenfrage zurückgeführt werden
kann". M e n z e r.
XXI.
John Stuart Mill.
Über die letzte Rechtfertigung des Nützliehkeitsprinzips.
Es ist oft und mit Eecht in Bezug auf einen Geltung beanspruchenden
morahschen Satz gefragt worden: Wie kann er begründet werden?
Weshalb soll man ihm gehorchen? — oder richtiger: Welches ist die Quelle
seiner Verbindhchkeit ? Wo leitet er seine verpflichtende Kraft her ? Die
Moralphilosophie muß notwendigerweise eine Antwort auf diese Frage
geben können. Sie erhebt sich gegenüber allen ethischen Grundsätzen,
wenn sie auch oft nur die Form eines gegen die NützHchkeitsmoral
gerichteten Einwurfs annimmt, als gälte sie von dieser ganz besonders.
Diese Frage entsteht wirkhch, so oft ein Mensch aufgefordert wird, einen
ethischen Grundsatz anzunehmen oder die Moral auf einer anderen
Grundlage aufzubauen als die, auf welche er sich bisher verHeß. Denn
die herkömmliche Moral, d. h. diejenige, welche Erziehung und all-
gemeine Ansicht geheihgt haben, ist die einzige, welche von dem Gefühl
begleitet auftritt, daß sie ihre Verbindlichkeit in sich selbst trage. Und
wenn man jemand überzeugen will, daß diese Moral ihre Verbindlichkeit
von einem allgemeinen Grundsatz ableitet, welchen die Gewohnheit
nicht mit einem solchen Heihgenschein umgeben hat, so erscheint ihm
diese Zumutung widersinnig. Die angenommenen Folgesätze scheinen
ihm eine stärker verbindende Kraft zu besitzen, als der erste Grundsatz.
Der Oberbau scheint ihm besser ohne Fundament als mit einem solchen
bestehen zu können. Er sagt zu sich selbst: „Ich fühle, daß ich ver-
pflichtet bin, nicht zu stehlen oder zu morden, nicht zu betrügen oder zu
täuschen. Warum bin ich verpflichtet, die allgemeine Glücksehgkeit
zu fördern? Wenn meine eigene Glückseligkeit in etwas anderem liegt,
warum soll ich dies nicht vorziehen?"
Wenn die Ansicht, welche die Nützlichkeitsbetrachtung von der
Natur des morahschen Gefühls hat, richtig ist, so wird sich diese Schwierig-
keit nur so lange wiederholen, bis die Einflüsse, welche den morahschen
i
280 J.St. Mill.
Charakter bilden, sich des obersten Grundsatzes in demselben Grade
bemächtigt haben, wie es bisher nur mit einigen der Folgerungen daraus
geschehen ist, bis unter dem Einfluß einer verbesserten Erziehung das
Gefühl von der Einheit mit unseren Mitmenschen (zweifellos hat Christus
dies beabsichtigt) in unserem Charakter so tiefe Wurzel geschlagen hat 5
und für uns so zum natürlichen Empfinden geworden ist, wie es die
Scheu. vor dem Verbrechen bei einem gut erzogenen jungen Menschen
ist. Bis dahin besteht für das Nützlichkeitsprinzip keine besondere
Schwierigkeit, sondern sie gilt für jeden Versuch, die Moral zu zergHedern
und auf Prinzipien zurückzuführen. Ist aber das Prinzip für das Be- lo
wußtsein der Menschen noch nicht mit so viel Heiligkeit umkleidet
als eine seiner Anwendungen, so scheint die Ableitung der letzteren
ihre Heihgkeit zum Teil zu zerstören.
Das NützHchkeitsprinzip hat entweder alle die Gründe für sich,
welche irgend ein anderes Moralsystem besitzt, oder es Hegt mindestens i5
nichts vor, warum es sie nicht erhalten könnte. Diese Gründe sind
entweder äußerer oder innerer Natur. Von den ersteren brauchen wir
nicht ausführlich zu handeln. Es sind : die Hoffnung auf die Gunst und
die Furcht vor dem Mißfallen unserer Mitmenschen oder des Herrschers
der Welt, verbunden, soweit wir dessen fähig sind, mit dem Mitgefühl 20
und der Neigung für jene und ferner mit der Liebe und Ehrfurcht gegen
Gott, welche uns antreiben, seinen Willen ohne Eücksicht auf unsere
selbstsüchtigen Interessen zu tun. Offenbar liegt kein Grund vor,
weshalb diese Motive des Gehorsams sich nicht mit der Nützhchkeits-
moral ebenso vollkommen und wirkungsvoll verbinden sollten als mit 25
irgend einer anderen. Dies gilt sicherHch von denen, welche sich auf
unsere Mitmenschen beziehen, und umsomehr, je mehr die allgemeine
Bildung wächst. Denn mag es irgend einen anderen Grund der mora«
Hschen Verbindlichkeit als die allgemeine Glückseligkeit geben oder nicht :
die Menschen erstreben Glückseligkeit; und so unvollkommen sie auch 30
dies Ziel selbst erreichen, so wünschen und empfehlen sie doch stets das
Handeln anderer, wodurch sie eine Beförderung ihrer eigenen Glück-
sehgkeit erwarten. Was die rehgiösen Beweggründe anbetrifft, so müssen
(vorausgesetzt, daß die Menschen an die Güte Gottes glauben, wie sie
ja meist es behaupten) alle die, welche in der allgemeinen Glückseligkeit 35
das Wesen oder auch nur den Maßstab des Guten sehen, notwendig
auch glauben, daß Gott sie gewollt hat. Die gesamte Wirkung äußerer
Belohnung und Strafe, ob sie nun physisch oder morahsch ist, ob sie von
Gott oder den Mitmenschen kommt, verbunden mit all der uneigen-
nützigen Hingebung, deren die menschhche Natur überhaupt fähig ist, 4o
wird in dem Maße die Geltung der Nützhchkeitsmoral verstärken, als sie
über die letzte Rechtfertigung des Nützlichkeitsprinzips. 281
Anerkennung findet, und dies wird desto mehr der Fall sein, je mehr
E^äfiliiin^jind^ allgemeine Kultur auch auf dies Ziel hinarbeiten.
So viel über die äußeren Beweggründe. Die innerliche Pflichtbe-
gründung ist bei allen Pflichtgeboten eine und dieselbe: ein Gefühl in
5 unserem eigenen Innern, eine stärkere oder schwächere Beunruhigung 7
bei Verletzung der Pflicht, welche bei richtig ausgebildeten moralischen
Naturen in ernsteren Fällen sich steigert bis zum Zurückschaudern
wie vor einem Unmöglichen. In diesem Gefühl, wenn es uneigennützig
ist und sich mit der reinen Idee der Pflicht, nicht aber mit einer ihrer
10 besonderen Formen oder einem der zufälHg begleitenden Umstände
verbindet, besteht das Wesen des Gewissens. Freilich ist in dieser
zusammengesetzten Erscheinung, wie sie jetzt existiert, die einfache
Tatsache meist ganz verborgen unter begleitenden Assoziationen,
welche sich herleiten von dem Mitgefühl, der Liebe und mehr noch der
15 Furcht, vom religiösen Gefühl in allen seinen Formen, von den Er-
innerungen aus der Kindheit und unserer ganzen Vergangenheit, von der
Selbstachtung, dem Bedürfnis nach der Achtung anderer und zuweilen
sogar von der Selbsterniedrigung. Diese äußerordentliche Kompliziertheit
ist, glaube ich, der ausreichende Grund des eigentümlich mystischen
20 Charakters, welcher nach einer auch sonst zu bemerkenden Richtung
des menschlichen Geistes dem Gedanken der morahschen Verbindlichkeit
beigelegt wird und die Menschen zu dem Glauben bringt, daß diese
Vorstellung sich nur mit den Gegenständen verbinden kann, welche
durch ein vermeintliches geheimnisvolles Gesetz sie nach unserer Er-
25 fahrung hervorrufen. Seine bindende Kraft besteht jedenfalls in dem
Vorhandensein einer Gefühlsmasse, welche erst durchbrochen werden >
muß, ehe wir etwas tun können, das unsere Vorstellung vom Recht ^
verletzt, und welche sich, falls wir trotzdem das~Keeht verletzen, wahr-
scheinHch in Gewissensbissen wieder zur Geltung bringt. Hierin besteht
30 das Wesen des Gewissens, welche Theorie über den Ursprung des Ge-
wissens wir auch haben mögen.
Da also die letzte Begründung aller MoraHtät, abgesehen von den
äußeren Motiven, in einem subjektiven Gefühl unserer Seele ruht, so
sehe ich nicht, inwiefern die Anhänger des Nützlichkeitsprinzips in Ver-
as legenheit gesetzt werden können durch die Frage , wie ihr besonderer
Standpunkt begründet werden könne. Wir können antworten : dieselbe
wie die aller anderen Moralprinzipien — die Gewissensgefühle der
Menschen. Zweifellos gilt diese Begründung nicht für diejenigen, welche
die Gefühle nicht besitzen, auf die sie sich stützt, aber solche Menschen j
40 werden einem anderen Moralprinzip ebensowenig gehorchen wie der j
Nützhchkeitsmoral. Auf solche wirkt jedes Moralprinzip nur durch
282 J- St. Mill.
äußere Gründe. Einstweilen ist es, eine Tatsache der menschlichen ^
Natur, daß diese Gefühle bestehen, die Erfahrung erweist ihre Wirkhch- /
keit und große Macht auf diejenigen, in denen sie gebührend gepflegt /
wurden. Kein Grund ist bisher vorgebracht worden, weshalb sie in Ver-
bindung mit dem Nützhchkeitsprinzip nicht zu ebenso großer Stärke 6
ausgebildet werden könnten wie im Zusammenhang mit anderen Moral-
gesetzen.
Es besteht, wie ich weiß, eine Neigung zu dem Glauben, daß ein
Mensch, welcher in der moralischen Verbindlichkeit eine transzendente
Tatsache, eine in das Reich der Dinge an sich gehörige objektive Wirk- lo
Hchkeit sieht, wahrscheinhch ihr mehr gehorsam ist als einer, welcher
sie für ganz subjektiv und für nur im menschlichen Bewußtsein wirkhch
hält. Aber wie man auch über diese Frage der Ontologie denken möge,
die den Menschen beeinflussende Macht ist sein subjektives Gefühl
und stimmt genau mit der Stärke desselben überein. Der Glaube, daß is
Pflicht etwas Wirkliches sei, ist niemals größer als der an das Dasein
Gottes, trotzdem wirkt der Glaube an Gott, unabhängig von der Er-
wartung wirklicher Belohnung oder Strafe, auf das Verhalten einzig
und allein durch das subjektive religiöse Gefühl und entsprechend seiner
Stärke, Die Sanktion, soweit sie nicht aus Eigennutz geschieht, findet 20
immer nur in der Seele statt, und die Vertreter einer transzendent
begründeten Moral müssen der Ansicht sein, daß diese letzte Sicherung
nicht i n der Seele existieren würde ohne den Glauben , daß sie ihre
Wurzel außerhalb des Geistes habe. Sie fürchten, daß ein Mensch,
der zu sich sagen kann: „das was mich zurückhält und mein Gewissen 25
genannt wird, ist nur ein Gefühl in mir", wohl auch den Schluß ziehen
könnte, daß, wenn das Gefühl aufhört, auch die VerbindHchkeit aufhört,
und daß, v/enn das Gefühl ihm lästig wird, er es mißachten und seiner
ledig zu werden versuchen kann. Aber besteht diese Gefahr allein für
die Nützhchkeitsmoral? Vermag der Glaube, daß die morahsche Ver- 3o
bindhchkeit jenseits der Seele ihren Sitz habe, das Gefühl so stark zu
machen, daß man sich ihrer nicht entledigen kann? In Wirklichkeit
steht die Sache so völHg anders, daß alle Morahsten eingestehen und be-
klagen, wie leicht bei der Mehrzahl der Menschen das Gewissen zum
Schweigen gebracht oder erstickt werden kann. Die Frage: muß ich 35
meinem Gewissen gehorchen? richten Menschen, welche noch nichts
von dem Nützhchkeitsprinzip gehört haben, ebenso oft an sich selbst
wie an seine Anhänger. Und wenn die Menschen, deren schwaches
Gewissen eine solche Frage zuläßt, sie bejahen, so tun sie es nicht um
ihres Glaubens an eine transzendente Theorie, sondern um der äußeren ^o
^»^ Beweggründe willen.-|^ r\ ^^vv^ ^^ J ^ q,JJ, . l'^r^ ^W^
/
über die letzte Rechtfertigung des Nützlichkeitsprinzips. 283
Es ist für den vorliegenden Zweck nicht nötig zu entscheiden, ob das
Pflichtgefühl angeboren oder anerzogen sei. Nimmt man das erstere
an, so ist es eine offene Frage, an welche Gegenstände es sich von Natur
anheftet, denn die philosophischen Vertreter dieser Lehre stimmen jetzt
5 darin überein, daß es eine intuitive Erkenntnis der Prinzipien der
Moral, nicht aber einzelner untergeordneter Sätze gibt. Gibt es wirkUch
solch ein Angeborenes, so sehe ich keinen Grund, warum das angeborene
Gefühl sich nicht gerade auf Glück und Leiden der anderen Menschen
richten solle. Gibt es ein unmittelbar verpflichtendes Prinzip der
10 Moral, so würde es nach meiner Ansicht gerade dies sein. Dann würde
die intuitive Ethik mit der Nützhchkeitsmoral zusammenfallen und
es gäbe keinen Streit mehr zwischen ihnen. Selbst jetzt schon glauben
die intuitiven Morahsten, obgleich sie andere unmittelbare moralische
Verpflichtungen anerkennen, daß auch unser Prinzip eine solche sei,
15 denn sie sind einstimmig der Ansicht, daß ein großer Teil der Moralität
sich mit der Rücksicht beschäftigt, welche wir den Interessen unserer
Mitmenschen schulden. Wenn daher der Glaube an einen transzendenten
Ursprung der sitthchen Verpflichtung ihrer inneren Begründung
neue Kräfte hinzufügt, so scheint mir, daß das Nützlichkeitsprinzip
20 daraus den meisten Vorteil zieht.
Sind aber, wie ich meine, die moralischen Gefühle nicht angeboren,
sondern erworben, so sind sie deshalb nicht weniger natürlich. Es ist
dem Menschen natürhch zu sprechen, zu denken, Städte zu bauen, den
Boden zu bearbeiten, obgleich dies erworbene Fähigkeiten sind. Die
25 moralischen Gefühle sind in der Tat nicht in dem Sinne ein Teil unseres
Wesens, daß sie in einem merklichen Grade in jedem von uns vorhanden
wären; dies ist wieder eine Tatsache, die auch von denen nicht geleugnet
wird, welche am stärksten an ihren transzendenten Ursprung glauben.
Gleich den anderen obenerwähnten Fähigkeiten ist die moralische nicht
30 ein Teil unseres Wesens, sondern hat sich natürhch aus ihm entwickelt,
gleich jenen in einem gewissen geringen Grade fähig, spontan hervor-
zutreten und durch weitere Ausbildung zu einer hohen Stufe der Ent-
wicklung zu gelangen. Leider kann sie auch durch ausreichende An-
wendung äußerer Beweggründe und die Kraft früh empfangener Ein-
35 drücke in jeder beliebigen Richtung ausgebildet werden: so daß es kaum
etwas so Widersinniges und so Schädliches gibt, was nicht durch diese
Einflüsse die Macht erhalten könnte, mit der ganzen Autorität des
Gewissens auf die menschliche Seele zu wirken. Ein Zweifel, daß die-
selbe Kraft durch dieselben Mittel dem Nützhchkeitsprinzip gegeben
40 werden könnte, selbst wenn es nicht im Wesen des Menschen begründet
ist, würde aller Erfahrung ins Gesicht schlagen.
284 J. St. Mill.
Doch moralische Assoziationen, welche ganz und gar künstlich
geschaffen sind, weichen bei fortschreitender geistiger Bildung vor der
zersetzenden Kraft der Analyse; und wenn die Assoziation zwischen
Pflichtgefühl und Nützlichkeitsprinzip ebenso willkürlich erscheinen
sollte, wenn es in unserer Natur nicht eine vorherrschende Eichtung, 5
nicht eine mächtige Klasse von Gefühlen gäbe, mit welchen diese Asso-
ziation übereinstimmt, welche sie als uns wesensverwandt empfinden
lassen und uns veranlassen sie nicht nur in anderen zu fördern (denn
hierzu haben wir überaus zahlreiche eigensüchtige Beweggründe), sondern
auch in uns selbst zu pflegen — kurz, wenn es in uns nicht eine natürliche lo
Grundlage für die Nützhchkeitsmoral gäbe, so könnte es wohl geschehen,
daß auch diese Assoziation, selbst wenn sie durch Erziehung einge-
pflanzt wäre, fortanalysiert würde.
Aber diese Grundlage eines mächtigen natürlichen Gefühls i s t
vorhanden, und sie ist es, welche die Stärke der utihtaristischen Moral is
ausmachen wird, wenn die allgemeine Glücksehgkeit einmal als ethischer
Maßstab anerkannt sein wird. Diese sichere Grundlage bilden die
sozialen Gefühle der Menschen, der Wunsch nach Einheit mit unseren
Mitmenschen, welcher bereits jetzt ein machtvolles Prinzip in der
menschlichen Natur ist und glückhcherweise eines von denen, welche 20
auch ohne besondere Einschärfung mit fortschreitender Kultur an
Wirksamkeit zuzunehmen streben. Der soziale Verband ist einmal dem
Menschen so natürlich, so notwendig und so eigentümhch, daß er nur
unter außergewöhnHchen Umständen oder durch die Mühe willkürhcher
Abstraktion sich anders als ein Glied eines sozialen Körpers denken 25
kann. Und diese Assoziation wird in dem Maße fester und fester, als
Menschen sich weiter von dem Zustand wilder Unabhängigkeit ent-
fernen. Jede für das Bestehen eines sozialen Verbandes wesentHche
Bedingung wird deshalb mehr und mehr ein unabtrennbarer Teil der
Vorstellung eines jeden Menschen vom Zustand der Dinge, in welchen so
er hineingeboren ist und der die Bestimmung des Menschen ist. Ge-
sellschaft zwischen Menschen, das Verhältnis von Herr und Sklave aus-
genommen, ist aber offenbar nur möglich unter der Bedingung, daß
dabei die Interessen aller berücksichtigt sind. Gesellschaft zwischen
Gleichen kann nur in der Weise existieren, daß die Interessen aller in 35
gleicher Weise beachtet werden. Da nun in allen zivilisierten Staaten
ein jeder außer dem absoluten Monarchen mit seinesgleichen lebt, so
ist er auch verpflichtet, mit allen auf diesem Fuße zu leben, und in
jedem Zeitalter werden einige Fortschritte gemacht nach einem Zu-
stande, in welchem es unmöghch sein wird, dauernd mit irgend einem 4o
anders zu leben. So wachsen die Menschen auf, unfähig, einen Zustand
über die letzte Rechtfertigung des Nützlichkeitsprinzips. 285
völliger Mißachtung der Interessen anderer für sich als möglich zu
denken. Sie empfinden es als eine Notwendigkeit, sich wenigstens der
gröbsten Vergehungen zu enthalten und (wenn auch nur im Interesse
der eigenen Sicherheit) in beständigem Protest gegen sie zu leben. Auch
5 sind sie wirkhch damit vertraut, gemeinsam mit anderen zu wirken
und sich ein Gesamt-, nicht ein Einzelinteresse als den Zweck ihrer
Handlungen vorzustellen. Solange sie mit anderen zusammenwirken,
denken sie ihre Interessen als identisch mit denen anderer, wenigstens
zeitweilig besteht das Gefühl, daß die Interessen anderer ihre eigenen
10 sind. Nicht nur gibt jede Kräftigung der sozialen Bande und jedes ge-
sunde Wachstum der Gesellschaft dem Einzelnen ein größeres pei-
sönHches Interesse daran, daß er bei seinen Handlungen die Wohlfahrt
anderer berücksichtigt, er A^drd auch dazu geführt, seine Gefühle
mehr und mehr mit ihrem Wohl oder wenigstens mit einem höheren
15 Grad der Rücksichtnahme auf andere in Einklang zu bringen. Er
kommt wie instinktmäßig zu dem Bewußtsein, daß er ein Wesen ist,
welches selbstverständlich auf andere Rücksicht zu nehmen
hat. Das Wohl anderer wird für ihn ein Gegenstand, dem er natür-
licher- imd notwendigerweise seine Aufmerksamkeit schenken muß,
20 so gut wie irgend einer der physischen Bedingungen unseres Daseins.
In welchem Grade auch ein Mensch dies Gefühl besitzen mag, er ist
durch die stärksten Beweggründe des Interesses und des Mitgefühls
zugleich gedrängt, es an den Tag zu legen und nach allen seinen Kräften
in anderen zu verstärken; und wenn er selbst nichts davon empfindet,
25 so ist er so stark wie sonst jemand daran interessiert, daß andere es
haben sollen. Deshalb werden die geringsten Keime dieses Gefühls
ergriffen und ernährt durch die Ausbreitung des Mitgefühls und die
Einflüsse der Erziehung, und es wird durch die mächtige Wirksamkeit
äußerer Sanktionen von einem ganzen Gewebe verstärkender Asso-
30 ziationen umgeben. Diese Art uns selbst und das menschhche Leben
aufzufassen, ^^^rd mit fortschreitender ZiviHsation mehr und mehr
als natürhch empfunden werden. Dahin wirkt jeder Fortschritt in
der Besserung der poHtischen Zustände , indem er die Quellen der
Interessenkämpfe beseitigt und die aus gesetzHchen Vorrechten ent-
35 springenden Ungleichheiten zwischen Individuen oder Klassen ausgleicht,
in denen der Grund liegt, daß die GlückseHgkeit eines großen Teiles
der Menschheit noch mißachtet werden darf. I\Iit zunehmender Ent-
wicklung des menschhchen Geistes wachsen beständig die Einflüsse,
welche schheßlich dahin zielen, in jedem Individuum ein Gefühl der
40 Einheit mit allen übrigen zu erzeugen — ein Gefühl, das in seiner
höchsten Vollendung den Einzelnen nie für sich einen Vorteil denken
286 J. St. Mill.
oder wünsclien läßt, welcher nicht auch den anderen zu teil wird. Stellen
wir uns nun vor, daß dies Gefühl der Einheit aller Menschen wie eine
Religion gelehrt werde, daß die ganze Macht der Erziehung, der Ein-
richtungen und öffentlichen Meinung, so wie früher für die Religion,
jetzt darauf gerichtet sei, jeden Menschen von Kindheit an aufwachsen 5
zu lassen unter dem allseitigen Einfluß dieses Glaubensbekenntnisses
und seiner praktischen Erfüllung, so wird niemand, denke ich, der
dieses Ideal begreifen kann, die geringste Besorgnis empfinden, daß die
letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips nicht ausreichend sei. . . .
Es ist aber für die Menschen, welche schon das Gefühl von der bin- 10
denden Kraft der utilitaristischen Moral besitzen, nicht notwendig,
auf jene sozialen Einflüsse zu warten, welche es zu einem für alle Men-
schen verbindhchen machen werden. Auf der verhältnismäßig niedrigen
Stufe der Menschheitsentwicklung, auf welcher wir jetzt stehen, ver-
mag niemand, jene volle Sympathie mit allen anderen zu empfinden, 15
welche jeden wirkhchen Zwist bei gemeinsamer Einrichtung des Lebens
unmöghch machen würde; aber schon für den, in welchem das soziale
Gefühl überhaupt nur entfaltet ist, ist es unmöglich, sich seine Mit-
menschen als Gegner im Kampf um die Mittel der Glückseligkeit zu
denken, so daß er ihnen Mißerfolg um seines Vorteils willen wünschen 20
müßte. Die tief wurzelnde Anschauung, nach der jedes Individuum
sich selbst als ein geselHges Wesen denkt, läßt es zugleich als eines
seiner natürhchen Bedürfnisse empfinden, daß zwischen seinen Ge-
fühlen und Zwecken und denen seiner Mitmenschen Harmonie be-
stehen solle. Wenn Verschiedenheiten des Denkens und der geistigen 25
Kultur es ihm unmöghch machen, viele ihrer jetzigen Gefühle zu teilen
(ihn vielleicht veranlassen, diese Gefühle anzuklagen und zu tadeln),
so muß er sich doch bewußt sein, daß sein wirkhcher Zweck und die
ihrigen sich nicht widerstreiten, daß er dem sich nicht widersetzt, was
sie tatsächlich wünschen, nämlich ihr eigenes Wohl, daß er im Gegen- 30
teil es befördert. Dies Gefühl ist in den meisten Individuen viel schwächer
als die selbstsüchtigen Gefühle, und es fehlt ihnen oft ganz, aber für
diejenigen, welche es besitzen, hat es alle Eigenschaften eines natür-
hchen Gefühls. Es stellt sich ihrem Empfinden nicht als ein anerzogener
Aberglaube oder als ein durch die Gewalt der Gesellschaft despotisch 35
auferzwungenes Gesetz dar, sondern als etwas, ohne das sie nicht leben
können. Diese Überzeugung ist die letzte Sanktion des Moralprinzips
der größtmöghchen Glücksehgkeit. Sie ist es, welche Menschen von
wohlentwickelten Gefühlen mit und nicht entgegengesetzt den äußeren
Beweggründen der Fürsorge für andere handeln läßt, welche durch 40
die von mir sogenannten äußeren Sanktionen hervorgerufen werden.
I
Erläuterungen. 287
Und wenn solche fehlen oder in einem entgegengesetzten Sinne wirken,
so trägt jene Überzeugung doch in sich eine machtvolle , innerhch
bindende Kraft, welche der Empfindungsfähigkeit und der geistigen
Höhe eines Menschen entspricht ; denn außer denen, welchen morahsches
Empfinden ganz fehlt, wird es kaum jemand über sich gewinnen, seinen
Lebensplan auf den Grundsatz zu bauen, daß auf andere nur insofern
Rücksicht zu nehmen sei, als das eigene Interesse dazu nötigt.
Die Philosophie John Stuart iVIills (1806-1873) trägt den typischen Charakter
des enghschen Denkens an sich, wie es durch die Lesestücke aus Bacon, Locke,
Berkeley, Hume bereits vertreten ist. Die Grundlage aller Erkenntnis ist
für M. wie für seine Vorgänger die Erfahrung. In seiner Logik (1843) hat
er sich besonders um die Lehre von der Induktion verdient gemacht, er ver-
sucht den Weg aufzuzeigen, auf dem wir durch planmäßige Beobachtung
und Sammlung einzelner Tatsachen (Induktion) zu immer höheren Verall-
gemeinerungen, d. h. zum wissenschaftlichen Erkennen emporsteigen. Der
Satz von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs ergibt sich ihm dabei als höchst
erreichbare Verallgemeinerung und damit zugleich als die Grenze unseres
Erkennens. Hier tritt die Verwandtschaft der M.schen Lehre mit dem Posi-
tivismus Comtes hervor, welcher ihn auch beeinflußte.
Entsprechend diesen theoretischen Ansichten verzichtet M. in seiner
Ethik auf die transzendente Begründung und Zielsetzung des Sittengesetzes:
die psychologische Analyse des morahschen Bewußtseins (vgl. 284 1 ff.) endigt
bei einem nicht mehr zu zerlegenden, als Tatsache gegebenen Gefühl, und
die Norm für das menschliche Handeln wird gesucht in der Richtung auf
ein diesseitiges, allgemeinmenschliches Kulturideal. Natürlich gegeben ist
nun für den Menschen das Bedürfnis, Lust zu suchen und Unlust zu vermeiden,
das Ziel seines Handelns ist deshalb Erreichung der Lust, d. h. Glückseligkeit.
Doch wenn Epikur, von derselben Grundlage ausgehend, in der Gewinnung
individueller Glücksehgkeit die Aufgabe sah, erblickt sie M., im Anschluß
an Bentham (1748 — 1832) und unter noch stärkerer Betonung der sozialen
Verpflichtung des Individuums als dieser, in der größtmöglichen Glücksehgkeit
aller Menschen. „Die Lehre, welche als die Grundlage der Moral das Prinzip
der Nützhchkeit (Utilitarismus) oder der größten Glückseligkeit annimmt,
hält dafür, dass Handlungen in dem Grade recht sind, als sie auf Förderung
(iex Glücksehgkeit abzielen, und unrecht, insofern sie das Gegenteil der Glück-
sehgkeit bezwecken." Bei der Abschätzung der von unseren Handlungen
zu erwartenden Lust ist der Unterschied der niederen und der höheren Gefühle
zu beachten, die Erfahrung der edleren Genüsse wird den Menschen stets
wieder zu ihnen führen. So ergibt sich als Ideal ein „ Dasein soweit als möglich
frei von Leid und so reich als möglich an Genüssen nach Quantität und Qualität
zugleich". Die Richtschnur der Moral ist demnach „der Inbegriff der Regeln
und Vorschriften für menschliches Verhalten, durch deren Befolgung eine
Existenz, wie sie beschrieben wurde, in der größtmöglichen Ausdehnung
288 MilL
allen Menschen gesichert wird, und nicht nur diesen allein, sondern, soweit die
Natur der Dinge es zuläßt, auch für die Gesamtheit der empfindenden Wesen".
M.s gesammelte Schriften erschienen im Jahre 1873, eine deutsche Über-
setzung gab Th. Gomperz 1869 ff. heraus, unser Lesestück ist entnommen
der Schrift „Utilitarism", welche zuerst 1861 in „Fräsers Magazin", als Buch
1863 erschien. Die Übersetzung in den „ Gesammelten Werken" Bd. I rührt von
A. Wahrmund her, an sie schließt sich unser Text, von mannigfachen Ände-
rungen abgesehen, an. Zu weiterer Orientierung können die mehrfach genannten
Lehrbücher der Geschichte der Philosophie dienen und außerdem: S. Saenger,
„John Stuart Mill. Sein Leben und Lebenswerk". Stuttgart 1901 (Frommanns
KLlassiker der Philosophie, Bd. XIV). Als anregende Lektüre sei empfohlen
M.s Schrift über die Freiheit (Übersetzung in Reclams üniversalbibliothek).
281 13. Assoziationen sind Verbindungen, welche zwischen den Inhalten
von im Bewußtsein zusammen auftretenden seelischen Vorgängen unwillkürlich
oder willkihiich hergestellt werden. So verbindet sich z. B. das Erlebnis
eines besonders schweren Gewitters mit der Vorstellung des Ortes, wo es
stattfand. Die Elemente einer solchen Verknüpfung haben die Tendenz
einander gegenseitig hervorzurufen; sehe ich den betreffenden Ort wieder,
so erinnere ich mich an das Gewitter, erlebe ich ein ähnlich schweres Gewitter,
so stellt sich die Erinnerung an jenen Ort wieder ein. Diese Funktion unseres
Bewußtseins spielt bei allem Lernen eine große Rolle und wird benützt, um
das Kind sprechen zu lehren, indem z. B. eine Verbindung zwischen dem Ge-
sichts- und dem Gehörseindruck „Hund" hergestellt wird. Eine strenge Gesetz-
mäßigkeit wird durch solche Verknüpfungen nicht hergestellt, wie das Ver-
gessen zeigt. Die Innigkeit der Assoziation wächst mit der Häufigkeit der
Wiederholung derselben Vorstellungsverknüpfungen und dem Interesse, das
sich an sie heftet. Außerordentlich fest sind deshalb die Assoziationen, welche
uns von Blindheit an übermittelt werden, z. B. Achtung vor Eltern, nationales,
religiöses Gefühl etc. Dadurch, daß in Jahrtausende währender Überlieferung
jeder Generation von der vorhergehenden bestimmte Vorstellungen mit be-
stimmten Gefühlen verbunden übermittelt werden, wird diese Vereinigung
schließlich eine unlösliche, ihr besonderer Anlaß und ihre Elemente sind nicht
mehr zu erkennen ; ein Sittengebot, das aus den Bedingungen, unter denen
eine bestimmte Gesellschaft lebte, sich als zweckmäßig ergab und deshalb von
ihren Gliedern freiwillig oder gezwungen befolgt wurde, erscheint als unbedingt
wertvoll, nachdem jene Zwecke längst vergessen sind. Der späteren Analyse
des moralischen Empfindens sind so große Schwierigkeiten gesetzt, es ist un-
möglich, das natürliche Gefühl des Menschen von den Einflüssen der Kultur
losgelöst aufzuzeigen. Diese Betrachtung führt zu der Einsicht in die je-
weilige Bedingtheit, die Relativität aller menschlichen Wertbestimmungen.
Vgl. dagegen das zweite Lesestück aus Kant (S. 196—207). — Das Assozia-
tionsprinzip ist besonders von G. Th. Fechner für die Ästhetik fruchtbar
gemacht worden in seiner Vorschule der Ästhetik 2. Aufl. 1897, es spielt in der
modernen Psychologie überhaupt eine große Rolle. Vgl. Th. Ziehen, Leit-
faden der physiologischen Psychologie, 6. Aufl., 1902.
Erläuterungen. 289
281 30. Es stehen sich hauptsächlich die empiristische und die aprioristische
(transzendente) Theorie gegenüber. In Bezug auf die erstere vgl. das zu 281 i3
Gesagte. Besonders charakteristisch Tvird sie vertreten von Paul Ree in
seinem Buche „Die Entstehung des Gewissens", Berlin 1885. Dort heißt es
z. B. auf S. 181: „jede Kulturstufe stempelt zu Tugenden die Eigenschaften,
zu Pflichten die Handlungen, deren sie bedarf". Die aprioristische Theorie
kann der Leser aus der zu 203 31 zitierten Kantstelle kennen lernen und aus
Rousseaus Emile (Profession de foi du vicaire savoyard) : ^Consciencef
conscience! instinct divin, immortelle et Celeste voix; guide assure dhm etre
Ignorant et hörne, mais intelligent et lihre; juge infaiUible die hien et du mal,
qui rends Vhomme semhlahle ä Dien! c'est toi qiii fais Vexcellence de sa nature
et la moralite de ses actions, sans toi je ne sens rien en moi qui tn'eleve ati-dessus
des hetes, que le triste priviUge de m'egarer d'erreurs en erreurs, ä Vaide d'un
entendement sans regle et d''une raison sans ijrincipe.'^
282 9. Transzendent = über die Grenze möglicher Erfahrung hinausgehend.
284 26. Vgl. S. 36 11 ff.
287 7 . Diesen Standpunkt eines rücksichtslosen Egoismus vertritt in Piatos
Dialog Gorgias (Kap. 46) der Sophist Kallikles. Es heißt dort: „Wie sollte
ein Mensch glückselig sein können, der eines anderen Diener ist? Um es frei
herauszusagen: Für den, der richtig leben will, ist es von Natur schön und
recht, seine Begierden sich möglichst steigern zu lassen. Nicht soll er sie
zurückhalten, sondern kühn und klug genug sein, um ihnen, so groß sie auch sind,
sich hingeben und Sättigung seiner Gelüste erlangen zu können. Doch dessen,
glaube ich, sind die meisten nicht fähig, und sie tadeln solche Menschen, weil
sie sich ihrer eigenen Schwäche schämen und sie zu verbergen suchen. Ein
schrankenloses Wollen nennen sie Schwäche, um die von Natur Edleren ein-
zuzwängen, und weil sie selbst ihren Lüsten keine Befriedigung verschaffen
können, so preisen sie aus Unmännlichkeit die Besonnenheit und die Gerechtig-
keit. Was wäre wohl für die, welche als Söhne von Königen geboren wurden
oder aus ursprünglicher eigener Kraft Macht und Herrschaft sich gründeten, i
unschöner und häßlicher als Besonnenheit? Während sie alle Güter der Welt '
frei genießen könnten, setzten sie sich selbst des großen Haufens Gesetz,
Regel und Tadel als Herrn. Sind sie nicht durch diese schöne Gerechtigkeit
und Besonnenheit machtlos geworden, so daß sie ihren Freunden nicht mehr
zuwenden können als ihren Feinden, obgleich sie Herrscher im eigenen Staate
sind? So lautet die Wahrheit: Lebensgenuß und schrankenloses freies Wollen, j
wenn sie aus wirklicher Kraft entspringen, sind Tugend und Glückseligkeit, /
jenes andere ist Ziererei, widernatürliche Satzung, leeres Geschwätz und
nichtsnutziges Zeug." In neuerer Zeit hat Max Stirner (1806 — 1856) dieser
Lehre in seinem Buch „Der Einzige und sein Eigentum" (1845) folgenden
Ausdruck gegeben: „Ich bin zu allem berechtigt, dessen ich mächtig bin, nur
zu dem nicht, was ich mfili,t,jnit freiem ^lute tue," Auch an Nietzsches
„Herrenmoral" sei erinnert. g ^', Menzer.
D es 3 oir-Menz er, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl. 19
Namenverzeichnis.
A.
Abälard 87.
Abert 77.
Adeimantos 15.
Adickes 209.
Almairich von Bena 81.
Anacharsis 31. 45.
Anaximander 243.
Änesidemus 53.
Archimedes 101. 240.
Aristipp 18. 52. 54.
Aristoteles 37 fF. 52. 70. 71. 73. 76 ff.
94. 95. 108. 110. 123. 160. 161.
162. 252. Aristotelismus 76.
Äsop 240.
Ato misten, griechische 212.
Auerbach 120.
Augustinus 76. 108.
Avenarius 174. 278.
Avicenna 80.
B.
Bacon 42. 93 ff. 109. 172. 241. 274.
287.
Baensch 120.
Barth 62. 278.
Barthelemy St. Hilaire 41.
Bayle 155. 161.
Beck 226.
Bentham 287.
Bergmann 107. 172. 174.
Berkeley 110. 149 ff. 212. 227. 287.
Bernays 46.
Boetius 77.
Bonitz 40.
Boutroux 158.
Bruno 159.
Buchenau 107.
Busse 122.
Büttner 86.
C.
Cajetanus (Thomas de Vio) 77.
Capreolua, Johannes 77.
80.
Cartesianer 123. 154. Vergl.Descartes.
Cassirer 159.
Charondas 35. 47.
Christus 280.
Chrysippos 62.
Cicero 138. 232.
Commer 77. 80. 82.
Comte 278. 287.
D.
Dante 45.
Darwin 213.
Dehnhardt 140.
Denifle 77.
Descartes 41. 107 ff. 121. 138. 151.
212.
Dessoir 109. 161.
Deussen 87.
Dilthey 76. 173. 209. 227.
Diogenes 51.
Diogenes Laertius 62.
E.
Eckhart 45. 86 ff.
Eleaten 42. 152. 252.
Epimenides 35. 47.
Epikur 50. 52. 60. 63. 268. 287. Epi-
kureer 50. 60. 63. 232. Epikureis-
mus 64. 230.
Erdmann, B. 38. 95. 209. 210.
Erdmann, J. E. 14. 158. 159. 208.
Eucken 69. 76. 77. 93.
Euklid 180.
Euripides 47.
F.
Falckenberg 16. 107. 138. 140. 150.
209. 252.
Fechner 288.
Fichte 16. 208. 225 ff. 235.
Fischer, Kuno 107. 209. 226. 237. 268.
Fischer, Ludwig 107.
Namenverzeichnis.
291
Frantz 237.
Fräser 138. 150. 288.
Freudenthal 120. 123.
Fries 237.
e.
Galilei 123. 160.
Gallio 62.
Garbe 270.
Gerhardt 158.
Glaukon 1. 2. 11. 15.
Goethe 18. 240. 269.
Goldschmidt 210.
Gomperz 14. 18. 152. 288.
Gorgias 41. 289.
Grimm 139. 172.
Grisebach 268.
Güttier 107.
H.
Hartenstein 138. 209. 252.
Hartmann, E. v. 70. 160.
Heereboord 123.
Hegel 237 ff.
Helmholtz 210.
HerakHt 14. 92. 95. 249. 253.
Herbart 251 ff.
Herbert v. Cherbury 138.
Hesiod 35. 47.
Heussler 93.
HiJlert 237.
Holtzendorff 268.
Homer 35. 36. 47.
Horaz 184. 261.
Humanismus 37.
Hume 139. 172 ff. 184. 207. 213.
2.38. 287.
Hutcheson 213.
I.
Jacobi 237.
Imelmann 95.
Joannes a. S. Thoma (Poinsot) 78.
John 138.
K.
Kabitz 226.
Kallias 22. 23.
Kallikles 289.
Kant 15. 16. 87. 108. 110. 123. 140.
160. 173. 175. 207 ff. 225 ff. 239.
254. 266 f. 288. 289. Kantianer 218.
Kepler 123. 160.
Kirchmann, v. 15. 40. 93. 120. 138.
209. 278.
Kleanthes 64.
König 174.
Köttgen 172.
Külpe 110.
Kyniker 47.
Kyrenaische Schule 18.
L.
Land 120.
Lange, Fr. A. 209.
Lasson 41. 70. 86. 87.
Lehmann, Rudolf 150. 268.
Leibniz 41. 95. 138. 139. 158 ff. 211.
213. 241.
Lessing 108.
Liard 95.
Lipps 139. 150. 172.
Locke 110. 138 ff. 150. 151. 174.
193. 207. 211. 212. 287.
Lotze 16.
Lukrez 256. 262. 263. 268.
Luther 124. 236.
Mach 174. 278.
Maier 37.
Maimon 226.
Manu 269.
Marc Aurel 62.
Mausbach 76.
Meinong 172.
Mill, J. St. 87. 95. 278. 287 ff.
Milo 27. 43.
Mörbeke, W. v. 82.
Müller, H. F. 70.
Münsterberg 41.
N.
Nathanson 172.
Natorp 14. 18.
Nero 62.
Kewman 46.
Nietzsche 289.
P.
Pappenheim 52. 53.
Parmenides 14. 162.
Paulsen 110. 209.
Petrus V. Bergomo 77.
Petrus Lombardus 77. 78.
Pfeiffer 86.
292
Namenverzeichnis.
Philippus a SS. Trinitate (Esprit Ju-
lien) 78.
Philo 87.
Plato 13 ff. 41. 44. 46. 50. 52. 70.
71. 91. 95. 108. 150. 152. 173. 280.
235. 240. 252. 259. 267. 269. 289.
Platoniker 50. 73. 81. Platonis-
mus 76.
Plotin 43. 69 ff. 86.
Polus 22. 41.
Protagoras 14. 95. 249. 253.
Pyrrho 52.
Pythagoreer 27. 44.
B.
Rajas-guna 264. 270.
Ree 289.'
Reginaldus 76.
Rehmke 159.
Reinhold 225. 226.
Richter, K. 140.
Richter, R. 52. 150.
Rickert 41.
Riehl 209. 278.
Rig 278.
Rolf es 41.
Rorarius 155.
Rosenkreuzer 240.
Rousseau 140. 213. 289.
de Rubels 77.
S.
Saenger 288.
Samkhya-Philosophie 270.
Sattva-guna 264. 270.
Schasler 287.
Schelling 109.
Schiller 214.
Schleiermacher 15. 209.
Schneider 77.
Scholastik 76. 123. Scholastiker 76.
79. 158. 160.
Schopenhauer 162. 266 ff.
Schulte-Tigges 213.
Schuppe 175.
Schütz 77.
Schwegler 40.
Seneca 61 ff. 87.
Sextus Empiricus 52.
Shaftesbury 213.
Siebeck 41.
Siegling 269.
Signoriello 77.
Sigwart 93. 95.
Skeptiker 48 ff.
Sokrates 14. 15. 18. 19. 205. 230.
Sommer 41.
Sophisten 14. 17. 41. 47. 289.
Spartaner 51.
Spinoza 70. 95. 120 ff. 159. 161. 162.
225.
Stirner 289.
Stoiker 50. 53. 61 ff. 71. 138. 218.
258. 259. 261.
Susemihl 46.
Sylvester Ferrariensis 77.
T.
Taine 278.
Tamas-guna 264. 270.
Tennepiann 231. 288.
Teuffei 15.
Thaies 243.
Thomas v. Aquino 76 ff. 160.
Timon 52.
U.
Überweg 150. 252.
Überweg-Heinze 14. 18. 76. 86. 107.
120. 208.
Upanishads 87.
V.
Vloten 120.
Volkelt 268.
Vorländer 14. 18. 138. 150. 208. 209.
213.
W.
Wahrmund 288.
Wiegand 15.
Wilamowitz, U. v. 45. 46.
Willmann 77.
Windelband 14. 18. 70. 110. 120.
172. 209. 237.
Wolff 213.
Wulf 77. 80.
Wundt 95. 151. 174.
Z.
278.
Zeller 14. 18. 37. 70. 173. 253.
Zenon 62.
Ziegler 45.
Ziehen 288.
Zigliara 77.
Sachregister.
Die Zahlen iu kleinem Druck verweisen auf die Erläuterungen.
A.
Abstrakt 150, 236, 267; a.e Ideen
141 ff. Abstraktion 72, 73, 79, 150,
218, 226, 240. Vergl. Begriff.
Adäquate Erkenntnis durch den
Verstand 124.
Affekt 25 f.. 118; Affektenlehre Spi-
nozas 122 ff. Yergl. Leidenschaften.
Affi ziert -werden 188, 209.
Aktivität (Tätigsein) 244 ff.
Akzidens 78, 160.
Allgemeiner Begriff 21, 148; Schluß-
satz 21 ; Gesichtspunkt des Allge-
meinen 22.
Analogie, Schluß nach der A. 94.
Analyse der Mathematiker 158.
Analytisch 179, 209f. ; a.e Sätze I6i.
Vergl. Methode, Urteil.
Anschauung 179, 187 f., 209; reine
A. 187; intellektuelle A. 231, 238;
A. ist intuitiv 187 ; notwendig zur
Erkenntnis 192.
Anthropomorphismen 95.
Apatheia, Seelenruhe des Weisen
59, 63.
«Tisipov 243, 253.
Apodiktisch 186; a.e Gewißheit 178,
180, 183, 190; = absolute Not-
wendigkeit 186. a.es Urteil 210.
A posteriori 178, 183, 187, 202, 209,
211, 214. Vergl. Empirisch, Erfah-
rung.
App er zeption = Bewußtsein 154 f.;
reine A. ins.
A priori uo, 178 ff., 202, 213 ff.; A.
= schlechterdings von aller Erfah-
rung unabhängig 209; allgemein-
gültig und notwendig 209, 211, 213;
A. als Anlage im Bewußtsein 211;
Apriorismus 208, 289.
Art 73, 78; artbildender Unterschied
73, 78.
Assoziation 288; moralische A.en
284.
Ästhetik 246, 253, 288.
Ataraxie, Gleichgewicht der Seele 63,
Atombegriff, WiderspruchimA. 152.
Atomistik 64.
.Attribut 75, 212; A. bei Spinoza
110, 121; Attribute: Denken und
Ausdehnung 123.
Aufklärung, englische A. 172.
Ausdehnung als Eigenschaft des
Körpers 89.
Außenwelt 224; Realität der A. 227.
Automat 155, I6I.
A u 1 0 n 0 m i e(Selbstgesetzgebung) 215 ;
A. des Sittengesetzes 253.
Axiome 90, 121, 127, 158. Vergl.
Grundsätze.
B.
Begehren der Monaden 155 f., I6I.
Begriff etwas Gedankliches 16; Bil-
dung des B.es 150; B. enthält ein
Allgemeines 208; Sammelbegriffe
78 f.; Gemeinnaraen 148; Allge-
meinbegriffe 78; 133; Beziehungs-
begriffe 16, Umfang des B.es 20,
38 f. ; Gattungs- und Artbegriffe
71, 78 f. ; Mittelbegriff 20, 38 ; äus-
sere B.e 20, 38; Erkenntnis durch
B.e 14; objektives Begriffssystem
der Wirklichkeit 41 ; begriffliche
Konstruktion der Wirklichkeit I5i;
Grundbegriffe nicht angeboren
126 ff. Vergl. Abstrakt.
Bewußtsein, Tatsachen des B.s
218, 226.
C.
Consensiis omniiim 54.
294
Sachregister.
D.
Deduktion, transzendentale D. 190,
212.
Deduktives Schlußverfahren 124.
Vergl. Schluß, Syllogismus.
Definitionen als Grundlage des
Systems bei Spinoza 121, der Mathe-
matik 158.
Denken, reines D. 24; Denken des
D.s 24 f. ; Freiheit des D.s 223.
Dialektik bei Plato 13, 19; D.
Aufsuchen höchster Erklärungs-
prinzipien 89, 92, 94; dialektische
Methode Hegels 238/9 ; D. der prak-
tischen gemeinen Vernunft 207.
Differential 159.
Dilemma 252.
Ding mit vielen Eigenschaften 253;
Wesen und Dasein derD.e 113, 122;
Wahrheit und Falschheit der D.e
122; D. an sich 188 f., 192, 211;
D. a. s. eine notwendige Folgerung
bei Kant 212; D. a. s. bei Fichte
218 ff., 225. Vergl. Eine, das.
Diskursive Erkenntnis durch Be-
griffe 187, 211 ; d. = allgemein 211.
Dogmatiker 222ff.
Dogmatismus nach Kant 182, 210 ;
nach Fichte 218, 227.
Dualismus (Seele und Körper) 49,
84.
E.
Egoismus 263, 286; rücksichtsloser
E. 289.
Eigenschaft 141; sinnliche Eigen-
schaften (species sensihües) 153,
160 f. ; species intelligihiles 160 f. ;
primäre E.en 110, 193, 212; sekun-
däre E.en 212; logische E. 78.
Einbildung 98. Vergl. Meinen.
Einbildungskraft 103 ff., ihre
Fähigkeit begrenzt 163, worin E.
nur besteht 164; Phantasievorstel-
lungen 173, Phantasiebilder 72,
künstlerische Phantasie 173.
Eindrücke = angeborene Schrift-
züge 126 f., 110; Eindruck = leben-
dige Vorstellung (Empfindung oder
Gemütsbewegung) 163 ff., 173; E.
als Kriterium philosophischer Be-
griffsbildung 166. E. verschieden
nach der Beschaffenheit der Sinnes-
organe 53.
Eine, das E. im Verhältnis zur Viel-
heit 68, 71. Vergl. Ding.
Emanationslehre 71.
Empfindung als Materie der Er-
scheinung 189, 209, 211; Subjekti-
vität der Sinnesempfindungen 14.
Empiriker unter den Ärzten 157.
Vergl. Erfahrung.
Empirisch 176, 209; e. gewiß 187.
Empirismus I6I, 207, 274, 289;
psychologischer E. 173.
Energie als Band zwischen Körper
und Geist 169, 173.
Entelechie 155 f., 16I.
Entwicklung, Weltprozeß als E.
19; Begriff der E. bei Hegel 239;
Entwicklungstheorie Darwins 213.
Erfahrung aus vielfacher Erinne-
rung 22, Kenntnis des Einzelnen
22; E. = Empfindungen 176, 210/1;
Mannigfaltigkeit der E.en 240; E.
kontinuierliche Zusammenfügung
von Wahrnehmungen 183; Erfah-
rungsurteile 178, 183; E. Inbegriff
aller Erkenntnis 208, 211 ; E. Sy-
stem der von dem Gefühl der
Notwendigkeit begleiteten Vor-
stellungen 217 f.; Analogie der E.
175; Grund der E. 226. Vergl. Em-
pirisch, A posteriori.
Erkennen (Erkenntnis), Drang nach
E. 21; Stoff der E. 212; E. gerich-
tet auf das Seiende 4 f. ; reines E.
24; reine E., der nichts Empiri-
sches beigemischt ist 209 ; reines
willensfreies E. 257, 264, 268; in-
tuitive E. 120 ; höchste E. 7 ; E. nur
aus Beobachtung der Tatsachen
274, 287; Grenzen des E.s 174.
Erkenntnistheorie 226; Probleme
der E. 138. Vergl. Psychologie des
Erkennens.
Erkenntnisvermögen (Anschau-
ung, Verstand, Vernunft) 208, 225, 226.
Eros Streben, sich zum Unsterblichen
zu erheben 15,
Yirx&g\xng(aftection) 156, 161. Vergl.
Passivität.
Erscheinung 189ff., 250,255; E.
nicht Schein 194 f.; Erscheinungs-
welt 16, 227.
Ethik 213, 214; E. als Teil der Ästhe-
tik 253; stoische E. 261. Vergl.
Moral, Philosophie.
Eudämonismus vergl. Glückselig-
keit, Utilitarismus.
Sachregister.
295
Evidenz = Vonselbsteinleuchten 135;
E. beruht auf intuitivem Wissen uo.
F.
Fatalist 222.
Forderung (Postulat) 158; Postulat
der Freiheit und Selbständigkeit
des Ich 222.
Form, substantiale F.en (Ideen) 4i;
F. realisiert sich in der Materie
161, Wesensform 74, 8i; F. als wir-
kendes Prinzip 68; F. der Sinn-
lichkeit 188: F.en der Welt als
Vorstellung 267; Einheit von F.
und Inhalt 236 ; F.en = ursprüng-
liche Anlagen 208, 211; formelles
Prinzip des Wollens 202. Vergl.
Stoff.
Freiheit 115, 124, 216, 241; Kants Lehre
von der Freiheit 214, 227 ; transzen-
dentale F. 242, 246 ff.
G.
Gattung 74, 78.
Gedächtnis I5i; G. der Monaden
157; Erinnerungsvorstellungen 173.
Gefühl, moralisches G. 213, 279 f.
Geist 54, 150, absoluter G. 65, als
Erstes prädikatlos 71; Weltgeist
234 ; geistiges Universum 234 ;
G. Sohn des Einen 69, 71; G.er
155, 161; menschlicher G. (Seele)
im Gegensatz zum Leib und Fleisch
84, veränderlich 92, leichter er-
kennbar als der Körper 100, besitzt
Fähigkeit des Urteils 106; Tätig-
keiten der Seele 72, 102, 110 ; Ver-
mögen der S. 25 f., 43; Beschaffen-
heiten der S. 25 f., 44; Entwick-
lung des menschlichen G.es 272,
im Verhältnis zu der des Indivi-
duums 273 f.; G. alles, was Per-
zeptionen und Begierde hat 155.
Vergl. Intellekt, Psyche.
Geisteswissenschaften 213.
Gemeinschaft 33 f.
Gemeinsinn 106.
Genius, Leben des G. 264.
Gerechtigkeit an den Staat ge-
bunden 37.
Gesetz, praktisches G. 203, 214. Vergl.
Naturgesetz.
Gewissen, Wesen des G.s 281;
Theorien des G.s 281, 289.
Glaube 13.
Gleichgültigkeit, stoische G. 258.
Glück nur negativ 262, 264.
Glückseligkeit 196 ff., 213; G.
unterschieden von Lust 45 ; Wesen
der G. 29 f., 287; G. Endzweck
alles menschlichen Tuns 29 f. ;
glücklich leben = naturgemäß
leben 56 f., 62 ; allgemeine, größt-
mögliche G. 279 f., 284. Vergl. Utili-
tarismus.
Gott und die Idee des Guten 19; G.
absolutes Wesen 24, das Eine 70,
der Allgütige 99, Quelle der Wahr-
heit 100 ; Wesen G.es bei Spinoza
121, Ursache aller Dinge 111 f.,
allein freie Ursache 112, Vollkom-
menheit G.es 117, 119; G.es Tätig-
keit Denken 25, 42; G. denkt sich
selbst 25 ; G.es Verstand und Wille
113f.;göttlicheLiebell8f.;G.liebt
sich selbst mit unendlicher geisti-
ger Liebe 119, 125; Gehorsam dem
G. 61.
Gravitation 276.
Grund außerhalb des Begründeten
218 ; Satz vom zureichenden G.
157 ; metaphysische und logische
Fassung d, S. v. z. G. I62; vier-
fache Wurzel d. S. v. z. G. 162;
ein synthetischer Satz 180.
Grundsätze, theoretische G. 127;
praktische G. 127 ; G. der Hand-
lung 202. Vergl. Axiome.
Gut, das höchste 59.
H.
Humanität nur im Staate mög-
lich 47.
I.
Ich als Geist 106, als Substanz 110;
Spontaneität des I. 208 ; Freiheit
und Selbständigkeit des I. 222; I.
aktiv oder passiv 207 f. ; Schöpfer-
kraft des I. geleugnet 173; Ich-
heit 225.
Ideal, I. und Leben 19.
Idealismus Berkeleys 150, 192, 212;
I. im Gegensatz zum Dogmatismus
218 ff., 227.
Idealität von Raum und Zeit 194.
Idee, Platonische I. 3, 9 ff., 13,267;
I.nlehre 13 f., 70; I.n Urgrund des
296
Sachregister.
Seins 15/6 ; Ordnung der I.n 17;
I. des Guten 7, 11 f., I8; Immanenz
der I.n 41; I. = Weltvernunft 235,
236, 240; Entwicklung der I. 238;
I. = Bewußtseinsinhalt 126 f., 139,
141 f., 150; I. als von Gott aufge-
prägtes Zeichen 90; angeborene
I.n 126 ff. ; einfache I.n 158; zu-
sammengesetzte I.n 142; I. =
schwächere Vorstellung eines Ein-
drucks 163 ff., 167, 172.
Identität von Form und Inhalt
236; Satz derl. 127, 139, 162; iden-
tische Aussagen 158.
Idole (Trugbilder) = leere Meinungen
92, 109; Einteilung der I. 92.
Immateriell 73.
Imperativ, kategorischer L, 215, ein
formales Prinzip 215.
Individuum 63, 225 ; individuali-
sierende Prinzipien 73 f. ; I. als
Objektivation des Willens 254 ff.
Induktion 89 f., 210, 287; I. nicht
einfache Aufzählung 91 , dialek-
tische 94. .
Instanzen (Fälle), positive I. 91,
94; negative I. 91, 94.
Instinkt 4i. 96, 198.
Intellekt, geistiges Denk- oder Er-
kenntnisvermögen = Vernunft und
Verstand 72/3, 79; Macht des I.s 124;
intellektuelles Reich 237. Vergl.
Geist.
Intelligenz an sich 218; freie I. 219.
Intelligible Welt 215, 227; species
inteUigihiles leo.
Interesse, höchstes I. für uns selbst
223; den Willen anregend 257.
Intuitives Wissen 124, uo; Anschau-
ung ist intuitiv 187, 211.
Irren eine Unvollkommenheit 99.
K.
Kategorien 239, 251; fünf Kate-
gorien von Vorgängen 277.
Kausalität vergl. Ursache.
Konkret in grammatikalischer Be-
deutung 150; k. im Gegensatz zu
abstrakt 241 ; in concreto 185, 188.
Kontradiktorisch entgegengesetzt
157. Vergl. Widerspruch.
Körper, Wesen d. K.s nach Descar-
tes 98, 102, nach Berkeley 143.
Kosmogonie I8.
Kraft den Stoff belebend 243.
Kritik 186; K. unserer Vernunft 207 ;
kritische Frage 182 ; k. Philosophie
207; Kritizismus 210.
Kulturideal, allgemeinmensch-
liches 287.
L.
Langweile 255 ff.
Leben ein Denken 65; L. ein Leiden
254 ff., 258, 261.
Leidenschaften 264. Vergl. Affekt.
Liebe, Gottes L. 84; göttliche Liebe
118 f.; geistige (intellektuelle) L.
119, 124; praktische, pathologische
L. 202.
Logik 63, 150; logische Elementar-
lehre von Aristoteles begründet
37 f. ; L. beschäftigt sich mit ab-
strakten Ideen 141 ; scholastisch-
logische Begriffsbestimmungen 110 ;
Anwendung von Symbolen in der
L. 95.
Lust das Gute 8, 54, 57 ; das höchste
Gut 59.
M.
Mangel als Triebfeder des Willens
262 f.
Materie vergl. Stoff.
Materialismus 227; Materialist 222.
Mathematik (Geometrie und Arith-
metik) geht von Voraussetzungen
aus 12/3; beruht auf Verstandes-
gewißheit 13; enthält zweifellose
Gewißheit 98; gibt Richtmaß der
Wahrheit 116; Grundlage aller
Wissenschaften 278 ; reine M. 179 ff. ;
Möglichkeit der reinen M. 186 ff.;
M. angewandt auf Seelenlehre 251.
Maxime 200 ff.; M. der Klugheit 204.
Mechanik des Seelenlebens 122; me-
chanische Naturerklärung 123 ; Me-
chanismus der Natur 214. Vergl.
Natur, Naturwissenschaft.
Meinen (Vorstellen) 3 ff., 109, 229 f.;
M. in der Mitte zwischen Wissen
und Nichtwissen 5 ; Meinung (Ein-
bildung) 124.
Mensch, Hauptgattungen von M.en
223/4; Unterschied der M.en 49;
Extreme des Menschenlebens 264;
M. auf Gesellschaft angewiesen
36, 284 f. ; Gefühl der Einheit mit
allen M.en 285; Menschheitsent-
wicklung 286.
Sachregister.
297
Merkmal in der Logik 150, 211, 227;
individuelle M.e 74, 79; Summe der
M.e 79.
Metaphysik, Erklärung des Wortes
40; M. höchste Wissenschaft, geht
auf die allgemeinsten Gründe 4.2;
sucht die einfachsten Wahrheiten
auf 121; beschäftigt sich mit ab-
strakten Ideen 141 ; enthält dunkle
und unbestimmte Ideen 166, 245 ;
Eigentümliches aller metaphysi-
schen Erkenntnis 176 ff.; ob M,
möglich ist 180 ff. ; ob M. als
Wissenschaft möglich ist 186;
Nutzen der metaphysischen Be-
griffe 275 ; Veränderung ein meta-
physisches Problem 242 ; das
Ungereimte eines metaphysischen
Begriffs 245.
Methode, analytische M. 183, 185,
210, vergl. analytisch ; theologische,
metaphysische, positive M. 272;
Methodenlehre 4i.
Modus 212; Definition Spinozas 121.
Monade 41, i40, 153 ff., 159 ff., 2ii;
M. ein ausdehnungsloses Kraft-
wesen 159.
Monismus. Vgl. Pantheismus.
Moral, herkömmliche 279; Begrün-
dung der M. 282 f.; Richtschnur
der M. 287; Herrenmoral 289. Vergl.
Pflicht, Gewissen, Ethik.
Monotheismus, Begriff des M. 43.
Mystizismus 120.
K.
Natur schafft nichts zwecklos 35, 86;
N. eines Dinges 36 ; N. ohne Zweck
114 ff. ; N. einzige Quelle der Er-
scheinungen 273 ; erkenntnislose
N. 255 ; Gleichförmigkeit des Na-
turlaufs 95, 287; natürliches Uni-
versum 234. Vergl. Mechanik.
Naturen 74. Vergl. Universale.
Natur anläge eines organisierten
Wesens 197.
Naturgesetz ig.
Naturwissenschaft, exakte 123,
vergl. Mechanik; reine N. 183.
Negation ein Mangel 122.
Neigung 223: N. im Gegensatz zur
Pflicht 201 f.
Nominalismus ig.
Notwendigkeit, subjektive, objek-
tive N. 150.
Nützlichkeitsmoral vergl. Uti-
litarismus.
0.
0 b j ekt im Verhältnis zum Subjekt 207.
Objektivation des Willens 255,
264; Stufen der 0. 2G7 f.
Ontologie 282.
Orientalische Geistesweise 70.
P.
Pantheismus des Altertums 7i;
der Stoiker 63; P. Spinozas 121,
225; dynamischer P. Plotins 71.
Partikular 21, 38, 148.
Passivität 244, 246. Vergl. Erregung.
Perzepiton (perzipieren) i5o, 154 ff",
159, 161 ; kleine P.en 156, I61.
Person 197; Persönlichkeit 214.
Pessimismus 268.
Pflicht 199 ff.. 202; pflichtwidrig,
•mäßig, aus Pflicht 199 f. ; Pflicht-
gebot apriorisch 215 ; P. ein Ge-
fühl 281 ff.; Streit, ob angeboren
oder anerzogen 283. Vergl. Moral,
Tugend.
Phantasie vergl. Einbildungskraft.
Philosoph, Charakter d. P.enief. ;
Freund der Weisheit 2; geht mit
Göttlichem und Geregelten um 17;
zum P.en muß man geboren sein
225 ; P.en müssen im Staat regie-
ren 15.
Philosophie, Forderung der P. 216;
Aufgabe der P. 108, 216, 218, 233;
Gegenstände der P. 219, 228;
Wert der P. 17 ; P. objektive Wis-
senschaft der Wahrheit 229 ; theo-
retische P. 213; praktische P.
(Ethik) 213, 253; Begriff der Ge-
schichte der P. 228 ff".
Physischer Einfluß (iiifluxus phy-
SiCUSj 160.
Pönitenziarsy stem, philadelphi-
sches 256, 268.
Positivismus ig, 53, 172, 272 ff., 278;
Wesen des P. 275; Anhänger des
P. 278.
Principium indiscernihiliiim 154,
160.
Problematischer Begriff 182.
Protestantismus, eigentümliches
Prinzip des P. 236.
Psyche, Erklärung des Wortes 110;
psychisch is9; psychische Vorgänge
298
Sacliregister.
besondere Klasse neben den phy-
sischen 139 ; unbewußt Psychisches
139. Vergl. Geist.
Psychologie des Erkennens 138, 174;
P. Teil der Physiologie 278; P.
der Tiere I5i. Vergl. Erkenntnis-
theorie.
^.
Qualität 179, 243; Qu.en der Sinne
53 f.
Quantität 98.
Quietismus 88.
K.
Rationalismus i6i, 173, 2ii.
Raum 86; R. kein empirischer Be-
griff 211 ; R. reine Anschauung 189 f.;
R. Form unserer Sinnlichkeit 189,
192; Raumtheorie Kants 210.
Reale 252. Vergl. Substanz.
Realismus 150; R. der Platoniker 8I.
Realität, absolute R. = abs. Voll-
kommenheit 122.
Recht 37.
Reflexion 100.
Relativismus I6, 108 ; Relativität
aller menschlichen Wertbestim-
mungen 288; der sittlichen Vor-
schriften 51.
Religiöse Beweggründe der mora-
lischen Verbindlichkeit 280.
Repräsentieren, die Monade re-
präsentiert die Gesamtheit der
anderen 159 ; R. = Vorstellen 159 ;
eine Idee repräsentiert andere der-
selben Art 146, 151.
Rezeptivität 209.
Rigorismus 214.
S.
Schicksal 249.
Schluß, Definition des S.es; Schluß-
figuren 20 f. , 41 ; vollkommener
S. 21; vermischte Schlüsse 252;
deduktives Schlußverfahren 124 ;
S. nach der Analogie 94; Trug-
schlüsse 95. Vergl. Syllogismus.
Seele vergl. Psyche, Geist.
Sein, ein ewiges unveränderliches
S. 14; absolutes S. identisch mit
dem Geistigen 42; das, was ist,
ist vernünftig 234 f. ; Begriff des
S.s über dem Werden erhaben 242 ;
Welt des S.s 214; materielles und
immaterielles S. 73.
Selbstbeobachtung 216.
Selbstbestimmung 242, 245 f.
Seibätgenügsamkeit 32.
Seligkeit oder Freiheit 119 f.
Sensor iu7n commune leo.
Sensualismus 211.
Singulare 72, 75, 78.
Sinne Erkenntnis vermittelnd 97;
Sinnestäuschung loo ; Verschieden-
heit der Erscheinungsbilder der
S. 48.
Sinnlichkeit verworrene Vorstel-
lungsart 194; S. ist rezeptiv 209;
liefert Anschauungen 209.
Skepsis 108; S. der Griechen 52 ff.
Skeptizismus 181, 182, 208, 210,
222, 237.
Skotismus 76. Vergl. Realismus.
Sollen 18, 215; Welt des S.s 214.
Soziologie 278; soziale Physik 277.
Spekulativ 222, 227.
Staat ein in sich Vernünftiges 235 f. ;
Staatslehre Piatos 15; Aristoteles'
33 ff., 46; S. früher als Indivi-
duum 37.
Stoff (Materie) 68, 86; S. durch die
Form gestaltet I6I, 243; indivi-
dueller S. 73 ; Materie der Erschei-
nung 189, 211; S. der Erkenntnis
212. Vergl. Form.
Subjekt im Verhältnis zum Objekt
207; subjektive Notwendigkeit 185.
Substanz, Definition Spinozas 121;
Begriff der S. iio, 181. Vergl. Ding,
Reale.
S ukzession 249.
Syllogismus 37, 91. 94, 122; Syllo-
gistik 37, Vorschule der Wissen-
schaft 41; syll. Beweisführung 90,
94. Vergl. Schluß.
Synthesis der Wahrnehmungen 183.
Synthetisch 177 f., vergl. Urteil;
metaphysische Urteile sind s. 181 ;
s.e Sätze a priori 182, 183 f. ; s.e
Lehrart 210.
T.
Teleologie 95; teleologische Be-
trachtungsweise 123. Vergl. Zweck.
Temperament 259.
T h e o r i e 22 f . : Th. in höherem Grade
Wissenschaft 23, 157; Th. Kennt-
nis des Allgemeinen 4i; Th. Er-
I
Sachregister.
299
kenntnis des ursächlichen Zusam-
menhanges 24.
Tiere bloße Maschinen 144; Tier-
seelen 151, 155.
Transzendent 282, 287, 288. -
Transzendentale Erkenntnis 212;
T. Philosophie 185, 225; t. Deduk-
tion 190, 212.
Traum 97, 109; T.biider 72.
Trilemma 242, 245, 251, 252.
Tropen 48 ff-, 53.
Tugend, Wesen der T. 25 £F., 28.;
dianoetische,ethi6cheT.en 43 ; T. von
Lust zu trennen 58. Vergl. Pflicht.
U.
Unbewußtes unmöglich 128 ff. Vergl.
Psyche, Vorstellung.
Unendlich, absoluter Geist u. 65;
u.e Reihe 244, 245.
Universale 72 ff., 78, iso; U. als all-
gemeine Natur 73 ; U. als gedank-
liche Beziehung 73.
Universum der Stoiker 63.
Ursache und Wirkung (Kausalität)
24, 158, 160 f., 243 ; Frage nach den
ersten U.en 275; ein Beziehungs-
begriff 16; K. = Idee der notwendi-
gen Verknüpfung 166 ff., 174 f.;
äußere 242 f., innere U. 245 ff.;
Kausalgesetz 174.
Urteil, Fähigkeit des U.s 106; Ein-
teilung der U.e in analytische und
synthetische 177 ff., 209; apodikti-
sches 210; partikulares U. 38;
wahres U. muß hinreichend be-
gründet sein 162; Zurückhaltung
im U. 48, 52.
Utilitarismus 279 ff., 287. Vergl.
Glückseligkeit.
V.
Veränderung aus äußerer Ur-
sache, aus Selbstbestimmung, als
absolutes Werden 242 ff.
Verbindlichkeit, Quelle der V.
279; äußereGründe280, innere 281.
Vernunft erkennt die Wahrheit
und das Seiende 10 ff. ; dialekti-
sches Vermögen der V. 13; V.
Vermögen abstrakter Begriffe 267;
reine V. 178 f.; Prinzipien der
reinen V. 180; praktischer Ge-
brauch der V. 198; V. als prak-
tisches Vermögen 199 ; dasGöttliche
ist denkende V. 24 ; das Seiende ist
V. 236, 240.
Verstand 12/3, 267; perzipiert Ideen
150; V. reflektiert 192; V. Vermö-
gen der Begriffe 211; V. begreift
das den Dingen Gemeinsame 124;
gesunder V. 199 ; V.esgewißheit
liegt zwischen Vernunfterkenntnis
und bloßer Vorstellung 13; Ein-
sicht des V.es 105.
Vielheit, Prinzip der V, 67; V, in
der Einheit 154, 160, 253.
Vorstellen 5 f., vergl. Meinen; V.
gibt nicht Erkenntnis 105 ; V. Zu-
sammenfassen des Vielfachen zur
Einheit 159. Vergl. Perzeption.
Vorstellung, ursprüngliche V.en
126 ff., 138, 140; dunkle und klare
V.en 41, 194; V.en unterschieden
nach Stärke und Lebhaftigkeit 163.
Voraussetzungen in der Mathe-
matik 12/3; Vernunft gibt wahr-
haft letzte V.en 13.
Vorurteil 99.
Wahrheit im Gegensatz zur Mei-
nung 229; zwei Wege ihrer Er-
forschung 89; W. ist nur eine
233; relative und absolute W. 238;
einfache W.en (simplicia) 121;
ewige W. = Wesen eines Dinges
113, 122; notwendige und ewige
157, 159, itii; begründete, tatsäch-
liche W.en 158. Vergl. Erkennen.
V/ahrnehmung, sinnliche W. noch
nicht Wissenschaft 23 f.; Unter-
schied der W.en 50; Wahrneh-
mungsvermögen 22.
Wahrscheinlichkeit 13.
Wanderbildchen I60.
Wechsel aller Dinge it, 248. ^
Weise, Ideal des W.n 59, 63.
Welt als Vorstellung 266 ff.
Werden, absolutes W. 242, 246,
247 f.; ewiges W. als Wesen des
Willens 269, Vergl. Entwicklung.
Wesen vergl. Form, Ding.
Wesenheiten 273.
Widerspruch, Satz des W.s 122,127,
139, 157, 162, 210; S. d. W.s Prinzip
aller analytischen Urteile 177, 183 f.
Wille, der gute W. 85, 87, 196 ff.,
213; W, als Wesen des Seins 254 ff.,
300
Sachregister.
266 f. ; W. ein beständiges Streben
255, ohne Ziel 269; W. zum Leben
255, 265 ; Verneinung des W.s zum
Leben 270.
Wirklichkeit, Konstruktion der
W. 151.
Wirkung vergl. Ursache.
Wissen entspringt aus der Einwir-
kung der Gegenstände auf das Ich
172. Vergl. Erkennen.
Wissenschaft 176; wirkliche W.
geht auf die letzten Gründe und
Prinzipien 24; sinnliche Wahrneh-
mungen noch nicht W. 23 f., vergl.
Theorie; Ziel der W. i5i; wissen-
schaftliches Verfahren I5i; Ein-
teilung der Wissenschaften 277.
Wissenschaftslehre 217, 22G.
Wort ein mangelhaftes Mittel des
Ausdrucks von Gedanken 93, 95.
Würde des Menschen 215.
Z.
Zeit 8G, 98; Z. eine reine Anschauung
189; Z. Form unserer Sinnlichkeit
189; Z. Form des inneren Sinnes 212.
Zufall 247.
Zweck 116, 197; sich realisierender
Z. 161; Endzweck der Dinge 115,
275; Mensch handelt nach Z.en
115, nicht die Natur 114 flF. Vergl.
Teleologie.
Z w e i f e 1 96 ff. ; an allem Z. möglich
99 ; grundsätzlicher Z. 108. Vergl.
Skeptizismus.
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