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QP71 .G92 Physiologische studi
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PHYSIOLOGISCHE STUDIEN
VON
Dr. P, GßUTZNER unb Dr. B. LUCHSINGEß,
PKOFESSOKEN AN DER BERNEK HOCHSCHULE.
COLUMBIA ÜMvcpcfTv
DEPARTMENT OF PHvSinLO
College OFPHys,c,A^,SA^,Dqu.GE•
437 WEST FIFTY NINTH STheet
NEW YORK
LEIPZIG,
VERLAG VON F.C.W.VOGEL.
1882.
■sc
HERRN
PROFESSOR DR. G. VALENTIN
ZU SEINEM
FÜNFZIGJÄHRIGEN DOCTORJÜBILÄUM
AM 10. OCTOBEE 1882
IM NAMEN DER MEDICiNLSCHEN FACULTÄT DER BERNER HOCHSCHULE
IN VEKEHRUNG
DARGEBRACHT.
INHALT.
P. GRUTZNER,
Zur Physiologie des Flimmerepithels.
B. LUCHSmGER,
Thermisch - toxikologische Untersuchungen.
Hochgeehrter Herr College,
Hochzuverehrender Herr Jubilar!
An dem heutigen Tage sind gerade fünf Jahrzehnte verflos-
sen, seit Ihnen die Alma mater Viadrina, welche stolz darauf ist,
Sie zu den ihren zu zählen, auf Grund Ihrer Dissertation, De
evolutione ßbrurum viuscularium prolusio^ den Doctortitel ertheilte.
An diese Ihre erste Arbeit schlössen sich binnen Kurzem eine
stattliche Reihe der hervorragendsten Leistungen auf den ver-
schiedensten Gebieten der Biologie, welche Sie, den noch jugend-
lichen Forscher, an die Spitze einer gerade damals frisch empor-
keimenden Wissenschaft stellten. Neben der erstaunlichen Fülle
Ihres Wissens verbanden Sie schon zu jener Zeit einen regen
Sinn für exacte experimentelle Methode und Forschung, welche
allein und gerade damals nothwendig waren, die noch junge Phy-
siologie aus den Banden einer üppig und krankhaft wuchernden
Naturphilosophie zu befreien. Denn eine Thätigkeit, welche uns
Jüngeren durch die grossen Vorbilder, durch die Liberalität des
Staates bei Begründung von Laboratorien, durch die Fortschritte
der Technik ungemein erleichtert wird, war damals etwas über-
aus Seltenes, das nur mit dem grössten Aufwand von Energie und
unter mannigfachen Mühseligkeiten errungen werden konnte.
— VIII —
Gestatten Sie daher, dass wir, erfüllt von der Anerkennung
dieser Ihrer arbeitsvollen und erfolgreichen Thätigkeit, Ihnen ein
kleines Zeichen unserer Verehrung und Hochachtung in den nach-
folgenden Arbeiten darbringen, das Ihnen zur Freude gereichen
möge. Wir dürfen uns dieser Hoffnung um so eher hingeben,
als Sie uns bei jeder Gelegenheit zeigten, mit welch' lebhaftem
und wohlwollendem Interesse Sie nicht blos unsere wissenschaft-
lichen Bestrebungen verfolgten, sondern auch uns persönlich stets
in liebenswürdigster Weise entgegentraten.
P. (xrütziier. B. Liichsinger.
Zur Physiologie des Flimuierepitliels
nach gemeinschaftlich mit Cand. med. W. Sahli angestellten Versuchen
von
Dr. P. Grützner.
Pliysiol. Studien.
EINLEITUNG.
Als ich mich bei einem Kehlkopf- und Rachenkatarrh, an
dem ich vor längerer Zeit einmal litt, mit einer vierprocentigen
Lösung von chlorsaurem Kali gurgelte, fiel mir auf, dass unmittel-
bar nach dem Gurgeln sich nicht blos Schleim aus dem Rachen,
sondern auch aus dem Kehlkopf, vielleicht aus der Luftröhre durch
einen Hustenstoss entleerte. Da man nun gemeiniglich der An-
sicht ist, dass beim Gurgeln Flüssigkeiten in die Tiefe des Kehl-
kopfes oder gar der Luftröhre nicht gelangen, sich aber hier eine
offenbare Wirkung der Gurgelflüssigkeit auch auf diese tieferen
Theile zu documentiren schien, entstand bei mir die Frage, ob
nicht, wenn bestimmte Abschnitte einer flimmernden Schleimhaut
gereizt würden, dieser Reiz sich auf andere, entferntere Abschnitte
derselben Schleimhaut, im vorliegenden Falle also von dem Pha-
rynx auf den Larynx und die Trachea übertragen und dadurch
Schleim auch aus der Tiefe nach oben geschafft hätte.
Diese Frage, welche ich mir schon vor Jahren gestellt, nahm
ich im vorigen Wintersemester in Gemeinschaft mit meinem Assi-
stenten, Herrn Cand. med. W. Sahli, im hiesigen physiologischen
Institut in Angriff und förderte sie bis zu einem gewissen Punkt,
schloss sie aber, wie ich leider hinzufügen muss, noch lange nicht
— 4 —
ab. Zeitmangel auf der eiuen wie auf der anderen Seite hemm-
ten den raschen Fortschritt. Vorliegende Arbeit bildet also nur
einen Anfang, ein Bruchstück einer Untersuchungsreihe, die wir
seiner Zeit zu vollenden hoffen.
Aber ein Schelm ist, wer mehr giebt, als er hat. Ich hoffe
daher, hochgeehrter Herr Jubilar, dass der Inhalt der folgenden
Zeilen Sie einigermaassen, und vielleicht umso mehr interessiren
wird, als er Sie an Zeiten erinnert, in welchen Sie in den mir
wohlbekannten Räumen der PuRKiNjE'schen Wohnung in Breslau
über ungefähr dasselbe Thema arbeiteten, wie wir heut zu Tage.
Freilich liegt fast ein halbes Jahrhundert zwischen diesen beiden
Arbeiten und, was in dieser Zeit die Physiologie geworden, das
steht lebhafter vor Ihnen, der Sie diese Zeit mitschaffend und
mitarbeitend durchlebt haben, als vor mir, der ich in eine schon
mehr oder weniger fertige Wissenschaft eingetreten.
Ich wünschte, dass unsere Arbeit im Vergleich mit der von
Ihnen und Purkinje etwas von diesem Fortschritt der Wissen-
schaft an sich trüge ; indessen ist das nur in beschränktem Maasse
der Fall, denn gerade der Fortschritt in der Methodik und An-
schauung tritt in ihr verhältnissmässig wenig zu Tage.
Eigene Untersuchungen.
Wir wenden uns zunächst zu unserem Untersuchungs-
object, welches sich nicht blos uns, sondern allen früheren
Forschern auf diesem Gebiete als vorzüglich geeignet erwiesen
hat, ich meine die Rachen- und Speiseröhrenschleimhaut des
Frosches und zwar sowohl der Rana temporaria wie esculenta.
Denn obgleich durch frühere Arbeiten, sowie diejenigen von Pur-
KiNjE und Valentin *) eine grosse Menge von verschiedenen Ge-
schöpfen und Organen kennen gelehrt wurde, an denen man das
interessante Spiel der Flimmerbewegung theils unter dem Mikro-
skop, theils in seinen Wirkungen unmittelbar mit dem Auge be-
obachten konnte, dürfte man doch kaum ein Organ finden, das
folgende vorzügliche Eigenschaften gerade für das Experiment in
sich vereinigt.
Zunächst ist die genannte Schleimhaut ausserordentlich leicht
zu gewinnen und zu handhaben und übertrifft in dieser Beziehung
alle anderen mir bekannten Objecte, namentlich auch die Luft-
röhrenschleimhaut grösserer Säugethiere. Zweitens ist dieselbe
ausreichend gross, so dass man bestimmte Abschnitte reizen, an-
dere schädigen kann und man immer noch genügend Material
behält, um die Umgebung der genannten Stellen auf ihren phy-
siologischen Effect ohne weitere Hilfsmittel, unmittelbar mit dem
Ange prüfen zu können. Schliesslich ist sie überaus resistent,
wenn mau nur dafür sorgt, dass sie in einem mit Wasser gesät-
tigten und nicht zu warmen Räume aufgespannt wird. Hält man
selbstverständlich auch anderweitige, namentlich chemische Schäd-
lichkeiten, wie destillirtes Wasser u. s. w. von ihr ab, so wird
man bei mittlerer Stubentemperatur mit Leichtigkeit 24 Stunden
an demselben Objecte operiren können.
Aus diesen Gründen haben wir denn lediglich zunächst an
ihr unsere Untersuchungen angestellt und haben uns selbstver-
ständlich vorgenommen, die an ihr aufgefundenen Gesetzlichkeiten
auch an anderen Schleimhäuten, insonderheit der Trachealschleim-
haut von Säugethieren weiter zu studiren. Dies wird um so noth-
wendiger sein, weil die aus unseren Beobachtungen an der Rachen-
schleimhaut des Frosches gezogenen Schlüsse aller Wahrschein-
1) Purkinje et Valentin, De phaenomeno generali et fundamentali motus
vibratorii continui etc. Vratislaviae 1835, und Valentin in R. Wagner's Hand-
wörterbuch I, S. 484—516. 1842.
— 6 —
lichkeit nach auf viele flimmernde Schleimhäute, so namentlich
auf die letztgenannte, aber keineswegs auf alle flimmernden Appa-
rate tibertragbar sind, vornehmlich nicht auf diejenigen, welche
wie die Schwimmplättchen der Ctenophoren^) wahrscheinlich dem
Einflüsse des Nervensystems unterthan sind oder wie die Flimmer-
haare an den Nebenkiemen von Muscheln, die nach den Beobach-
tungen Valentin's ihre Schlagrichtung plötzlich ändern und nach
den Aeusserungen Purkinje's, wie mir Herr Valentin selbst mit-
theilte, „ wie die Kinder zu spielen scheinen. " Ich glaube vielmehr,
dass die von uns an der Schleimhaut des Frosches beobachteten
Beziehungen, welche zwischen den einzelnen Zellen bestehen, sich
— mutatis mutandis — nur an solchen Schleimhäuten wieder-
finden werden, denen eine bestimmte, und zwar nur eine bestimmte
Schlagrichtung zukommt. Dies ist zwar, soweit man weiss, bei
den meisten flimmernden Schleimhäuten der Fall, ob aber bei
allen, darüber ist Sicheres zur Zeit noch nicht festgestellt.
Die Methoden, deren wir uns bedienten, bestanden im
Wesentlichen in der Beobachtung des physiologischen Effectes,
oder wie Engelmann i) in seinen schönen Untersuchungen ihn pas-
send bezeichnet, des „Nutzeffectes", den die Schleimhaut produ-
cirt. Das Mikroskop zogen wir nur selten zu Rathe, weil es auf
die uns vorliegenden Fragen nur wenig oder gar keine Auskunft
geben konnte. Denn wenn man bedenkt, eine wie kleine Menge
von Epithelzellen zu gleicher Zeit unter dem Mikroskop beobach-
tet werden können, wie ferner behufs der Beobachtung die Zellen
aus ihrem physiologischen Zusammenhang herausgerissen werden,
auf den es uns aber gerade ankam , und wie man schliesslich unter
dem Mikroskop locale Reizungen oder Schädigungen, weil sie
gar zu klein in ihrer Ausdehnung sein müssteu, nicht wahrnehmen
1) Carl Chtjn, Das Nervensystem und die Muskulatur der Rippenquallen.
Abhandl. der Senckenberg. Gesellsch. XI. 1878, citirt nach Engelmänk, Her-
mann's Handb. der Physiologie Bd. I.
— 7 —
kann, so ist es begreiflich, dass wir uns wesentlich an die Beobach-
tung des Nutzeffectes hielten und einfach feststellten, wie schnell
oder langsam kleine, passend gewählte Objecte von den Härchen
der Schleimhaut über dieselbe bewegt wurden.
Hierbei blieben wir allerdings — weil eben mikroskopische
Beobachtung nicht möglich war, im Unklaren, weshalb in dem
einen Fall ein Körperchen schnell, in dem andern langsam über
die Schleimhaut gefördert wurde. Die schnelle Beförderung konnte
bedingt sein dadurch, dass erstens alle Härchen mit grösserer
Geschwindigkeit und grösserer Amplitude nach der wirksamen
Richtung schlugen und dass sie zweitens gut zusammen arbeiteten.
Letzterer Umstand ist von ausserordentlicher Bedeutung; denn
auch die kräftigsten Schläge der Flimmerhaare sind von ver-
schwindendem physiologischen Effect, wenn sie sich nicht coor-
dinirt vollziehen. So wie ein schwerer Rammklotz von einer Zahl
von Arbeitern nur dann in die Höhe gehoben werden kann, wenn
alle gleichzeitig auf Commando an dem Seile ziehen, welches den
Klotz trägt, wie aber, wenn jetzt der eine, dann der andere Ar-
beiter oder einzelne Arbeitergruppen nach einander thätig sind,
der Klotz sich kaum vom Flecke rührt, so ist es auch mit der
Leistung der Flimmerhaare, deren jedes ja nur eine verschwindend
kleine Arbeit leisten kann, die sich aber sofort in etwa demselben
Maasse vervielfacht, wenn Millionen von Härchen ihre Kräfte ver-
einigen und coordinirt arbeiten.
Aehnliches gilt, wenn ein leichtes Körperchen, ein sogenanntes
„Signal", wie es Kistiakowsky ') nennt, langsam über eine flim-
mernde Schleimhaut geführt wird. Wir wissen dann nicht, ob es
die geringfügige Leistung einer jeden einzelnen Flimmerzelle ist,
ob die Zahl der leistungsfähigen Flimmerzellen abgenommen hat,
oder ob schliesslich das Zusammenarbeiten der Zellen gestört ist.
1) Kistiakowsky, Ueber die Wirkung des constanten und Inductions-
stromes u. s. w. Wiener Sitzungsber. Bd. 51. S. 263. 1865.
— 8 —
Man wird uns vielleicht entgegnen, alles Dieses oder wenigstens
Einiges könne man doch vermittelst des Mikroskope» entscheiden.
Ich gebe gern zu, dass man mit Leichtigkeit sehen kann, ob ein
Stück Flimmerhaut, welches man unter das Mikroskop gelegt hat,
mehr oder weniger kräftig schlägt als ein anderes; allein wenn
man je ein Stückchen Schleimhaut aus zwei gleich energisch ar-
beitenden Partieen herausschneidet und beide unter dem Mikro-
skop betrachtet , so sind die Unterschiede in der Art und Energie
des Schlages oft bedeutender, als wenn man zwei Präparate mit
einander vergleicht, von denen das eine einer energisch, das an-
dere einer weniger energisch arbeitenden Partie entnommen ist.
Engelmann ') und Kistiakowsky verwendeten als Signale
kleine Lacktröpfchen, welche an einem Faden befestigt, lose auf
der Haut aufsassen. Wir haben diese Methode niemals angewen-
det, vornehmlich weil wir gewöhnlich ziemlich lange Strecken
der Schleimhaut auf ihre physiologische Thätigkeit untersuchten.
Dann bietet aber die Befestigung des Signals an einem Faden keine
Vortheile; denn wenn das Signal senkrecht unter seinem Auf-
hängepunkt liegt, muss der Faden unter obigen Bedingungen sehr
schlaff sein, das Signal also mit seiner vollen Schwere auf die
Haut drücken. Entfernt es sich dagegen aus seiner Mittellage, so
trägt es der Faden mehr oder weniger und der Druck sowohl,
wie namentlich die Berührungsfläche zwischen Signal und Schleim-
haut verändern sich recht bedeutend. Zudem stellten wir alle
unsere Beobachtungen in einer feuchten Kammer an, in welcher
ein Apparat zum Aufhängen der Signale schwierig anzubringen
gewesen wäre.
Auch die zuerst von CALLiBUßci:s ') angewendete , späterhin
1) Engelmann, Ueber die Flimmerbewegung. Leipzig 1868. S. 67, auch
in Jenaische Zeitschrift f. Medic. u. Naturwissensch. Bd. IV. S. 321.
2) Kecherches exper. sur l'influence etc. Compt. rend. Bd. 47. p. 638. 1858,
und Cyon, Atlas Taf. 36, Fig. 1.
— 9 —
von Engelmann vervollkommnete Methode, den Schlag der Här-
chen zur DrehuDg einer leicht drehbaren Walze nach Art eines
unterschlächtigen Mühlrades auszunützen, konnten wir nicht an-
wenden, weil wir ja zu gleicher Zeit an verschiedenen Stellen die
Thätigkeit des Epithels zu prüfen hatten. Wir hätten also da eine
ganze Menge von „ Flimmermühlen oder Flimmeruhren " zu gleicher
Zeit aufstellen und beobachten müssen, was, wie leicht ersicht-
lich, kaum durchführbar ist.
Da es uns ausserdem darauf ankam, kleine, beschränkte, dicht
neben einander liegende Abschnitte der Schleimhaut zu unter-
suchen, mussten in erster Linie unsere Signale klein, möglichst
gleichartig und nicht zu schwer sein. Wir schnitten uns zunächst
kleine kreisrunde Scheibchen aus Kork, die lackirt wurden, oder
aus verschiedenen Metallen, die sich aber alle nicht als praktisch
erwiesen. Späterhin verwendeten wir lange Zeit hindurch Mohn-
körnchen, die man ja stets gleichartig bekommen und entweder
längs oder quer (denn sie sind bekanntlich nicht kugelrund, son-
dern elliptisch, ungefähr nierenförmig gestaltet) auf die Schleim-
haut aufsetzen kann. Die Mohnkörnchen sind auch klein und
leicht genug, um unseren Zwecken zu dienen.
Indessen im weiteren Verfolge der Untersuchungen beobach-
teten wir doch , dass die Mohnkörnchen dieselben Strecken von ein
oder ein paar Centimetern weder mit gleichmässiger Geschwindig-
keit noch mit unter einander gleichen Geschwindigkeiten durch-
liefen, sondern ziemlich häufig Unregelmässigkeiten zeigten, wesent-
lich wohl deshalb, weil sich bei diesen rundlichen Körpern leicht
die Berührungsflächen zwischen Signal und Schleimhaut verändern,
und dies um so mehr, als die Schleimhäute nie ganz eben aus-
gespannt werden können und stets, wenn auch geringfügige Falten
aufweisen. Geräth nun solch ein kleines Signal in eine Rinne,
so wird es in Folge der vergrösserten Berührungsfläche wahr-
scheinlich viel schneller vorwärts bewegt, als wenn es auf der
Höhe einer Falte, so zu sagen, auf einem Grat vorwärts gleitet.
— 10 —
In der letzten Zeit haben wir daher auch die Mohnkörnchen
als Signale nicht mehr angewendet, so nützliche Dienste sie uns
auch lange Zeit hindurch geleistet hatten. Die bei Weitem besten
Signale sind nach unseren mannigfachen Erfahrungen vielmehr
passend hergerichtete, kleine Gewebsstücke. Wir präpariren die-
selben in folgender Weise. Die Muscularis des Froschmagens,
namentlich dort, wo sie stark ist und sich leicht von der Schleim-
haut abziehen lässt (das ist im Wesentlichen die Portio pylorica),
wird in erwärmtem Wasser starr gemacht und aus dieser Haut
werden dann mit einer scharfen Scheere quadratische Stücke von
1 — 2 — 3 mm. Seite geschnitten. Diese kleinen Quadrate sind die
besten Signale ; sie bieten mehr Berührungspunkte, als die Mohn-
körnchen, sind ausserdem stets feucht und nicht so starr, und
marschiren, wie gesagt, mit der gewünschten Gleichmässigkeit
über die Schleimhaut.
Handelt es sich nun darum, die Geschwindigkeit, mit der
sie fortschreiten, zu bestimmen, so wird über die Schleimhaut
eine in Millimeter eingetheilte kleine Scala von starkem Papier
gelegt. Dieselbe, etwa 2 mm. breit, ruht auf zwei quer gelegten
Drähten, so dass sie natürlich die Schleimhaut nicht berührt, und
wird möglichst nahe an das Signal herangeschoben. Die beiden
Drähte liegen der eine an dem oberen, der andere an dem unteren
Ende der Schleimhaut und werden von Nadeln zurückgehalten,
welche zugleich zur Fixirung der auf Kork aufgespannten Schleim-
haut dienen; denn sonst würden sie durch das Flimmerepithel von
ihrem Orte bewegt werden. Jedesmal nun, wenn das Signal einen
Theilstrich passirt, wird die Zeit notirt und auf diese Weise die
Geschwindigkeit des Fortschreitens festgestellt.
Handelt es sich darum, verschiedene neben einander gelegene
Abschnitte einer Schleimhaut unter sich zu vergleichen, so sind
diese Zeitmessungen vielfach entbehrlich; denn setzt man bei-
spielsweise drei Signale neben einander in einer Front auf eine
Schleimhaut auf, so sieht man ohne Weiteres aus der Stellungs-
— 11 —
änderung der Signale gegen einander, welcher Abschnitt der
Schleimhaut stärker und welcher schwächer arbeitet. Binnen
wenigen Minuten ist dasjenige Signal, welches auf der energisch
arbeitenden Schleimhautpartie sitzt, den andern vorausgeeilt.
Ungemein zierlich werden diese verschiedenen Bewegungen
zur Beobachtung gebracht, wenn man, so zu sagen, eine unend-
lich grosse Zahl kleiner Signale neben einander aufsetzt, also
eine in sich verschiebliche, continuirliche Linie quer über die
Schleimhaut zieht. Ohne Weiteres sieht man dies manchmal an
Schleimfäden oder fadenförmigen Blutgerinnseln, die unter einem
bestimmten Winkel, am besten unter einem rechten zu der Längs-
axe der Membran liegen. Unter wunderlicher Gestaltsveränderung
werden sie nach abwärts in der Richtung des wirksamen Schlages
getrieben.
Macht man sich aber eine Mischung von chinesischer Tusche
und 0,6 procentiger Kochsalzlösung zurecht, indem man erstere in
einigen Tropfen der letzteren verreibt, und zieht mit einem feinen
Pinsel, der mit dieser Mischung getränkt ist, einen queren Strich
über die Schleimhaut, so übersieht man sofort, welche Abschnitte
der Haut stark, welche weniger stark arbeiten. Die vordem ge-
rade Linie wird zierlich gezackt und ausgebogen und da, wo die
Härchen stark schlagen, sind die Tuschepartikelchen weit vorge-
schoben, während die anderen mehr oder weniger zurückbleiben.
Dieser Unterschied vergrossert sich natürlich immer mehr und
mehr, da die rascher fortschreitenden Theilchen sich immer weiter
von den langsamer nachrückenden entfernen müssen, falls die
verschiedenen Geschwindigkeiten der einzelnen Partikelchen die-
selben bleiben.
Da Letzteres aber häufig genug nicht der Fall ist, so beob-
achtet man eben noch mannigfache Veränderungen in den fort-
schreitenden schwarzen Linien und man thut gut, nicht blos eine
einzige schwarze Linie über die Schleimhaut zu ziehen, sondern,
nachdem man die Veränderung derselben einige Zeit beobachtet
— 12 —
und die Schleimhaut mit einem in physiologischer Kochsalzlösung
getränkten Pinsel sorgfältig gereinigt hat, eine zweite, einige
Millimeter unterhalb der ersten zu ziehen und auch deren Ge-
staltsveränderung zu beobachten. Will man noch grössere Strecken
der Schleimhaut in dieser Weise gewissermaassen abtasten, so ist
natürlich dasselbe Experiment an verschiedenen Stellen zu wieder-
holen.
Schliesslich sei mir gestattet, noch einer Methode zu gedenken,
die (wenigstens bei den mir zu Gebote stehenden Hilfsmitteln)
nicht so genau ausfiel, wie die beiden geschilderten, aber sich
ungemein zur Demonstration eignet, wenn es sich darum handelt,
die Thätigkeit des Flimmerepithels einer grösseren Zahl von Zu-
schauern anschaulich zu machen. Ich verdanke dieselbe einer
mündlichen Mittheilung des Herrn A. Fick. Sie besteht einfach
darin, dass ein grosser, annähernd äquilibrirter Fühlhebel durch
das auf der Schleimhaut vorrückende Signal, welches mit einem
Faden an die Axe des Fühlhebels befestigt ist, schneller oder
langsamer gehoben wird, je nachdem das Signal schneller oder
langsamer fortschreitet. Wer die Hebung eines derartigen grossen
Zeigers durch das in seiner Kraft sehr häufig unterschätzte Flim-
merepithel sieht, wird namentlich das erste Mal ausserordentlich
davon überrascht.
Ich wende mich nun zu der Herrichtung der Haut. Hin
und wieder Hessen wir die Haut in loco und experimentirten mit
der auf fester Unterlage (dem Gaumen) aufliegenden Rachenschleim-
haut, welche bei grossen Exemplaren von Rana esculenta Raum
genug für die von uns angestellten Versuche darbot. In der bei
Weitem grössten Zahl der Fälle jedoch wurde die Schleimhaut des
Rachens und der Speiseröhre, nachdem letztere in der Mitte vorn
gespalten war, in toto mit einem Stück Magen herausgeschnitten.
Die Schleimhaut, welche man dann, ohne sie irgend wie zu ver-
— 13 -
letzen, an diesem Anhängsel des Magens fassen kann, wird anf
eine Korkplatte aufgelegt und mit Stecknadeln befestigt. Ich habe
es jedoch ausserordentlich praktisch gefunden, die Haut nicht
unmittelbar auf den Kork zu spannen, sondern zunächst auf den
Kork ein Stück Rücken- oder Bauchhaut des Frosches (mit der
Epidermis nach unten) zu legen und erst auf dieser feuchten Unter-
lage die Flimmerhaut zu befestigen. Sie hält sich dann bei Weitem
besser, als wenn sie auf der trockenen Korkunterlage liegt. An-
dere Experimentatoren haben sie in kleine flache, mit physiolo-
gischer Kochsalzlösung gefüllte Glaströge gelegt. Mir scheint je-
doch unsere Methode bei Weitem einfacher.
Beim Ausbreiten und Befestigen der Schleimhaut hat man
sorgfältig darauf zu achten, sie nicht allzu sehr zu spannen. Wird
sie zu stark gezerrt, so reisst man einen Theil der Zellen aus
ihrem gegenseitigen physiologischen Zusammenhang und beobach-
tet dann ganz andere Erscheinungen, als man sie sonst an der
Mehrzahl der Häute zu sehen gewohnt ist. Deshalb aber darf
man nicht dulden, dass gröbere, namentlich in den unteren Ab-
schnitten der Speiseröhre bestehende Falten stehen bleiben. Diese
Stellen vertragen überhaupt, wohl wegen der unter ihr liegenden
Muskelschicht einen stärkeren Zug, als die oberen Abschnitte,
welche der dünnen Rachenschleimhaut angehören.
Hierauf wird die Haut mit einem in physiologische Koch-
salzlösung getauchten feinen Pinsel von Schleim oder anderen Un-
sauberkeiten gereinigt, und nachdem man mit eben diesem Pinsel
die Signale aufgesetzt, in eine feuchte Kammer gebracht, durch
deren obere Glaswand man das Vorrücken der Signale beobach-
tet. Zu gleicher Zeit notirt man die Temperatur, welche in dem
abgeschlossenen Räume herrscht, da bekanntlich die Wärme den
allergrössten Einfluss auf die Thätigkeit des Flimmerepithels ausübt.
Obwohl ich mir zunächst die Frage stellte, wie ein Reiz, der
eine bestimmte Anzahl von Zellen trifft, sich auf die Nachbar-
— 14 —
Zellen fortpflanzt, ob beispielsweise die Ausbreitung des Reizes
nach allen Richtungen hin gleichmässig erfolgt, die mittelbar er-
regte Partie also ein Kreis hätte sein müssen, wenn die unmittel-
bar gereizte entweder verschwindend klein, nahezu punktförmig
oder ebenfalls ein Kreis mit natürlich kleinerem Radius gewesen
wäre; oder ob sie etwa die Gestalt eines Eies, einer mehr oder
weniger langgezogenen Ellipse oder gar einer geraden Linie an-
nimmt, einer geraden Linie, die parallel oder senkrecht oder
unter irgend einem Winkel zur Schlagrichtung hätte stehen und
durch den Punkt des Reizes symmetrisch (gehälftet) oder asym-
metrisch, d. h. auch so hätte getheilt werden können, dass ihr
einer Abschnitt gleich Null geworden wäre.
Leider sind diese Untersuchungen über die Ausbreitung des
Reizes noch nicht so weit fortgeschritten, dass ich sie an dieser
Stelle ausführlich mittheilen könnte, jedoch sind sie so weit ge-
diehen, dass sie eine vollständige Harmonie mit den Resultaten
derjenigen Untersuchungen iibersehen lassen, die ich jetzt in Kur-
zem besprechen will. Diese Untersuchungen nähern sich gewisser-
maassen von der entgegengesetzten Seite dem uns vorgesteckten
Ziele, indem sie die Frage beantworten, welche Veränderungen
in gewissen Zellenterritorien vorgehen, wenn man sie von ihren
benachbarten Abschnitten isolirt. Wenn ich also eine Flimmerzelle,
deren Gesammtheit ich mir nach Art der Felder eines Schach-
brettes auf ihrer Unterlage stehend denke, aus ihrem physiolo-
gischen Zusammenhang reisse oder sie an Ort und Stelle tödte,
wie verhält sich dann in ihrer Thätigkeit diejenige, beziehungs-
weise diejenigen Zellen, welche in der Richtung des wirksamen
Schlages, also gewissermaassen hinter oder unter der getödteten
Zelle liegen? Ich nenne sie die Hin terz eilen. Wie verhalten
sich zweitens die oberhalb der getödteten Zelle befindlichen, welche
mit ihren Härchen auf die getödtete zuschlagen, die sogenannten
Vorzellen? Wie verhalten sich drittens und viertens die links
und rechts gelegenen , die Seitenzellen? Kenne ich diese Ver-
— 15 —
hältnisse und nehme ich ferner an, was durchaus wahrscheinlich
ist, dass jede Zelle der andern in Betreff ihres physiologischen
Zusammenhanges gleichwerthig ist, so ergiebt sich hieraus auch
die Ausbreitung der Schädigung in den zwischen jenen vier senk-
rechten Strahlen gelegenen Abschnitten, also, so zu sagen, die Ge-
stalt der Schädigungsfigur, die natürlich nicht mit der Reizfigur
übereinzustimmen braucht.
Ehe man daran gehen kann die Veränderung in der Thätig-
keit einer irgend wie geschädigten Schleimhaut zu studiren, ist
es selbstverständlich nöthig, die normale auf das Genaueste zu
beobachten; denn nur auf diese Weise kann man sich vor groben
Irrthümern schützen, da die Leistungen der Flimmerhärchen keines-
wegs an allen Stellen der Schleimhaut gleich sind. Eine grosse
Zahl von Beobachtungen ergab uns als Regel folgenden That-
bestand.
Spannt mau, wie oben beschrieben, die ganze Rachen- und
Speiseröhrenschleimhaut eines Frosches so auf Kork auf, dass der
obere Theil derselben von dem Beobachter abgewendet ist, die
auf ihr sitzenden Signale also auf denselben zu marschiren, und
prüft man mit Signalen oder mit den hier sich als vorzüglich er-
weisenden Tuschelinien die Thätigkeit der einzelnen Abschnitte,
so ergiebt sich, dass auf der Rachenschleimhaut bis kurz unter-
halb einer die beiden Tubenöffnungen verbindenden geraden Li-
nie der eine seitliche, gewöhnlich der rechte Abschnitt der Schleim-
haut des Frosches (also der linke vom Beobachter aus) am inten-
sivsten arbeitet, hierauf folgt der linke, und ein mehr oder weniger
breiter Bezirk in der Mitte arbeitet am trägsten. Setzt man daher
drei gleich weit von einander abstehende Signale, von denen das
erste je nach der Grösse der Schleimhaut 7 — 10 mm. von dem
dritten entfernt ist und von denen das zweite sich genau in der
Mitte befindet, so auf diese Gegend der Schleimhaut, dass die
durch alle drei gezogene Verbindungslinie senkrecht steht zu der
Längsaxe der Schleimhaut, so wird man sehen, dass die Signale
— 16 —
sehr bald eine Winkelstellung gegen einander annehmen, indem
das linke (vom Beobachter aus) am weitesten nach abwärts ge-
gangen und das mittlere am meisten zurückgeblieben ist. Dabei
pflegen sie sich auch ein wenig seitlich zu nähern, so dass nicht
selten Signale, die oben einen Centimeter weit von einander ent-
fernt sind, unten an der Magenschleimhaut sich beinahe seitlich
berühren. Die Signale gehen also binnen Kurzem aus der Stel-
lung • • • in die Stellung . • • über.
In dem nun folgenden tiefer gelegenen Abschnitt der Schleim-
haut, welche also theilweise der Speiseröhre angehört, pflegt der
mittlere träger arbeitende Strich sich seitlich mehr auszubreiten,
so dass man auf einer Breite von 6 — S mm., die durch die längs
verlaufende Mittellinie halbirt wird, eine durchaus gleichmässige
Thätigkeit und zwar über einen Centimeter abwärts beobachten
kann. Links und rechts von diesem breiten mittleren Bezirk liegen
zwei schmale an die Seitenränder der Schleimhaut anstossende
Streifen, die so wie oben energischer, aber nicht um so viel ener-
gischer arbeiten, als die Mittelpartie. Zudem arbeitet der linke
und rechte Seitenstreif unter sich gleich stark. Die drei Signale
würden also hier ausreichend nahe und symmetrisch zur Mitte
aufgesetzt, „ ausgerichtet " im militärischen Sinne bleiben und keine
Winkelstellung einnehmen. Werden hingegen die beiden Signale
an den Flügeln zu weit von der Mitte entfernt, so nehmen sie
Winkelstellung ein; die beiden Flügelmänner laufen und beide
gleich schnell der Mitte ein wenig voraus.
In dem untersten, an die Magenschleimhaut anstossenden Be-
zirk pflegen im Wesentlichen dieselben Thätigkeiten zu herrschen,
wie in dem mittleren. Der gleichmässig arbeitende mittlere Be-
zirk hat sich noch etwas verbreitert, die Seitentheile jedoch
arbeiten zwar energischer als die Mitte, aber nicht mit unter-
einander gleicher Energie. Vielmehr pflegt, wenn oben am Rachen
die linke Flanke intensiver arbeitete, dies unten regelmässig die
rechte zu thun und umo-ekehrt.
— 17 —
Am besten und schnellsten orientirt man sich, wie gesagt,
über alle diese Verhältnisse, wenn man mit schwarzer Tusche in
verschiedener Höhe nach einander quere feine Linien über die
Membran zieht. Die sofort auftretenden Gestaltsveränderungen
der Linien zeigen ohne "Weiteres die verschiedene Thätigkeit des
arbeitenden Epithels. Zugleich gewahrt man aber auch, dass
neben jenen geschilderten grösseren Abschnitten verschiedener
Thätigkeit sich kleinere von einem halben bis zwei Millimeter
einschieben. Die nach unten fortschreitenden Linien erscheinen
daher gezähnelt und die Zähncheu sind natürlich verschieden lang.
Hat man sich nun auf die genannte Weise unterrichtet, wie
eine Schleimhaut arbeitet, wobei, wie ich nebenher bemerken will,
mannigfache Abweichungen von der Kegel vorkommen, und weiss
man ferner aus einer grossen Zahl von Beobachtungen, dass Aen-
derungen in den Thätigkeiten dieser oder jener Abschnitte nicht
vorkommen, so tödtet man einen bestimmten Bezirk der Schleim-
haut und studirt nun die sich darbietenden Veränderungen, die
demzufolge als durch die Schädigung verursacht um so eher an-
gesehen werden dürfen, wenn bei vielfacher Wiederholung der-
selben Versuche an verschiedenen Schleimhäuten oder an ver-
schiedenen Stellen einer Schleimhaut dieselben, beziehungsweise
analoge Resultate erhalten werden.
Als die beste Methode, die Schleimhaut local zu zerstören, er-
wies sich uns die Wärme. Eine vierseitige gerade abgestutzte Py-
ramide mit quadratischen Endflächen, deren kleinere etwa 4 qmm.
gross war, wurde aus Blei gefertigt und mit einem Stiel versehen,
welcher senkrecht aus der grossen Endfläche hervorragte. Tauchte
man diesen kleinen Bleiklotz längere Zeit in Wasser von etwa
60" C. und hielt ihn dann mit dem abgestutzten Ende auf die Schleim-
haut, so wurde dieselbe an dieser Stelle (also etwa im Bereiche
von 4 qmm.) zerstört, ohne dass die benachbarten Partieen dar-
unter litten, was jedoch leicht geschieht, wenn die Temperatur
höher gewählt wird. Dann schrumpfen dieselben, werden ge-
Physiol. Studien. 2
— 18 —
zerrt und verzogen, was selbstverständlich die Reinheit des Ver-
suches stört.
Handelt es sich nur darum, eine linienförmige Zerstörung vor-
zunehmen, so erwärmt man einen metallenen, scharfen Keil und
verfährt in gleicher Weise.
Unmittelbar nach der Verbrennung zeigt sich nun entweder
gar keine nennenswerthe Veränderung in der Thätigkeit des Epi-
thels, oder sofort diejenige, welche dann dauernd zurückbleibt,
oder sogar eine der letzteren entgegengesetzte. Ja nicht selten
gehen in den allerersten Minuten nach der Schädigung diese Zu-
stände in einander über. Die aber etwa nach 10 Minuten nach
einigem Hin- und Herschwanken ausserordentlich deutlich und
klar zu Tage tretende Erscheinung ist folgende. Ich nehme an,
wir hätten in der Mitte eines ausreichend grossen Abschnittes einer
Flimmerhaut, der in allen seinen Punkten mit gleicher Energie
arbeitet, eine etwa 4 mm. lange, lineare quer verlaufende Brand-
wunde gesetzt und einige Minuten gewartet. Die drei Signale,
welche vordem über jenen ganzen Abschnitt mit gleicher Ge-
schwindigkeit marschirten, zeigen ausnahmslos folgende Aen-
derungen.
Es werden die drei Signale, wie oben beschrieben etwa 5 bis
8 mm. oberhalb der Brandwunde, welche also in der Mitte der
Schleimhaut angebracht sei, so aufgesetzt, dass das mittlere Signal
auf die Mitte der Brandwunde zuläuft , die beiden seitlichen aber
bequem an ihr vorbeigehen können. Sofort marschiren alle drei
mit gleicher Geschwindigkeit auf die Brandwunde los; das mitt-
lere bleibt natürlich an der Brandwunde stehen, die beiden seit-
lichen aber gehen mit fortwährend gleichförmiger Geschwindigkeit
auch dann an derselben vorbei, wenn sie sogar die Seitentheile der
Brandwunde berühren. Auch wenn die Brandwunde quadratisch
ist (etwa 4 qmm. gross), so ändert sich in diesem Verhalten nichts.
Haarscharf an den seitlichen Rändern der Wunde schieben die
Signale abwärts. Oberhalb und unmittelbar seitlich von
— 19 —
der Brandwunde zeigt sich hiernach die Thätigkeit
des Flimmer epithels nicht verändert.
Wir setzen jetzt die drei Signale unterhalb der Brandwunde
in gleicher Entfernung von einander wie früher auf. Das mittlere
liegt unmittelbar unter der Mitte der Brandwunde, die beiden seit-
lichen ausserhalb ihres Bereiches, so dass zwei aus den End-
punkten der Brandwunde gezogene, der Längsaxe parallele Linien
die seitlichen Signale nicht treffen, sondern innerhalb derselben
verlaufen. Sofort sieht man folgenden interessanten Vorgang. Das
mittlere Signal sitzt wie angeklebt unter der Brandwunde fest, die
beiden Flügelmänner marschiren munter vorwärts. Allmählich
setzt sich auch die Mitte in Bewegung; erst ungemein langsam,
dann immer schneller und schneller laufend sucht sie die seitlichen
Signale einzuholen, was ihr aber natürlich wegen des bedeutenden
Vorsprungs, dessen sich jene erfreuen, nicht mehr gelingt.
Stellt man die drei Signale einige Millimeter unterhalb der
Brandwunde in gleicher Art wie oben auf, so ereignet sich im
Wesentlichen dasselbe. Nur ist der Vorsprung, den die Flügel-
männer gewinnen, nicht so bedeutend, wie vorhin, da das mittlere
Signal nur wenig langsamer als sie marschirt.
Schliesslich stellen wir die drei Signale 5 — 6 Millimeter
unterhalb der Brandwunde auf. Sie marschiren mit gleicher Ge-
schwindigkeit und rücken in ein und derselben Front vorwärts.
Hieraus ergiebt sich also, dass unterhalb der Brandwunde
die Thätigkeit der Flimmerzellen herabgesetzt ist
und um so mehr herabgesetzt ist, je näher sie der
Brandwunde liegen.
Lässt man eine derartige Haut 24 Stunden und länger in der
feuchten Kammer bei mittlerer Stubentemperatur liegen, so findet
man an ihr immer noch im Wesentlichen dieselben Verhältnisse.
Nur hat sich der träger arbeitende Strich unter der Brandwunde
noch weiter nach abwärts ausgedehnt, so dass die Signale, selbst
fünf und mehr Millimeter unter der Brandwunde aufgesetzt, bin-
2*
— 20 —
nen Kurzem Winkelstellung annehmen, indem das mittlere zurück-
bleibt.
Es fragt sich nun weiter, welche Gestalt hat der unter der
Brandwunde liegende, träger arbeitende Abschnitt? Ist er überall
von gleicher Breite oder spitzt er sich nach unten zu? Mittelst
der Methode der Tuschelinien kann man sich leicht davon über-
zeugen, dass Letzteres der Fall ist. Zieht man nämlich eine
Tuschelinie unmittelbar unterhalb der Brandwunde, so nimmt sie
etwa die Gestalt eines Hutes oder einer Glocke an _n_. Der
mittlere Theil der Linie bleibt bedeutend und ausserdem in einer
Breite zurück, welche etwa gleich ist der Länge der Brandwunde.
Zieht man eine Tuschelinie einige Millimeter unterhalb der Brand-
wunde, so wird die Krempe des Hutes immer breiter, sein Kopf-
theil aber immer niedriger, kleiner und spitzer _rv_. Wird
schliesslich eine Tuschelinie in noch grösserer Entfernung von
der Wunde angelegt, so zeigt sie nur einen mittleren, klei-
nen Vorsprung nach oben -~^'^-, der, je weiter man sich von der
Wunde entfernt, immer niedriger wird und schliesslich ganz ver-
schwindet.
Man übersieht also aus diesen Erscheinungen, die ich selbst-
verständlich aus einer grossen Zahl von Versuchen schemati-
s i r e n d zusammengestellt habe, dass der träger arbeitende Bezirk
1. nach unten immer schmäler wird und 2. immer weniger träge
arbeitet, je weiter er von der Wunde entfernt ist.
Welcher Theil dieses Abschnittes arbeitet nun am allerträg-
sten ? Von vornherein wird man annehmen, dass es der unmittel-
bar unter der Mitte der Brandwunde liegende Theil ist und ex-
perimentell kann man diese Annahme beweisen. Zunächst pflegt
der mittlere, zurückbleibende Theil der Tuschelinie, wie oben
beschrieben, gegen die Brandwunde zu convex zu verlaufen, das
will heissen, die mittleren Partieen bleiben am meisten zurück.
Andererseits kann man sich auch durch Messung der Geschwin-
digkeiten, mit welchen ausreichend kleine Signale fortschreiten
— 21 —
(wie unten mitgetheilt wird), direct davon überzeugen, dass die
unter der Mitte der Brandwunde liegenden Absclinitte träger arbei-
ten, als die unter den Flanken der Wunde gelegenen. Nur darf
man hier nicht drei Signale auf einmal neben einander aufsetzen,
um, wie bei den früheren Versuchen, zu sehen, ob das mittlere
zurückbleibt ; denn dann sind gegenseitige Störungen auf der doch
stets mit schleimiger Flüssigkeit überzogenen Haut nicht zu ver-
meiden. Schleimfäden ziehen sich von einem Signal zum anderen
und verhindern das einzelne, unabhängig von dem anderen zu mar-
schiren. Ueberhaupt muss man, was auch Engelmann betont,
ausserordentlich auf diese dicken Schleimfäden achten, da sie
alle messenden Versuche auf das Unangenehmste stören können,
indem sie sich bald an einer Stelle anheften und dann das Signal
zurückhalten oder mit ihm gemeinschaftlich segelnd, es im Laufe
beschleunigen, wenn sie auf stark arbeitende Abschnitte kommen,
und verlangsamen im entgegengesetzten Falle.
Dass die unter der Mitte der Brandwunde liegende Stelle am
meisten geschädigt ist, geht schliesslich auch daraus hervor, dass
sie zuerst und zwar nach 24 — 18 Stunden vollständig abgestorben
ist. Ein auf sie gestelltes Signal bleibt unbeweglich sitzen, wäh-
rend Signale, unter die Seitentheile der Wunde gesetzt, sich zu
eben dieser Zeit, wenn auch langsam, immer noch vom Flecke
rühren.
Wir haben bis jetzt den Fall angenommen, dass die getödtete
Stelle sich auf der Mittellinie der Schleimhaut befinde. Wie uns
jedoch vielfache Versuche zeigten, wird von den eben geschilder-
ten Gesetzlichkeiten nichts geändert, wenn man die Schädigung
an der linken oder rechten Seite vornimmt. Durch die oben be-
schriebenen Methoden lässt sich immer zeigen, dass oberhalb und
seitlich von der getödteten Stelle keine Aenderung in der Thätig-
keit des Flimmerepithels eingetreten ist, während die unterhalb-
liegenden Stellen mehr oder weniger träge, jedenfalls träger als
vordem arbeiten.
— 22 —
Zwei Punkte will ich jedoch hier noch besonders erwähnen.
Ich sagte oben, dass die geschilderten Aenderungen in der Thätig-
keit nicht immer unmittelbar nach der Schädigung, sondern erst
einige Zeit nach derselben zu beobachten seien, ja dass hin und
wieder dem definitiven Zustand ein entgegengesetzter, der localen
Herabsetzung der Thätigkeit also eine locale Erhöhung derselben
vorausgehe. Das darf uns aber nicht wundern, da wir aus den
Untersuchungen Engelmann's wissen, dass bevor die Flimmer-
zellen durch chemische Reagentien, wie destillirtes Wasser u. s. w.
getödtet werden, sie ebenfalls vorher in ein Stadium erhöhter
Thätigkeit gerathen. Wahrscheinlich findet etwas Aehnliches auch
hier statt, indem die unterhalb der Wunde liegenden Zellen erst
durch ein kurzes Stadium erhöhter Thätigkeit dauernd in den
entgegengesetzten Zustand gerathen.
Dabei zeigt sich zweitens, dass diese Umkehr um so länger
auf sich warten lässt, je kleiner und gerinfügiger einmal die Ver-
letzung ist oder je kräftiger wirkende Abschnitte der Membran
sie getroffen hat. Bringt man demzufolge eine kleine Verletzung
in einem Theile der Haut an, der sich durch besonders wirksame
Thätigkeit hervorthut, so ist es schwer und nur durch äusserst
sorgfältige Messungen möglich, die oben beschriebenen Thatsachen
aufzudecken. Wartet man aber einige Stunden, so pflegt der vor-
dem wirksamere und unter der Wunde befindliche Abschnitt doch
den vorher weniger wirksamen zu unterliegen. Es stellen sich
dann ganz dieselben Verhältnisse her, wie oben unmittelbar oder
wenigstens kurze Zeit nach der Verletzung.
Um dem Leser ein Bild von den geschilderten Vorgängen zu
geben, welches sich in einer gewissen Zierlichkeit dem Experi-
mentator unmittelbar darbietet, will ich ein paar messende Ver-
suche hier mittheilen, die so angestellt wurden, dass ich den
Gang der Signale beobachtete und Herr Sahli die von mir an-
gegebenen Zeiten aufschrieb. Eine absolute Genauigkeit bean-
spruchen diese Versuche nicht; denn einmal muss man die Stel-
— 23 —
lungeu der Signale gegenüber den Theilstrichen der Seala ab-
schätzen und zweitens wird bei einer gewöhnlichen Taschenuhr
mit Secundeuzeiger kaum je genau der Moment aufgefasst und
notirt, in welchem der Ruf ertönt, ganz abgesehen von allen Fein-
heiten anlangend die Reactionszeit und so fort. Indessen die Unter-
schiede sind so gross, dass man mit diesen gewöhnlichen Hilfs-
mitteln vollkommen auskommt und demzufolge meiner Meinung
nach gar keiner feineren bedarf.
Versuch, den 8. September IS 82. Grosse Rana esculenta, ge-
tödtet 2 h 50 m. Membran auf der Rückenhaut des Frosches auf-
gespannt. Ihre Länge beträgt 3,5 ctm. Lufttemperatur in der feuch-
ten Kammer 22" C. Als Signale dienen kleine Quadrate von 1,6 mm.
Seite, die aus der Muscularis des Magens ausgeschnitten sind. Beginn
der Versuche 3 h 25 m.
Die Signale I, II und III werden auf die Rachenschleimhaut auf-
gesetzt, I von III etwa 9 mm. entfernt, sonst wie oben beschrieben
um 3 h 38 m.
Der Einfachheit halber setze ich die Versuchsresultate, deren ich
natürlich nur einige mittheile, nach folgenden Schema hin:
I
12
15
27
soll heissen: Signal I durchläuft die ersten 5 mm. in 12 Secunden,
die zweiten 5 mm. in 15 Secunden, den gesammten Weg also in
27 Secunden.
I
II
III
20
9
7
10
11
12
30 20 19
Um 3 h 43 m dieselbe Versuchsanordnung; es ergiebt sich:
I II III
20 12 11
II 10 10
31 22 21
Die Signale werden einen Centimeter tiefer in Reih und Glied
wie oben aufgestellt um 3 h 45 m; es ist:
24
I
II III
7
7 7
8
8 8
15
15 15
3 h 46 m derselbe Versuch; es ist:
I
II III
7
7 7
12
11 11
Um
19 18 18
Die Signale werden noch einen Centiraeter tiefer aufgestellt um
3 h 47 m; es ist: I II III
Um 3
Im oberen Centimeter bleibt also das linke Signal (I) bedeutend
gegen die beiden anderen zurück, in dem mittleren und unteren Ab-
schnitt der Schleimhaut gehen die drei Signale mit annähernd gleicher
Geschwindigkeit.
Jetzt wird mit einem erwärmten Metallkeil ungefähr einen Cen-
timeter von dem oberen Ende entfernt eine quer verlaufende, 4,2 mm.
lange, lineare Wunde genau in der Mitte der Schleimhaut gesetzt.
Die vorhin angewendeten grossen Signale zeigen nichts Bemerkens-
werthes, sondern marschiren mit ungefähr derselben Geschwindigkeit,
wie früher. Um 3 h 57 m setzt man 3 kleinere quadratische Signale
(Kante = 0,9 mm.) in gleicher Weise unmittelbar unter die Wunde
auf äusserlich durchaus normal aussehendes Epithel ; das mittlere ge-
nau unter die Mitte. Es zeigt sich:
7
15
7
15
7
15
22
22
22
h 48 m derselbe Versuch wiederholt ergiebt
I II III
6 6 6
12 12 14
18
18
20
I
II
III
14
74
18
13
18
20
27
92
38
Unmittelbar darauf, nachdem die Haut abgepinselt war:
I II III
6 117
11 7 11
17 IS 18
25
Um 4 h 4 m ist:
I
II
III
13
50
13
17
22
17
30
72
30
Nach Abpinsehmg:
I
II
III
8
14
10
11
11
9
19
25
19
5 mm. oberhalb der
Wunde
ist
4h
14 m:
I
II
III
27
12
10
11
38
-
9
21
8
18
Dicht unter der Wunde 4 h
16
1 m:
I
II
III
7
26
7
8
15
-
11
37
8
15
Desgleichen um 4 h
17 m:
I
II
III
10
38
10
11
14
7
21
52
17
Die Signale 5 mm. oberhalb der Wunde aufgesetzt um 4 b 20 m
= 4b2lm
Die Signale 10 mm. unterhalb der Wunde aufgesetzt um 4 h 40 m
Die grossen Signale 5 mm. ob ei'halb d. Wunde aufgesetzt um 5 h 15 m 10
Die grossen Signale dicht unterhalb d. Wunde aufgesetztum5hl5m
I
II
III
13
7
7
9
7
7
8
8
8
12
12
12
20
20
20
10
8
8
t 7
28
7
16
15
13
23 43 20
Der Versiicli bedarf wohl kaum einer besonderen Erläuterung.
Ich mache den Leser mir darauf aufmerksam, wie oberhalb der
— 26 —
Brandwunde sich keine Störung zeigt, während dieselbe unmittel-
bar unter derselben am bedeutendsten ist und wie sie im Verlaufe
von etwa einer Viertelstunde so deutlieh ausgeprägt ist, dass man
sie auch durch die grossen Signale, was anfangs nicht möglich,
deutlich nachweisen kann.
Versuch 2, den 10. September. Unterhalb einer 7 mm. lan-
gen, queren linearen Brandwunde werden etwa 3 Stunden nach der
Verwundung drei sehr kleine Signale aufgesetzt. Sie stören sich im
Lauf. Demnach setzt mau ein Signal allein unmittelbar unter die
linke Flanke der Wunde.
Es legt 5 mm. zurück in 22 Secunden. Dasselbe Signal wird
direct unter die Mitte gesetzt; es läuft dieselbe Entfernung in 45 Se-
cunden, unter dem rechten Flügel der Wunde aufgestellt, in IS Se-
cunden.
Weitere Wiederholungen des Versuches ergaben die ohne Weiteres
verständlichen Zahlen 29, 71, 30; 27, 45, 18. Vor der Verwundung
existirte ein derartiger Unterschied natürlich nicht.
Nach dieser Darlegung der Verhältnisse wenden wir uns zu
ihrer Erklärung. Die Sache scheint mir folgeudermassen zu
liegen. Nehmen wir an, dass die einzelnen, überall gleich grossen
Zellen auf der Schleimhaut wie die Felder eines Schachbrettes
angeordnet sind und dass der Schlag der Härchen gerade nach
abwärts erfolgt, so muss man jeder Zelle drei verschiedene Im-
pulse zusehreiben, die sie zur Thätigkeit anregen, beziehungs-
weise in derselben beeinflussen. Der erste und sicherlich kräf-
tigste Impuls liegt in der Zelle selbst; denn bekanntlich bewegen
sich auch die Cilien einer völlig isolirten Zelle häufig mit Leb-
haftigkeit hin und her, so dass sie sich wie ein bewimpertes
Infusorium im Kreise herumdreht. Den zweiten Impuls empfängt
die Zelle von ihrer unmittelbar vor ihr gelegenen Zelle, ihrer
Vorzelle, die mit ihren Cilien auf sie zu schlägt. Den dritten
(oder genauer genommen den dritten und vierten) Impuls erhält
— 27 —
sie von Zellen, die nicht gerade, sondern schräg vor ihr ge-
legen sind, ich nenne sie die „seitlichen Vorzellen." Gar
keinen Impuls jedoch bekommt sie von ihren Neben- und Hinter-
zellen. Nur auf diese Weise erklärt es sich, vrie mir scheint,
dass die unter der Mitte der getödteten Partie liegenden Zellen
(weil ihnen auch die Seitenimpulse fehlen) am ersten, die unter
den Seitentheilen liegenden aber weniger leiden und die geschä-
digte, träger arbeitende Partie selbst nach unten immer schmaler
wird, während die oberhalb und unmittelbar seitlich von ihr lie-
genden Abschnitte gar nicht beeinflusst werden.
Um mit einem Beispiel den Sachverhalt anschaulich zu ma-
chen, denke man sich eine Zahl von Soldaten in Reihen und
Rotten ausgerichtet und im Tritt vorwärts marschirend. Wir
halten uns zunächst an die mittelste Rotte, insonderheit an ihren
Mittelmann. Derselbe geht nur dann im Tritt und überhaupt
energisch vorwärts, wenn ihn sein Hintermann und dessen linker
und rechter Nachbar, also seine seitlichen Hintermänner auf die
Hacken treten. Geschieht dies nicht, so marschirt er schlecht,
hält weder Tritt, noch schreitet er ordentlich aus. Was dagegen
sein linker imd rechter Nebenmann, sowie seine Vordermänner
machen, das irritirt ihn gar nicht. Dieselben können wegge-
schossen werden, er wird, wenn nur seine Hiuterleute ihn vor-
wärts treiben, energisch vorwärts marschiren. Wird aber einer
von diesen oder gar alle drei weggeschossen, dann fehlt für ihn
das treibende Moment oder das Commando und er marschirt
schlecht.
Wir haben uns also vorzustellen, dass die Vorzellen ihre
Hinterzellen fortwährend zur Thätigkeit antreiben und in der-
selben reguliren, dass dagegen eine Hinterzelle auf ihre Vorzelle
ebenso wenig einen Einfluss ausübt, wie eine Nebenzelle auf die
andere.
Man kann sich den physiologischen Zusammenhang der Zellen
auch noch in einer anderen, vielleicht einfacheren und demzufolge
— 28 —
naturgemässeren Weise vorstellen. Nimmt man nämlich an, dass
die Richtungen, in welchen die Härchen schlagen, einander nicht
alle parallel verlaufen, sondern nach unten, sei es mehr, wie die
Strahlen eines Federbartes oder die Rippen eines Fächers con-
vergiren und sich schneiden (wofür ja auch die Thatsache spricht,
dass Signale, die man oben weit von einander aufgestellt hat,
unten angelangt, einander seitlich berühren), so würde immer nur
eine derartige Zellenreihe physiologisch zu einander gehörige
Zellen enthalten. Sie wäre mit einer Nervenfaser vergleichbar,
welche gleich ihr die in derselben sich abspielenden physiolo-
gischen Vorgänge niemals auf eine Nachbarfaser übertrüge. Da
jedoch unsere Zellenreihen nach unten convergiren und mehrere
zu einer einzigen zusammenfliessen, was bei den Nervenfasern ja
bekanntlich nie der Fall ist, so findet factisch doch eine seitliche
Uebertragung von irgend welchen Vorgängen statt, so wie unsere
Versuche es verlangen.
Aus unserer Darstellung könnte vielleicht Jemand den Schluss
ziehen, dass, wenn eine Vorzelle immer ihrer Hinterzelle einen
Impuls ertheilt, die unten nahe dem Magen liegenden Abschnitte
in Folge der Summation der Impulse bei Weitem am ausgiebig-
sten arbeiten und die Signale wie auf einer schiefen Ebene mit
wachsender Geschwindigkeit abwärts schieben müssten. Das ist
nun in Wirklichkeit bekanntlich nicht der Fall. Wir müssen also
noch die fast selbstverständliche Annahme hinzufügen, dass ein
von einer Zelle ausgehender Erregungsvorgang nicht in infinitum
in gleicher Grösse fortbesteht oder gar durch Auslösung von Spann-
kräften immer grösser und grösser wird, sondern indem er von
Zelle zu Zelle sich überträgt, an Intensität verliert. Irgend eine
Vorzelle wird also den in ihr sich abspielenden Erregungsvor-
gang nur auf eine beschränkte Zahl von Hinterzellen übertra-
gen, eine Schädigung der ersten also auch nur eine beschränkte
Zahl von Hinterzellen schädigen, wie unsere Versuche gezeigt
haben.
— 29 —
Hiermit, also mit der Tbatsaclie, dass die Erregung einer
Zelle einen gewissen Widerstand in der Uebertragung dieser Er-
regung auf ihre Hinterzelle findet, steht auch die bekannte Be-
obachtung in Einklang, dass die Cilien hintereinander liegender
Zellen nicht alle isochron schwingen und sich in gleichen Phasen
der Thätigkeit, also in jedem Augenblick in untereinander immer
gleichen Stellungen befinden, sondern dass ein Härchen nach dem
anderen in die gleichen Phasen eintritt, wie die Aehren eines vom
Winde bewegten Kornfeldes. Die hierdurch entstehenden Wellen-
bewegungen sind Jedem bekannt, der einmal thätiges Flimmer-
epithel unter dem Mikroskop beobachtet hat. Unserer Anschauung
würde es nun entsprechen, wenn die hierbei zu beobachtende Welle
von oben nach unten fortschritte , da ja die Hinterzellen von den
Vorderzellen dirigirt werden und nicht umgekehrt diese von jenen.
Der hierin competenteste Beobachter aber, Engelmann •), sagt,
dass die Welle normalerweise, wie es scheint, immer rückwärts,
dem an der Oberfläche hinziehenden Flüssigkeitsstrom entgegen
verläuft. Obwohl ich über diese Angelegenheit noch wenig eigene
Erfahrungen gesammelt habe, möchte ich doch glauben, dass die
Richtung, in welcher sich die Welle fortpflanzt, die entgegen-
gesetzte ist, und den mikroskopischen Bildern an herausgerissenen
Stückchen von Epithel umso weniger Beweiskraft zusprechen, als
man eben nicht in der Lage ist, eine von uns charakterisirte Zellen-
reihe zu isoliren und unter dem Mikroskop zu beobachten.
Zum Schluss noch einige Worte über die Art und Weise,
wie der physiologische Effect, der Nutzeffect, des von uns
untersuchten Flimmerepithels zu Stande kommt. Soviel mir be-
kannt, ist man allgemein der von Engelmann ausgesprochenen
1) Hermann's Handbuch I. S. 389.
— 30 —
Ansicht, dass die Leistung des Epithels in der Fortsöhaffung
kleiner Körper wesentlich durch die verschiedenen Geschwindig-
keiten bedingt werde, mit welchen die Härchen nach vorn und
hinten schlagen, „Denn die Grösse des Unterschieds zwischen
den lebendigen Kräften dieser beiden halben Schwingungen ist es
offenbar, von welcher die Geschwindigkeit der Strömung abhängt."
Dass solch' ein Unterschied in der That besteht und von nicht zu
unterschätzender Bedeutung ist, davon kann sich ja Jeder mit
Leichtigkeit überzeugen, der absterbendes Flimmerepithel unter
dem Mikroskop betrachtet. Wenn man aber auf der anderen
Seite die geradezu enormen Leistungen sieht, welche diese winzig
kleinen Apparate aufbringen können, so muss man sich doch
sagen, dass sie mit ausserordentlich grossem Verluste arbeiten
würden, wenn sie wie Pilger bei gewissen Processionen immer
ein paar Schritte vorwärts und einen Schritt rückwärts zu machen
hätten.
Ich glaube nun, diesen Schritt rückwärts thun sie über-
haupt nicht. Der langsame Rückschwung der Härchen vollzieht
sich, ohne dass hierbei Arbeit nach aussen übertragen wird. Es
fragt sich nur wie? Wenn man sich die Cilien einer Zelle ansieht,
so stehen sie in der Regel da, wie kleine Krallen ; sie stehen nicht
blos schief nach der Richtung des wirksamen Schlages, sondern
sind auch concav nach eben dieser Richtung ausgebogen oder
biegen sich beim Schlage aus; sie gleichen also geradezu den
Sperrzähnen an den Rädern verschiedener Maschinen und sind
auch in ihren Wirkungen jenen vollständig ähnlich. Wenn wir
ein solches Rad um einen kleinen Winkel hin- und herdrehen
und ausserdem noch schneller und kräftiger in der Richtung, in
welcher die Sperrzähne einen auf dasselbe gelegten Körper, etwa
ein Stück Zeug fassen können, so wird selbstverständlich das
Zeug in dieser Richtung vorwärts geschoben; denn die Zähne
fassen das Zeug, wenn sie sich nach vorn bewegen, lassen es
aber, wenn auch nicht ganz und gar frei, wenn sie rückwärts
— 31 —
gehen. Sie würden es absolut gar nicht nach rückwärts ziehen,
wenn sie dasselbe beim Rückgange überhaupt nicht berührten. Dies
geschieht bekanntlich bei den Nähmaschinen der verschiedensten
Systeme. Kleine schiefstehende Zähuchen bewegen sich nach
vorn, indem sie sich zugleich heben und so in das Zeug hinein-
drücken. Beim Rückgange aber lassen sie dasselbe los theils
in Folge ihrer Gestalt, theils weil sie sich senken und ausser Be-
rührung mit dem Zeug kommen. Die hin- und hergehende Be-
wegung jener Zähnchen überträgt also auf das Zeug nur eine Be-
wegung in der einen Richtung.
Da nun in der Natur Alles auf das Vollkommenste einge-
richtet ist, bin ich der Ueberzeugung, dass auch der Schlag der
Flimmerhärchen, wenigstens der von uns untersuchten, überhaupt
nur in einer Richtung wirksam ist. Denn einmal spricht dafür
die krallenförmige Gestalt der Cilien, zweitens die grössere Kraft
und Geschwindigkeit, mit der sie gegen die auf ihnen liegenden
Objecte losschlagen und sich gewissermassen in dieselben ein-
haken. Beim Rückschwung aber lassen sie dieselben los 1. in
Folge ihrer Gestalt, 2. in Folge ihrer langsamen Bewegung und
schliesslich 3., wie ich glaube, weil sie erschlaffen.
Letztere Behauptung bedarf noch einiger Worte. Aus dem
Umstände, dass die von uns untersuchten Flimmerhaare, so lange
sie natürlich nicht aufgequollen oder sonst wie geschädigt sind,
sich concav nach der Richtung ihres wirksamen Schlages ausbiegen,
geht hervor, dass eine ihnen innewohnende Zugkraft sie in diese
Stellung zu bringen sucht. Unterstützt man diese Kraft nur ein
wenig, so wird sich das Haar aller Wahrscheinlichkeit nach in
demselben Sinne noch weiter biegen, also nicht resistent sein.
Sucht man aber das Haar zu strecken, so muss man zunächst
diese Kraft überwinden ; das Haar wird sich also als resistent er-
weisen. Die innere, mechanische Structur des Haares — und
dieselben sind bekanntlich ausserordentlich complicirte Gebilde —
dürfte also meiner Meinung nach etwa einem gekrümmten Finger
— 32 —
zu vergleichen sein, dessen knöcherne Phalangen jedoch wie die
Bausteine eines Bogens nach der concaven Seite, auf der allein
die Sehnen verlaufen sollen, sich verjüngen, der also v^ohl mit
Leichtigkeit noch weiter gekrümmt, aber nicht vollständig gestreckt
werden könnte. Die Krümmung vollzieht sich beim Rückschwung,
die Streifung aber beim Vorschwang des Haares.
Thennisch - toxikolodsclie Untersucliim,2:en
B. Luchsinger.
Physiol. Shidien.
„Das Endziel aller über die Gifte anau-
steilenden Untersuchungen wäre die Ermitte-
lung der Molecularveränderungen, die sie un-
mittelbar und mittelbar in den verschiedenen
Körpergeweben erzeugen, und der Nachweis
der Ursachen, welche dieses Ergebniss herbei-
führen." ')
Mit diesen Worten hatten Sie, liochzuverelirender Herr Jubi-
lar, eine grosse Serie von Untersuchungen begonnen, welche durch
das Studium der Respirationsvorgänge die Wirkungen der Gifte
von neuer Seite beleuchten, einem physikalischen Verstäudniss
näher bringen sollten.
Und zweifellos besitzen wir ja in der Intensität thierischer
Oxydation ein treues Maass für die Intensität thierischen Lebens,
die durch Gifte veränderten Lebenserscheinungen werden sich also
in den dadurch veränderten Oxydationsprocessen genau wieder-
spiegeln müssen.
Durch eine genaue Vergleichung aller normalen und toxi-
schen Oxydatiousi)roducte müsste also jedenfalls ein besserer, weil
quantitativer, Einblick in den Gang der Erscheinungen zu gewin-
nen sein, als wie ein solcher durch die bisher üblichen Methoden
möglich war.
1) G. YalentiS, eudiometrisch-toxikologische Untersuchungen. III. Abth.
Archiv f. experiment. Pathologie u Pharmakologie VI. 78. 1876.
3*
— 36 —
Sie hatten, hochzuverehrender Herr, vorläufig das Verhalten
der Kohlensäurebildung und Sauerstoffzehrung in verschiedensten
Fällen zu bestimmen gesucht, und damit gewiss die wesentlich-
sten Punkte aus dem Gewirr der verwickelten Processe heraus-
gegriffen. Zu einem vollen Bilde der toxischen Veränderung würde
jedoch sicherlich neben der Kenntniss der Sauerstoffzehrung und
Kohlensäurebildung noch die Kenntniss der übrigen Zerfallspro-
ducte, vorab des Harnstoffs gehören.
Durch toxische Eingriffe kann aber ausserdem die thierische
Verbrennung nicht nur quantitative Veränderungen erleiden, viel-
mehr auch schon qualitativ ein ganz anderes Gepräge erhalten.
In der That sind für E i n Gift wenigstens, für den Phosphor, auch
Producte unvollkommener Verbrennung, Milchsäure, Leucin, Ty-
rosin u. s. w., bekannt geworden , es sind das aber lauter Stoffe,
die offenbar auf halbem Wege der normalen Verbrennung zu Koh-
lensäure, Harnstoff u. s. w. stillegestanden.
So könnte denn selbst die genaueste Kenntniss aller normalen
Verbrennungsproducte des Organismus nur einen Näherungswerth
für die gesammte toxische Umsetzung liefern, der erst durch müh-
same qualitative und quantitative Untersuchungen der abnormen
Producte allmählich die richtige Grösse erreichen würde.
Die chemischen Umsetzungen sind aber nur die eine
Seite eines molecularen Processes, denn solchen parallel gehen
stets auch physikalische Veränderungen. Nicht 7iu?' in der
Kenntniss der Verbreiimmysproducte , auch in der Kenntniss der
Verbre7mimgsw(ir?ne haben wir ein Maass für die Intensität des
Verb?'en?mn(jsprocesses.
Und da die Intensität des thierischen Verbrennungsprocesses
identisch ist mit der Intensität des thierischen Lebens, so werden
wir auch in der genauen Bestimmung der unter dem Einflüsse ver-
schiedener Gifte wechselnden Wärmeproduction jenes von Ihnen,
hochzuverehrender Herr, aufgestellte Endziel toxikologischer For-
schung erreichen können.
— 37 —
Erwarten Sie aber nicht, Herr College, dass ich jetzt Ihnen
mehr als von den ersten Schritten in dieses wichtige Gebiet be-
richten kann, fehlten doch bis in die letzten Jahre fast überall
selbst einfache Temperaturbestimmungen vergifteter Thiere.
Soll man sich aber ein wirkliches Bild der thermischen Processe
machen können, so gentigen offenbar solche Bestimmungen durch-
aus nicht. Die oft und immer wieder discutirten Fragen vermehr-
ter oder verminderter Wärmeproduction, vermehrter oder
verminderter Wärmeregulation werden hier alle mit zu be-
rücksichtigen sein.
Auch ich habe bis jetzt leider ebenfalls nur Temperaturbe-
stimmungen zu liefern, und wenn ich auch hoffe durch theoretisches
Raisonnement mit solchen Daten immerhin das richtige Ziel zu
tangiren, so finde ich doch gerade jetzt genaue Bestimmungen der
von normalen und vergifteten Thieren gelieferten Calorien im
höchsten Grade wünsch enswerth.
Aber auch die Molecularveränderungen , welche bestimmte
Gifte erzeugen, werden nicht in jedem Falle dieselben sein; diese
werden in ihren quantitativen Grenzen namentlich erheblich ge-
nug schwanken, je nach dem Zustande, in dem die lebendigen
Moleküle sich gerade befinden.
Arbeit und Ruhe bezeichnen z. B. solche Momente, in dem
Gasgehalt des Blutes und der Gewebe haben Sie selber noch in
den letzten Tagen Ihres experimentellen Wirkens einen weiteren
Factor erkannt ')? und lohnend gewiss wird hier die Untersuchung
jener fundamentalsten Aenderung des molecularen Gleichgewichts
sein, welche allein schon durch Aenderung der intramolecularen
Bewegung die Zersetzung und damit die Lebensenergie der Ge-
webe beschleunigt oder herabdrückt. Das Studium der Gifte an
verschieden gewärmten lebendigen Apparaten hat schon zu wieder-
1) G. Valentin, Archiv f. oxperiment. Pathol. u. Pharmak. XVI. 143 — 147.
1882.
— 38 —
holten Malen mein lebhaftestes Interesse wachgerufen und fühlte
ich mich auch jetzt wieder mit Macht in diese Kreise hingezogen.
Damit zerfällt denn meine Studie in zwei anscheinend wohl
abgegrenzte Theile, in die Lehre von dem Einßusse der Tempe-
i'atvr auf die Wirki/nfjen de?' Gifte und in die Lehre vo7i dem
Einßusse einiger Gifte auf die Würnieprodifction und Wärmei'egu-
lation der Onfanismen.
L
lieber den Eiiifluss der Temperatur auf die Wirkungen
yerscliiedener (xifte.
Zur Geschichte.
Nicht so leicht dürften wir ein anderes Gebiet unserer Wis-
senschaft finden, in dem so wenig historischer Contact zwischen
den einzeln,en Forschern herrschte, wie gerade in diesem. Nur
wenige Autoren haben seit bald einem Jahrhundert sich dieser
Frage zugewandt, und wohl hat vielleicht gerade desshalb jeder
ganz von sich aus seine Beobachtungen neu beginnen müssen,
ohne von seinen Vorgängern irgend welche Kunde erfahren zu
haben. So hatte ja auch ich die erste, von mir zu anderem Zwecke
gesuchte Thatsache vollständig ohne Kenntniss einer früheren ganz
analogen Angabe gefunden, ja in den letzten Tagen erst die älteste
hier einschlagende Versuchsreihe zufällig wieder entdeckt.
Keinem geringeren wie Alexander v. Humboldt ') haben
Avir diese ersten Beobachtungen zu verdanken. Denn schon dieser
Altmeister der Biologie fand, dass die Wärme die Wirkung wirk-
1) A. V. Humboldt, Ueber die gereizte Muskel- u. Nervenfaser. II. 218.
1797.
— 39 —
sanier Stoffe, der „ oxyg'enirten Kochsalzsäure", des Opiums und
Alkohols, nicht minder der geschwefelten Alkalien erhöht. Das
Material aber zu solchen Versuchen boten, wie man gewiss mit
nicht geringem Interesse wahrnehmen wird, schon damals elemen-
tare Organe, Herzen und motorische Nerven.
Erst mehr wie sechs Decennien später treffen wir die näch-
sten Spuren unseres Gegenstandes. Der treffliche Kunde ') hatte
eine Anzahl Frösche mit gleichen Dosen Strychnin vergiftet und
sie dann verschiedenen Temperaturen ausgesetzt; er findet bei
grösseren Dosen stets den Tetanus heftiger in der Wärme als wie
in der Kälte, ja sieht solchen bei 1" oft gänzlich verschwinden.
Aber er findet merkwürdiger Weise daneben noch ein zweites,
ganz anders lautendes Gesetz für kleinste Mengen Str3xhuin.
Denn vergifte man einen Frosch mit so wenig Strychnin, dass
bei normaler Temperatur keine Spur von Tetanus sich zeige, so
breche solcher doch sofort aus, sowie der Frosch in Eis gesetzt
Avtirde, ja bleibe in solchen Umständen dann tagelang bestehen,
vermöge aber Wiedererwärmung den Krampf fast augenblicklich
zu heben. Auf eine Erklärung solch sonderbarer Erscheinung
jedoch verzichtete Kunde in voller Eesignation.
Wiederum fast zehn Jahre später brachte L. Hermann-) die
Nachricht, dass Kaninchen Alkohol in höherer Temperatur besser
vertragen als in gewöhnlicher-'); hat dagegen erst vor Kurzem
noch Kronecker ^) Froschherzen durch Aether in der Kälte viel
weniger leicht lähmen können als in der Wärme.
1) Kunde, Verhandlungen d. physik.-medicin. Gesellschaft in Würzburg
1857. 175; Virchow's Archiv XVIII. 357—360. 1860.
2) L. Hermann, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1867. 64.
3) Nach Hermann's Auffassung würde Alkohol in der Wärme viel leich-
ter durch Verdunstung, von den Lungen namentlich, ausgeschieden. Doch ist
diese Erklärung seit den Versuchen von Binz wohl etwas wankend geworden
(Vgl. BiNz, Archiv f. experiment. Pathol. u. Pharmak. VI. 287—299. 1877).
4) Keonecker, Archiv f. (Anat. u.) Physiol. 1881. 357.
— 40 —
Endlich liegt noch von Bernard') die ganz kurze, nicht
näher motivirte Angabe vor, dass selbst die intensivsten Gifte bei
abgekühlten Fröschen wenig wirken, aber um so wirksamer wer-
den, je höher die Temperatur.
Eigene Versuche.
Schon meine früheren Versuche über die Wirkung verschie-
dener Temperaturen auf die Organe und Gewebe der Kaltblüter
hatten mir gezeigt-), dass die Erregbarkeit von 0" bis zu einer ge-
wissen, für verschiedene Apparate verschiedenen Grenze anwächst,
von da aber ziemlich jäh abnimmt bis zu völligem Scheintod,
und dass dieser Scheintod bei weiterer Fortdauer der schädlichen
Hitze in Tod übergeht.
Diese Wärmelähmung des Scheintodes, die durch höhere Tem-
peraturen bewirkt wird , scheint wohl eine gerade noch reparable
Vorstufe der Wärmestarre, des definitiven Todes zu sein; die
Erhöhung der Erregbarkeit durch massige Erwärmung aber hat
wohl in einer durch die Erhöhung der intramolecularen Wärme
bedingten Steigerung der intramolecularen Bewegung ihren voll-
kommen triftigen Grund.
Mit der Steigerung der intramolecularen Bewegung aber muss
auch die Zersetzlichkeit eines so höchst labilen Atomsystems sich
erhöhen, die Erregbarkeit aber ist nichts Anderes als der physio-
logische, der vitale Ausdruck für die Grösse der Zersetzlichkeit
lebendiger Moleküle.
Damit aber ist denn nun klar, dass reizende Gifte um so
besser wirken, je höher die Temperatur steigt, so lange nur gleich-
zeitig eben auch die Erregbarkeit des Organes sich erhöht; dass
1) Bernard, LcQons sur les anesthetiques et sur l'asphyxie. Paris 1875. 132.
2) Vgl. B. Lüchsinger, Zur allgem. Physiol. der irritabeln Substanzen.
Bonn 1879; aber auch Pflüger's Archiv XVIII. 479. 1878.
— 41 —
aber in der Höhe der Wärmelähmung- auch die Reizwirkung der
Gifte wieder schwinden wird.
Von solchem Gesichtspunkte aus war ich ') denn zum ersten
Male im Herbst 1877 an die Untersuchung unserer Fragen heran-
getreten.
In den heissen Wochen des August hatte ich — entgegen
den herkömmlichen Angaben, aber in vollem Einklang mit un-
serer morphologischen Auffassung des Centralnervensystems und
speciell des Rückenmarks — das Pikrotoxin auch am isolirten
Rtickenmarke der Frösche wirksam gefunden, in den kalten Win-
tertagen aber zu anfänglich nicht geringem Erstaunen oft jegliche
Reizung vermisst. Doch die Erklärung folgte bald.
Werden drei gleiche Frösche mit gleicher Dosis Pikrotoxin
durch Einstich vergiftet und bald hernach in drei Gefässe ver-
schieden gewärmten Wassers (0", 15^, 32") gesetzt, so sieht man
in wenigen Minuten den auf 32 " gewärmten Frosch in mächtige
Krämpfe verfallen, bald darauf folgt der Frosch gewöhnlicher
Temperatur nach; der Eisfrosch aber bleibt noch lange in an-
scheinend vollkommen normalem Befinden, es bricht nur bei sehr
grossen Dosen, und auch dann immer sehr spät hier der Tetanus
hervor. Sollte vielleicht nur eine verschiedene Geschwindigkeit
der Resorption Schuld tragen, der wärmere Frosch eben durch
raschere Circulation auch mehr Gift aufnehmen und nach den
reizbaren Stücken befördern ? Doch wohl nur zu geringem Theile ;
denn bringe ich einen Frosch, dessen Krampfanfall bei irgend
einer höheren Temperatur eben ausgebrochen ist, rasch in Eis, so
verschwinden nach äusserst rasch vorübergehender Steigerung die
Krämpfe vollkommen, und verfällt andererseits der Eisfrosch , der
schon stundenlang das Gift ohne irgend ein bemerkbares Zeichen
in sich birgt, in kürzester Zeit in mächtigste Erregung, wenn er
das krampfbannende Eisbad verlässt.
1) LccHSiNGER, Pflügers Archiv XVI. 532—537. 1878.
— 42 —
Damit war — anfangs allerdings uubewusst — der erste
Theil des KuNDE'sclien Gesetzes auch mit Pikrotoxiu bestätigt,
und es war jetzt leicht, auch am isolirten RUckenmarke der
Winterfrösche die mir sonst nie versagenden Reizerscheinungen
dieses Giftes zu demonstriren , wenn ich nur deren Temperatur
durch Erwärmen zur sommerlichen erhob, ^j
Anders aber ist es mit dem zweiten Theile des Satzes von
Kunde, dass bei kleineren Dosen nämlich gerade erst in der
Kälte der Tetanus ausbreche, auf Eis über 24 Stunden andauern
könne, in blosser Handwärme aber wieder verschwinde.
Bringt man einen Frosch, der bei gewöhnlicher Temperatur
eben erst einen schwachen Krampfanfall bekommen hat, in Eis,
so sieht man zu Beginn den Tetanus zwar kurze Zeit verstärkt,
ja ich kann mir wohl denken, dass selbst ein Frosch, bei dem
minimalste Dosen Pikrotoxin oder Strychnin in gewöhnlicher
Temperatur noch keinen Krampf hervorrufen, kurz nach seinem
Eintritt in das Eisbad einen Anfall bekommt; aber dass solcher
Tetanus 24 Stunden andaure, ist mir durchaus unverständlich.
Denn ich habe im Gegentheil noch jüngst erst wieder gesehen,
wie selbst die allerleisesten Krämpfe in Eis sich in allerkürzester
Zeit beruhigen, um schon bei geringer Temperatursteigerung wie-
der zu erscheinen.
Die anfängliche Steigerung eines Tetanus durch Kälte ist aber
leicht genug aus einer reflectorisch durch den mächtigen Hautreiz
1) Ganz entgegen meinen positiven, an den verschiedensten Thierklassen
erlangten Resultaten über die Erregung des Rückenmarks durch Pikrotoxin
vertritt VuLPiAN (Substances toxiques II. 579. 1882) noch in neuester Zeit die
ältere Lehre, ohne meiner Opposition in seinem weitläufigen Buche auch nur
mit einem Worte zu gedenken. Doch auch anderweitig scheint der franzö-
sische Forscher die Literatur eben nicht gerade sorgfältig zu kennen, über-
sieht er doch auch bei jenen den Strychninkrampf hemmenden Wirkungen
elektrischer Ströme gerade jene allererste Angabe von Kunde aus dem Jahre
1857 (1. c).
— 43 —
der Kälte gesteigerten Erregimg zu verstehen. Diese Erregung
wird aber nur so lange bestehen können, als der Frosch in seinem
Innern noch eine genügend hohe Temperatur besitzt. Sowie aber
auch nur die Innentemperatur hinreichend gesunken ist, sind auch
die Erregungen schwacher Dosen vollständig geschwunden.
Diese Beobachtungen Über den Einfluss der Temperatur auf
die Wirkungen reizender Gifte habe ich erst neulich noch auch au
Wirbellosen bestätigen können. Bernard ') und Kruckenberg -)
hatten geradezu jede Reizwirkung des Strychnins an Blutegeln ge-
leugnet. Auch ich habe solche erst spät im Verein mit meinem
Freunde und Collegen Guillebeau ■^) nachweisen können, nachdem
wir die Thiere erwärmten. Denn dasselbe Thier kann bei gleicher
Dosis bald heftige Krämpfe zeigen, bald vollkommen normal sich
benehmen, je nachdem man es in Wasser von 25^ oder in solches
von 10" gelegt hat.
Nicht anders wie diese central reizenden Gifte verhalten
sich verschiedenen Temperaturen gegenüber jene anderen, wel-
chen periphere Angrifisweise zukommt.
Für das die Enden der Secretionsuerven so mächtig reizende
Pilocarpin habe ich^j schon früher entsprechende Beobachtungen
mitgetheilt. Jetzt seien einige neue und auch aus anderen Grün-
den interessante Versuche über ein die motorischen Nervenenden
stark erregendes Gift in Kürze erwähnt.
Vor wenigen Jahren haben Baümann und Gergens •■>) in dem
Guanidin ein merkwürdiges Agens entdeckt, das beim Frosch,
anfänglich wenigstens ohne andere Störungen, vor Allem die peri-
pheren Nervenenden der quergestreiften Muskeln reizt. Fibrilläre
Zuckungen von wildem, ungeordnetem Charakter durchblitzen die
1) Bernärd, Substances toxiques. 363. 1857.
2) Kruckenberg, Vergleichend physiol. Studien. I. 97. 1879.
3) Guillebeau u. Luchsinger, Pflüger's Archiv. XXVIII. 26—28. 1882.
4) B. Luchsinger. Pflügei's Archiv. XVIII. 480. 1878.
5) Baumann u. Gergens, ebenda. XII. 205—274. 1876.
— 44 —
Muskulatur, wogen unstät in verschiedenen Muskelbündeln hin und
her, bleiben selbst bestehen, wenn die Glieder amputirt werden,
verschwinden aber leicht durch Curare, jenem Agens, das ja beim
Wirbelthier so specifisch lähmend gerade die intramusculären
Nervenenden trifft.
Ich kann die Entdeckung von Baumann und Gekgens nicht
nur für den Frosch vollkommen bestätigen, ich kann sie sogar
am Krebse wiederfinden, eine Beobachtung, die gewiss nur um
so mehr Interesse bieten wird, seit wir eine vollkommene Ver-
schiedenheit der motorischen Nervenenden beider Thierklassen
dem Curare gegenüber kennen gelernt haben. ')
Nehmen wir vier Frösche möglichst gleicher Grösse, injiciren
wir jedem eine minimale, für die Keizwirkung eben hinreichende
Menge kohlensaures Guanidin (0,01); sowie die Wirkung beginnt,
— sie ist zuerst an den Bauchmuskeln sichtbar — bringe man
einen ersten Frosch in Eiswasser, einen zweiten in Wasser von
ca. 25", einen dritten in solches von ca. 32", und lasse endlich
den vierten auf Zimmertemperatur von ca. 18".
Nach kurzer Zeit verschwinden die fibrillären Zuckungen beim
Eisfrosch und kommen erst wieder, wenn das Thier dem kalten
Bade entnommen, sich wieder der Zimmertemperatur nähert.
Der Frosch von Zimmertemperatur hat mittlerweile immer
intensivere Krämpfe bekommen, ist aber gleichwohl noch bedeu-
tend überholt worden von dem nur wenige Grade höher ge-
wärmten; das auf 32" gewärmte Thier endlich zeigt zu anfänglich
grossem Erstaunen keine Spur von Krampf, ist aber auch sonst
vollkommen normal, hüpft und schwimmt munter wie ein gesundes
Thier herum, ja man kann jetzt sogar die fünffache Dosis inji-
ciren, treten dann vielleicht bei 32" auch schwache Krämpfe noch
auf, so ist es doch stets leicht, durch geringe Steigerung der
Temperatur auch diese schwachen Spuren zum Verschwinden zu
1) Vgl. GuiLLEBEAu u. LuCHsiNGER, Pflüger's Archiv. XXYIII. 36—48. 1882.
— 45 —
bringen, ohne dass auch jetzt das Centralnervensystem durch die
Wärme wesentlichen Schaden gelitten, ohne dass Athmimg und
Reflexe an Intensität merklich abgenommen hätten. Lässt mau
jetzt aber das Thier sich auf Zimmertemperatur abkühlen, dauu
brechen die fibrilläreu Zuckungen mit Macht wieder aus.
Das Guanidin setzt also iu massiger Dosis offenbar eine sehr
gute Erregbarkeit der Nervenendplatten voraus. Kälte hemmt
aus solchem Grunde die Krämpfe, aber auch schon eine noch weit
von der Temperatur der Wärmelähmung des Centralmarks ent-
fernte Erwärmung kann offenbar auch die Erregbarkeit der peri-
pheren Apparate merklich genug soweit herabsetzen, dass das
Guanidin selbst iu kräftiger Dosis schon zu einer Zeit nicht mehr
wirken kann, wo Befehle des centralen Nervensystems noch leicht
genug zu den Muskeln geleitet werden.
Diese relative Narkose eines peripheren Organes durch Wärme
ist gewiss im höchsten Grade merkwürdig , sieht man doch sonst,
dass die Wärme zuerst stets die gangliösen Apparate, vor Allem
die am complicirtesten verknüpften des centralen Nervensystems
lähmt, peripherer Nerv und Muskel namentlich noch recht gute
Erregbarkeit besitzen, wenn Reflexe, Athmung und Herzschlag
schon völlig erloschen. ') Deutlich genug geht also auch aus die-
sen Versuchen hervor, dass eben alle Apparate in gleichem Sinne
von der Wärme afficirt werden. Die centralen Functionen er-
löschen nur früher, weil es hier des Zusammenwirkens einer
grossen Reihe verschiedener Elemente bedarf-), in dem Guanidin
aber haben wir jetzt ein feinstes Reagens auch für die Erregbar-
keit der peripheren Apparate gewonnen.
Wenn aber h ö h e r e T e m p e r a t u r im Stande ist, die Erreg-
1) Ich muss hier Bernaed, Chaleur animale. 1876. 380 ff., entschieden
widersprechen, wenn derselbe wesentlich die Muskeln durch Wärme beschä-
digt werden lässt.
2) B. Luchsin GER, Zur allgem. Physiol. d. irritabeln Substanzen. Bonn
1879. S. 20, Luchsinger u. Szpilman, Püüger's Archiv XXIV. 353—356. 1881.
— 46 —
barkeit der peripheren Nervenenden für Giianidin schon zu einer
Zeit zu tilgen, wo das Centralmark noch normal erscheint, dann
müssen auch andere Anaesthetica sicher in gleichem Sinne
wirken. In der That gelingt der Versuch in ähnlicher Weise
auch mit Chloroform oder Aether. Man gebe einem Frosche
ca. 0,01 Guanidin und warte bis die charakteristischen Krämpfe
auftreten. Dann chloroformire oder ätherisire man ihn, und man
wird nun auch hier die Krämpfe schon zu einer Zeit verschwin-
den sehen, wo die Reflexe und auch die Athmung des Thieres
noch ganz gut functioniren.
Hatte man dagegen mit grösseren Dosen Guanidin vergiftet,
so schwindet allerdings die centrale Erregung oft genug vor der
peripheren.
Immerhin geht auch aus diesen Versuchen eine Wirkung der
Anaesthetica auf periphere wie centrale Apparate deutlich genug
hervor; müssen damit aber Versuche ihre Beweiskraft verlieren,
die sich der Anaesthetica als ausschliesslich centrallähmender
Mittel bedienen wollen.
In der That hat Harnack ') nach der Vergiftung mit Blei
eigenthtimliche , ganz ungeordnete, fortwährend abwechselnde
Zuckungen gesehen, deren Beschreibung mich sofort an die
Zuckungen des Guanidins erinnerte. Harnack suchte den Sitz
dieser Reizung zu bestimmen und bediente sich dazu des Chloro-
forms. Die Krämpfe verschwanden in der Narkose und Harnack
schloss desshalb auf centrale Erregung.-)
1) E. Harnack, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmakol. IX. 189 ff. 1878.
2) Harnack hat zwar auch nach Rückenmarkdurchschneidung die Zuckun-
gen verschwinden sehen, aber selbst dies beweist nichts gegen die periphere
Natur derselben, denn sogar nach der Durchschneidung eines motorischen
Nerven können die fibrillären Zuckungen schwächster Guanidinvergiftung er-
löschen und ist gleichwohl ihre wesentliehe Ursache eine periphere, da schon
bei schwächster und gleichmässigster tetanischer Reizung des Nerven eben
nicht kleine Tetani, sondern wiederum diese ungeordneten Zuckungen auf-
treten; vgl. Lüchsinger, Pflüger's Archiv. XXVHI. 80—84. 1882.
— 47 —
Wenn wir selbst grosse Dosen des sicher peripher wirkenden
Guanidins durch Wärme, kleinere, aber immerhin schon recht
wirksame Dosen jedenfalls auch durch Chloroform vor der Läh-
mung des Centraluervensystems unwirksam werden sehen, so wird
solcher Schluss nunmehr bedenklich.
Sehen wir aber weiter diese Zuckungen noch in aller Inten-
sität fortbestehen, wenn schon erhebliche centrale Lähmungen sich
entwickelt haben (vgl. z. B. a. a. 0. S. 205), so spricht dies auch
nicht gerade für den centralen Sitz der Erscheinung; dagegen
finden wir für die periphere Angriifsweise , für eine Reizung der
Nervenenden eine gute Analogie in der Kolik, dem Krämpfe der
Gedärme, und können wir auch die Arthralgie leicht in ähnlicher,
allerdings von der gewöhnlichen abweichenden Weise uns deuten.
Natürlich wird es verlockend , auch die von Merino ^ für
Quecksilber, von Kebler -j für Platin beschriebenen Zuckungen
als periphere Reizungen zu deuten. Doch es fehlen mir überall
noch directe Versuche.
Fassen wir endlich nach solcher Abschweifung unsere Ergeb-
nisse über die Reiz gifte zusammen, so finden wir ein Optimum
der Temperatur, wo Erregbarkeit und Gifteffect die höchsten
Werthe erreichen; von niederer Temperatur ab bis zu dieser
Höhe wachsen Erregbarkeit und Giftwirkung mit anfangs wohl
rasch zunehmender Geschwindigkeit, sinken dann aber beide
ziemlich jäh ab jenseits dieses Gipfels — ein Gang der Er-
scheinungen, der gewiss vollkommen verständlich.
Wie verhalten sich nun die lähmenden Gifte verschiede-
nen Temperaturen gegenüber"? Wenn anders die primär lähmenden
Gifte eine grössere Trägheit in dem Spiel der intramolecularen Be-
wegung hervorrufen, also in gleichem Sinne wie die Kälte wirken,
so liegt die Annahme nahe, dass die Wirkungen beider Agentien
1) V. Mering, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. XIII. 109. 1881.
2) Kebler, ebenda. IX. 139—141. 1878.
— 4S —
sich einfach summiren. Dann aber wäre wohl zu vermuthen, dass
durch Zufuhr äusserer Wärme die durch Gifte bewirkte grössere
Trägheit der lebendigen Moleküle wieder zu überwinden wäre,
dass in höheren Temperaturen diese Gifte also wohl schlechter
wirken würden.
Aber solche Meinung tritt sofort in directen Widerspruch zu
jener alten Angabe von Humboldt, zu jenen neuen Versuchen
von KnoNECKEß, während sie in der Erfahrung von Hermann
wohl eine Stütze finden könnte.
Kronecker hatte Aether mit Blut oder Serum durch Frosch-
herzen geleitet und um so raschere Lähmung beobachtet, je höhere
Temperatur das umgebende Bad gerade besass. Doch liegt der
Einwand nahe, dass dann bei verschiedenen Temperaturen über-
haupt gar nicht gleiche Mengen des Giftes in das Herz eindringen.
Denn bei höherer Temperatur des Bades wird eben sicher mehr
Aether aus dem Blute in das Herz hinein verdampfen als bei
kühlerer, es würde dann aber das Resultat auch schon durch
veränderte Zufuhr des Giftes sehr wohl verständlich.
In den Versuchen von Humboldt aber waren Herzen und
Nerven in reinen Alkohol, in „oxygenirte Kochsalzsäure" einge-
taucht, man hatte es also immerhin mit recht groben chemischen
Eingriffen zu thun.
Doch schon vor der Kenntniss dieser Beobachtungen schritt
ich zu eigenen Versuchen. Gelegentlich einer noch immer nicht
abgeschlossenen Studie über die sogenannten Muskelgifte hatte
ich bemerkt, dass Frösche von sommerlicher Temperatur durch
gleiche Dosen Kupfer, Zink, Kali, Chloral bedeutend früher ge-
lähmt wurden, als wie solche, die zu Beginn des Versuches in Eis
gesetzt waren. Doch hier konnte ja eine Verschiedenheit der Re-
sorption vielleicht Alles erklären, ist doch jedenfalls der Kreislauf
gewärmter Frösche enorm viel rascher als jener der Eisfrösche.
Ich vergiftete also drei gleich grosse Frösche in gewöhn-
licher Temperatur (IS^j mit kleiner Dosis Chloral (0,01), bis
— 49 —
gerade eine geringe Mattigkeit sich walirnehmen Hess, imd brachte
dann erst die Thiere in die verschiedenen Wärmegrade. Zu-
sammen mit einem Normalthier kommt der eine Chloralfrosch in
Wasser von circa 32 o — 35 ^^ der zweite aber in Eiswasser, während
der dritte seine gerade bestehende Temperatm- behält. Dieser
letztere zeigt nun nur geringe Veränderungen, jedenfalls nur lang-
sam fortschreitende Vergiftung. Dagegen wird der gewärmte Chlo-
ralfrosch sehr rasch gelähmt und verliert derselbe schon zu einer
Zeit alle Reflexe, wo der nicht vergiftete Controlfrosch von dem
warmen Bade noch kaum zu leiden scheint; nimmt man aber das
durch die Wärme so bald gelähmte Thier jetzt nur bei Zeiten
aus dem gefährlichen Bade, so tritt immerhin wieder erhebliche
Erholung ein.
Jedoch auch der chloralisirte Eisfrosch hat alle Reflexe ver-
loren und bekommt sie wieder bei normaler Temperatur; es bringt
ein Eisbad für sich bei normalen Thieren aber lange nicht solche
Reduction der centralen Functionen hervor.
In gleicher Weise gelingen die Versuche mit anderen läh-
menden Agentien, mit Kali, Kupfer, Zink, Mangan u. s. w.
Unserer Voraussetzung vollkommen entsprechend summiren
sich also die lähmenden Wirkungen der Gifte und der niederen
Temperaturen, und kann also jedenfalls die Meinung von Hum-
boldt, Bernard, Kronecker, welche die lähmenden Gifte ein-
fach um so schwächer wirken lässt, je niedriger die Temperatur,
durchaus nicht das Ganze der Erscheinungen umfassen, dagegen
ist unsere anfängliche Voraussetzung unhaltbar für die höheren
Temperaturen, denn hier tritt allerdings jene andere Ansicht in
ihr Recht, indem in der That all diese Gifte auch auf gewärmte
Thiere ebenfalls viel besser wirken als auf normale, oder in
anderer Fassung, vergiftete Thiere eben enorm viel früher der
Wärmelähmung verfallen wie gesunde.
Die Geschwindigkeit der Diffusion ist eine gleichlaufende
Function der Temperatur, ja ist die beständige Bewegung der
Physiol. Studien. 4
— 50 —
Moleküle, die eben deren Temperatur repräsentirt, vielleicht der
einzige Motor dieses Processes. Tritt also etwa vermöge der
höheren Temperatur das Gift nur viel rascher in die gewärmten
Gewebe einV Dann wäre aber die Erholung der Thiere durch
Abkühlung nicht wohl verständlich. Dagegen hellt sich die Sache
wohl auf, wenn wir auch die schädigenden Wirkungen der be-
ginnenden Wärmelähmung mit jenen anderen der Gifte sich sum-
miren lassen. Die Moleküle des lebendigen Protoplasmas zer-
setzen sich bei normaler Temperatur immerfort, regeneriren sich
aber auch ebenso rasch wieder; mit zunehmender Temperatur
aber wird die Dissociation immer rascher vor sich gehen, so dass
schliesslich die Regeneration nicht mehr nachkommen kann, und
damit endlich eine Lähmung — Wärmelähmung — eintritt. Wie
nun, wenn die Reihe unserer bisher betrachteten lähmenden Agen-
tien ganz vorzüglich diese Rückbildung der lebenden Moleküle
hemmen sollte ? Damit wenigstens müssten diese Gifte einen ähn-
lichen Effect hervorbringen wie zu hohe Temperaturen, in ihren
Wirkungen also mit jenen sich summiren.
Gleiche Erfahrungen liefern die Warmblüter.
In Versuchen, die ich zusammen mit Herrn Stud. med. Marti
angestellt habe '), hatten wir mit Kupfer oder Kali allmählich 2)
vergiftete Kaninchen theils zugleich mit normalen im Wärmkasten
erwärmt, theils gewöhnlicher Zimmertemperatur überlassen.
War die Temperatur des Ofens massig (28*^ — 300), so über-
lebten die gewärmten Thiere die anderen stets noch einige Zeit^
war aber die Temperatur des Ofens erheblich höher (35 0 — 37")^
1) Herr Marti wird darüber in seiner Dissertation nächstens ausführ-
licher berichten.
2) In allen Versuchen wurden grössere einmalige Dosen vermieden, weil
hier leicht Herztod eintritt. Vielmehr wurden in bestimmten Zeiträumen kleine
Dosen injicirt, die Versuche werden so freilich auf viel längere Zeit ausge-
dehnt, aber man hat auch nur so die Möglichkeit, das Gift wirklich in alle
Gewebe gleichmässig eintreten zu lassen.
— 51 —
so starben umgekehrt die vergifteten Thiere in der Wärme wesent-
lich früher als die kühler gehaltenen, ja es kamen sogar auch Fälle
vor, in denen die gewärmten Giftthiere starben, die Thiere von
normaler Temperatur aber trotz gleicher Giftmenge am Leben
blieben.
War etwa die Wärme für sich Ursache des Todes? Die ge-
wärmten Giftthiere starben mit Rectaltemperaturen von 4P— 41,8*^,
während normale Kaninchen bekanntlich tagelang eine Körper-
temperatur von 420 ertragen, und wie fremde und eigene Ver-
suche zeigen (s. u. S. 62), erst bei circa 44'* sterben.
Also auch hier ist die Todestemperatur durch das Gift herab-
gesetzt, oder es wirkt mit anderen Worten das Gift viel intensiver
bei höherer Temperatur. Aber andererseits kann sich auch die
schädliche Wirkung sehr niedriger Temperaturen mit jener des
Giftes Summiren.
Alle diese Gifte setzen die Temperatur des Körpers erheblich
herab, dies wird aber für sich wieder ein neues schädigendes Agens
sein, und es wird nun begreiflich, warum Thiere in massig ge-
wärmter Umgebung weniger rasch sterben als in einfacher Zimmer-
luft. Die geringe Erwärmung compensirt die schädliche Abküh-
lung, die zu starke Erwärmung erst setzt ihrerseits wieder ein
anderes schädigendes Moment.
Die lebensrettende Wirkung geringer Erwärmung alkoholi-
sirter Thiere, die schon vor längerer Zeit Hermann gefunden,
dürfte sich auch aus solchem Gesichtspunkte erklären, sehr wichtig
aber würde jetzt erst recht eine Wiederholung dieser Versuche
in höheren Temperaturen. Herr Marti wird demnächst auch
diese Lücke ergänzen.
Schliesslich ist eine Complication nicht zu verschweigen, die
wenigstens den bisherigen Versuchen am Warmblüter anhaftet, die
aber die schädliche Wirkung höherer Temperaturen begünstigen
dürfte.
Die Gifte wurden subcutan injicirt, von der hyperämischen
4*
— 52 —
Haut des gewärmten Tliieres wird aber wohl das Gift rascher
resorbirt werden können.^)
Aber jedenfalls spielt die verschiedene Resorptionsgeschwin-
digkeit nicht die wesentlichste Rolle. Die Versuche am Frosch
beweisen dies und gestatten auch durch raschen Wechsel der
Temperatur des gleichen Thieres die Wirkung der bei verschie-
denen Temperaturen verschiedenen Resorption zu eliminiren, be-
sonders schön aber beweisen die reine Wirkung verschiedener
Temperaturen Versuche an elementaren Apparaten, die
einfach in die Giftlösung versenkt oder von solcher durchspült
werden.
So habe ich flimmernde Rachenhäute des Frosches in kleine
Stücke zerschnitten, in passend verdünnte Giftlösungen (Chloral
20/oü, kohlensaures Kali l^o, weinsaures Kupferoxyd-Natron O^ö^ü)
verschiedener Temperatur (Qo, S«, 18", 25**, 30"^) gebracht und damit
die Wirkungen von einfachem Salzwasser höherer Temperaturen
(340, 3^0) verglichen. Je höher nun die Temperatur der Giftlö-
sung war, um so fi-üher trat Lähmung ein, während bedeutend
höhere Temperaturen an sich selbst nach Stunden keinen merk-
lichen Schaden bewirkten.
Wurde endlich nur bei Zeiten ein in höherer Temperatur ge-
lähmtes Stück — in gleicher Giftlösung natürlich 2) — abgekühlt,
so begann das reizende Spiel oft genug wieder von Neuem. An-
ders als beim Centralnervensystem habe ich bei den Flimmer-
1) QüiNKE (Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. XV. 5. 1882), hatte bei
Murmelthieren durch Chloral Winterschlaf einleiten wollen, dasselbe aber ge-
rade bei diesen Thiereu sehr wenig wirksam gefunden. Sollte es sich hier
nicht um äusserst langsame Kesorption der subcutanen Inj ection handeln? Der
Blutgehalt der Haut war gewiss schon w^en der zum Versuche mitwirkenden
niedrigen Temperatur recht gering.
2) Merkwürdig ist die auffallend rasche Erholung in Bädern von ge-
wöhnlicher Kochsalzlösung. Diese Gifte scheinen eben nicht tiefe Verände-
rungen einzuleiten.
— 53 —
Zellen nie eine Summation von Giftwirkimg und niedriger Tempe-
ratur gesehen. Es wird dies eben mit der auch in Eiseskälte
noch recht grossen Lebensenergie der Flimmerzellen zusammen-
hängen.
Dagegen sah ich — im Gegensatz zu Kronecker — am
Froschherzen solche Erscheinungen.
Verschiedene, mit Salzwasser entsprechend verdünnte Gift-
lösungen (Chloral 0,l"/o, Kupfer 0,2 0,0, kohlensaures Kali 0,05 0,0)
wurden unter bestimmtem Drucke (5 — 10 cm. Wasser) durch
Froschherzen durchgeleitet und hingen die Herzen in Bädern von
variabler Temperatur.
Haben wir ein Herz auf ca. 25** erwärmt, und durch einen
gegebenen, continuirlichen Giftstrom die Kammer wenigstens zum
Stillstand gebracht, so beginnt dieselbe gleichwohl wieder kräftig
zu schlagen, wenn nur die Temperatur des Bades auf etwa 15^
herabgesetzt wird ; hatten wir dagegen längere Zeit das Herz auf
circa 5** gehalten, und ist jetzt Stillstand eingetreten, so ist es
(trotz Fortdauer des Giftstromes) sehr wohl möglich, durch massiges
Erwärmen (ca. 15'*} das Herz Aviederum zum Schlagen zu bringen.
Diese Versuche waren an Sommerfröschen angestellt, es wäre
wohl möglich, dass Winterfrösche sich etwas anders verhielten,
dass wenigstens das Temperaturoptimum verschiedener Jahreszei-
ten verschieden eingestellt wäre, und könnte dies vielleicht die
Abweichungen unserer Versuche von jenen Kroneciver's erklären.
54
II.
Von der Wirkimg einiger Grifte auf Wärmeproduction und
Wärmeregulation.
An einer Reihe von Kaninchen, Meerschweinchen,
Hunden und Katzen habe ich bemerkt, dass die Temperatur
continuirlich sinkt, wenn die Thiere mit den verschiedensten Me-
tallsalzen, mit Kali, Kupfer, Zink, Mangan'), Wolfram 0,
Thallium'-), Quecksilber -j, Platin"-), vergiftet sind.
So oft nun auch schon mit manchen dieser Salze Versuche
angestellt worden sind, sind doch gleichwohl diese Angaben
vollständig neu, denn es wurden eben bisher die Temperaturver-
hältnisse in den meisten toxikologischen Untersuchungen völlig
ignorirt.
Woher kommt dies Sinken der Temperatur? Ist Mangel an
Wärmeproduction , ist Uebermaass an Wärmeabgabe Schuld an
der Erscheinung?
Wenn wir aus eigenen und fremden Beobachtungen wissen,
dass durch alle diese Gifte die Erregbarkeit der verschiedensten
Apparate, vorab des Centralnervensystems und der Muskeln ge-
waltig sinkt, so dass das Thier schliesslich daran zu Grunde geht,
so werden wir darin denn auch genügenden Grund für die An-
nahme einer schon frühzeitigen Abnahme der Wärmebildung er-
blicken.
Leider fehlen uns bislang calorimetrische Messungen. Sehen wir
uns also um in entsprechenden Stoffwechseluntersuchungen. Für
einen unserer Stoffe, für das Platin, scheint in der That auf den
ersten Blick schon das Gesuchte gefunden zu sein. Denn es zeigte
sich in einer Untersuchung des Strassburger pharmakologischen In-
1) Zusammen mit Herrn Marti beobachtet.
2) Zusammen mit Herrn Hess beobachtet.
— 55 —
stituts ') schon wenige Stunden nach einer Vergiftung mit einigen
Centigramm Phitiu die CO2 des arteriellen Blutes auf ein Drittel
des Normalen reducirt. Aber erstaunt lesen wir dann weiter : „ zur
Erklärung der hochgradigen Verminderung der CO2 im Blute wird
man zunächst an eine theilweise Neutralisation der Blutalkalien
zu denken haben, ähnlich wie sie bei Vergiftung mit Mineralsäuren
zu Stande kommt." Und in einer folgenden Arbeit desselben
Instituts-) finden wir eine Stelle, „da . . auch eine unter dem Ein-
ßuss jener Gifte eintretende Veränderung der COi-Production, so-
fern man eine solche überhaupt annehmen mag, nicht
im Stande sein kann, die Menge der eiiimal im Blute vorhandenen
Alkalicarhonate zum Schwinden zu bringen", so kann es sich hier,
wie in der erwähnten Arbeit bereits hervorgehoben, nur um eine
theilweise Neutralisation der Blutalkalien, um eine pathologische
Säurebildung handeln.'-) Bei solcher Deutung der Strassburger
Resultate durch ihre eigenen Autoren schien es angezeigt, in neuen
Versuchen direct die ausgeschiedene CO2 zu bestimmen.
Sollte es sich dabei Avirklich um eine „ toxische Säurebildung "
handeln, und sollte die Abnahme der CO2 -Bildung wirklich so ge-
ringfügig sein, so hätten wir dann nach der Vergiftung sogar ein
Plus an ausgeschiedener CO2 zu erwarten, indem sich zu der
normal gelieferten Grösse noch jene durch die neue Säure aus
Blut und Geweben verdrängte hinzu addiren mtisste.
So veranlasste ich erst neulich noch Herrn Hess zu Bestim-
mungen der CO2 - Ausscheidung vor und während der Vergiftung.
Versuchsthiere waren kleine Kaninchen; dieselben befanden sich
ca. IV2 Stunde in einem dicht geschlossenen Raum 3)^ und be-
sorgte eine Wasserluftpumpe die Ventilation in vollkommenster
Weise.
1) H. Meyer u. F. Williams, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. XIII.
80-84. 1881.
2) H. Meyer, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. XIV. 333. 1881.
3) Arm eines Plethysmographen.
— 56 —
Die zutretende Luft wurde durch Natronlauge gereinigt, ihre
Keinigung durch zwischengeschaltetes Barytwasser bezeugt.
Die abtretende Luft gab vorerst an Schwefelsäure ihr Wasser,
dann an eine Reihe mit Kalilauge gefüllter LiEBiö'scher Röhren
ihre Kohlensäure ab , ein zum Schluss wieder eingeführtes Gefäss
mit Barytwasser hatte Garantie für vollständige Absorption der
Kohlensäure zu geben.
Wurden nun zu Beginn und Ende des Versuches die Kali-
gefässe gewogen, so musste die Differenz der während dieser
Zeit vom Thiere abgegebenen Menge CO2 nahe entsprechen. Nur
eine wohl jedenfalls sehr kleine Menge CO2 dürfte der Berech-
nung entgehen, jene Menge nämlich, welche am Schlüsse des
Versuches sich noch in dem Plethysmograph enarm befindet. Bei
gleichem Gange der Ventilation wird dieser Rest jedenfalls der
absorbirten Menge proportional sein.
Es seien jetzt kurz zwei Versuche mitgetheilt:
Versuch 1.
Das Kaninchen besass Anfangs eine Temperatur von 39,6", im
Apparat war es abgekühlt auf 38", erwärmte sich dann rasch spon-
tan auf 390, wurde vergiftet mit 0,01 grm. weinsaurem Kupferoxyd-
natron. Die Temperatur sank nun in 1 V-2 Stunde Versuchszeit auf 36,8",
dann wurde das Thier im Warmofen auf 39" gewärmt, nochmals 0,01
grm. Kupfer injicirt. Respiration wiederum untersucht; am Schlüsse
stand die Rectaltemperatur auf 33,8".
Anfangsgewicht der Kalikugeln 128,925
Nach 1^/2 Stunden Respiration des Normalthieres . . . 129,821
Vom Normalthier in 1 1/2 Stunden CO-2 gebildet .... 0,896
Nach 1 V2 Stunden Respiration des vergifteten Thieres Ge-
wicht der Kahkugeln 130,273
Vom vergifteten Thier in II/2 Stunden also CO2 geliefert. 0,452
Nach weiteren 1 V2 Stunden Gewicht der Kalikugeln . . 130,540
Also vom stärker vergifteten Thier CO2 in 1 '/2 Stunden geliefert 0,267
— 57 —
Also selbst von einem schwach vergifteten Ihier wird schon
kurz nach der Vergiftung kaum die Hälfte der normal gebildeten
COi geliefert, und sinkt im weiteren Verlauf diese Menge selbst
unter 30 ^/o herab.
In dem eben mitgetheilteu Versuche sank die Temperatur
zwar schon normal, noch wesentlich mehr unter der Kupfer-
wirkung. Das Sinken der Temperatur dürfte allein schon ein
Sinken der Kohlensäureproduction involviren. Wir haben desshalb
in anderen Versuchen die Thiere gewärmt, indem wir den Ple-
thysmograph enarm in "Wasser von 40 — 45^ versenkten. Zeigte
nun das normale Thier 40,5^ — 41 o am Schlüsse eines Versuches,
so nahmen wir nach der Vergiftung das Wasser des Bades stets
noch wärmer, nicht nur um die raschere Abkühlung zu hindern,
sondern um absichtlich das Thier noch stärker zu erwärmen wie
zuvor. Ist ja gerade durch die schönen Untersuchungen von
Pflüger zur Evidenz dargethan, dass die thierische Oxydation
mit Steigerung der Temperatur sogar rasch ansteigt, und konnte
also eine höhere Temperatur des vergifteten Thieres jetzt höchstens
die Wirkungen des Giftes verkleinern.
Versuch 2.
Kaninchen. Anfangstemperatur 39,60, verweilt im gewärmten
Apparate 1 Stunde und zeigt eine Endtemperatur von 41*', eine CO2-
Bildung von 0,683.
Es wird dann mit 0,02 Cu vergiftet, im stärker gewärmten Rohr
■wieder zur Messung der Respiration verwendet. Es zeigt am Schlüsse,
nach einer Stunde, eine Temperatur von 42,2 0 und hatte CO2 ge-
liefert 0,573.
Also trotz der höheren TeiJiperutur seiner Gewebe hat ein
Kaninchen unter dem Einßuss von Kupfer mehr wie 15 "/o weniger
CO-i geliefert wie normal.
Für das Kupfer ist damit also jedenfalls doch eine erhebliche
Herabsetzung der C02-Bildnng dargethan; für die anderen Stoffe
der Reihe soll die Untersuchung fortgesetzt werden. Eingedenk
— 58 —
der Mahnungen von Pflüger und seiner Schule sollen dann aber
auch Bestimmungen des O2 -Verbrauchs als nothwendige Ergänzung
hinzutreten.
Was in aller Welt aber war denn jener Grund, der die an
sich so einfache Deutung der Strassburger Resultate verbot und
damit zu jener Hypothese einer toxischen Säurebildung führte?
Es war stets die Gesammtmenge der Kohlensäure des arteri-
ellen Blutes bestimmt worden, diese schien zum allergrössten Theil
in Form von Alkalicarbonaten enthalten zu sein '), und nun wurde
es unbegreiflich, wie eine Verminderung der COi-Production im
Stande sein könne, die einmal im Blute vorhandenen Alkalicarbo-
nate zum Schwinden zu bringen.'-)
Nun wissen wir aber gerade, dass die Menge der Alkali-
carbonate im Blute allerdings wechselt mit der Menge der Kohlen-
säure. Die Kohlensäwe des Blutes hat sich eben mit dem Hämo-
globin desselben in das vorhandene Alkali zu theilen.
Pflüger ^) hat mit Blut nicht nur sämmtliches Alkalicarbonat
desselben, ja selbst noch ausserdem zugesetzte Soda zerlegen
können, und anderseits Zuntz*) nachgewiesen, dass bei der Ein-
wirkung von Kohlensäure auf Blut grosse Mengen von Alkali aus
den Blutkörperchen in das Serum übertreten. Und in schönster
Weise stimmen damit andere Erfahrungen. Wenn man Blut mit
CO2 sättigt und dann die Scheidung desselben in Serum und
Cruor vornimmt, so enthält das erstere stets mehr CO2 als der
Cruor^), aber es bindet Cruor mehr CO2 als Serum, wenn man
beide Substanzen isolirt mit dem Gase behandelt. '') Ist eben
1) Vgl. auch Walther, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. VII. 161. 1877.
2) H. Meyer, Archiv f. exper. Pathol. u. Pharmak. XIV. 333. 1881.
3) Pflüger, Die Kohlensäure des Blutes. Bonn 1864. S. 11.
4) ZüNTz, Hermann's Handb. d. Physiol. IV. 2, 72. 1882.
5) Alexander Schmidt, Leipziger Berichte. 1867.
6) Mathieu & Urbain, Compt. rend. LXXXIV. 23. Züntz, Med. Cbl.
1867. 529.
— 59 —
viel CO-i zi/gegen, so wird sie dem Hämoglobin Alkali e?itzieke?i,
es wird sich entsprechend um so mehr Alkalicarbonat bilden; ist
aber wenig COi zugegen, so wird jetzt eben ivohl umgekehy^t das
Hämoglobifi seinerseits sich Alkali zurücknehmen und durch Bil-
dung von Alkalihämoglobinat geradezu CO-i-austreibend wirken. In
solchem Sinne bedeuten denn auch die Strassburger Resultate
wohl einfach genug eine starke Herabsetzung der Kohlensäure-
bildung durch unsere Gifte, und wird jedenfalls die Hypothese
einer toxischen Säurebildung für die meisten dieser Agentien voll-
kommen überflüssig; es erscheint aber jetzt auch jener Versuch
vollends verfehlt, die aus dem Blute auspumpbare CO2 als directen
Maassstab für die Alkalescenz des Blutes verwerthen zu wollen. ^ )
Für neue Versuche aber erwächst die Aufgabe, den normalen
und toxischen Alkaligehalt von Cruor und Serum zu vergleichen,
und werden solche Versuche dann directe Schlüsse auf Verände-
rungen der Kohlensäurebildung gestatten.
Aber nicht nur die Wärmepro duction scheint unter dem
Einfluss dieser Agentien erheblich vermindert zu sein, auch die
"Wärmeregulation ist in hohem Grade gestört. Anstatt vieler
theile ich auch hier nur einen Versuch von Herrn Marti als Bei-
spiel mit.
Versuch.
Drei möglichst gleiche Kaninchen gleichen Wurfes wurden aus-
gewählt.
Zwei sollten zu den Versuchen des ersten Abschnittes mit glei-
chen Kupfermengen vergiftet, das eine aber in Zimmertemperatur, das
andere im Wärmeraum gehalten werden. Dem gewärmten Thier war
zu aller Vorsicht noch ein normaler Genosse beigegeben, in der Ab-
sicht, die allfällig schädlichen Wirkungen der höheren Temperatur zu
controUren. Die Temperatur des Ofens war Anfangs ca. 32^, später
1) Meyer, Archiv f. exper. Pathol. und Pharmak. XIV. 333. 1881.
— 60 —
wurde sie auf 36 — 37 o erhöht. Das Kupfer wurde stündlich zu 0,01
als weinsaures Kupferoxyd-Natron injicirt.
Die Tabelle enthält die Rectaltemperaturen der 3 Kaninchen,
sowie die Temperatur des Wärmeraums.
Zeit
Ku. Kaninchen
bei Zimmer-
temperatur
Ku. Kaninchen
bei
Ofen wärme
Normalthier
Ofen
Ofentemperatur
1
39,8
39,8
39,8
320
1. 30
39,2
39,6
40,8
310
2
38,6
39,2
40,8
320
2. 20
38,4
40,3
41,0
370
3
37,8
41,0
41,0
370
3. 30
37,0
41,8
41,2
370
Unsere Tabelle zeigt vorerst das zu Beginn schon behauptete
Sinken der Temperatur in der Kupfervergiftung.
Bei niederer Ofentemperatur ist weiterhin diese temperaturherab-
setzende Wirkung des Kupfers immer noch deutlich, bei höherer Ofen-
temperatur aber beginnt die Temperatur des Kupferthieres rascher
zu steigen, und erhebt sich schliesslich um V20 über die des Control-
thieres. Zu dieser Zeit starb es.
Also obschon siehe?" die W(irmepro(hictio7i in de?" Kupferver-
(jiftung erheblich gesunken, hat sich doch das Ki/pferthier in der
höheren Ofentemperatur stärker erwärmt als das normale.
So war denn die Zugabe eines Controlthieres für unsere
eigentlichen Zwecke wohl illusorisch geworden, aber es war
damit eine merkwürdige Störung der Wärmeregulation entdeckt.
Ein wesentliches Mittel, sich gegen übermässige Erwärmung
zu schützen, liegt in der Hautcirculation. Je reger dieselbe ist,
umso leichter wird der Gefahr zu trotzen sein. Stark erweiterte
Blutgefässe und hoher Blutdruck sind die wesentlichen Momente,
dies zu erreichen. Nun ist aber bei allen Giften unserer Reihe
der Blutdruck ein auffallend niedriger.
— 61 —
Für Platin, Quecksilber, Eisen, Antimon hat dies schon das
Strassburger Laboratorium gezeigt, für Kali, Kupfer, Zink, Mau-
gan und Thallium konnte ich dasselbe im hiesigen Laboratorium
zusammen mit den Herren Marti und Hess stets bestätigen. Ich
kann mir nun wohl denken , dass bei niedriger Aussentemperatur
selbst eine träge Hautcirculation noch so viel Wärme ausströmen
lässt, dass das Thier sich abkühlt, dass dagegen bei geringen Tem-
peraturdifferenzen zwischen Thier und Umgebung dieser Wärme-
verlust so gering werden kann, dass trotz geringerer Wärme-
production eine Wärmestauung eintreten muss.
Thiere, deren Halsmark durchschnitten, bieten hier gute Ana-
logie. Denn auch hier ist der Blutdruck enorm gesunken, gleich-
zeitig aber auch gewiss die Wärmeproduction gewaltig reducirt.
Denn Pflüger fand wenigstens Sauerstoffverbrauch und Kohlen-
säurebildung äusserst herabgesetzt.
Für gewöhnliche Aussentemperatur mag nun selbst trotz des
niedrigen Blutdruckes, Dank der Erweiterung der paralysirten
Hautgefässe, durch die Haut noch ebensoviel, ja noch mehr Blut
fliessen wie normal, und mag dementsprechend die Wärmeabgabe
sogar vermehrt sein.
Steigt aber die Aussentemperatur erheblich an, nähert sie
sich jener des Thieres, so ändern sich die Verhältnisse. Denn
das paraplegische Thier kann seine Hautcirculation nicht weiter
verändern, es wird dagegen das normale nun durch eine Reizung
gefässerweiternder Nerven die Schleusen eines gewaltigen Haut-
stromes öffnen und unter einem gleichzeitig kräftigen Blutdruck
enorm viel mehr Blut in der Haut circuliren lassen, wie das ge-
lähmte.
Bei geringem Temperaturunterschied von Thier und Umge-
bung wird also das gesunde Thier jetzt umgekehrt doch viel
mehr Wärme abgeben können als das gelähmte, ja schliesslich
wird das gelähmte trotz viel geringerer Wärmeproduction doch viel
mehr sich erhitzen müssen wie das normale.
— 62 —
Zur Ilhistvation diene folgender Versuch.
Einem Kaninchen ist das Rückenmark am ersten Brustwirbel
durchschnitten, nach der Operation ist die Temperatur auf 36^ ge-
sunken ; es wird mit einem genau gleichen Normalthier in den Wärme-
raum gebracht, die Temperatur dieses letzteren zeigt 39,4 ö.
Temperatur
Temperatur
Temperatur
Zeit
des
des normalen
des gelähmten
Ofens
Thieres
Thieres
9
—
39,4
36
9. 20
38
39,6
36,6
9. 45
38
39,8
37,6
10. 15
38
40,2
38,4
10. 45
39
40,6
40,2
11
39
40,4
40,8
11. 20
38
40,8
40,8
11. 40
38
40,6
41,2
12
38
40,6
41,0
12. 30
39
40,8
41,8
1
40
40,8
42,2
2
39
40,2
44,0
Kurz nach der letzten Messung starb das Thier, dessen Rücken-
mark durchschnitten, unter dieser colossalen, das normale Thier um
40 übertreffenden Temperatursteigerung.
In Störungen der Wärmeregulation wird also wohl das Ver-
ständniss zu finden sein für jene so viel discutirten Erscheinun-
gen starker Temperatursteigerungen, die gelegentlich nach einer
Rückenmarkdurchschneidung auftreten, wird damit aber die daraus
erschlossene Annahme besonderer calorischer Hemmungs- und Er-
regungscentren einstweilen überflüssig.
Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
MEDICINISCHER VERLAG VON F. C.W.VOGEL IN LEIPZIG.
HANDBUCH
DER
PHYSIOLOGIE
bearbeitet von
Prof. H. AÜBERT in Rostock, Prof. E. DRECHSEL in Leipzig, Prof. C. ECKHARD in Giessen, Prof.
TH. W. ENGELMANN in Utrecht, Prof. S. EXNER in Wien, Prof. A. FICK in Würzburg, Prof. 0. FUNKE
in Freibnrg, Prof. P. GRÜTZNER in Bern, Prof. R. HEIDENHAIN in Breslau, Prof. V. HENSEN in
Kiel, Prof. E. HERING in Prag, Prof. L. HERMANN in Zürich, Prof. W. KÜHNE in Heidelberg, Prof.
B. LUCHSINGER in Bern, Prof. R. MALY in Graz, Prof. S. MATER in Prag, Prof. 0. NASSE in Rostock,
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Cohlllieim, Prof. J. (Leipzig), Ueber die Aufgaben der pathol. Ana-
tomie. Antritts-Rede. gr. 8. 1878. i M.
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Druck V. Hirschreld, Leipji
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Grützner
Physiologisohe Studien.
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